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Selbstversorger

Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm

0818
2010
978-3-8649-6222-6
978-3-8676-4249-1
UVK Verlag 
Sarah Bornhorst

Die >>Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts<< wirkte sich massiv auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung an der sogenannten >>Heimatfront<< aus. Am Beispiel eines süddeutschen Landgerichtsbezirks werden die speziellen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Kriminalität Jugendlicher analysiert: Einerseits werden deren Erscheinungsformen in den Blick genommen, andererseits wird nach dem Umgang der Richter mit den vor ihnen stehenden delinquenten Jugendlichen gefragt. Denn >>Jugend<< und >>Kriminalität<< waren Themen, die die wilhelminische Gesellschaft in besonderem Maße beschäftigten - gerade unter den Bedingungen des Krieges. Mit der vorliegenden Arbeit, die mit dem Geschichtspreis der Museumsgesellschaft Ulm e.V. ausgezeichnet wurde, promovierte die Autorin 2008 an der Universität Augsburg.

<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Andreas Blauert, Martin Dinges, Mark Häberlein, Ulinka Rublack, Gerd Schwerhoff Band 19 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans, Norbert Finzsch, Ute Frevert, Iris Gareis, Silke Göttsch, Hans-Jürgen Lüsebrink, Wilfried Nippel, Hedwig Röckelein, Andreas Roth, Gabriela Signori, Reinhard Wendt <?page no="2"?> Sarah Bornhorst Selbstversorger Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Diese Publikation wurde unter dem Titel »...sittlich schon ziemlich verwahrlost«? Jugendkriminalität im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Landgerichtsbezirkes Ulm« 2008 als Dissertation an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg angenommen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-222-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Belegschaft der Dampfziegelei und Tonwarenfabrik J. Baumann Söhne in Göppingen, um 1910. © Stadtarchiv Göppingen Druck: Bookstation GmbH, Sipplingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen ...........................................................12 Verzeichnis der Diagramme ......................................................13 Vorwort......................................................................................15 Einleitung...................................................................................17 Zum Thema ...............................................................................................17 Forschungsstand........................................................................................20 Quellen ......................................................................................................26 Methodik und Fragestellungen..................................................................28 Aufbau der Arbeit .....................................................................................32 Erster Teil: Allgemeine Grundlagen.............................................................35 I. Konstruktionen von Jugendkriminalität ............................37 1. Strafrechtliche Definition von Jugendkriminalität und strafrechtlicher Umgang mit delinquenten Jugendlichen .....................37 a. Das „Jugendstrafrecht“ im Kaiserreich............................................37 b. Die strafrechtliche Reformbewegung ..............................................41 c. Ziele der Reformbewegung hinsichtlich der Behandlung Jugendlicher.....................................................................................43 d. Legislative Reformersuche ..............................................................45 e. Praktische Umsetzung von Reformvorschlägen bis zum Ende des Kaiserreiches ...................................................................................47 2. Bilder von „jugendlichen Verbrechern“ in der Fachpublizistik ...........50 a. Unterschiede zwischen erwachsenen und jugendlichen Verbrechern................................................................51 <?page no="5"?> 6 b. Auswirkungen moderner Entwicklungen auf jugendliche Kriminalität......................................................................................54 c. Anlage oder Umwelt? ......................................................................57 d. Gruppenbezogene Ressentiments ....................................................58 e. Zeitgenössische Schlussfolgerungen ...............................................60 II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm .................................63 1. Allgemeine Bemerkungen ....................................................................63 a. Geographische Lage und Bevölkerung............................................63 b. Wirtschaftsstruktur ..........................................................................66 2. Die Lebenssituation im Ersten Weltkrieg.............................................67 a. Die ökonomische Situation im Krieg...............................................68 b. Die materielle Versorgungslage.......................................................71 3. Die Situation von Kindern und Jugendlichen im Krieg........................74 a. Auswirkungen auf die Familie.........................................................74 b. Veränderungen des Schulalltags ......................................................75 c. Die Jugendwehr ...............................................................................79 d. Wider die „Zuchtlosigkeit“ - Reglementierungen jugendlichen Lebens..............................................................................................82 Zweiter Teil: Jugendkriminalität vor der Strafkammer des Landgerichtes Ulm ....................................................................89 III. Zum Umgang mit den Quellen ..........................................91 IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung.........................99 1. Die Struktur der Strafverfolgungsbehörden in Württemberg ...............99 2. Exkurs: Die Praxis bei polizeilichen Strafverfügungen gegen Jugendliche.........................................................................................103 <?page no="6"?> 7 3. Der Ablauf der polizeilichen Ermittlungsarbeit .................................111 4. Die Vereinigung für Jugendgerichtshilfe und Jugendfürsorge Ulm-Söflingen ..........................................................114 5. Fallbeispiel: Das Verfahren gegen Franz A. und Mittäter..................119 a. Von der Entdeckung der Straftat bis zur ersten richterlichen Vernehmung...................................................119 b. Von der ersten richterlichen Vernehmung bis zur Anklageerhebung.....................................................................125 c. Von der Anklageerhebung zur Gerichtsverhandlung.....................129 V. Rahmenbedingungen der Prozesse ..................................133 1. Das Gerichtsgebäude ..........................................................................133 2. Die Richter und Staatsanwälte am Landgericht Ulm..........................136 a. Die soziale Stellung der Ulmer Justizjuristen ................................137 b. Die Ausbildung der Ulmer Justizjuristen.......................................139 c. Stationen des Berufslebens ............................................................141 d. Anmerkungen zur politischen Einstellung der Ulmer Justizjuristen .......................................................................142 3. Die Arbeitssituation der Ulmer Justizjuristen während des Krieges ..........................................................................143 a. Kriegsbedingte Personalausfälle am Landgericht Ulm..................143 b. Die Arbeitsbelastung der verbliebenen Justizjuristen ....................145 4. Jugendliche als Angeklagte vor Gericht ............................................149 5. Die Aufgabe der Ulmer Jugendgerichtshilfe im Prozess....................152 6. Die Rolle von Zeugen in den Prozessen .............................................154 7. Der Stellenwert von Sachverständigen im Gerichtsverfahren ............156 <?page no="7"?> 8 VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche von 1904 bis 1918 .......................................163 1. Analytische Vorüberlegungen ............................................................164 2. Die Entwicklung der Anklagen gegen Jugendliche von 1904 bis 1918 ..........................................................166 3. Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Angeklagten ...........174 4. Die Altersstruktur der angeklagten Jugendlichen ...............................175 5. Das Sozialprofil der angeklagten Jugendlichen..................................177 6. Zur Anklage kommende Deliktarten ..................................................182 a. Straftaten gegen das Eigentum ......................................................182 b. Straftaten gegen das Vermögen .....................................................186 c. Straftaten gegen das Leben ............................................................187 d. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit............................188 e. Straftaten gegen die persönliche Freiheit.......................................191 f. Straftaten gegen die Sittlichkeit.....................................................192 g. Straftaten gegen die Ehre...............................................................197 h. Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege .........198 i. Urkundendelikte ............................................................................199 j. Gemeingefährliche Straftaten ........................................................200 k. Straftaten im Amte.........................................................................201 l. Übertretungen ................................................................................202 m. Verstöße gegen andere Strafbestimmungen ..................................204 n. Verstöße gegen Verordnungen des Stv. Generalkommandos........206 7 . Freisprüche .........................................................................................209 8 . Sanktionen ..........................................................................................211 9 . Die bedingte Begnadigung .................................................................213 <?page no="8"?> 9 VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg ...........................................................................231 1. Eigentumsdelinquenz .........................................................................231 a. Gelddiebstähle ...............................................................................231 b. Nahrungsmitteldiebstähle ..............................................................233 c. Hasen- und Viehdiebstähle ............................................................238 d. Diebstähle knapper Güter ..............................................................240 e. „Selbstverschuldete Notlage“ - Delikte jugendlicher „Ausreißer“ ..................................................242 f. Raub...............................................................................................245 2. Urkundenfälschung und Betrug..........................................................249 3. Sittlichkeitsdelikte ..............................................................................251 4. Sonstige Delikte .................................................................................256 a. Die Kompensation von „Luxusproblemen“...................................256 b. Strafrechtsgrenzen überschreitende Spiele ....................................257 c. Brandstiftungen .............................................................................258 5. Kriegsdelikte ......................................................................................261 a. Neue Objekte für Straftaten ...........................................................261 b. Neue Straftatbestimmungen...........................................................267 c. Neue Opfer ....................................................................................268 VIII. Urteilsfindung im Krieg..................................................271 1. Analytische Vorüberlegungen ............................................................271 2. Reflexionen über die Auswirkungen des Krieges auf die Straffälligkeit Jugendlicher...........................................................279 a. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität in der juristischen Fachpresse ..................................................................279 b. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität aus Sicht der Jugendgerichtshilfe Ulm und der Tagespresse ...............283 <?page no="9"?> 10 3. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen der Ulmer Strafkammer .................................................285 a. Kriegsbedingter Aufsichtsmangel..................................................288 b. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen ............................292 c. Wirkungen des Krieges auf die jugendliche Psyche ......................300 4. Die Kriegssituation als Mittel der Beweisführung .............................301 5. „Niedere Gesinnung“ - Die Bewertung einzelner Deliktarten durch die Richter .............................................................305 6. Andere Erklärungen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen .........308 a. Explizit kriminologisch-biologistische Annahmen in den Urteilen ...................................................................................309 b. „Lügnerisch, arbeitsscheu, genusssüchtig, verdorben, verbrecherischer Hang“ - Codes für kriminelle Karrieren ............316 c. Jugendlicher Leichtsinn .................................................................322 d. Aufsichtsmängel und Erziehungsdefizite ......................................325 e. „Ungünstige Beeinflussung“ .........................................................327 f. Sonstige Erklärungen.....................................................................328 Schlussbetrachtung ..................................................................331 Anhang.....................................................................................341 Liste der verwendeten Strafakten ............................................................341 Abkürzungen ...........................................................................................348 Quellenverzeichnis ..................................................................................350 Nicht archivierte Quellen ...................................................................350 Archivbestände ...................................................................................350 Gesetze und Verordnungen ................................................................350 Amtliche Druckschriften ....................................................................351 Amtliche Periodika.............................................................................351 <?page no="10"?> 11 Tageszeitung.......................................................................................352 Literatur vor 1945...............................................................................352 Nachschlagewerke..............................................................................355 Literaturverzeichnis .................................................................355 Literatur nach 1945 .................................................................................355 Nachschlagewerke...................................................................................372 Internetressourcen ...................................................................................373 <?page no="11"?> 12 Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Größe und Einwohnerzahl der Oberämter des Landgerichtsbezirkes ............................................................ 65 Tabelle 2: Die Anzahl der verurteilten Jugendlichen (Deutsches Reich) ............................................................... 168 Tabelle 3: Verfahren mit jugendlichen und erwachsenen Angeklagten gemeinsam ..................................................... 173 Tabelle 4: Diebstähle ........................................................................... 185 Tabelle 5: Straftaten gegen das Leben ................................................. 188 Tabelle 6: Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit ................. 189 Tabelle 7: Sittlichkeitsdelikte............................................................... 195 Tabelle 8: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege.................................................. 199 Tabelle 9: Gemeingefährliche Straftaten.............................................. 201 Tabelle 10: Übertretungen ..................................................................... 203 Tabelle 11: Verstöße gegen strafrechtliche Nebengesetze ..................... 204 Tabelle 12: Verstöße gegen Verordnungen des Stv. Generalkommandos ..................................................... 207 Tabelle 13: Freisprüche.......................................................................... 210 Tabelle 14: Die Spanbreite der Sanktionen............................................ 211 Tabelle 15: Die bedingte Begnadigung .................................................. 216 Tabelle 16: Schematische Darstellung der Ursachen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen der Strafkammer Ulm ............ 278 <?page no="12"?> 13 Verzeichnis der Diagramme Diagramm 1: Die Entwicklung der Anklagen gegen Jugendliche............. 166 Diagramm 2: Die Entwicklung der Anklagen (gesamt) ............................ 169 Diagramm 3: Die Anklagen gegen Jugendliche im Vergleich zu den Anklagen gegen Erwachsene .............................................. 170 Diagramm 4: Das Verhältnis von Anklagen zu Angeklagten ................... 171 Diagramm 5: Das Verhältnis zwischen Anklagen und Verfahren............. 172 Diagramm 6: Das Alter der männlichen Angeklagten .............................. 175 Diagramm 7: Das Alter der weiblichen Angeklagten ............................... 176 Diagramm 8: Stand oder Gewerbe der angeklagten Jungen...................... 179 Diagramm 9: Stand oder Gewerbe der angeklagten Mädchen .................. 181 Diagramm 10: Eigentumsdelikte ................................................................ 184 Diagramm 11: Vermögensdelikte ............................................................... 186 Diagramm 12: Sittlichkeitsdelikte .............................................................. 196 Diagramm 13: Urkundendelikte.................................................................. 200 <?page no="14"?> Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2008 von der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. An ihrer Entstehung waren viele Menschen beteiligt, bei denen ich mich bedanken möchte. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Wirsching. Ohne seine Ermunterung zur Promotion und ohne seine fortwährende konstruktive Betreuung der Arbeit hätte ich mich auf das Abenteuer Doktorarbeit nicht eingelassen. Weiterhin bedanke ich mich bei PD Dr. Günther Kronenbitter für Ermunterungen und das Zweitgutachten. Es hat mich sehr gefreut, dass Prof. Dr. Peter Waldmann das Drittgutachten übernahm. Auch ihm danke ich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsarchivs Ludwigsburg haben mir mit viel Engagement bei der Suche nach Quellen geholfen - und beim oft mühsamen Entziffern unleserlicher Sütterlin-Handschriften! Dafür möchte ich mich namentlich bei Michaela Mingoja, den Dipl.-Archivaren Ute Bitz, Thomas Krause und Wolfgang Schneider sowie Dr. Martin Häußermann und Dr. Elke Koch bedanken. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und des Stadtarchivs Ulm möchte ich mich ebenfalls bedanken. Ein besonderer Dank geht an das Landgericht Ulm, das mir Material aus unarchivierten Personalakten zur Verfügung stellte. Den Herausgebern der Reihe Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, besonders Prof. Dr. Gerd Schwerhoff danke ich für die Möglichkeit, meine Arbeit in diesem guten Rahmen zu veröffentlichen. Bei Uta C. Preimesser vom UVK Verlag möchte ich mich für die Betreuung bei der Erstellung des Druckmanuskriptes bedanken. Die Museumsgesellschaft Ulm e. V. hat die Studie mit ihrem Geschichtspreis ausgezeichnet. Dies ermöglicht mir die unkomplizierte Finanzierung der Drucklegung. Auch dafür bin ich dankbar. Wichtige Impulse gaben mir Vorträge und Diskussionen bei Treffen des Arbeitskreises Historische Kriminalitätsforschung - auf diesem Wege allen Beteiligten vielen Dank. Schließlich möchte ich mich bei meinen Freunden für ihre Unterstützung bedanken: Jürgen Finger hat große Teile der Arbeit gelesen und mit pointierter, scharfsichtiger und konstruktiver Kritik das Weiterkommen am Text enorm erleichtert. Außerdem hat er ertragen, dass irgendwann bei jedem unserer Treffen meine kriminellen Jugendlichen mit dabei waren. Dr. Mathias Seiter las ebenfalls wichtige Passagen und half durch seine <?page no="15"?> Vorwort 16 sprachlichen und inhaltlichen Verbesserungsvorschläge. Martina Mobley und Jens Bartholomäus lasen und kommentierten weitere Teile der Arbeit. Andreas Bärnreuther brachte den Text mit seiner Hilfe bei den Formatierungen optisch in Form. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Die Arbeit hätte ohne die ideelle und materielle Unterstützung meiner Eltern, Gerhard Bornhorst und Annemarie Bornhorst-Kersting, nicht verwirklicht werden können. Wie viel ich ihnen verdanke, passt nicht ins Vorwort- Format. Trotzdem auf diesem Wege herzlichen Dank. Meine Mutter übernahm zudem freundlicherweise die Rechtschreib- und Grammatikkorrektur. Dr. Clarissa Freundorfer half mir beim Verstehen juristischer Argumentationen, diskutierte die Arbeit mit mir und gab mir während schwieriger Phasen Halt. Dafür und für so vieles mehr: Danke. Berlin, März 2010 Sarah Bornhorst <?page no="16"?> Einleitung Zum Thema „Die Jugend gleicht einem sehr empfindlichen Instrumente, dessen Funktionen schon beim leisesten äußeren Anstoße Not leiden.“ 1 , so erklärte einer der Gründerväter der deutschen Kriminologie, der Psychiater Gustav Aschaffenburg, zu Beginn des 20. Jahrhunderts die scheinbar hohe Kriminalitätsbelastung der nachwachsenden Generation. Wenige Jahre nach dieser Beschreibung brachte der Erste Weltkrieg fundamentale Erschütterungen für die wilhelminische Gesellschaft, welche über „leiseste“ Anstöße weit hinauswiesen. Sie schürten bei zeitgenössischen Beobachtern unter anderem die Angst vor einer rapide steigenden Jugendkriminalität. „Jugend“ und „Kriminalität“ waren Themen, die - jedes für sich - nicht nur in der Kriegsgesellschaft, sondern seit den 1880er-Jahren im Kaiserreich besondere Aufmerksamkeit für sich beanspruchen konnten. Auf der einen Seite lud sich die „Jugend“ als Entwicklungsphase durch die „Entdeckung der Jugend“ ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ideologisch auf. Die Lebensform „bürgerliche Jugend“ erfuhr eine Idealisierung ähnlich dem Ideal der „bürgerlichen Familie“, an dem andere Arten jugendlichen Lebens gemessen wurden. Jugend wurde für die Nation beides - Segen und Fluch. Als menschliche Ressource künftiger Entwicklungen war sie begehrt und schützenswert. Als schützenswertes Gut erschien sie gleichfalls gefährdet. 2 Bedrohungspotentiale machten Zeitgenossen wie so oft in modernen Entwicklungen aus. Die urbane Arbeits- und Lebenswelt jugendlicher Fabrikarbeiter bereitete bürgerlichen Betrachtern Sorge. Junge Arbeiter verdienten - im Gegensatz zu den meisten Lehrlingen - ersten eigenen Lohn und besaßen so eine bescheidene finanzielle Autarkie. Aus Sicht bürgerlicher Erwachsener verleitete dies zu „Verschwendungssucht“ und frühreifem Verhalten. 3 Auch der Konsum neuer Massenmedien, etwa des Kinos, das speziell auf eine jugendliche Klientel ausgerichtete war, schien negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche zu haben. Diese reichten von einer „Entsittlichung“ durch erotische Darstellungen bis zur Verleitung zu strafbarem Verhalten durch verharmlosende Darstellungen von Kriminalität. Gleiche Wir- 1 Aschaffenburg, Verbrechen, S. 131. 2 Vgl. Trotha, Entstehung von Jugend; sowie Dudek, Jugend als Objekt, besonders S. 49-146. 3 Vgl. Reulecke, Bürgerliche Sozialreformer; sowie Peukert, Grenzen, S. 54-67. <?page no="17"?> Einleitung 18 kungen sprach man den so genannten „Schundheftchen“ zu, billigen Groschenromanen, die gerade auch unter Kindern und Jugendlichen kursierten. Diese Ängste mündeten schließlich im „Schmutz- und Schundkampf“ um 1910 - das Bürgertum war nicht gewillt, der Entwicklung tatenlos zuzusehen. 4 Zudem drohte die viel beschworene „Kontrolllücke“ zwischen Schule und Militärdienst bei Jungen aus den unteren Schichten ein Einfallstor für missliebige politische Ideen zu werden. 5 Auf der anderen Seite wurde mit Erscheinen der reichsweiten Kriminalstatistik ab 1882 „Kriminalität“ durch die statistische Darstellung scheinbar objektiviert und als messbare Tatsache greifbar. 6 Dabei wurde diese statistische Messung völlig überbewertet. Eigentlich war sie lediglich eine Geschäftsstatistik der Gerichte des Deutschen Reiches und damit keineswegs geeignet, „die“ Kriminalität realitätsnah abzubilden - zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an das Dunkelfeld. Aber auch die Aufbereitung der Daten barg Tücken, denn sie hob die Variable der örtlichen Verteilung von Kriminalität hervor. Diese wirkmächtige Betonung verstärkte Ressentiments bestimmten Regionen und Städten des Deutschen Reiches gegenüber. 7 Gleichwohl schien Kriminalität in ihrer ganzen Bandbreite nun mit der Reichskriminalstatistik sichtbar zu werden. Mit dieser Ausleuchtung wurde sie auch zu einem wahrnehmbaren Problem. 8 Gemäß dem positivistischen Wissenschaftsverständnis der Zeit herrschte der Glaube, dass auch das Problem der Kriminalität lösbar - also effektiv zu bekämpfen - sei, wenn es erst einmal als solches identifiziert und erforscht wäre. 9 Sich formierende neue Wissenschaften wie die Kriminologie und geringerem Maße auch die stärker technisch orientierte Kriminalistik trugen ihren Teil dazu bei. Die wissenschaftliche Erforschung von und die gesellschaftliche Beschäftigung mit Verbrechen hatte im wilhelminischen Kaiserreich Konjunktur. Mit der durch die Theorien des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso auch in Deutschland angestoßenen Hinwendung zu den individuellen Ursachen des Verbrechens rückten die „Täter“ in den Fokus von Krimi- 4 Vgl. Müller, Film; sowie Maase, Kinder als Fremde. 5 Vgl. Saul, Kampf um die Jugend. 6 Vgl. Graff, Kriminalstatistik, S. 51-63; auch in kritischer Abgrenzung zu Graff Fleiter, Kalkulation des Rückfalls, besonders S. 176 ff.; sowie Schmidt, Zahl und Verbrechen. Siehe auch Vec, Sichtbar, S. 383. 7 Vgl. Johnson, Urban and Rural Crime. Siehe auch Schauz, Strafen, S. 198. 8 Vgl. Reinke, Kriminalität. 9 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 157. <?page no="18"?> Einleitung 19 nologen und Juristen. 10 Konsequenterweise bemühten sich daher unter den Strafrechtswissenschaftlern die Vertreter der so genannten „modernen“ Schule um Franz von Liszt um eine Individualisierung der Strafrechtspflege. 11 Über die statistischen Daten und wissenschaftlichen Debatten hinaus entdeckte die sich gerade in den Metropolen entfaltende Massenpresse Verbrecher und Verbrechen als Thema. Die Printmedien machten Kriminalität für die breite Bevölkerung verstärkt sichtbar. Die Zeitungsmacher hatten erkannt, dass sich mit Kriminalitätsberichterstattung ihre Auflagen steigern ließen. Was die Zeitungen so transportierten, war ein sensationsheischendes Bild von Kriminalität - in seiner Gesamtheit eher verzerrend als aufklärend. In Berlin existierten daneben aber erste Versuche der Polizei, über die Massenmedien Kontakt zu den Lesern herzustellen und sie in die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit einzubinden. 12 Einige um 1900 nach angelsächsischem Vorbild gegründete Illustrierte konzentrierten sich schließlich auf die ausschließliche Präsentation von „Sex and Crime“ - eine frühe Form von Special Interest-Zeitschriften für die sensationshungrigen Konsumenten der Jahrhundertwende. 13 Mit Berichten über Kriminalität ließen sich also Druckerzeugnisse verkaufen. Damit wurde zugleich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Kriminalität wieder gesteigert. Die Ängste der Gesellschaft um eine Gefährdung der Jugend auf der einen und eine als bedrohlich wahrgenommene Kriminalitätsbelastung auf der anderen Seite konnten nur auf fruchtbaren Boden fallen, da das Deutsche Kaiserreich um die Jahrhundertwende eine Gesellschaft im Umbruch war. Industrialisierung und Urbanisierung verunsicherten die Menschen. Althergebrachte Wertvorstellungen schienen gefährdet und drohten so ihre Halt gebende Funktion zu verlieren. 14 Den Ausbruch des Krieges begrüßten Apologeten der bürgerlichwilhelminischen Werteordnung zunächst. Ein Autor erinnerte sich in einer jugendkundlichen Zeitschrift nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Revolution daran: 10 Vgl. Galassi, Kriminologie. Zur Kriminalistik siehe Becker, Dem Täter auf der Spur. 11 Vgl. Wetzell, Criminal law reform. 12 Vgl. Müller, Suche nach dem Täter; sowie ders., Jack the Ripper. Zur Wechselwirkung zwischen Presse und Justiz siehe auch Hett, Berlin sitzt zu Gericht, S. 284 ff. 13 Vgl. Gebhardt, Halb kriminalistisch. Allerdings rückte erst in der Weimarer Republik die prozessuale Praxis als solche verstärkt in den Fokus der Medien - eine Entwicklung, die den Akteuren, den Richtern und Staatsanwälten, wenig Freude bereitete. Sie verklärten zunehmend die „gute alte Zeit“ des Kaiserreichs, als sie noch relativ unbeobachtet von Journalisten ihrer Tätigkeit nachgehen konnten, die mit hohem Sozialprestige verbunden war, vgl. Siemens, Vertrauenskrise der Justiz, S. 144 f. und S. 148. 14 Vgl. Rohkrämer, Moderne, S. 37 f. <?page no="19"?> Einleitung 20 „Der Krieg gleicht einem Sturmwinde. Braust er wie ein kurzes Gewitterwehen durch die schwüle Luft, dann reinigt und erfrischt er, schüttelt welke Blätter, morsche Äste und zarte Blüten ab. Aber wenn er vorüber ist, atmen alle erleichtert auf, die Luft ist freier und reiner geworden, die Natur steht in neuer Frische wieder da. Diese Lebensauffrischung hatten wir erwartet, als der Krieg im August 1914 mit seinem aufrüttelnden Ernste über die drückende Schwüle jahrelanger Überkultur hereinbrach.“ 15 Schon bald änderte sich dies und der Krieg mutierte, statt die „Überkultur“ zu zähmen, vielmehr zu einem Katalysator der modernen Entwicklungen. Retrospektiv und durchaus selbstkritisch fuhr der oben zitierte Autor fort: „Nun aber wurde er zu einem furchtbaren, nicht endenwollenden Wüten, das auch das Festgefügte ins Wanken brachte, und das Eingewurzelte aus dem Boden riß.“ 16 Für das Themenfeld Jugendkriminalität im Schnittpunkt der drei Felder Jugend, Kriminalität und Krieg ergab sich damit eine besondere Konstellation. Auf der einen Seite erfuhren Kinder und Jugendliche als Garanten der Zukunft der Nation eine erneute Aufwertung, sie wurden eine „kriegswichtige Ressource“. Auf der anderen Seite war kriminelles Verhalten als Normverletzung für eine bereits von außen bedrohte Gesellschaft besonders gefährlich. Richter, die über jugendliche Delinquenten zu urteilen hatten, befanden sich hier in einer Schlüsselposition. Daher drängen sich folgende Fragen auf: Mit welchen Formen von Kriminalität hatten Strafrichter sich im Ersten Weltkrieg zu beschäftigen? Und wie gingen sie mit der „besonderen Ressource“ Jugend um? Forschungsstand Historischen Formen abweichenden Verhaltens, ihrer Konstruktion und der Reaktion durch Gesellschaft und Behörden der Strafverfolgung schenkt die Geschichtswissenschaft in letzter Zeit verstärkt ihre Aufmerksamkeit. Deutschland folgte dabei seit Ende der 1970er-Jahre, forciert seit den 1990er- Jahren, der französischen und angelsächsischen Forschung. 17 Dabei hat sich mit der Historischen Kriminalitätsforschung ein eigener, noch junger Zweig 15 Anonymus [Ms. C.], Wiederaufbau, S. 1. 16 Ebd. 17 Einen ersten Forschungsüberblick bietet Blasius, Kriminalität und Geschichtswissenschaft. <?page no="20"?> Einleitung 21 der allgemeinen Sozialgeschichte etabliert, der sich der Erforschung dieser Phänomene und Entwicklungen widmet. Im Gegensatz zur klassischen Strafrechtsgeschichte, welche die Normentwicklung untersucht, widmet sich die Historische Kriminalitätsforschung darüber hinausgehend dem Prozess aus Normsetzung, Normkonstruktion und Normanwendung. 18 Zunächst geschah dies mit starker Schwerpunktsetzung auf der Frühen Neuzeit und dem (Spät- )Mittelalter, bevor auch die Hinwendung zum 19. und 20. Jahrhundert begann. 19 Epochenübergreifende Tagungsbände ermöglichen inzwischen Synthesen. 20 Eine Tagung rückte schwerpunktmäßig unter anderem die Sattelzeit zwischen Früher und Später Neuzeit in den Fokus, um unterschiedliche historiografische Herangehensweisen ebenso wie Kontinuitäten und Brüche dieser Zeit auszuloten. 21 Mittlerweile liegen methodisch unterschiedlich ausgerichtete Studien für das 19. und 20. Jahrhundert vor. 22 Stellvertretend seien hier aus dem sehr umfangreichen Bestand an Forschungsliteratur fünf Publikationen hervorgehoben. Sozialgeschichtlich angelegt ist eine der Pionierstudien zur deutschen Kriminalitätsgeschichte von Dirk Blasius über das vormärzliche Preußen. 23 Orientiert an kultur- und sozialanthropologischen Studien entwickelt Rebecca Habermas in ihrer Untersuchung zur Entstehung der modernen Eigentumsordnung aus Diebstahlprozessen im 19. Jahrhundert den Analysenansatz des Doing Recht, der die Akteursperspektive betont. 24 Die Genese des Reichsstrafgesetzbuches im 19. Jahrhundert stellt Sylvia Kesper-Biermann, methodisch an der Neuen Ideengeschichte orientiert, dar. Ihr geht es darum zu zeigen, welche Wechselwirkungen zwischen Expertendiskursen und Gesetzgebungsprozess bestanden. 25 Eine „Verbindung aus kulturgeschichtlich argumentierender Kriminalitätssowie Mediengeschichte und historischer Diskursanalyse“ hat Daniel Siemens zur Gerichtsberichterstattung in Berlin, 18 Zur Einführung in Schwerpunkte und Methoden dieser Forschungsrichtung siehe Schwerhoff, Aktenkundig; sowie ders., Gerichtsakten. 19 Zur frühneuzeitlichen Forschung vgl. Krischer, Neue Forschungen. Für städtische Kriminalität siehe den knappen Forschungsüberblick von Eibach, Städtische Gewaltkriminalität, hier S. 359-365. 20 Vgl. Dinges/ Sack, Unsichere Großstädte; Kästner/ Kesper-Biermann, Experten und Expertenwissen; Härter/ Sälter/ Wiebel, Repräsentationen von Kriminalität. 21 Vgl. Habermas/ Schwerhoff, Verbrechen im Blick. 22 Vgl. zusammenfassend Eibach, Kriminalitätsgeschichte. Eine Sammlung kulturgeschichtlich ausgerichteter Aufsätze bietet Srebnick/ Lévy, Crime and Culture. 23 Vgl. Blasius, Bürgerliche Gesellschaft. 24 Vgl. Habermas, Diebe. Siehe auch dies., Rechts- und Kriminalitätsgeschichte, S. 37-41. 25 Vgl. Kesper-Biermann, Einheit und Recht. <?page no="21"?> Einleitung 22 Paris und Chicago während der Zwischenkriegszeit vorgelegt. 26 Désirée Schauz spannt mit einer „weiterentwickelten Dispositivanalyse“ der Entwicklung der Straffälligenfürsorge den zeitlichen Untersuchungsrahmen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. 27 Verschiedene Studien widmen sich schließlich auch der Delinquenz Jugendlicher. Martin Leuenberger untersucht über einen Zeitraum von 20 Jahren die Entwicklung in Basel während des 19. Jahrhunderts ebenso wie den behördlichen Umgang mit den Jugendlichen. Ihm geht es, im Gegensatz zur vorliegenden Studie, um Jugendkriminalität während einer „ruhigen“ Epoche. 28 C. Bettina Schmidt widmet sich den Ängsten der französischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende vor delinquenten Jugendbanden, „Apachen“ genannt. Aus Sicht des Bürgertums machten diese angeblich die Großstädte unsicher. 29 Für die deutsche Entwicklung fand auch hinsichtlich jugendlicher Delinquenz die Zeit des Nationalsozialismus besondere Beachtung. Jörg Wolff analysiert aus strafrechtshistorischer Sicht das Thema, welches er exemplarisch anhand der jugendgerichtlichen Praxis in München illustriert. 30 Frank Kebbedies untersucht die Jugendkriminalpolitik zwischen Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik. Er geht der Frage nach Brüchen und Kontinuitäten zwischen den Systemen nach und spannt dafür den Bogen von der „Pädagogisierung“ des Jugendstrafrechts seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur frühen Bundesrepublik. 31 Jugenddelinquenz in der Bundesrepublik widmet sich schließlich Imanuel Baumann, der ebenfalls Kontinuitätslinien im Umgang mit „kriminellen Jugendlichen“ aufzeigen kann. 32 Zu diesen Studien gesellen sich einschlägige Aufsatzsammlungen, die sich der Kriminalität von Jugendlichen in diversen Epochen und Ländern widmen. 33 Besondere Relevanz für die vorliegende Untersuchung besitzen Studien zur Situation des Kaiserreiches. Impulse für die Beschäftigung mit strafrechtlich abweichendem Jugendverhalten gehen dabei von der Hinwendung zur Arbeiterjugend als „Problem“ ab den 1880er-Jahren aus. Besonders instruktiv 26 Vgl. Siemens, Metropole und Verbrechen. Das Zitat S. 23. 27 Vgl. Schauz, Strafen. Das Zitat S. 378. 28 Vgl. Leuenberger, Mitgegangen. Siehe auch ders., Kriminalisierung der Normalität. Auch in der Schweiz nimmt die Historische Kriminalitätsforschung einen wichtigen Platz ein, vgl. als Überblick den Tagungsband Opitz/ Studer/ Tanner, Kriminalisieren. 29 Vgl. Schmidt, Jugendkriminalität und Gesellschaftskrisen. 30 Vgl. Wolff, Jugendliche vor Gericht. 31 Vgl. Kebbedies, Außer Kontrolle. 32 Vgl. Baumann, Interpretation. Siehe auch ders., Verbrechen, S. 175-201. 33 Vgl. Cox/ Shore, Becoming Delinquent; sowie Briesen/ Weinhauer, Jugend. <?page no="22"?> Einleitung 23 erforscht ist dieses Thema in Detlev J. K. Peukerts Pionierstudie. 34 Hans Malmede untersucht die Zwangserziehung als Reaktion auf kriminelles Jugendverhalten. 35 Der Zwangserziehung oder - wie sie ab der gesetzlichen Neuregelung durch das BGB bezeichnet wurde - Fürsorgeerziehung räumt auch Dietrich Oberwittler breiten Raum ein. Er zeichnet die jugendkriminalpolitischen Konzepte und ihre Anwendung nach. Seine Untersuchung ist vergleichend angelegt, neben Preußen nimmt er England in den Blick. 36 Ebenfalls einen Vergleich zwischen Jugendkriminalität in Deutschland und England nimmt er bei seiner Interpretation kriminalstatistischer Daten vor. 37 Die statistische Entwicklung der Jugendkriminalität vor dem Ersten Weltkrieg deutet Eric A. Johnson unter Rekurs auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen. 38 Am Beispiel Berlins erläutert Andreas Roth den polizeilichen und strafrechtlichen Umgang mit kriminellen Jugendlichen. 39 Möchte man gerichtsnotorische Jugenddelinquenz während des Ersten Weltkrieges thematisieren, liegen Studien über die Zeit des Kaiserreiches vor, die für eine solche Analyse hilfreich sind. Verschiedene Teilaspekte des weiten Feldes Kriminalität sind für das Kaiserreich bereits erforscht worden. Dörfliche Kriminalität und den gerichtlichen Umgang damit ergründet Regina Schulte am Beispiel Oberbayerns. 40 Als Pendant dazu durchleuchten Philipp Müller und Benjamin Carter Hett die Metropole Berlin. Müller zeigt anhand zweier Fallbeispiele, dem Raubmörder Rudolph Henning und dem legendären „Hauptmann von Köpenick“, wie mittels der neu entstandenen Massenpresse die Bevölkerung an polizeilicher Ermittlungsarbeit beteiligt wurde. 41 Demgegenüber stellt Hett die prägenden Wechselbeziehungen zwischen der Gerichtsberichterstattung über spektakuläre Kriminalfälle, der Sicht auf die Großstadt und der strafgerichtlichen Praxis dar. 42 Die diskursive Konstruktion von Sittlichkeitsdelikten, aber auch die praktischen Reaktionen darauf zeichnet Tanja Hommen nach. 43 Sozialgeschichtliche Analysen der Kriminalitätsentwicklung bis 1914 durch kritische 34 Vgl. Peukert, Grenzen. 35 Vgl. Malmede, Jugendkriminalität. 36 Vgl. Oberwittler, Strafe. 37 Vgl. ders., Jugendkriminalstatistiken. 38 Vgl. Johnson, Socioeconomic Aspects. 39 Vgl. Roth, Jugenddelinquenz. Siehe auch ders., Kriminalitätsbekämpfung, S. 413-421. 40 Vgl. Schulte, Dorf im Verhör. Siehe auch dies., Feuer im Dorf. 41 Vgl. Müller, Suche nach dem Täter. 42 Vgl. Hett, Death. 43 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen. <?page no="23"?> Einleitung 24 Auswertung kriminalstatistischer Daten unternimmt Eric A. Johnson. 44 Auch Helmut Thome greift auf die Reichskriminalstatistik zurück, im Vergleich zu Johnson bleibt seine Darstellung jedoch eher blass. 45 Schließlich verdeutlicht Richard J. Evans mikrohistorisch anhand von fünf Fallbeispielen Kriminalität und die Reaktionen darauf im Verlauf des „langen“ 19. Jahrhunderts. 46 Die normative Seite des Themenkomplexes Jugendkriminalität ist für das Kaiserreich bereits gut erforscht. Michael Voß überprüft vor dem Hintergrund strafrechtlicher Reformbemühungen der 1970er-Jahre kritisch die Annahme, die Jugendstrafrechtsreformbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts habe eine „Humanisierung“ der Strafrechtspflege gegenüber Jugendlichen bewirkt. 47 Markus Fritsch analysiert aus rechtshistorischer Perspektive speziell die Entwicklung des Jugendstrafrechts zwischen dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches 1871 und dem Jugendgerichtsgesetz 1923. Dabei geht er ausführlich auf die Strafrechtsreformbewegung und den von ihr angestrebten Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen ein. 48 Diesem Thema widmen sich weiter Aufsätze von Andreas Roth und Jörg Wolff. 49 Die internationale Verzahnung der jugendstrafrechtlichen Reformdiskussion beleuchtet schließlich Eckhardt Fuchs. 50 Auch an umfassenden Darstellungen zum Strafrecht im Kaiserreich insgesamt und den Reformbemühungen an selbigem mangelt es nicht. Richard Wetzell hat eine historiographische Analyse der strafrechtlichen Reformbewegung im Kaiserreich vorgenommen. 51 Verschiedene Aspekte behandelt ein Tagungsband, aus dem auch der Aufsatz von Fuchs stammt. 52 Schließlich ist die Entwicklung der Kriminologie durch zahlreiche instruktive Studien mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung bereits gut erforscht. Richard Wetzell analysiert die Entwicklung der Kriminologie anhand von Fachpublikationen über einen langen Zeitraum, von 1880 bis 1945, und kann so Kontinuitäten und Brüche aufzeigen. 53 Peter Becker zeigt die Wandlungen eines an moralischen Vorstellungen orientierten Verbrecherbildes hin zum 44 Vgl. Johnson, Patterns of Crime; ders., Urbanization and Crime; und ders., Urban and Rural Crime. 45 Vgl. Thome, Kriminalität. 46 Vgl. Evans, Szenen. 47 Vgl. Voß, Jugend. 48 Vgl. Fritsch, Reformbewegung. 49 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht; sowie Wolff, Entwicklung Gesetzgebung; und ders. Föderalismus. 50 Vgl. Fuchs, Strafen. 51 Vgl. Wetzell, Criminal law reform. 52 Vgl. Kesper-Biermann/ Overath, Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft. 53 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal. <?page no="24"?> Einleitung 25 Verbrecher in der kriminologischen Wissenschaft während des 19. Jahrhunderts. 54 Demgegenüber konzentriert sich Silviana Galassi auf die Zeit des Kaiserreiches. In Anlehnung an Lutz Raphaels Forschungsparadigma der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ fragt sie danach, ob und wie sich die Kriminologie als neue Wissenschaft etablieren konnte. 55 Christian Müller widmet sich der Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis. Er untersucht, wie sich die Einbindung der Psychiatrie in das Strafverfahren zwischen der Gründung des Deutschen Reiches und dem Ende der Weimarer Republik formal und praktisch gestaltete. 56 Dazu kommt eine Untersuchung über die Entwicklung der Kriminalpsychologie im 19. Jahrhundert von Ylva Greve. 57 Den kriminologischen Teildiskurs über weibliche Kriminalität rückt Karsten Uhl in den Mittelpunkt seiner Studie. 58 Zudem widmeten sich Fachtagungen den kriminologischen Experten und ihren Diskursen, die entsprechenden Tagungsbände wurden in den letzten Jahren veröffentlicht. 59 Trotz der scheinbar breit gefächerten Forschung der vergangenen 20 Jahre lassen sich Desiderate deutlich benennen. Zum einen fehlen für die Zeit des Kaiserreiches Untersuchungen, die explizit den Umgang mit jugendlicher Alltagskriminalität vor einem durchschnittlichen Gericht in den Blick nehmen. Benjamin Carter Hett widmet sich beispielsweise großstädtischen Sensationsprozessen gegen erwachsene Täter; Dietrich Oberwittler beleuchtet hauptsächlich das Vorgehen nach der Verurteilung, die Strafpraxis. Darüber hinaus zeigt sich die Forschungsliteratur bisher sehr „preußenlastig“. Wie an verschiedenen Stellen zu zeigen sein wird, verliefen die Entwicklungen in der Strafrechtspflege allerdings im Deutschen Reich sehr unterschiedlich. Daher lohnt es sich, einen Blick über den borussischen Tellerrand zu wagen. Zum anderen blieb die Zeit des Ersten Weltkrieges bis dato ausgespart, obwohl oder gerade weil er ein so einschneidendes Ereignis während des Deutschen Kaiserreiches war. Die Situation im Ersten Weltkrieg kann nicht en passant in einer Studie über das Kaiserreich mit abgehandelt werden, dazu ist das Thema zu vielschichtig. 60 In sozialhistorischen Untersuchungen findet die steigende Delinquenzbelastung Jugendlicher zwischen 1914 und 1918 54 Vgl. Becker, Verderbnis. 55 Vgl. Galassi, Kriminologie. 56 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung. 57 Vgl. Greve, Verbrechen und Krankheit. 58 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib. 59 Vgl. Becker/ Wetzell, Criminals; Schauz/ Freitag, Verbrecher im Visier. Siehe auch den bereits erwähnten Tagungsband von Kästner/ Kesper-Biermann, Experten und Expertenwissen. 60 Auch Oberwittler spart sie weitestgehend aus. Den Bogen bis 1920 spannt er hauptsächlich für England, vgl. ders., Strafe. <?page no="25"?> Einleitung 26 zwar Erwähnung. 61 Es liegt jedoch keine gesonderte Untersuchung dazu vor. Der besser erforschten „ruhigen“ Epoche des Kaiserreiches bis 1914 steht daher als Desiderat der Historischen Kriminalitätsforschung die „stürmische“ letzte Etappe des Weltkrieges gegenüber. In den letzten Jahrzehnten analysierte die historische Forschung den Ersten Weltkrieg auch jenseits der Politik- und Militärgeschichte eingehend. 62 Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ verdient es, auch aus der Perspektive der Historischen Kriminalitätsforschung thematisiert zu werden. Einen Beitrag dazu leistet die vorliegende Arbeit. Quellen Die Arbeit basiert auf verschiedenen Quellen- und Aktengattungen, die je einen spezifischen Aussagegehalt besitzen, der im Folgenden kurz erläutert werden soll. Die Hauptgrundlage bilden Akten des Königlichen Landgerichtes Ulm. Es handelt sich dabei zum einen um die Strafprozesslisten der Jahre 1904 bis 1918, in die jedes Verfahren der Strafkammer eingetragen wurde, des Bestandes E 349 des Staatsarchivs Ludwigsburg. Lediglich die Liste des Jahres 1917 fehlt, hier liegt nur noch der Namensindex vor. Zum anderen sind im Bestand E 350a des Staatsarchivs Ludwigsburg über 130 Strafakten betreffend Strafverfahren gegen Jugendliche vor dem Landgericht Ulm aus der Zeit von 1914 bis 1918 überliefert. Die Strafakten sind allerdings vor der Aussonderung stark ausgedünnt worden. Hauptdokument dieser Akten ist in den meisten Fällen die schriftliche Ausfertigung des Urteils. Dieses wird teilweise durch weitere von der Prozessordnung vorgeschriebene Verfahrensakte des Gerichtes ergänzt, etwa der Beschluss zur Eröffnung der Hauptverhandlung, die Ladung der Staatsanwaltschaft, oder durch Schriftstücke zum 61 Vgl. u. a. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 158 ff. Roger Chickering widmet in seiner voluminösen und umfassenden mikrohistorischen Untersuchung Freiburgs im Ersten Weltkrieg auch der lokalen Kriminalitätsentwicklung seine Aufmerksamkeit, vgl. ders., Great War, S. 520-528. 62 Den Forschungsstand zur Alltags-, Mentalitäts-, Sozial- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges hier angemessen zu würdigen, sprengt den Rahmen der Untersuchung. Einige instruktive Werke sollen gleichwohl erwähnt werden. Neben den bereits zitierten Monographien sei auf die Publikationen des gemeinsamen Freiburger, Tübinger und Stuttgarter Sonderforschungsbereiches Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs hingewiesen, vgl. u. a. Hirschfeld u. a., Kriegserfahrungen. Ein wichtiges Standardwerk zum Ersten Weltkrieg ist Hirschfeld/ Krumeich/ Renz, Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Die von Stig Förster, Bernhard R. Kroener und Bernd Wegner herausgegebene Reihe Krieg in der Geschichte, welche sich dem gesamten Spektrum von „Kriegsgeschichte“ verpflichtet fühlt, widmet sich auch dem Ersten Weltkrieg, vgl. dazu u. a. Oltmer, Kriegsgefangene. <?page no="26"?> Einleitung 27 Verfahren der bedingten Begnadigung im Nachgang zum eigentlichen Strafverfahren. Die Überlieferung betrifft - von Ausnahmen abgesehen - also den Teil des Verfahrens nach der Eröffnung des gerichtlichen Verfahrens und der Anberaumung der Hauptverhandlung durch die Strafkammer. Der Weg zur Anklageerhebung ist nicht genauer dokumentiert. Mit solchen ausgedünnten Akten sieht man sich nicht nur für das Landgericht Ulm konfrontiert. Beispielsweise sind vom Jugendgericht München aus der Zeit des Nationalsozialismus von den Strafakten lediglich Urteile als einziger Überrest erhalten. 63 Allerdings enthält ein Strafkammerurteil alle wesentlichen Ermittlungsergebnisse in komprimierter Form. Die gewürdigten Beweise sind etwa ebenso ablesbar wie relevante Zeugenaussagen. Auf dieser Basis kann daher eine profunde Analyse des Umgangs mit Kriminalität durchgeführt werden. Zur Ergänzung dieser strafprozessualen Akten wurden weiteres Archivmaterial und veröffentlichte Quellen herangezogen. Für das Amtsgericht Kirchheim unter Teck sind im Bestand F 276 II des Staatsarchivs Ludwigsburg als einzigem Amtsgericht des Landgerichtsbezirks ebenfalls Strafprozesslisten aus den Jahren 1913 bis 1916 und 1918 überliefert. Auch hier fehlt die Liste für das Jahr 1917. Diese Listen ergänzen an einigen Stellen das Bild der Strafkammerakten. Weiterhin fanden Akten des Bestandes E 179 II, Verwaltungsakten der Ulmer Oberamtsregierung zum Thema jugendlicher Bagatellkriminalität, sowie Material des Bestandes E 191 zur Arbeit der Jugendgerichtshilfe in Ulm Verwendung. Auskunft über die Richter und Staatsanwälte am Landgericht Ulm gaben die Personalakten der Bestände EA 4/ 150 des Justizministeriums und militärische Personalakten, M 430/ 3, des Hauptstaatsarchivs Stuttgart sowie vom Landgericht Ulm zusammengestellte Angaben aus bislang noch nicht archivierten Unterlagen. Auf Regierungsebene war ferner der Bestand des württembergischen Innenministeriums E 151/ 09 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart von Bedeutung. Hier findet sich das überlieferte Material von Justizministerium und Innenministerium über Jugendpflege und - spezieller - Jugendkriminalität. Den Umgang mit „gefährdeten“ Jugendlichen im Krieg seitens des Stellvertretenden Generalkommandos des XIII. Armeekorps dokumentieren schließlich ebenfalls dort lagernde Akten des Bestandes M 77/ 1. Wichtige Quellen bildeten weiterhin die zeitgenössisch gültigen Rechtsnormen in Form von Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz und Verordnungen, Erlasse und Verfügungen, die im Reichsgesetzblatt, Staatsanzeiger und Regierungsblatt für das Königreich Württem- 63 Vgl. Wolff, Jugendliche vor Gericht, S. 268 und 275 f. <?page no="27"?> Einleitung 28 berg sowie dem Amtsblatt des Königlich Württembergischen Justizministeriums und schließlich in der Gewerbeordnung des Deutschen Reiches veröffentlicht wurden. Für die Analyse der vor dem Krieg virulenten Bilder von „jugendlichen Verbrechern“ standen diverse zeitgenössische Publikationen von Juristen und Kriminologen zur Verfügung. Um herauszufinden, welche Vorstellungen über Ursachen für die allgemein wahrgenommene steigende Jugendkriminalität in der juristischen Fachpresse kursierten und welche weiteren Themen tagesaktuell waren, wurden verschiedene Zeitschriften der Jahrgänge 1914 bis 1918 ausgewertet. Es handelt sich um Das Recht, Der Gerichtssaal, die Deutsche Juristen-Zeitung, die Deutsche Richterzeitung als Organ der Richterschaft, die Deutsche Strafrechts-Zeitung, die Juristische Wochenschrift und die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Diese Zeitschriften decken das Spektrum der juristischen Positionen der damaligen Zeit ab. So zählt die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum strafrechtsreformerischen Spektrum um Franz von Liszt. Sie gilt als die einflussreichste zeitgenössische strafrechtliche Publikation. 64 Die Deutsche Juristen-Zeitung und ihre kleine Schwester, die Deutsche Strafrechts-Zeitung können hingegen eher der „klassischen“ Schule zugerechnet werden. Zur Veranschaulichung der Lebenssituation im Landgerichtsbezirk dienten Angaben aus Publikationen des Königlich Statistischen Landesamtes, Artikel der Zeitung Ulmer Tagblatt zwischen 1914 und 1918, sowie wiederum Material aus der archivalischen Überlieferung des Stellvertretenden Generalkommandos. Methodik und Fragestellungen Da die Historische Kriminalitätsforschung methodisch ein sehr offenes Feld ist, bietet es sich in der Forschungspraxis an, verschiedene Herangehensweisen zu kombinieren. Dies ermöglicht es auch der vorliegenden Studie, mehrere Ebenen der Kriminalität Jugendlicher im Ersten Weltkrieg darzustellen. Daher wurden sowohl quantitative als auch qualitative Herangehensweisen an die Thematik gewählt. 65 64 Vgl. Wetzell, Criminal law reform, S. 163. 65 Auf den Nutzen dieser Vorgehensweise weist auch Joachim Eibach hin, vgl. ders., Kriminalitätsgeschichte, S. 710. <?page no="28"?> Einleitung 29 Insgesamt ist die Studie mikrohistorisch angelegt. Anhand eines konkreten Beispiels werden verschiedene Aspekte des Themenkomplexes Jugendkriminalität im Ersten Weltkrieg analysiert und so verschiedene Ebenen verbunden. Als Beispiel wurde der Landgerichtsbezirk Ulm gewählt. Im Königreich Württemberg gelegen, zeichnete er sich durch eine breit gefächerte Sozialstruktur aus und bestand sowohl aus ländlichen als auch aus städtischen Kommunen. Die Wirtschaftsstruktur war ebenfalls sehr ausdifferenziert, neben agrarisch geprägten Regionen existierten industrielle Zentren. Damit bildet der Landgerichtsbezirk Ulm ein breites Spektrum jugendlicher Lebenswirklichkeiten des Kaiserreiches ab. Er fällt zudem aus dem Raster zeitgenössischer Stereotypen, die Jugendkriminalität aus einer antiurbanen Perspektive als Problem der großen Städte konstruierten. Daher bietet er sich für eine historiographische Analyse von Jugendkriminalität an. Kriminalität ist hier als wertfreier Begriff gebraucht, der lediglich eine Summe strafbarer Handlungen bezeichnet. 66 Wenn von „kriminellen Jugendlichen“ die Rede ist, sind damit ebenfalls wertneutral Jugendliche gemeint, die strafbare Handlungen begangen haben - also nicht im Sinne der Zuschreibung einer charakterlichen oder sonstigen persönlichen Eigenschaft. Auch der Terminus „Jugendlicher“ wird wertfrei entsprechend dem heutigen Sprachgebrauch als Bezeichnung für Heranwachsende gebraucht. Es sei jedoch an dieser Stelle angemerkt, dass der Begriff im zeitgenössischen Duktus weniger geläufig war und häufig per se mit abweichenden Verhaltensweisen in Verbindung gebracht wurde. 67 Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Tatsache, dass der Erste Weltkrieg das Leben und die Lebensumstände der Menschen entscheidend beeinflusste, in vielen Fällen auch beeinträchtigte. Zeitgenössische Beobachter vertraten im Diskurs um die steigende Jugendkriminalität die Möglichkeit kriegsbedingter kriminogener Faktoren, also Auslöser für kriminelles Handeln. Der hier verwendete Diskursbegriff versteht sich als Gegensatz zu ergebnisoffenen Diskussionen. Er soll Reden und Schriften über ein bestimmtes Thema innerhalb eines eingegrenzten Personenkreises bezeichnen, in welchen bestimmte Bilder virulent und mit deren Darstellung konkrete Ziele verbunden sind. Ausgehend von diesen Einflüssen des Krieges auf das Leben der Menschen und den Diskurs um eine Steigerung der Jugendkriminalität sind zwei Fragestellungen maßgeblich. Erstens ist zu fragen, wie sich Jugendkriminalität - exemplarisch im Landgerichtsbezirk Ulm - unter den Bedingungen des 66 Vgl. Schwerhoff, Aktenkundig, S. 24. 67 Vgl. Roth, Erfindung des Jugendlichen, S. 107. <?page no="29"?> Einleitung 30 Ersten Weltkrieges entwickelte. Zweitens soll weiter gehend ergründet werden, wie sich das außergewöhnliche Ereignis „Krieg“ auf die Rechtssprechungspraxis auswirkte. Denn der Arbeit liegt die theoretische Prämisse zugrunde, dass Kriminalität jeweils durch eine Gesellschaft, orientiert an ihren Bedürfnissen, selbst definiert wird. 68 Jede Gesellschaft muss, um das Zusammenleben regeln zu können, Normen als dessen Grundlage aufstellen. Jede Gesellschaft legt demnach selbst fest, was sie als „Kriminalität“ bezeichnet. Die Menschen handeln innerhalb dieses normativen Gerüsts, und bestimmte Handlungen werden als „Kriminalität“ definiert: „Es gibt keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte. Sie wechselt zwar der Form nach; es sind nicht immer dieselben Handlungen, die so bezeichnet werden. Doch überall und jederzeit hat es Menschen gegeben, die sich derart verhielten, daß die Strafe als Repressionsmittel auf sie angewendet wurde.“ 69 Diese Handlungen können auch ohne Definition vorkommen, aber ohne diese normativen Definitionen bilden sie keine „Kriminalität“. „Kriminalität“ ist in dieser Sicht nichts, was eigenständig existieren könnte. Auf der anderen Seite beruht Kriminalität aber keineswegs nur auf Zuschreibungen: „Abweichung ist demnach kein Produkt der Reaktionen anderer, sondern abweichendes Verhalten wird von anderen entdeckt.“ 70 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass strafrechtlich kodifizierte Normen auf Akzeptanz innerhalb einer Gesellschaft angewiesen sind, um auch angewendet werden zu können. Sie können ebenfalls von der Öffentlichkeit infrage gestellt und schließlich modifiziert oder aufgehoben werden, wie beispielsweise der Paragraph 175, welcher lange Zeit homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Anstöße dafür können neben rechtsdogmatischen Diskussionen auch konkrete Strafverfahren sein. Im Jahr 2007 wurde in einigen Medien das Inzestverbot zur Disposition gestellt. Auslöser war der Fall eines getrennt aufgewachsenen Geschwisterpaares, das mehrere gemeinsame Kinder gezeugt hat. So fragt Evelyn Finger in der ZEIT: 68 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 133. 69 Vgl. Durkheim, Regeln, S. 156. Bei der Zitation von Durkheims Aussage, Kriminalität sei normal, wird zumeist unterschlagen, dass er zwar Kriminalität, nicht aber Kriminelle als „normal“ bewertete, vgl. ebd. S. 161. 70 Trotha, Ethnomethodologie, S. 100. <?page no="30"?> Einleitung 31 „Wenn das Tabu ein begründungsloses, vorreligiöses, vormoralisches Verbot aus tiefster Menschheitsgeschichte ist, das von Theologen oder Staaten erst nachträglich zum Gesetz erhoben wird, warum sollten wir uns nicht davon emanzipieren dürfen? Anders gefragt: Wenn unser aufgeklärter Sittenkodex auf primitive Tabus zurückgeht, was ist er dann wert? “ 71 Sie bringt hier die gesellschaftlich Notwendigkeit auf den Punkt, moralische Werte und darüber hinausgehend strafrechtliche Normen gegebenenfalls zu hinterfragen, zu transformieren und so das Funktionieren einer Gesellschaft unter sich permanent wandelnden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Es wird demnach von der „kulturelle[n] Variabilität sozialer Normen“ 72 ausgegangen, zu denen auch Strafgesetze gehören. Damit nimmt die Arbeit Impulse der Theorie des Labeling Approaches in seiner „gemäßigten“ Ausprägung auf. 73 Die strafbare Handlung als solche, also die primäre Devianz, wird dabei immer mit berücksichtigt. Es kann unter diesen Voraussetzungen auch nach konkreten Ursachen strafbarer Handlungen im Krieg gefragt werden. Auf diese Weise wird eine Beschränkung auf Zuschreibungsprozesse vermieden. Die Strafprozesslisten des Landgerichtes Ulm wurden systematisch ausgewertet und die daraus gewonnenen Daten statistisch aufbereitet. Auf der Basis dieser Daten wird die quantitative Entwicklung der vor der Strafkammer des Landgerichtes abgeurteilte Delinquenz Jugendlicher anhand verschiedener Punkte analysiert. Wie verlief die Entwicklung der Anklagen zwischen 1904 und 1918? Gab es Unterschiede bei der Anklagehäufigkeit von männlichen und weiblichen Jugendlichen? Welche Straftatbestände standen zur Anklage? Darüber hinaus werden anhand der Urteile inhaltsanalytisch die Erscheinungsformen jugendlicher Delinquenz während des Ersten Weltkrieges fokussiert. Dabei soll in Anlehnung an die auf Clifford Geertz zurückgehende Technik der Dichten Beschreibung versucht werden, „Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls“ abzuleiten. 74 Im Anschluss daran wird der Deutung jugendlicher Kriminalität, ihrer Be- und Verurteilung durch die Richter nachgegangen. Es soll herausgestellt werden, wie die Richter durch ihre Urteilspraxis „jugendliche Verbrecher“ unter den Rahmenbedingungen des Krieges konstruierten. Die Hauptfrage ist 71 Finger, Tabu. Das Verfassungsgericht entschied im März 2008 zugunsten des Inzestverbotes, vgl. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 29/ 2008. 72 Trotha, Ethnomethodologie, S. 106. 73 Vgl. Becker, Outsiders. 74 Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung. Das Zitat S. 37. <?page no="31"?> Einleitung 32 dabei, ob die Kriegssituation eine Rolle bei der Urteilsfindung der Richter spielte. Welche Ursachen sahen die Richter als ausschlaggebend für delinquentes Verhalten bei Jugendlichen an? Spiegelten sich die Themen der juristischen Fachpresse zwischen 1914 und 1918 auch in der täglichen Arbeit vor Gericht wieder? Gab es hier allgemeine Überschneidungen zum zeitgenössisch virulenten kriminologischen Diskurs oder urteilten die Juristen frei von solchen wissenschaftlich erzeugten Bildern? Aufbau der Arbeit Orientiert an diesen verschiedenen Erkenntnisinteressen und Ebenen der Untersuchung wurde folgender Aufbau gewählt. Im ersten Teil der Arbeit werden allgemeine Grundlagen abgehandelt, auf denen die eigentliche Analyse fußt. Der Erläuterung der theoretischen Konstruktionen von Jugendkriminalität widmet sich das erste inhaltliche Kapitel der Untersuchung. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens agierten die Strafrichter bei ihrem alltäglichen Umgang mit jugendlichen Delinquenten. Dabei werden erstens die rechtlichen Grundlagen erklärt, die strafrechtlich relevante Definition von „Jugendlichen“ und der strafrechtlich geforderte Umgang mit jugendlicher Kriminalität. Da während des Kaiserreichs diese Grundlagen nicht unumstritten waren, soll auch auf Reformversuche eingegangen werden. Sie prägten die Vorstellungen vom sinnvollen Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen mit und besaßen daher auch ohne gesetzliche Verankerung Relevanz (Punkt I.1). Diese strafrechtlichen Definitionen von kriminellen Jugendlichen flankierten im Kaiserreich diskursiv erzeugte Bilder „jugendlicher Verbrecher“. Vertreter der sich formierenden Kriminologie, Juristen, Jugendkundler, Sozialreformer und Pädagogen setzten sich in ihren Publikationen mit dem Phänomen der Jugendkriminalität auseinander. Da der so geschaffene Prototyp des „jugendlichen Verbrechers“ einer fokussierten Anwendung der zunächst allgemein gültigen Strafgesetze auf bestimmte Gruppen Vorschub leistete, darf man ihn nicht ignorieren. Ihm widmet sich Punkt I.2. In Kapitel II wird der Untersuchungsraum, das Gebiet des Landgerichtsbezirkes Ulm, genauer vorgestellt. So soll ein Eindruck vom Lebensumfeld der Menschen und damit auch der dort vor Gericht stehenden Jugendlichen vermittelt werden. Dies geschieht gerade im Hinblick auf die sich wandelnde Lebenssituation während des Krieges. Denn diese Untersuchung geht davon aus, dass sich Kriminalität nicht unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen in einem diskursiv frei gestaltbaren Vakuum oder nur aufgrund von Zuschreibungsprozessen entwickeln kann. <?page no="32"?> Einleitung 33 Den empirischen Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel III bis VIII, die konkret Jugendkriminalität am Beispiel des Landgerichtsbezirkes Ulm untersuchen. Zunächst sollen ausführlich die Besonderheiten der analysierten Strafakten quellenkritisch gewürdigt werden (Kapitel III). Dies geschieht bewusst nicht in der Einleitung, da die Erörterungen den Rahmen einleitender Bemerkungen sprengen würden und den hier notwendigen quellenkritischen Anmerkungen ein eigener Abschnitt gebührt. Kapitel IV zeichnet nach, was von der Straftat bis zur eventuellen Erhebung der Anklage geschah, wie die Instanzen der Strafverfolgung mit straffällig gewordenen Jugendlichen umgingen. Dafür werden die Strukturen der Polizei in Württemberg als Ermittlungsorgan erklärt, um verstehen zu können, mit welchen Ressourcen Straftaten verfolgt werden konnten. Ein Exkurs erläutert den Umgang der Polizeibehörden mit nicht gerichtsnotorischer jugendlicher „Kleinkriminalität“, um die Darstellung abzurunden. Anhand eines gut dokumentierten Einzelbeispiels kann anschließend detailliert der Gang der Ermittlungsarbeit und des Strafverfahrens bis zur Gerichtsverhandlung nachvollzogen werden. Daran anschließend analysiert Kapitel V die Rahmenbedingungen der Prozesse vor der Strafkammer des Landgerichtes Ulm. Es soll gezeigt werden, unter welchen Umständen gegenüber Jugendlichen Recht gesprochen wurde. Wer waren die Juristen, welche Rolle hatten Zeugen und Sachverständige? Dem folgt die ausführliche statistische Auswertung der Strafprozesse, um die quantitativen Trends der Gerichtstätigkeit aufdecken zu können (Kapitel VI). Der Bogen wird dabei von 1904 bis 1918 geschlagen, da Veränderungen der Kriegszeit nur im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich werden. Auf dieser Basis kann anhand von Einzelfällen exemplarisch untersucht werden, welche Formen jugendlicher Delinquenz im Ersten Weltkrieg gerichtsnotorisch wurden. Dem widmet sich Kapitel VII. Nicht nur die Strafjustiz, auch die juristische Fachpresse beschäftigte sich mit dem Thema Jugendkriminalität im Ersten Weltkrieg und bot eigene Deutungen an. Ausgehend von den konkret im Landgerichtsbezirk gerichtlich zu ahndenden Formen jugendlicher Kriminalität und den fachpublizistischen Analysen stellt sich nun unweigerlich die Frage, wie die Richter des Landgerichtes Ulm diese Kriminalität sowie die „Täter“ wahrnahmen und wie sie damit verfuhren. Diesem vielschichtigen Komplex der Urteilsfindung im Krieg widmet sich Kapitel VIII. Resümierende Bewertungen der gewonnenen Erkenntnisse runden die Studie ab. <?page no="34"?> Erster Teil: Allgemeine Grundlagen <?page no="36"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 1. Strafrechtliche Definition von Jugendkriminalität und strafrechtlicher Umgang mit delinquenten Jugendlichen Bevor dargestellt werden kann, wie sich die Jugendkriminalität im Ersten Weltkrieg im Landgerichtsbezirk Ulm entwickelte und wie im Einzelfall vor Gericht mit delinquenten Jugendlichen verfahren wurde, muss zunächst ein Blick auf die zeitgenössischen rechtlichen Definitionen von „Jugendkriminalität“ und den strafrechtlichen Umgang mit „kriminellen Jugendlichen“ geworfen werden. Im Folgenden sollen daher diese strafrechtlichen Rahmenbedingungen für das Kaiserreich erläutert werden. Dabei wird zunächst der Stand der Strafgesetzgebung gegenüber Jugendlichen erläutert. Anschließend soll kurz auf die sich seit den 1880er-Jahren formierende jugendstrafrechtliche Reformbewegung eingegangen werden. Zwar manifestierten sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nur wenige der Forderungen in gesetzlichen Regelungen. Es lässt sich aber ein Bewusstseinswandel gegenüber jugendlichen Delinquenten feststellen, der auch bei den Verfahren vor dem Ulmer Landgericht eine Rolle spielte. Dies wird später noch zu zeigen sein. a. Das „Jugendstrafrecht“ im Kaiserreich Ein spezielles „Jugendstrafrecht“, das für seine Klientel maßgeschneidert gewesen wäre, gab es während des Kaiserreiches nicht. Das Jugendstrafrecht blieb bis in die Weimarer Republik ein Teil des allgemeinen Strafrechts. 75 Erst mit dem Jugendgerichtsgesetz von 1923, dessen Wurzeln jedoch bis in die Zeit des Kaiserreiches zurück reichen, separierte man die Behandlung delinquenter Jugendlicher teilweise. 76 Jugendliche behandelte die Justiz, abgesehen von kleinen Ausnahmen, die hier vorgestellt werden, bis dato verfahrens- und materiellrechtlich wie Erwachsene. Daher kann von einem Jugendstrafrecht im engeren Sinne für das Kaiserreich nicht gesprochen werden. 75 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 1. 76 Vgl. Peukert, Grenzen, S. 138 f. <?page no="37"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 38 Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich trat am 15. Mai 1871 in Kraft, zunächst allerdings nicht in den süddeutschen Bundesstaaten. In Baden, Bayern und Württemberg wurde es erst am 1. Januar 1872 rechtskräftig. Es war nahezu identisch mit dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund. 77 Bei der Ausarbeitung des neuen Strafgesetzbuches orientierten sich die Verfasser am preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Dieses wiederum lehnte sich an den französischen Code pénal von 1810 an. 78 Das spätere Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich war somit ein „echtes“ Kind der Strafrechtsschule des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, als deren Begründer Anselm von Feuerbach gilt. Der Zweck von Strafen lag nach Feuerbach in der Abschreckung der Allgemeinheit. Man spricht in diesem Falle vom generalpräventiven Charakter der Strafen. 79 Dem Konzept der Generalprävention liegt die Annahme zugrunde, dass der mündige Bürger als Adressat der Strafgesetze durch Strafandrohung motiviert werden kann, eine Straftat nicht zu begehen. 80 Bei der Strafzumessung orientierten sich die Juristen hauptsächlich an der Tat, die Persönlichkeit des Täters spielte eine ergänzende Rolle. Durch die Strafe sollte vergangenes Unrecht gesühnt werden. Mögliche zukünftige Handlungen des straffällig gewordenen Bürgers waren für die Strafzumessung nicht ausschlaggebend. 81 Drei Paragraphen, 55 bis 57, widmeten die Verfasser des Strafgesetzbuches den Jugendlichen. Zunächst wurde die Grenze der absoluten Strafunmündigkeit festgelegt. In Paragraph 55 heißt es: „Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden.“ 82 Eine entscheidende Ergänzung erhielt dieser Paragraph im Jahr 1876. Nun war es möglich, bei strafunmündigen, aber straffällig gewordenen Kindern Besserungsmaßnahmen anzuordnen. Hieran wird die Entwicklung zu einer stärkeren Ausrichtung der Strafrechtspflege am Täter deutlich. Im Zuge der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahre 1896 erweiterte man die Unterbringungsmöglichkeiten um Familienerziehung, der Zusatz erhielt folgende Form: 77 Vgl. Geus, Mörder, S. 237. 78 Vgl. Krause, Geschichte des Strafvollzugs, S. 79. 79 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts, S. 463 ff.; Wetzell, Criminal law reform, S. 9 und 21 f. 80 Vgl. Rüping/ Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, S. 101. Siehe auch Wetzell, Criminal law Reform, S. 26 f.; sowie Baumann, Verbrechen, S. 35. 81 Vgl. Voß, Jugend, S. 57 f.; sowie Oberwittler, Strafe, S. 61 und 93. 82 § 55 RStGB in der Fassung von 1872. <?page no="38"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 39 „Gegen denselben können jedoch nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Die Unterbringung in eine Familie, Erziehungsanstalt oder Besserungsanstalt kann nur erfolgen, nachdem durch Beschluß des Vormundschaftsgerichtes die Begehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.“ 83 Hier bot sich aus Sicht von Michael Voß ein Einfallstor für Maßnahmen gegen eigentlich strafunmündige Kinder unter zwölf Jahren, da man gegen sie Erziehungsmittel anordnen konnte. 84 Die Dauer der Zwangserziehung war nur grob begrenzt, in Preußen konnte sie beispielsweise im Extremfall bis zum Ende des 17. Lebensjahres dauern. 85 Weitere Modifikationen des Paragraphen 55 gab es im Untersuchungszeitraum nicht, auch die Paragraphen 56 und 57 blieben unverändert. Die relative Strafmündigkeit der zwölfbis siebzehnjährigen Jugendlichen definierte Paragraph 56: „Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr.“ 86 Das Reichsgericht stellte in einem Urteil von 1887 klar, dass sich die Einsichtsfähigkeit auf die intellektuelle und nicht auf die geistige Reife eines Jugendlichen gründe. Ein eigenes Werturteil wurde dem jugendlichen Rechtsbrecher vom Gesetzgeber nicht abverlangt. 87 Das Wissen, nicht das Verstehen war das Kriterium, um einen Jugendlichen verurteilen oder mangels Einsichtsfähigkeit freisprechen zu können. So konnte der Richter einen 83 § 55 RStGB. Wenn nichts anderes angegeben wird, wurde wie in diesem Fall zitiert aus Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze, 1. bis 14., neu bearb. u. ergänzte Aufl., Tübingen 1915. Andere verwendete Ausgaben siehe Anhang. 84 Vgl. Voß, Jugend, S. 61. 85 Vgl. Peukert, Grenzen, S. 71. 86 § 56 RStGB in der Fassung von 1872. 87 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 108 f. <?page no="39"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 40 jugendlichen Dieb fragen, ob dieser das 8. Gebot, „du sollst nicht stehlen“, kenne. Wenn er bejahte, konnte er verurteilt werden. 88 Er musste das Wissen nicht auf sich selbst und seine eigene Handlung beziehen können. Der letzte „Jugendparagraph“ des Reichsstrafgesetzbuches legte den Rahmen des Strafmaßes der einsichtsfähigen, strafmündigen zwölfbis siebzehnjährigen Jugendlichen fest. Stand regulär die Todesstrafe oder eine lebenslängliche Zuchthausstrafe auf das begangene Delikt, galt für Jugendliche ein Strafrahmen von drei bis 15 Jahren Gefängnis; lebenslanger Festungshaft für erwachsene Straftäter entsprach drei bis 15 Jahren Festungshaft. Zuchthausstrafen konnten generell nicht verhängt werden, an ihre Stelle traten Gefängnisstrafen gleicher Dauer. Ebenfalls unzulässig als Bestrafung waren der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie Polizeiaufsicht. Griffen die erstgenannten spezifischen Kriterien nicht, so war der Strafrahmen aus dem gesetzlich festgeschriebenen Mindestbetrag und der Hälfte des Höchstbetrages - wobei unter Betrag hier auch Freiheitsentzug zu verstehen ist - zu schöpfen. Bei Vergehen oder Übertretungen durfte in „besonders leichten Fällen“ auf Verweis erkannt werden. Schließlich forderte der Gesetzgeber, Freiheitsstrafen „in besonderen, zur Verbüßung von Strafen jugendlicher Personen bestimmten Anstalten oder Räumen zu vollziehen.“ 89 Für Jugendliche existierten demnach keine eigens für sie konzipierten Sanktionsarten. Die Sanktionen, die für Erwachsene zur Verfügung standen, wurden von wenigen Ausnahmen abgesehen in abgemilderter Form auch zur Bestrafung von jugendlichen Delinquenten verhängt. Erspart blieben jugendlichen Verurteilten, wie erwähnt, Zuchthausstrafen. Bei diesen bestand Arbeitspflicht, auch außerhalb der Strafanstalt. Dazu kamen die Nebenfolgen. Ein Zuchthaushäftling verlor lebenslang die Befähigung zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Auch bei Gefängnisstrafen, für Jugendliche zulässig, bestand zwar Arbeitspflicht. Außerhalb der Anstaltsmauern durfte Arbeit aber nur mit Einwilligung der Häftlinge angeordnet werden. Eine räumliche Trennung von Zuchthaus- oder Gefängnishäftlingen war nicht obligatorisch. 90 In der Regel befanden sie sich in derselben Haftanstalt, so in Berlin-Moabit. 91 Die privilegierte Festungshaft verbüßten Häftlinge in besonderen Anstalten ohne Arbeitsverpflichtung. Duelldelikte und bestimmte politische Delikte ahndete die Justiz im Kaiserreich mit diesem nicht entehrenden Freiheitsent- 88 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 30. 89 Vgl. § 57 RStGB in der Fassung von 1872. 90 Vgl. Krause, Geschichte des Strafvollzugs, S. 80. 91 Vgl. Geus, Mörder, S. 241. <?page no="40"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 41 zug. 92 Damit war Festungshaft eine Strafart insbesondere für die „oberen Schichten“. Zu diesen Bestimmungen des Strafgesetzbuches kamen ab 1877 die prozessualen Vorgaben der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes, welche 1879 in Kraft traten. Auch hier stellte der Gesetzgeber wenige Regelungen speziell für Jugendliche auf. Paragraph 140 Ziffer 1 legte etwa fest, dass Jugendliche unter 16 Jahren vor dem Landgericht einen Verteidiger brauchten. 93 In einem entscheidenden Punkt waren jugendliche und erwachsene Angeklagte gleichgestellt. Die Verfahren hatten jeweils öffentlich stattzufinden. Dieses mündlich-öffentliche Verfahren war ursprünglich zum Schutz der Angeklagten vor staatlicher Willkür eingeführt worden. 94 Kritiker gaben allerdings zu bedenken, dass öffentliche Verfahren gegen Jugendliche mitnichten im Sinne der Angeklagten seien. Für jungen Menschen wirke ein solches Prozedere wie ein Schock, sie würden ganz aus der Bahn geworfen. Auf ältere Jugendliche, so mutmaßten die Kritiker, könne ein Verfahren, bei dem sie im Mittelpunkt stünden, spannend wirken. Das begrüßten sie ebenfalls nicht. 95 b. Die strafrechtliche Reformbewegung Das Reichsstrafgesetzbuch war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Reformprozesses und bildete seinen Endpunkt. Mit Inkrafttreten stand es relativ bald zur Disposition und in Juristenkreisen diskutierte man Reformpläne. 96 Dabei blieb die Reformbewegung nicht auf Deutschland beschränkt, im Gegenteil - es handelte sich um ein internationales Phänomen. Motor der Reformbestrebungen war die 1889 gegründete Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV). Auf zahlreichen internationalen Fachkongressen tauschten sich Experten verschiedenster Länder über kriminalpolitische Themen aus. 97 Auch dar- 92 Vgl. Krause, Geschichte des Strafvollzugs, S. 79 f. 93 Vgl. § 140 Zif. 1 StPO. Wenn nichts anderes angegeben wird, wurde wie in diesem Fall zitiert aus Ewald Löwe, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich nebst dem Gerichtsverfassungsgesetz und den das Strafverfahren betreffenden Bestimmungen der übrigen Reichsgesetze, 13. Aufl., Berlin 1913. Weitere Ausgaben siehe Anhang. 94 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 2, S. 185. 95 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 35. 96 Vgl. Kesper-Biermann, Einheit und Recht, S. 369-371. 97 Vgl. dies., IKV, S. 85 ff. Siehe als Beispiel die Beschäftigung mit dem Strafvollzug dies., Wissenschaftlicher Ideenaustausch. Zur Internationalisierung des Jugendstrafrechts siehe Fuchs, Strafen. <?page no="41"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 42 über hinaus funktionierte der Länderaustausch. So reiste beispielsweise 1906 eine deutsche Kommission nach England, um sich im Zuge der Reformarbeiten am deutschen Strafprozessrecht über das in England bei jugendlichen Delinquenten praktizierte Verfahren zu informieren. 98 Die größte Landesgruppe der IKV bestand im Deutschen Reich. Sie trat auf nationaler Ebene für die Reform des Strafrechtes ein. 99 Grob formuliert spalteten die Strafrechtler sich damit in zwei Lager, Anhänger der so genannten „klassischen“ Strafrechtsschule auf der einen und Anhänger der so genannten „modernen“ Strafrechtsschule auf der anderen Seite. Die dadurch ausgelöste innerjuristische Debatte gilt als der Schulenstreit der Strafrechtsgeschichte, jahrzehntelang standen sich beide Fraktionen gegenüber. 100 Als Reaktion auf die auch in Deutschland zunehmend präsenter werdenden kriminologischen Theorien, durch welche die Ätiologie des Verbrechens ins Blickfeld rückte und damit auch eine stärkere Hinwendung zu den „Verbrechern“ folgerichtig war, fokussierten sich die „modernen“ Strafrechtler zunehmend auf die Täter. 101 Die Reformer sahen den Zweck der Strafe darin, die Gesellschaft vor Kriminalität zu schützen. Silviana Galassi bringt den Paradigmenwechsel prägnant auf den Punkt: „Diese einseitige Betonung des Schutzgedankens, d. h. der Verbrechensverhütung, impliziert einen Wechsel von einer retrospektiven zu einer prospektiven Ordnung der Strafe.“ 102 Maßstab für die Strafzumessung sollte nicht mehr (nur) die in der Vergangenheit liegende Tat gemäß dem Tatvergeltungsrecht, sondern die Persönlichkeit des Täters sein. Denn diese war in den Augen der Reformer für die weitere „Karriere“ entscheidend. Beim Täter musste angesetzt werden, so die Meinung, wenn zukünftige Straftaten verhindert werden sollten. 103 Diese Sichtweise formulierte besonders pointiert der Psychiater und Kriminologe Emil Kraepelin. Er wollte Strafe als Verwaltungsmaßregel zum Schutz der Gesellschaft, um „die soziale Krankheit des Verbrechertums“ beseitigen zu können, und nicht in ihrer Funktion als „Richten“ verstanden wissen. 104 Damit wurde der eigentlich einer gerichtlichen Strafe zugrunde liegende Gedanke obsolet. 98 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 73. 99 Wetzell, Criminal law reform, S. 166. 100 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 125. Zu den unterschiedlichen Positionen speziell im Bezug auf Jugendliche siehe Oberwittler, Strafe, S. 92-101. 101 Vgl. Wetzell, Criminal law reform, S. 83; ders., Inventing the Criminal, S. 33 ff. 102 Galassi, Kriminologie, S. 344. 103 Vgl. Schauz, Strafen, S. 201 f. 104 Vgl. Kraepelin, Verbrechen als soziale Krankheit, S. 34 f. <?page no="42"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 43 So weit wie Kraepelin wollten die Juristen nicht gehen. Allerdings nahm der Nestor der „modernen“ Strafrechtsschule, Franz von Liszt, eine Dreiteilung der Delinquenten und den ihnen angemessenen Strafen vor: Abschreckung für Augenblickstäter, Besserung für Zustandstäter, Unschädlichmachung für unverbesserliche Zustandstäter. 105 Dass dabei auch explizit Jugendliche in den Fokus der Reformer gerieten, lag nahe, galten jugendliche Delinquenten doch als besonders formbar und somit als ideale Objekte eines am Täter orientierten Spezialpräventionsrechts. 106 Weitestgehende Einigkeit herrschte darüber, dass in der Jugend die Weichen für den späteren - moralisch richtigen oder falschen - Lebensweg gestellt würden. Das Tun der Jugendlichen erfuhr einen über den Augenblick hinausweisenden Bedeutungszuwachs. 107 Die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher entschied damit auch über die zukünftige Entwicklung der Kriminalität. c. Ziele der Reformbewegung hinsichtlich der Behandlung Jugendlicher Die Hauptforderung der Strafrechtsreformer war die Einführung des Erziehungsgedankens in das Strafrecht. Abschreckung, so die Begründung, könne bei Jugendlichen nicht wirken, da sie nicht aus freiem Willen nach Abwägung der moralischen Regeln kriminell würden. Eine langfristige Besserung der Jugendlichen, um zukünftige Straftaten zu verhindern, sollte unwirksame Abschreckungsmaßnahmen ersetzen. 108 Wichtig ist, dass diese erzieherische Einwirkung auf straffällig gewordene Jugendliche mit Hilfe langer Freiheitsstrafen respektive einem langen Zwangsaufenthalt in Besserungsanstalten erzielt werden sollte. 109 Ein jugendgerechtes Strafrecht im Sinne der Reformer bedeutete keine Abkehr von Sanktionen, im Gegenteil. 110 Allerdings sah man Fürsorgeerziehung nicht als Strafe, sondern als Wohltat für die Jugendlichen an, die zu ihrem Besten zurück auf die „gerade Bahn“ geleitet werden sollten. 111 105 Vgl. Wetzell, Criminal law reform, S. 73 f.; ders., Inventing the Criminal, S. 35 f.; Galassi, Kriminologie, S. 126 f.; Baumann, Verbrechen, S. 50. 106 Vgl. Peukert, Grenzen, S. 72. 107 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 98. 108 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 74 f. 109 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 141. 110 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 32. 111 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 84. <?page no="43"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 44 Kritik rief unter Strafrechtsreformern die Tatsache hervor, dass Jugendliche wegen Bagatellen wie Schule schwänzen ins Gefängnis geschickt werden konnten. 112 Das Problem lag für die Reformer nicht in der Sanktion, sondern darin, dass die Gerichte bei solchen Bagatellen logischerweise nur kurze Freiheitsstrafen verhängten. Von Liszt vertrat die Auffassung, kurze Gefängnisaufenthalte richteten mehr Schaden an als sie beseitigten. Denn nur bei längerem Freiheitsentzug bestünde die Möglichkeit, erzieherisch auf die jugendlichen Delinquenten einzuwirken. 113 Eine weitere Forderung, welche die Reformer erhoben, war das Anheben der Strafmündigkeitsgrenze. Konsens herrschte darüber, dass Kinder nicht strafrechtlich sanktioniert werden sollten. 114 Uneins war man aber zunächst, ob die Grenze von zwölf auf 14 oder 16 Jahre angehoben werden sollte. Biologische Argumente wie das Ende der Pubertät führten die Vertreter einer Anhebung des Alters der Strafmündigkeit auf das vollendete 16. Lebensjahr ins Feld. Durchsetzen konnten sich letztendlich Befürworter von 14 Jahren als Grenze. Sie argumentierten mit sozialen Faktoren. 14 Jahre markiere den Übergang von der Kindheit in die Welt der Erwachsenen durch die Schulentlassung. 115 Zudem war den Reformern der Paragraph 56 des Strafgesetzbuches ein Dorn im Auge. Wenn ein Jugendlicher nach Meinung des erkennenden Gerichts die notwendige Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlung besessen hatte, so musste er vom erkennenden Gericht verurteilt werden. Das Gericht konnte nicht eigenständig Erziehungsmaßnahmen anordnen, falls es dies als sinnvoller im Vergleich zu einer „herkömmlichen“ Strafe erachtete. Erziehungsmaßnahmen konnte das erkennende Gericht nur bei Delinquenten ohne Einsichtsfähigkeit veranlassen. Die Reformer wollten es dem Ermessen des Richters überlassen, ob es gegebenenfalls angebracht wäre, einen schuldfähigen Jugendlichen statt ins Gefängnis in eine Erziehungsanstalt zu schicken. 116 Natürlich bestand die Möglichkeit, im Nachhinein ein Fürsorgeerziehungsverfahren zu initiieren, die Entscheidungshoheit lag dann allerdings beim Vormundschaftsgericht. Auch die Orientierung der Einsichtserfordernis an 112 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 26. 113 Vgl. Voß, Jugend, S. 95. 114 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 26. 115 Vgl. Kubink, Strafen, S. 133. 116 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 101. <?page no="44"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 45 der Verstandesreife und nicht an der sittlichen Reife sowie der Willensreife provozierte Kritik. Das umfassende Verstehen bliebe so ausgeblendet. 117 d. Legislative Reformersuche Die Forderungen der Reformer blieben vor dem Ersten Weltkrieg keine reinen Gedankenspiele, es gab durchaus Versuche, sie in geltendes Recht zu transformieren. Vertreter der „modernen“ und der „klassischen“ Schule hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Stück aufeinander zu bewegt. Die Reformarbeit am Strafrecht konnte daher in Angriff genommen werden. 118 Zunächst wurde das Strafprozessrecht einer Revision unterzogen. Das Reichsjustizamt veröffentlichte 1908 den Entwurf für eine neue Strafprozessordnung. Das Legalitätsprinzip, welches einen Automatismus der Strafverfolgung bedingte, sollte nur noch eingeschränkte Gültigkeit haben. Nach dem Legalitätsprinzip, verankert in Paragraph 152 der Strafprozessordnung, musste die Staatsanwaltschaft bei allen „gerichtlich strafbaren und verfolgbaren“ Handlungen einschreiten, „sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“. 119 Eine Strafverfolgung durfte demnach prinzipiell nicht aus „Zweckmäßigkeitsgründen“ wie dem jugendlichen Alter der Täter oder der scheinbaren Unerheblichkeit der Tat unterbleiben. 120 Durch eine Lockerung wäre es für die Staatsanwaltschaft möglich geworden, bei Jugendlichen von einer öffentlichen Klage abzusehen, sollte das öffentliche Interesse dagegen sprechen. Die Akte des betreffenden Jugendlichen musste in diesem Fall an die Vormundschaftsbehörde weitergegeben werden. 121 1912 lag ein weiterer Gesetzesentwurf des Reichstages bezüglich des Strafverfahrens gegen Jugendliche vor. Anfang 1913 übergab der Reichstag diesen Entwurf an eine Kommission, die weiter gehende Vorschläge einbrachte. Durch den Kriegsausbruch gerieten die Reformbemühungen zunächst ins Stocken. 122 117 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 30; sowie Anbringen des Kgl. Wü. Staatsministeriums vom 1.7.1912 an den König betreffend die Reform des Strafrechtes, S. 14, HStAS E 14, Bü 499. 118 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 159. 119 Vgl. § 152 StPO. 120 Vgl. Löwe, Kommentar zu § 152 StPO, S. 535. Dazu kritisch Liepmann, Kriminalität, S. 33. Gerichtlich strafbar waren auch die Polizeiübertretungen, etwa wenn sie in Kombination mit Vergehen oder Verbrechen vor Gericht abgeurteilt wurden. 121 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 70 f. 122 Vgl. Wolff, Entwicklung Gesetzgebung, S. 127. <?page no="45"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 46 An einem neuen Strafgesetzbuch feilte eine Kommission aus Ministerialjuristen seit 1906. Ihr Vorentwurf für ein neues Strafgesetzbuch wurde schließlich 1909 veröffentlicht. 123 Das württembergische Justizministerium bereitete 1910 die Ergebnisse für das württembergische Staatsministerium auf. In einem umfangreichen Schreiben heißt es konkret zur geplanten Behandlung jugendlicher Delinquenten: „Drei grundlegende Aenderungen nimmt er [der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch, Anm.] an dem gegenwärtigen Rechte vor. Er rückt die Altersgrenze der unbedingten Strafunmündigkeit vom vollendeten 12. auf das vollendete 14. Lebensjahr hinauf, beseitigt das Erfordernis der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht und trifft Vorsorge, dass das Gericht anstatt oder neben einer Freiheitsstrafe die Ueberweisung des jugendlichen Gesetzesübertreters zur staatlich überwachten Erziehung anordnen kann, wenn die Tat hauptsächlich als Folge mangelhafter Erziehung erscheint oder anzunehmen ist, dass Erziehungsmassregeln notwendig sind, um den Täter an ein gesetzmässiges Leben zu gewöhnen.“ 124 Hier finden sich maßgebliche Forderungen der Reformbewegung wieder. Zudem wiesen die Autoren des Entwurfes explizit darauf hin, wie wichtig bei der Sanktionierung jugendlicher Delinquenten der Erziehungsgedanke sei. 125 Man sieht, dass durchaus breiterer Konsens über die Berechtigung der Forderungen der Reformbewegung herrschte. Auch der württembergische Justizminister kam zu dem Schluss, „dass der Vorentwurf in seiner Anlage und in seiner Tendenz als eine brauchbare Grundlage für die weiteren Reformarbeiten anzusehen ist.“ 126 Allerdings erntete der Vorentwurf auch zahlreiche kritischer Stellungnahmen. Daher setzte die Reichsregierung 1911 eine unabhängige Kommission ein, die bis 1913 einen weiteren Entwurf erarbeitet. Dieser Entwurf wurde allerdings erst 1921 veröffentlicht. 127 123 Vgl. Wetzell, Criminal law reform, S. 281; Kubink, Strafen, S. 147. 124 Schreiben des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Wü. Staatsministerium vom 11.6.1910, Betreff: Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, S. 84, HStAS E 130b, Bü 2252. 125 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 34 f. 126 Schreiben des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Wü. Staatsministerium, S. 120, HStAS E 130b, Bü 2252. 127 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 84 f. <?page no="46"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 47 e. Praktische Umsetzung von Reformvorschlägen bis zum Ende des Kaiserreiches Trotz dieser Reformarbeiten verschiedener Kommissionen hatte bis auf kleinere Korrekturen der bestehenden Strafrechtspraxis für jugendliche Delinquenten vom Anfang bis zum Ende des wilhelminischen Kaiserreiches rein formal das ursprüngliche System Bestand. Überraschenderweise wurde aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Forderung der Strafrechtsreformer durch Erlasse der Bundesstaaten umgesetzt: die Einführung der bedingten Begnadigung. In der Öffentlichkeit und in Fachkreisen rief dieses Konzept der Reformer äußerst kontroverse Einschätzungen hervor. Unter den Justizministern der einzelnen Bundesstaaten fand es jedoch eine Mehrheit und so konnte die bedingte Begnadigung in der Strafrechtspraxis verankert werden. 128 Sachsen machte 1895 mit dem entsprechenden Erlass den Anfang, Preußen folgte noch im selben Jahr. 129 Erst 1902 vereinbarten die Bundesstaaten bedingte Begnadigung und bedingten Strafaufschub als gemeinsamen Grundsatz. 130 Vorbildcharakter besaßen hier gesetzliche Regelungen anderer Staaten, wie etwa die bedingte Verurteilung in Belgien oder Frankreich. In Kontakt mit diesen Konzepten kamen deutsche Juristen auch durch die IKV. 131 Hier manifestiert sich erneut die internationale Verzahnung strafrechtlicher Reformbemühungen. Im Königreich Württemberg führte das Justizministerium auf Erlass des Königs dieses Verfahren am 26. Februar 1896 ein. Strafaufschub mit Aussicht auf Begnadigung konnte bei rechtskräftig verurteilten Personen, welche bei Begehung der Tat noch nicht 18 Jahre alt waren und deren Freiheitsstrafe drei Monate nicht überschritt, gewährt werden. Davon ausgeschlossen waren Jugendliche, die ihre Straftaten in Folge von angeblicher „Verwahrlosung“ oder „verbrecherischen Neigungen“ begangen oder schon eine Freiheitsstrafe verbüßt hatten. Nur Jugendliche, bei denen „der begangene Fehltritt mehr durch Uebereilung, Unbesonnenheit, Unerfahrenheit und Verführung veranlaßt ist, und wo eine im Allgemeinen noch sittlich 128 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 381 f. 129 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 50 ff. 130 Vgl. Wolff, Entwicklung Gesetzgebung, S. 125. Wolff nennt das Jahr 1903, tatsächlich kam die Vereinheitlichung bereits 1902. Siehe ausführlich zur bedingten Begnadigung Punkt VI.8. 131 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 296 f. <?page no="47"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 48 unverdorbene Persönlichkeit die Hoffnung auf künftiges Wohlverhalten begründet“, konnten in den Genuss dieser landesherrlichen Mildtätigkeit kommen. 132 Vorstrafen schlossen einen Strafaufschub mit bedingter Begnadigung allerdings nicht per se aus. Ausnahmen waren auch bei erwachsenen Verurteilten oder bei Jugendlichen, die eine Freiheitsstrafe länger als drei Monate zu verbüßen hatten, durchaus möglich. Hier kam es auf die Persönlichkeit des Delinquenten und die äußeren Umstände an. 133 Das Verfahren der bedingten Begnadigung war zwar nicht auf Jugendliche beschränkt, sollte aber gerade bei ihnen angewendet werden. Daher machten in Preußen 70 Prozent der bedingten Begnadigungen solche für jugendliche Delinquenten aus. 134 Dieses Verfahren ähnelt der heute praktizierten Strafaussetzung zur Bewährung, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Heute hat das Gericht die Befugnis, über die Bewährung zu entscheiden, damals lag die Entscheidung formal bei den Landesherren. Diese delegierten das Begnadigungsrecht zwischen 1895 und 1903 auf ihre Justizminister. 135 Das Gericht hatte nur ein Vorschlagsrecht. 136 Eine Sensibilisierung im Umgang mit jugendlichen Angeklagten zeigte auch die Einrichtung von speziellen Jugendgerichten ab 1908. Auch dies war keine deutsche Innovation, im internationalen Vergleich kam die Einrichtung relativ spät. Weltweiter Vorreiter waren die USA, genauer gesagt die Stadt Chicago. Hier gründete das städtische Gericht 1899 die erste Jugendstrafkammer der Welt. Ausgangspunkt waren auch hier Beobachtungen zum scheinbaren Problem mit jungen Männern, meist aus Immigrantenfamilien, die angeblich unbeaufsichtigt und disziplinlos ihre Zeit in der Stadt verschwendeten und kriminell zu werden drohten. Neben Spielplätzen und anderen vorbeugenden Maßnahmen war das Jugendgericht letzte Konsequenz, um dem „boy problem“ differenziert begegnen zu können. Eine pädagogische Orientierung der Rechtssprechung gegenüber Jugendlichen - nicht ausschließlich der männlichen - wurde dadurch angestrebt. Bis 1905 behandelte das Chicagoer Jugendgericht Strafsachen gegen Jugendliche bis 16 Jahre. In 132 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 26.2.1896 betreffend die Ertheilung von Strafaufschub mit der Aussicht auf Begnadigung nach Ablauf einer Probezeit, in: ABl Wü JM 1896, S. 23-27. 133 Vgl. ebd. 134 Vgl. Wolff, Föderalismus, S. 285. 135 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts, S. 469. 136 Siehe ausführlich zum Prozedere der bedingten Begnadigung Punkt VI.8. <?page no="48"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 49 diesem Jahr wurde die Altersgrenze für Jungen auf 17 Jahre und für Mädchen auf 18 Jahre angehoben. 137 Diese Ausdifferenzierung des Gerichtswesens forderten Jugendstrafrechtsreformer in Deutschland ab 1905. Das erste deutsche Jugendgericht wurde auf dem Wege der Geschäftsverteilung in Frankfurt am Main eingeführt, danach in Köln, Berlin und anderen Städten. Ende 1909 fanden sich in 70 Städten des Deutschen Reiches eigene Jugendgerichte, schon seit 1908 auch in Stuttgart. 138 Für das Frankfurter Jugendgericht galt ein „Reinheitsgebot“. Verhandelt wurden lediglich Strafsachen, bei denen ausschließlich Jugendliche angeklagt waren. Standen Jugendliche und Erwachsene gemeinsam vor dem Richter, so war das Jugendgericht nicht zuständig. Die angestrebte Separierung von Jugendlichen und Erwachsenen ging also zu Lasten der Jugendlichen, die ihre Straftat nicht ausschließlich mit Gleichaltrigen begangen hatten. 139 Da im Falle der Jugendgerichte die Initiative nicht von der Reichsregierung, sondern von lokalen Instanzen und schließlich von den Ministerien der Bundesstaaten ausging, bestanden in der Praxis große Differenzen zwischen den einzelnen Jugendgerichten. Nur die Grundsätze stimmten überein. 140 Dazu zählte die Personalunion von Straf- und Vormundschaftsrichter. 141 In die Praxis des Strafvollzugs kam ab 1912 Bewegung. In Wittlich an der Mosel wurde eine besondere Haftanstalt eröffnet. Das Gefängnis in Wittlich wird in der Literatur als das erste deutsche Jugendgefängnis dargestellt. 142 Dies suggeriert jedoch fälschlicherweise, dort hätten zwölfbis siebzehnjährige Jugendliche ihre Haftstrafen verbüßt, also Delinquenten, die gemäß Paragraph 57 verurteilt worden waren. Dem war allerdings nicht so. Wittlich beherbergte um die 150 männliche Gefangene von 18 bis 21 Jahren. Sie waren im Sinne des Strafgesetzes keine Jugendlichen mehr. Wittlich war also kein Jugendgefängnis im engeren Sinn. 143 Trotzdem war es der erste Versuch, für jüngere Menschen besondere Haftbedingungen zu schaffen. Wittlich hatte Modellcharakter für die weitere Entwicklung. 144 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte zunächst weitere Reformarbeiten des Jugendstrafrechtes. Weder Änderungen des materiellen 137 Vgl. Willrich, City of Courts, S. 208 f. Siehe auch Siemens, Forschung, S.43 f. 138 Vgl. Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 35. Ausführlich Peukert, Grenzen, S. 87 ff. 139 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 60. 140 Vgl. Wolff, Föderalismus, S. 286 ff. 141 Vgl. Fritsch, Reformbewegung, S. 62. 142 So Krause, Geschichte des Strafvollzugs, S. 83 f.; Roth, Entstehung Jugendstrafrecht, S. 36; sowie Schauz, Strafen, S. 270. 143 Vgl. Dörner, Erziehung durch Strafe, S. 55. 144 Vgl. Schauz, Strafen, S. 193. <?page no="49"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 50 Strafrechts noch des Strafverfahrensrechts konnten in die Tat umgesetzt werden, andere Themen bestimmten die politische Agenda. Ein Grund für die Stagnation mag auch gewesen sein, dass ein Motor der jugendstrafrechtlichen Reformbewegung im Krieg zum Stillstand kam. Die Arbeit der IKV verebbte 1914. Nach Kriegsende wurde die Zusammenarbeit der IKV so nie wieder aufgenommen. 145 Erst gegen Ende des Krieges forcierte das Reichsjustizamt eine Wiederaufnahme der Reformarbeit hinsichtlich des Jugendstrafverfahrens „[i]m Hinblick auf die zunehmende Kriminalität der Jugendlichen“. 146 Die Wahrnehmung des aktuellen Umgangs mit kriminellen Jugendlichen als problematisch und nicht mehr zeitgemäß hatte sich unter dem Eindruck der Jugendkriminalitätsentwicklung zugespitzt. Der Krieg wirkte demnach als Katalysator jugendstrafrechtlicher Reformbemühungen. Vertreter der Bundesstaaten trafen sich Ende Oktober auf Einladung des Reichsjustizamtes in Berlin zu einer Besprechung. Sie sprachen sich für die Wiedereinbringung des Gesetzentwurfes über das Verfahren gegen Jugendliche von 1912 in den Reichstag aus. 147 Im sechsten Jahr nach Ende des Krieges trat das Jugendgerichtsgesetz in Kraft. Damit war es zwar formal ein Produkt der Weimarer Legislative, de facto holte der Gesetzgeber damit jedoch nach, was bereits im Kaiserreich angedacht worden war. Jugendgerichte wurden obligatorisch, die Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre angehoben, modifizierte Strafen und ein durchgängiger Jugendstrafvollzug eingeführt. Dieser Rahmen, Produkt der strafrechtlichen Reformbemühungen während des Kaiserreiches, hatte formal bis zur Neuregelung des Jugendstrafrechts in der Bundesrepublik im Jahr 1953 Bestand. 148 2. Bilder von „jugendlichen Verbrechern“ in der Fachpublizistik Die zuvor geschilderten strafrechtlichen Definitionen jugendlicher Straftäter umfassten rein summarisch alle zwölfbis achtzehnjährigen männlichen und 145 Vgl. Kesper-Biermann, IKV, S. 97 f. 146 Vgl. Schreiben des Staatssekretärs des Reichsjustizamtes an den Kgl. Wü. Bevollmächtigten zum Bundesrat, Kgl. Wü. Ministerialdirektor Herrn von Schleehauf (Abschrift für das wü. Staatsministerium) vom 27.9.1918, HStAS E 130b, Bü 2273. 147 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Bevollmächtigtem zum Bundesrat an das Kgl. Wü. Staatsministerium vom 26.10.1918, Betreff: Verfahren gegen Jugendliche, HStAS E 130b, Bü 2273. 148 Vgl. Kebbedies, Außer Kontrolle, S. 69 f. <?page no="50"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 51 weiblichen Jugendlichen, welche eine der durch das Reichsstrafgesetzbuch oder durch eine andere im Deutschen Reich gültige strafrechtliche Bestimmung definierte Normverletzung begangen hatten. Neben dieser operationellen Definition des Strafrechts existierten weiter gefasste, typisierende Beschreibungen „jugendlicher Verbrecher“ in der Fachpublizistik. Sie füllten die vom Strafrecht vorgegebene Form mit einem speziellen Inhalt und führten so auch zu einer Reduktion der Möglichkeiten, sich „kriminelle Jugendliche“ vorzustellen. Insbesondere Jugendkundler 149 und bürgerliche Sozialreformer 150 , aber auch Protagonisten der sich formierenden Kriminologie sowie überwiegend der „modernen“ Strafrechtsschule zuzurechnende Juristen setzten sich in ihren Publikationen mit dem Phänomen der scheinbar „unheimlichen Zunahme jugendlicher Kriminalität“ 151 und Jugendverwahrlosung auseinander. Entsprechend ihrem retrospektiv und mehr an der Tat denn am Täter orientierten Strafverständnis befassten sich Vertreter der „klassischen“ Strafrechtsschule hingegen so gut wie nie mit der Frage nach den Ursachen (jugendlicher) Kriminalität. 152 Die Teilnehmer des Diskurses jedoch schufen ein wirkmächtiges Bild des prototypischen „jugendlichen Verbrechers“, welcher als Adressat weiteren kriminalpolitischen Handels fungieren konnte. 153 a. Unterschiede zwischen erwachsenen und jugendlichen Verbrechern Genau wie bei der strafrechtlichen Sonderstellung Jugendlicher lag dem Nachdenken der Fachleute über jugendliche Kriminalität eine unbestrittene Grundannahme zugrunde: der Unterschied zwischen den Entwicklungsstufen von Erwachsenen auf der einen und von Heranwachsenden auf der anderen Seite. Kinder und Jugendliche waren gemäß dieser Sichtweise keine voll entwickelten Persönlichkeiten und daher nach allen Seiten hin leicht form- 149 Zur Begriffsbestimmung und Formierung der Jugendkunde siehe Dudek, Jugend als Objekt, S. 22 ff. 150 Zur Hinwendung bürgerlicher Sozialreformer zu Arbeiterjugendlichen im Kaiserreich (nicht speziell auf die Beschäftigung mit Jugendkriminalität konzentriert) vgl. Reulecke, Bürgerliche Sozialreformer. 151 Schreiber, Zwangserziehungsgesetz, S. 4. Siehe auch ebd., S. 7 f.; und Köhne, Kriminalität, S. 5 f. 152 Vgl. Liszt, Kriminalität der Jugendlichen, S. 125. 153 Zu diesem Themenkomplex siehe u. a. auch Galassi, Kriminologie, S. 97-101; und Oberwittler, Strafe, S. 23-46. <?page no="51"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 52 bar - somit aber auch deformierbar. 154 Sie, die „[m]itten im Entwicklungsalter stehend, allen äußeren, sowohl körperlichen wie geistigen Einflüssen in höchstem Grade zugängig“ 155 erschienen, galten zunächst prinzipiell im Vergleich zu Erwachsenen als „anfälliger“ für strafrechtlich abweichende Verhaltensweisen. 156 Dabei fehlte den jungen Menschen scheinbar eine ausgeprägte innere Trieb- und Affektkontrolle, welche verhindern konnte, dass sie ihre Wünsche unverzüglich - auch auf illegalem Wege - zu erfüllen suchten. 157 Zudem konnten sie von Erwachsenen negativ beeinflusst werden. 158 Das Kind und auch noch der Jugendliche 159 mussten somit erst durch Erziehung in die Lage versetzt werden, ein normkonformes Leben zu führen. So lag es für den kriminologisch forschenden Psychiater Emil Kraepelin nahe, bei der Ursachenerörterung für Kriminalität grundsätzlich danach zu differenzieren, ob die Akteure voll entwickelte Erwachsene, Geisteskranke oder Kinder waren. Erwachsene begingen aus seiner Sicht strafbare Handlungen erst, nachdem ein Konflikt zwischen anerzogenen und angeborenen Bestrebungen unter dem Einfluss intensiver Affekte zuungunsten der Erziehung ausgegangen war. Demgegenüber erlag aus seiner Sicht ein geisteskranker Täter unter Einfluss pathologischer Impulse, welche alle Gegenvorstellungen verdrängten, dem Streben nach ungesetzlichen Taten. 160 Bei Kindern fand kein innerer Kampf statt, da sie überhaupt keine Gegenvorstellungen entwickelt hätten. Hier schien dem am Anfang seiner Forschungen stehenden Psychiater „vielleicht Unkenntniß und fehlende Einsicht in die tiefere Bedeutung seiner Handlung, also mangelnde Erziehung“ einer kriminellen Handlung zugrunde zu liegen. 161 Eine spätere pathologisch-latente Abweichung als geisteskranker Gewohnheitsverbrecher sei schon bei kindlichen Straftätern angelegt, sofern keine korrigierenden Maßnahmen durchgeführt würden. Die Entwicklung war jedoch keineswegs determiniert, gerade bei Kindern vermutete Kraepelin gute Erfolgsaussichten sittlicher Erziehungsbemühungen. 162 154 Vgl. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 141. 155 Dix, Sozial- und Kriminalpolitik, S. 3. 156 Vgl. Appelius, Behandlung jugendlicher Verbrecher, S. 18 f.; sowie Liepmann, Kriminalität, S. 7. 157 Vgl. Aschaffenburg, Verbrechen, S. 123. 158 Vgl. Kraepelin, Verbrechen als soziale Krankheit, S. 36. 159 Manche Betrachter konstatierten die adoleszente Unreife bis über das Alter der vollen Strafmündigkeitsgrenze hinausreichend, etwa bis zum 20. Lebensjahr, vgl. Simon, Erhöhung des Schutzalters, S. 128. 160 Vgl. Kraepelin, Abschaffung des Strafmaßes, S. 28. 161 Vgl. ebd. 162 Vgl. ebd., S. 34. <?page no="52"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 53 Das Wissen um den „ungefestigten“ Charakter von Kindern und Jugendlichen veranlasste den in Halle lehrenden Psychiater und Kriminologen Gustav Aschaffenburg, welcher 1903 erstmals sein wegweisendes Standardwerk über Das Verbrechen und seine Bekämpfung publizierte, eine analytische Zweiteilung der Gruppe jugendlicher Verbrecher vorzunehmen. Auf der einen Seite sah er „solche, die einer besonders verlockenden Gelegenheit nicht widerstehen konnten, innerlich unverdorbene“, auf der anderen Seite verortete er „solche, die in verbrecherischer Umgebung aufgewachsen, von frühester Jugend an verdorben, nur die Furcht vor Strafe, vor der Polizei kennen, nicht aber die Scheu vor Unrecht.“ 163 Damit erkannte er an, dass es bei Kindern ohne tiefer gehenden pathologischen Grund zu „kriminellen Ausrutschern“ kommen konnte, legte aber gleichzeitig nahe, auch unter jugendlichen Kriminellen nach krankhaften oder kranken Individuen zu suchen. Straffällig gewordene Kinder waren demnach nicht notwendigerweise vollständig abweichende Persönlichkeiten, sie konnten es gleichwohl schon sein. Wenn kindliche und jugendliche Verbrecher auf der einen Seite zwar aufgrund ihres Entwicklungsstandes deutlich von erwachsenen Straftätern abgegrenzt wurden, so unterschieden sie sich trotzdem in den Augen einiger Diskursteilnehmer von ihren nicht delinquent gewordenen Altersgenossen. Jugendlichen Straftätern hing das Etikett der „Frühreife“ an. 164 Hier wurde jedoch nicht der Unterschied zwischen Erwachsenen und Jugendlichen negiert. Vielmehr monierten die Betrachter angeblich frühreife Verhaltensweisen dieser jungen Menschen. 165 Dabei wurde Frühreife insgesamt Ende des 19. Jahrhunderts mit den unteren Schichten in Verbindung gebracht. 166 Jugendliche aus diesen Schichten waren viel früher als bürgerliche Jugendliche in altersheterogene Gruppen integriert. Letztere blieben aufgrund ihrer intensiveren schulischen und möglicherweise daran anschließenden universitären Ausbildung länger unter Gleichaltrigen. 167 In dieses Wahrnehmungsraster gehörte es, wenn bei Jugendlichen die Gewöhnung an „unzeitige Bedürfnisse“ wie Alkohol und Zigaretten beobachtet 163 Aschaffenburg, Verbrechen, S. 266. 164 Karl Birkmeyer spricht von „verbrecherischer Frühreife“, ders., Strafrecht, S. 72. 165 Vgl. Peukert, Halbstarke, S. 535. 166 Vgl. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 114. 167 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 104. <?page no="53"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 54 wurde. 168 Diese Jugendlichen nahmen sich damit Verhaltensweisen heraus, welche - auch dies nur in Maßen - Erwachsenen vorbehalten waren. 169 Die so etikettierten Jugendlichen waren in letzter Konsequenz „Zwischenwesen“: Sie verhielten sich nicht altersgerecht, sondern frühreif; ausgewachsene, geistig und körperlich voll entwickelte Erwachsene waren sie hingegen auch nicht. Sie fielen aus dem Schema der als normal angesehenen Entwicklungsstufen. 170 b. Auswirkungen moderner Entwicklungen auf jugendliche Kriminalität Die neuen Formen jugendlicher Erwerbsarbeit, bei denen Jugendliche nach der Schulentlassung ohne eine Lehre zu absolvieren in einer Fabrik eigenes Geld verdienen konnten, erschienen in diesem Kontext als zusätzliches Gefährdungspotential. Hier klaffte nun, so die alarmistische Sichtweise, eine „Kontrolllücke“, in der ungehindert schädliche Entwicklungen gedeihen konnten. 171 In dieser „unzeitgemäßen Beschäftigung“ muss die Ursache für das angebliche Phänomen der Frühreife gesehen werden. Denn die Jugendlichen gingen einer Tätigkeit nach, für die sie eigentlich noch nicht geeignet schienen. Es wurde befürchtet, dass dies schließlich nicht ohne Auswirkungen bliebe. So stellte der preußische Staatsminister und ehrenamtliche Sozialreformer Hans Hermann von Berlepsch die Frage, weshalb „die jugendlichen Übeltäter sich fast ausschließlich oder doch vorzugsweise aus den Kreisen des Proletariats rekrutieren“ 172 . Die Antwort darauf fiel ihm nicht schwer, war sie doch für ihn und alle, die eine ähnliche Perspektive eingenommen hatten, offenkundig: „Das Kind wird mit dem vollendeten 14. Lebensjahre der Fabrik überwiesen, es verdient Geld, welches es, wenigstens zum Teil, zur Befriedigung von Genüssen verwenden kann und verwendet, die ihm körperlich und sehr oft sittlich verderblich sind. Vater und Mutter sind tagsüber in der Arbeit, von Beaufsichtigung und Erziehung ist kaum die Rede und kann kaum die Rede sein, wenn die Familie des Abends übermüdet in enger, überfüllter Wohnung zusammentrifft, und tags über ist das Kind ohne Schutz und Wehr den schlechten Einflüssen überlassen, die das 168 Vgl. Schreiber, Zwangserziehungsgesetz, S.13. 169 Vgl. Peukert, Halbstarke, S. 537. 170 Vgl. ebd., S. 545 f. 171 Vgl. Peukert, Grenzen, S. 54 f. 172 Berlepsch, Soziale Reform, S. 13. <?page no="54"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 55 Leben und die dem Zufall unterworfene moralische Beschaffenheit der Gefährten in der Arbeit mit sich bringt.“ 173 Plastisch tritt aus dieser Passage hervor, was den bürgerlichen Betrachtern Sorge bereitete: die frühe finanzielle Autarkie der Jugendlichen, bei denen die Eltern nicht mit über deren Ausgaben entscheiden konnten oder wollten, der Aufsichtsmangel, das Wohnungselend der großstädtischen Mietskasernen und die unkontrollierte Bildung jugendlicher Peer groups, Straßenbanden. 174 All dies widersprach zutiefst den bürgerlichen Vorstellungen einer sinnvollen Sozialisation. Das Problem lag in dem nach bürgerlicher Wahrnehmung im Proletariermilieu gelebten Familienmodell, welches entscheidend vom bürgerlichen Familienidyll mit einem männlichen, erwerbstätigen Familienvorstand und einer sich um die häuslichen Belange kümmernden Ehefrau abwich: Arbeiterfamilien, bei denen sowohl der Mann als auch die Frau einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen mussten, während ihre Kinder im Moloch der Großstadt ohne Erziehungsmaßnahmen sich selbst überlassen blieben. 175 Zudem verdienten die ungelernt tätigen Jugendlichen aus Sicht bürgerlicher Kritiker einen zu hohen Lohn. So könnten sie die „unzeitigen Bedürfnisse“ auch befriedigen, bei ihnen bildete sich angeblich „Genußsucht“ aus. 176 So gesehen spielten die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen zuungunsten einer „gesunden“ Entwicklung der Jugendlichen zusammen. Den oftmals notwendigen Beitrag der erwerbstätigen Jugendlichen zum Familienunterhalt blendeten diese Diskursteilnehmer aus. Die „jugendlichen Verbrecher“ verorteten Beobachter demnach zumeist im urbanen Milieu, und hier konkret innerhalb der Fabrikarbeiterschaft. 177 Darin kommt die Angst vor den sozio-ökonomischen Veränderungen zum Ausdruck, welchen sich die Gesellschaft des Kaiserreiches insbesondere seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sah. 178 Die großstädtischen Lebensumstände, das Wohnungselend, sowie industrielle Arbeitsbedingungen verorteten bürgerliche Betrachter dabei nicht nur als Nährboden von Kriminalität. Eugeniker machten diese - noch viel weitergehend - ver- 173 Ebd., S. 13 f. 174 Vgl. Lindner, Straße, S. 197 f. 175 Vgl. zum bürgerlichen Ideal Frevert, Wo du hingehst, S. 91. Zur Kritik an vermeintlichen Lebensformen innerhalb der Arbeiterfamilien siehe Ritter/ Tenfelde, Arbeiter, S. 539-542. 176 Vgl. Köhne, Kriminalität, S. 11. 177 Bürgerliche Jugendliche sah man erst nach dem Ersten Weltkrieg als delinquenzgefährdet an, vgl. Siemens, Metropole und Verbrechen, S. 130. 178 Vgl. als Standardwerk zur Urbanitätsfeindlichkeit - von Tendenzen seit dem 19. Jahrhundert bis hin zu nationalsozialistischen Konzepten - Bergmann, Agrarromantik. <?page no="55"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 56 antwortlich für angebliche biologische Degenerationserscheinungen ganzer Bevölkerungsgruppen. 179 Aufgeladen wurde dies noch durch die Angst vor der (links-)politischen Radikalisierung der jugendlichen Arbeiter, deren Ursache man ebenfalls hier suchte. 180 Es handelt sich um ein äußerst vielschichtiges Phänomen mit vielfältigen Bezugspunkten zu anderen virulenten sozialpolitischen Diskursen der Zeit. Bezeichnenderweise erschien die Schrift des Berliner Amtsgerichtsrates Paul Köhne, eines der „modernen“ Schule zuzurechnenden Juristen, über Kriminalität und sittliches Verhalten der Jugendlichen in der Schriftenreihe Die Jugendlichen Arbeiter in Deutschland der Gesellschaft für Soziale Reform. 181 Hier kam schon durch die thematische Einordnung der Abhandlung überdeutlich zum Ausdruck, wo man abweichendes Verhalten Jugendlicher ansiedelte: im Arbeitermilieu. Köhne beschäftigte sich darin auch nicht nur mit dem Problem jugendlicher Kriminalität, sondern ebenfalls mit dem sittlichen Verhalten der Jugendlichen. Diese Themen waren in seinen Augen nur zwei Seiten derselben Medaille, nämlich der Verwahrlosung der proletarischen Jugend. Ob diese „verwahrlosten“ Jugendlichen nun vor dem Strafrichter oder in einer Fürsorgeerziehungsanstalt endeten, sei also Zufall und hänge lediglich davon ab, „ob sich die Verwahrlosung eines Kindes in Straftaten oder sonstigen unsittlichen, aber nicht mit Strafe bedrohten Handlungen äußert.“ 182 Das Attribut „unsittlich“ deutet es an - hier wird ein weiterer wichtiger Aspekt des Diskurses über kriminelle Jugendliche angesprochen: seine starke Wertbezogenheit. Gleich, wem die Verantwortung für die verbrecherischen Taten Jugendlicher zugesprochen wurde, den Eltern wegen mangelnder Erziehungsleistung oder den Jugendlichen selbst: Die Tat als solche implizierte nicht nur einen Verstoß gegen Strafgesetze, sondern genauso einen Verstoß gegen den bürgerlichen Verhaltenskodex. 183 Auch bei Emil Kraepelin, Gustav Aschaffenburg und anderen Kriminologen findet sich dieser wertende Unterton, selbst wenn es in ihren Augen keine personifizierten „Schuldigen“ gab, sondern entweder „Anlage“ oder „Umwelt“ ursächlich erschienen. Sie beschränkten sich nicht auf eine objektive Bestandsaufnahme, sondern luden ihre Studien mit Wertungen auf. Damit ist nicht schon die Gegenüberstellung 179 Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 50-58. 180 Vgl. Reulecke, Bürgerliche Sozialreformer, S. 315 f. Die Betonung liegt hier wirklich auf den jugendlichen Arbeitern, ältere Sozialistenführer wie August Bebel galten ihnen demgegenüber als moderat. 181 Vgl. Köhne, Kriminalität. 182 Ebd., S. 14. 183 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 230 f. <?page no="56"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 57 der Gegensätze „gesund“ und „krank“ gemeint, die bei ihren Forschungsinteressen notwendige operationelle Kategorien bildeten. 184 Gemeint ist die Verwendung eindeutig wertender Attribute, welche die jeweilige Beschreibung zusätzlich aufluden. 185 c. Anlage oder Umwelt? Der allgemeine Trend in der Kriminologie, das Verbrechen auf angeborene oder - allgemeiner - pathologische Faktoren zurückzuführen, wurde von den Teilnehmern dieses Teildiskurses ebenfalls aufgegriffen. Der Psychiater Hans W. Gruhle, der in Heidelberg bei Emil Kraepelin promovierte, untersuchte in seiner voluminösen Studie über männliche jugendliche Verbrecher die Frage, wie oft Milieu oder Anlage der Auslöser für das strafbare Verhalten bildeten, und nennt drei mögliche Ursachenketten. Seiner Ansicht nach treibe entweder der Charakter eines Jungen diesen in den „sozialen Verfall“, das Milieu mache ihn asozial oder drittens wirke eine Kombination beider Ursachen. In diesen Fällen wirkten Charakter und Milieu zusammen und begründeten Verwahrlosungserscheinungen. 186 Die kriminologische Gretchenfrage der damaligen Zeit, „Anlage oder Umwelt? “, beantwortete Gruhle demnach mit einem entschiedenen Sowohl-als-auch. Die Verbreitung des Bildes von degenerierten Jugendlichen blieb gleichwohl nicht auf Kriminologen beschränkt, sondern fand ihre Verbreitung auch bei Juristen wie Franz von Liszt oder Jugendkundlern wie dem Gefängnisgeistlichen Gustav von Rohden. Franz von Liszt ging davon aus, dass unter den verwahrlosten und verbrecherischen Jugendlichen eine große Zahl „Minderwertiger“ sei. Diese „Minderwertigkeit“ wiederum konnte durch Krankheiten oder andere negative Einwirkungen in den ersten Jahren hervorgerufen werden, allerdings überwiegend schon vorher, nämlich aufgrund 184 Dass auch die Einschätzungen dessen, was „gesund“ und was „krank“ ist, zeittypisch und wandelbar sind, ist zwar ein Allgemeinplatz, sei der Korrektheit halber an dieser Stelle gleichwohl erwähnt. 185 In seinen Überlegungen über das Verbrechen als soziale Krankheit spricht sich Kraepelin dafür aus, bei jugendlichen Straftätern die „noch in ihnen schlummernden guten Keime“ zu entwickeln, vgl. ebd., S. 38. Siehe dazu auch ders., Abschaffung des Strafmaßes, S. 34; Aschaffenburg, Verbrechen, S. 72 und 107. 186 Vgl. Gruhle, Ursachen, S. 205. <?page no="57"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 58 „erblicher Belastung, in den Schädlichkeiten, die auf die Erzeuger eingewirkt haben vor der Erzeugung und ganz besonders auch auf die Mutter während der ganzen Zeit der Schwangerschaft.“ 187 Hier adaptierte der Jurist das unter deutschen Kriminologen weit verbreitete Degenerationskonzept, wonach „erworbene“ Degenerationserscheinungen an die Nachkommen weitergegeben werden konnten, mithin zu einer Frage der Vererbung wurden. 188 Plausibilität konnte ebenso die Annahme für sich in Anspruch nehmen, „Trunksucht, Unzucht und geistige Minderwertigkeit der Eltern“ führe zur Verwahrlosung der Kinder. 189 d. Gruppenbezogene Ressentiments Bestimmte Gruppen Jugendlicher bekamen den Stempel, anfällig für Verwahrlosung zu sein, kollektiv aufgedrückt. Daher lag etwa unter Volksschülern aus Sicht der Betrachter die Wahrscheinlichkeit, „kriminelle Subjekte“ zu finden, um ein Vielfaches höher als beispielsweise unter Gymnasiasten. Hugo Appelius, Jurist „moderner“ Prägung, war der Ansicht, dass sich in den Volksschulen „die Elemente, aus denen sich das jugendliche Verbrecherthum meistens recrutiert“, sammelten. Grund dafür war auch, dass vorbestrafte Schüler an anderen Schulen keine Aufnahme fanden. In der Volksschule wiederum konnten sie ihre Mitschüler ungünstig beeinflussen - ein Teufelskreis. 190 Hier stellte man ganze Schülergruppen unter Generalverdacht. Appelius’ Kollege Moritz Liepmann begründete in diesem Geiste seinen Appell, Volksschullehrer endlich als Schöffen in Jugendstrafverfahren zuzulassen, wie folgt: „Dann [sic] gerade der Volksschullehrer kennt die kriminelle Jugend, kennt sie viel besser, als etwa der Oberlehrer; schon deshalb ist seine Tätigkeit bei den Jugendgerichten von größter Bedeutung.“ 191 Analog zu der Sicht, Kriminalität gehe mit mangelnder Erziehung einher, wurde die Kriminalitätsbelastung hier zu einer Frage des Bildungsgrades. 187 Liszt, Kriminalität der Jugendlichen, S. 126. Ähnlich argumentiert Gustav von Rohden, vgl. ders., Jugendliche Verbrecher, S. 4. 188 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 174 f. 189 Vg. Köhne, Kriminalität, S. 14. 190 Vgl. Appelius, Behandlung jugendlicher Verbrecher, S. 28. 191 Liepmann, Kriminalität, S. 38. <?page no="58"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 59 Darin offenbart sich wiederum die Verortung der Kriminalität in nichtbürgerlichen und damit gleichzeitig bildungsfernen Schichten. Unter den für kriminelles Verhalten anfällig eingeschätzten Jugendlichen waren es Jungen, die als Gruppe kollektiven Vorbehalten ausgesetzt war. Oft lag es zwar nur unausgesprochen, trotzdem offensichtlich bloß: Mit „jugendlichen Verbrechern“ meinten die Betrachter männliche Jugendliche. In diesem Sinn stellte Hugo Appelius während seiner Überlegungen zur leichteren Beeinflussbarkeit dem „junge[n] Mensch[en]“ als Gegensatz den „reife[n] Mann“ gegenüber. 192 Unter dem jungen, reizanfälligen Menschen war nichts anderes als ein Junge zu verstehen. Der Lokalschulinspektor Schreiber berichtete in seinem Plädoyer für ein Zwangserziehungsgesetz von 1898 aus seinem Schulbezirk und den dortigen Verhältnissen, welche sowohl Jungen als auch Mädchen betrafen. 193 In seinen weiteren Ausführungen zog er allerdings nur Jungen als mahnende Beispiele für Verwahrlosung und Kriminalität heran. 194 Bei seinen Zuhörern 195 und Lesern musste somit der Eindruck entstehen, die geschilderten Probleme beträfen lediglich männliche Jugendliche. Vermutlich entstand dieser Eindruck bei ihnen aber nicht erst, sondern wurde lediglich verfestigt, da diese geschlechtsspezifische Wahrnehmung typisch für den gesamten Diskurs um das „Jugendproblem“ im Kaiserreich war. 196 Auch der Rekurs auf angebliche „Genusssucht“ als scheinbar kriminalitätsfördernder Faktor deutet beim genauen Hinsehen auf männliche Täter hin. Die damit assoziierten Verhaltensweisen Rauchen und Trinken traute man zwar verwahrlosenden jungen Männern, nicht aber verwahrlosenden jungen Frauen zu. Die männliche „Genusssucht“ fand ihr Äquivalent im Konstrukt der weiblichen „Putzsucht“. Gemeint war Eitelkeit gepaart mit der „Sucht“, schöne Kleidung und Schmuck zu besitzen. Bei Frauen verortete man „Putzsucht“ als vermeintliche Ursache für die Begehung von Diebstählen, in den hier ausgewerteten Texten zur Kriminalität Jugendlicher taucht sie hingegen nicht auf. 197 Das skizzierte bipolare Bild wurde gerade auch dann aufrecht erhalten, wenn man beide Geschlechter in den Abhandlungen thematisierte, mithin genau unterschied. Paul Köhne zog für seine Abhandlung nach Geschlecht 192 Vgl. Appelius, Behandlung jugendlicher Verbrecher, S. 18. 193 Vgl. Schreiber, Zwangserziehungsgesetz, S. 8 f. 194 Vgl. ebd., S. 12, 14, 19, 20 f., 24. 195 Es handelt sich bei diesem Text um einen veröffentlichten Vortrag. 196 Vgl. Dudek, Bewußte Feinde, S. 28 ff; siehe auch bezüglich der jugendpflegerischen Bemühungen Reulecke, Bürgerliche Sozialreformer, S. 316 f. 197 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib, S. 125 f. <?page no="59"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 60 differenzierte statistische Angaben für unterschiedliche Straftatengruppen heran. Diese dokumentierten eine wesentlich stärkere Beteiligung von jungen Männern als von jungen Frauen an strafbaren Handlungen. 198 Die Verwendung von Statistiken objektivierte diese unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Jugendlichen scheinbar. Das statistisch untermauerte Argument war noch gewichtiger als Einzelbeispiele, da es ein Massenphänomen abbildete. e. Zeitgenössische Schlussfolgerungen Ihr besonderes Bedrohungspotential erhielten all diese Phänomene dadurch, dass jugendliche Straftäter den Nachwuchs für erwachsene Verbrecher zu bilden schienen. 199 Aus der „kriminellen Jugend“ von heute rekrutierten sich die „Gewohnheitsverbrecher“ von morgen, lautete die entsprechende Gleichung. Unabhängig davon, ob man es mit „kriminellen Karrieren“ oder mit „Degenerationserscheinungen“ zu tun hatte: Ein jugendlicher Straftäter hatte die erste Sprosse hin zum „gewerbsmäßigen Verbrechertum“ erklommen, weil „der endgültige soziale Schiffbruch überwiegend bereits im jugendlichen Alter erfolgt.“ 200 Zahlenangaben sollten wiederum diese Behauptungen untermauern: der berufsmäßigen Verbrecher hätten ihre „Laufbahn“ bereits vor dem 18. Lebensjahr begonnen, gab der nationalliberale Politiker und Nationalökonom Arthur Dix 1902 zu bedenken. 201 Auch jugendlichen Ersttätern gegenüber war demnach Wachsamkeit gefordert: „Daß aber der erste Schritt nicht ein einmaliges Straucheln, sondern meist den endgültigen Bruch mit einem rechtmäßigen Lebenswandel bedeutet, lehren uns die Rückfallziffern; mit jeder Vorstrafe wächst die Gefahr, bald wieder rückfällig zu werden.“ 202 Aus dem beobachteten Anstieg der Jugendkriminalität müsste daraus zwingend eine dauerhaft erhöhte Kriminalitätsrate folgen, würden nicht entschie- 198 Vgl. Köhne, Kriminalität, S. 7 f. 199 Vgl. Appelius, Behandlung jugendlicher Verbrechern, S. 30; Dix, Sozial- und Kriminalpolitik, S. 13; sowie Rohden, Jugendliche Verbrecher, S. 4. 200 Vgl. Liszt, Kriminalität der Jugendlichen, S. 121 f. Vgl. auch Aschaffenburg, Verbrechen, S. 135. 201 Vgl. Dix, Sozial- und Kriminalpolitik, S. 14. Auf Dix nimmt wiederum Helene Simon Bezug, vgl. dies., Erhöhung des Schutzalters, S. 129 f. 202 Aschaffenburg, Verbrechen, S. 188. <?page no="60"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 61 dene Gegenmaßnahmen ergriffen. Es reichte demnach nicht aus, dem Tatvergeltungsrecht entsprechend Jugendliche lediglich zur Abschreckung und Mahnung hart zu strafen, wie es Juristen „klassischer“ Prägung, etwa Karl Birkmeyer, vertraten. 203 Vielmehr sollten tief greifende Korrektionsmaßnahmen das Schlimmste verhindern. Gemeint war eine erziehende Einwirkung auf jugendliche Straftäter. 204 Experten aller Couleur schrieben die „kriminelle Jugend“ trotz aller düsteren Zukunftsprognosen nicht generell ab. Auch Anhänger von Degenerationskonzepten nahmen an, jugendliche Straftäter mit den entsprechend nachdrücklichen Korrektionsmaßnahmen erfolgreich bessern zu können. 205 Selbst wenn Kinder und Jugendliche als „degeneriert“ oder „erblich vorbelastet“ galten, blieben sie doch erziehbar, da sie immer noch eine „unfertige“ Persönlichkeit besaßen. 206 Auch wenn sie auf die Bahn des Verbrechens eingeschwenkt waren, blieben sie beeinflussbar und konnten auch wieder in eine andere Richtung gelenkt werden, sofern sie nicht als „unverbesserlich“ klassifiziert worden waren. Das am besten geeignete Mittel schien die Fürsorgeerziehung zu sein, da ein Jugendlicher in einer Korrektionsanstalt längere Zeit in fachlicher Obhut war und auf ihn eingewirkt werden konnte. 207 Dieses Mittel stand jedoch als kriminalpolitische Standardmaßnahme gegenüber rechtskräftig verurteilten Jugendlichen nicht zur Verfügung, wie bereits erwähnt wurde. Dabei galt es doch, den „Sumpf“ des Verbrechens möglichst trocken zu legen, um weiteren kriminellen Wildwuchs zu unterbinden. Sonst war eine dauerhafte Schädigung der gesamten Gesellschaft zu befürchten: „Für die Zukunft unseres wirtschaftlichen Wettkampfes, für die Zukunft unserer Rasse und ihrer Rolle unter den Völkern der Erde, für die Zukunft unserer Wehrkraft, der körperlichen, geistigen und moralischen Volksgesundheit ist die Entwicklung der Jugendlichen einer der allerwichtigsten Faktoren.“ 208 Das Problem der Jugendkriminalität bekam damit eine sehr weit reichende Relevanz zugesprochen. Es ging nicht nur um die Zukunftsaussichten einzelner Individuen. Jugendkriminalität war ein Problem der Volkswirtschaft wie 203 Vgl. Birkmeyer, Strafrecht, S. 70. 204 Vgl. Liepmann, Kriminalität, S. 13; Rohden, Jugendliche Verbrecher, S. 5, 14. 205 Gleichzeitig ließen sich solche Maßnahmen desto leichter einfordern, je problematischer Fachleute die Lage der Jugend zeichneten. 206 Vgl. Kraepelin, Verbrechen als soziale Krankheit, S. 38. 207 Vgl. Liepmann, Kriminalität, S. 20 ff.; Schreiber, Zwangserziehungsgesetz, S. 24 ff. 208 Dix, Sozial- und Kriminalpolitik, S. 4. <?page no="61"?> I. Konstruktionen von Jugendkriminalität 62 der äußeren Sicherheit, dazu auch der innergesellschaftlichen Verfassung einer Nation. Hier galt es, den „kriminellen Jugendlichen“ gegenüber zu handeln, denn diese vergingen sich aus diesem Blickwinkel nicht nur an ihrer eigenen Lebensplanung, sondern an der Zukunft der Nation. Die Jugendlichen mussten gestärkt werden, um zum höheren Wohl der Gesellschaft respektive der Nation im „Kampf ums Dasein“ 209 bestehen zu können. Kurz und prägnant lässt sich abschließend festhalten: Der typische jugendliche Verbrecher galt bürgerlichen Experten im Deutschen Reich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als männlich, proletarisch, urban, verwahrlost - und unter Umständen degeneriert. 209 Ebd., S. 6; Liszt, Kriminalität der Jugendlichen, S. 121; Kraepelin, Abschaffung des Strafmaßes, S. 18; Simon, Erhöhung des Schutzalters, S. 129. <?page no="62"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm Nachdem im vorhergehenden Kapitel die jugendlichen Akteure definiert worden sind, soll hier ein Blick auf den Ort der Untersuchung, den Landgerichtsbezirk Ulm, geworfen werden. In diesem Umfeld agierten die delinquenten Jugendlichen, bevor sie vor der Strafkammer angeklagt wurden. Der Landgerichtsbezirk Ulm setzte sich aus den acht Amtsgerichtsbezirken Ulm, Blaubeuren, Ehingen, Laupheim, Münsingen, Geislingen, Kirchheim und Göppingen zusammen. 210 Als Amtsgerichte wurden seit dem württembergischen Ausführungsgesetz zum reichsweit gültigen Gerichtsverfassungsgesetz die früheren Oberamtsgerichte bezeichnet. 211 Der Oberamtsgerichtssprengel und später der Amtsgerichtssprengel war seit 1818 identisch mit dem Oberamtsgebiet. Das Gericht war am Sitz des Oberamtes angesiedelt. 212 Das Terrain der Amtsgerichtsbezirke entsprach dem Gebiet der Verwaltungseinheit des Oberamtes. 1. Allgemeine Bemerkungen a. Geographische Lage und Bevölkerung Die acht Oberämter des Landgerichtsbezirkes gehörten zur politischen Einheit des aus sechzehn Oberämtern bestehenden Donaukreises. 213 Geographisch umfasste der Landgerichtsbezirk somit Teile des nördlichen Oberschwaben, darüber hinaus griff er ins württembergische Unterland, nämlich die Keuper-Landschaft, über. Ein ganz überwiegender Teil des Territoriums befand sich auf der Schwäbischen Alb, hier hauptsächlich der mittleren Alb. Die Amtsgerichtsbezirke Geislingen und Göppingen gehörten noch zur nordöstlichen Alb. 214 Die meisten Bewohner hatten die Oberämter Göppingen und Ulm, da hier auch die größten Städte des Landgerichtsbezirkes lagen: Göppingen mit 210 Vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Königreich Württemberg 4, S. 5 f. 211 Vgl. Holthöfer, Deutscher Weg, S. 58 f. 212 Vgl. ebd., S. 48. 213 Insgesamt war das Königreich Württemberg in vier Kreise unterteilt: Jagstkreis, Neckarkreis, Schwarzwaldkreis und Donaukreis. Die Kreise waren Verwaltungseinheiten (Oberbehörden), vgl. Landkreistag Baden-Württemberg, Vogteien 1, S. 79. 214 Vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Königreich Württemberg 1, Tafel V: Landschaftliche Gliederung, ohne Seitenangabe, zwischen S. 32 und 33. <?page no="63"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 64 22.373 Einwohnern und Ulm mit 56.109 Einwohnern, von denen 5.134 im Industrievorort Söflingen lebten, der 1905 eingemeindet wurde. 215 Diese Städte, nach heutigem Verständnis beide Mittelstädte 216 , zählten in Württemberg laut Gemeindeordnung von 1906 zu den mittleren Städten mit mehr als 10.000 bis zu 50.000 Einwohnern (Göppingen) und den großen Städten, nämlich solchen ab 50.000 Einwohnern (Ulm). 217 Die Garnisonsstadt Ulm an der Donau, an der Grenze zu Bayern, war nach Stuttgart mit 286.218 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Königreiches. 218 Die Sitze der Oberämter und der Amtsgerichte, aus denen sich der Landgerichtsbezirk Ulm zusammensetzte, waren hauptsächlich kleine Städte. Blaubeuren hatte 1910, zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg, 3.425 Einwohner. Ehingen war eine 4.794 Einwohner starke Gemeinde und in Münsingen lebten 2.112 Menschen, es waren also Landstädte. Kleinstädte waren Laupheim mit 5.463, Geislingen mit 8.674 und Kirchheim unter Teck mit 9.668 Einwohnern. 219 Insgesamt lebten im Landgerichtsbezirk Ulm 314.894 Menschen, die sich wie folgt auf die Oberämter verteilten. 215 Vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1912, S. 213 f. 216 Darunter versteht man Städte mit einer Einwohnerzahl von 20.000 bis 100.000 Einwohner, vgl. Schäfers, Sozialstruktur, S. 261. 217 Vgl. Art. 7 der württembergischen Gemeindeordnung vom 28.6.1906, in: RegBl Wü 1906, S. 323-441, hier S. 326. 218 Die Einwohnerzahl Stuttgarts (inklusive Cannstatt, Untertürkheim, Wangen, Gaisburg und Degerloch) siehe Kgl. Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1912, S. 207. 219 Vgl. ebd., S. 213 ff. <?page no="64"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 65 Tabelle 1: Größe und Einwohnerzahl der Oberämter des Landgerichtsbezirkes 220 m f gesamt Blaubeuren (370 qkm) 10.695 11.603 22.298 Ehingen (405 qkm) 13.248 14.853 28.101 Geislingen (393 qkm) 19.449 21.064 40.513 Göppingen (264 qkm) 30.377 32.555 62.932 Kirchheim u. T. (208 qkm) 15.335 16.707 32.042 Laupheim (330 qkm) 13.268 14.626 27.894 Münsingen (552 qkm) 11.879 12.894 24.773 Ulm (415 qkm) 40.222 36.119 76.341 In den meisten Oberämtern lebten, zieht man die Bewohner der Oberamtsstädte ab, rund 22.000 Einwohner im ländlichen Raum. Ausnahmen sind Geislingen mit rund 30.000 und Göppingen mit rund 40.000 Einwohnern außerhalb der Oberamtsstadt. Im Oberamt Ulm lebten 73,5 Prozent in Ulm selbst, der überwiegende Teil der Oberamtsbevölkerung konzentrierte sich in der Garnisonsstadt an der Donau. In allen Oberämtern herrschte 1910 ein leichter „Frauenüberschuss“, der sich durch eine etwas längere Lebenserwartung erklären lässt. 221 Eine Ausnahme war Ulm, da hier durch die Garnison mehr Männer lebten. Münsingen war das flächenmäßig größte Oberamt im Landgerichtsbezirk, gleichzeitig auch das am dünnsten besiedelte. Nur das kleinere Oberamt Blaubeuren hatte weniger Einwohner. 220 Alle Flächenangaben vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Königreich Württemberg 4, S. 47 ff.; die Einwohnerzahlen nach weiblichen und männlichen Einwohnern differenziert vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Statistisches Handbuch 1912, S. 299. 221 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 2, S. 20. <?page no="65"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 66 b. Wirtschaftsstruktur In den Oberämtern Laupheim, Ehingen und Münsingen waren 1907 zwischen 50 und 55 Prozent der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, im Oberamt Blaubeuren zwischen 45 und 50 Prozent. In den Oberämtern Kirchheim und Ulm waren sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie weniger als 45 Prozent beschäftigt. Dazu kommen die Oberämter Göppingen und Geislingen mit einer beruflich überwiegend der Industrie angehörigen Bevölkerung, nämlich über 50 Prozent. 222 Das Oberamt Ulm wies - aufgrund der Wirtschaftsstruktur der Oberamtsstadt - mit 19 Prozent einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Beschäftigten im Bereich Handel und Verkehr auf. 223 Der flächenmäßig größte Teil des Landgerichtsbezirkes war agrarisch strukturiert. Die hohen Anteile an Industriebeschäftigten gemessen an der Gesamtbevölkerung in den Oberämtern Göppingen und Geislingen resultierten aus der Konzentration von Fabriken, besonders der Metall- und Maschinenbaubranche, in den jeweiligen Oberamtshauptorten Göppingen und Geislingen. Damit ist schon eine Besonderheit der wirtschaftlichen Struktur des Landgerichtsbezirkes angedeutet. Fabrikstandorte ragten industriellen Leuchttürmen gleich aus dem überwiegend agrarisch geprägten Umland hervor. Es fanden sich demnach Kleinstädte, Mittelstädte und die Großstadt Ulm, in denen große Industriebetriebe angesiedelt waren, in ländlicher Umgebung. Typisch für den Landgerichtsbezirk Ulm und insgesamt für das Königreich Württemberg war die so genannte Pendelwanderung von Arbeitern. Diese pendelten täglich oder wöchentlich zwischen dörflich-ländlichem Wohnort und industriellem Arbeitsplatz. 224 Für Industriestandorte und die ortsansässigen Unternehmer bedeutete dies, dass infrastrukturelle und soziale Ausgaben für die Unterbringung der notwendigen Arbeitskräfte nicht zwangsläufig investiert werden mussten. 225 Für die Pendelwanderer und ihre Heimat- und Wohnorte wiederum lässt sich eine ambivalente Wirkung konstatieren. Einerseits blieben die Pendler in ihrer dörflichen Lebensumwelt mit ihren Normvorstellungen, Traditionen und Bräuchen verhaftetet. Auf der anderen Seite partizipierten so flächenübergreifend mehr Menschen an den durch die Industrialisierung hervorgerufenen veränderten Erfahrungen, als 222 Vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Statistisches Handbuch 1910/ 1911, Grafik zur Tabelle 8c, ohne Seitenangabe. 223 Vgl. ebd., Tabelle 8c, S. 44. 224 Vgl. Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 639. 225 Vgl. ebd., S. 640. <?page no="66"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 67 dies in Regionen der Fall war, in denen städtisch-industrielle Ballungszentren und dörflich-agrarischer Raum strikter getrennt blieben. 226 Insgesamt nahm Württemberg hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung im Allgemeinen sowie der industriellen Entwicklung im Besonderen und hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung im kaiserlichen Deutschland eine „typische Mittelstellung“ ein. 227 Im Königreich Württemberg existierten Anfang des 20. Jahrhunderts zehn Großbetriebe für Maschinenbau. Das größte und bedeutendste Unternehmen dieser Sparte war in Geislingen ansässig: die Württembergische Metallwarenfabrik (WMF) mit 3.816 Beschäftigten, eine beachtliche Unternehmensgröße angesichts von gut achteinhalbtausend Einwohnern 1910, die sich nur teilweise durch die Pendelwanderer erklären lässt. 228 Die Stadtentwicklung Ulms war geprägt durch die Rolle als Garnisonsstadt, was die räumliche Ausdehnung im 19. Jahrhundert behinderte. Erst 1903 wurde der Festungsring aufgehoben und eine bauliche Ausdehnung der Stadt ermöglicht. 229 2. Die Lebenssituation im Ersten Weltkrieg Das unmittelbar kriegerische Geschehen weitete sich während des Ersten Weltkrieges nicht, wie im Zweiten Weltkrieg, in prägendem Maße auf das Staatsgebiet des Deutschen Reiches aus. Zwar kam es zu Fliegerangriffen auf deutsche Städte, insbesondere nahe der französischen Grenze wie Freiburg, doch blieb das Hinterland von Kampfhandlungen zwischen den Truppen der verfeindeten Staaten verschont. 230 Im Königreich Württemberg war insbesondere Stuttgart immer wieder Ziel von Attacken aus der Luft mit Opferzahlen in zweistelliger Höhe. Darüber hinaus traf es Städte mit ortsansässiger Rüstungsindustrie wie Rottweil, Friedrichshafen und Oberdorf. 231 Bis über das Territorium des Landgerichtsbezirks gelangten die Flieger nicht. Der nächstgelegene Angriff galt Esslin- 226 Vgl. ebd., S. 736 f. 227 Vgl. Scheck, Weltkrieg und Revolution, S. 11. 228 Vgl. Bull, Wirtschaftsgeschichtlicher Überblick, S. 629. 229 Vgl. Schaller, Wirtschaftsgeschichte Ulms, S. 128. 230 Vgl. Mommsen, Urkatastrophe, S. 128. 231 Vgl. dazu Chronik des Jahres 1915, in: Kgl. Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1915, S. I-II; Württ. Chronik des Jahres 1916, in: Kgl. Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1916, S. I-III; Württ. Chronik des Jahres 1917, in: Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1917/ 18, S. I-III; Württ. Chronik des Jahres 1918, in: ebd., S. VI-X. <?page no="67"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 68 gen und Umgebung, welches an die Oberämter Kirchheim und Göppingen anschloss. 232 Dennoch prägte der Kriegszustand den Alltag der Menschen im Landgerichtsbezirk zwischen Sommer 1914 und Herbst 1918 in besonderer Weise. Schon kurz nach Kriegsausbruch trafen in Ulm die ersten verwundeten Soldaten von der Westfront ein; 2.000 Kriegsgefangene passierten Geislingen. 233 Der Krieg hielt auf diese Weise sichtbaren Einzug in den Alltag der Menschen im Landgerichtsbezirk. Das Erscheinungsbild der Straßen und öffentlichen Plätze „militarisierte“ sich. Dies galt in besonderem Maße für die Garnisonsstadt Ulm, deren Festungsbesatzung von 7.787 Mann im Jahr 1910 auf mehr als 21.000 Mann anwuchs und damit fast die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachte. 234 Auch Kirchheim unter Teck erlebte eine Militarisierung des Stadtbildes. Im April 1916 wurde ein Reserve-Infanterie-Regiment vor Ort stationiert und Kirchheim ebenfalls zu einer Garnisonsstadt, wenn auch in weitaus kleinerem Rahmen als Ulm. 235 Zu diesem mehr visuellen Eintreten des Kriegsgeschehens in den Alltag der Menschen kamen zahlreiche Veränderungen in der Versorgung, dem Wirtschaftsleben, der Familienstruktur, dem Schulleben und anderen Lebensbereichen. Diese Entwicklungen sollen hier dargestellt werden, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie sich die Lebenssituation der Menschen, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, in den vier Kriegsjahren gestaltete. Dabei gilt: „Die“ Lebenssituation im Ersten Weltkrieg gab es nicht. Vielmehr hing es vom Wohnort, vom Alter, vom sozialen Status und vom Geschlecht ab, wie man im Krieg lebte und den Kriegszustand erlebte. a. Die ökonomische Situation im Krieg Wie sich der Kriegszustand auf die Konjunktur eines Unternehmens und damit auf die Lebenssituation der Beschäftigten und der Unternehmer sowie ihrer Familien auswirkte, hing eng mit der Branchenzugehörigkeit zusam- 232 Vgl. Chronik 1918, S. VI. 233 Vgl. Meldungen UTb vom 25.8.1914 (1. Blatt) und vom 29.8.1914 (1. Blatt). Mit Blatt ist je eine Ausgabe, keine Seitenangabe gemeint. Bis Ende März 1916 erschien das Ulmer Tagblatt mit zwei Blättern pro Tag. Dabei handelte es sich vermutlich um eine Früh- und eine Spätausgabe, genaueres wird in der Zeitung selbst dazu nicht angemerkt. Ab dem 30.3.1916 erschien das Ulmer Tagblatt mit nur einer Ausgabe pro Tag. 234 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 312. 235 Vgl. Frasch, Kirchheim unter Teck, S. 388. <?page no="68"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 69 men. Unternehmen und Betriebe, die für den Heeresbedarf produzierten oder ihre Produktion dementsprechend umzustellen vermochten, profitierten vom Ausbruch und Fortgang des Krieges. Auf der anderen Seite hatten Unternehmen aus der Konsumgüter-, der Textil- und der Bauindustrie mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. 236 Im Landgerichtsbezirk Ulm kam, begründet durch die heterogene Wirtschaftsstruktur, beides vor. Beschäftigte in kriegswichtigen Betrieben profitierten von der anziehenden Kriegskonjunktur, der Nachfrage nach militärischen Ausrüstungsgegenständen und Maschinen. Im Landgerichtsbezirk Ulm machte das Stellvertretende Generalkommando 1917 fünf der 35 militärisch wichtigen Betriebe des Königreiches aus: die Württembergische Metallwarenfabrik in Geislingen an der Steige (WMF), die Maschinenfabrik in Geislingen, die Werkzeugmaschinenfabrik Gebrüder Böhringer in Göppingen, die Maschinenfabrik Gebrüder Eberhardt in Ulm und die ebenfalls in Ulm ansässige C. D. Magirus A.G. 237 Letztgenannter Betrieb konnte im Krieg expandieren, von 386 Mitarbeitern 1910 auf über 2.000 Mitarbeiter 1917. Kriegswichtig war die Firma Magirus aufgrund der LKW-Produktion und, was noch entscheidender war, weil sie innovative Feldküchen herstellte, die so genannten „Gulaschkanonen“. 238 Der Blaubeurer Zementindustrie, neben der dort ansässigen Leinenindustrie in der Vorkriegszeit der wichtigste Arbeitgeber der Gemeinde, setzte demgegenüber der Krieg stark zu. Da nach Kriegsausbruch im gesamten Deutschen Reich die Bautätigkeit eingestellt wurde, brach den Blaubeurer Zementherstellern nach Beendigung eines Arbeitsauftrages für den Ulmer Festungsbau in den ersten Wochen des Krieges der Absatzmarkt weg. Die Firmenleitung gewährte ihren Beschäftigten Kriegsbeihilfen, um die prekäre ökonomische Situation abzumildern. Die Situation änderte sich erst in der zweiten Kriegshälfte durch veränderte staatliche Rahmenbedingungen wieder zugunsten der Zementindustrie. 239 Neben dieser Differenzierung zwischen unterschiedlichen Branchen lässt sich auch zwischen einzelnen Phasen unterscheiden, und zwar in Bezug auf die Beschäftigungssituation. Denn Unternehmen der Metall- und Maschinenbauindustrie wie beispielsweise WMF, die später von der Kriegskonjunktur profitieren konnten, hatten unmittelbar nach Kriegsausbruch mit Umstel- 236 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 74. 237 Vgl. Verzeichnis der dem Stv. Generalkommando XIII. (Kgl. Wü.) Armeekorps bekannten militärisch wichtigen Betriebe im Korpsbezirk, Stand 10.3.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 557. 238 Vgl. Hepach, Marktfahne, S. 196. 239 Vgl. Cramer, Anfänge, S. 34 ff. <?page no="69"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 70 lungsschwierigkeiten zu kämpfen. 240 Demzufolge stieg die Anzahl der Entlassungen und damit der Arbeitslosen zunächst an, bevor die gute Auftragslage der Rüstungsindustrie in den beteiligten Branchen einen Arbeitskräftemangel hervorrief. 241 Im Handwerk konnten viele Betriebe, besonders kleinere Handwerksbetriebe jüngerer Meister, die bereits zu Kriegsbeginn eingezogen wurden, den Betrieb nicht aufrechterhalten und mussten schließen. 242 Da zudem auch Angelernte in kriegswichtigen Betrieben relativ hohe Löhne erhielten, war der Anreiz für Jugendliche hoch, nach Beendigung der Schule keine Lehre zu absolvieren, sondern direkt in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Ihr Lohn trug vielfach zur Sicherstellung des Familieneinkommens bei. Währenddessen war es im Handwerk nicht nur unüblich, den Lehrlingen Lohn zu zahlen - im Regelfall mussten die Familien für die Ausbildung, häufig auch für Kost und Logis das sprichwörtliche Lehrgeld bezahlen. 243 Die Tendenz weg vom klassischen Lehrberuf hin zu un- und angelernter Tätigkeit erschien den Zeitgenossen mit zunehmender Dauer des Krieges als wachsendes Problem: „Das Handwerk leidet allmählich immer schwerer unter dem Mangel an Lehrlingen. Einmal fehlt deren Arbeitskraft, sodann aber muß es auch mit Besorgnis für die Zukunft des Handwerks erfüllen, wenn der Nachwuchs auszugehen droht.“ 244 Aber auch für das Handwerk sind Differenzierungen notwendig. In Ulm profitierten bestimmte Handwerkssparten davon, dass durch die Garnison ein erheblicher Bedarf an „kriegswichtigen Gütern“ über die unmittelbare Waffentechnik hinaus bestand. Dies galt beispielsweise für Schneider, die sich auf die Anfertigung von Uniformen spezialisierten. 245 Die vorwiegend mittel- und kleinbäuerlichen Agrarbetriebe im Landgerichtsbezirk hatten im Falle der Einberufung von Bauern und ländlichen Arbeitskräften sowie nach der Abwanderung von Arbeitskräften in die attraktiven Beschäftigungsmöglichkeiten der Rüstungsindustrie mit Arbeitskräfte- 240 Exemplarisch anhand der WMF in Geislingen stellt dies Gunther Mai dar, vgl. ders., Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung, S. 67 ff. 241 Vgl. Sachße/ Tennstedt, Armenfürsorge, S. 46; sowie Scheck, Weltkrieg und Revolution, S. 33. 242 Vgl. Wicki, Königreich Württemberg, S. 30. 243 Vgl. Mai, Kriegswirtschaft, S. 82; sowie Schaller, Wirtschaftsgeschichte Ulms, S. 118. 244 Lehrlingsnot, in: UTb vom 1.2.1918. 245 Vgl. Dannenberg, Kommunale Selbstverwaltung, S. 97. <?page no="70"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 71 mangel zu kämpfen. 246 Aus diesem Grunde waren kleinere Höfe mehr als zuvor auf die Mithilfe aller Familienangehörigen angewiesen, auch der Kinder. 247 b. Die materielle Versorgungslage Auch die Versorgungslage gestaltete sich je nach Wohnort, sozialem Status und Beruf anders. Tendenziell lässt sich festhalten, dass die Schwierigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung in Städten größer waren als in ländlichen Gebieten. War in Städten die vorherrschende negative Erfahrung der Mangel, so waren es auf dem Land die Reglementierungen und Zwangsabgaben, die eben jenen städtischen Mangel beheben sollten. 248 Für den Landgerichtsbezirk Ulm ist zu bedenken, dass wegen der Pendelwanderung die Anbindung an ein agrarisches Umfeld weiter verbreitet war. Kritiker, wie ein Redner des Vereins für ländliche Wohlfahrtspflege, sprachen im Zusammenhang mit der angeblichen Zurückhaltung der Landwirte bei der Abgabe von zwangsrationierten Lebensmitteln gar von einem „Versagen“ der Agrarier: „Aber das Versagen sei mit wenigen Ausnahmen nicht auf Böswilligkeit, sondern auf mangelnde Einsicht zurückzuführen. Pflichten gegen den Staat und die Allgemeinheit habe der Bauer bisher nicht gekannt. Es sei schwer, ihm die veränderten Verhältnisse der Kriegswirtschaft mit ihrem sozialistischen Eigentumsbegriff klar zu machen. Am Besten etwa so: Soldaten müssen gehorchen, ohne den Grund zu hören, also auch Ihr.“ 249 Für den Landgerichtsbezirk Ulm muss man das Bild der urbanen Versorgungsprobleme im Vergleich zu anderen Gebieten des Deutschen Reiches differenzieren. Ulm galt während des Krieges als den Umständen entsprechend optimal versorgte Großstadt des Reiches. 250 Denn der langjährige Ulmer Oberbürgermeister Heinrich von Wagner hatte die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern für den Kriegsfall schon ab 1913 zu planen begonnen. An diese Bemühungen der Vorkriegszeit konnte Ulm 246 Vgl. Wicki, Königreich Württemberg, S. 88 f. 247 Vgl. Mommsen, Bürgerstolz, S. 682. 248 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 87. Er beurteilt dies als „Spannungen […] ‚quer zu den Klassengegensätzen’ der Marktgesellschaft“. 249 Protokoll der Versammlung des Landesausschusses für Volksaufklärung vom 7.2.17, S. 5, HStAS M 77/ 1, Bü 776. 250 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 311. <?page no="71"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 72 nach Kriegsausbruch anknüpfen. Insbesondere achteten die Verantwortlichen in Ulm darauf, die Selbstversorgung der Bevölkerung weiterhin zu fördern So stellte die Stadt brachliegende Flächen zur Anlage von Kleingärten zur Verfügung. 251 Die schlimmsten urbanen Versorgungsprobleme, mit denen andere Großstädte zu kämpfen hatten, traten im Landgerichtsbezirk Ulm demnach nicht auf, wiewohl im Vergleich zum Ulmer Umland sich die Lage im Stadtgebiet prekärer gestaltete. 252 Auf die Abgabe von kommunalem Land setzten neben Ulm auch andere Gemeinden im Landgerichtsbezirk. In Laupheim beschloss der Gemeinderat Anfang 1915 die Verpachtung von Flächen, die ursprünglich der Aufforstung dienen sollten, zum Kartoffelanbau. 253 Trotzdem deuteten sich bereits im ersten Kriegswinter 1914 für Württemberg die später noch zugespitzten Versorgungsengpässe an. Die Ernte von Brotgetreide und Gerste im Herbst 1914 fiel quantitativ - nicht qualitativ, wie betont wurde - schlechter aus als sonst. Demgegenüber war das Angebot aufgrund der ausgebliebenen ausländischen Importe geschrumpft und die Preise gestiegen. 254 Unter der Verknappung der Lebensmittel litten insbesondere die sich noch im Wachstum befindlichen Kinder und Jugendlichen sowie Senioren, deren Abwehrkräfte altersbedingt ohnehin reduziert waren. 255 Ab 1915 begannen die Behörden die immer knapper werdenden Lebensmittel zu rationieren, um so die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmittel auch unter den Bedingungen des Krieges gewährleisten zu können. Allerdings deckten diese offiziell gewährten Rationen bei weitem nicht den Bedarf der Konsumenten. Verbraucher in der Stadt und im Oberamtsbezirk Blaubeuren bekamen zunächst 1917 pro Kopf und Woche ein Ei zugeteilt. Im Anschluss daran, nach Inkrafttreten einer entsprechenden Verfügung der Landesversorgungsstelle, gewährte man pro Kopf 25 weitere Eier zum Haltbarmachen für das laufende Jahr. Insgesamt mussten die Menschen in Blaubeuren im ganzen Jahr 1917 mit nur 30 Eiern pro Kopf auskommen. 256 Die Konsequenz der Mangelwirtschaft waren Hamsterfahrten über Land, um direkt von den Erzeugern die von diesen nicht bei den offiziellen Sammelstellen abgelieferten Lebensmittel zu erwerben - regelwidriges Verhalten der Produzenten wie der Konsumenten. Die Mittelstelle für Volksaufklärung 251 Vgl. Dannenberg, Kommunale Selbstverwaltung, S. 98 f.; sowie Specker, Ulm, S. 84. 252 Besonders betroffen von Versorgungsengpässen waren industrielle Ballungszentren. Am Beispiel Hamburgs veranschaulicht dies Ulrich, Kriegsalltag. Hier kam es während des Steckrübenwinters auch zu stadtteilübergreifenden Lebensmittelkrawallen, siehe ebd., S. 68. 253 Vgl. Specker, Laupheim, S. 257. 254 Vgl. UTb vom 6.11.1914 (2. Blatt). 255 Vgl. Chickering, Deutsches Reich, S. 153. 256 Vgl. Bericht vom 8.5.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 476. <?page no="72"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 73 bemühte sich, dieses Phänomen durch Aufklärung einzudämmen. 257 In einem Artikel aus dem Oberschwäbischen Anzeiger, den die Mittelstelle für Volksaufklärung an die Bezirkskriegsausschüsse mit der Bitte, ihn in den jeweiligen Bezirksblättern zu veröffentlichen, sandte, heißt es: „Vor Jahrzehnten waren die im Lande herumziehenden Zigeuner eine wahre Landplage. Das Gesetz und die Polizei wurden Herr über dieses diebische Gesindel. Eine noch größere Plage als ehemals die arbeitsscheuen Zigeuner sind zurzeit die aufdringlichen Hamster und Hamsterinnen. Zu Dutzenden im Tage erscheinen sie in aufdringlicher Weise in den Dörfern und Höfen. Besonders der Samstag und der Sonntag sind die ‚Hauptarbeitstage’.“ 258 Durch die Gleichsetzung der „Hamsterer“ mit den „Zigeunern“ sollte die Diskreditierung der hamsternden Personen erreicht werden. „Zigeuner“ galten als unzivilisierte, instinktgeleitete, gar kriminelle „Rasse“. 259 Mit dem Vergleich zwischen „Hamsterern“ und „Zigeunern“ schloss man erstere gleich den „Zigeunern“ symbolisch aus der nationalen Gemeinschaft aus. Hamstern wurde als sozialschädliches Verhalten gebrandmarkt. Ein hilfloser Versuch der demgegenüber machtlosen Behörden, denn das Phänomen war weit verbreitet. Das Hamstern ließ sich nicht unterdrücken, da es lebensnotwendig war, die gesetzlichen Rationen aufzustocken. Dabei kämpften die württembergischen Behörden nicht nur gegen einheimische Hamsterfahrer. Laut Kriegsernährungsamt herrschte in Teilen der Bevölkerung die Ansicht, im Süden des Deutschen Reiches sei die Ernährungssituation besser als in Norddeutschland. Die logische Schlussfolgerung für „Sommerfrischler“ war, ihre Ferien in Süddeutschland zu planen. Alarmiert ob der Aussicht auf hamsternde Sommerfrischler meldete das Ulmer Tagblatt: „Daß man in Süddeutschland im Ueberfluß schwelge, ist natürlich unzutreffende Uebertreibung.“ 260 Die Verknappung der Lebensmittel, die daraus resultierende Rationierung auf der einen Seite und die Möglichkeit, mit Aufwendung entsprechender 257 Die Mittelstelle für Volksaufklärung war 1916 beim Kgl. Wü. Innenministerium eingerichtet worden. Ihre Aufgabe war die Bereitstellung von „Aufklärungs- und Aufmunterungsmaterial“, die Durchführung von Vorträgen etc. und die Information der Presse über Ernährungs- und Versorgungsfragen, um Unruhe innerhalb der Bevölkerung über die zunehmend prekärer werdende Versorgungslage und damit einen Vertrauensverlust in die Obrigkeit abzuwenden, siehe dazu Mai, Aufklärung der Bevölkerung, S. 207 ff. 258 Zeitungsartikel aus dem Oberschwäbischen Anzeiger vom 15.7.1918, HStAS, M 77/ 1, Bü 476. 259 Vgl. Vyleta, Cultural History of Crime, S. 364; sowie Milton, Gypsies, S. 212 f. 260 UTb vom 13.7.1916. <?page no="73"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 74 Mittel diese Rationierung zu umgehen, schufen Ungleichheiten und damit Konfliktpotential innerhalb der Bevölkerung. Gleichzeitig unterhöhlte der Mangel die Autorität der Behörden, da man, wollte man sich mit dem Lebensnotwendigen versorgen, Regelungen brechen musste - sei es durch Hamsterkäufe oder, wenn dazu die Mittel fehlten, durch Diebstähle und Unterschlagungen. Der Höhepunkt des Mangels war im Winter 1916/ 17 erreicht: Als „Kohlrübenwinter“ ging er in die Geschichte ein. 261 Die Kartoffelvorräte reichten aufgrund der zuvor eingebrachten schlechten Ernte nicht zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung. Es musste daher auf Ersatzmittel zurückgegriffen werden. Surrogat waren in Württemberg Kohlrüben oder, wie sie auch bezeichnet wurden, Kohlraben. In der Presse finden sich wahre Loblieber auf dieses Gemüse, es sei „leicht verdaulich und enthält die Nährstoffe in leicht annehmbarer Form […]. […] [D]ie Größe der Rüben bedingt weniger Abfall und Arbeit beim Schälen [im Vergleich zur Kartoffel, Anm.].“ 262 Trotz der beschworenen Vorzüge der Kohlrübe wurde der „Kohlrübenwinter“ in der Retrospektive zum Synonym für Mangelwirtschaft, Versorgungsprobleme und Entbehrungen der Bevölkerung während des vier Jahre dauernden Weltkrieges. 3. Die Situation von Kindern und Jugendlichen im Krieg Versorgungsengpässe und damit die Knappheit von lebensnotwendigen Gütern trafen neben Erwachsenen gleichermaßen Kinder und Jugendliche im Landgerichtsbezirk Ulm - oftmals härter. Darüber hinaus tangierte diese der Krieg noch auf andere Weise. a. Auswirkungen auf die Familie Unter anderem veränderte sich die Familienstruktur durch den Krieg. Wenn der Vater eingezogen wurde, blieben Mutter und Kinder alleine zurück. Zeitgenössische pädagogische und jugendkundliche Publizisten diskutierten dieses Phänomen besorgt und intensiv. 263 Die veränderte Familienstruktur ist 261 In anderen Regionen des Deutschen Reiches wurde auch der Terminus „Steckrübenwinter“ gebraucht. 262 Die Verwendung der Kohlraben (Kohlrüben) als Nahrungsmittel, in: UTb vom 18.11.1916. 263 Vgl. Bornhorst, Jugendverwahrlosung, S. 41 ff. <?page no="74"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 75 eine Tatsache. Gleichwohl ist es schwierig, das tatsächliche Ausmaß und die Auswirkungen zu benennen. 264 So entfalteten Bilder von Frauen in Männerberufen - auffällig und ungewohnt etwa als Straßenbahnschaffnerinnen - eine über ihre quantitative Bedeutung hinausreichende Wirkmacht. 265 Das Bild einer vollständig „vaterlosen Gesellschaft“ ist daher sicherlich verzerrt. 266 Trotzdem bestand nun, insbesondere in der Nähe kriegswichtiger Industriebetriebe, vermehrt die Notwendigkeit, Kinder tagsüber in Betreuungseinrichtungen unterzubringen. In Geislingen und Geislingen-Altenstadt bestand beispielsweise ab Januar 1916 für jeweils über 60 Kinder diese Option. 267 b. Veränderungen des Schulalltags Leichter als Veränderungen der privaten Situation innerhalb der Familien lassen sich die Auswirkungen des Kriegszustandes auf die Routine des Schulalltags benennen. 268 Die jeweiligen Folgen spiegelten auch die militärische Großwetterlage. Zunächst erhielten die Schüler für Jubelfeiern anlässlich der militärischen Erfolge des deutschen Heeres schulfrei. 269 Zu diesem Zweck wies das württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens die Schulvorstände der höheren Schulen, Lehrerbildungsanstalten und Volksschulen an, „beim Eintritt hervorragender Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz, durch die für uns die siegreiche Entscheidung zu Wasser und zu Lande besonders beeinflußt wird, eine Schulfeier abzuhalten […].“ 270 264 So fehlen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges die statistischen Daten zum württembergischen Militär (siehe die Statistischen Handbücher für Württemberg aus der Zeit von 1914 bis 1926). 265 Vgl. Koch, Frauen, S. 17. Eine dauerhafte Emanzipation erreichten Frauen durch die meist temporäre Übernahme „männlicher“ Arbeitsplätze zudem nicht, vgl. dazu ausführlich Daniel, Arbeiterfrauen. 266 Vgl. Koch, Jeder tut, was er kann, S. 42 f.; sowie Daniel, Krieg der Frauen, S. 133 f. 267 Vgl. UTb vom 20.1.1916 (1. Blatt). 268 Wenn nicht extra differenziert wird, betreffen die dargestellten Sachverhalte sowohl Volksals auch höhere Schulen. 269 Vgl. Ulrich, Innere Revolutionierung, S. 605. 270 Bekanntmachung des Kgl. Wü. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens vom 14.11.1914 betreffend die Feier hervorragender Kriegsereignisse in den Schulen, in: ABl Wü MKSch 1914, S. 199. <?page no="75"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 76 Darüber hinaus sei es selbstverständlich, dass auch neben diesen Feierlichkeiten die Schule dafür verantwortlich zeichne, „die Jugend in die Größe und den Ernst der Zeit einzuführen und sie an der gewaltigen Erhebung unseres Volkes unverkürzt Anteil nehmen zu lassen […].“ 271 Eine skurril erscheinende, aber bezeichnende Episode war eine Verfügung dieses Ministeriums. Es wies im Mai 1915 das Lehrpersonal an, den Gebrauch deutscher Stahlfedern zum Schreiben zu forcieren, da zu viele Schüler noch ausländische, speziell englische Stahlfedern verwendeten. 272 Der Krieg wurde zum Thema des Unterrichts, und zwar in allen Fächern, in Geschichte ebenso wie in Mathematik. 273 Dabei sollte, wenn möglich, das globale Geschehen mit lokalem Bezug behandelt werden, denn, so heißt es in einem Ratgeber für die katholischen Schulvorstände von Volks- und Fortbildungsschulen in Württemberg, „[d]a wir die Schüler nicht in die Front stellen können, so müssen wir eben kleine oder große Erlebnisse schaffen‚ ,die der Kinderseele gleichsam als Nägel dienen, an denen alle die vielen flüchtigen Eindrücke, Gefühle und Impulse’ angeknüpft, festgeschlagen werden können.“ 274 Doch hier dürften sich auch Schwierigkeiten aufgetan haben. Denn zwischen den Unterrichtsinhalten, die den Kindern den viel beschworenen „Geist von 1914“ vermitteln sollten, und ihrem oftmals durch Mangel oder Angst um Familienangehörige geprägten Alltag bestand ein eklatanter Widerspruch, den jedes Kind individuell zu lösen hatte. Auch jenseits der Inhalte bestimmte der Krieg über den Ablauf eines geregelten Unterrichts. In einigen Fällen beanspruchte das Militär Schulgebäude für eigene Zwecke und es kam deswegen zu Unterrichtsausfällen. 275 Der Unterrichtsbetrieb wurde in stetig steigendem Maße den Erfordernissen der Kriegsorganisation der Gesellschaft angepasst. Auf diese Weise erlebten die Schülerinnen und Schüler den Krieg entweder als Thema ihres Unterrichts 271 Ebd., S. 200. 272 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens vom 4.5.1915 betreffend den Gebrauch ausländischer Stahlfedern, in: ABl Wü MKSch 1915, S. 15-16. 273 Vgl. Demm, Deutschlands Kinder, S. 54 f. 274 Treutler, Krieg und Schule, S. 24. 275 Vgl. UTb vom 11.9.1914 (2. Blatt). <?page no="76"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 77 oder als Faktor, dem der Schulalltag unterworfen wurde. Der Krieg war zugleich Gegenstand und Hemmnis des Unterrichts. Im Turnunterricht wirkte sich das in der Weise aus, dass das schulische Turnen und das Heeresturnen einander angeglichen wurden, wenn auch „eintönige[r], schroffe[r] Drill“ in der Schule vermieden werden sollte. Marschübungen für Gleichschritt und bei älteren Schülern Exerziermarsch, das „militärische Knien“ und Kriechübungen hielten Einzug im Schulunterricht der höheren und Volksschulen. 276 Beeinträchtigt wurde der Schulablauf zusätzlich durch die Einberufung vieler Lehrer. Mitte Mai 1915 war ein Drittel der deutschen Volksschullehrer eingezogen. In der Schule machte sich damit der in anderen Bereichen ebenfalls herrschende Fachkräftemangel bemerkbar. 277 Als die militärischen Erfolge des deutschen Heeres abebbten, änderten sich die Einflüsse des Krieges auf den Schulablauf. Waren es zunächst die Jubelfeierlichkeiten, die den gewohnten Gang unterbrachen, behinderten nun die zunehmenden Versorgungsprobleme eine geregelte Fortsetzung des Unterrichts. Denn im weiteren Verlauf des Krieges mit der in allen Bereichen prekärer werdenden Versorgungssituation unterlag der Schulalltag dem Diktat des Mangels. Nach einem Erlass des württembergischen Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens sollte in der Schule nach Möglichkeit wieder auf Schiefertafeln geschrieben werden, um Schulhefte und Papierressourcen schonend zu nutzen, „selbst wenn dies vorübergehend auf Kosten der Übersichtlichkeit geschehen muß.“ 278 Schließlich kam es auf Grund des Kohlenmangels zu tagelangen Unterrichtsausfällen, da die Klassenräume im Winter nicht mehr ausreichend geheizt werden konnten. 279 Dies war besonders fatal, da der Kohlenmangel in den meisten Fällen ebenfalls die Familien der Schulpflichtigen betraf. Die Möglichkeit der Kinder, sich in der Schule aufzuwärmen, entfiel somit. Für den Winter 1917/ 18 bemühte sich das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, solche Ausfälle in Zukunft zu vermeiden. Zu diesem Zweck sollten die verschiedenen Jahrgänge nach Möglichkeit in einem Raum unterrichtet oder - je nach den örtlichen Gegebenheiten - ganze Schulen zusammengelegt werden. Gleichzeitig strebte man eine Einschränkung der Benutzung von 276 Vgl. Erlass der Ministerialabteilung für die höheren Schulen und der Oberschulbehörden für die Volksschulen vom 20.1.1917 betreffend die Angleichung von Schul- und Heeresturnen, in: ABl Wü MKSch 1917, S. 5-8. 277 Vgl. Saul, Jugend im Schatten, S. 112. 278 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens an sämtliche Schulbehörden vom 21.3.1916 betreffend Sparsamkeit im Verbrauch von Schreibpapier in den Schulen, in: ABl Wü MKSch 1916, S. 5-6. Das Zitat S. 5. Siehe auch UTb vom 31.3.1916. 279 Vgl. UTb vom 10.2.1917. <?page no="77"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 78 Schulbädern wie Schulbüchereien an. Ungeheizt sollten Turnhallen und Gänge sowie die Treppenhäuser bleiben, eine mögliche Schließung der Schulen konnte das Ministerium weiterhin nicht ausschließen. 280 All diese schulischen Einschränkungen traten neben außerschulische Versorgungsprobleme und fielen daher stark ins Gewicht. Die Schließung der Schulbäder bedeutete eine weitere Verschlechterung der Körperhygiene, da auch Reinigungsmittel zu den knappen Gütern gehörten. 281 Wenn Schüler auf der einen Seite unter Versorgungsengpässen litten, wurden sie auf der anderen Seite dazu eingesetzt, den Materialbedarf von Front und Heimatfront sichern zu helfen. Das Mittel zum Zweck waren dabei Sammlungen aller Art, das Spektrum reichte von Geldspendenerhebungen über Sammlungen knapper Werkstoffe wie Messing oder Leder bis hin zu Naturalien wie Bucheckern und Fallobst. Zu diesen Kollekten im Dienste des „kämpfenden Vaterlandes“ zog man häufig Schüler heran, teilweise als kompletten Klassenverband. Auf diesem Wege konnten erhebliche Mengen und Werte für die Kriegführung beschafft werden. 282 Schüler und Pflegezöglinge trugen Anfang Januar 1915 in Kirchheim unter Teck für das Rote Kreuz Wollreste im Wert von 1.500 bis 1.600 Reichsmark zusammen. 283 Die Verantwortlichen machten sich bei diesen Sammlungen die Empathiefähigkeit von Kindern zu Nutze, die relativ leicht für eine „große Sache“ begeistert werden konnten. Dies erwies sich ebenfalls als hilfreich, um direkt über die Kinder und Jugendlichen respektive deren Eltern Kapital für den Krieg zu beschaffen. Schüler investierten im Schulverbund erhebliche Summen in die Kriegsanleihen der Reichsregierung oder beteiligten sich an so genannten Nagelungsaktionen, bei denen in große Holzfiguren - Holzkreuze oder Statuen, beliebt war Hindenburg - gegen eine Spende ein Nagel eingeschlagen werden konnte. Das Realgymnasium in Geislingen schaffte es, für die vierte und fünfte Kriegsanleihe jeweils rund 30.000 Mark zusammenzutragen. 284 Weiterhin beteiligten sich Schüler städtischer Schulen im Umland an landwirtschaftlichen Arbeiten, um den dort herrschenden Arbeitskräftemangel zu beheben und so mit der Ernte die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Das württembergische Kultusministerium versuchte vor der Aussaat im Frühjahr 1917 diese Aktionen zu systematisieren und zu 280 Vgl. Kohlenersparnis im Schulbetrieb, in: UTb vom 26.9.1917. 281 Vgl. Sachße/ Tennstedt, Armenfürsorge, S. 49. 282 Vgl. Demm, Deutschlands Kinder, S. 64. 283 Vgl. UTb vom 14.1.1915 (2. Blatt). 284 Vgl. UTb vom 16.10.1916. <?page no="78"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 79 verbessern. 285 Von dem temporär begrenzten Hilfseinsatz der Stadtkinder profitierten im Idealfall beide Seiten: sowohl die Landwirte, die Helfer aufgenommen hatten, als auch die Aufgenommenen und ihre Familien. Erstere erhielten billige Arbeitskräfte, letztere profitierten von der besseren Nahrungsmittelversorgung im Umfeld der Erzeuger - die Schüler direkt, ihre Familien in der Stadt indirekt, da sie für einen gewissen Zeitraum bei der Ernährung entlastet wurden. Jenseits kurzfristiger Vorteile in Form einer verbesserten Versorgung mit Lebensmitteln bedeutet diese Form der Heranziehung von Kindern und Jugendlichen jedoch wiederum, dass diese für die Kriegführung der Erwachsenen in die Pflicht genommen wurden. Zur Regeneration der Stadtschüler setzte Ulm auf Ferienkolonien, in denen sich Kinder während der schulfreien Zeit von den Strapazen des städtischen Kriegsalltags erholen sollten. 286 Im „Steinhäule“ verbrachten über den Sommer 1918 verteilt ungefähr 500 Kinder ihre Freizeit mit „Spiel, Gesang und Spaziergänge[n]“. Da sie hier eine bessere Verpflegung als in Ulm erhalten würden, sollten „sich die Kinder stets dankbar ihres Aufenthalts im Waldheim Steinhäule erinnern“. 287 c. Die Jugendwehr Zum Zwecke der militärischen Vorbildung künftiger Soldaten und aus Angst vor sozialdemokratischen Einflüssen rief man nach Kriegsausbruch die Jugendwehr ins Leben. 288 Mitte Oktober fand in Laupheim auf Initiative des Oberamtes eine Versammlung zur Errichtung einer Jugendwehr statt, auf der das weitere Vorgehen beschlossen wurde. In Dietenheim, Oberamt Laupheim, gründete sich am 19. Oktober 1914 eine Jugendwehr für Jungen ab 16 Jahre, deren Leitung ein Fabrikant übernahm. Die Übungen sollten sonntagnachmittags und dreimal unter der Woche stattfinden. 289 Konkret ging es darum, die künftigen Rekruten für den militärischen Hilfs- und Arbeitsdienst 285 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens vom 12.3.1917 betreffend die Mitwirkung der Schuljugend bei landwirtschaftlichen Arbeiten, in: ABl Wü MKSch 1917, S. 17-19. 286 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 357 ff. 287 Vgl. Ferienkolonie Steinhäule, in: UTb vom 16.9.1918. Die Einrichtung heißt laut Ulmer Tagblatt tatsächlich „Steinhäule“ und nicht etwa „Steinhäusle“. 288 Vgl. Saul, Jugend im Schatten, S. 93. 289 Vgl. UTb vom 15.10.1914 (1. Blatt) und UTb vom 20.10.1914 (2. Blatt). <?page no="79"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 80 sowie den Kriegsdienst in Heer und Marine optimal vorzubereiten, soweit dies ohne direkte Waffenschulung realisierbar war. 290 Als Anreiz zur Partizipation der Jugendlichen stellten die Verantwortlichen den Mitgliedern Vergünstigungen bei der Einberufung zum Militär in Aussicht. Klaus Saul erwähnt, dass seit Anfang 1916 die freie Wahl des Truppenteils bei der Waffengattung, für die der Gemusterte tauglich befunden war, und damit eine heimatnahe Ausbildung ermöglicht wurde. Dazu kamen Vorzüge wie früherer Kasernenausgang, längerer Urlaub und die Aussicht auf Beförderung. 291 Allerdings scheinen zwischen theoretischem Anspruch auf privilegierte Behandlung von Jugendwehrmitgliedern und der praktischen Gewährung derselben Differenzen bestanden zu haben. So sah sich das Stellvertretende Generalkommando des XIII. Armeekorps Ende 1916 genötigt, den Offizieren und Unteroffizieren des Armeekorps zu befehlen, die in Aussicht gestellten Vergünstigungen auch tatsächlich zu gewähren. Auch darüber hinaus forderte es, die Bestrebungen der Jugendwehr „so viel wie irgend möglich zu fördern“. 292 Ende 1915 existierten im Landgerichtsbezirk Ulm 114 Jugendwehren mit zusammen 2.728 jugendlichen Mitgliedern. Im nach Ulm einwohnerstärksten Oberamtsbezirk Göppingen mit einem sehr hohen Beschäftigungsanteil im industriellen Sektor gab es nur fünf Jugendwehren mit zusammen 180 Mitgliedern. 293 Sichtbar wird eine Trennlinie, die die Jugendwehr zog. Denn die Jugendwehr rekrutierte ihre Teilnehmer primär aus Schülerkreisen höherer Lehranstalten, die demnach hauptsächlich von den geschilderten Vergünstigungen profitierten. Der Grund für diese soziale Selektion lag auch an den Terminen der Jugendwehrübungen. 294 Sie wurden in den Abendstunden und sonntags abgehalten - zu Zeiten also, an denen jugendliche Arbeiter zu erschöpft waren, um an körperlich anstrengenden vormilitärischen Übungen teilzunehmen. Zwar bat etwa die Ulmer Jugendwehr die örtlichen Arbeitgeber, die Teilnahme ihrer Beschäftigten an der Jugendwehr zu ermöglichen. Dies war aber offenkundig schwerer zu realisieren als der Verzicht auf Haus- 290 Vgl. Richtlinien für die Jugendwehr, in: Württ. Jugendwehr, Stuttgart (Broschüre), S. 5-8, hier S. 5, HStAS, M 77/ 1, Bü 556. 291 Vgl. Saul, Jugend im Schatten, S. 100. 292 Vgl. Erlass des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 19.12.1916, HStAS, M77/ 1, Bü 668. 293 Vgl. Liste zur Zahl der Jugendwehren und Jugendwehrmitglieder nach der Aufnahme auf 1.12.1915, Beilage zum Schreiben des Arbeitsausschusses der Württembergischen Jugendwehr an das Kgl. Wü. Ministerium des Kirchen- und Schulwesens vom 17.2.1916, HStAS, M 77/ 1, Bü 556. 294 Vgl. Saul, Jugend im Schatten, S. 96. <?page no="80"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 81 aufgaben an Übungstagen seitens der Schulen. 295 So beklagte sich ein Jugendlicher anlässlich der bevorstehenden Musterung des Rekrutenjahrgangs 1900 und der ihm und seinem Umfeld vorenthaltenen Privilegierung bei der Wahl der Waffengattung: „[I]n dem Riesenkampf um die Existenz des Vaterlandes und zugleich jedes einzelnen ist es sogar sehr am Platze, dass sich junge Leute, die freie Zeit haben, in den Dienst des bedrohten Vaterlandes stellen, aber gerade das ist es, denn weitaus über die Hälfte hat diese Zeit nicht zur Verfügung, denn wenn man abends müde und ermattet von dem auch für das Vaterland arbeitenden Betrieb heimkehrt, so begibt man sich, nachdem man sein spärliches Abendessen verzehrt und seine Zeitung gelesen hat, zur Ruhe, mit dem Gefühl, auch ohne Jugendwehr dem Vaterland gedient zu haben, indem man ja den ganzen Tag dafür arbeitet. Wieder andere besuchen abends nach Geschäftsschluss noch eine Schule zur Weiterbildung und dienen damit in gewissem Sinn auch dem Vaterland […].“ 296 Im Stellvertretenden Generalkommando reagierte man mit Unverständnis auf diese Kritik. Lapidar hieß es intern, man solle dem Stuttgarter Neuen Tagblatt mitteilen, „dass sehr viele junge Arbeiter tatsächlich den Uebungen der Jugendwehr anwohnen. Wenn dies teilweise auch nur Sonntags geschieht, so ist dies durchaus genügend. Im übrigen sieht man die jungen Burschen abends in grosser Zahl sich auf den Strassen herumtreiben mit ihrer Zigarette im Mund; ebenso könnten sie sich auch der Jugendwehr anschliessen.“ 297 Die Militärangehörigen reproduzierten hier das vorherrschende Bild juvenilproletarischer Freizeitgestaltung. Genusssüchtig vertrödelten sie ihre Zeit auf der Straße, dem Ort fehlgehender Sozialisationserfahrung, mit den Erwachsenen vorbehaltenen Genussmitteln. 298 Die Teilnahme an der vormilitärischen Erziehung durch die Jugendwehr gehörte nur für einen bestimmten Teil von Jugendlichen zur Erfahrungswelt 295 Vgl. Ulmer Jugendwehr. Aufruf zur Teilnahme aller Jungmannen vom 16. bis 20. Jahr, in: UTb vom 15.10.1914 (1. Blatt). Zu den Schwierigkeiten siehe auch Saul, Jugend im Schatten, S. 102. 296 Abschrift eines Briefes an das Stuttgarter Neue Tagblatt, von diesem am 14.3.1918 an das Stv. Generalkommando gesendet, HStAS, M 77/ 1, Bü 559. 297 Schreiben der Abteilung IIb (Kriegsarbeits- und Ersatzwesen) des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps an die Abteilung IId (Presse, Aufklärungsoffizier) vom 20.3.1918, HStAS, M 77/ 1, Bü 559. 298 Vgl. dazu Punkt I.2.a. <?page no="81"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 82 des Krieges. 299 Durch die in Aussicht gestellten Gratifikationen für ihre Mitglieder spielte die Jugendwehr aber auch bei Jungen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht partizipieren konnten, eine wichtige Rolle. Sie nahmen diese als Benachteiligung wahr. d. Wider die „Zuchtlosigkeit“ - Reglementierungen jugendlichen Lebens Aus den oben zitierten Äußerungen des Stellvertretenden Generalkommandos spricht das Unverständnis, welches Jugendlichen von dieser Seite entgegengebracht wurde. Die Hauptaufgabe der Stellvertretenden Generalkommandos, hier des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps 300 , war die Sicherung des Bedarfs des im Feld stehenden Heeres. Daneben trat die Verantwortung für die Innere Sicherheit im Hoheitsgebiet. 301 Daraus resultiert, dass die Zuständigen im Stellvertretenden Generalkommando Jugendliche als kriegswichtige Ressource, als künftige Soldaten ansahen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Klagen über die „Verwilderung“ der Jugend im Krieg wurde aus der Jugend eine gefährdete Ressource. 302 Das württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens führte aus: „Mit der längeren Dauer des Kriegs mehren sich die Klagen über wachsende Zuchtlosigkeit nicht nur unter der schulentlassenen, sondern auch unter der schulpflichtigen Jugend. Erscheinungen, die schon unter gewöhnlichen Verhältnissen zu bekämpfen waren, nehmen namentlich in größeren Städten und Industriegemeinden sichtlich zu […].“ 303 299 Allerdings auch für Angeklagte vor dem Landgericht Ulm, vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.12.1915 gegen Leonhard H., StAL, E 350a, Bü 870. 300 Ein Spezifikum des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps war, dass sein Zuständigkeitsbereich mit der zivilen Verwaltungseinheit Württembergs übereinstimmte, eine Situation, die Württemberg mit dem Gebiet der Provinz Brandenburg, dem Stadtkreis Berlin eingeschlossen, teilte. In anderen Bundesstaaten des Deutschen Reiches war dies nicht der Fall, die Gebiete der Militärbefehlshaber umfassten mehrere Teile unterschiedlicher Länder, siehe dazu Deist, Einleitung, S. XL. 301 Vgl. Daniel, Fiktionen, S. 536. 302 Vgl. Bornhorst, Jugendverwahrlosung, S. 61-71. 303 Bekanntmachung des Kgl. Wü. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens vom 24.11.1915 betreffend die Erziehung der Jugend während des Kriegs, in: ABl Wü MKSch 1915, S. 25-28. Das Zitat S. 25. <?page no="82"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 83 Da diese Erscheinungen, wie das Ministerium weiter ausführt, geeignet wären, „die Zukunft unserer Jugend und unseres Volkes ernstlich zu schädigen“ 304 , konnten im Krieg weit reichende Reglementierungen jugendlichen Lebens durchgesetzt werden. Aus dieser „Sorge“ um die Jugend leiteten sich die Maßnahmen des Stellvertretenden Generalkommandos und anderer Behörden gegenüber Jugendlichen ab. 305 Förderung im Sinne der Heerestauglichkeit und Prävention vor „Verwahrlosung“, die die Ressource „Jugendliche“ für den Kriegseinsatz untauglich zu machen drohte, griffen ineinander. Dies entsprach der Logik der militärischen Denkweise. Die Stellvertretenden Generalkommandos waren auf Grundlage des Paragraphen 9b des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand, mit dem die vollziehende Gewalt auf sie überging, dazu berechtigt, im Interesse der öffentlichen Sicherheit Verbote zu erlassen. 306 Der Rückgriff auf ein über 60 Jahre altes preußisches Gesetz lag an Versäumnissen der Legislative im Kaiserreich. Eigentlich hätte ein nach Gründung des Kaiserreiches zu erlassendes reichsweit geltendes Gesetz die Bedingungen des Kriegszustandes, welchen der Deutsche Kaiser qua Reichsverfassung bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Bundesgebiet auszurufen berechtigt war, regeln sollen. Da dieses Gesetz bis zum Ende der Monarchie im Deutschen Reich nicht verabschiedet wurde, galten die preußischen Bestimmungen. 307 Paragraph 9b bestimmte nun, dass, wer im Falle des Belagerungszustandes „ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militairbefehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot übertritt, oder zu solcher Uebertretung auffordert oder anreizt, […] soll, wenn die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängniß bis zu einem Jahre bestraft werden.“ 308 Verschiedene Verbote sanktionierten jugendliche Handlungsweisen, die bereits vor dem Krieg den Argwohn bürgerlicher Betrachter auf sich gezogen hatten. Das Stellvertretende Generalkommando erließ im Februar 1916 ein 304 Ebd. 305 Vgl. Kebbedies, Außer Kontrolle, S. 64 ff. 306 Vgl. § 9b des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 5.6.1851, in: Briesen, Reichskriegswesen und Preußische Militair-Gesetzgebung, S. 291-295. 307 Vgl. Deist, Einleitung, S. XXXI. 308 § 9b des Gesetzes über den Belagerungs-Zustand vom 4./ 6.1851. <?page no="83"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 84 Wirtshausverbot für Jugendliche. 309 Ein Jahr später schrieb der stellvertretende kommandierende General von Schäfer an das Innenministerium, dass sich ein nicht näher benanntes Oberamt beklagte habe, mit dem Verbot könnten „bei den sich mehrenden Zechgelagen der halbwüchsigen Burschen stets nur diese jugendlichen Personen selbst und nicht auch die Wirte zur Strafe gezogen werden.“ 310 Von Schäfer propagierte daher beim Innenminister, die Sanktionierung gemäß Paragraph 9b des Belagerungszustandsgesetzes auch auf die Wirte auszudehnen. 311 Bei dem Oberamt handelte es sich vermutlich um Geislingen. Im Mai 1916 wurde hier eine Versammlung zum Thema Jugendpflege abgehalten. Die über 80 Teilnehmer begrüßten den Erlass des Generalkommandos. Gleichzeitig baten sie aber um „geeignete Massnahmen“ gegen Wirte und Eltern mit der Angewohnheit, ihre Kinder „bis tief in die Nacht hinein in Wirtshäusern, Schankstuben u. an öffentlichen Vergnügungsorten“ mitzunehmen. Als vorbildlich galt dabei eine Verordnung des bayerischen Generalkommandos, die es Wirten untersagte, Jugendliche unter 17 Jahren nach 21 Uhr in ihre Schankräume zu lassen - gleich ob mit oder ohne elterliche Begleitung. 312 1917 erging schließlich die entsprechend erweiterte Verordnung des Generalkommandos. 313 Auch das Rauchen Jugendlicher konnte im Krieg unter Sanktion gestellt werden. Zunächst verbot es das Stellvertretende Generalkommando im Juni 1917. 314 Im Dezember 1917 griff das württembergische Innenministerium diese Initiative auf und verbot Jugendlichen unter 17 Jahren das Rauchen in der Öffentlichkeit. 315 Diese Verbote kamen angesichts der Tatsache, dass schon zwei Jahre zuvor Innenminister Fleischauer ein Rauchverbot befürwortete, relativ spät. Er schrieb an seinen Kollegen im Kriegsministerium: 309 Vgl. Verordnung des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 8.2.1916, in: Staatsanzeiger für Württemberg Nr. 34/ 11.2.1916. Zusammengestellt sind diese und weitere Erlasse in Stv. Generalkommando, Handbuch. 310 Schreiben des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 2.3.1917, Betreff: Jugendfürsorge (Abschrift für die Kgl. Regierung des Donaukreises), StAL, E 179 II, Bü 3758. 311 Vgl. ebd. 312 Vgl. Schreiben des Kgl. Oberamtes Geislingen an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 5.5.1916, Betreff: Jugendpflege (vom Innenministerium an das Stv. Generalkommando weitergegeben), HStAS M, 77/ 1, Bü 1065. 313 Vgl. Verfügung des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 3.6.1917, in: Staatsanzeiger für Württemberg Nr. 131/ 8.7.1917 314 Vgl. ebd. 315 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Innenministeriums vom 5.12.1917 betreffend das Tabakrauchen der Jugendlichen, in: RegBl Wü 1917, S. 183. Die Verfügung des Stv. Generalkommandos war damit obsolet geworden und wurde aufgehoben, vgl. Anordnung des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 5.12.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 1111. <?page no="84"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 85 „Die jungen Leute haben zur Zeit einen sehr guten Verdienst. Statt mit diesem die Eltern oder sonstige Angehörige zu unterstützen, deren ordentlicher Ernährer vielfach im Felde steht, verpuffen sie einen erheblichen Teil des Geldes in Form von Cigarettenrauch. Da der Tabak für die Cigaretten aus dem Ausland stammt, fließt das Geld auch dorthin.“ 316 Hier mischten sich Ressentiments gegenüber dem scheinbaren Eskapismus und mutmaßlich mangelnden Verantwortungsgefühl mancher Jugendlicher mit „nationalen Interessen“. Auch wenn das Stellvertretende Generalkommando eine Schrittmacherfunktion bei der Reglementierung jugendlichen Verhaltens einnahm, fußten die Annahmen über eine zunehmende „Zuchtlosigkeit der Jugend“ auf breitem Konsens. Konsequenterweise galt es daher, nicht nur die Symptome, sondern die Wurzel des vermeintlichen Übels zu bekämpfen: den angeblich zu hohen Verdienst der Jugendlichen. Daher plante das Stellvertretende Generalkommando die Einführung eines Sparzwangs für jugendliche Arbeiter nach Vorbild eines entsprechenden Erlasses des Oberkommandos in den Marken. Außer in dessen Zuständigkeitsbereich hatte bis dato kein Korpsbezirk den Sparzwang eingeführt. 317 Ziel war es, der angeblichen „Verschwendungssucht“ jugendlicher Arbeiter - das passende Bild boten rauchende Jugendliche - effektiv begegnen zu können und so die Wehrkraft des Volkes zu erhalten. Dies wurde als Argument für die Zuständigkeit für einen solchen Erlass angeführt, welche das Innenministerium laut Generalkommando ohne genaue Angabe von Gründen bezweifelt habe. 318 Eine Umfrage der Zentralstelle für Gewerbe und Handel bei den Behörden des Landes, verschiedenen Verbänden und Vertretern der Arbeitgeber hatte ein ausgewogenes Bild ergeben - weder eindeutig für noch eindeutig gegen den Sparzwang. Die Zentralstelle selbst sprach sich gegen einen Sparzwang aus, da viele Familien auf den Mitverdienst angewiesen seien und auch nachhaltig damit wirtschafteten. Man plädierte für einen „Entwurf B“, nach dem nur „verschwenderische“ Jugendliche von Sparzwängen erfasst werden sollten. 319 Das Innenministerium sprach sich komplett gegen den Sparzwang 316 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Innenministerium an das Kgl. Wü. Kriegsministerium (Abschrift für das Stv. Generalkommando) vom 31.12.1915, HStAS, M 77/ 1, Bü 1111. 317 Vgl. Stv. Generalkommando des XIII. Armeekorps, Schriftlicher Vortrag für seine Exzellenz vom 8.2.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. 318 Vgl. ebd. 319 Vgl. Schreiben der Kgl. Wü. Zentralstelle für Gewerbe und Handel an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 2.5.1916, Betreff: Lohnzahlung an Minderjährige (Abschrift für das Stv. Generalkommando), HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. Siehe auch Stv. Generalkommando des <?page no="85"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 86 aus - auch, weil damit die dem Generalkommando durch Paragraph 9b des Belagerungszustandsgesetzes gegebenen Kompetenzen überschritten würden. 320 Die Ablehnung dieser Maßnahmen konnte jedoch problemlos mit dem Festhalten am Bild der „verschwenderischen Jugend“ einhergehen. Abgelehnt wurde der Sparzwang vielfach eher aus pragmatischen Gründen, etwa wegen des zu erwartenden bürokratischen Aufwandes für die Betriebe. 321 Letztendlich kam der Sparzwang im Zuständigkeitsbereich des Stellvertretenden Generalkommandos des XIII. Armeekorps nicht. Wie wenig den Verantwortlichen im Stellvertretenden Generalkommando die Lage der Jugendlichen bewusst war, zeigt die Argumentation, mit der man die Vorbehalte der Freien Gewerkschaften gegen die Einführung des Sparzwangs zu entkräften suchte. Die Freien Gewerkschaften hatten auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Jugendlichen und ihrer Familien hingewiesen, die die hohen Löhne zum Ausgleich der Teuerung benötigten. Dagegen war man im Stellvertretenden Generalkommando der Ansicht, dass durch die Gewerkschaften „etwas wirklich Stichhaltiges gegen den Sparzwang an sich sachlich nicht eingewendet werden kann und dass die Führer der Gewerkschaften mehr aus einer doktrinären allgemeinen Stellungnahme heraus sich dagegen aussprechen zu müssen glauben.“ 322 Auf der anderen Seite fehlten sachliche Gründe und Ausführungen seitens des Stellvertretenden Generalkommandos, die für den Sparzwang sprachen und über die bloße Konstatierung von Verschwendungssucht unter jugendlichen Arbeitern hinausgingen. Das schon vor dem Krieg existente Bild des verschwendungssüchtigen jugendlichen Arbeiters, der seinen Lohn in Kinos und Vergnügungslokalen sowie für Zigaretten und Alkohol ausgab, wurde nicht revidiert - trotz der sich auch für gut verdienende Arbeiter in kriegswichtigen Betrieben immer mehr verschlechternden Versorgungslage. Dabei XIII. Armeekorps, Schriftlicher Vortrag für seine Exzellenz vom 8.2.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. 320 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Innenministeriums an das Stv. Generalkommando des XIII. Armeekorps vom 12.5.1916, HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. 321 Vgl. Schreiben der Handelskammer Ulm an die Kgl. Zentralstelle für Gewerbe und Handel (Stuttgart) vom 18.3.1916; sowie Schreiben der WMF Geislingen an die Kgl. Zentralstelle für Gewerbe und Handel (Stuttgart) vom 3.3.1916; beide HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. 322 Stv. Generalkommando, Schriftlicher Vortrag, HStAS, M 77/ 1, Bü 1065. <?page no="86"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 87 konnte der Anstieg der Nominallöhne nur kurz über das Absinken des Lebensstandards hinwegtäuschen. 323 Dies verwundert besonders, da das Stellvertretende Generalkommando ansonsten durch die Aufklärungsarbeit innerhalb der Bevölkerung und durch Stimmungsberichte von Geistlichen oder Lehrern sehr gut über Sorgen und Nöte der Bevölkerung informiert war. 324 Hier zeigt sich ebenfalls, dass es eine Vielzahl von Kriegsrealitäten gab, unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung erlebten unterschiedliche Lebenssituationen zwischen 1914 und 1918. Das begünstigte eine selektive Wahrnehmung der Umwelt. Die stellvertretenden kommandierenden Generäle an der Heimatfront - nicht nur in Württemberg - trieb eine Reglementierungswut und sie nutzten die ihnen gemäß den Bestimmungen über den Belagerungszustand gegebenen legislativen Kompetenzen. 325 Kritik duldeten sie dabei nicht, wie folgende Episode aus Württemberg illustriert. Der jugendfürsogerisch engagierte Jurist Albert Hellwig, Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher zum Thema „Jugendverwahrlosung“ und eindeutig kein Vertreter eines Laissez-faire-Stils gegenüber Jugendlichen, zog den Zorn von Schäfers auf sich. 326 Hellwig hatte in einem Artikel die Verfügungen des Stellvertretenden Generalkommandos auf ihren Nutzen hin kritisch hinterfragt. Dabei kritisierte er einzelne Verfahrensfragen, stellte jedoch nicht grundsätzlich den Regelungsbedarf auf dem Gebiet der Jugendfürsorge infrage. 327 Trotzdem wies von Schäfer daraufhin den Vorgesetzten des an der Front dienenden Hellwig auf dessen „Fehlverhalten“ hin: „Die Zeit ist nicht dazu angetan, Massnahmen der Behörden, die der Erhaltung und Förderung der Zucht unter der Jugend und der Tüchtigkeit der Jugend dienen sollen, durch juristische Klüngelein zu stören. [...] Es wird daher ersucht, gegen den Leutnant d. L. Hellwig das Erforderliche zu verfügen und dafür zu sorgen, dass solche Veröffentlichungen von seiner Seite künftig unterbleiben. Sollte dies durch dortige entsprechende Veranlassung nicht bewirkt werden können, so wird das stellv. Generalkommando sich an die oberste Heeresleitung wenden.“ 328 323 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 81. 324 Vgl. Höffler, Kriegserfahrungen. 325 Vgl. Chickering, Deutsches Reich, S. 152 f. 326 Vgl. u. a. Hellwig, Krieg und Kriminalität. 327 Vgl. Hellwig, Behördliche Maßnahmen. 328 Schreiben des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps an den Kommandeur der Munitionskolonnen. u. Trains Nr. 30 vom 17.9.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 1111. <?page no="87"?> II. Tatort: Der Landgerichtsbezirk Ulm 88 Im Gegensatz zu dieser harschen Reaktion von der Heimatfront bemühte sich Hellwigs militärischer Vorgesetzter um eine Glättung der Wogen. Gleichwohl untersagte er Hellwig weitere kritische Aufsätze dieser Art. 329 Dieses Vorkommnis verdeutlicht, unter welch schlechtem Vorzeichen während des Krieges nüchterne Betrachtungen jugendlichen Verhaltens standen. Es wird zu zeigen sein, ob auch die Richter ähnlich alarmistische Sichtweisen kultivierten oder ob sie vielmehr - nach den Worten von Schäfers - „juristische Klüngelei“ betrieben. 329 Vgl. Schreiben des Kommandeurs der Munitionskolonnen. u. Trains Nr. 30 an das Stv. Generalkommando des XIII. Armeekorps vom 1.11.1917, HStAS, M 77/ 1, Bü 1111. <?page no="88"?> Zweiter Teil: Jugendkriminalität vor der Strafkammer des Landgerichtes Ulm <?page no="90"?> III. Zum Umgang mit den Quellen Um Jugenddelinquenz für den Ersten Weltkrieg beispielhaft analysieren zu können, wurde bei dieser Untersuchung in erster Linie auf Materialien zurückgegriffen, die ein Landgericht produziert hat. Hauptquellen sind demnach weder journalistische Erzeugnisse oder Egodokumente aus der „deutschen Unterwelt“ 330 , sondern Dokumente, die eine bürokratische Institution der Rechtspflege hervorbrachte. Beim Umgang mit Materialien, die aus Strafprozessen hervorgingen, ist es erforderlich, verschiedene Punkte im Blick zu haben, auf die hier eingegangen werden soll. 331 Eine Grundlage der folgenden Abhandlungen bilden Strafprozesslisten des Landgerichtes Ulm aus der Zeit von 1904 bis 1918. Die Strafprozesslisten sind Hefte im Folioformat mit Tabellenvordrucken, die schließlich pro Jahr zu einem Band gebunden wurden. Seit 1914 wurden die verwendeten Hefte nicht mehr gebunden, hier zeigt sich der sparsamere Umgang mit Ressourcen während des Krieges. Zusätzlich finden sich Namensregister, in denen alle Angeklagten unter Angabe der Listennummern der gegen sie anhängigen Verfahren eingetragen wurden. Diese Register band man - solange die Listen gebunden wurden - mit den Listen zusammen. Die Strafprozesslisten waren für den internen Gebrauch des Landgerichtes bestimmt. Sie dienten der „inneren Buchführung“, um strafprozessuale Vorgänge im Überblick behalten und wichtige Hinweise aufnehmen zu können, etwa ob ein zuerkannter Verweis erteilt worden oder ein Verurteilter flüchtig war. In die Strafprozesslisten wurde jedes Verfahren eingetragen, dessen strafprozessuale Erledigung in den Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Ulm fiel. Die Angeklagten wurden mit Namen, gegebenenfalls zusätzlich mit Geburtsnamen, teilweise auch Familienstand, Alter, Wohn- oder Aufenthaltsort und Beruf respektive sozialem Status verzeichnet. Der genannte Ort war nicht zwingend der Ort, an dem das Delikt begangen wurde, so dass anhand dieser Angaben keine genaue lokale Verortung der Kriminalität im 330 Evans, Szenen. 331 Für Fragestellungen außerhalb der Historischen Kriminalitätsforschung, die unter Rückgriff auf Strafprozessakten beantwortet werden sollen, ist selbstverständlich ebenfalls die Berücksichtigung der quellenspezifischen Besonderheiten nötig. Für die Nutzung von Akten aus NS-Prozessen nach 1945 liegt dafür jetzt eine Grundlage vor: Finger/ Keller/ Wirsching, Recht zur Geschichte. <?page no="91"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 92 Landgerichtsbezirk erfolgen kann. Daher finden sich bei italienischen Gastarbeitern unter der Rubrik „Wohn/ Aufenthaltsort“ italienische Ortschaften. 332 Zu den Berufsangaben zählen auch Bezeichnungen wie „Bäckersehefrau“, „Malerstochter“ oder „Schultheißensohn“, in denen auf den beruflichen Status des männlichen Familienvorstandes verwiesen wird. Diese Delinquentinnen und Delinquenten erscheinen hier ohne eigenständige berufliche Zuschreibung und nur als abhängiger Teil eines Familienverbandes. Ob sie also darüber hinaus die Volksschule besuchten, einer ungelernten Tätigkeit nachgingen oder in einem Lehrverhältnis standen, kann im Gegensatz zu anderen Verfahren in solchen Fällen nicht ermittelt werden. Zu diesen biographischen Kurzangaben treten die strafprozessual relevanten Angaben wie beispielsweise die einzelnen strafrechtlichen Bestimmungen, deren Verletzung die Delinquenten beschuldigt wurden. Die Gerichtsschreiberei listete nur die Paragraphen auf, ohne inhaltlich genauer zu differenzieren. Anhand dieser Angaben kann rekonstruiert werden, welche Delikte wie häufig Gegenstand einer Anklage vor dem Landgericht waren. Es lässt sich etwa ermitteln, wie oft Diebstähle Gegenstand eines Verfahrens waren, allerdings nicht, was wo und wie gestohlen worden war. Diese Angaben finden sich für fast jeden Delinquenten, nur bei ganz wenigen wurde der Eintrag übergangen und die Rubrik nicht ausgefüllt. Hier zeigt sich bereits die Grenze der Strafprozesslisten hinsichtlich ihrer Aussagekraft. Die Einträge sind selbstverständlich nicht frei von Ungenauigkeiten. Die Gerichtsschreiber ließen Einträge weg, schrieben Namen von mehrmals angeklagten Personen unterschiedlich und produzierten ähnliche Flüchtigkeitsmängel - in einem üblichen Rahmen begingen sie Fehler beim Ausfüllen der Listen. So fehlt bei der Auflistung der zu berücksichtigenden gesetzlichen Bestimmungen für wenige der Delinquenten zwischen zwölf und 17 Jahren der Hinweis auf den Paragraphen 57 des Reichsstrafgesetzbuches. Es mussten aber alle Angehörigen dieser Altersgruppe verbindlich unter Berücksichtigung der „57er-Bestimmungen“ abgeurteilt werden. Das Fehlen dieses Paragraphen in der Auflistung aller relevanten Strafrechtsparagraphen ist auf Versäumnisse der Protokollanten und nicht auf eine andere Behandlung durch das Gericht zurückzuführen. Die gleichen Charakteristika gelten für die ergänzend herangezogenen Strafprozesslisten des Amtsgerichtes Kirchheim unter Teck, die einzigen überlieferten Listen für eines der zum Landgerichtssprengel Ulm gehörenden Amtsgerichte. 332 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1910, Eintrag Nr. 166, StAL E 349, Bd. 110. <?page no="92"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 93 Anhand der Strafprozesslisten lässt sich darstellen, wie viele Verfahren gegen Jugendliche vor dem Landgericht Ulm stattgefunden haben und welche als verletzt angenommenen Straftatbestände diesen zugrunde lagen. Dies erlaubt einen Blick auf die quantitativen Trends der Kriminalitätsentwicklung im entsprechenden Zeitraum, wenn die Trends auch nicht mit der „tatsächlichen“ Entwicklung gleichzusetzen sind. Das liegt zum einen an den üblichen Einschränkungen statistischer Aussagekraft wie beispielsweise dem in jedem Fall vorhandenen Dunkelfeld. Zum anderen spielt in diesem speziellen Fall eine wichtige Rolle, dass nur die Strafprozesslisten des Landgerichtes mit Ausnahme des Amtsgerichtes Kirchheim überliefert sind. Gleichwohl bilden die Daten eine gute Basis für eine genauere Beschäftigung mit strafrechtlich abweichendem Verhalten Jugendlicher im Ersten Weltkrieg, um die Einzelfälle in einen größeren Kontext einordnen zu können. Für ein aussagekräftigeres Bild der Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität sowie damit eng zusammenhängend deren Deutung und Beurteilung durch die Justiz während des Ersten Weltkrieges werden hauptsächlich die überlieferten Urteile der Ulmer Strafkammer von 1914 bis 1918 als Grundlage herangezogen. Bei einem schriftlich ausformulierten Urteil handelt es sich um ein amtliches, offizielles Schriftstück, das von staatlichen Instanzen verfasst worden war (und ist). Ein Urteil bestand und besteht aus drei wesentlichen Teilen: Den Anfang bildet das Rubrum mit der Verkündungsformel (in diesem Fall „Im Namen des Königs“), den Angaben zu den Angeklagten und dem juristischen Personal. Daran schließt die Urteilsformel, der so genannte Tenor, gemäß Paragraph 267 der Strafprozessordnung an. Den Abschluss, allerdings auch den umfassendsten Teil des Urteils, bilden die Urteilsgründe (Paragraph 266 der Strafprozessordnung). Der Kausalzusammenhang der beiden Teile ist umgedreht: Erst erscheint das Resultat, die Urteilsformel, und im Anschluss daran wird nachträglich begründet, wie es zu diesem Urteil kam. Hier liegt also „eine Diskrepanz, zwischen dem gedanklichen Weg, der zum Urteil führte, und der nachträglich gefundenen Begründung, mit der das Gericht an die Öffentlichkeit tritt“ vor. 333 Das Urteil wurde in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handschriftlich von einem der fünf involvierten Richter verfasst, wobei Vordrucke mit der Verkündungsformel „Im Namen des Königs“ sowie Rubriken zu Angaben über die Angeklagten, die erkennende Strafkammer, das Datum der Verhandlung und die beteiligten Richter, den Staatsanwalt und den Gerichtsschreiber zur Verfügung standen. Es handelte sich um ein Formular für die Urteilsausfertigung erster Instanz gemäß Paragraph 275 der Strafprozessordnung für 333 Vgl. Cordes, Pandectenhengst, S. 2 f. <?page no="93"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 94 Landgerichte. 334 In wenigen Fällen handelt es sich um maschinenschriftliche Urteile, diese wiederum sind in einigen Fällen Abschriften des ursprünglichen Urteils. 335 Im Rubrum listete man die Angeklagten mit Name, Geburtsdatum, Beruf oder sozialem Status, Angaben zu den Eltern und dem Geburts- oder Wohnort auf. Nach den Angaben zu den erkennenden Richtern folgten die Urteilsformel und die Gründe. Zur Begründung der Sanktionierung führte das Urteil unter Umständen die familiäre Situation der Angeklagten aus. In jedem Fall wurde kurz der Tathergang geschildert. In die Urteilsbegründung flossen nicht zwangsweise alle Erkenntnisse ein, die im Ermittlungsverfahren gewonnen worden waren. So finden sich zwar in den meisten der hier analysierten Urteilsbegründungen Angaben zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, die in der Hauptverhandlung seitens der Richter gemäß Paragraph 242 der Strafprozessordnung erfragt worden waren, jedoch nicht immer. Wie tiefgehend die Ermittlung der persönlichen Verhältnisse seitens der Richter gehen sollte, stand zunächst im Ermessen des Gerichtes. Enthalten mussten die Urteilsgründe „die für erwiesen erachteten Tatsachen […], in welchen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden.“ Nur wenn die Beweise aus anderen Tatsachen gefolgert wurden, mussten auch diese angegeben werden. 336 Schließlich wurden strafmildernde und straferhöhende Faktoren abgewogen und so das Strafmaß begründet. 337 Im Anschluss an die Unterschriften gab das Gericht an, ob es bei den Verurteilten beschlossen hatte, die bedingte Begnadigung zu befürworten oder nicht. Die schriftliche Fassung des Urteils ist demnach kein authentisches Protokoll der Gerichtsverhandlung, sondern die daraus gewonnene Essenz, dargestellt nach den erläuterten formalen Kriterien des Strafprozessrechtes. Ein schriftlich ausformuliertes Urteil war nicht zwingend vorgeschrieben, wenn der Urteilsspruch und die Entscheidungsgründe schon in die Protokolle der Hauptverhandlung aufgenommen worden waren. 338 Doch auch aus diesen zusätzlich zu den Urteilen angefertigten Protokollen der Hauptverhandlung tritt der Ablauf der Verhandlung nicht plastisch hervor. 339 Sie sind ebenfalls stark formalisiert und standardisiert, nur bestimmte Aspekte der Hauptver- 334 Vgl. § 275 StPO und die aufgedruckten Hinweise auf der ersten Seite links unten des Urteilsformulars. 335 Siehe zu den Abschriften die jeweils konkreten Hinweise in den entsprechenden Fällen. 336 Vgl. § 266 StPO. 337 Vgl. ebd. 338 Vgl. § 275 StPO. 339 Diese Protokolle sind nur sehr vereinzelt in den entsprechenden Strafakten überliefert. <?page no="94"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 95 handlung wurden als relevant bewertet und überliefert - im Gegensatz etwa zu Protokollen von Reichstagsdebatten, in denen auch Zwischenrufen, Klatschen oder Tumulte angeführt wurden. In den Protokollen musste unter anderem vermerkt werden, ob die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen worden war. 340 Das war bei Verfahren gegen Jugendliche nicht vorgeschrieben, der Regelfall bildete auch hier die öffentliche Verhandlung. Wörtliche Äußerungen der Angeklagten oder Zeugen in deren originärer, möglicherweise durch Dialekt geprägten Wortwahl, Einwände seitens der Richter, des Staatsanwaltes oder der Strafverteidiger, mögliche Tumulte oder schlichtere Emotionen, die während der Verhandlung auftraten, finden sich im Protokoll nicht. Eine Vorstellung vom tatsächlichen Ablauf der Gerichtsverhandlung kann hieraus nicht extrahiert werden. Vielmehr präsentiert sich hier die Form eines Protokolls, dessen Zweck es war, den formal korrekten Ablauf einer Verhandlung zu dokumentieren und so die Rechtmäßigkeit der Urteilsfindung zu belegen. 341 Das Urteil bildete das vorläufige Endprodukt des Strafprozesses. In ihm kumulierten die Ergebnisse der kriminalpolizeilichen und strafprozessualen Untersuchungen in einer normativen Beurteilung. Während in der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Untersuchung vor dem gerichtlichen Prozess die „Wahrheit“ des Falles von Ermittlungsbeamten, vernommenen Zeugen und Verdächtigen sowie Staatsanwälten produziert wurde 342 , so gossen die Strafrichter dieses Produkt unter Hinzufügen ihrer eigenen Bewertung in seine endgültige, juristisch geglättete Form. Im Gegensatz zu den Ermittlungsbehörden nahmen die Richter nicht nur Aussagen der Angeklagten und Zeugen auf, sie bewerteten auch die Glaubwürdigkeit dieser Akteure. Sie sollten also ihre persönlichen Maßstäbe, nach denen eine Person entweder als integer oder aber als unglaubwürdig zu gelten habe, anwenden. Mitsamt der ihnen in der Verhandlung präsentierten „Fakten“ wogen sie das Gehörte ab und kamen auf dieser Basis zu einer Beurteilung. Bei der Darstellung des Tathergangs in den Urteilen ist zu bedenken, dass sie nach einer bestimmten narrativen Schablone erfolgte, und zwar so, dass die in den jeweiligen materiellrechtlichen Strafbestimmungen angeführten Straftatbestandsmerkmale sichtbar wurden, wie durch Paragraph 266 der Strafprozessordung gefordert. Denn mit der Durchsetzung des Grundsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege 343 im 19. Jahrhundert konnte nur noch als Grundlage einer Verurteilung herangezogen werden, was strafrechtlich 340 Vgl. § 272 StPO. 341 Vgl. dazu auch Finger, Zeithistorische Quellenkunde, S. 102. 342 Vgl. Habermas, Eigentum vor Gericht, S. 40 ff. 343 Kein Verbrechen und keine Strafe ohne Gesetz. <?page no="95"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 96 fixiert war. Auf diese Weise kamen darüber hinausreichende Aspekte der strafbaren Handlung vor Gericht nicht zur Sprache. 344 Ging es beispielsweise um den Sachverhalt eines schweren Diebstahls, rekonstruierte man, ob und wenn ja welche Türen oder Aufbewahrungsvorrichtungen der Jugendliche aufgebrochen hatte und wie er dies bewerkstelligte. Andere, aus diesem Blickwinkel irrelevante Aspekte der jugendlichen Handlung fanden unter diesen Umständen keinen Niederschlag im Urteil. Neben dieser rechtsdogmatischen hatte die getroffene Auswahl auch eine arbeitsökonomische Dimension. Die Juristen mussten auswählen, um eine sinnvolle Arbeitsgrundlage zu erhalten, denn „[d]ie Beschreibung eines Diebstahls in allen tatsächlichen Einzelheiten wäre ein Lebenswerk.“ 345 Von Rechts wegen lag es nahe, eine Handlung, bei der etwas aufgebrochen und weggenommen wurde, als Diebstahl zu definieren. Sie kann für die jugendlichen Akteure selbst eine ganz andere Bedeutung gehabt haben. Das Einsteigen in ein Gebäude konnte etwa eine Mutprobe gewesen sein, bei der das Mitnehmen fremder Gegenstände gar nicht die originäre und im Vordergrund stehende Absicht war. 346 Durch das Interpretationsangebot des Strafrechts ließ sich diese Handlung als Diebstahl kategorisieren. Man kann - in Anlehnung an eine Untersuchung der Wiener Historikerin Andrea Griesebner - von „konkurrierenden Wahrheiten“ 347 der verschiedenen Akteure eines Ermittlungs- und Strafprozesses sprechen. Die Wahrheit der angeklagten Jugendlichen blitzt teilweise in der richterlichen Deutung der Geschehnisse auf, letztendlich treten durch die Urteile aber die Wahrheiten der Justiz in den Fokus der Betrachter. Die strafprozessual produzierte Wahrheit war und ist eine „amtsmäßige, materiellrechtlich verwertbare Wahrheit“ 348 und in den hier vorliegenden Quellen die dominante Wahrheit. Das Strafrecht prägte daher eine bestimmte Sichtweise auf jugendliche Handlungen und strukturierte ihre Deutung vor. Wenn Beschuldigte, Angeklagte und Zeugen ernsthaft bemüht waren, ihrer Version der verhandelten Geschehnisse vor Gericht Glaubwürdigkeit zu verleihen, empfahl es sich, das zu präsentieren, was für die Justiz auch prin- 344 Vgl. Naucke, Stilisierung, S. 62; und Foucault, Wahrheit, S. 79. Siehe auch Kienitz, Sexualität, S. 66; sowie Kreissl, Soziale versus juristische Realität, S. 130. 345 Naucke, Stilisierung, S. 59, vgl. auch S. 60f. 346 Rebecca Habermas spricht treffen davon, dass durch das Strafverfahren bei Diebstählen alle anderen Bedeutungen als die materiellen „zum Verschwinden“ gebracht werden, vgl. dies., Diebe, S. 150. 347 Vgl. Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten, zur Produktion von Wahrheit siehe zusammengefasst S. 144 und 298. 348 Naucke, Stilisierung, S. 65; siehe dazu auch Gleixner, Das Mensch, S. 19. <?page no="96"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 97 zipiell akzeptabel war. Es musste aus zeitgenössischer Sicht Plausibilität für sich beanspruchen können. 349 Aussagen vor Gericht wurden „von den eigenen Alltagserfahrungen vorstrukturiert und von den jeweiligen, auch über die Gerichtssituation hinaus gültigen Handlungskonzepten und Argumentationsstrukturen beeinflußt“ 350 . Um ein zugespitztes Beispiel zu formulieren: Der Sohn eines Rüstungsfabrikanten hätte während des Krieges vor Gericht einen Brotdiebstahl nicht glaubhaft als Notdiebstahl deklarieren können - die Richter hätten ihm das aufgrund ihres Alltagswissens nicht geglaubt. 351 Auf der anderen Seite besaßen die Richter die Deutungshoheit. Wenn sie, obwohl Angeklagte sich mit Notsituationen entschuldigen wollten, eine solche nicht gegeben sahen oder sehen wollten, erfolgte die Verurteilung nicht unter Berücksichtigung einer Notlage. Demnach existierte unter Umständen vor Gericht dort keine Not, wo aus Sicht der Betroffenen diese eindeutig vorlag. Dadurch entschieden die Richter, ob die Alltagserfahrung Kriegsnot auch in der justiziellen Wirklichkeit ankam. Auch hier hat man es wieder mit „konkurrierenden Wahrheiten“ zu tun. Diese Merkmale der Strafakten als Quellen erscheinen jedoch nur dann als eine Einschränkung historischen Arbeitens, wenn man mit der Prämisse den Gerichtsakten gegenübertritt, eine hinter den Quellen stehende objektive „Wahrheit“ respektive objektive historische „Realität“ im Sinne positivistischer Historiographie herausarbeiten zu wollen. Wenn nicht mit dieser Absicht an die Akten herangetreten wird, dann bieten dieselben Merkmale eine große Chance. Denn durch das Strafrecht werden die Grenzen einer Gesellschaft definiert, in der - um bei dieser Metapher zu bleiben - Staatsanwälte und Richter die Grenzposten sind, die durch ihre Be- und schließlich, im Falle der Richter, Verurteilung von Grenzverletzungen die Grenzen aktiv mitgestalten. Sie haben, wie es die Theorie des Labeling approaches formuliert, Normen durchsetzende Macht. 352 Daher ist die sich in den Urteilen manifestierende Sichtweise auf Kriminalität gut geeignet, um zeittypische Deutungen von Kriminalität und Etikettierungsprozesse von „Kriminellen“ 349 Vgl. dazu Hoffmann, Ereignis, S. 89. 350 Kienitz, Sexualität, S. 67. 351 Joachim Eibach hat treffend festgestellt, dass vor Gericht „’sinnvoll’ gelogen“ werden muss, damit sich diese Angaben in den Referenzrahmen der Richter einfügen lassen, vgl. ders., Frankfurter Verhöre, S. 34. 352 Zusammenfassend dazu Lamnek, Kriminalitätstheorien, S. 89. <?page no="97"?> III. Zum Umgang mit den Quellen 98 aufzuspüren. Das macht den besonderen Reiz strafprozessualer Akten für die historische Forschung aus. Festgestellt werden kann anhand der beschriebenen Quellen, welche Handlungen Jugendlicher die Instanzen der Strafverfolgung als Vorfall wahrgenommen haben, wie sie diese bewerteten, in ihre zeitgebundene Sichtweise einbetteten und in Straftatbestandsmerkmale einfügten. Diese richterlichen Bewertungen waren eine vom Strafrechtssystem geforderte Notwendigkeit: Die Richter erledigten damit ihre Aufgabe. Und auch wenn in den Gerichtsakten die „Wahrheit“ der Justiz dominiert, so handelt es sich gleichwohl um Quellen, die Alltagshandlungen und strategien von Jugendlichen thematisieren. Man kann über die Zuschreibungsprozesse hinaus demnach einen Blick auf jugendliche Handlungsweisen werfen, wenn dabei die administrative Überformung berücksichtigt wird. Darauf soll in dieser Arbeit auch nicht verzichtet werden, weil darin ein besonderer Wert der Quellen besteht. Sie rücken Handlungen und Akteure in das Licht der Geschichtswissenschaft, die durch andere Überlieferungen nicht auf diese plastische Art und Weise sichtbar werden. Es gilt demnach für die folgenden Ausführungen: Die auf Grundlage der Urteile festgestellten Formen abweichenden jugendlichen Verhaltens entsprechen den zeittypischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und könnten so vorgefallen sein. Um den Text lesbar zu halten, wird dies als Grundlage vorausgesetzt und nicht mehr explizit erwähnt. <?page no="98"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung Bevor gegen jugendliche Delinquenten ein gerichtliches Verfahren eingeleitet werden konnte, das sie vor die Ulmer Strafkammer führte, mussten sie überhaupt erst als Straftäter und Rechtsbrecher identifiziert werden. Die Verfolgung von strafbaren Handlungen oblag im kaiserlichen Deutschland den Staatsanwaltschaften, denen gemäß Gerichtsverfassungsgesetz zur praktischen Ausführung Hilfsbeamte zur Seite gestellt waren. Diese hatten den Weisungen der Staatsanwälte bei den Landgerichten Folge zu leisten. Wer genau diese Funktion ausfüllen sollte, überließ das Reichsrecht den Landesregierungen zur weiteren Ausgestaltung. 353 1. Die Struktur der Strafverfolgungsbehörden in Württemberg Im Königreich Württemberg bestand wie im übrigen Reich eine Zweiteilung zwischen kommunalen und staatlichen Polizeibehörden. 354 Als „Hülfsbeamte der Staatsanwaltschaft“ bestimmte hier die einschlägige königliche Verordnung 1879 unter anderem das Landjägerkorps. 355 Von dieser staatlichen Polizeibehörde kam die entscheidende Unterstützung für die Staatsanwaltschaft bei der Verbrechensbekämpfung. 356 Das Korps setzte sich aus ehemaligen Unteroffizieren des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps zusammen, welche nach mindestens sechsjährigem Militärdienst nun mit der „Erhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Innern des Landes“ betraut waren. 357 Eine spezielle Ausbildung erhielten sie für ihre neue Tätigkeit nicht, lediglich einen mehrwöchigen Einführungskurs und im Falle einer Beförderung Weiterbildungskurse. 1908 verteilten sich die 601 Landjäger Württembergs auf 65 Haupt- und 348 Nebenposten über das Territorium des Königreiches. Hauptstellen waren mit je einem Stationskommandanten, ei- 353 Vgl. § 153 GVG. 354 Vgl. Groeben, Erfüllung, S. 450 f. 355 Vgl. § 1 der Kgl. Verordnung vom 27.9.1879 betreffend die Hülfsbeamte der Staatsanwaltschaft im Sinne des §. 153 des Reichs-Gerichtsverfassungsgesetzes, in: RegBl Wü, S. 404- 405. 356 Vgl. Weidlich, Staatsanwaltschaftliches Verfahren, S. 108. 357 Vgl. § 1 der Kgl. Verordnung vom 11.10.1898 betreffend die Organisation des Landjägerkorps und die Rechtsverhältnisse seiner Angehörigen, in: RegBl Wü 1898, S. 225-249. <?page no="99"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 100 nem Oberlandjäger und einem oder mehreren weiteren Landjägern besetzt. In den Nebenstellen leistete jeweils nur ein Landjäger Dienst. 358 Die Zuständigkeiten der kommunalen Polizeibehörden variierten je nach Gemeindegröße. Allgemein galten auf kommunaler Ebene Ortsvorsteher, Polizeikommissare und für die Sicherheitspolizei aufgestellte Gemeindediener als staatsanwaltschaftliche Hilfsbeamte. 359 In mittleren und großen Städten, also ab einer Zahl von 10.000 Einwohnern, durften für polizeiliche Tätigkeiten eigene Beamte zur Unterstützung des Ortsvorstehers abgestellt werden. 360 Sie übernahmen auch die Aufgaben der Ermittlungsarbeit. Eigene Stadtpolizeiämter, das heißt eine extra Behörde und nicht nur einzeln abgestellte Beamte, gab es bis 1907 nur in sieben württembergischen Städten: Stuttgart, Esslingen, Heilbronn, Ludwigsburg, Reutlingen, Tübingen und Ulm. 361 In Ulm versahen Ende des 19. Jahrhunderts bei 42.419 Einwohnern 362 54 Polizeibeamte, davon 39 Angehörige der allgemeinen Schutzmannschaft und fünf Kriminalbeamte, ihren Dienst. 363 Die Gemeinden hatten für ihr Personal selbstverständlich auch die Kosten zu tragen. 364 Zahlen aus Berlin verdeutlichen die regionale Spannbreite der Polizeidichte im Kaiserreich. Hier gehörten der Schutzmannschaft - welche in Berlin, allerdings nicht in ganz Preußen, staatlich war - um die Jahrhundertwende bei 1.888.848 Einwohnern 6.464 Beamte an. 365 In Ulm kam damit statistisch auf rund 786 Einwohner ein Polizist, in Berlin bereits auf rund 292. Die Ermittlungsarbeit war im Kaiserreich jedoch nicht Primäraufgabe der Schutzmänner, das deutet die Zweiteilung des Ulmer Polizeipersonals an. Vielmehr galten sie als „Mädchen für Alles“, wie Herbert Reinke prägnant zuspitzt. Sie übten in einem umfassenderen Sinne soziale Kontrolle aus, gaben aber auch Hilfestellung für die Bürger. 366 Es zeigt sich noch das alte 358 Vgl. Weidlich, Staatsanwaltschaftliches Verfahren, S. 112 f. 359 Vgl. § 1 der Kgl. Verordnung betreffend die Hülfsbeamte der Staatsanwaltschaft von 1879. Zu Landjägern und Ortspolizisten kamen bei Forst- und Finanzstrafsachen Forstbeamte und Steueraufseher u. ä. 360 Vgl. Art. 18 und 20 des Gesetzes vom 21.5.1891 betreffend die Verwaltung der Gemeinden, Stiftungen und Amtskörperschaften, in: RegBl Wü 1891, S. 103-136; und Art. 165 der Gemeindeordnung vom 28.7.1906, in RegBl Wü 1906, S. 323-441. 361 Vgl. Bekanntmachung des Kgl. Wü. Innenministeriums vom 5.7.1907 betreffend die selbständigen Polizeiämter, in: ABl Wü IM 1907, S. 286. 362 Angabe für 1895, vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Württembergische Jahrbücher 1912, S. 215. 363 Vgl. Waibel, Stadt und Verwaltung, S. 340. 364 Vgl. Dehlinger, Württembergs Staatswesen 1, S. 298 f. 365 Vgl. Funk, Entstehung der modernen Polizei, S. 58. Die Bevölkerungszahl für das Jahr 1900 siehe Statistisches Jahrbuch Deutsches Reich, S. 3. 366 Vgl. Reinke, Großstadtpolizei, S. 218 f. Das Zitat S. 218. <?page no="100"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 101 Verständnis von „Policey“ mit weit reichenden Regelungsansprüchen in moralischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht. 367 In Stuttgart stellte das Stadtpolizeiamt um 1908 gerade einmal 20 spezielle Fahnder für den Kriminaldienst ab - bei einer Einwohnerzahl von damals 250.000 Einwohnern. Eine spezielle Ausbildung hatten sie nicht, „man nimmt brauchbare Leute, wie man sie bekommt“. 368 Nur als Zwischenlösung erscheint in diesem Zusammenhang, dass neuen Polizisten zu Ausbildungszwecken der Besuch des 1908 in Stuttgart gegründeten Polizeimuseums ermöglicht wurde. 369 Mit der Aufdeckung von Straftaten waren demnach hauptsächlich Ex- Soldaten befasst, die oftmals völlig auf sich alleine gestellt einen Landjägerposten betrieben, sowie ebenfalls nicht genauer spezialisierte lokale Polizeibeamte. Polizeiliche Ermittlungsarbeit war nur ein Teilgebiet, welches neben den anderen großen Aufgabenfeldern en passant mit erledigt wurde. „Ordnung“ ging bis zum Ende des Ersten Weltkrieges vor „Sicherheit“. Eine gut ausgebildete und spezialisierte Kriminalpolizei fehlte zu dieser Zeit im Landgerichtsbezirk wie insgesamt in großen Teilen des Deutschen Reiches noch. Vorreiter struktureller, institutioneller und technischer Innovationen auf diesem Gebiet war - wie bei vielen anderen Entwicklungen - Berlin. 370 Demgegenüber schienen bis 1914 die „nebeneinander bestehenden württembergischen Polizeiorganisationen […] Gebäude ohne einheitliches Dach“ zu sein, so die Ansicht eines der Strafrechtsreformbewegung nahe stehenden Juristen. 371 Auch wenn man den kritischen und damit möglicherweise dramatisierenden Duktus des Autors mitberücksichtigt, so trifft seine Aussage im Vergleich zur preußischen Polizei sicher zu. 372 Beim Ausbau einer spezialisierten 367 Vgl. Raphael, Recht und Ordnung, S. 130. Siehe auch Lüdtke, Policey, S. 29 und 32. 368 Vgl. Weidlich, Staatsanwaltschaftliches Verfahren, S. 109. Unter Fahndern verstand man Gemeindeunterbeamte, welche als Polizeiunterbeamte kriminalpolizeiliche Aufgaben erledigten. 369 Vgl. Teufel, Südwestdeutsche Polizei, S. 91. An dieser Stelle sei auf ein Desiderat der Forschung hingewiesen. Während die Entwicklung der preußischen Polizei im Kaiserreich gut erforscht ist, fehlen entsprechende Studien für Württemberg und insgesamt den Süden des Deutschen Reiches. Das ist bedauerlich, da die Entwicklungen große Differenzen aufweisen und daher das Beispiel Preußens für andere Staaten nicht repräsentativ ist. Lediglich der Tuttlinger Kriminaldirektor a. D. Manfred Teufel hat viel zum Thema publiziert. Dabei handelt es sich - wie der obige Titel andeutet - um die Präsentation von Daten und Fakten. Eine Analyse unterbleibt. Siehe auch Teufel, Württembergisches Landjägerkorps; und ders., 75 Jahre Kriminalpolizei. 370 Vgl. Reinke, Großstadtpolizei, S. 234 ff. Siehe auch ders., Öffentliche Sicherheit, S. 22; sowie ders., Robert Heindl’s Berufsverbrecher, S. 51 f. 371 Vgl. Weidlich, Staatsanwaltschaftliches Verfahren, S. 113. 372 Zum Wachstum der preußischen Polizei siehe knapp Jessen, Polizei im Industrierevier, S. 49-52. <?page no="101"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 102 Kriminalpolizei war Württemberg Schlusslicht der Staaten des Kaiserreiches. Erst 1914 intensivierte die schwäbische Monarchie das Tempo. Für kriminalpolizeiliche Aufgaben errichtete man die Königlich Württembergische Landespolizeizentralstelle in Stuttgart. Damit konnte auch der Ausbau neuer erkennungsdienstlicher Maßnahmen wie der Daktyloskopie und des Bertillon’schen Verfahrens forciert werden. 373 Zudem richteten die Zuständigen der Landespolizeizentralstelle verschiedene Karteien ein, etwa eine Steckbrief- und Lichtbildersammlung, um die Identifizierung von Straftätern effektiver gestalten zu können. 374 Mit Ausbruch des Krieges im gleichen Jahr stockte der Ausbau dieser ermittlungstechnischen Innovationen. Nun rückten die Sicherung der Kriegswirtschaft sowie die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit - etwa durch Spionageabwehr - in den Vordergrund der Polizeiarbeit. 375 Einzige Neuerung während des Krieges war die Einführung der Bezeichnung Landespolizeiamt für die Landespolizeizentrale. 376 Eine flächendeckende Verbreitung der kriminalpolizeilichen Innovationen über die Region Stuttgart hinaus bis in entlegene Gebiete Württembergs darf daher zwischen Kriegsausbruch und der Konsolidierung nach Kriegsende bezweifelt werden. Demgegenüber steht etwa die Entwicklung in Preußen. Stefan Goch vertritt in seiner Untersuchung der preußischen Industriestadt Gelsenkirchen die These, die Professionalisierung der Polizei sei aus Sorge der Obrigkeit vor den zunehmenden Problemen und Konfliktlagen der sich mehr und mehr industrialisierenden Gesellschaft ihres Herrschaftsgebietes vorangetrieben worden. 377 Dies böte einen Erklärungsansatz, warum im Königreich Württemberg die Professionalisierung sowie der Ausbau der Polizei im Vergleich zu Preußen weniger weit fortgeschritten waren. Denn die Industrialisierung und die mit ihr verbundenen sozialen und politischen Konflikte wurden in Württemberg von verschiedenen Faktoren abgemildert. 378 373 Die Daktyloskopie ist das auf den Fingerabdruck gestützte erkennungsdienstliche Verfahren, vgl. Becker, Bestie, S. 125 f. Das Bertillon’sche Verfahren war ein System zur dokumentarischen Erfassung beschuldigter Personen, das auf vier Datenarten basierte: Messergebnisse spezieller Körperteile, Personen- und Gesichtsbeschreibung, Beschreibung spezieller Kennzeichen und normierte Fotos der beschuldigten Personen. Siehe dazu ausführlich Regener, Fotographische Erfassung, S. 131 ff. 374 Vgl. Teufel, Südwestdeutsche Polizei, S. 94. 375 Vgl. ders., Werden der deutschen Kriminalpolizei, S.85 f. 376 Vgl. Dehlinger, Württembergs Staatswesen 1, S. 299. 377 Vgl. Goch, Strukturen der Polizei, S. 74. Dazu auch Jessen, Preußische Polizei, S. 53; und seine umfassende Studie Polizei im Industrierevier. 378 Siehe Punkt II.1.b. <?page no="102"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 103 Da die Professionalisierungstendenzen in Städten häufig schneller voranschritten als auf dem Land, lag hier ein entscheidender Grund für die vermeintlich höhere Kriminalitätsbelastung urbaner Zentren. 379 Denn zwischen dem Professionalisierungs- und Spezialisierungsgrad der ermittelnden Polizeibehörden und der Verurteiltenziffern bestand ein Zusammenhang. Je weiter diese Tendenzen vorangeschritten waren, desto höher lag auch die Anzahl der Verurteilungen in der entsprechenden Region. 380 Ausgehend von dieser Prämisse musste man sich nicht wie ein Münchener Landgerichtsrat wundern, „daß seit Einführung der Jugendgerichte in Bayern (1909) die Zahl der jugendlichen Missetäter nicht absondern ständig zugenommen hat, obwohl in allen Städten und über das ganze Land hin trefflich arbeitende Jugendfürsorge- Organisationen tatkräftig am Werke der Jugendrettung arbeiten.“ 381 Diese Zunahme ist nur die logische Konsequenz. Je intensiver die „Bemühungen“ um die Jugend wurden, desto eher rückte auch abweichendes Verhalten dieser Gruppe in den Fokus der Betrachter. 382 2. Exkurs: Die Praxis bei polizeilichen Strafverfügungen gegen Jugendliche Die Tätigkeit der Polizeibehörden beschränkte sich nicht nur auf das Ermitteln von Straftaten. Bei Übertretungen besaßen sie vielmehr eigene Sanktionsmacht und konnten zur Ahndung Strafverfügungen erlassen. Gleiches stand Ortsvorstehern und Oberämtern zu. Den Oberamtmännern, also den Vorstehern eines Oberamtes, kam eine beschränkte Strafbefugnis zu, unter anderem bei Polizeiübertretungen. 383 Daher kamen nicht alle straffällig ge- 379 Vgl. Johnson, Urban and Rural Crime, S. 235. 380 Für Berlin und Hamburg der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen von Roth, Auswirkungen von Bevölkerungswachstum, S. 381 ff. 381 Rupprecht, Kriminalitätsschwankungen, S. 139. 382 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 98 f. 383 Vgl. Art. 5, 9, 10, 11, 14 des Gesetzes vom 12.8.1879 betreffend Aenderungen des Landespolizeistrafgesetzes vom 27.12.1879 und das Verfahren bei Erlassung polizeilicher Strafverfügungen, in: RegBl Wü 1879, S. 153-162; sowie §§ 1, 7, 10 der Verfügung der Kgl. Wü. Ministerien der auswärtigen Angelegenheiten und des Innern vom 27.9.1879 betreffend die Vollziehung des Gesetzes vom 12.8.1879 betreffend Aenderungen des Landespolizeistrafgesetzes vom 27.12.1871 und das Verfahren bei Einlassung polizeilicher Strafverfügung, in: <?page no="103"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 104 wordenen Jugendliche überhaupt vor Gericht, gleich ob nun bei schwereren Verfehlungen die Strafkammer des Landgerichtes oder in leichteren Fällen eine der Schöffengerichtskammern bei den Amtsgerichten des Gerichtsbezirks zuständig waren. Übertretungen wurden folglich vor dem Landgericht Ulm fast nur in Verbindung mit Vergehen oder Verbrechen angeklagt. 384 Vor dem Amtsgericht Kirchheim kam es nur selten zu einer Anklage ausschließlich aufgrund von Übertretungen. 385 Bagatelldelinquenz Jugendlicher wurde also in der Mehrzahl der Fälle nicht gerichtsnotorisch und darüber hinaus auch statistisch nicht greifbar, da die jährlichen Zusammenstellungen über die oberamtliche Strafrechtspflege nicht nach Altersgruppen differenziert aufgeschlüsselt wurde. 386 Die von den Polizeibehörden abzustrafenden Normverletzungen sollten gesetzliche Bestimmungen sein, die nicht kriminelle Handlungen im engeren Sinne, sondern lediglich als störend angesehene Verhaltensweisen definierten - also etwa Betteln oder das Abbrennen von Feuerwerk, was gleichwohl beides durch das Strafgesetzbuch pönalisiert wurde. 387 Auch hier zeigt sich noch ein weitergehendes Verständnis von „Policey“. Wie einheitlich das Vorgehen der Behörden im Umgang mit „unbotmäßigen“ Jugendlichen war und ob hier eine Notwendigkeit für regulierende Vorschriften bestand, ermittelte eine Umfrage des Innenministeriums bei den Kreisregierungen aus dem Jahr 1907. Vorausgegangen war laut Innenminister eine Erörterung der Zunahme von Verurteilungen Jugendlicher in der Abgeordnetenkammer. Daraufhin wollte der Innenminister eruieren, ob auf Ebene der Polizeiübertretungen weitergehender Regelungsbedarf bestand. Vorab betonte der Minister in seinem Schreiben an die Königliche Regierung des Donaukreises, „daß die Polizeibehörden bei jugendlichen Personen, welche noch die Volksschule besuchen oder das 14. Lebensjahr noch nicht überschritten haben, von einer Strafverfolgung ganz abzusehen haben, wenn die Sache zweckmäßiger RegBl Wü 1879, S. 383-389. Vgl. auch Dehlinger, Württembergs Staatswesen 1, S. 298 f. und 295. 384 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozesslisten 1904 bis 1916; und 1918; StAL E 349, Bd. 104-116; und 118. 385 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozesslisten 1913 bis 1916; und 1918; StAL F 276 II, Bü 74-78. 386 Diese jährlichen Zusammenstellungen finden sich im jeweiligen Amtsblatt des Kgl. Wü. Innenministeriums. 387 Vgl. Groeben, Erfüllung, S. 447. <?page no="104"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 105 durch eine Schulstrafe, durch entsprechende Benachrichtigung der Eltern oder durch eine mündliche Verwarnung erledigt werden kann.“ 388 Analog zu den verstärkt erhobenen Forderungen, Heranwachsende unter 14 Jahren komplett der strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen, lassen sich Bemühungen erkennen, die strafmündigen Zwölfbis Vierzehnjährigen bei kleineren Verfehlungen zu entkriminalisieren. Ihre Bestrafung, die dennoch als Notwendigkeit betrachtet wurde, sollte durch informelle Sanktionierung erfolgen. Entsprechend den Wünschen ihres obersten Dienstherren verfuhren bereits einige Strafverfolgungsbehörden des Landgerichtsbezirkes. In den Oberämtern Geislingen und Ulm wurden gegen Schulpflichtige auf Anweisung des Oberamtes in der Regel Schulstrafen verhängt. 389 In der Praxis der Göppinger Behörden beschränkte man sich darauf, zwölf bis vierzehnjährige Kinder und Jugendliche nur ausnahmsweise, und dann mit Verweis, zu bestrafen. 390 Hingegen verlautete aus dem Oberamt Kirchheim, schulpflichtige Kinder würden zwar nicht mit Haft, aber sowohl mit Verweis als auch mit Geldstrafe belegt. Wenn nicht „besondere Bosheit“ für die Übertretung ursächlich gewesen sei, so werde üblicherweise ein Verweis mit entsprechender Mitteilung an die Eltern verhängt. 391 Auf diese Weise machten die Polizeibehörden neben ihrer eigenen Sanktionsautorität eine weitere für ihre Zwecke nutzbar: die elterliche Autorität. Da zu erwarten war, dass die Kinder von ihren Eltern ebenfalls für die Verfehlungen zur Verantwortung gezogen wurden, bekamen erstere so eine doppelte Ermahnung. Offizielle Sanktionierung wurde mit informellen Formen sozialer Kontrolle kombiniert, sie fanden parallel Anwendung. Im Zuständigkeitsbereich des Stadtschultheißamtes Langenau, gelegen im Oberamt Ulm, waren laut Bericht des Schultheißen noch keine polizeilichen Strafverfügungen gegen schulpflichtige Kinder und Jugendliche bis 14 Jahren erlassen worden. Sollte eine Abstrafung in den Augen des Schultheißen notwendig sein, so übergebe er die Kinder an die Schule. Eine andere von ihm 388 Erlass des Kgl. Wü. Innenministeriums vom 12.5.1907 an die Kgl. Regierung des Donaukreises, StAL E 179 II, Bü 3727. 389 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Geislingen vom 28.6.1907 an die Kgl. Regierung des Donaukreises, Betreff: Verurteilung jugendlicher Personen; und Bericht des Königlichen Oberamtes Ulm vom 1.7.1907 an die Kgl. Regierung des Donaukreises, Betreff: Verurteilung jugendlicher Personen; beide StAL E 179 II, Bü 3727. 390 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Göppingen an die Kgl. Kreisregierung Ulm vom 10.6.1907, Betreff: Bestrafung jugendlicher Personen im Polizeistrafverfahren, StAL E 179 II, Bü 3727. 391 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Kirchheim vom 6.6.1907 an die Kgl. Regierung des Donaukreises, Betreff: Verurteilung jugendlicher Personen, StAL E 179 II, Bü 3727. <?page no="105"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 106 angewandte Maßnahme war es, die Eltern einzubestellen und zu verwarnen. 392 In Langenau wurde demnach bei jüngeren, aber strafmündigen Altersgruppen vollständig auf informelle Sanktionierung gesetzt. Auch wenn die Polizeibehörden ihrer Einschätzung nach nicht von einer Strafverfügung gegen Jugendliche absehen konnten, so sollten sie nach Maßgabe des Innenministers statt Haft Geldstrafen verhängen, „und zwar in einem solchen Betrage […], daß die jugendliche Person ihn auch zu bezahlen im Stande ist.“ Weiterhin wurde behördliches Entgegenkommen durch die Ermöglichung von Ratenzahlung eingefordert. Eine nicht zu umgehende Haftstrafe sollte durch eine Aussetzung der Strafvollstreckung bis zur Verjährung der Strafe umgangen werden. 393 Bemerkenswerterweise übergab das Stadtpolizeiamt Ulm Kinder unter 12 Jahren, gegen die eine Anzeige wegen einer Übertretung eingegangen war, zur Abrügung an die Ortsschulinspektoren. 394 Diese Kinder waren gemäß den Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches überhaupt noch nicht strafmündig und durften strafrechtlich daher nicht belangt werden. Gegen sie konnten nach Maßgabe landesgesetzlicher Vorschriften „die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln“ getroffen werden. 395 Diese Vorschrift ließ den zuständigen Strafverfolgungsbehörden ein großes Maß an Spielraum, da es sich um eine Kann-Vorschrift handelte. Die Polizisten hätten es demnach auch unterlassen können, gegen noch nicht strafmündige Kinder Schulstrafen zu initiieren. Dass sie es dennoch taten, dokumentiert hier eine Art „Warnschuss-Politik“. Den noch sehr jungen Normverletzern sollte die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns deutlich gemacht werden, um so präventiv auf ihre weitere normkonforme Entwicklung hinzuwirken. Es handelte sich allerdings nicht um ein prinzipielles „Null Toleranz“-Vorgehen des Stadtpolizeiamtes Ulm. Das wird deutlich, wenn man das durchaus als kulant zu bezeichnende sonstige Vorgehen berücksichtigt. 396 Die Verteilung der polizeilich geahndeten Übertretungen war je nach Oberamt unterschiedlich. Im Oberamt Ulm begingen Jugendliche hauptsächlich polizeilich zu ahndende Verstöße gegen die Paragraphen 367 Ziffer 8 sowie 368 Ziffer 7 und 360 Ziffer 8 des Reichsstrafgesetzbuches. Die erste 392 Vgl. Bericht des Stadtschultheißamtes Langenau vom 25.6.1907 an das Kgl. Oberamt Ulm über die Abrügung von Übertretungen jugendlicher Personen (Abschrift), StAL E 179 II, Bü 3727. 393 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Innenministerium vom 12.5.1907, StAL E 179 II, Bü 3727. 394 Vgl. Bericht des Stadtpolizeiamts Ulm an das Kgl. Oberamt Ulm vom 26.6.1907 über die Abrügung jugendlicher Personen (Abschrift), StAL E 179 II, Bü 3727. 395 Vgl. § 55 RStGB. 396 Vgl. Bericht Stadtpolizeiamt Ulm, StAL E 179 II, Bü 3727. <?page no="106"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 107 Bestimmung stellte die Gefährdung des Verkehrs durch Geschosse oder Ähnlichem unter Strafe, darunter auch Feuerwerkskörper. Ähnlich die zweite Bestimmung, hier ging es nicht um den öffentlichen Verkehr, sondern speziell um das verbotene Schießen oder Abbrennen von Feuerwerk in der Nähe von Gebäuden. Dazu kam das Nennen falscher Namen gegenüber zuständigen Beamten. Der Vorsteher des Oberamtes stellte nüchtern fest, die Häufigkeit der polizeilichen Sanktionierung dieser Delikte hänge auch mit „zeitweise regerer Tätigkeit der Polizeiorgane […] (z. B. Neujahrsnächte)“ oder mit der Zunahme von polizeilichen Regelungen des öffentlichen Verkehrs zusammen. Zur falschen Namensangabe als Delikt der Jugend gab er an, dies erkläre sich mit der Taktik Jugendlicher, der Strafe für andere Übertretungen durch falsche Namensnennung zu entgehen. 397 Die überwiegende Mehrzahl der durch Strafverfügungen sanktionierten Übertretungen betrafen im Oberamtsbezirk Blaubeuren Handlungen gemäß der Paragraphen 361 Ziffer 1 bis 8 und 363. 398 Der erste Paragraph nannte unter seinen insgesamt zehn Ziffern verschiedene Handlungen, welche sehr weit reichend als abweichend und deviant bewertet wurden: Landstreicherei, Bettelei, Prostitution, aber auch „Spiel, Trunk und Müßiggang“. 399 Unter den zweiten Paragraph fiel die Fälschung von Legitimationspapieren oder Zeugnissen. 400 Genauer erläuterte das Oberamt diese Verfehlungen nicht, es könnte sich dabei aber unter anderem um falsche Entschuldigungszettel für Schulversäumnisse handeln. Anders stellte sich die Situation im Oberamt Geislingen dar: Hier begingen Kinder und Jugendliche überwiegend Obst- und sonstige Felddiebstähle. 401 Bei der Anordnung von Strafen bewerteten die zuständigen Polizeibehörden durchaus nicht nur die zu sanktionierende Tat, sondern auch die Person des Delinquenten. Neben dem Kriterium des Alters, das in allen Oberämtern eine entscheidende Rolle bei der Frage, wie gestraft werden sollte, spielte, traten weitere Beurteilungsmaßstäbe. Das Oberamt Göppingen erläuterte die dortige Praxis. Haftstrafen kämen nahezu ausschließlich bei Jugendlichen, 397 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Ulm an die Königliche Regierung des Donaukreises in Ulm vom 1.7.1907, StAL E 179 II, Bü 3727. 398 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Blaubeuren an die Königliche Kreisregierung Ulm vom 24.6.1907 betreffend das polizeiliche Strafverfahren bei jugendlichen Personen, StAL E 179 II, Bü 3727. 399 Vgl. § 361 RStGB. 400 Vgl. § 361 RStGB. 401 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Geislingen an die Kgl. Regierung des Donaukreises vom 28.6.1907 betreffend die Verurteilung jugendlicher Personen, StAL E 179 II, Bü 3727. <?page no="107"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 108 „welche auf der Durchreise durch den Bezirk wegen Bettels oder Landstreicherei aufgegriffen, geistig & körperlich ziemlich entwickelt & meist schon öfters vorbestraft, außerdem häufig nicht einmal Reichsangehörige sind“ 402 , zur Anwendung. Dieses Vorgehen hatte zwar auch zweckrationale Gründe. So war es bei Jugendlichen auf der Durchreise schwierig, eine Geldstrafe, zumal in Ratenzahlungen, überhaupt einzutreiben. Darüber hinaus griffen Stereotype auf die Strafanwendung über, welche eine Gleichbehandlung der Jugendlichen vor dem Gesetz torpedierten. Ohnehin gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen wurden so von den Polizeibehörden auch in der Strafverfolgung diskriminiert - dabei traf es die „üblichen Verdächtigen“: nicht Sesshafte und Ausländer. 403 In der Soziologie bezeichnet man die Reaktion der Umwelt - wie etwa der Strafverfolgungsbehörden - auf abweichendes Verhalten ganz bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als Selektionslabeling. 404 Dieses im konkreten Fall von Stereotypen vorstrukturierte Vorgehen wollte der Göppinger Oberamtsvorsteher auch formal etablieren. Für eine anstehende Neuregelung der Abrügungen von Übertretungen durch das Innenministerium plädierte er für noch weitergehende Gestaltungsspielräume der Polizei bei der Handhabung der Bestrafungen. In Göppingen, dem sehr heterogen geprägten Oberamt mit einer überwiegenden Anzahl von Beschäftigten in der Industrie, leide nach Ansicht des Oberamtsvorstehers „insbesondere in Gegenden mit Fabrikbevölkerung“ die Autorität der traditionellen Respektpersonen wie Geistlichen und Lehrern - daher erschien es opportun, die als aufmüpfig identifizierten Personenkreise anders, nämlich härter zu bestrafen als Jugendliche mit einer günstigeren Sozialprognose, um „die öffentliche Ordnung & die Gesellschaft gegen Angriffe seitens jugendlicher Personen zu schützen“. 405 Einmal mehr wurde hier das zeitgenössisch virulente Bild einer aufsässigen Jugend beschworen, um reglementierenden Zugriffen auf tatsächliche und potentielle jugendliche „Abweichler“ das Wort zu reden. Die Vorgehensweisen in den Oberämtern folgten zwar grob gleichen Richtlinien, allerdings zeigen sich in den Äußerungen der jeweils berichtenden Oberamtsvorsteher durchaus unterschiedliche Bewertungstendenzen der in ihrem Gebiet vorkommenden jugendlichen „Kleinkriminalität“. Dabei 402 Bericht des Kgl. Oberamtes Göppingen an die Kgl. Kreisregierung Ulm vom 10.6.1907, Betreff: Bestrafung jugendlicher Personen im Polizeistrafverfahren, StAL E 179 II, Bü 3727. 403 Nicht sesshafte Sinti sahen sich im kaiserlichen Deutschland vielerlei polizeilicher Restriktionen und „Schikane“ ausgesetzt, vgl. Zimmermann, Ausgrenzung, S. 345 f. 404 Vgl. Rüther, Abweichendes Verhalten, S. 43. 405 Vgl. Bericht des Kgl. Oberamtes Göppingen an die Kgl. Kreisregierung Ulm vom 10.6.1907, Betreff: Bestrafung jugendlicher Personen im Polizeistrafverfahren, StAL E 179 II, Bü 3727. <?page no="108"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 109 reichte die Spannbreite von den sehr reflektierten Einschätzungen des Ulmer Oberamtsvorstehers über die Zusammenhänge von Kriminalitätshäufigkeit und Intensität polizeilicher Ermittlungsarbeit bis zu den alarmistischen, auf verbreiteten Stereotypen basierenden Äußerungen über Tendenzen zu einer angeblichen Regellosigkeit innerhalb der Fabrikarbeiterschaft bei seinem Göppinger Amtskollegen. Der praktizierte polizeiliche Umgang mit jugendlicher Bagatelldelinquenz war formalrechtlich nicht unumstritten. Das Innenministerium arbeitete 1908 den Entwurf eines Erlasses bezüglich der Abrügung von Übertretungen jugendlicher Personen aus, welcher wesentliche Ergebnisse der Umfrage des Innenministeriums aufgriff. Darin sollte bestimmt werden, dass die Polizeibehörden, wenn die Einsichtserfordernis nach Paragraph 56 gegeben war, weiterhin vor der Einleitung weiterer Schritte in Erwägung zu ziehen hätten, „ob die Verfolgung sich im öffentlichen Interesse als notwendig und zweckmässig erweist.“ Von einer Strafverfolgung solle besonders dann abgesehen werden, wenn es sich um Ersttäter handele, die Übertretung nur aus Unkenntnis begangen worden sei oder es sich um „Polizeiübertretungen unbedeutender Art“ handele. 406 Den Entwurf erhielt unter anderem auch das Justizministerium zur Kommentierung. Durch ein Schreiben des Justizministers wurden die Verantwortlichen im Innenministerium darauf aufmerksam gemacht, dass dieses eigenmächtige Vorgehen der Polizeibehörden „mit dem Legalitätsprinzip wie es in § 152 Abs. 2 StPO. für die Staatsanwaltschaft vorgeschrieben ist, nicht vereinbar“ war. 407 War die Missachtung einer Strafbestimmung erst einmal der Polizei oder der Staatsanwaltschaft bekannt geworden, sollte vielmehr ein Automatismus der Strafverfolgung einsetzen. Es musste zwar auch bei gerichtsrelevanten Straftaten nicht zwangsläufig eine Gerichtsverhandlung den Schlusspunkt des Verfahrens bilden, eine Alternative bildete in bestimmten Fällen ein richterlicher Strafbefehl. 408 Der Justizminister gab im Hinblick auf den Erlass seines Kollegen im Innenressort zwar zu bedenken, dass zunächst umstritten gewe- 406 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Innenministeriums an die Kgl. Kreisregierungen, die Kgl. Stadtdirektion Stuttgart, die Kgl. Oberämter und die Ortspolizeibehörden, ohne Datum, 1908 (Entwurf) betreffend die Abruegung von Uebertretungen jugendlicher Personen durch die Polizeibehörden, HStAS E 151/ 09, Bü 156. 407 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 9.11.1908, Betreff: Abrügung von Übertretungen jugendlicher Personen durch die Polizeibehörden, HStAS E 151/ 09, Bü 156. 408 Siehe dazu die Praxis des Amtsgerichtes Kirchheim unter Teck. Ein jugendlicher Hilfsarbeiter erhielt beispielsweise wegen eines Verstoßes gegen § 360 Zif. 8 RStGB einen Strafbefehl über eine Mark Geldstrafe bzw. einen Tag Haft, vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozessliste 1914, Eintrag Nr. 134, StAL F 276 II, Bü 75. <?page no="109"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 110 sen sei, ob das Legalitätsprinzip auch für Polizeibehörden gelte. Es sei aber fragwürdig, ob man „die bei der polizeilichen Strafverfügung gewährte Freiheit in der Gestaltung des Verfahrens hierher […] verwerten“ 409 könne - ob also die Polizeibehörden so große Verfahrensautonomie hatten, dass sie nicht nur strafen, sondern auch nicht strafen konnten. Das Reichsgericht und die sich ihm in diesen Fragen anschließende württembergische Rechtssprechung erklärte das Legalitätsprinzip auch für die Polizeibehörden als bindend, so die Beurteilung des Justizministers. Erst eine Reform der Strafprozessordnung stelle hier einen Kurswechsel in Aussicht, nach geltendem Recht ließen sich dennoch „Bedenken gegen die in Aussicht genommene Weisung“ erheben. 410 Das Justizministerium sprach sich schließlich äußerst diplomatisch gegen diesen Aspekt der innenministeriellen Pläne aus: „Würden die hier in §§ 365,366 vorgesehenen Bestimmungen [des Entwurfes für eine neue StPO, Anm.] Gesetzeskraft erlangen, so würden die von dem K. Ministerium des Innern vorgesehenen Weisungen im wesentlichen allgemein giltiges Recht wiedergeben.“ 411 Mit anderen Worten: Noch waren die geplante Verfügung und das tatsächliche Vorgehen einiger Polizeibehörden rechtswidrig. Das Vorgehen des Innenministeriums unter seinem 1892 amtierenden Ressortchef Dr. jur. Johann Pischek in dieser Frage verwundert zunächst. 412 Entweder wusste man bei Ausarbeitung des Erlasses, auf welch unsicheres Terrain man sich damit begab, nahm dies aber im Wissen um die Strittigkeit des Legalitätsprinzips für diesen Bereich in Kauf. Oder es war weder den Beamten im Innenministerium noch dem Minister selbst bekannt. Was genau der Fall war, bleibt spekulativ. Allerdings erging der Erlass des Innenministers trotz des Einwandes seines Kollegen aus dem Justizressort mit genau den strittigen Punkten. Jugendliche sollten nur dann, wenn es opportun erschien, bestraft werden. 413 409 Schreiben des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 9.11.1908, Betreff: Abrügung von Übertretungen jugendlicher Personen durch die Polizeibehörden, HStAS E 151/ 09, Bü 156. 410 Vgl. ebd. 411 Ebd. 412 Vgl. Raberg, Biographisches Handbuch, S. 667. 413 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Innenministeriums an die Kgl. Kreisregierung, die Kgl. Stadtdirektion Stuttgart, die Kgl. Oberämter und die Ortspolizeibehörden vom 22.11.1908 betreffend die Abrügung von Übertretungen jugendlicher Personen durch die Polizeibehörden, in: ABl Wü IM 1908, S. 340-342. <?page no="110"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 111 Nun wusste man zweifellos um die eigene sehr großzügige und unter Umständen anfechtbare Auslegung des Legalitätsprinzips. Priorität hatte jedoch die Möglichkeit eines Sanktionsverzichtes bei jugendlicher Bagatellkriminalität, dafür nahm das Innenministerium diesen Unsicherheitsfaktor billigend in Kauf. 3. Der Ablauf der polizeilichen Ermittlungsarbeit Solche Unsicherheiten bestanden hingegen nicht, wenn es sich um gerichtlich zu ahndende Offizialdelikte handelte. In diesen Fällen galt unbestritten das Legalitätsprinzip - mit einigen Ausnahmen, bei denen das Ermittlungsverfahren erst nach Strafantrag durch die Geschädigten oder deren gesetzliche Vertreter eingeleitet wurde. Bei den Ausnahmen handelte es sich um Antragsdelikte. 414 In den gerichtsnotorischen Fällen der Ulmer Strafkammer mit jugendlichen Angeklagten traf dies auf Hausfriedensbruch, Ehebruch, Verführung, Sachbeschädigung und Verbrauchsentwendung zu. 415 Bei Diebstahl und Unterschlagung galt die Einschränkung einer Strafverfolgung nur auf Antrag lediglich dann, wenn die Geschädigten Angehörige, Vormünder und Erzieher oder Lehr- und Dienstherren waren. Außerdem durften die gestohlenen oder unterschlagenen Gegenstände nur einen geringen Wert haben. 416 Bei Betrug war es ähnlich. Strafverfolgung setzte lediglich dann nur auf Antrag ein, wenn durch ihn Angehörige, Vormünder oder Erzieher geschädigt worden waren. 417 Wie sich dies in der Praxis auswirkte, zeigt ein Fall aus dem Jahre 1918, bei dem ein Tagelöhner vor Gericht stand, der gemeinsam mit einem Freund bei dessen Eltern Bargeld und andere Dinge gestohlen hatte. Gegen den Freund erhob die Staatsanwaltschaft keine Anklage, da die Eltern gegen ihren eigenen Sohn keinen Strafantrag gestellt hatten. 418 Hier war nicht die Tat, sondern das verwandtschaftliche Verhältnis des Täters ausschlaggebend für die Sanktionierung. Gerade bei den reinen Antragsdelikten kam der Bevölkerung ein hohes Maß an Mitwirkungsmöglichkeiten im Prozess der Etikettierung bestimmter Formen von Delinquenz und „abweichender“ Personen zu. Durch das Antragsverhalten nahmen sie gezielt Einfluss darauf, ob Delikte wie Hausfrie- 414 Vgl. Liszt, Lehrbuch, S. 201. 415 Vgl. §§ 123, 172, 182, 303, 370 Zif. 5 RStGB. 416 Vgl. § 247 RStGB. 417 Vgl. § 263 RStGB. 418 Vgl. Strafverfahren gegen August E., StAL E 350a, Bü 1122. Gleiches gilt im Verfahren gegen Erwin B. und Karl S., StAL E 350a, Bü 868. <?page no="111"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 112 densbruch von den Behörden der Strafverfolgung sanktioniert werden konnten und wurden, ob man den entstandenen „Konflikt“ untereinander löste oder schlicht darüber hinwegging. 419 Denn „[g]ewisse Rechtsgüterverletzungen erscheinen nur dann als solche, sind nur dann für die öffentliche Rechtsordnung von Bedeutung, wenn der Verletzte sie als Verletzung empfindet […].“ 420 Das war aber nicht für alle Antragsdelikte die Begründung der eingeschränkten Strafverfolgung. Bestimmte Antragsdelikte wie die Verführung gemäß Paragraph 182 des Reichsstrafgesetzbuches sollten nicht per se eine Verfolgung nach sich ziehen, da dies den Interessen der Opfer widersprechen könne. 421 Für die Bereitschaft, einen Strafantrag zu stellen, spielte natürlich auch das Machtverhältnis zwischen „Täter“ und „Opfer“ sowie deren soziale Stellung eine wichtige Rolle. Eine ökonomisch von ihrem Ehemann abhängige Frau musste genau abwägen, ob sie ihren Ernährer wegen Ehebruchs anzeigen wollte. Auch ein Dienstknecht hatte aus praktischen Gründen gegenüber seinem Dienstherren nicht die ihm rein formaljuristisch gegebenen Handlungsoptionen, beispielsweise für eine Beleidigungsklage. Er musste zwischen der Wahrnehmung seiner Rechte und der Sicherung seines Lebensunterhaltes abwägen. Auf der anderen Seite hat Alexandra Ortmann für ländliche Strukturen nachgewiesen, dass sozial schlechter gestellte Mitglieder eines Dorfes in Konfliktfällen mit sozial besser Positionierten Anzeigen nutzten, um diese „Ungleichheit zu kompensieren“. Ihnen half die Einschaltung einer außerdörflichen Instanz in den Konflikt, da sie selbst nicht die Machtressourcen hatten, alleine im Konflikt erfolgreich zu agieren. 422 Es war demnach nicht nur das subjektive Empfinden des Verletzten, welches Ausschlag für eine Strafverfolgung gab. Nicht strafrechtlich intendierte Faktoren spielten ebenso eine Rolle. Bei den Offizialdelikten spielten die Polizisten eine wichtige Rolle für die Anklagehäufigkeit einzelner Delikte. Wenn sie selbst Straftaten bemerkten, kam es entscheidend auf ihre Berufsauffassung und ihr berufliches Selbstbild 419 Im Vergleich zu England war die Bevölkerung in Deutschland offenbar eher geneigt, persönliche Konflikte mit Hilfe des Strafgesetzes zu lösen, wie Dietrich Oberwittler aufgrund eines Vergleiches der Statistiken beider Länder folgert, vgl. ders., Jugendkriminalstatistiken, S. 202. 420 Liszt, Lehrbuch, S. 200. 421 Vgl. ebd. 422 Vgl. Ortmann, Jenseits von Klassenjustiz, S. 638 f. <?page no="112"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 113 an, wie sie weiter verfuhren. 423 In der Regel waren sie es, die bei den Staatsanwaltschaften Anzeige erstatteten und das weitere Ermittlungsverfahren initiierten. 424 Sie schufen den Bestand offiziell bemerkter Kriminalität, aus dem die Staatsanwaltschaft Anklagen erhob. Hier handelte es sich um bewusst wahrgenommene Handlungen der Polizisten. Daneben traten aber auch unbewusste Vorgänge. Mangelnde berufliche Qualifikation der Polizisten im Südwesten monierte der Dresdener Staatsanwalt Erich Wulffen. Viele Polizisten seien schlecht ausgebildet und würden oftmals die rechtlichen Grundlagen, die Strafgesetze, nach denen sie zu ermitteln hätten, gar nicht kennen. 425 Zwar sollte man den Äußerungen des populärwissenschaftlich sehr publikationsfreudigen Wulffen mit Vorsicht begegnen. 426 Es erscheint jedoch angesichts der oben geschilderten Strukturen der württembergischen Polizeiorgane plausibel, dass diese Kritik einen wahren Kern barg. Daher waren die Ermittler im Umgang mit Straftaten auf ihre persönliche Einschätzung dessen, was „Unrecht“ war, angewiesen. Diese Einschätzung basierte auf ihrer Erziehung, ihren dadurch geprägten Einstellungen und ihren eigenen Erfahrungen. Der Einleitung von Strafverfahren war demnach die Einstellung der zivilen Bevölkerung und die der Polizei sowie deren Berufsauffassung vorangestellt. Vier Filter bestimmten auf diese Weise die unterschiedliche Häufung von zur Anklage kommenden Delikten mit: erstens die Polizeidichte, zweitens die Berufsauffassung der Polizisten, drittens der Professionalisierungsgrad sowie damit zusammenhängend das Unrechtsbewusstsein der für die Einleitung von Ermittlungen zuständigen Polizeibeamten und viertens das Unrechtsbewusstsein sowie damit zusammenhängend die Anzeigenbereitschaft der Bevölkerung. Aus den erläuterten Gründen, dem noch wenig fortgeschrittenen Professionalisierungsgrad und der geringen Polizeidichte, waren diese Faktoren verschränkt. 423 In England sahen sich Polizisten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als „friends of the family“, die nur zum Wohle der Jugendlichen reglementierend auf deren Lebensführung und beratend auf deren Eltern einwirkten. Dieses Selbstbild deckte sich dabei nicht mit der Wahrnehmung der Jugendlichen, obwohl es - analog zur auch in England bemerkbaren Verankerung von erzieherischen Konzepten in der Strafverfolgung - zu einem Wandel der Repressionspraxis kam, vgl. Oberwittler, Friends of the Family. 424 Vgl. Weidlich, Staatsanwaltschaftliches Verfahren, S. 135. 425 Vgl. Wulffen, Hauptbericht, S. 36 f. 426 Christian Müller charakterisiert ihn als „Hobby-Autor“, dessen Veröffentlichungen aus einem „Gewirr aus Science und Fiction“ bestünden, vgl. ders., Verbrechensbekämpfung, S. 81. <?page no="113"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 114 Daher kam faktisch auch bei den Offizialdelikten der Anzeigenbereitschaft seitens der Bevölkerung eine wichtige Rolle zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu. Eine personell wenig „hochgerüstete“ Polizei konnte auf anderem Wege kaum Kenntnis von Straftaten erlangen. Dies gilt im Besonderen für die ländlich geprägten Gebiete des Landgerichtsbezirkes. Die Polizei konnte auf Anzeigen der Bevölkerung reagieren, nicht eigeninitiativ agieren. 4. Die Vereinigung für Jugendgerichtshilfe und Jugendfürsorge Ulm-Söflingen Während die staatsanwaltschaftlichen Hilfsbeamten das „unveröffentlichte“ Material zusammentrugen, war es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, über Vorstrafen von Beschuldigten und bereits abgeschlossene Strafverfahren Erkundigungen einzuziehen und die entsprechenden Akten bei anderen Behörden anzufordern. Seit 1911 half in Verfahren gegen Jugendliche der Staatsanwaltschaft ein Verein dabei, weiterreichende persönliche Informationen zusammenzutragen: die Vereinigung für Jugendgerichtshilfe und Jugendfürsorge Ulm-Söflingen. 427 Dieser neu gegründete Verein erleichterte es der Justiz in Ulm, die seitens des Justizministeriums zum damaligen Zeitpunkt verstärkt gewünschte pädagogische Ausrichtung des gesamten Strafverfahrens gegen Jugendliche in der Praxis zu realisieren. 428 Denn „[d]ie Mitwirkung von Helfern und Helferinnen, die auf dem Gebiete der Jugendfürsorge freiwillig tätig sind, wird schon im Ermittlungsverfahren von Wert sein […].“ 429 Erkundigungsarbeit im Auftrag der Staatsanwaltschaft war allerdings nur eine der Aufgaben, welchen sich die Jugendgerichtshilfe verschrieben hatte. Ihre Tätigkeit lässt sich in Hilfestellungen für die Strafverfolgungsbehörden während der Ermittlungen sowie die Betreuung straffälliger Jugendlicher während des Prozesses und nach der Verurteilung unterteilen. An dieser Stelle soll zunächst auf die Tätigkeit im Vorfeld einer Gerichtsverhandlung eingegangen werden. Zu diesen direkt auf einzelne Jugendliche bezogenen Bereiche kamen jugendpflegerische und jugendfürsorgerische Lobbyarbeit und die Kooperation mit anderen Gruppen dieses Feldes. Im Krieg propagierte die Jugendgerichtshilfe etwa die Einführung des Sparz- 427 Vg. Jans, Sozialpolitik, S. 285. 428 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 24.1.1911 betreffend das Strafverfahren gegen Jugendliche, in: ABl Wü JM 1911, S. 11-15. 429 Ebd., S. 14. <?page no="114"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 115 wangs, unter anderem mit Eingaben an den Gemeinderat, setzte sich für Schülerhorte ein oder bezog im so genannten „Schmutz- und Schundkampf“ Position - woran sich die Verankerung der Jugendgerichtshilfe im Mainstream der jugendpflegerischen Bewegung ablesen lässt. 430 Die Namensgebung deutet an, wie verzahnt hier nachträgliche Betreuung bereits straffällig gewordener Jugendlicher mit allgemeiner jugendfürsorgerischer Präventionsarbeit auftrat. Die Vereinigung verfolgte demnach ein ganzheitliches Konzept der Kriminalitätsbekämpfung, ausgehend von ähnlichen Überlegungen wie der Berliner Amtsrichter Paul Köhne, für den Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität zwei Seiten der selben Medaille bildeten. Auch die Gründung von Jugendgerichtshilfen - nicht nur in Württemberg - offenbart eine Tendenz zur Pädagogisierung jugendkriminalpolitischer Bemühungen. 431 In Württemberg hatten sich, ausgehend 1910 von Stuttgart, in verschiedenen Städten ähnliche Vereinigungen gebildet. 1916 existierten in Eßlingen, Heilbronn, Ravensburg, Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm eigene Vereinigungen, die sich zur Vereinigung der Jugendgerichtshilfen Württembergs zusammenschlossen. 432 Zunächst hatte die Ulmer Vereinigung mit finanziellen Startschwierigkeiten zu kämpfen. Man bat die Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg um die Gewährung eines finanziellen Zuschusses zur Anschubfinanzierung, unter anderem, um dringend benötigte Materialien wie Orientierungsliteratur beschaffen zu können. 433 Dieser unmittelbar dem König unterstellten amtlichen Stelle oblag die Aufsicht über die Anstalten der freien Wohlfahrtspflege, zu der auch die Jugendgerichtshilfe zählte. 434 Zwar unterstützte der Bezirkswohltätigkeitsverein in Ulm diese Bemühungen. Die Jugendgerichtshilfe bekam von der Zentralleitung allerdings trotzdem nicht den erbetenen Zuschuss, da für diesen Zweck keine Mittel zur Verfügung stünden. 435 Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Zentralleitung neueren Bestrebungen der Jugendkriminalpolitik skeptisch gegenüberstand. In die glei- 430 Vgl. Jahresberichte der Vereinigung für Jugendgerichtshilfe und Jugendfürsorge Ulm- Söflingen für die Geschäftsjahre 1915, S. 7 f.; und 1916, S. 3; beide StAL E 191, Bü 5568. 431 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 286. Zur Jugendgerichtshilfe in Berlin Liszt, Berliner Jugendgerichthilfe; und Oberwittler, Strafe, S. 302; sowie in Wien Löhr, Wiener Jugendgerichtshilfe. 432 Vgl. Vereinigung der Jugendgerichtshilfen Württembergs. Mitteilung Nr. 1 vom Juli 1916, S. 1 f., HStAS E 151/ 09, Bü 151. 433 Vgl. Schreiben der Jugendgerichtshilfe Ulm an die Zentralleitung für Wohltätigkeit in Stuttgart vom 28.1.1912, Betreff: Gründungsbeitrag, StAL E 191, Bü 4617. 434 Vgl. Dehlinger, Württembergs Staatswesen 1, S. 355 f. 435 Vgl. Beschluss des Bezirkswohltätigkeitsvereinsausschusses vom 20.2.1912; Schreiben des Bezirkswohltätigkeitsvereins Ulm vom 26.2.1912; und die Anmerkungen der Zentralleitung für Wohltätigkeit an diesem Schreiben, StAL E 191, Bü 4617. <?page no="115"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 116 che Richtung weisen weitere Äußerungen aus der Kriegszeit, auf die später noch eingegangen wird. 436 Trotz dieser ablehnenden Haltung erfuhr die Jugendgerichtshilfe von anderer Seite die notwendige Unterstützung und konnte sich daher rasch etablieren. Mitgliedsbeiträge, finanzielle Zuwendungen des Justizministeriums, der Stadt Ulm, der Ortsarmenbehörde, des Vereins zur Fürsorge für entlassene Strafgefangene, der Kirchen, der jüdischen Gemeinde, des Bezirkswohltätigkeitsvereins, der örtlichen Freimaurerloge und individuelle Spenden gewährleisteten die Deckung des finanziellen Bedarfs - auch in Zeiten knapper Kassen während des Krieges. 437 Zudem leitete das Stadtpolizeiamt Beträge aus den Bußgeldern an die Jugendgerichtshilfe weiter. 438 Diese breit gestreuten finanziellen Zuwendungen verschiedenster Gruppierungen zeigen, wie breit die Akzeptanz der Arbeit war. Die Jugendgerichtshilfe war schon kurz nach ihrer Gründung fest im Bereich der ehrenamtlichen sozialen Fürsorgetätigkeit Ulms verankert. Der Kriegsausbruch führte nicht dazu, ihre Bedeutung in Frage zu stellen. Vielmehr wurde anerkannt, dass die Arbeit wichtig blieb. Ihrer Tätigkeit gingen die Mitglieder - im Jahr 1913 waren es 81 Männer und Frauen - ehrenamtlich nach. 439 Sie stammten aus dem Bürgertum Ulms, unter ihnen fanden sich Geistliche, auch Rabbiner, Lehrerinnen, Mittelschullehrer, Oberlehrer, Volksschulrektoren, Stadträte und Landgerichtsräte oder nicht erwerbstätige Frauen. 440 Ab 1914 konnte die Jugendgerichtshilfe dank finanzieller Unterstützung des Justizministeriums eine Sekretärin anstellen. Zu diesem Zeitpunkt war der Arbeitsaufwand so angewachsen, dass er rein ehrenamtlich nicht mehr zu bewältigen war. 441 Dabei beschränkte sich anfangs die Arbeit der Jugendgerichtshilfe vornehmlich auf die Stadt Ulm und die Klientel des örtlichen Schöffengerichts beim Amtsgericht. Erst ab etwa 1915 dehnte die Jugendgerichtshilfe ihre Tätigkeit auf die von der Strafkammer Ulm zugewiesenen Jugendlichen und damit den gesamten Landgerichtssprengel aus. 442 Im Vorfeld eines Prozesses eruierten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe im Auftrag der Staatsanwaltschaft die familiären und 436 Siehe S. 218. 437 Vgl. Jahresberichte Jugendgerichtshilfe 1913, S. 12; 1914, S. 6; 1915, S. 12; und 1916, S. 13 f.; alle StAL E 191, Bü 5568. 438 Vgl. Jahresberichte Jugendgerichtshilfe 1915, S. 12; und 1916, S. 13; beide StAL E 191, Bü 5568. 439 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1913, S. 3, StAL E 191, Bü 5568. 440 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 2, StAL E 191, Bü 5568. 441 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1913, S. 3 f., StAL E 191, Bü 5568. 442 Vgl. Jahresberichte Jugendgerichtshilfe 1915, S. 3; und 1916, S. 3; beide StAL E 191, Bü 5568. <?page no="116"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 117 persönlichen Verhältnisse des angeklagten Jugendlichen, teilweise unter Rückgriff auf Informationen aus zweiter Hand, etwa von Lehrern, Geistlichen oder „anderen geeigneten Personen“. 443 Selbst charakterisierte die Jugendgerichtshilfe diese Ermittlungen wie folgt: „Zum Schwersten werden immer die Erhebungen über die Verhältnisse der angeklagten Jugendlichen vor der gerichtlichen Verhandlung gehört haben. Sie sollten den Jugendlichen und dem Gericht dienen, einerseits möglichst alle entlastenden Gesichtspunkte beibringen, andererseits doch ein möglichst sorgfältiges und getreues Bild des Charakters und der Verhältnisse des Jugendlichen geben.“ 444 Die Jugendgerichtshilfe nahm damit eine Zwitterstellung im Strafverfahren ein, negativ ausgedrückt könnte man ihr auch unterstellen, zwischen den Stühlen zu sitzen. Auf der einen Seite versorgte sie die Strafverfolgungsbehörden mit Informationen, auf der anderen Seite sah sie sich als Unterstützung für die Jugendlichen. Die Jugendgerichtshilfe war integraler Bestandteil eines Verfahrens gegen Jugendliche. In einem kleinen äußerlichen Detail kommt dies deutlich zum Ausdruck. Das Landgericht Ulm stellte der Vereinigung für ihre Sitzungen einen Saal im Justizgebäude zur Verfügung. 445 Für ihre Nachforschungen im persönlichen Umfeld der Jugendlichen gab es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein eigens von der Staatsanwaltschaft vorgegebenes Formular. Hier konnten sie Angaben zu den Familien-, Vermögens-, Wohn-, Schul-, Dienst- und Gesundheitsverhältnissen, über die bisherige Führung und die „Kameradschaft“ des betreffenden Jugendlichen eintragen. Zudem waren sie aufgefordert, eine Stellungnahme über die wahrscheinliche Ursache des abweichenden Verhaltens zu geben. Sie konnten der Staatsanwaltschaft auch eigene Vorschläge zum weiteren Vorgehen unterbreiten. 446 Damit leisteten die Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung des oder der Beschuldigten durch den Staatsanwalt und, da diese Informationen auch in das gerichtliche Verfahren einflossen, für die Urteilsfindung durch das Gericht. Die Staatsanwälte und später die Richter selbst griffen also bei der Einschätzung, welche Strafe einem jugendlichen Delin- 443 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe, S. 11, StAL E 191, Bü 5568. 444 Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1914, S. 2 f., StAL E 191, Bü 5568. 445 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1916, S. 14, StAL E 191, Bü 5568. 446 Vgl. dazu das Formular mit den Mitteilungen der Jugendgerichtshilfe Ulm über Franz A. an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 10.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="117"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 118 quenten angesichts der Tat sowie den Umständen entsprechend verhängt werden sollte, auch auf interpretiertes Wissen aus zweiter Hand zurück. Was sich hier zunächst informell ausprägte, nämlich die Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe in Strafverfahren gegen Jugendliche, wurde mit dem Jugendgerichtsgesetz 1923 schließlich integraler Bestandteil und damit festgeschriebene strafprozessuale Vorgabe. 447 In der Praxis hatte sich diese Vorgehensweise demnach als so ergiebig gezeigt, dass sie bei der lange geplanten und nach mehreren gescheiterten Anläufen im Kaiserreich schließlich zur Zeit der Weimarer Republik verwirklichten Neuordnung des Jugendstrafverfahrens institutionalisiert wurde. Außerdem etablierte sich, ausgehend von Preußen, die Gerichtshilfe nun auch in der Praxis des Erwachsenenstrafverfahrens. 448 Die mit der Betreuung jugendlicher Delinquenten befassten Bürgerinnen und Bürger waren durch die Hauptströmungen der jugendpflegerischen und jugendfürsorgerischen Konzepte geprägt und in ihrer Arbeit in diese Richtung sozialisiert worden. Sie analysierten und interpretierten die Verhältnisse, in denen sie die Jugendlichen vorfanden, aus diesem Blickwinkel. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch in den Jahresberichten des Vereins die zur damaligen Zeit bei bürgerlichen Sozialreformern virulenten Vorstellungen über die Ursachen von „Jugendverwahrlosung“ und Jugenddelinquenz auftauchen. 449 In ihrem Jahresbericht 1913 führte die Jugendgerichtshilfe aus: „Wir gingen auch wieder den Ursachen nach, die unsere Jugendlichen vor die Schranken des Gerichts brachten. Neben der ungezügelten Genußsucht stellten wir namentlich den Mangel an Aufsicht und Beschäftigung in der Freizeit und in den Ferien fest. […] Neben dem Kino, dessen Gefahren für die Jugendlichen nun ja durch ein Gesetz bekämpft werden sollen, stießen wir auch wieder auf schlechte Literatur als eine der Ursachen der Verderbnis.“ 450 Auch „auffallende Gesundheitsverhältnisse“ wie körperliche oder geistige Schwäche meinte die Jugendgerichtshilfe als Auslöser abweichenden Verhaltens ihrer Schützlinge ausmachen zu können. Allerdings betonte man, wie selten dies der Fall sei. 451 Kriminologische Erklärungen, die sich auf endogene Faktoren bezogen, waren demnach auch in der Ulmer Jugendgerichtshilfe virulent, wurden allerdings nur zögerlich und vorsichtig angewandt. 447 Vgl. § 22 JGG. 448 Vgl. Schauz, Gerichtshilfe; sowie dies., Strafen, S. 366. 449 Siehe dazu Punkt I.2. 450 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1913, S. 11, StAL E 191, Bü 5568. 451 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1916, S. 10, StAL E 191, Bü 5568. <?page no="118"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 119 Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen Faktoren wie „Aufsichtsmangel“ bei ihren Erkundigungen verschärft und wahrscheinlich selektiv wahr. Und da sie diese Erkenntnisse an das Gericht weiterleiteten, fanden sie auch auf diesem Weg Eingang in die Be- und schließlich Verurteilung der Jugendlichen durch die Strafrichter. 5. Fallbeispiel: Das Verfahren gegen Franz A. und Mittäter Anhand eines Falles, bei dem die Strafakte im Gegensatz zur Mehrzahl der vorhandenen Akten kaum ausgedünnt worden ist, soll exemplarisch der Gang der Ermittlung und des Strafverfahrens dargestellt werden. Es handelt sich bei dem folgenden Beispiel um schweren Diebstahl und damit verbunden Hehlerei. Das ist insofern vorteilhaft, da Diebstahl eines der Hauptdelikte Jugendlicher war, welche vor der Ulmer Strafkammer verhandelt wurden. 452 Das Beispiel kann demnach repräsentativen Charakter für sich beanspruchen. a. Von der Entdeckung der Straftat bis zur ersten richterlichen Vernehmung Aus einem im Rangierbahnhof Ulm-Söflingen über Nacht stehenden Güterzug waren im Sommer 1918 für den Heeresbedarf bestimmte Textilien gestohlen worden. Ein Eisenbahnobersekretär erstattete deswegen beim Stadtpolizeiamt Ulm Anzeige und präsentierte den zuständigen Fahndern gleichzeitig einen Verdächtigen. Denn zu den fünf Stationsarbeitern, die am Haltegleis des Zuges Dienst leisteten, gehörte Karl W., welcher dem Eisenbahnobersekretär „nicht ganz einwandfrei“ vorkam. Ein Fahnder der Stadtpolizei verhörte den Beschuldigten daraufhin in dessen Wohnung und durchsuchte diese nach den gestohlenen Gegenständen, wurde aber nicht fündig. 453 Trotzdem nahm er am 24. Juli, zwölf Tage nach der Anzeige, die Personalien des Stationsarbeiters auf. 454 In diesem Fall war es also eine konkrete Anzeige von Betroffenen, durch welche die Polizei von einer Straftat erfuhr. Erst daraufhin wurden die Er- 452 Siehe Punkt VI.5.a. 453 Vgl. Meldung des Stadtpolizeiamtes Ulm an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 24.7.1918, Anzeige gegen unbekannten Täter, StAL E 350a, Bü 1137. 454 Vgl. Bogen zu den Personalien von Karl W. vom 24.7.1918, in StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="119"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 120 mittler aktiv und gingen zunächst dem vage geäußerten und durch persönliche Aversionen eines Vorgesetzten begründeten Verdacht nach. Als sich dieser als unbegründet erwies und weitere Nachforschungen ohne greifbares Ergebnis blieben, erstattete die Stadtpolizei schließlich zwölf Tage nach der Anzeige der Staatsanwaltschaft Ulm Bericht. Diese forderte ihre Hilfsbeamten zu weitergehenden Recherchen auf. 455 Damit war nun durch die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. 456 Von nun an galt unbestritten das Legalitätsprinzip, mit allen unausweichlich folgenden weiteren Schritten. Ein weiterer Fall aus dem Jahre 1912/ 13 bestätigt, dass die Initiative für polizeiliche Ermittlungsarbeit von den durch die Straftat Geschädigten selbst ausging. Die Post in Göppingen machte mit einem Schreiben vom 21.Oktober 1912 die Staatsanwaltschaft in Ulm auf den Diebstahl von Geldbehältern aus der Ottenbacher Telegraphenhilfsdienststelle aufmerksam. Mit einer Anmerkung vom 22. Oktober an diesem Schreiben veranlasste der zuständige Staatsanwalt das weitere ermittlungstechnische Vorgehen der Polizei, nämlich die Fahndung nach den Tätern. Außerdem forderte er weitere Meldungen ein. 457 So instruiert suchte ein Landjäger der Station in Göppingen die Telegraphenhilfsstelle in einem Metzgerladen auf. Aufgrund der Befragung des geschädigten Metzgers zum Vorfall erstattete dieser Anzeige. Er beschrieb dem Landjäger den Vorfall, der sich seiner Vermutung nach schon am 17. Oktober ereignet hatte, den er aber erst später bemerkte. Gleichzeitig präsentierte er dem Landjäger mehrere Verdächtige. Die von ihm gemeldeten und angezeigten Männer, welche im Polizeiprotokoll verächtlich „diese Burschen“ genannt werden, erschienen dem Bestohlenen deshalb verdächtig, weil sie sich arbeitslos in der Umgebung herumtrieben, im Heu nächtigten und angeblich schon bei mehreren Bauern Lebens- und Genussmittel entwendet hätten. 458 Sein Verdacht galt also Personen, die einem der zeitgenössisch virulenten Stereotypen eines Verbrechers, dem arbeitslosen „Herumtreiber“, entsprachen. Andere Personen, die als Täter infrage kämen, konnte 455 Vgl. Meldung des Stadtpolizeiamtes Ulm an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 24.7.1918, Anzeige gegen unbekannten Täter, Randvermerk der Staatsanwaltschaft für das weitere Vorgehen, StAL E 350a, Bü 1137. 456 Vgl. Belling, Strafprozeßrecht, S. 183 f. 457 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Postamt Göppingen an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 21.10.1912 und handschriftliche Anmerkungen des Staatsanwaltes vom 22.10.1912, StAL E 350a, Bü 804. 458 Vgl. Kgl. Landjäger-Corps Bezirk Nr. II, Station Göppingen, Anzeige gegen Karl S. u. 2 Genossen wegen Verdachts des schweren Diebstahls, Göppingen, den 22.10.1912, an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm, StAL E 350a, Bü 804. <?page no="120"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 121 sich der Metzger nicht vorstellen. „Wenn jemand bei dem Diebstahl in Betracht kommt, so können es nur diese 3 Burschen sein“ 459 , zitierte ihn der Landjäger scheinbar wörtlich in seinem Protokoll. Der ermittelnde Landjäger übernahm die Argumentation des Geschädigten und stellte keine eigenständigen Nachforschungen an, die die Beschuldigten unter Umständen entlastet hätten, sondern konzentrierte sich darauf, diese dingfest zu machen. 460 Hier offenbart sich die übliche Vorgehensweise sowohl der Ortspolizeibehörden als auch der Landjäger bei Standardkriminalität. Die Geschädigten lieferten den Ermittlungsbehörden selbst aufgrund ihrer Einschätzungen Tatverdächtige und lenkten so die Ermittlungen - zunächst - in eine bestimmte Richtung. Dabei spielten die verbreiteten Stereotypen über sich abweichend verhaltende Personen eine wichtige Rolle. Auch in einem Verfahren wegen Urkundenfälschung und anderer Delikte verdächtigte eine der Geschädigten ihre Nachbarin auf Grund stereotyper Wahrnehmungen. Die Nachbarin habe angeblich ihr Sparbuch entwendet und anschließend 100 Mark unrechtmäßig abgehoben, da sie „verschwenderisch sei u. ihr Geld für unnütze Sachen ausgebe“, wie die Zeugin laut Urteil zu Protokoll gegeben haben soll. 461 Zwar konnte die durch Stereotypen beeinflusste Sichtweise einen Fokus auf Straftäter richten. Gleichwohl rückten auf diese Weise hauptsächlich bestimmte Tatverdächtige ins Blickfeld der Ermittler, so dass die selektive Wahrnehmung auch eine Selektion der Personen, die der Begehung einer Straftat überführt wurden, bedingte. Wie bei der Vorgehensweise des Göppinger Oberamtes zeigt sich hier Selektionslabeling im Umgang mit Kriminalität und Kriminellen. Nicht von ungefähr lag der Anteil von ungelernt tätigen Jugendlichen unter den Angeklagten besonders hoch, wie später gezeigt wird. Auch beschuldigte oder angeklagte Jugendliche selbst griffen auf altbekannte Bilder zurück, um sich selbst zu entlasten. Auf diese Weise instrumentalisierten sie das Verhalten Erwachsener, deren Verbrechensvorstellungen von Klischees mitgeprägt wurden. Außerdem weist diese Taktik darauf hin, dass diese Klischees selbstverständlich auch unter den angeklagten Jugendlichen verbreitet waren. Ein wegen mehrfachen Diebstahls angeklagter Junge verwies vor Gericht darauf, bei einem der ihm vorgeworfenen Einbruchsdiebstähle sei ein „Zigeuner“ dabei gewesen. 462 Auf diese Art und 459 Ebd. 460 Vgl. ebd. 461 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 17.7.1916 gegen Viktoria S. und Franz S., StAL E 350a, Bü 199. 462 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.1.1917 gegen Mathäus E., StAL E 350a, Bü 917. <?page no="121"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 122 Weise versuchte er, sich der alleinigen Verantwortung für die ihm vorgeworfenen Taten zu entziehen. Zur höchst unbeliebten Bevölkerungsgruppe der „Zigeuner“ merkte Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1908 an: „Ihren Unterhalt erwerben sie sich am liebsten durch Betteln und Stehlen, betrügerische Viehkuren u. dgl., doch sind sie geschickte Schmiede in Eisen und Kupfer, Kesselflicker, Drahtflechter, Holzschnitzer u. a., Goldwäscher, Pferde- und Viehhändler, die alten Frauen sind Wahrsagerinnen, die jungen Mädchen vortreffliche Tänzerinnen.“ 463 Trotz ihrer handwerklichen Kompetenzen stellten sie ihre ökonomische Existenzgrundlage lieber auf illegalem Wege sicher, so suggeriert es der Artikel. Zumindest die Männer wären aus dieser Perspektive zur Deckung des Lebensunterhaltes mit Hilfe „ehrlicher Arbeit“ in der Lage gewesen, bei den Frauen sah dies anders aus. Ihre Qualitäten erschienen nach Maßgabe der bürgerlichen Moral eher zweifelhaft. Wenn die „Zigeuner“ demnach ein Volk - denn als ein solches stellt sie der Lexikonartikel dar - von verbrecherisch handelnden Individuen zu sein schien, dann nicht aufgrund ökonomischer Bedrängnis, sondern aus Faulheit. Sie werden jedoch als „Rasse“ hier nicht komplett abgewertet, das Standardnachschlagewerk bescheinigt ihnen, sie seien „meist mittelgroß, schlank, von schöner Muskulatur der Schultern, Arme und Beine […]“, „der Mund fein mit schönen, geradestehenden weißen Zähnen“ 464 - mithin nicht körperlich „degeneriert“. Ob man sie dagegen als geistig erblich belastet einstufte, geht aus dem Lexikonartikel nicht hervor, so dass die tieferen Ursachen ihres scheinbaren Hanges zu kriminellen Aktivitäten im Dunkeln bleiben. Dennoch galten sie als latent kriminell. Wenn zudem behauptet wird, dass sie „keine gewohnheitsmäßigen Kinderräuber sind“ 465 , impliziert dies doch die potentielle Möglichkeit eines solchen Verbrechens durch „Zigeuner“ und lenkt die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt. „Zigeuner“ waren in besonderer Weise dazu geeignet, als „Verbrecher“ präsentiert zu werden. Bei einem „Zigeuner“ kam es nicht so sehr darauf an, der Person als Individuum schuldhaftes Verhalten nachzuweisen. Es bestand vielmehr allen „Zigeunern“ gegenüber ein Generalverdacht, in einem übertragenen Sinne war die Beweislast umgedreht. Für den Jungen lag es nahe, als angeblichen Mittäter einen „Zigeuner“ zu präsentieren. Dass das Gericht ihm letztendlich nicht glaubte, lag weniger an 463 Artikel „Zigeuner“, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon 20, S. 926. 464 Ebd. 465 Ebd. <?page no="122"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 123 dessen Unvoreingenommenheit „Zigeunern“ gegenüber. Vielmehr fand es keinen Anhaltspunkt dafür, von einem weitern Täter auszugehen. 466 Im Fall des eingangs schon geschilderten Diebstahls auf dem Bahngelände in Ulm 1918 konnte die Polizei vier Tage nach ihrem ersten Bericht an die Staatsanwaltschaft dieser drei der abschließend auch abgeurteilten Täter präsentieren, darunter den sechzehnjährigen Ankuppler Franz A. Der ursprünglich verdächtigte Karl W. war nicht mehr darunter. Nun ging es auch hauptsächlich um Diebstähle ab dem 26. Juli. Der Fahnder gab nur an, was er in Erfahrung gebracht, allerdings nicht, wie er dies bewerkstelligt hatte. Die Beschuldigten hätten zugeschnittene Stoffe aus Eisenbahntransportgutdiebstählen in verschiedenen Ulmer Wirtshäusern zum Verkauf angeboten. Wieder durchsuchte die Polizei Wohnungen, auch bei Abwesenheit ihrer Bewohner. Sie nahm die Verdächtigen in und vor ihren Wohnungen sowie einen der Beschuldigten in einem Wirtshaus fest. Es finden sich im Bericht keine Angaben darüber, ob sich einer der Verdächtigen gewehrt hat. Bei ihren Nachforschungen und den Festnahmen gingen die Fahnder entweder alleine oder zu zweit vor. 467 Taktik der Beschuldigten im Umgang mit der Polizei war es nun, die ihnen zur Last gelegten Taten teilweise einzuräumen und teilweise zu leugnen. Dabei schoben sie die Schuld jeweils den Mitbeschuldigten zu. Eine andere Taktik war, für sich selbst entlastende Handlungsweisen retrospektiv zu konstruieren. Franz A. gab an, er habe versucht, die anderen vom Aufbrechen des Güterwagens abzuhalten. 468 Sie gaben das zu, von dem sie annahmen, die Ermittler könnten es ihnen nachweisen, und schoben die Verantwortung darüber hinaus an die Mitbeschuldigten weiter. Es gab demnach mehr als zwei Versionen der Geschehnisse. Nicht nur die Strafverfolgungsinstanzen und die Beschuldigten konnten jeweils „konkurrierende Wahrheiten“ von den betreffenden Vorfällen haben, sondern auch die Beschuldigten untereinander. Sie verfolgten keine gemeinsame Verteidigungsstrategie, sondern individuell das Ziel, sich selbst zu entlasten. Dadurch zogen sie Grenzen zwischen sich und den jeweils anderen Beschuldigten. Es handelt sich um eine partielle Annäherung an die Strafverfolgungsinstanzen bei gleichzeitiger Abgrenzung von anderen Personen in der gleichen Situation. Die Angaben der Beschuldigten in diesem Bericht waren noch nicht vollständig in die Sprache der Justiz transformiert worden. Darauf weisen For- 466 Vgl. Urteil gegen Mathäus E., StAL E 350a, Bü 917. 467 Vgl. Meldung des Stadtpolizeiamtes Ulm an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm (Rückvorlage) vom 28.7.1918 in der Strafsache gegen unbekannten Täter, A., S. u. E. wegen schwerem Diebstahl, StAL E 350a, Bü 1137. 468 Vgl. ebd. <?page no="123"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 124 mulierungen hin wie die, dass die anderen Beschuldigten „den Stoff […] geraubt“ hätten. 469 Es handelte sich hier nach strafrechtlichen Kategorien jedoch um schweren Diebstahl und keineswegs um Raub. Die Formulierung, etwas zu rauben, konnte alltagssprachlich gleichwohl auch Diebstahl meinen. Die Sprache der Justiz war nicht die Sprache der Verdächtigen, diese zeigt sich hauptsächlich am Anfang der Ermittlungen. Je weiter fortgeschritten das Strafverfahren, desto normierter war auch die Aktensprache. Die Aussagen der Vernommenen wurden mehr und mehr in die Schablonen des strafrechtlich normierten Sprachgebrauches eingefügt. 470 Am Tag der polizeilichen Vernehmungen stellte die Polizei Anzeige gegen die Beschuldigten. Aus der Anzeige geht hervor, dass auch die jetzt zur Anzeige kommenden Diebstählen ab dem 26. Juli vom Bahnpersonal bemerkt und gemeldet wurden, woraufhin die Polizei ihre Ermittlungen aufnahm. 471 Einen Tag später, am 29. Juli, vernahm ein Amtsrichter die Beschuldigten. Er leistete in diesem Ermittlungsverfahren dem Staatsanwalt Hilfe, seine Eigenschaft war die eines Ermittlungsrichters. 472 Die Anordnung von Untersuchungshaft konnte beispielsweise nicht der Staatsanwalt selbst veranlassen, diese Kompetenz stand dem Ermittlungsrichter zu. 473 Das Protokoll zitiert Franz A.: „Ich bestreite, dass ich mich mit St. und E. zur fortgesetzten Begehung von Diebstählen verbunden hätte.“ 474 Hier zeigt sich die oben erwähnte Normierung, also letztendlich Umformulierung der Sprache der Beschuldigten in eine Ausdrucksweise des Strafrechts, besonders deutlich. Kein sechzehnjähriger ungelernter Ankuppler hätte seine Rechtfertigung in dieser formelhaften Art und Weise vorbringen können. Auch der vermutlich vorhandene schwäbische Dialekt verschwand in Folge der Verschriftlichung. Im Laufe der Ermittlungen und daran anschließend des Strafverfahrens vereinheitlichte sich die protokollierte Ausdrucksweise immer stärker. Ein Grund dafür war auch, dass der Grad der Internalisierung dieser juristischen Ausdrucksweise bei den Richtern höher war als bei den Polizisten. Die Polizisten befanden sich noch an der Schnittstelle zwischen dem Lebensalltag der Beschuldigten und der Sphäre der Jurisprudenz. Die Richter hingegen, die nicht 469 Vgl. Meldung Stadtpolizeiamt Ulm, StAL E 350a, Bü 1137. 470 Eine detaillierte Kategorisierung der verschiedenen Ebenen strafprozessualer Akteure und Handlungen für Verfahren mit Beschuldigten aus einem dörflichen Umfeld findet sich bei Schulte, Dorf im Verhör, S. 25 ff. 471 Vgl. Anzeige des Stadtpolizeiamtes Ulm vom 28.7.1918 gegen 1. Emil S., 2. Eugen E., 3. Franz A. wegen gemeinschaftlich verübtem Diebstahl, StAL E 350a, Bü 1137. 472 Vgl. Belling, Strafprozeßrecht, S. 184. 473 Vgl. § 114 StPO. 474 Vernehmungsprotokoll des Kgl. Amtsgerichtes Ulm vom 29.7.1918 in der Anzeigensache gegen Eugen E., StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="124"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 125 mehr im unmittelbaren Lebensumfeld ihrer Gegenüber recherchierten, befanden sich außerhalb des jugendlichen Lebensalltags. 475 Dazu kommt die unterschiedliche Stellung von Polizisten und Richtern in der sozialen Hierarchie der wilhelminischen Gesellschaft. Beide gehörten zwar zur Mittelschicht, während Polizisten aber eher dem kleinbürgerlichen Milieu entstammten, zählten Richter zum Bildungsbürgertum. 476 Die nach Paragraph 56 des Reichsstrafgesetzbuches erforderliche Prüfung der Einsichtserfordernis jugendlicher Verdächtiger nahm bei Franz A. zum ersten Mal der Ermittlungsrichter vor. Aus den von den Fahndern verfassten Unterlagen geht nichts dergleichen hervor. Für die amtsrichterliche Vernehmung von A., dem minderjährigen Beschuldigten, ist hingegen protokolliert: „Ich weiß selbstverständlich, dass man nicht stehlen darf.“ 477 Er musste also vom Amtsrichter explizit danach gefragt worden sein, was den Erfordernissen der Prüfung genügte. Die Kritikpunkte vieler Juristen an dieser simplen Vorgehensweise wurden bereits dargestellt. Gegen die drei des Diebstahls Beschuldigten verhängte der Amtsrichter Untersuchungshaft, da aufgrund der Vorwürfe, die ein Verbrechen zum Gegenstand hatten, Fluchtgefahr bestünde. Sie wurden auch des ersten Diebstahls beschuldigt, wenngleich die Verdächtigen selbst diesen bestritten. 478 b. Von der ersten richterlichen Vernehmung bis zur Anklageerhebung Im Anschluss daran weitete die Polizei ihre Ermittlungen auf die Käufer der gestohlenen Sachen aus. Da diese teilweise größere Mengen Kleidung gekauft hatten - etwa sieben Paar Handschuhe - welche über den Eigenbedarf hinauswiesen, lag die Vermutung nahe, es handele sich um Einkäufe für den Schwarzmarkt. Der Staatsanwalt forderte das weitere polizeiliche Vorgehen ein, indem er dies handschriftlich an der Meldung der Fahnder vermerkte. Sie sollten die neuen Verdächtigen, die die Sachen gekauft hatten, wegen Hehlerei vernehmen, da es ihnen doch aufgefallen sein müsste, dass sie militärische 475 Vgl. dazu Leuenberger, Kriminalisierung, S. 134 f. 476 Vgl. zur Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie Pohl, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 48 und 53. Siehe auch Trox, Bürger in Ulm, S. 183 f. 477 Vernehmungsprotokoll des Kgl. Amtsgerichtes Ulm vom 29.7.1918 in der Anzeigensache gegen Eugen E., StAL E 350a, Bü 1137. 478 Vgl. ebd. <?page no="125"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 126 Gegenstände erworben hätten. 479 Dieser Aufforderung kam die Stadtpolizei Mitte August nach, als sie zwei weitere erwachsene Verdächtige, Erhard Sch. und Alois H., wegen des von ihnen angeblich gekauften Diebesgutes vernahmen. 480 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Polizei die Ermittlung recht autonom gestalten konnte. Sie erstattete regelmäßig Bericht an die zuständige Staatsanwaltschaft, welche keinerlei Einwände geltend machte und die Fahnder gewähren ließ. In zwei Fällen wies die Staatsanwaltschaft auf die gewünschte weitere Vorgehensweise hin. Wenn in anderen Gemeinden Hausdurchsuchungen vorgenommen werden mussten, kooperierte die Stadtpolizei mit den örtlichen Strafverfolgungsbehörden, beispielsweise mit dem Landjägerposten in Kleinsüßen. Die dortigen Landjäger übernahmen eine Durchsuchungen anstelle ihrer Ulmer Kollegen. 481 Darüber hinaus scheinen die Fahnder wenig Eigeninitiative gezeigt zu haben, ihre Vorgehensweise erschöpfte sich darin, Hinweisen aus der Bevölkerung oder der Beschuldigten nachzugehen und weitere im Zuge der Vernehmung auftauchende Personen zu befragen und davon Berichte anzufertigen. Die beiden hauptsächlich mit der Ermittlungsarbeit betrauten Fahnder des Stadtpolizeiamtes Ulm waren zu diesem Zeitpunkt beide 45 Jahre alt. 482 Sie standen demnach mitten im Berufsleben. Wenn ihre „Eigeninitiativlosigkeit“ nicht dem üblichen kriminalpolizeilichen Vorgehen entsprach, lag es vielleicht daran, dass sie keine besonderen Aufstiegsmöglichkeiten hatten und der Elan des Berufsanfangs sich gelegt hatte. Ein anderer Grund könnte kriegsbedingte Arbeitsüberlastung gewesen sein, da vermutlich viele Kollegen eingezogen worden waren und für die Ermittlungsarbeit nicht zur Verfügung standen. Roger Chickering hat für Freiburg gezeigt, dass gerade Ermittler - im Falle der württembergischen Stadtpolizeibehörden die Fahnder - zum Kriegsdienst herangezogen wurden. Im Vergleich zu den Ermittlern nahmen die übrigen Schutzmänner wichtigere Funktionen an der „Heimatfront“ wahr. 483 Dazu zählten die Sicherung der Kriegswirtschaft und ähnliches. 479 Vgl. Meldung des Stadtpolizeiamtes Ulm vom 30.7.1918 in der Strafsache gegen A., E. und S. wegen schwerem Diebstahl, StAL E 350a, Bü 1137. 480 Vgl. Meldung des Stadtpolizeiamtes Ulm vom 12.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 481 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Landjägerkorps in Kleinsüßen an das Kgl. Amtsgericht Ulm vom 29.7.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 482 Vgl. Angaben zu den Fahnder im Protokoll der Verhandlung der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm am 12.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 483 Vgl. Chickering, Great War, S. 520. <?page no="126"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 127 Nachdem die Verdächtigen in Untersuchungshaft eingewiesen worden waren und die neuen Erkenntnisse vorlagen, beantragte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht eine Haftfristverlängerung, um die öffentliche Klage vorbereiten zu können. Diese wurde bewilligt. 484 Zur Vorbereitung holte die Staatsanwaltschaft beim jeweils zuständigen Schultheißamt der Heimatgemeinde Erkundigungen über den bisherigen Lebenswandel der Verdächtigen ein. Dazu gehörte auch ein Auszug aus dem Strafregister. Der siebzehnjährige Franz A. war nicht vorbestraft, hatte wie seine Eltern einen guten Leumund und keinerlei Vermögen. Er war Halbwaise, seine Mutter war bereits tot. 485 Weiterhin beauftrage die Staatsanwaltschaft die Jugendgerichtshilfe damit, Informationen über Franz A. einzuholen. Aus den Angaben der Jugendgerichtshilfe zu Franz A. geht hervor, dass sein Vater, ein Maurermeister, seit Beginn des Krieges eingerückt war, stationiert allerdings die meiste Zeit in Ulm. Wie erwähnt lebte die Mutter nicht mehr, acht Geschwister teilten mit Franz A. das Schicksal, Halbwaisen zu sein. Franz A. wäre somit Paradebeispiel eines wegen Abwesenheit der männlichen Autoritätsperson und sonstigen Aufsichtsmangels während des Krieges langsam sozial verwahrlosenden und schließlich vollends eine kriminelle Karriere beginnenden männlichen Problemjugendlichen, wie von Pädagogen, Juristen und Jugendkundlern der Zeit mantragleich beschworen. 486 Die Realität war weniger holzschnittartig. Bis zum Abgang aus der Schule 1915 waren bei Franz A. weder Fleiß noch Schulbesuch oder seine sittliche Führung zu beanstanden, alles war „sehr gut“, genau wie seine bisherige außerschulische Führung. 487 Die Jugendgerichtshilfe in Ulm musste bei ihren Nachforschungen bezüglich der wahrscheinlichen Ursachen des Fehltritts ratlos feststellen: „A. war stets ordentlich, ruhig u. fleißig. Sein Vergehen ist dem Heimatpfarrer unbegreiflich.“ 488 Da sich A. beim Besuch von Mitarbeitern der Jugendgerichtshilfe in der Untersuchungshaft „reumütig“ gezeigt und offensichtlich insgesamt einen guten Eindruck hinterlassen hatte, empfahl die Jugendge- 484 Vgl. Antrag auf Haftfristverlängerung an das Kgl. Amtsgericht Ulm der Staatsanwaltschaft vom 31.07.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 485 Vgl. Auszug aus dem Strafregister (Schultheißamt Markbronn) für Franz Andreas A., Vermögenszeugnis, Leumund u. s. w. (Formular der Kgl. Staatsanwaltschaft), StAL E 350a, Bü 1137. 486 Vgl. für die Sichtweise von Pädagogen und Jugendkundlern Bornhorst, Jugendverwahrlosung, bes. S. 41-50. Siehe zur Sicht der Juristen und der Jugendgerichtshilfe ausführlicher Punkt VIII.2.a und b. 487 Vgl. Mitteilungen der Jugendgerichtshilfe Ulm über Franz A. an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 10.8.1918, StAL E 350a Bü 1137. 488 Ebd. <?page no="127"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 128 richtshilfe der Staatsanwaltschaft, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen und nur bedingt zu bestrafen - ein Vorschlag ohne Aussicht auf Verwirklichung. Denn die Staatsanwaltschaft hatte nicht die Befugnis, den Beschuldigten bedingt zu bestrafen und den Automatismus des einmal in Gang gesetzten Verfahrens zu durchbrechen. Zur Untermauerung des Vorschlags führte die Jugendgerichtshilfe an, man habe bereits einen zukünftigen Arbeitgeber, die Königliche Bahnmeisterei in Ulm, für die Zeit unmittelbar nach der Entlassung gefunden. 489 Die Jugendgerichtshilfe war offenkundig sehr darum bemüht, für geeignete, als „resozialisierbar“ erscheinende jugendliche Delinquenten ein Umfeld zu schaffen, in dem diese ein gesetzestreues Leben führen konnten. Um die Verdächtigen im Falle einer Flucht aus der Untersuchungshaft zur Fahndung ausschreiben zu können, fertigten die Behörden Gestaltbeschreibungen an. 490 Allerdings geschah dies offenbar nur bei Franz A. und Emil S.; Eugen E. war aufgrund einer Syphiliserkrankung aus der Untersuchungshaft in ein Krankenhaus verlegt worden. 491 Man verfuhr bei der systematischen Erfassung von Verdächtigen demnach eher nachlässig. Dabei bemühten sich Kriminalisten seit Ende des 19. Jahrhunderts, Verbrecher nach körperlichen, also biologischen Merkmalen zunächst zu erfassen und schließlich zu systematisieren. 492 Die Beschreibungen von Franz A. und Emil S. waren jedoch sehr rudimentär und entsprachen nicht den hohen Standards der Bertillon’schen Erfassung anthropometrischer Merkmale. 493 Die Verdächtigen selbst zeigten ein unterschiedliches Maß an Eigeninitiative. Vor seiner krankheitsbedingten Entlassung aus der Untersuchungshaft hatte Eugen E. bereits den Versuch unternommen, der Haft zu entgehen. Er erklärte: „Ich möchte lieber wieder einrücken, als hier in Untersuchungshaft sitzen. Ich habe auch durchaus nicht die Absicht, mich der Strafe zu entziehen und flüchtig zu werden, sondern möchte wieder ins Feld.“ 494 489 Vgl. ebd. 490 Vgl. Gestaltsbezeichnungen von Franz A. und Emil S. vom 2.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 491 Vgl. Anweisung der Gerichtsschreiberei vom 2.8.1918 aufgrund eines medizinischen Attestes, E. dem Stadtpolizeiamt zu übergeben, StAL E 350a, Bü 1137. 492 Vgl. Becker, Bestie. 493 Vgl. ebd., S. 123; und Regener, Fotographische Erfassung, S.133 f. 494 Erklärung Eugen E.s vom 31.7.1918, StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="128"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 129 Sein Anliegen lehnte der Staatsanwalt noch am selben Tag ab. 495 Das Gesuch des Beschuldigten zeigt jedoch, dass er sich nicht passiv der Situation ergab, sondern mit seinen Mitteln versuchte, sie zu seinen Gunsten zu verändern. Nachdruck hoffte er seiner Bitte mit dem Wunsch, wieder an den Kampfhandlungen teilzunehmen, zu verleihen. Er stellte den Behörden damit in Aussicht, für das Gemeinwohl an der Front tätig zu werden. Diese Argumentation ist durchaus plausibel - trotz ihres Scheiterns. Sie bedient sich der Logik der Kriegsgesellschaft, nach der jeder seinen Teil zum angestrebten Sieg beitragen sollte. Wie verbreitet eine solche Argumentation war, wird an anderer Stelle noch zu zeigen sein. Einen Anwalt zur Unterstützung zog hingegen keiner der erwachsenen Beschuldigten zu Rate. Lediglich der minderjährige Franz A. erhielt einen Rechtsbeistand - am 15. August, drei Tage, bevor die Anzeigensache in ein gerichtliches Strafverfahren mündete. Sein Vater hatte zwei Ulmer Anwälte zur Verteidigung seines Sohnes bestellt. 496 Rechtsanwalt Mann bat am gleichen Tag schriftlich beim Untersuchungsrichter des Landgerichtes um die Zusendung der seinen Mandanten betreffenden Akten, „so bald sie entbehrlich sind“. Zu diesem Zeitpunkt waren sie es noch nicht, das verdeutlicht eine Anmerkung des Untersuchungsrichters am anwaltlichen Schreiben. 497 Einen Anspruch auf Akteneinsicht bestand für den Strafverteidiger nicht, diesen sicherte die Strafprozessordnung ihm erst nach Einreichung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft beim Gericht zu. 498 Ohne Kooperationsbereitschaft seitens des Gerichtes blieb daher nur, die Frist abzuwarten. c. Von der Anklageerhebung zur Gerichtsverhandlung Nach Abschluss der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erhob die Staatsanwaltschaft Ulm am 19. August Anklage gegen Emil S., Franz A. und Eugen E. wegen schweren Diebstahls sowie gegen Alois H. und Erhard Sch. wegen Hehlerei. Als Ergebnis der Ermittlungen hielt die Staatsanwaltschaft fest, Emil S., Eugen E., und Franz A. hätten den Diebstahl vom 495 Vgl. Anmerkung des Staatsanwaltes an der Erklärung Eugen E.s vom 31.7.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 496 Vgl. Vollmacht von Hans A. für die Rechtsanwälte Moos I u. Mann in Ulm vom 15.8.1918. Die römische Nummer hinter dem Namen von Moos rührt daher, dass am Landgericht Ulm insgesamt drei Rechtsanwälte gleichen (Nach-)Namens zugelassen waren, vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Hof- und Staatshandbuch, S. 45. 497 Vgl. Schreiben des Rechtsanwalts Mann an den Herrn Untersuchungsrichter des Kgl. Landgerichts Ulm vom 15.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 498 Vgl. StPO § 147. <?page no="129"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 130 26./ 27. Juli zugegeben, sie bestritten aber den Diebstahl vom 11./ 12. Juli. Ihre Schuld auch in diesem Falle belegten für die Staatsanwaltschaft der zugestandene Diebstahl und die ermittelte Tatsache, dass bei E. Diebesgut des ersten Diebstahls gefunden wurde. Zudem hätten alle drei gestohlene Wäschestücke in verschiedenen Wirtschaften verkauft. Man glaubte Franz A. seine Einwände, er habe dieses Diebesgut einem anderen auf der Straße abgekauft, nicht. Erhard Sch. und Alois H. hätten zugegeben, dass sie Diebesgut gekauft respektive im Falle Sch. auch veräußert hätten. 499 Den Vorwurf der Hehlerei begründete die Staatsanwaltschaft damit, es könne „angesichts der gegenwärtigen durch den Krieg bedingten Verhältnisse kein Zweifel bestehen, dass die Sachen nicht auf rechtmäßige Weise erworben sein konnten […].“ 500 Diese Argumentation, soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen, war während des Krieges typisch, um Käufern von großen Mengen und Mangelwaren Hehlerei nachzuweisen. Als Beweismittel wurden im folgenden Strafverfahren nur mündliche oder schriftliche Angaben der Angeklagten, der zwei Zeugen, der Fahnder der Stadtpolizei Ulm und, was den Wert der gestohlenen Gegenstände anging, der Königlichen Bekleidungsstelle in Ludwigsburg herangezogen. Andere Zeugenaussagen oder materielle Beweise spielten keine Rolle. 501 Wie in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, bei denen Jugendliche vor der Strafkammer standen, handelte es sich um Alltagskriminalität, welche von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht ohne größeren Aufwand bearbeitet werden konnte. Aufwendige kriminalistische Recherchen, psychiatrische Begutachtungen der Angeklagten und gerichtsmedizinische Untersuchungen bedurfte es bei dieser Standardkriminalität zumeist nicht. 502 Die Angeklagten hatten innerhalb einer dreitägigen Frist das Recht, eine gerichtliche Voruntersuchung oder einzelne Beweiserhebungen zu beantragen sowie Einwände gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen. 503 Von diesem Recht machte jedoch keiner der Angeklagten Gebrauch, sie enthielten sich entsprechender Mitteilungen an das Gericht, was als Verneinung gewertet wurde. 504 Lediglich Alois H. unternahm nach Fristablauf 499 Vgl. Anklageschrift der Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm gegen Emil S., Franz A., Eugen E., Alois H. und Erhard Sch. vom 19.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 500 Ebd. 501 Vgl. ebd. 502 Beispiel eines umfangreicheren Verfahrens ist die Strafakte von Michael G. (erwachsen), der unter Raubmordverdacht stand, vgl. StAL E 350a, Bü 2307. 503 Vgl. § 199 StPO. 504 Zustellungsurkunde der Anklageschrift vom 24.8.1918 an alle Angeklagte mit Anschreiben des Kgl. Landgerichtes Ulm betreffend einer Voruntersuchung, StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="130"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 131 den juristisch zum Scheitern verurteilten Versuch, einer Gerichtsverhandlung und der drohenden Verurteilung zu entkommen. Alois H. schrieb zwei Briefe an die Staatsanwaltschaft, in denen er beteuerte, er sei kein Hehler, beide tragen den Eingangsstempel vom 6. September. 505 Im zweiten Brief, auf die Rückseite der Ladung zur Hauptverhandlung vom 2. September geschrieben, heißt es verzweifelt: „Bitte ich bin kein Hehler da ich die Handschuhe u. s. w. von Sch. kaufte auf meine Frage die ich an Sch. stellte wo er die Ware herhabe gab er an u sagte, dort drunten habe ich es in einem Laden von einer Frau gekauft Zeuge Frau M. zum Goldenen Adler u die anderen 2 Männer habe ich für Hausierer gehalten, bitte die Hehlerei bei mir auszuschließen u mich u Frau M. als Zeugen zu benennen ergebenst Alois H. Käser“ 506 Aus Perspektive des Angeklagten H. bedeutete es einen konsequenten Schritt, so kurz vor dem Prozess noch einmal Anstrengungen zu unternehmen, diesem zu entgehen. Er ergab sich nicht in den Automatismus des nun folgenden Gerichtsverfahrens, sondern handelte - dass sein Schreiben letztendlich nutzlos war, konnte er als juristischer Laie nicht abschätzen. Der Brief zeigt jedoch auch, dass Strategien der Beschuldigten nur dann Erfolg haben konnten, wenn sie sich in die Formalien des Strafverfahrens einfügen ließen. Andere Taktiken liefen ins Leere, die Mitwirkungsmöglichkeiten aus eigenem Antrieb waren zu einem so weit fortgeschrittenen Zeitpunkt des Verfahrens minimal. Daher wanderte das Schreiben auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft ohne weitere Konsequenzen zu den Akten der Strafkammer. 507 Alois H. kam trotzdem glimpflich davon, da die Strafkammer ihn von den Vorwürfen freisprach - allerdings aufgrund der Bewertung aller Ermittlungsergebnisse und nicht dank seiner Beteuerung. 508 505 Vgl. Schreiben von Alois H. an die Kgl. Staatsanwaltschaft ohne Datum, auf die Rückseite des Formulars zur Mitteilung der Anklageschrift vom 24.8.1918, Eingangsstempel 6.9.1918 und Schreiben von Alois H. an die K. Staatsanwaltschaft ohne Datum, auf die Rückseite seiner Ladung vor die Strafkammer vom 2.9.1918, Eingangsstempel 6.9.1918; beide StAL E 350a, Bü 1137. 506 Schreiben von Alois H. vom 2.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 507 Vgl. Anmerkung der Kgl. Staatsanwaltschaft vom 10.9.1918 an das Schreiben von Alois H. an die Kgl. Staatsanwaltschaft ohne Datum, auf die Rückseite seiner Ladung vor die Strafkammer vom 2.9.1918, Eingangsstempel 6.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 508 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 12.9.1918 gegen Emil S. u. a., StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="131"?> IV. Von der Straftat zur Gerichtsverhandlung 132 Das Gericht hatte auf Basis der Anklageschrift den Beschluss zur Eröffnung der Hauptverhandlung gefasst und diese für den 12. September angesetzt. 509 Die Richter waren demnach aufgrund einer Prüfung der von der Staatsanwaltschaft zusammengetragenen Informationen und der daraus gebildeten Anklage zu dem Schluss gekommen, dass alle Prozess- und Strafklagevoraussetzungen erfüllt waren. 510 Die einzig verbliebene Möglichkeit der Angeklagten war nun, sich auf die Verhandlung einzustellen. Ob und wie dies geschah, blieb bei allen außer bei Franz A. undokumentiert. Für diesen übernahm sein Rechtsanwalt erneut die Initiative. Am 4. September bat er wieder um Akteneinsicht. 511 Diesmal bewilligte das Gericht sein Ersuchen, vier Tage später erhielt er die Akten für einen Tag zur Aktenansicht. 512 Eine ausgewogene Vorbereitung nur auf Basis der Akten war aufgrund dieses knappen Zeitfensters zur Einsichtnahme kaum möglich. Fast einen Monat nach Anklageerhebung, am 12. September 1918, fand schließlich der Prozess vor der Strafkammer des Landgerichts Ulm statt. 513 509 Vgl. Beschluss zur Eröffnung des Hauptverfahrens vom 26.8.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 510 Vgl. Belling, Strafprozeßrecht, S. 185. 511 Vgl. Schreiben von Rechtsanwalt Mann an die Ferienstrafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 512 Vgl. Empfangsbescheinigung zur Akteneinsicht (1 Tag) Rechtsanwalt Mann vom 8.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. 513 Vgl. Protokoll der Verhandlung der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm am 12.9.1918, StAL E 350a, Bü 1137. <?page no="132"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 1. Das Gerichtsgebäude Die Prozesse fanden im Landgerichtsgebäude in Ulm, erbaut zwischen 1894 und 1898, statt. Der imposante Sandsteinbau war im Stil der Neorenaissance gehalten, es handelt sich um ein Bauwerk des Historismus. 514 Historistische Kunst und damit auch Architektur hatte den Anspruch, normativ zu sein. 515 Bauwerke dieses Stils drückten bestimmte Werte aus. Sie verkörperten ein Sendungsbewusstsein, welches weit über funktionale Aspekte eines Gebäudes hinauswies. Auf diese Art und Weise sollte historistische Architektur in einem Zeitalter beschleunigten gesellschaftlichen Wandels „den Zerfall traditioneller Werte durch eine Orientierung an der Geschichte“ abfedern und neutralisieren. 516 Gerade bei Gerichtsgebäuden ist dies evident, interpretierte man bestimmte Ausformungen von Kriminalität und deren Anstieg doch als Mangelerscheinungen moderner Gesellschaften. Das Gebäude des Landgerichtes sollte mithilfe seiner Gestaltung hinter seiner äußeren Hülle eine Botschaft vermitteln. Statuen auf der Attika stellten etwa die Tugenden Gottesfurcht, Standhaftigkeit, Friedfertigkeit, Wahrhaftigkeit, Weisheit und Besonnenheit dar. Sie versinnbildlichten die Eckpfeiler eines traditionellen normkonformen Lebens, orientiert auch an den Vorgaben der Religion. Diesen Tugenden könnten als Antipoden kriminellen Verhaltens Eigenschaften wie Verführbarkeit zu gesetzlosem Tun und Maßlosigkeit als Auslöser für Übergriffe auf fremdes Eigentum gegenübergestellt werden. Das Gerichtsgebäude als Hort der Rechtssprechung symbolisierten die den Haupteingang flankierenden Figuren der Göttinnen Dike und Themis. Dike verkörpert in der antiken griechischen Mythologie das menschliche, sich in der Rechtssprechung manifestierende Recht. 517 Demgegenüber steht Themis als Verkörperung des altgeheiligten, traditionellen „natürlichen“ Rechtes. 518 514 Im Gegensatz zur häufig architektonisch zitierten „nordischen“ Renaissance bezogen sich die Architekten des Landgerichtsgebäudes in Ulm auf die italienische Renaissance, vgl. zu diesen und anderen konkreten Angaben zum Gebäude Anonymus, Das Gerichtsgebäude. Die nordische Renaissance galt nach 1870/ 71 als deutscher Nationalstil, wenn auch nicht sklavisch lediglich diese Form verwendet wurde, vgl. Brix/ Steinhauser, Geschichte im Dienst der Baukunst, S. 269. 515 Vgl. Hardtwig, Traditionsbruch, S. 24. 516 Vgl. Brix/ Steinhauser, Geschichte im Dienst der Baukunst, S. 201 und 284. Das Zitat S. 201. 517 Vgl. Der neue Pauly 3, S. 570. 518 Vgl. Der neue Pauly 12/ I, S. 301. <?page no="133"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 134 Die Freitreppe schmückten zwei steinerne Löwen, die Wappentiere des Königreiches Württemberg. Im Namen seines jeweiligen Regenten wurde Recht gesprochen. Als roter Faden zieht sich die Koppelung eines übergreifenden Systems der Gerechtigkeit mit dem Recht der Herrscher, dem man sich zusätzlich respektive ergänzend zu unterwerfen hatte, durch die Symbolik. Bei einem Justizgebäude mit dieser Bildsprache ging es nicht lediglich darum, eine staatliche Institution möglichst zweckmäßig zu beherbergen. Dieser primäre Zweck leitete sich zunächst aus der Gerichtsverfassung ab und erforderte spezielle Bauformen. Die Gerichtsgebäude des kaiserlichen Deutschlands mussten etwa in ihren Sälen Platz für ein Publikum bieten, da Verhandlungen nach dem Öffentlichkeitsprinzip zu erfolgen hatten. 519 Über diese im Gebäude zu verwirklichenden praktischen Nutzungszwecke hinaus sollte die Architektur die Menschen ansprechen. Rechtschaffenen Bürgern sollte die Symbolik Mahnung und Ansporn für weiteres normkonformes und legales Verhalten sein; Rechtsbrechern demonstrierte sie die „Herrschaft des Rechts“ und wies sie deutlich in ihre Schranken. 520 Die Symbolhaftigkeit der Rechtsanwendung, wie sie in der Frühen Neuzeit in extremer Form bei öffentlichen Marterungen und Hinrichtungen ihren Ausdruck fand, findet sich also auf einer anderen Ebene auch in den Justizbauten des 19. Jahrhunderts. 521 Hier wurde nicht mehr das Strafen, sondern das Urteilen besonders symbolgeladen inszeniert. 522 Solche repräsentativen Justizbauten, teilweise regelrechte Justizpaläste, waren typische Produkte der Bauart des Kaiserreichs. Sie sollten den Autoritätsanspruch des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates demonstrieren - in seiner machtstaatlichen Ausformung. 523 Eine Vorreiterrolle in Europa, an der sich auch das Deutsche Reich orientierte, nahm dabei das wesentlich kleinere Nachbarland Belgien ein. In Brüssel entstand seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts der 1883 fertig gestellte Justizpalast, welcher alleine ob seines Umfanges seinesgleichen suchte. Der größte Monumentalbau des 19. Jahrhunderts - überbaut wurde eine Fläche von 25.000 qm - sollte durch seine „sprechende Architektur“ nicht nur funktionalen Aspekten genügen, sondern vielmehr die Rechtseinheit des erst 1830/ 31 mit der Fusion wallonischer und flämischer Landesteile gegründeten Staates Belgien symbolisieren 519 Vgl. Gephart, Versteinerte Rechtskultur, S. 410; sowie bezogen auf die innere Gestaltung des Münchner Justizpalastes Brix/ Steinhauser, Geschichte im Dienst, S. 204. 520 Zu den zwei Funktionen von Architektur vgl. Hort, Parlamentsarchitektur, S. 76 f. 521 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, exemplarisch S. 9-12, analysierend S. 46 f., 63-72. 522 Vgl. Schmoeckel, Verlorene Ordnung, S. 391. 523 Vgl. Raphael, Rechtskultur, S. 43 und 47. Siehe auch Gephardt, Versteinerte Rechtskultur, S. 414. <?page no="134"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 135 und dadurch erst mit erschaffen. 524 Noch bemerkenswerter erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Brüsseler Justizpalast auf einer Anhöhe direkt über dem Arbeiterviertel Quartier des Marolles erbaut wurde. Schätzungen zufolge mussten 900 Arbeiterfamilien dem Bau des Justizpalastes weichen, um genügend Baugrund zur Verfügung zu haben. 525 Der Justizpalast thronte als monumentales, fast monströses steinernes Disziplinierungssymbol drohend über den Wohnstätten der Arbeiterschicht. Gerade diese Bevölkerungsgruppe erschien anfällig für kriminelles und anderweitig abweichendes Verhalten. Die bedeutendsten Repräsentativbauten der deutschen Justiz waren das Reichsgericht in Leipzig, erbaut 1888 bis 1895 in einer historistischen Stilmixtur, und der neobarocke Münchner Justizpalast, dessen Bauzeit sich auf die Jahre von 1891 bis 1897 erstreckte. 526 Welche große Bedeutung der Architektur als „Sprache der Macht“ im Kaiserreich zukam, erkennt man darüber hinaus am Verhalten des Staatsoberhauptes. Wilhelm II. griff persönlich in zahlreiche Bauprojekte ein. Bis 1904 bestimmte er als preußischer König und deutscher Kaiser maßgeblich die Gestaltung von über 160 Regierungsgebäuden Preußens und des Reiches mit. 527 Die Symbolik der Fassaden der Gerichtsgebäude fand im Innern in der Einrichtung der Gerichtssäle ihre Fortsetzung. Richter und Staatsanwälte saßen erhöht und schauten sinnbildlich auf die vor den Schranken ihres Gerichts stehenden Delinquenten herab. Die Hierarchie der Akteure eines Strafprozesses war überaus deutlich durch die innenarchitektonische Gestaltung in den Verhandlungssaal eingeflossen. Die Gerichtsgebäude des Kaiserreiches boten eine geeignete Bühne für die Inszenierung staatlicher Autorität durch Strafprozesse. In diesem Rahmen traten die Strafrichter und Staatsanwälte des Landgerichtes Ulm den delinquenten Jugendlichen als Repräsentanten staatlicher Autorität entgegen. Sie waren an ihrer Berufskleidung, der Robe, zu erkennen. Die Robe verlieh ihnen den notwendigen honorigen Habitus, vereinheitlichte sie als Repräsentanten des Rechts und schuf darüber hinaus Distanz zu weiteren Akteuren eines Strafprozesses, den Zeugen und Angeklagten. Im Gegensatz zu den Juristen erschienen diese nicht in spezieller Berufsklei- 524 Vgl. Klemmer/ Wassermann/ Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, S. 35 ff. Die Autoren nennen als Jahr des Beginns der Bauarbeiten 1860. Diese Angabe ist nicht korrekt, tatsächlich datiert der Baubeginn auf das Jahr 1866, vgl. dazu Ranieri, Léopold II., S. 315. 525 Vgl. Krings, Innenstädte in Belgien, S. 91; sowie Loze, Palais de Justice, S.33. 526 Vgl. Klemmer/ Wassermann/ Wessel, Gerichtsgebäude, S. 62-82. 527 Vgl. Röhl, Wilhelm II., S. 991 f. <?page no="135"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 136 dung, sondern in Zivil - eine Ausnahme bildeten die ebenfalls mit Robe bekleideten Anwälte sowie Polizisten in Uniform. 528 2. Die Richter und Staatsanwälte am Landgericht Ulm Personell waren die Landgerichte im Kaiserreich mit einem Präsidenten und der je nach Größe des Gerichtes erforderlichen Anzahl von Landgerichtsdirektoren und Mitgliedern, also Richtern, besetzt. Seit 1909 konnten die einfachen Mitglieder auch Amtsrichter in einem Bezirk des Landgerichtes sein. 529 Das erklärt, warum neben Landrichtern auch Amtsrichter an den Verhandlungen beteiligt waren. 530 Das Personal des Landgerichtes Ulm setzte sich 1914 neben dem Präsidenten aus drei Landgerichtsdirektoren, acht Landgerichtsräten und acht Landrichtern zusammen. Die Staatsanwaltschaft am Landgericht bestand unter der Leitung des Oberstaatsanwaltes aus drei Staatsanwälten. Dazu kam das Personal von Gerichtsschreiberei und Kanzlei. 531 Die Strafkammer eines Landgerichtes bestand aus einem Richterkollegium mit einem Vorsitzenden Richter und vier weiteren Richtern. Die fünf beteiligten Richter waren gleichberechtigt, was ihr Votum für das zu fällende Urteil anging. Der Vorsitzende nahm dennoch eine herausragende Position ein, da er die Verhandlung leitete, die Angeklagten vernahm und maßgeblich für die Zeugenbefragung zuständig war. 532 Die Beisitzer konnten auf ihr Verlangen hin Zeugen und Sachverständige befragen, dies musste ihnen der Vorsitzende gestatten. Gleiches galt für die Angeklagten oder ihre Verteidiger sowie den Staatsanwalt. 533 Staatsanwälte waren in Württemberg verbeamtete Juristen, die die Befähigung zum Richteramt hatten. 534 Daher vertraten in den Prozessen auch Amts- 528 Vgl. für das Beispiel Berlin-Moabit Hett, Death, S. 16 und 31. 529 Vgl. § 58 GVG. 530 Vgl. die Angaben zu den Richtern in den Urteilen, StAL E 350a; die Liste der Strafakten siehe Anhang. 531 Vgl. Kgl. Stat. Landesamt, Hof- und Staatshandbuch, S. 41. Wesentlich kleiner war beispielsweise das Landgericht in Hall, vgl. ebd. 532 Vgl. § 237 StPO. Siehe auch Hett, Death, S. 24: „[T]he presiding judge (Vorsitzende) was the star of the show.“ 533 Vgl. § 239 StPO. 534 Vgl. Dehlinger, Württembergs Staatswesen 1, S. 398. <?page no="136"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 137 richter als Beamte der Staatsanwaltschaft die Anklage. 535 Nur in sehr wenigen Fällen war der Leiter der Staatsanwaltschaft Ulm, Oberstaatsanwalt von Walser, selbst an Verhandlungen gegen Jugendliche beteiligt. 536 Zu diesen aktiv auf das Geschehen einwirkenden Personen kam als weiterer Prozessbeteiligter ein Gerichtsschreiber, der die Verhandlung protokollierte. Vom Vorsitzenden Richter über den Staatsanwalt bis hin zu den Gerichtsschreibern waren ausnahmslos Männer mit den Verfahren gegen Jugendliche betraut. 537 Frauen waren bis 1921 weder zum Vorbereitungsdienst noch zu den Prüfungen zum höheren Justizdienst und bis 1922 zum Richteramt zugelassen. 538 Zwar öffnete sich die Justiz unter dem Druck der Personalnot im Ersten Weltkrieg für Frauen, dies blieb jedoch auf die Geschäfte der Urkundsbeamten beschränkt und war nur für die Dauer des Krieges und die mit ihm verbundenen Einschränkungen vorgesehen. 539 Für die weiblichen Angeklagten potenzierte sich dadurch die ohnehin schon bestehende große Distanz zu den anderen Akteuren des Strafprozesses. Da die Richter selbst im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der Angeklagten aus dem wohlhabenden Bürgertum des Kaiserreiches stammten, wies ihre Lebenserfahrung demnach mit einem Großteil der angeklagten Jugendlichen keine Schnittmenge auf. 540 Sie beurteilten die Lebensumstände und die Hintergründe der Tat als Außenstehende. a. Die soziale Stellung der Ulmer Justizjuristen Juristen blieben häufig innerhalb ihrer Herkunftsschicht. Zwischen 1890 und 1914 waren die Väter von 10,7 Prozent der Juristen selbst Juristen, 8,9 Prozent hatten Hochschullehrer zum Vater und 19,6 Prozent entstammten einem selbstständigen Akademikerhaushalt, etwa von Ärzten oder Rechtsanwälten. Mithin besaßen in der Vorkriegszeit knapp 40 Prozent der Juristen von Haus aus einen bildungsbürgerlichen Hintergrund. Weiterhin stellten mit 25 Pro- 535 Vgl. die Angaben zu dem jeweiligen Beamten der Staatsanwaltschaft in den Urteilen, StAL E 350a. 536 In sieben dokumentierten Gerichtsverhandlungen war er der Vertreter der Anklage, vgl. StAL E 350a Bü 866; 965; 1048; 1072; 1130; 1134; 5507. 537 Vgl. die Angaben zu den fünf Richtern, dem Beamten der Staatsanwaltschaft und dem Gerichtsschreiber in den Urteilen, StAL E 350a. 538 Vgl. Dehlinger, Württembergs Staatswesen 2, S. 1047. 539 Vgl. Claussen, Justizverwaltung, S. 465. 540 Vgl. Ormond, Richter im Kaiserreich, S. 90 f. Ormond vertritt die These, dass sich Richter im Kaiserreich weniger nach dem Leistungsprinzip als nach sozialen Kriterien für diese Profession qualifizierten. <?page no="137"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 138 zent die Söhne von kaufmännischen Gewerbetreibenden den größten Einzelprozentsatz. Immerhin 10,7 Prozent wuchsen als Söhne von Landwirten in einer bäuerlichen Umgebung auf - überwiegend vermutlich nicht kleinbäuerlich. Dagegen stammte kein Prozent der Juristen zwischen 1890 und 1914 aus der Arbeiterschicht. 541 Dieses allgemeine Bild bestätigt sich auch im Speziellen für das Personal des Landgerichtes Ulm. Zwei der Richter, über die Material vorliegt, hatten ebenfalls Justizjuristen zum Vater. Franz Bucher war Sohn eines Landgerichtsdirektors, Anton Sattler Sohn eines Landgerichtsrates. 542 Zwei weitere Richter heirateten im juristischen Milieu, Franz Oechsler die Tochter eines Staatsanwaltes und Eugen Kolb die Tochter eines Landgerichtsrates. 543 Neben den genannten juristischen Berufen der Väter fanden sich drei Kaufmänner, ein Fabrikant sowie ein Bauer, ehrenamtlich zusätzlich Schultheiß, und ein Privatier. Zwei Juristen hatten Lehrer zum Vater, davon einer mit dem Titel Professor an einer Realschule. 544 Schließlich nahm einer der Väter die Funktion eines Postinspektors ein. 545 Das berufliche Spektrum der Väter reichte demnach vom Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum über lokale Funktionseliten bis in landwirtschaftliche Berufe. Alle Juristen, für die diesbezüglich Aussagen getroffen werden können, kamen aus der Mittel- oder Oberschicht. 541 Vgl. Henning, Deutsche Beamtenschaft, S. 56 f. 542 Vgl. den Eintrag zu den persönlichen und Familienverhältnissen in der National-Liste des Landgerichtsrats Bucher in Ulm vom 25.7.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 149 und Angabe in der Personalkarteikarte Sattler, HStAS EA 4/ 150, Bü 974. 543 Vgl. zur Ehefrau Oechslers den Auszug aus dem Familienregister des Standesamt Biberach an der Riß, Band 29, Blatt 155, HStAS EA 4/ 150, Bü 841 und Angabe aus dem Personalbogen von Eugen Kolb, unterschrieben am 19.8.1949, HStAS EA 4/ 150, Bü 653. Der Name Oechsler wird in den Dokumenten unterschiedlich geschrieben, entweder Oechsler oder Öchsler. Da das Hauptstaatsarchiv Stuttgart den entsprechenden Akt unter Oechsler, Franz führt, wird im Text ebenfalls diese Schreibweise verwendet. 544 Lehrer: Theodor Schenk, siehe die entsprechende Angabe im Personal-Bogen des August Theodor Ferdinand Schenk, anerkannt 19.9.1916 (Abschrift), HStAS M 430/ 3, Bü 9725. Professor an der Realschule: Konstantin Wieland, siehe die entsprechende Angabe in der Nationalliste des Gerichtsassessors C. Wieland in Ulm vom 12. Oktober 1918, 11. Oktober 1919, 28. Februar 1920, HStAS EA 4/ 150, Bü 1303. Ausgeschrieben führt die Nationalliste ihn als „Konstantin“, auch wenn der Vorname mit „C.“ abgekürzt wird. Daher wird hier im Text ebenfalls der Vorname mit „K“ geschrieben. 545 Vgl. die entsprechende Angabe im Personalbogen von Eugen Kolb, unterschrieben am 19.8.1949, HStAS EA 4/ 150, Bü 653. <?page no="138"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 139 b. Die Ausbildung der Ulmer Justizjuristen Damit konnten die Familien der Ulmer Juristen ihren Söhnen die kostspielige Ausbildung, zunächst an der Universität und schließlich im juristischen Vorbereitungsdienst, ermöglichen. Zumindest die letzte Phase ihres Studiums verbrachten alle am Landgericht Ulm beschäftigten Juristen an der Universität Tübingen. Tübingen war die württembergische Landesuniversität, hier bildete das südwestdeutsche Königreich seine künftigen Beamten und Wissenschaftler aus. Insbesondere für Juristen existierte kein nationaler Einstellungsmarkt. Daher war es üblich, wenigstens das letzte Semester und die Prüfungen an einer Universität des Landes, in dem man die Anstellung anstrebte, zu absolvieren. 546 Abgesehen davon waren Studienplatzwechsel innerhalb des Deutschen Reiches nicht selten. 547 Der in Ulm geborene Oskar Engel ging nach der Reifeprüfung 1892 als neunzehnjähriger Student zunächst nach Tübingen, dem Zentrum der akademischen Juristenausbildung im Königreich Württemberg. Im Anschluss daran studierte er in Berlin, der Universität mit der größten juristischen Fakultät, sowie Leipzig und Halle, ebenfalls wichtige Stätten der Juristenausbildung. 548 Der einflussreiche Reformer Franz von Liszt lehrte von 1889 bis 1898 in Halle, bevor er einem Ruf nach Berlin folgte. 549 Möglicherweise kam Engel also an zwei Universitäten mit der „modernen“ juristischen Schule in Berührung. Die mehrmaligen Studienplatzwechsel deuten ebenfalls auf einen wohlhabenden familiären Hintergrund hin, da gerade vermögende Familien ihren Söhnen diese Form universitärer Mobilität garantieren konnten. 550 Mit der seit 1870 zu beobachtenden Expansion der universitären Bildung verstärkte sich die Konzentration der Studenten aus „höheren bürgerlichen Schichten“ auf Jura und andere „exklusive“ Fächer. Studenten mit kleinbürgerlichem Hintergrund bevorzugten Studien an den Philosophischen und Theologischen Fakultäten. 551 546 Vgl. Paletschek, Tradition, S. 30 f. 547 Vgl. ebd., S. 31. 548 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Oskar Engel, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. Angaben zu den Universitäten siehe Paletschek, Tradition, S. 73. 549 Die Kgl. Vereinigte Friedrichsuniversität Halle war von 1817 an die Zentraluniversität Sachsens, vgl. Hüls, Juristenausbildung, S. 6 f. 550 Vgl. Paletschek, Tradtition, S. 100. 551 Vgl. Möller, Wissenschaft, S. 62 ff. <?page no="139"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 140 Auch der 1874 geborene Paul Elwert wechselte mehrmals während seiner universitären Ausbildung von 1893 bis 1899 den Studienort. Seine Stationen waren, neben dem obligatorischen Aufenthalt in Tübingen, Leipzig und Berlin. 552 Immerhin zwei Studienorte weisen die Lebensläufe von Theodor Schenk und Konstantin Wieland auf. Schenk, geboren 1867, studierte in Tübingen und Berlin. 553 Wieland, der 1877 geborene spätere Hilfsarbeiter der Ulmer Staatsanwaltschaft, wurde in München - neben Berlin und Leipzig Sitz einer der größten und damit auch finanziell stärksten Universitäten des Deutschen Reiches - und Tübingen auf den Justizdienst vorbereitet. 554 Er war vermutlich zu Beginn seines Studiums ebenfalls etwa 20 Jahre alt, der Studienbeginn datiert daher auf die Zeit um 1897. Für diejenigen Juristen, die ab den späten 1880er-Jahren ihr Studium der Rechtswissenschaften aufnahmen, gilt, dass sie, wenn sie wie beispielsweise Oskar Engel an den entsprechenden Universitäten studierten, während ihrer juristische „Primärsozialisation“ mit neuen Strafzweckgedanken in Berührung gekommen sein können. Für die älteren Richter gilt das nicht. Wenn sie neue Konzeptionen in ihre Arbeit mit jugendlichen Delinquenten integrierten, so geschah dies entweder, weil sie sich mit den Ideen aus eigener Initiative auseinandergesetzt hatten oder weil neu geschaffene gesetzliche Regelungen ihnen keine andere Wahl ließen, wie es etwa ab 1907 auch auf die Anwendung der bedingten Begnadigung zutraf. 555 Eine weitergehende akademische Bildung hatten vier der mit Jugendstrafsachen befassten Juristen am Landgericht Ulm: Dr. Friedrich Grub, Dr. Otto Kirchgeorg, Dr. Millauer und Dr. Klaiber. Als Merkmal der Ausbildung lässt sich für die Ulmer Juristen Folgendes benennen: Neben dem obligatorischen Studienaufenthalt in Tübingen besuchten sie mindestens eine weitere deutsche Universität. Dabei wählten sie mindestens eine der größten und renommierteren Universitäten zur Vertiefung ihrer Studien. 552 Vgl. Military Government of Germany, Fragebogen wegen Zugehörigkeit Naziorganisationen, unterschrieben von Elwert am 25.4.1946, HStAS EA 4/ 150, Bü 323. 553 Vgl. Personal-Bogen des August Theodor Ferdinand Schenk, anerkannt 19.9.1916 (Abschrift), HStAS M 430/ 3, Bü 9725. 554 Vgl. Nationalliste des Gerichtsassessors C. Wieland in Ulm vom 12. Oktober 1918, 11. Oktober 1919, 28. Februar 1920, HStAS EA 4/ 150, Bü 1303. Angaben zu den Universitäten siehe Paletschek, Tradition, S. 73. 555 Siehe dazu Punkt VI.8. <?page no="140"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 141 c. Stationen des Berufslebens Theodor Schenk hatte die Prüfung zum höheren Justizdienst 1894 als 27jähriger abgelegt, dann zunächst als Rechtsanwalt in Tübingen und als Hilfsrichter in Münsingen gearbeitet, bevor er an das Amtsgericht Göppingen kam. Seit 1905 war er beim Landgericht in Ulm tätig, seit 1917 als Landgerichtsrat. 556 Er kannte den Landgerichtsbezirk demnach in seiner Funktion als Richter gut, da zwei zugehörige Bezirke Stationen seiner beruflichen Laufbahn waren, bevor er an das Landgericht kam. Weiterhin war der 1873 in Ulm geborene Georg Schmid während seiner beruflichen Laufbahn an mehreren Stationen im Landgerichtsbezirk Ulm tätig. Er war nach der Prüfung für den höheren Justizdienst im Frühjahr 1900 nach Tätigkeiten als stellvertretender Amtsrichter in Ulm, Gmünd und Tuttlingen sowie als Grundbuchbeamter in Ulm Hilfsrichter in Göppingen. 1905 kam er als Richter an das Ulmer Amtsgericht. 1913 wurde er schließlich Landrichter am Landgericht Ulm. 557 Der Leiter der Staatsanwaltschaft des Landgerichtes, Oberstaatsanwalt Franz Xaver von Walser, war 1905 vom Justizminister für diese Stelle beim König vorgeschlagen worden. Zu diesem Zeitpunkt war der vierfache Familienvater und Katholik bereits 55 Jahre alt und hatte berufliche Stationen als Amtsrichter, Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt hinter sich. Seine bisherigen Wirkstätten waren Ludwigsburg, Ulm und Tübingen. Als Sohn eines Bauern und Schultheißen aus dem Ulmer Umland kannte er ebenfalls Teile des Landgerichtsbezirkes gut. 558 Insgesamt zeichneten sich die Juristen am Landgericht Ulm, für welche aufgrund vorhandener Akten darüber Aussagen getroffen werden können, durch eine hohe Mobilität während ihres Berufslebens aus. Alle hatten verschiedene örtliche Stationen kennen gelernt und unterschiedliche berufliche Funktionen eingenommen. 556 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Theodor Schenk, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 557 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Georg Schmid, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 558 Vgl. Schreiben des Kgl. Wü. Justizministers an den König vom 19.6.1905 bezüglich der Wiederbesetzung der erledigten Stelle des Oberstaatsanwalts bei dem Landgericht Ulm, HStAS E 14, Bü 587. <?page no="141"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 142 d. Anmerkungen zur politischen Einstellung der Ulmer Justizjuristen Über die politischen Einstellungen der Ulmer Justizjuristen lässt sich nur sehr wenig Konkretes sagen. Friedrich Grub, seit 1918 beim Landgericht Ulm, meldete sich am 1. August, also unmittelbar nach Kriegsbeginn, freiwillig für den Militärdienst. 559 Die freiwillige Kriegsteilnahme im Anfangsstadium des Krieges deutet auf eine eher konservativ-nationale Einstellung hin. Gerade bei Angehörigen der gebildeten Schichten mit guten Berufsaussichten, so etwa einen jungen Juristen wie Grub, ist die freiwillige Kriegsteilnahme Indikator für Kriegsbegeisterung. 560 Gleiches gilt für Theodor Schenk, der sich ebenfalls 1914 freiwillig meldete. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 47 Jahre alt und hatte damit das wehpflichtige Alter - auch für den Landsturm - überschritten. 561 Demgegenüber stehen Männer in ökonomisch prekären Situationen. Bei ihnen konnten praktische Gründe wie die Überbrückung schwieriger Zeiten Grund für eine freiwillige Meldung sein. 562 Franz Bucher trat nach dem Krieg der Zentrumspartei bei. Ob, wie in einem Nachruf behauptete wird, „er sich schon auf Grund seiner Weltanschauung innerlich immer zum Zentrumsgedanken bekannte“ 563 , entzieht sich konkreter Überprüfbarkeit. Eine längerfristige Orientierung an den Positionen der katholisch-konservativen Partei kann aber angenommen werden, da er bereits im Alter von 20 Jahren in Tübingen einer katholischen Studentenverbindung beitrat. 564 Allerdings stammte er nicht aus einer zentrumsnahen Familie, sein Vater, Rudolf August Bucher, war nationalliberaler Bismarckverehrer und zeitweiliger Abgeordneter des württembergischen Landtages. 565 Diese Einzelbefunde, die Ausrichtung der Ulmer Justizjuristen am eher konservativen respektive mit Hinblick auf die Besonderheiten der politischen Situation im Südwesten liberal-konservativen politischen Spektrum, erschei- 559 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Dr. Friedrich Grub, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 560 Vgl. Verhey, Geist von 1914, S. 171. 561 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Theodor Schenk, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 562 Vgl. Verhey, Geist von 1914, S. 171. 563 Generalstaatsanwalt Franz Bucher , in: Deutsches Volksblatt vom 29.9.1930, HStAS EA 4/ 150, Bü 149. 564 Vgl. ebd. Zur Zentrumspartei in Württemberg vgl. Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 733. 565 Vgl. Raberg, Biographisches Handbuch, S. 106. <?page no="142"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 143 nen jedoch durchaus verallgemeinerbar. 566 Unzweifelhaft waren die verbeamteten Juristen sehr staatsnah. Hans-Ulrich Wehler bezeichnet die Juristischen Fakultäten der Universitäten des kaiserlichen Deutschlands als „Arsenal der Herrschaft“. 567 Zudem wurde der Eintritt in den Staatsdienst von „politischen Gesinnungsfiltern“ reglementiert. 568 Auch wenn insgesamt reichsweit das politische Spektrum sehr breit aufgefächert war, linksliberale Richter waren seit den 1890er-Jahren gemessen an der politischen Bedeutung dieser Strömung unterrepräsentiert. Was völlig fehlte, waren sozialdemokratische Richter. 569 3. Die Arbeitssituation der Ulmer Justizjuristen während des Krieges a. Kriegsbedingte Personalausfälle am Landgericht Ulm Während des Krieges sah sich das Personal vieler Gerichte, unter anderem in Ulm, mit einer wachsenden Arbeitsbelastung konfrontiert. Da viele Justizbeamte eingezogen waren, verteilte sich die anfallende Arbeit auf weniger Personal als in der Vorkriegszeit. 570 Fünf mit Jugendstrafsachen betraute Richter und ein als Hilfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft eingesetzter Gerichtsassessor standen nachweislich aufgrund ihres Militärdienstes dem Landgericht Ulm zeitweise nicht zur Verfügung. Sie waren zwischen Mitte 30 und Ende 40, also mittleren Alters - Angehörige der Altersgruppe, die besonders wichtig für das Gericht war. Juristen dieses Alters konnten im Vergleich zu jungen Berufsanfängern bereits auf Berufserfahrung zurückgreifen und waren im Vergleich zu den älteren Juristen belastbarer. Der Militärdienst bedeutete nicht zwingend auch eine Verwendung an der Front. Sicher belegt ist ein unmittelbarer Kampfeinsatz lediglich für drei Richter. Rudolf Beckh, seit Frühjahr 1915 mit 37 Jahren zum Landsturm 566 Vgl. zur liberal-konservativen Prägung des Herrscherhauses und der Beamtenschaft Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 726. 567 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 744. Siehe auch Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 726. 568 Vgl. Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 743. 569 Vgl. Ormond, Richter im Kaiserreich, S. 98. 570 Vgl. das Beispiel Freiburg in Chickering, Great War, S. 520. <?page no="143"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 144 eingezogen, befand sich zeitweise an der Front. 571 Auch sein Kollege Eugen Kolb, der mit 37 Jahren von Sommer 1916 bis November 1918 beim Militär diente, stand von März 1917 bis November 1918 im Feld. 572 Schließlich nahm Theodor Schenk, seit August 1914 beim Landsturm, am Stellungskrieg teil, allerdings nur vom 24. Februar bis zum 7. März 1916. Außerdem war er im Jahr 1915 einige Monate dienstlich im Etappengebiet im Westen. 573 Doch auch wenn die Juristen unmittelbar in Ulm stationiert waren und damit in der Stadt räumlich anwesend, waren sie vor Gericht nicht voll einsetzbar. So diente der 48-jährige Franz Bucher seit Anfang August 1914 als Adjutant der Bahnhofskommandantur in Ulm. 574 Erst vier Jahre später, im August 1918, endete sein Militärdienst. 575 Bei Oskar Engel, der von Juni 1916 - zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt - bis Herbst 1918 beim Militär diente, und bei Konstantin Wieland, der mit 39 Jahren einen Monat, von Mitte August bis Mitte September 1916, zum Landsturm eingerückt war, lässt sich nicht eindeutig klären, wo sie eingesetzt wurden. 576 Gleichwohl konnten sie ihrer Tätigkeit am Gericht in dieser Zeit nicht nachkommen. Symptomatisch für die sich überschneidenden Personalinteressen von Militär und Justiz erscheint dabei die Verwendung Wielands. Der Gerichtsassessor war erst im April 1916 als Hilfsarbeiter zur Staatsanwaltschaft Ulm gekommen - bereits viereinhalb Monate später musste diese kurzfristig auf ihn verzichten. 577 571 Vgl. Personalbogen Rudolf Beckh ohne Datum, HStAS EA 4/ 150, Bü 82. 572 Vgl. Personalbogen für Eugen Kolb, unterschrieben am 19.8.1949, HStAS EA 4/ 150, Bü 653. 573 Vgl. Personal-Bogen des August Theodor Ferdinand Schenk, anerkannt 19.9.1916 (Abschrift), HStAS M 430/ 3, Bü 9725. 574 Vgl. den diesbezüglichen Eintrag in der National-Liste des Landgerichtsrats Bucher in Ulm vom 25.7.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 149. Ob Bucher sich freiwillig meldete, ist nicht bekannt. Angesichts seines Alters, mit dem die Dienstpflicht beim Landsturm bereits überschritten war, wäre dies möglich. Sein 47 Jahre alter Kollege Theodor Schenk wählte, wie bereits erwähnt, diese Option. 575 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Franz Bucher, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 576 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Oskar Engel, zusammengestellt vom Landgericht Ulm; sowie Nationalliste des Gerichtsassessors C. Wieland in Ulm vom 12. Oktober 1918, 11. Oktober 1919, 28. Februar 1920, HStAS EA 4/ 150, Bü 1303. 577 Vgl. Nationalliste Wieland, HStAS EA 4/ 150, Bü 1303. <?page no="144"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 145 b. Die Arbeitsbelastung der verbliebenen Justizjuristen Parallel zur temporären Verringerung des Personals stieg die Zahl temporär geltender neuer Kriegsverordnungen an, deren Sanktionierung unter anderem den Gerichten überlassen blieb. Mit diesen Verordnungen hatte sich insbesondere die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde auseinander zu setzen. Ende März 1915 wendete sich daraufhin der Ulmer Oberstaatsanwalt Franz Xaver von Walser an das Königliche Justizministerium und beschrieb seine Situation: „Wegen Überarbeitung bin ich ungeachtet des Personalmangels genötigt, um Bewilligung eines Erholungsurlaubs von 4 Wochen gehorsamst zu bitten. […] Ich selbst hatte zu erledigen 1) im Jahre 1914 bei einem Anfall von 4761 Anzeigen - 990 mit ungefähr 80 Hauptverhandlungen vor dem Schwurgericht und der Strafkammer, 2) im Jahre 1915 bis zum heutigen Tag bei einem Anfall von 1367 Anzeigen 257 mit ungefähr 40 Hauptverhandlungen vor der Strafkammer. Dazu kam das Studium der vielen neuen Gesetze und Verfügungen der Civilu. Militärbehörden (Festung) die zeitraubende Sammlung und Sicherung der Materialien zu denselben. Außerordentlich zeitraubend auch sind die Reisen zu den Schöffengerichten und waren es namentlich damals, als die Amtsgerichte im Interesse der raschen Erledigung sich zum Zusammenlegen mehrerer Fälle und zur Aufstellung größerer Tagesordnungen nicht entschließen konnten.“ 578 Von Walser war zu diesem Zeitpunkt bereits 66 Jahre alt. 579 Natürlich war er daher nicht mehr so belastbar wie jüngere Kollegen. Zudem begründete er sein Urlaubsgesuch ergänzend mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen seit Weihnachten 1914. 580 Er musste plausible Gründe anbringen können, um trotz Personalnot Urlaub zu erhalten - all dies gilt es bei seiner Schilderung zu berücksichtigen. Dennoch gewährt seine nachdrückliche Bitte um Urlaub einen Eindruck von der Arbeitsbelastung der Ulmer Juristen während des Krieges. Um dringlichen Personalknappheiten an einem Gericht begegnen zu können, schob das Justizministerium zwischen den einzelnen württembergischen 578 Schreiben Franz Xaver von Walsers, Kgl. Wü. Staatsanwaltschaft Ulm, an das Kgl. Wü. Justizministerium durch die Kgl. Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Stuttgart vom 25.3.1915, Betreff: Urlaubsgesuch, HStAS EA 4/ 150, Bü 1254. 579 Vgl. Personalkarteikarte von Walser, HStAS EA 4/ 150, Bü 1254. 580 Vgl. Schreiben von Walsers betreffend Urlaubsgesuch, HStAS EA 4/ 150, Bü 1254. <?page no="145"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 146 Gerichten während des Krieges Richter hin- und her. Das Justizministerium teilte den Reutlinger Amtsrichter Rudolf Spahr Anfang August 1914 dem Laupheimer Amtsgericht als Vertretung für zwei kriegsbedingt abwesende Amtsrichter zu. Das Gericht Reutlingen benötigte für ihn eigenen Angaben zufolge keinen Ersatz. 581 Fast vier Jahre später, im Februar 1918, wurde Spahr dem Landgericht Ulm als Hilfsrichter zugeteilt. Er sollte dort die Lücke schließen helfen, welche der in den Ruhestand gehende Landgerichtsdirektor von Heider hinterließ. 582 Von Heider hatte in der Mehrheit der mit Urteil dokumentierten Verfahren gegen Jugendliche zwischen 1914 und Ende 1917 den Vorsitz der Strafkammer innegehabt. 583 Damit benötigte aber das Amtsgericht Reutlingen erneut Ersatz für seinen kriegsbedingt abwesenden dienstaufsichtsführenden Amtsrichter. Ein Vertretungsrichter kam vom Amtsgericht Böblingen. 584 Ein weiteres vom Justizministerium praktiziertes Vorgehen, um personelle Engpässe an den Gerichten des Landes auszugleichen, war die Reklamation Kriegsdienst leistender Juristen. Theodor Schenk, seit 1914 eingezogen, wurde im September 1916 auf Anordnung des Justizministers aus dem Heeresdienst entlassen. 585 Nun stand er dem Ulmer Landgericht wieder zur Verfügung. 586 Auch seinen eingezogenen Kollegen Rudolf Beckh reklamierte das Justizministerium wiederholt. 587 In der Juristischen Wochenschrift dachte 1916 ein Rechtsanwalt eine unorthodoxe Strategie zur Minderung der Personalnot an. Er plädierte dafür, leicht verwundete Soldaten oder solche, die sich zur Genesung im Lazarett aufhielten und noch nicht wieder kriegstauglich waren, zeitweise den Gerichten zuzuteilen - so sie denn die entsprechende juristische Vorbildung besa- 581 Vgl. Schreiben (Abschrift für die Akten des Kgl. Amtsgerichtes Reutlingen) des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Landgericht Tübingen vom 7.8.1914, HStAS EA 4/ 150, Bü 1121. 582 Vgl. Schreiben (Abschrift für die Akten des Kgl. Amtsgerichtes Reutlingen) des Kgl. Wü. Justizministeriums an das Kgl. Landgericht Ulm vom 22.1.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 1121. 583 Siehe die entsprechenden Angaben in den Urteilen, StAL E 350a. Für von Heider ist im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart keine Personalakte überliefert. Auch am Landgericht Ulm waren über ihn keine Unterlagen mehr vorhanden. 584 Vgl. Schreiben (Abschrift für die Akten des Kgl. Amtsgerichtes Reutlingen) des Kgl. Justizministeriums Stuttgart an das Kgl. Landgericht Ulm vom 22.1.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 1121. 585 Vgl. Personal-Bogen des August Theodor Ferdinand Schenk, anerkannt 19.9.1916 (Abschrift), HStAS M 430/ 3, Bü 9725. 586 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.10.1916 gegen Georg B. u. a., StAL E 350a, Bü 903. 587 Vgl. Personal-Bogen Rudolf Beckh, HStAS EA 4/ 150, Bü 82. <?page no="146"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 147 ßen. 588 Dafür wären zwar gültige Bestimmungen zu ändern, doch lohne sich dies für alle Seiten: „Viele Verwundete, die wohl etwas arbeitsfähig sind, aber jetzt müßiggehen und sich die Zeit vertreiben müssen, würden eine solche Beschäftigung mit Freuden annehmen.“ 589 Die Veröffentlichung eines solchen Vorschlags in einer seriösen Fachzeitschrift verdeutlicht, welche Bedeutung der Personalnot beigemessen wurde. Allerdings waren nicht alle Kammern der Landgerichte durchgehend von personellen Engpässen betroffen. Im Sommer 1916 musste der zu diesem Zeitpunkt über 50-jährige Landgerichtsrat der Strafkammer Franz Oechsler seinem „schwere[n] labilen Herz“ Tribut zollen und einstweilen aufhören zu arbeiten. Der Gerichtspräsident signalisierte dem Justizministerium, dass Ersatz erwünscht sei, da zudem ein weiterer Richter der Zivilkammer ausschied. Allerdings habe der Vorsitzende der Strafkammer erklärt, im Notfall mit dem vorhandenen Personal auskommen zu können. 590 Wie noch genauer gezeigt wird, waren die Anklageziffern der Ulmer Strafkammer insgesamt zwischen 1915 und 1916 rückläufig. 591 In einem weiteren Schreiben vom Oktober 1916 berichtete der Gerichtspräsident folglich dem Justizministerium, der Geschäftsanfall der Strafkammer sei gegenwärtig gering. Allerdings stünden nach Auskunft der Staatsanwaltschaft größere Fälle zur Erledigung an. Aus diesem Grund sei auch nach Wiedereintritt Oechslers die Gewährung einer Aushilfe für die Strafkammer, wie sie aktuell schon „in der Person des sehr tüchtigen Amtsrichters Beckh zu Gebote steht“, angebracht. 592 Wie sich die Personalsituation auswirkte, konnte sich also innerhalb weniger Monate ändern. Der Arbeitsanfall der unterschiedlichen Kammern des Landgerichtes und die Auswirkung von Personalschwankungen hingen dabei eng zusammen. Im November 1916 konnte Oechsler seinen Dienst am Landgericht zunächst wieder aufnehmen. 593 Ab 1917 stieg die Gesamtzahl der 588 Vgl. Berthold, Verwundete, S. 1520. 589 Ebd. 590 Vgl. Schreiben des Präsidenten des Kgl. Landgerichtes Ulm an das Kgl. Wü. Justizministerium vom 2.6.1916, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. 591 Siehe Diagramm 2. 592 Vgl. Schreiben des Präsidenten des Kgl. Landgerichtes Ulm an das Kgl. Wü. Justizministerium vom 27.10.1916, Betreff: die Gesundheitsverhältnisse der Strafkammer, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. 593 Vgl. Schreiben des Kgl. Landgerichtes Ulm an das Kgl. Wü. Justizministerium vom 1.11.1916, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. <?page no="147"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 148 Verfahren vor der Strafkammer bis 1918 erneut an. 594 Im Frühjahr 1918 schrieb der Ulmer Oberamtsarzt Dr. Jaeger Oechsler erneut krank. 595 Daher bat das Landgericht beim Justizministerium nun dringend um Ersatz, zumal neben dem erkrankten Oechsler ein weiterer Landgerichtsrat krankheitsbedingt ausfiel. 596 Aufgrund des nun gestiegenen Arbeitspensums war es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, den Personalausfall intern zu kompensieren. Dringlich mahnte das Landgericht Ulm: „Bei dem starken Anfall umfangreicher Fälle ist nach der Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer ohne Zuteilung eines künftigen Hilfsrichters eine ordnungsmäßige Erledigung der Geschäfte nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Untersuchungsrichter und die Mitglieder der Zivilkammer werden jetzt schon in einem Maß zu den Strafkammersitzungen beigezogen, daß eine Steigerung untunlich ist. Sollte eine jüngere Kraft nicht zur Verfügung stehen, so bliebe wohl nur das [sic] Ausweg, eines der älteren militärisch verwendeten Mitglieder des Landgerichts seinem bürgerlichen Beruf zurückzugeben.“ 597 Die Passage zeigt, dass nicht nur zwischen den Gerichten auf Veranlassung des Justizministeriums Personal „verschoben“ wurde. Dieses Vorgehen praktizierten die Gerichte selbst im Kleinen, indem sie zwischen den Abteilungen und je für unterschiedliche Rechtsgebiete zuständigen Kammern Justizjuristen austauschten. Dadurch konnten zwar Personalengpässe kurzfristig behoben werden, der Qualität der Rechtssprechung war dies allerdings wohl weniger zuträglich. Die alternativ vorgeschlagene Option praktizierte das Justizministerium durchaus auch. Offenbar führte die Bitte um Ersatz zum Erfolg, denn seit April 1918 arbeitete der damals 28 Jahre alte Friedrich Grub aus Stuttgart als Hilfsrichter beim Ulmer Landgericht. Seine Stelle hatte er unmittelbar nach der zweiten Prüfung zum höheren Justizdienst angetreten, er war demnach noch relativ unerfahren. 598 Als Gerichtsassessor war er ab April 1918 regelmäßig an Verfahren gegen Jugendliche beteiligt. 599 594 Siehe Diagramm 2. 595 Vgl. Attest des Kgl. Oberamtsarztes Ulm, Dr. Jaeger, für Franz Öchsler vom 5.4.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. 596 Vgl. Schreiben des Kgl. Landgerichtes Ulm an das Kgl. Wü. Justizministerium vom 6.4.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. 597 Ebd. 598 Vgl. unveröffentlichte und unarchivierte Angaben aus den Personalakten von Dr. Friedrich Grub, zusammengestellt vom Landgericht Ulm. 599 Vgl. die entsprechenden die Angaben zu den Richtern in den Urteilen, StAL E 350a. <?page no="148"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 149 4. Jugendliche als Angeklagte vor Gericht Die Strafkammer des Ulmer Landgerichtes bildete eine „herkömmliche“ Gerichtsform gemäß den traditionellen Strafrechtsvorstellungen, die bei Ausarbeitung des Gerichtsverfassungsgesetzes maßgeblich waren. Die mit fünf Richtern besetzte Strafkammer war nicht, wie die ab 1908 entstehenden Jugendgerichte mit Personalunion von Straf- und Vormundschaftsrichtern, durch eine besondere Konzeption für Jugendliche und einen zeitgenössisch unter Strafrechtsreformern als geeignet angesehenen Umgang mit ihnen ausgerichtet. Das Justizministerium forderte zwar ab 1911 eine erzieherische Ausrichtung des gesamten Strafverfahrens, allerdings waren dafür in Ulm noch keine weitergehenden gerichtlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden. 600 Die Umsetzung hing damit stark von den persönlichen Vorstellungen der zuständigen Richter ab. Gerade für die in den im Landgerichtsbezirk gelegenen Dörfern lebenden Jugendlichen war ihr Erscheinen vor Gericht die Konfrontation mit einer anderen Welt. Vor diesem Hintergrund hatten sie sich für das in ihrem Lebensumfeld begangene strafbare Verhalten vor den fünf Richtern und dem Staatsanwalt zu rechtfertigen - ein beeindruckendes, möglicherweise einschüchterndes Prozedere. In einem auf Ermahnung hin konzipierten Gebäude traten sie vor die Schranken des Gerichtes. Ihnen erhöht gegenübersitzende honorige Juristen beschäftigten sich nun mit ihnen. Die Gerichtsverhandlung selbst verlief innerhalb eines streng reglementierten Rahmens nach speziellen Ablaufvorgaben, was freies Agieren zusätzlich erschwerte. 601 Dies sollte man sich vergegenwärtigen, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, welche Mitgestaltungsmöglichkeiten die Jugendlichen in der Rechtsanwendung hatten. Ihre Mittel waren eher begrenzt und die Rechtssprechung funktionierte von oben nach unten, weniger in einem Aushandlungsprozess. Gerade der Strafrechtsreformbewegungen nahe stehende Juristen sahen die Wirkung einer Gerichtsverhandlung herkömmlicher Art auf Jugendlich sehr kritisch: 600 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 24.1.1911 betreffend das Strafverfahren gegen Jugendliche, in: ABl Wü JM 1911, S. 11-15, bes. S. 12. 601 Vgl. zum Ablauf der Verhandlungen die Protokolle der Öffentlichen Sitzungen der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm in den Strafsachen gegen Friedrich H. am 15.10.1915, Bü 866; Mathäus E. am 29.1.1917, Bü 917; sowie Anton L. und Ferdinand Sch. am 13.6.1918, Bü 1087; alle StAL E 350a. <?page no="149"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 150 „Schon auf den Erwachsenen kann die Luft der Gerichtssäle beklemmend und unheimlich wirken, für den Jugendlichen, den vielleicht noch Schulpflichtigen ist sie in jedem Fall eine Gefahr. Der noch Unverdorbene wird durch die Vernehmung und Verurteilung in der Oeffentlichkeit empfindlich in seinem Ehrgefühl bloßgestellt werden und sich oft, weit über das Maß seiner Schuld, gedemütigt fühlen. Weit schlimmer aber ist die Wirkung auf die Seele des schon verdorbenen Jugendlichen. Er wird sich, wie der Held einer dramatischen Situation vorkommen und das Bewußtsein haben, doch etwas höchst Interessantes zu erleben, etwas, womit er auf Jahre hinaus seinen Altersgenossen vorrenommieren kann.“ 602 Aus dieser Sicht erfüllten die Prozesse in ihren genau konzipierten Gebäuden ihren Zweck nicht - bei Ersttätern wirkten sie zu massiv, bei „verdorbenen“ Jugendlichen ungewollt bestätigend. Was bei den Strafprozessen vor herkömmlichen Gerichten aus Sicht der Reformer fehlte, war pädagogisches Augenmaß. Die Verhandlung basierte auf dem gerichtlichen Eröffnungsbeschluss des Hauptverfahrens, welcher vor Gericht vom Vorsitzenden verlesen wurde. Der Beschluss enthielt eine knappe Darstellung der Tatabläufe im Hinblick auf die verletzten Straftatbestimmungen, wie sie während des Ermittlungsverfahrens durch Polizei und Staatsanwaltschaft und weiterhin durch die Erhebungen des Ermittlungsrichters reproduziert worden waren. 603 Das ist ein sehr entscheidendes Merkmal der Prozesse. Die jugendlichen Angeklagten erzählten nicht von sich aus, was vorgefallen war, sondern es wurde ihnen in einer komplexen juristischen Sprache vorgelesen. Erst im Anschluss an diese Präsentation, wenn den Angeklagten der Rahmen schon vorgegeben war, konnten sie sich dazu äußern. Sie konnten das Gehörte kommentieren, abstreiten, etwas hinzufügen, kurz - sie konnten darauf reagieren. Aber die erste Interpretationsvorgabe lieferten die Vertreter des Strafjustizapparates. Für die Aussagen der Jugendlichen vor Gericht galt: „Die Erzählung der Laien im Rechtsverfahren hat den interaktiven Stellenwert einer Antwort (Reaktion).“ 604 Die einzigen Gestaltungsmöglichkeiten, die jugendliche Delinquenten im gesamten Strafverfahren hatten, lagen im vom Gesetz und Richter vorgegebenen Rahmen. Sie konnten beispielsweise versuchen unter Aneignung „erwachsener“ Argumentationsmuster auf ihre bedingte Begnadigung Einfluss zu nehmen. 605 Es ist unwahrscheinlich, dass jugendliche Delinquentinnen und 602 Vgl. Liepmann, Kriminalität, S. 34 f. 603 Vgl. § 242 StPO. 604 Seibert, Erzählen, S. 75. 605 Siehe dazu S. 223 f. <?page no="150"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 151 Delinquenten angesichts des äußeren Rahmens der Gerichtsverhandlung darüber hinaus den Mut und die Möglichkeit hatten, den Prozess entscheidend zu beeinflussen. Natürlich fand Interaktion zwischen Richtern und jugendlichen Angeklagten statt - aber nicht auf Augenhöhe. Entscheidend war auch, dass die formalisierte Sprache der Justiz von der Alltagssprache der Jugendlichen stark abwich und daher für diese nur schwer verständlich war. Diese Distanz der Ausdrucksmöglichkeiten konnten zusätzliche Hemmschwellen für die Jugendlichen, aktiv etwas zur Verhandlung beizutragen, aufbauen. Hier brauchten sie die Unterstützung ihrer Rechtsanwälte, über die in den konkreten Einzelfällen jedoch nichts bekannt ist. Tendenziell galten Anwälte im Kaiserreich im Vergleich zu ihren verbeamteten Kollegen im staatlichen Justizdienst als liberaler. 606 Solange die Jugendlichen noch nicht 16 Jahre alt waren, war in Verfahren vor der Strafkammer ein Verteidiger für sie obligatorisch. 607 Da es sich jedoch oft um vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger handelte, ist zu vermuten, dass diese über das von ihnen geforderte Maß wenig Elan zeigten und auch aus arbeitsökonomischen Gründen überhaupt nicht zeigen konnten, um nachhaltigen Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. Zudem blieb den Verteidigern, wie das Beispiel des Verfahrens gegen Franz A. gezeigt hat, wenig Zeit, um sich auf den Prozess vorzubereiten. Eine anwaltliche Verteidigungsstrategie wird nur in einem Urteil deutlich. In einem Inzestverfahren zog die Verteidigung auf Initiative des Vaters der Angeklagten deren Zurechnungsfähigkeit in Zweifel. Mangelnde Zurechnungsfähigkeit gemäß Paragraph 51 des Strafgesetzbuches diagnostiziert zu bekommen, war die einzige Möglichkeit, trotz beweisbarer Schuld freigesprochen zu werden. Daher griffen Angeklagte - oder, wie in diesem Falle einer minderjährigen Angeklagten, ihre gesetzlichen Vertreter - auf die Taktik zurück, selbst eine im Sinne der Schuldfähigkeit negative Diagnose gestellt zu bekommen. 608 Die Verteidigung argumentierte im konkreten Fall zu diesem Zweck, die Angeklagte sei „häufig erregt gewesen […], so daß man sie habe hüten müssen damit sie nicht davon laufe oder sich etwas antue.“ 609 Da die Angeklagte zu diesem Zeitpunkt allerdings schwanger war - ob von ihrem Bruder, wie das Gericht annahm, oder von einem anderen Mann, wie sie selbst zu ihrer Verteidigung vorbrachte, sei dahingestellt -, ließen die Richter diese Erklärung nicht gelten, da „unter den dargelegten Umständen 606 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 744. 607 Vgl. § 140 StPO. 608 Für Preußen vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 31 und 35. 609 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.11.1915 gegen Elisabetha H., StAL E 350a, Bü 5497. <?page no="151"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 152 derartige Stimmungen ganz natürlich zu erklären sind […].“ 610 Es entsprach nämlich der zeitgenössischen Sichtweise auf Schwangerschaft, dass schwangere Frauen zur „Hysterie“ neigten. 611 Damit waren sie scheinbar anfällig für die Begehung von Verbrechen. Mehr noch - Kriminalität von Frauen brachten Kriminologen überwiegend mit den biologischen Prozessen von Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium in Verbindung, welche in pathologischen Fällen nicht nur „Hysterie“, sondern kriminelle Aktivitäten bedingen konnten. 612 Ein externes Gutachten scheint in diesem Fall nicht angefordert worden zu sein. Interessant wäre zu wissen, ob dem Vater die Tragweite des anwaltlichen Vorgehens klar war. Seine Tochter hätte auf diese Weise als „Verrückte“ etikettiert werden können. Möglicherweise strebte er, ohne diese Konsequenz zu bedenken, nur die Vereitelung der Verurteilung an. Erkannte er jedoch die Tragweite, erschien ihm eine für „verrückt“ erklärte Tochter, die Inzest begangen hatte, leichter zu akzeptieren als eine „gesunde“ Tochter, die zu diesem Tabubruch in der Lage war. Da das Verfahren gegen den an der Front stehenden Bruder, der aus diesem Grund nicht der zivilen Gerichtsbarkeit unterstand, abgetrennt worden war, lassen sich keine Aussagen darüber treffen, wie mit ihm umgegangen wurde. 5. Die Aufgabe der Ulmer Jugendgerichtshilfe im Prozess Neben Rechtsanwälten kümmerten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe auch während der Verhandlung um jugendliche Angeklagte. 613 Im Vorfeld des Prozesses hatten sie wie beschrieben im Auftrag der Staatsanwaltschaft die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten zu eruieren. Sie waren daher im Gegensatz zu den Rechtsanwälten keine reinen „Interessensvertreter“ der Jugendlichen, sondern nahmen eine Zwischenstellung ein. Als Aufgabe benannte die Jugendgerichtshilfe selbst, die Jugendlichen während der Verhandlungen 610 Vgl. ebd. 611 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib, S. 127. 612 Vgl. ebd., S. 131 f. 613 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 11, StAL E 191, Bü 5568. <?page no="152"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 153 „zum Zwecke wahrheitsgemäßer Aussage zu beeinflussen, in seltenen Fällen konnten wir auch etwas zur Feststellung des Tatbestands und Hervorhebung der mildernden Umstände beitragen.“ 614 Die Zwitterstellung tritt deutlich zu Tage - eine „wahrheitsgemäße Aussage“ erleichterte den Justizjuristen die Prozessführung, die Hervorhebung mildernder Umstände war vorteilhaft für die angeklagten Jugendlichen. Aus den Ladungen der Staatsanwaltschaft geht hervor, dass neben den jeweiligen gesetzlichen Vertretern der angeklagten Jugendlichen nach dem Eröffnungsbeschluss auch der Gründer der Jugendgerichtshilfe, Stadtpfarrer Traub oder ein weiterer mitarbeitender Stadtpfarrer über den anberaumten Termin der Hauptverhandlung informiert wurde. 615 Damit gab man den Mitarbeitern der Jugendgerichtshilfe die Möglichkeit zur beobachtenden Teilnahme an den Hauptverhandlungen. Die offizielle Information seitens der Staatsanwaltschaft zeigt, wie erwünscht die Anwesenheit der Jugendgerichtshilfe war. Auch mit dieser Geste erhob man sie zum Kooperationspartner der Justiz. An der gleichzeitigen Information der Erziehungsberechtigten und eines Vertreters der Jugendgerichtshilfe wird darüber hinaus erneut deutlich, welchen Zweck die Jugendgerichtshilfe übernahm. Sie stand ein für eine Korrektur fehlgeleiteter Sozialisation bei jugendlichen Straftätern. Interessant wäre zu wissen, wie die Jugendlichen das Engagement der Jugendgerichtshilfe einschätzten. Sahen sie deren Mitarbeiter als Verbündete und Vertraute, deren Anwesenheit in der Verhandlung beruhigend auf sie wirkte? Oder fühlten sie sich durch die freiwilligen Helfer gegängelt, betrachteten sie sie als verlängerten Arm der Justiz? Laut Selbstauskunft der Jugendgerichtshilfe fassten viele Jugendliche während des Prozesses Vertrauen zu ihren selbsternannten Helfern. 616 Diese subjektive Sichtweise kann die Fragen jedoch nicht zufrieden stellend beantworten, darüber hinaus gibt es keine Hinweise in den Akten. Auch wenn die ehrenamtlichen Jugendgerichtshelfer bürgerliche Vorstellungen von „sinnvoller“ Sozialisation vertraten und diese ihre Arbeit mit delinquenten Jugendliche prägten, darf man sie trotzdem nicht auf die Rolle 614 Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1913, S. 5, StAL E 191, Bü 5568. 615 Die Jugendgerichtshilfe wurde unter anderem in den Fällen von Albert M. u. a., Friedrich H., Peter W., Gustav und Klara G. sowie Paul Josef W. nicht über die anstehende Hauptverhandlung informiert, siehe die fehlenden Hinweise in den jeweiligen Ladungen der Staatsanwaltschaft Ulm, Bü 860 vor 1916; 866 vor 1916; 990; 5492 vor 1916; und 5503; alle StAL E 350a. Wie erwähnt dehnte die Jugendgerichtshilfe ihre Tätigkeit erst ab 1916 systematisch auf den gesamten Landgerichtssprengel und die Klientel der Strafkammer aus. 616 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1916, S. 5, StAL E 191, Bü 5568. <?page no="153"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 154 von sozialdisziplinierend auf Jugendliche einwirkenden Erwachsenen reduzieren. Diese Rolle nahmen sie zwar auch ein - etwa wenn sie Anträge zur Anordnung der Fürsorgeerziehung bei einigen Schützlingen stellten. 617 Aus ihren Jahresberichten klingt aber Empathie für ihre jugendliche Klientel an - ohne ein Mindestmaß davon wäre ihre Arbeit nicht möglich gewesen. Sie handelten aus dem Glauben, das Beste für die Jugendlichen zu tun. Natürlich gingen sie dabei von ihren Wertvorstellungen aus. Doch mit nachhaltigen, wenn auch oft nicht erfolgreichen Bemühungen, etwa für verurteilte Jugendliche eine Arbeit zu finden, gaben sie diesen wichtige Hilfestellungen. 618 Für verurteilte Jugendliche selbst war dies ohne seriöse, erwachsene Fürsprecher ungleich schwieriger. 6. Die Rolle von Zeugen in den Prozessen Während der Gerichtsverhandlungen kamen auch Zeugen zu Wort, um ihre Version der Geschehnisse für die Urteilsfindung beizutragen. War dies der Fall, so sagten zumeist unmittelbar Betroffene oder Zeugen im engsten Wortsinn, also Personen, die eine Straftat beobachtet hatten, zu den Geschehnissen aus. Bei Diebstählen waren dies in der Regel die Bestohlenen. 619 Bei Sexualdelikten sagten die betroffenen Kinder oder Frauen aus. 620 In solchen Fällen hörte das Gericht nicht immer ergänzend, sondern unter Umständen auch ausschließlich Beobachter an. Hier sollten die Zeugen in erster Linie zur Klärung des Sachverhaltes beitragen und die genaue Rekonstruktion der Ereignisse ermöglichen. Allerdings hörte die Strafkammer nicht in jedem Verfahren Zeugen an. Waren die Fälle für die Staatsanwaltschaft besonders offenkundig, reichte die Aussage der Angeklagten aus. Daher lud die Staatsanwaltschaft keine weiteren Zeugen zu diesen Gerichtsverhandlungen vor. 621 617 Vgl. Jahresberichte Jugendgerichtshilfe 1913, S. 8; 1914, S. 4; 1915, S. 8 f.; 1916, S. 12; alle StAL E 191, Bü 5568. 618 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 8, StAL E 191, Bü 5568. 619 Vgl. u. a. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 13.9.1917 gegen Josef Sch., StAL E 350a, Bü 993. 620 Vgl. u. a. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.5.1917 gegen Karl E., StAL E 350a, Bü 5511. 621 Keine Zeugen wurden beispielsweise in den Verfahren gegen Christian H. und Matthäus K. geladen, vgl. Ladungen der Kgl. Staatsanwalt Ulm vom 10.3.1917 zur Verhandlung gegen Christian H., Bü 939; und vom 29.11.1917 zur Verhandlung gegen Matthäus K., Bü 1027; beide StAL E 350a. <?page no="154"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 155 Auf der anderen Seite kamen in seltenen Fällen in den Verfahren Personen als Zeugen zu Wort, die zur Klärung des konkreten Sachverhaltes nichts beitragen konnten: Lehrer, entweder der Angeklagten oder anderer Beteiligter. 622 Das Gericht konsultierte sie, um etwas über die Reputation der Jugendlichen in Erfahrung zu bringen. Ihre Ladung vor Gericht zeigt einmal mehr, welche wichtige Kompetenz ihnen zur Einschätzung von Kindern und Jugendlichen zugebilligt wurde. Auch die Jugendgerichtshilfe befragte sie aus diesen Gründen. 623 Die vor Gericht geladenen Lehrer hatten damit die Möglichkeit, direkt etwas über ihre Schülerinnen und Schüler zu vermitteln. Sie konnten, wie es ihrem jeweiligen persönlichen Eindruck entsprach, die Jugendlichen in einem positiven oder negativen Lichte erscheinen lassen. Über einen des Missbrauchs angeklagten Jungen gab dessen Lehrer eine positive Einschätzung ab. In der Schule war ihm bei „einer durchschnittlichen Begabung im Allgemeinen die Zufriedenheit seines Lehrers“ gewiss, es wurde auch bis zur Schulentlassung nichts bemerkt, was „sittlich zu beanstanden sei“. Vielmehr galt er in der Schule als „aufgeweckter Bursche“. 624 Damit kontrastiert auffallend die Bewertung, welche der einstige Lehrer über ein wegen Missbrauchs angeklagtes Mädchen, seine ehemalige Schülerin, abgibt: „[D]er Zeuge Lehrer Semmler sagt ohne Widerspruch der Angekl., aus, daß diese vor 4 Jahren mit Schulknaben den Beischlaf vollzogen, jedenfalls beischlafähnliche Handlungen verübt habe, was die Angekl. mit auffallender Offenheit damals eingestanden habe u. von dem Mitschuldigen ebensowenig bestritten worden sei.“ 625 In der Schilderung des Lehrers erscheint die ehemalige Schülerin bereits vor der aktuell vor Gericht verhandelten Tat als ein sich sexuell abweichend verhaltendes Mädchen. Die spätere Tat erscheint vor diesem Hintergrund nicht, wie im ersten geschilderten Fall, verwunderlich, sondern vielmehr 622 Vgl. Urteile gegen Marie W., Bü 779; Lorenz R. und Franz W., Bü 5501; Cäcilie J., Büc 5494; und Formular der Staatsanwaltschaft Ulm zur Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung vom 7.9.1915; alle StAL E 350a. 623 Melanie Grüttner tituliert sie treffend als „Experten des Normalen“, vgl. dies, Murder, S. 36 f. 624 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 17.2.1916 gegen Lorenz R. und Franz W., StAL E 350a, Bü 5501. 625 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 23.9.1915 gegen Cäcilie J., StAL E 350a, Bü 5494. <?page no="155"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 156 höchst stringent. Woher der Lehrer sein Wissen bezog, ob durch eigene Beobachtung oder durch insistierende Fragen aufgrund von Gerüchten, bleibt offen. Diese zwei unterschiedlich ausfallenden Beurteilungen eines Jungen und eines Mädchens, welche beide des Missbrauchs angeklagt waren, sprechen paradigmatisch für die unterschiedliche Bewertung männlicher und weiblicher Sexualität. Bei Jungen erschien die Begehung eines Missbrauchs weniger außergewöhnlich als bei Mädchen - daher erschienen sie folglich weniger „monströs“. 626 Ein Indiz für die richterliche Befragungspraxis liefert die im Urteil wiedergegebene Aussage eines weiteren Lehrers. Er beschrieb seine ehemalige Schülerin, die nun der Brandstiftung angeklagt war, als „eine etwas flatterhafte aber sonst geordnete Schülerin von mittlerer Begabung u. befriedigendem Fleiß“, eine Brandstiftung habe er ihr nicht zugetraut. 627 Weiterhin heißt es im Urteil: „Geistige Störungen habe er an ihr nie wahrgenommen.“ 628 Offenbar hatten die Richter hier nachgehakt und den Lehrer zu einer Aussage über den „Geisteszustand“ der Angeklagten veranlasst. Sie spielten auf möglicherweise vorhandene „Defekte“ eines „verbrecherischen Individuums“ gemäß den kriminologisch virulenten Bildern der Zeit an. 629 Den Angeklagten stand das Recht zu, den Aussagen der Zeugen ihre eigenen Versionen gegenüberzustellen. Entsprechend dem prozessualen Prozedere nach Verlesen des Eröffnungsbeschlusses konnten sie darauf ebenfalls nur reagieren. Gerade wenn Respektspersonen wie Lehrer als „Experten“ ausgesagt hatten, war es schwierig für Jugendliche, der eigenen Version Gehör bei den Juristen zu verschaffen. 7. Der Stellenwert von Sachverständigen im Gerichtsverfahren Je nach Verfahren kamen auch Sachverständige zu Wort. In Fällen fahrlässiger Tötungen konsultierte das Gericht als externe Sachverständige Sanitätsräte. Den medizinischen Gutachtern oblag die Aufgabe zu klären, wie und 626 Siehe dazu S. 338. 627 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.8.1917 gegen Marie W. u. a., StAL E 350a, Bü 779. 628 Ebd. 629 Ausführlich dazu Punkt VIII.6.a. <?page no="156"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 157 wann der Tod der Personen eingetreten war. 630 Bei diesen Gutachten ging es um die Klärung sachverhaltsrelevanter Fragestellungen, um die Tat vor Gericht genau abschätzen und damit auch beurteilen zu können. Bemerkenswert ist, wie selten die Richter bei Missbrauchsfällen externe Expertisen einholten. Nur einmal findet sich der Hinweis im Urteil, dass das betroffene Mädchen gerichtsärztlich untersucht worden sei. 631 Im Gegensatz dazu hat Tanja Hommen für Berlin gezeigt, wie sich die gerichtsmedizinische Begutachtung der Opfer von Sexualdelikten seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts zur strafprozessualen Routine entwickelte. Drei Viertel der entsprechenden Fälle betrafen Kindesmissbrauch gemäß Paragraph 176 Ziffer 3 des Reichsstrafgesetzbuches. 632 Neben diesen Gutachten, die auf die Rekonstruktion der Tat zielten, konnte das Gericht psychiatrische Sachverständige zur Beurteilung der für die Tat verantwortlich gemachten Täter konsultieren. Geschah dies, ging es darum zu prüfen, ob gemäß Paragraph 51 des Strafgesetzbuches „der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 633 In solchen Fällen war eine Verurteilung ausgeschlossen. Eine verminderte Schuldfähigkeit existierte im deutschen Strafrecht nicht, wurde aber im Zuge der Psychiatrisierung des Strafrechtes angestrebt. Allerdings waren die Juristen keineswegs verpflichtet, externe Sachverständige hinzuzuziehen. Vielmehr war „das Gericht selbst in Fällen, wo eine besondere Sachkunde zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist, nicht verpflichtet, Sachverständige zur hören.“ 634 Als Option sah die Reichsstrafprozessordnung jedoch explizit gemäß Paragraph 81 vor, Beschuldigte zur Untersuchung ihres Geisteszustandes und ihrer Schuldfähigkeit in eine Irrenanstalt einzuweisen. In Preußen stieg die Zahl dieser Anstaltsanweisungen kontinuierlich an und erreichte zwischen 1909 und 1911 mit über 1800 Einweisungen ihren 630 Vgl. u. a.. Ladung der Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 20.8.1915 für das Verfahren gegen Meinrad Blasius H., Bü 2298; sowie Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 15.5.1916 gegen Wilhelm M., Bü 2299; beide StAL E 350a. 631 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 22.3.1915 gegen Karl H., StAL E 350a, Bü 5489. 632 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 64. 633 § 51 RStGB. 634 Daude, Kommentar zu § 73 StPO, S. 56. <?page no="157"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 158 Höhepunkt. 635 Auch darüber hinaus stieg in Preußen die externe psychiatrische Gutachtertätigkeit an - eine Entwicklung, die von einigen Juristen als Übergriffe auf ihr Fachgebiet abgelehnt, aber auch von den involvierten Gutachtern nicht unbedingt begrüßt wurde. Für letztere bedeutet sie doch schlicht eine unrentable Zusatzbelastung. 636 Bei Einholung externer psychiatrischer Gutachten handelte es sich um eine Absicherung und zusätzliche Legitimierung richterlicher Entscheidungen, die - zumindest scheinbar - wissenschaftlich rationalisiert wurden. Durch das „Expertenwissen“ stabilisierten die Juristen ihre Entscheidungen extern. 637 Das Einholen von Gutachten oder auf der anderen Seite die Unterlassung von Gutachterkonsultationen wirft ein Licht darauf, wie sehr die Justiz meinte, ihre Entscheidungen von außen legitimieren zu müssen. Die Richter der Ulmer Strafkammer nahmen nur sehr selten die Hilfe externer Gutachter wahr. Auf den ersten Blick mag das eigenständige Vorgehen hier auf der Hand liegen, handelte es sich doch größtenteils um alltägliche Fälle ohne Notwendigkeit externer Expertisen zur Bewertung und Beurteilung der jeweiligen Täterinnen und Täter. Ihre Kernkompetenz übten die Richter überwiegend autark aus. Auf den zweiten Blick ist dies weniger zwingend, da die potentielle Möglichkeit hierzu eben durchaus bestand. Im Schweizer Kanton Bern lässt sich um die Jahrhundertwende die Tendenz beobachten, auch bei scheinbaren Bagatelldelikten wie geringfügigen Diebstählen vermehrt psychiatrische Gutachten einzuholen. 638 Der Schweizer Strafrechtspflege lagen dem deutschen Strafgesetzbuch ähnliche rechtliche Grundprämissen zugrunde. Auch die Strafrechtsreformbewegung griff ähnliche Kritikpunkte auf und forderte eine stärkere Orientierung an den Tätern. Im Unterschied zum deutschen Recht kannte man jedoch in den meisten Kantonen, auch in Bern, die verminderte Zurechnungsfähigkeit. Hier mussten die Gutachter demnach nicht ausschließlich klären, ob die Schuldfähigkeit vollständig verneint werden musste, sondern auch, ob sie reduziert war. 639 Die Bereitschaft, Gutachten einzuholen, konnte sehr stark variieren. Sie sagt daher weniger etwas über den „Geisteszustand“ der Angeklagten eines Landes oder eines Gerichtssprengels als vielmehr über die Berufsauffassung des jeweiligen Justizpersonals und die Erfordernisse des Strafprozesses aus. 635 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 28. 636 Vgl. ebd., S. 32. 637 Vgl. ebd., S. 34; dazu auch Germann, Ruf nach Psychiatrie, S.282 f. 638 Vgl. Germann, Ruf nach Psychiatrie, S. 273-293; ein konkretes Beispiel ausufernder Gutachtertätigkeit siehe S. 273. 639 Vgl. Germann, Regulation, S. 195 und 198 f. <?page no="158"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 159 Die Richter des Landgerichtes Ulm waren sich ihrer Sache bei der Beurteilung des Geisteszustandes der jugendlichen Delinquenten sicher. Sie hatten keine Zweifel am Vorhandensein ihrer dafür notwendigen Kompetenz. In dieser Hinsicht bestand somit keine besondere Aufgeschlossenheit neuen kriminologischen Denkweisen und zeitgenössisch virulenten Medikalisierungstendenzen im Strafrecht gegenüber. Sie verhielten sich klassisch urteilend. Dabei begrüßte das Justizministerium die Zuziehung von Sachverständigen wie Gerichtsärzten, um die Einsichtsfähigkeit - dieses neben der Unzurechnungsfähigkeit bei jugendlichen Straftätern zweite, höchst schwammige und umstrittene, dazu sehr unterschiedlich ausgelegte Kriterium der Schuldfähigkeit - feststellen zu lassen. Externe Expertisen einzuholen sei hier sinnvoll, „da sich unter den straffällig gewordenen Jugendlichen nicht selten geistig Minderwertige befinden […].“ 640 Das Justizministerium lag mit dieser Ansicht ganz im Trend neuerer kriminologischer Denkmuster. Der oberste Dienstherr der Ulmer Juristen war offensichtlich Medikalisierungstendenzen gegenüber aufgeschlossener als seine Rechtspraktiker vor Ort. Nur in extremen Fällen beauftragten die Richter des Landgerichtes Ulm externe psychiatrische Gutachter - zweimal bei Brandstiftung, einmal bei schwerem Diebstahl. Bei beiden Prozessen wegen Brandstiftung waren die Angeklagten Mädchen. Einen weiteren Brandstiftungsprozess gegen einen Jungen führte das Gericht ohne ein Gutachten einzuholen. Das ist symptomatisch für die Einschätzung von Brandstifterinnen und ihrer Taten. Gerade unter ihnen vermutete man viele „degenerierte“ Frauen. Brandstifterinnen wurden somit pathologisiert, daher lag es nahe, in diesen Fällen die Unterstützung psychiatrischer Sachverständiger einzuholen. 641 Der Gutachter, der sich mit der kurz vor der Einweisung in die Heilanstalt gerade 14 Jahre alt gewordenen Marie W. beschäftigte, war ausgewiesener Experte. Es handelt sich um den Direktor der Heilanstalt in Weißenau (Oberamt Ravensburg), Medizinalrat Dr. Kümmel. Im Urteil wird er als psychiatrischer Sachverständiger bezeichnet. Für zwanzig Tage befand sich Marie W. in der genannten Heilanstalt und wurde von Dr. Kümmel untersucht. 642 Er kam zu dem abschließenden Urteil, „daß die Angeklagte sich zu Zeit der Begehung der ihr zur Last gelegten Handlungen in keinem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden 640 Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 24.1.1911 betreffend das Strafverfahren gegen Jugendliche, in: ABl Wü JM 1911, S. 11-15, hier S. 13. 641 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib, S. 75 ff. 642 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichts Ulm vom 16.8.1917 gegen Marie W. u. a., StAL E 350a, Bü 779. <?page no="159"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 160 habe, durch den ihre Zurechnungsfähigkeit aufgehoben gewesen wäre, es sei aber bei ihr eine krankhafte Entartung wahrscheinlich.“ 643 Sie war demnach nicht unzurechnungsfähig im Sinne des Paragraphen 51 und deshalb für die ihr zur Last gelegten Brandstiftungen auch zu bestrafen. Der Gutachter empfahl dem Gericht aber, sie aufgrund ihrer „Defekte“ milder zu beurteilen. Die Richter folgten seiner Empfehlung und verhängten die gesetzliche Mindeststrafe von einem Jahr. 644 Als ursächlich für das Begehen mehrerer Brandstiftungen in der elterlichen Wohnung tauchen hier, durch die Einschätzung eines externen psychiatrischen Sachverständigen, pathologische Faktoren auf. Die Angeklagte selbst hatte als Motiv genannt, dass sie „gezündelt“ hatte, um die schlechte Behandlung durch ihren Vater zu beenden. Diese Begründung schien dem Gericht nicht plausibel, sie entbehrte in den Augen der Richter jeglicher rationaler Grundlage. Darin mag ein Grund gelegen haben, warum ein Gutachter hinzugezogen wurde. Besonders Taten, deren Eigenlogik sich den Richtern nicht erschloss, schienen einer Pathologisierung der Täterin oder des Täters Vorschub zu leisten. 645 Im zweiten Brandstiftungsverfahren kam der hier nicht näher identifizierbare Gutachter ebenfalls zu dem Schluss, die Angeklagte weise zwar krankhafte Züge auf, die allerdings ihre freie Willensbestimmung nicht ausschlössen. Damit konnte sie gerichtlich bestraft werden. 646 Außerdem konsultierten die Juristen externe Gutachter, wenn sie ihre eigene Urteilsfähigkeit erschüttert sahen. Das zeigt der Fall eines „jugendlichen Intensivtäters“, wie er im heutigen Duktus bezeichnet würde. Bei dem mehrmals vorbestraften Fürsorgezögling sahen sich die Richter nicht mehr in der Lage, selbst zu entscheiden, ob der Junge überhaupt in irgendeiner Form für die Bestrafung „geeignet“ war. Offensichtlich drangen die strafrichterlichen Bemühungen nicht zu ihm durch, sie hatten ihn zum vierten Mal wegen mehrerer Diebstahlsdelikte aburteilen müssen. In den Augen der Richter musste er als absolut unbelehrbar erscheinen. Den Juristen der Strafkammer drängte sich vor diesem Hintergrund auch die Frage der Schuldfähigkeit gemäß Paragraph 51 auf. Hier zogen sie nun den Ulmer Medizinalrat Dr. Jaeger hinzu, 643 Ebd. 644 Vgl. ebd. 645 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 43. 646 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.5.1916 gegen Maria Anna W., Bü 778. <?page no="160"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 161 der den Posten des Königlichen Oberamtsarztes in Ulm inne hatte. 647 In diesem Fall erfolgte die Begutachtung ambulant ohne Einweisung in eine Anstalt. Jaeger erklärte den vorbestraften Jungen für schuldfähig. 648 Konsequent zu Ende gedacht impliziert das Vorgehen des Gerichtes, dass für die Richter jemand, der durch strafrichterliche Sanktionierungen nicht von der Begehung weiterer Straftaten abzubringen war, „nicht richtig im Kopf“ sein musste. Andere Möglichkeiten, etwa eine bewusste Entscheidung für eine „kriminelle Karriere“ oder das Wegfallen legaler Handlungsoptionen für Mehrfachtäter, schlossen die Richter demnach aus. Intensive Rückfalldelinquenz bedeutete aus dieser Sicht nicht nur, immer wieder im strafrechtlichen Sinne Schuld auf sich zu laden und dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, sondern vielmehr, potentiell „krank“ zu sein. Extreme Rückfalldelinquenz trug somit auch für die Richter des Landgerichtes Ulm latent pathologische Züge. Im Falle der Ulmer Richter war es ein Zeichen von Verunsicherung und Überforderung, wenn sie in Ausnahmefällen medizinisch-psychiatrische Sachverständige konsultierten, und kein Zeichen eines offensiven Umgangs mit neuen, forensischen Ideen. Eine so geartete Verunsicherung war allerdings selten zu beobachten. Hatten sie die Hilfe jedoch eingeholt, so hielten sie sich auch an die Empfehlung. Dies war nicht zwingend erforderlich. War ein Sachverständiger hinzugezogen worden, so besaß sein Gutachten für das weitere strafrichterliche Vorgehen der Richter keinerlei Verbindlichkeit. Sie waren an die externe Einschätzung nicht gebunden. 649 In den hier analysierten Fällen ist zu bedenken, dass die Jugendlichen jeweils für schuldfähig deklariert worden waren. Ob die Richter sich auch an die Empfehlung gehalten hätten, wenn ein Sachverständiger die Angeklagten für unzurechnungsfähig und damit nicht schuldfähig erklärt hätte, ist allerdings sehr wahrscheinlich. Da vom Landgericht Gutachten nur in Fällen großer Unsicherheit eingeholt wurden, bedeuteten die Gutachten für die Richter eine Entscheidungshilfe, die vermutlich überwiegend auch akzeptiert wurde. Die seltene Konsultation von externen Gutachtern liegt unter Umständen weiterhin in der Arbeitsbelastung des Gerichtes während des Krieges begründet. Eine exakte Aussage darüber lässt sich zwar nicht treffen, da für den Zeitraum vor 1914 nicht genügend Urteile für einen Vergleich vorliegen. Es 647 Vgl. Dienststempel auf dem ärztlichen Attest für Franz Öchsler vom 5.4.1918, HStAS EA 4/ 150, Bü 841. 648 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.5.1917 gegen Mathäus E., StAL E 350a, Bü 965. 649 Vgl. Daude, Kommentar zu § 73 StPO, S. 56. <?page no="161"?> V. Rahmenbedingungen der Prozesse 162 lag jedoch eindeutig im Interesse aller am Landgericht Ulm beschäftigten Juristen, die Prozesse möglichst ressourcen- und zeitsparend zu gestalten. Die Zuziehung externer Gutachter bedeutete hingegen einen - wenn auch geringen - gesteigerten Arbeits- und Zeitaufwand, da eine weitere Person in das Verfahren integriert werden musste. Dieser ließ sich, gerade bei den Fällen jugendlicher Kriminalität, vermeiden. In den Verfahren gegen Jugendliche vor der Strafkammer in Ulm spielten zwischen 1914 und 1918 psychiatrische Gutachten keine entscheidende Rolle. Eine Medikalisierung der Strafrechtspflege lässt sich in diesem Zusammenhang daher nicht feststellen. 650 650 Zur Medikalisierung des Strafrechts siehe den Vortrag von Richard F. Wetzell über „Medikalisierung des Strafrechts? Zur Rolle der Mediziner in Strafrecht, Strafrechtsreformbewegung und Kriminologie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.“, gehalten am 23.6.2007 auf der Tagung des Arbeitskreises Historische Kriminalitätsforschung vom 21. bis 23.6.2007 in Stuttgart-Hohenheim, der entsprechende Aufsatz: ders., Rolle medizinischer Experten. Über die Frage, ob von einer Medikalisierung des Strafrechts oder lediglich von einer Medikalisierung der Strafrechtswissenschaft gesprochen werden kann, wurde ohne abschließendes Ergebnis diskutiert. Richard F. Wetzell sprach sich für ersteres aus, Karl Härter für letzteres. <?page no="162"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche von 1904 bis 1918 Nachdem gezeigt worden ist, wie aus einer Straftat ein gerichtliches Verfahren wurde und unter welchen Rahmenbedingungen die Verhandlungen vor der Strafkammer stattfanden, soll nun die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche von 1904 bis 1918 dargestellt werden. Wenn daher bei der folgenden Analyse von der Straffälligkeit, der Kriminalität und der Kriminalitätsbelastung einzelner Jugendlicher oder bestimmter Gruppen von Jugendlichen die Rede ist, so jeweils gemessen an der Anklagehäufigkeit für das Landgericht Ulm. Zu diesen Fällen, die vor der Strafkammer des Landgerichtes verhandelt wurden, kamen zusätzlich Fälle, die von den Schöffengerichtskammern bei einem der im Landgerichtsbezirk Ulm liegenden Amtsgericht - Ulm, Blaubeuren, Ehingen, Laupheim, Münsingen, Geislingen, Kirchheim und Göppingen - abgeurteilt worden waren. Schöffengerichte waren Gerichte, die bei den Amtsgerichten zur Aburteilung von Strafsachen gebildet wurden. Dem Schöffengericht saß ein Richter vor, dazu kamen zwei Laien als Schöffen. Die Anklage vertrat ein Beamter der Staatsanwaltschaft. Außerdem war jeweils ein Gerichtsschreiber anwesend. 651 Das Landgericht war für Verbrechen jugendlicher Straftäter und bestimmte Vergehen zuständig. Verbrechen waren Delikte, die mit Todesstrafe, Zuchthaus oder mehr als fünf Jahren Festungshaft geahndet wurden. Vergehen zogen Festungshaft bis zu fünf Jahren, Gefängnisstrafen oder Geldstrafen von mehr als 150 Mark nach sich. Übertretungen ahndete die Strafjustiz mit Haft oder Geldstrafen bis zu 150 Mark. 652 Für Jugendliche galten die nach Paragraph 57 geminderten Strafen. Bei manchen Straftaten entschied sich erst durch konkrete Merkmale, wie hoch die Strafdrohung lag und ob sie daher als Vergehen oder Verbrechen eingestuft werden mussten. Seit 1905 konnte das Landgericht verstärkt Strafverfahren aufgrund von Vergehen an die Schöffengerichte überweisen, wenn die zu erwartende Strafe bei Jugendlichen drei Monate nicht überschritt. 653 651 Vgl. § 26 GVG; und als konkretes Beispiel das Urteil des Kgl. Schöffengerichts Göppingen vom 1.12.1916 gegen Christian M. und Karl S., StAL E 350a, Bü 5838, hier waren die Schöffen ein Apotheker aus Göppingen und ein Gemeindepfleger aus Kleineislingen. 652 Vgl. § 1 RStGB. 653 Vgl. Gesetz vom 5.6.1905 betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, in: RGBl 1905, S. 533-535. <?page no="163"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 164 Teilweise schienen die Kompetenzen nicht ganz eindeutig zu sein. So lehnte das Amtsgericht Kirchheim es 1913 ab, das Hauptverfahren gegen einen fünfzehnjährigen Schlosserlehrling wegen Diebstahls im Wert von 30 Mark zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Beschwerde ein, letztendlich landete das Verfahren beim Landgericht Ulm. Dort taucht es allerdings nicht in der Strafprozessliste auf. 654 Tendenziell verhandelte die Strafkammer eher Verbrechen Jugendlicher. Vergehen und Übertretungen kamen mit zur Anklage, wenn auch ein Verbrechen vorlag. 1. Analytische Vorüberlegungen Die folgenden Kriterien fanden bei der Datenerfassung bezüglich der Angeklagten aus den Strafprozesslisten Anwendung: Es wurden erstens Personen, die zwölf bis einschließlich 17 Jahre alt waren und bei denen Paragraph 57 des Reichsstrafgesetzbuches angeführt war, erfasst; zweitens Personen, die zwölf bis einschließlich 17 Jahre alt waren und bei denen Paragraph 57 nicht angeführt wurde. Hier lag nämlich, wie bereits erwähnt, keine andere Behandlung vor Gericht, sondern ein Protokollierungsfehler der Gerichtsschreiberei vor. Schließlich wurden drittens Personen ab dem vollendeten 17. Lebensjahr, bei denen Paragraph 57 angeführt war, erfasst. Letzteres bedeutet, dass sie bei Begehung der Tat noch nicht 18 Jahre alt waren und deshalb gemäß der Strafmilderungsbestimmungen für Jugendliche abgeurteilt werden mussten. Da viele der angeklagten Jugendlichen mehrerer Delikte angeklagt waren, deckt sich die Anzahl der Angeklagten nicht mit der der Delikte. Bei der Auszählung der Angaben zu den zur Anklage stehenden Straftatbeständen wurde gemäß den Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches zum Konkurrenzverhältnis der einzelnen Straftatbestände vorgegangen. War Realkonkurrenz gemäß dem Paragraphen 74 gegeben, so wurden die Straftatbestände einzeln gezählt, da der Täter diese durch mehrere Handlungen begangen hatte. War dagegen Idealkonkurrenz nach Paragraph 73 gegeben, so wurde trotz der Verwirklichung mehrerer Tatbestände nur ein Straftatbestand erfasst. Denn der Täter hatte diese Tatbestände durch nur eine Handlung begangen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Rechtsprechung eine „juristisch“ einheitliche Handlung auch dann annahm, wenn zwar tat- 654 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozessliste 1913, Eintrag Nr. 294, StAL F 276 II, Bü 74. <?page no="164"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 165 sächlich mehrere Handlungen vorlagen, diese aber von einem Tatvorsatz getragen waren. Dies konnte sogar dann gegeben sein, wenn diese Handlungen über einen längeren Zeitraum begangen wurden. Lag Idealkonkurrenz vor, wurde der Täter nur aus demjenigen Straftatbestand bestraft, der mit der höchsten Strafe belegt war. Dieser verdrängte bei der Strafzumessung die anderen Tatbestände. 655 Daher wurde bei der Auszählung im Falle der Idealkonkurrenz der schwerste Straftatbestand erfasst. So zählen Fälle schwerer Urkundenfälschung gemäß den Paragraphen 267 und 268 des Reichsstrafgesetzbuches, die gleichzeitig - das heißt mit derselben Handlung - den Straftatbestand des Betruges nach Paragraph 263 erfüllen, als schwere Urkundenfälschung, da diese mit der höheren Strafe belegt war. Bei mehreren verletzten Paragraphen gleichen Strafmaßes zählte das zuerst in der Auflistung aufgeführte Delikt. 656 Bei mit gleichem Strafmaß geahndeten Delikten, bei denen eines nur als Versuch vorlag, zählte das vollendete Delikt. 657 Die ermittelten Daten stammen aus der Auswertung der Strafprozesslisten der Jahre 1904 bis 1918, mit Ausnahme des Jahres 1917. 658 Für dieses Jahr ist die Strafprozessliste, wie bereits erwähnt, nicht überliefert. Zusätzlich wurde zu einigen Punkten auf die Strafprozesslisten des Amtsgerichtes Kirchheim, die für die Jahre 1913 bis 1916 und 1918 vorliegen, 655 § 73 RStGB: „Wenn eine und dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze verletzt, so kommt nur dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafe, und bei ungleichen Strafarten dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafart androht, zur Anwendung.“ § 74 RStGB: „Gegen denjenigen, welcher durch mehrere selbstständige Handlungen mehrere Verbrechen oder Vergehen mehrmals begangen und dadurch mehrere zeitige Freiheitsstrafen verwirkt hat, ist auf eine Gesammtstrafe [sic] zu erkennen, welche in einer Erhöhung der verwirkten schwersten Strafe besteht. Bei dem Zusammentreffen ungleichartiger Freiheitsstrafen tritt diese Erhöhung bei der ihrer Art nach schwersten Strafe ein. Das Maß der Gesammtstrafe […] darf den Betrag der verwirkten Einzelstrafen nicht erreichen und funfzehnjähriges Zuchthaus, zehnjähriges Gefängniß oder funfzehnjährige Festungshaft nicht übersteigen.“ 656 Bsp.: Einfacher Diebstahl (§ 242 RStGB) und Partiererei/ Sachhehlerei (§ 259 RStGB) in Idealkonkurrenz (§ 73 RStGB) zählt als einfacher Diebstahl. 657 Bsp.: Versuchte Notzucht (§§ 177, 43 RStGB) und Verübung unzüchtiger Handlungen mit Personen unter 14 Jahren (§ 176 Ziff. 3 RStGB) in Idealkonkurrenz (§ 73) zählt als Verübung unzüchtiger Handlungen mit Personen unter 14 Jahren. 658 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozesslisten 1904-1916; und 1918, StAL E 349, Bd. 104- 116; und Bd. 118. <?page no="165"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 166 zurückgegriffen. 659 Wenn im weiteren Text nichts anderes angegeben wird, so ist von den aus den Strafprozesslisten ermittelten Daten die Rede. 2. Die Entwicklung der Anklagen gegen Jugendliche von 1904 bis 1918 Eine Anklage konnte mehrere Straftatbestände beinhalten, war aber gegen je eine Person - einen Angeklagten - gerichtet. Ein Verfahren konnte sich gegen mehrere Angeklagte richten. Betrachtet man nur die zahlenmäßige Entwicklung der Anklagen gegen Jugendliche von 1904 bis 1918, so ergibt sich folgendes Bild: Diagramm 1: Die Entwicklung der Anklagen gegen Jugendliche 660 659 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozesslisten 1913-1916; und 1918; StAL F 276 II, Bü 74-78. 660 Mehrfachangeklagte eingeschlossen. 61 56 46 36 53 54 57 55 70 78 133 111 46 81 0 20 40 60 80 100 120 140 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Jahr Anzahl Anklagen (m/ f) <?page no="166"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 167 Der Rückgang der Anklagen zwischen 1905 und 1906 hängt auch damit zusammen, dass seit Mitte 1905 verstärkt Verfahren an die Schöffengerichte überwiesen werden konnten. Bis auf einen Einbruch der Anklagen im Jahr 1907 blieb ihre Zahl bis 1911 relativ konstant. 1912 stieg die Zahl erstmals bedeutend an. Im Jahr darauf erreichten die Werte einen ersten Höhepunkt. 1914 sank die Zahl, um dann verhältnismäßig stark anzusteigen. Im Vergleich zu 1916 sank sie bis 1918 wieder ab. Diese Tendenz, ein Sinken der Anklagen im Jahr 1914 im Vergleich zu 1913, dann bis 1916 der Anstieg entsprach der in anderen Gebieten des Deutschen Reiches. 661 In Einzelfällen konnte sich dies jedoch auch anders entwickeln. Beim Amtsgericht Kirchheim entwickelten sich die Anklagen gegen Jugendliche von 13 im Jahr 1913 auf über 18 im Jahr 1914, 32 im Jahr 1915 und 35 im Jahr 1916 hin zum Höchststand von 79 Anklagen im Jahr 1918. 662 Hier stiegen die Werte zwischen 1913 und 1914 auf niedrigem Niveau leicht an. Zwischen 1914 und 1915 kam es dann zu einem deutlicheren Anstieg, der sich bis 1916 leicht fortsetzte. Zwischen 1916 und 1918 kletterten die Werte schließlich deutlich. Der Einbruch der Anklagen vor der Strafkammer in Ulm 1914 lässt sich auch auf eine Veränderung der kriminalpolizeilichen Ermittlungsmöglichkeiten zurückführen, die im Krieg nur eingeschränkt ausgeübt werden konnten. Viele Polizisten wurden eingezogen und mussten durch Hilfskräfte ersetzt werden. 663 In Württemberg rückten sowohl Ortspolizisten als auch Landjäger nach Ausbruch des Krieges an die Front ein, was die Effektivität der Strafverfolgung minderte und das Stellvertretende Generalkommando auf Initiative des Innenministeriums schon 1915 veranlasste, Landjäger rückzuordern. 664 Je länger der Krieg andauerte, desto stärker wurden Landjäger mit den im Zuge der zunehmenden Zwangsbewirtschaftung vieler Güter notwendig werdenden Kontrollen von Landwirten betraut. 665 Auch diese Kapazitäten fehlten im Bereich der Strafverfolgung, genauer gesagt kamen sie zur Eindämmung 661 Zahlenangaben für die Gerichte in Dresden und reichsweite Tendenzen siehe Prölß, Kriegsjugendschutz, S. 185. Er bezieht sich auf die Verurteilungen. 662 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim, Strafprozesslisten 1913; 1914; 1915; 1916; und 1918; StAL F 276 II, Bü 74-78. 663 Vgl. das Beispiel Düsseldorf bei Reinke, Polizeistaat, S. 230. 664 Vgl. Wannenwetsch, Württembergisches Landjägerkorps, S. 66. Wannenwetsch benennt Ursache und Wirkung allerdings genau entgegengesetzt. Weil die Kriminalität zurückgegangen sei, hätten Landjäger zunächst einberufen werden können. Dazu auch Teufel, Südwestdeutsche Polizei, S. 96. 665 Vgl. Teufel, Südwestdeutsche Polizei, S. 96. <?page no="167"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 168 erst durch die Zwangsbewirtschaftung geschaffener Kriminalität zum Einsatz. Reichsweit lässt sich während des Krieges ein Anstieg der Verurteilungen und damit auch der Anklagen gegen Jugendliche beobachten: Tabelle 2: Die Anzahl der verurteilten Jugendlichen (Deutsches Reich) 666 Jahr Verurteilungen Jugendlicher reichsweit 1913 54.155 1914 46.940 1915 63.126 1916 80.399 1917 95.651 1918 99.493 Diese Zahlen entstammen der Reichskriminalstatistik, sie listen demnach die abgeurteilten Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze auf. Zwischen 1916 und 1918 stiegen die Werte weiter an. Genaue Trends lassen sich daher für die Strafkammer im Jahr 1917 nicht ableiten. Die reichsweite Entwicklung lässt vermuten, dass die Werte weiter anstiegen. Allerdings ging die Zahl der Anklagen vor der Strafkammer in Ulm 1918 im Vergleich zu 1916 zurück, während reichsweit die Zahl der Verurteilungen zunahm. Auch beim Amtsgericht Kirchheim war sowohl die Zahl der Verfahren insgesamt als auch die der Verfahren gegen Jugendliche 1918 im Vergleich zu 1916 angestiegen und wies damit eine andere Entwicklung als das Landgericht Ulm auf. In einigen Gebieten des Deutschen Reiches verlief die Entwicklung bis 1917 parallel. 667 Festzuhalten bleibt ein Anstieg der Kriminalität während des Krieges, der regional jedoch variieren konnte. 666 Die Zahlen bei Liepmann, Krieg und Kriminalität, S. 98. 667 Vgl. die Amtsgerichte und Staatsanwaltschaften in Preußen bei Nagel, Betrachtung, S. 279. <?page no="168"?> VI. Die quan tative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 169 Diagramm 2: Die Entwicklung der Anklagen (gesamt) Die Anklageentwicklung vor der Strafkammer insgesamt zeigt im Jahr 1917 ebenfalls einen leichten Anstieg. Hier konnte der Wert aller Anklagen mit Hilfe des noch überlieferten Namensindex zur Strafprozessliste ermittelt werden. 668 Die deutlichen Höhepunkte der Gerichtstätigkeit wurden vor dem Krieg in den Jahren 1909 und 1913 erreicht. Im Krieg kam es daher nur zu einer Steigerung der Anklagen gegen Jugendliche, nicht zu einem Anstieg der gerichtsnotorischen Kriminalität insgesamt. Besonders deutlich wird dieser generationenspezifische Befund, wenn man zwischen Anklagen gegen Jugendliche und gegen Erwachsene differenziert. 668 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Index zur Strafprozessliste 1917, StAL E 349, Bd. 117. ti 621 525 527 598 698 617 666 486 386 486 498 442 590 439 374 0 100 200 300 400 500 600 700 800 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Jahr Anzahl Anklagen gesamt (m/ f) <?page no="169"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 170 Diagramm 3: Die Anklagen gegen Jugendliche im Vergleich zu den Anklagen gegen Erwachsene Unterschiede zeigen sich besonders in der Kriegszeit. Während zwischen 1915 und 1916 die Anzahl der Anklagen gegen Jugendliche anstieg, sank die Zahl der Anklagen gegen Erwachsene. Dieser Befund verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der strafmündigen männlichen Bevölkerung einberufen und somit der zivilen Strafgerichtsbarkeit entzogen war. Gerade für den Vergleich zwischen erwachsenen und jugendlichen Angeklagten ist das Fehlen der Daten für das vierte Kriegsjahr 1917 ärgerlich, kann doch so erst für 1918 konstatiert werden, dass die Entwicklung wieder konform verläuft. Die von den Zeitgenossen als Bedrohung wahrgenommene Kriminalitätssteigerung bei Jugendlichen während des Krieges lässt sich demnach auch im Landgerichtsbezirk Ulm beobachten, allerdings blieb diese auf einem niedrigen Niveau. Insgesamt hat man es mit geringen Werten zu tun. Das verdeutlichen beispielhaft die Zahlen der Volkszählung 1910 im Vergleich zur Anzahl der angeklagten Jugendlichen in diesem Jahr. Mit Stand vom 1. Dezember 1910 lebten in den acht Oberämtern Blaubeuren, Ehingen, Geislingen, Göppingen, Kirchheim unter Teck, Laupheim, Münsingen und Ulm, mithin im Gebiet des 61 56 46 36 53 54 57 55 70 78 46 81 133 111 560 442 479 406 474 544 641 562 520 588 393 405 241 375 0 100 200 300 400 500 600 700 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Anzahl Jahr Anklagen gegen Jugendliche (m/ f) Anklagen gegen Erwachsene (m/ f) <?page no="170"?> VI. Die quan tative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 171 Landgerichtsbezirks, 36.972 Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren. 669 Im gleichen Jahr weist die Strafprozessliste 55 Angeklagte für die entsprechende Altersgruppe nach. 670 Das entspricht rund 0,15 Prozent aller dort lebenden Jugendlichen. Aus diesem Ergebnis können verschiedene Schlussfolgerungen gezogen werden. Zum einen lässt sich daraus ableiten, dass die tatsächlichen „kriminellen Aktivitäten“ der im Gebiet des Landgerichts lebenden Jugendlichen begrenzt waren. Zum anderen waren diese Aktivitäten stärker, als durch die Verfahren vor dem Landgericht dokumentiert, da die Zahlen für alle Amtsgerichte nicht ermittelt werden können. Im vorwiegend ländlich strukturierten Umfeld der Jugendlichen mit geringen Gemeindegrößen und damit einem dichten sozialen Kontrollnetz wurden vermutlich viele delinquente Handlungen innerhalb des sozialen Umfeldes ohne Hinzuziehen der Strafverfolgungsbehörden geahndet. Diagramm 4: Das Verhältnis von Anklagen zu Angeklagten 669 Die Zahlen wurden errechnet aus Tab. 22, Die Gesamtbevölkerung nach einzelnen Altersgruppen in den Oberämtern und Gemeinden von 5000 und mehr Einwohnern, in: Kgl. Statistisches Landesamt, Statistisches Handbuch 1910/ 11, S. 29 ff. 670 Dazu kommt ein neunzehnjähriger Angeklagter. Mehrfachangeklagte zählen mit dem Alter der ersten Verurteilung. 61 56 46 36 53 54 57 55 70 78 46 81 133 111 57 53 45 36 51 54 56 52 67 73 46 76 128 108 0 20 40 60 80 100 120 140 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Anzahl Jahr Anklagen (m/ f) Angeklagte (m/ f) ti <?page no="171"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 172 Betrachtet man das Verhältnis zwischen den Anklagen und den Angeklagten für die Jahre 1904 bis 1918 pro Jahr einzeln, findet man kein großes Auseinandergehen der Werte. In den Jahren 1907, 1909 und 1914 sind sie sogar identisch. Nur sehr wenige Jugendliche mussten sich also mehrmals im Laufe eines Jahres vor der Strafkammer verantworten. Bis auf eine Ausnahme handelte es sich dabei ausschließlich um männliche Mehrfachangeklagte. Nur im Jahr 1906 stand eine weibliche Jugendliche zweimal vor Gericht. Dieser Befund ist nicht verwunderlich, da insgesamt erheblich mehr Jungen als Mädchen wegen delinquenten Verhaltens gerichtliche Sanktionen zu erwarten hatten. 1907 stand keiner der jugendlichen Angeklagten mehrmals vor der Ulmer Strafkammer. Im gesamten Untersuchungszeitraum von 1904 bis 1918 wurden 50 der einmal angeklagten Jugendlichen auch mehrmals (land-)gerichtlich belangt. Allerdings kamen dazu Verfahren vor den Schöffengerichtskammern der Amtsgerichte und die Angeklagten des Jahres 1917, so dass keine sicheren Aussagen darüber getroffen werden können, wie häufig Jugendliche insgesamt mehrfach vor Gericht standen. Vergleicht man die Anzahl der Verfahren mit der der Anklagen, ergibt sich folgendes Bild: Diagramm 5: Das Verhältnis zwischen Anklagen und Verfahren 61 56 46 36 53 54 57 55 70 78 46 81 133 111 45 48 41 33 44 37 41 47 52 61 36 56 79 67 0 20 40 60 80 100 120 140 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Anzahl Jahr Anklagen (m/ f) Verfahren (m/ f) <?page no="172"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 173 Die Zahl der Verfahren im Verhältnis zu den Anklagen sank während des Krieges. Es standen also ab 1915 häufiger Jugendliche gemeinsam vor Gericht, die ihre Straftaten in Gruppen begangen hatten. Diese größeren Verfahren nahm auch die Öffentlichkeit wahr und so konnte sich beispielsweise für Ulm das Bild verfestigten, dass im Krieg jugendliche Banden ihr „Unwesen“ getrieben haben. 671 Da Jugendliche und Erwachsene bei gemeinschaftlich verübten Straftaten auch gemeinsam vor Gericht standen, verhandelte die Strafkammer auch „gemischte“ Verfahren. Die Häufigkeit der Verfahren, bei denen ein oder mehrere Jugendliche zusammen mit erwachsenen Mittätern angeklagt waren, variierte zwischen sechs und 15 Verfahren pro Jahr. Tabelle 3: Verfahren mit jugendlichen und erwachsenen Angeklagten gemeinsam Jahr Verfahren mit jugendlichen und erwachsenen Angeklagten 1904 6 1905 8 1906 8 1907 7 1908 10 1909 8 1910 6 1911 6 1912 7 1913 15 1914 11 1915 7 1916 11 1917 k. A. 1918 12 Hier lassen sich keine relevanten Unterschiede zwischen der Vorkriegs- und der Kriegszeit erkennen. Es kam demnach während des Krieges nicht zu einer Strukturverschiebung hin zu verstärkt altersgruppenübergreifender Kriminalität. 671 Vgl. Rak, Krieg und Krisen, S. 139. <?page no="173"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 174 3. Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Angeklagten Insgesamt wurden wesentlich weniger Mädchen als Jungen vor der Strafkammer angeklagt. Im gesamten Untersuchungszeitraum stehen 797 männlichen Angeklagten 105 weibliche Angeklagte gegenüber. 672 In Relation zueinander bestand ein Verhältnis von 88 Prozent männlichen jugendlichen Angeklagten zu 12 Prozent weiblichen jugendlichen Angeklagten. Damit waren Mädchen deutlich unterrepräsentiert, bedenkt man auch, dass im Landgerichtsbezirk ein leichter „Frauenüberschuss“ herrschte. Daraus kann aber nicht zwangsläufig der Umkehrschluss gezogen werden, dass Mädchen in dem hier dokumentierten wesentlich geringeren Maße delinquentes Verhalten an den Tag legten als Jungen. Entscheidend ist unter anderem das Lebensumfeld der Jugendlichen. Während das der Jungen eher außerhäuslich angesiedelt war, befanden sich Mädchen länger im Bereich familiärer Einflussnahme. Den männlichen Jugendlichen bot sich somit eher ein „delinquentes Betätigungsfeld“ auch außerhalb der Familie. Einzelne Verbrechen und Vergehen gegen Strafgesetzte des Deutschen Reiches verfolgte man, wenn sie gegen Verwandte verübt wurden - wie im Falle privilegierter Diebstahls- und Unterschlagungsfälle gemäß Paragraph 247 - , nicht oder nur auf Antrag. Es ist wahrscheinlich, dass mehr Mädchen Straftaten begangen haben als die Angaben der Strafprozessliste und weitere Daten suggerieren, diese aber, da sie innerhalb der Familie verübt wurden, nicht zur Anzeige gebracht wurden. 673 Dies bestätigt eine Studien von Andreas Gestrich, der die Lebenssituation Jugendlicher zwischen traditioneller Jugendkultur und Einflüssen der Industrialisierung am Beispiel des Dorfes Ohmenhausen im Oberamt Reutlingen, eines typischen württembergischen Pendeldorfes, untersucht. Ohmenhausen ist daher von der Struktur her mit vielen im Landgerichtsbezirk Ulm gelegenen Gemeinden vergleichbar. Die Freizeitgestaltung von jungen Männern und jungen Frauen war sehr unterschiedlich strukturiert. Junge Frauen standen unter permanenter Kontrolle ihrer Eltern oder Behörden, während Jungen ihre Freizeit nach speziellen Ritualen auch selbst bestimmt organisieren konnten. 674 672 Mehrfachangeklagte zählen pro Jahr je einmal mit dem ersten Eintrag. Gleiches gilt bei den Diagrammen zum Alter sowie zu Stand und Gewerbe der angeklagten Jugendlichen. 673 Vgl. zur geringeren Delinquenzbelastung der Mädchen auch Johnson, Socioeconomic Aspects, S. 387; sowie Liepmann, Krieg und Kriminalität, S. 98. 674 Vgl. Gestrich, Traditionelle Jugendkultur, S. 92 ff. <?page no="174"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 175 Neben diese strukturellen Bedingungen tritt als wichtiger Grund das vorherrschende Bild „jugendlicher Verbrecher“. Wie bereits gezeigt, galt der typische jugendliche Verbrecher als männlich. Da diese diskursiv erzeugte Sichtweise den Blick verstärkt auf eine bestimmte Gruppe Jugendlicher, nämlich der Jungen, lenkte, ist auch dies ein Grund für die geringere Häufigkeit von Anklagen gegen Mädchen. Jungen standen stärker als Mädchen im Fokus der Strafverfolgungsbehörden. 4. Die Altersstruktur der angeklagten Jugendlichen Auch zwischen der Kriminalitätsbelastung von jüngeren und älteren jugendlichen Angeklagten bestanden Unterschiede. Die zwölfbis vierzehnjährigen Jugendlichen begingen weniger Straftaten als die älteren, in der Regel schon schulentlassenen Jugendlichen zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren. Zählt man die Angeklagten, welche schon älter als siebzehn waren, zur zweiten Gruppe, so wird die Differenz größer. Dies gilt für beide Geschlechter, für Mädchen gemäß ihrer allgemeinen geringeren Kriminalitätsbelastung auf niedrigem Niveau. Für die männlichen Jugendlichen ergibt sich dabei folgendes Bild: Diagramm 6: Das Alter der männlichen Angeklagten 196; 25% 508; 63% 93; 12% 12 bis 14 Jahre 15 bis 17 Jahre über 17 Jahre <?page no="175"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 176 Fast exakt das gleiche Verhältnis, wenn auch mit niedrigeren absoluten Zahlen, hat die Altersstruktur der weiblichen Angeklagten. Diagramm 7: Das Alter der weiblichen Angeklagten 675 Es ist wahrscheinlich, dass die geringere Delinquenzbelastung bei den Jüngeren mit der Praxis der Strafverfolgungsinstanzen zusammenhing. Für die Abrügung polizeilicher Strafverfügungen zeigten sich Bemühungen, die jüngere Altersgruppe informell zu sanktionieren. Erinnert sei an die Praxis, statt der Erteilung von Verweisen schulpflichtige Jugendliche an die Schule zwecks Schulstrafen zu übergeben. Möglich wäre, dass im Falle von gerichtlich zu ahndender Delinquenz die Polizeibehörden bei noch schulpflichtigen Heranwachsenden die Sanktionierung dem sozialem Umfeld der Betroffenen überließen und solche Fälle nicht der Staatsanwaltschaft anzeigten. Ein solches Vorgehen entsprach zwar nicht den geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Es ist aber vor dem Hintergrund der Polizeistrukturen und der Haltung des Innenministeriums denkbar. 675 Dazu kommen im Jahr 1913 zwei weibliche Angeklagte ohne Altersangabe, die nach Paragraph 57 abgeurteilt wurden. 24; 23% 66; 64% 13; 13% 12 bis 14 Jahre 15 bis 17 Jahre über 17 Jahre <?page no="176"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 177 Im Landgerichtsbezirk Ulm könnte ein solches Vorgehen in den kleineren, ländlich strukturierten Gemeinden mit engen sozialen Bindungen der Bewohner untereinander praktiziert worden sein. Der Landjäger war in die dörfliche Gemeinschaft integriert und den übrigen Bewohnern bekannt. Allerdings sei einschränkend zu dieser Interpretationsmöglichkeit angemerkt, dass sie der sozialromantischen Vorstellung einer intakten ländlichen Gesellschaft mit funktionierender Sozialkontrolle, die normabweichendes Verhalten intern und informell sanktioniere, entspricht. Viele zeitgenössische bürgerliche Beobachter jugendlicher Kriminalität vertraten diese These. 676 Sie konnte auch den Blick auf reale Strukturen verstellen. Darüber hinaus war bei Aufnahme einer Ermittlung, wenn zunächst nur die Straftat offen lag, nicht aber der Verdächtige bekannt war, das Alter der in Frage kommenden Person nicht ersichtlich. Das Fallbeispiel des Franz A. zeigt, dass die Polizei die Staatsanwaltschaft schon informierte, bevor die Täter bekannt waren. Auch bei der unterschiedlichen Delinquenzbelastung der verschiedenen Altersgruppen spielt - wie bei der Differenz zwischen Jungen und Mädchen - das Lebensumfeld eine Rolle. Angehörige der jüngeren Altersgruppe waren stärker als ältere Jugendliche in ein häusliches Lebensumfeld integriert. 5. Das Sozialprofil der angeklagten Jugendlichen Die Strafprozesslisten listen auch Angaben zum Stand und Gewerbe - so die Bezeichnung der entsprechenden Rubrik - für die Angeklagten auf. Auf dieser Basis lassen sich Aussagen zur sozialen Zusammensetzung der Gruppe jugendlicher Angeklagter vor der Strafkammer treffen. Um ein aussagekräftiges Bild zu erhalten, mussten zunächst sinnvolle Kategorien gebildet werden, da die Auflistung nicht standardisiert erfolgte. Zur besseren Einschätzbarkeit der Daten sollen sie hier näher erläutert werden. Die Angeklagten wurden zunächst in drei Gruppen eingeteilt: 1) Angeklagte, die sich in der Ausbildung befanden; 2) Angeklagte, die sich nicht oder nicht mehr in der Ausbildung befanden und 3) Angeklagte, über deren berufliche Tätigkeit in den Strafprozesslisten keine Angaben gemacht werden. 676 Vgl. u. a. Hellwig, Krieg und Jugendverwahrlosung in Österreich, S. 306. <?page no="177"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 178 Zu diesen Obergruppen wurden nun Unterkategorien gebildet, zur Gruppe der Angeklagten in Ausbildung zählten demnach Schülerinnen und Schüler, Schüler höherer Schulen, Lehrlinge und Beamtenanwärter. In der zweite Gruppe sind Angeklagte zusammengefasst, die im Handwerk, in der Industrie, in der Landwirtschaft, in kaufmännischen Berufen und in der Gastronomie beschäftigt waren oder Lohnarbeit wechselnder Art sowie persönlichen Diensten nachgingen. Dazu kommt als zusätzliche Kategorie für nicht einzuordnende Angeklagte die der sonstigen Berufe. Zum Handwerk zählen hier auch Berufe, die zwar eine handwerkliche Ausbildung verlangten, bei denen aber die Möglichkeit bestand, dass sie in der Industrie ausgeübt wurden. Dies war beispielsweise bei Schlossern der Fall. Trotzdem erscheint es legitim, sie zum Handwerk zu zählen. Eine Lehre war erforderlich und die Angehörigen dieser Berufe unterschieden sich, auch wenn sie in der Fabrik arbeiteten, sowohl von der Bezahlung als auch vom Status von un- und angelernten Fabrikarbeitern. Schwierig einzuordnen waren Berufsangaben wie Näherin oder Stepperin, bei denen nicht ersichtlich wird, ob sie ihre Tätigkeit in Heimarbeit oder in einem Industriebetrieb ausübten. Sie letztendlich in die Kategorie Industrie einzuordnen, ist dennoch gerechtfertigt, da im Königreich Württemberg die Textilindustrie auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Sparte des dortigen industriellen Sektors bildete. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese Angeklagten ihrer Tätigkeit in der Industrie nachgingen. 677 Die dritte Gruppe umfasst sowohl Fürsorgezöglinge als auch Angeklagte, in deren Strafprozesslisteneintrag nur der Beruf des Vaters angegeben wurde und diejenigen, bei denen gar keine Angabe zu finden ist. Anhand des Berufes des Vaters ließen sich zwar vage Angaben zum Sozialprofil herausfiltern; allerdings können keine Rückschlüsse zur konkreten Lebenssituation wie bei Volksschülerinnen oder Dienstknechten gezogen werden. Zudem würde es die Statistik verzerren, da die Kategorien keine zum Vergleich kompatiblen Ergebnisse liefern. Denn ein vierzehnjähriger Maurersohn könnte sowohl noch Schüler oder doch bereits Lehrling gewesen sein, möglicherweise aber auch als Ungelernter gearbeitet haben. Er kann der zutreffenden Kategorie daher wegen fehlender Informationen nicht zugeordnet werden. Die Kategorien sind so gebildet worden, dass nach Möglichkeit die Lebenssituation der angeklagten Jugendlichen ersichtlich wird, wie beispielsweise der Unterschied zwischen einem sich noch in Ausbildung befindlichen Lehrling und einem ungelernten Tagelöhner. Trotzdem wurde versucht, mög- 677 Vgl. Bull, Wirtschaftsgeschichtlicher Überblick, S. 313. <?page no="178"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 179 lichst weit gefasste Kategorien zu bilden, um noch aussagekräftige Zahlen zu erhalten. So zählt zur Kategorie Industrie auch die Bauindustrie. Wo es sinnvoll erschien, sind Einteilungen der reichsweit durchgeführten Berufszählung von 1907 übernommen worden. Dies gilt für die Gruppen Landwirtschaft und Lohnarbeit wechselnder Art/ Persönliche Dienste. Eine vollständige Orientierung an den Einteilungen war nicht zweckmäßig. Für die Berufszählung unterschied man hauptsächlich nach Sparten, innerhalb der Sparten nach Stellung der dort Arbeitenden. Eine eigene Kategorie Handwerk fehlt. Für diese Berufsstatistik standen Informationen zur Verfügung, die hier zwar fehlen, die für den Zweck der Untersuchung aber auch keine Relevanz besitzen. Wenn in einem Strafprozesslisteneintrag pro Angeklagtem mehrere Berufe angeben worden sind, zählte der erstgenannte Beruf. Bei der Auswertung nach angeklagten Personen pro Jahr zählt wie bei der Auswertung nach Alter bei Mehrfachangeklagten jeweils der erste Eintrag. Diagramm 8: Stand oder Gewerbe der angeklagten Jungen Die meisten der vor Gericht stehenden Jungen gehörten zur Gruppe derer, die Lohnarbeit wechselnder Art oder persönliche Dienste ausübten. Für die hohe 107 8 176 5 122 63 13 10 2 228 5 21 26 11 Schüler Schüler höherer Schulen Lehrlinge Beamtenanwärter Handwerk Industrie Landwirtschaft Kaufmännische Berufe Gastronomie Lohnarbeit wechselnder Art / persönliche Dienste Sonstiges Fürsorgezögling Nur Angabe zum Beruf des Vaters keine Angabe in Ausbildung nicht (mehr) in Ausbildung ohne Berufsangabe <?page no="179"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 180 Kriminalitätsbelastung ungelernter Jugendlicher sind verschiedene Gründe ausschlaggebend. Zum einen stellten sie einen hohen Anteil an der Bevölkerung. So zählt Hans Ulrich Wehler reichsweit vor dem Ersten Weltkrieg zwischen 75 und 66 Prozent zur ländlichen und städtischen proletarischen oder proletaroiden Erwerbsklasse. 678 Zum anderen lag ihre hohe Kriminalitätsbelastung aber auch daran, wie sehr sie bei noch unaufgeklärten Straftaten im Fokus der Bevölkerung und der Polizei standen. Das zeigt sich sehr deutlich an dem oben geschilderten Fall, in dem der Metzger den Landjägern als Verdächtige für den bei ihm begangenen Einbruchsdiebstahl ganz selbstverständlich Tagelöhner präsentierte und dieser Beschuldigung ebenso selbstverständlich nachgegangen wurde. 679 Nicht zuletzt kann jenseits aller Etikettierungsmechanismen seitens der Strafverfolgungsbehörden davon ausgegangen werden, dass ihre hohe Anklagehäufigkeit vor Gericht natürlich auch damit zusammenhängt, dass sie häufig Straftaten verübten. Die zweitgrößte Gruppe bilden Lehrlinge. Für die Kriegszeit ist entscheidend, dass viele Lehrlinge finanziell deutlich schlechter gestellt waren als Angelernte in der Industrie. Sie waren daher vom Mangel des Krieges besonders betroffen. Insgesamt ergriffen viele Jungen einen Lehrberuf, auch darauf ist ihre hohe Beteiligung zurückzuführen. Wenig vertreten waren Jungen und junge Männer, die Gruppen mit hohem Sozialprestige zuzurechnen sind. Hierunter fallen die Schüler höherer Schulen, die Beamtenanwärter und eventuell auch noch die im kaufmännischen Bereich Beschäftigten. Auch hier ist der Grund für ihre geringe Beteiligung an den vom Landgericht Ulm verfolgten Straftaten in ihrem insgesamt geringen Anteil an der Bevölkerung zu suchen. Darüber hinaus besaßen sie einen „Vertrauensvorschuss“. Behörden und Bevölkerung schauten geachteten Bürgern weniger „auf die Finger“ als Tagelöhnern und anderen nicht bürgerlichen Jugendlichen. 680 Bei den weiblichen Angeklagten differenzierte sich die Berufszugehörigkeit weniger aus als bei den männlichen Angeklagten. Hier setzte sich die Gruppe der Angeklagten wie folgt zusammen: 678 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 846. 679 Siehe S. 120 f. 680 Exemplarisch dazu Chambliss, Saints and Roughnecks, S. 145-154. Siehe auch Becker, Outsiders, S. 12f. <?page no="180"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 181 Diagramm 9: Stand oder Gewerbe der angeklagten Mädchen Keine einzige weibliche Angeklagte gehörte zu den Lehrlingen. Dieser Befund verwundert nicht, wenn man sich den Entwicklungsstand der beruflichen Ausbildung von Mädchen zur Zeit des Kaiserreiches der Jahrhundertwende vor Augen führt. Ende des 19. Jahrhunderts galten typischerweise von Frauen ausgeübte handwerkliche Tätigkeiten wie die Weißzeugnäherei gegenüber den männergeprägten Handwerksberufen nur als „handwerksähnliche“ Tätigkeiten. Berufliche Lehrverhältnisse blieben weiblichen Jugendlichen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts de facto verschlossen, wenn auch die Reichsgewerbeordnung Frauen nicht per definitionem als Handwerkslehrlinge oder Handwerksgesellen ausschloss. Erst allmählich etablierten sich in der Folgezeit durch lokale Initiativen auf dieser Ebene geregelte Ausbildungsverhältnisse für Mädchen. 681 Auch bei den Mädchen standen mehrheitlich solche vor Gericht, die beruflich einer un- oder angelernten Tätigkeit nachgingen. Dafür waren die gleichen Gründe wie bei den männlichen Angeklagten ausschlaggebend. Im Vergleich zur Gesamtzahl sind hier weibliche Angeklagte, bei denen nur der 681 Vgl. Purpus, Frauenarbeit, S. 228 ff. 11 21 1 3 6 38 20 5 Schülerinnen Industrie Landwirtschaft Kaufmännische Berufe Gastronomie Lohnarbeit wechselnder Art / persönliche Dienste nur Angabe zum Beruf des Vaters keine Angabe in Ausbildung nicht (mehr) in Ausbildung ohne Berufsangabe <?page no="181"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 182 Beruf des Vaters angegeben wurde, sehr stark vertreten. Mädchen nahm das Gericht demnach häufiger als Jungen als abhängigen Teil eines Familienverbundes und nicht durch eine eigene Funktion wahr. Diese Wahrnehmung war selbstverständlich nicht auf das Gericht beschränkt, sondern entsprach der allgemein verbreiteten Sichtweise. 6. Zur Anklage kommende Deliktarten Meistens verhandelte die Strafkammer Verstöße gegen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches. Die Kategorisierung der einzelnen Delikte orientiert sich daher an der Einteilung des Reichsstrafgesetzbuches, in dem wesensverwandte Straftaten zu Gruppen zusammengefasst worden sind. 682 Wie oben erläutert, wurde bei den Anklagen, bei denen die verwirklichten Straftatbestände in Idealkonkurrenz standen, nur der mit der höchsten Strafe belegte Straftatbestand gezählt. Bei Realkonkurrenz zählen dagegen alle Straftatbestände einzeln. Bei konsequenter Anwendung dieser Auszählungskriterien waren wenige Einträge der Strafprozesslisten nicht zählbar. Die Angaben der Konkurrenzverhältnisse waren in diesen Fällen unlogisch und damit nicht zu entschlüsseln. 1912 war es ein, 1918 zwei nicht zählbare Einträge. 683 Dazu kommt in der Strafprozessliste 1913 ein Verfahrenseintrag, bei dem der Gerichtsschreiber die Angaben zu den einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen ausgelassen hat. 684 a. Straftaten gegen das Eigentum Die größte Gruppe der zur Anklage kommenden Delikte bilden Eigentumsvergehen. Konkret fällt darunter Diebstahl in einfacher und erschwerter Form nach den Paragraphen 242 und 243 sowie räuberischer Diebstahl nach Paragraph 252 des Reichsstrafgesetzbuches, Unterschlagung gemäß Paragraph 246, Raub und schwerer Raub, definiert durch die Paragraphen 249 682 Um den Text übersichtlich zu halten, wird im Folgenden darauf verzichtet, stark normativ konnotierte Begriffe wie „Sittlichkeitsverbrechen“, „widernatürliche Unzucht“ oder „Straftaten gegen die Ehre“ in Anführungszeichen zu setzen. Dies geschieht aus praktischen Überlegungen und nicht aufgrund einer Identifikation mit der implizierten Wertigkeit. 683 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozesslisten 1912, Eintrag Nr. 359; und 1918, Eintrag Nr. 291 und Nr. 300 (nur für Gustav F.); StAL E 349; Bd. 112 und 118. 684 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1913, Eintrag Nr. 3, StAL E 349, Bd. 113. <?page no="182"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 183 und 250, sowie Sachbeschädigung gemäß Paragraph 303 des Reichsstrafgesetzbuches. Hier war insbesondere Diebstahl in verschiedenen Ausprägungen entscheidend für den hohen Anteil von Eigentumsdelikten. In der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft kürte man den Diebstahl sogar zum „Delikt der Jugend“, und zwar „vornehmlich der weiblichen Jugend“. 685 Auch andere Juristen stimmten diesem Urteil zu. 686 Bei Eigentumsdelikten reagierte die Bevölkerung besonders sensibel. Das Vorkommen von Diebstählen und Ähnlichem verletzten das Rechtsempfinden nachhaltig und beförderte das Initiieren strafrechtlicher Verfolgung. Zu diesen Ergebnissen kommt Andreas Gestrich hinsichtlich Ohmenhausens. Er spricht sogar von „Eigentumswahn“. 687 Auch zeitgenössische Juristen argumentierten mit diesem „Rechtsbewußtsein des Volkes“, um ihren Vorstellungen besondere Legitimität zu verschaffen. Die Ablehnung von Geldstrafen für Diebstahl, wie es Reformvorschläge vorsahen, begründeten sie damit, dass die Bevölkerung Diebstahl als besonders entehrendes Delikt bewerte. Einzig Freiheitsentziehung sei hier angemessen. 688 Im Gegensatz zu den damaligen Verbrechen gegen die Sittlichkeit, die bis heute stark normativem Wandel unterliegen und teilweise abgeschafft wurden, teilweise als Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in modifizierter Form weiter unter Strafe stehen, bestand und besteht über die Strafbarkeit des Diebstahls an sich breiter Konsens. So ist der Wortlaut des Paragraphen 242, die Definition von Diebstahl, noch bis heute nahezu identisch mit dem der Bestimmung des kaiserlichen Reichsstrafgesetzbuches. 689 Gleichwohl existierte dieser Straftatbestand nicht abgekoppelt von gesellschaftlichen Entwicklungen im rechtsdogmatischen Raum, sondern musste an Veränderungen angepasst werden. So befassten sich die Richter des Reichsgerichtes Ende des 19. Jahrhunderts mit der strittigen Frage, wie der „Diebstahl“ neuer Technologie zu bewerten sei. Konnte man Elektrizität illegal entwenden, war sie eine Sache? 690 Umbrüche fanden also auch bei nicht strittigen Normen ihren Niederschlag, mussten verhandelt und für die Rechtspraxis aufbereitet werden. Sie unterlagen einem Wandel, standen aber 685 Vgl. Galle, Geschlecht, S. 200. 686 Vgl. Aschrott, Kriminalität der Jugendlichen, S. 87. 687 Vgl. Gestrich, Traditionelle Jugendkultur, S. 48. 688 Vgl. Prinz, Diebstahl, S. 41. 689 Zum Begriff des Diebstahls heute siehe § 242 StGB, Stand 2003. Ergänzt wurde das Zueignen der Sache für einen Dritten. 690 Vgl. Prinz, Diebstahl, S. 38. <?page no="183"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 184 nie zur Disposition. Eben weil sie unstrittig waren, mussten sie transformiert werden, um weiterhin anwendbar zu bleiben. Diagramm 10: Eigentumsdelikte Bei den Eigentumsvergehen kam es im Krieg zu einem deutlichen Anstieg auf hohe dreistellige Werte im „Elendsjahr“ 1916. Diese Spitzenwerte erreichte keine der anderen Deliktarten. Keine anderen Formen kriminellen Verhaltens kamen häufiger vor dem Landgericht Ulm bei jugendlichen Delinquenten zur Anklage. Die Zunahme der Anklagen gegen Jugendliche vor der Strafkammer in Ulm während des Ersten Weltkrieges ist daher hauptsächlich auf einen Anstieg der Verfahren wegen Eigentumsdelikte zurückzuführen. Unter den Eigentumsvergehen machten Diebstähle den Hauptteil der Anklagen aus. Die Anklagen wegen Diebstähle gemäß den Paragraphen 242 und 243 des Strafgesetzbuches verteilten sich auf die Jahre 1904 bis 1918 wie folgt: 691 691 Der räuberische Diebstahl bleibt bei dieser Betrachtung, da er nur eine marginale Rolle spielte, unberücksichtigt. 67 72 69 32 59 34 71 51 76 65 53 75 188 123 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Anzahl Jahr zur Anklage kommende Eigentumsdelikte (m/ f) <?page no="184"?> VI. Die t Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 185 Tabelle 4: Diebstähle Jahr m f gesamt 1904 64 1 65 1905 47 21 68 1906 41 21 62 1907 19 11 30 1908 56 3 59 1909 24 9 33 1910 63 6 69 1911 45 3 48 1912 61 8 69 1913 48 7 55 1914 47 3 50 1915 71 - 71 1916 167 10 177 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 102 13 115 Diebstähle nahmen damit unter den Eigentumsdelikten einen entscheidenden Stellenwert ein. Besonders für die Zeit des Krieges, in der Tendenz aber auch schon in den Vorkriegsjahren, kann für das Landgericht Ulm bei Diebstahl durchaus von einem „Jugenddelikt“ gesprochen werden. Diese Steigerung hatte ihren Grund auch in der prekärer werdenden materiellen und ökonomischen Situation vieler Menschen, gerade von Familien mit Kindern. Dadurch kam es einerseits zu mehr Eigentumsvergehen durch Jugendliche. Auf der anderen Seite sank in einer Zeit, in der Güter aller Art zu knappen Kostbarkeiten geworden waren, die ohnehin geringe Bereitschaft, von Diebstahlsanzeigen abzusehen. Der Verlust schmerzte nun besonders. Ein „Eierklau“ beispielsweise bedeutete im Krieg, als Eier bei den Versorgungsstellen abgeliefert werden mussten, einen wirklichen Verlust. Vor dem Krieg konnten ein paar fehlende Eier aus einem dem Bauern nur selbst zur Verfügung stehenden Reservoir leichter verkraftet werden. Daher lohnte unter Umständen die Mühe der Anzeigenerstattung nicht. quanti ative <?page no="185"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 186 b. Straftaten gegen das Vermögen Die Straftaten gegen das Vermögen umfassten im Untersuchungszeitraum Delikte der Erpressung und deren qualifiziertem Fall, der räuberischen Erpressung nach den Paragraphen 253 und 255, der Begünstigung (§ 257), der Personen- und der Sachhehlerei (§§ 258, 259), des Betruges nach Paragraph 263 und der Untreue gemäß Paragraph 266. Im Gegensatz zu den Delikten gegen das Eigentum richteten sich die Straftaten gegen das Vermögen nicht auf den Entzug bestimmter Gegenstände, sondern den Tätern ging es allgemein um das Erzielen eines Vermögensvorteils. Diagramm 11: Vermögensdelikte Ihren Nullpunkt erreichten die Anklagen im Jahr des Kriegsausbruchs 1914. Im Jahr 1915 kletterte ihre Anzahl auf Vorkriegsniveau, um 1916 nochmals anzusteigen. Mit 28 Anklagen 1918 hatten sich die Richter mit einem Vermögensdelikt weniger als 1916 zu beschäftigen. Die Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen an Vermögensdelikten lag, was die gerichtliche Dokumentation derselben vor dem Landgericht Ulm angeht, auf gewohnt niedrigerem Niveau als die der Jungen und jungen Männer. Jahre mit höheren Werten sind bezüglich weiblicher Angeklagte 1910 mit elf Anklagen und 1913 mit sechs Anklagen. Jahr zur Anklage kommende Vermögensdelikte (m/ f) 200 200 180 160 160 140 140 120 120 hl 100 zah An 80 60 42 60 42 29 28 40 19 19 23 29 28 40 19 11 8 19 11 15 14 13 20 3 8 0 0 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 <?page no="186"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 187 Den absoluten Höhepunkt der Anklagewerte erreichte das Landgericht Ulm jedoch vor dem Krieg, im Jahre 1911 mit 42 Anklagen insgesamt, wovon alleine 41 auf männliche Jugendliche entfielen. Von diesen 41 Fällen waren 35 Anklagen wegen Betruges nach Paragraph 263. c. Straftaten gegen das Leben Von den gegen das Leben anderer Menschen gerichteten Straftaten, den Tötungsdelikten, war Mord nach Paragraph 211 des Reichstrafgesetzbuches das am schärfsten sanktionierte Delikt. Voll Strafmündige hatten bei Verurteilung mit der Todesstrafe zu rechnen. Vor dem Landgericht Ulm stand nur einmal, im Jahr 1905, der Mordversuch eines jugendlichen Straftäters zur Verhandlung. Daneben kamen Totschlag gemäß Paragraph 212, Kindestötung entsprechend Paragraph 217, Abtreibung und Lohnabtreibung, definiert durch die Paragraphen 218 und 219, sowie fahrlässige Tötung nach Paragraph 222 zur Anklage. Kindestötung war ein privilegiertes Tötungsdelikt. Die Tötung unehelicher Kinder durch die Mutter sanktionierte der Gesetzgeber milder als andere Tötungen. 692 692 Vgl. Michalik, Kindsmord, S. 448-454. <?page no="187"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 188 Tabelle 5: Straftaten gegen das Leben Jahr m f gesamt 1904 1 - 1 1905 2 - 2 1906 - 1 1 1907 - - - 1908 4 3 7 1909 3 4 7 1910 1 - 1 1911 - - - 1912 2 1 3 1913 1 2 3 1914 1 1 2 1915 1 1 2 1916 1 1 2 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 - - - Im Gegensatz zu anderen gegen Personen gerichteten Straftaten waren hier Mädchen, verglichen mit ihrem Gesamtanteil an den Angeklagten, häufiger vertreten. Dies liegt insbesondere an zur Anklage kommenden Abtreibungen. Keine Bedeutung hatte dagegen Kindestötung, ein solcher Fall kam nur 1913 einmal zur Anklage. d. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Ebenfalls nur sehr selten kamen Delikte zur Anklage, welche der Gruppe von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit zugerechnet wurden. Dazu zählen die Antragsdelikte vorsätzliche leichte, fahrlässige sowie vorsätzliche gefährliche Körperverletzung und schließlich Körperverletzung mit tödlichem Erfolg gemäß den Paragraphen 223, 230, 223a und 226. <?page no="188"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 189 Tabelle 6: Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Jahr m f gesamt 1904 1 - 1 1905 2 - 2 1906 2 1 3 1907 3 - 3 1908 2 - 2 1909 - - - 1910 1 - 1 1911 - - - 1912 - - - 1913 1 - 1 1914 2 - 2 1915 1 - 1 1916 - - - 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 - - - Körperverletzungen verhandelte das Landgericht Ulm maximal dreimal pro Jahr, also extrem selten. Wenn diese Tatbestände überhaupt zur Anklage kamen, dann bis auf eine einzige Ausnahme im Jahr 1906 ausschließlich bei männlichen Jugendlichen. Für Körperverletzungen, die nur auf Antrag verfolgt wurden - vorsätzliche leichte und fahrlässige Körperverletzung - waren grundsätzlich die Schöffengerichte zuständig. Vor dem Amtsgericht Kirchheim kamen diese Delikte allerdings überhaupt nicht zur Anklage. Lediglich vorsätzliche gefährliche Körperverletzung urteilte das örtliche Schöffengericht ab: 1913 zweimal, 1914 viermal, 1915 sechsmal und 1918 dreimal, jeweils gegen männliche Angeklagte. Darüber hinaus konnten Körperverletzungen auch auf dem Wege der Privatklage gesühnt werden. Die Bereitschaft dazu war jedoch nicht besonders ausgeprägt. Für das Amtsgericht Kirchheim liegen Privatklagelisten der Jahre 1913 bis 1916 vor. Hier waren im Jahr 1913 sieben Verfahren anhängig, in denen einfache Körperverletzungen abgeurteilt wurden. Allerdings waren in keinem Verfahren Jugendliche involviert. In den Jahren 1914 bis 1916 kam <?page no="189"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 190 es zu keiner einzigen Privatklage wegen Körperverletzung vor dem Amtsgericht Kirchheim. 693 Daher ist neben der gerichtlichen Zuständigkeit ein Grund für die geringe Anzahl gerichtsnotorischer Körperverletzungen, dass unter die strafrechtlichen Definitionen von Körperverletzungen die Folgen von Verhaltensweisen fallen, die zum „typischen“ Jugendalltag dazugehörten. So heißt es im Strafrechtskommentar von Reinhard Frank: „Raufhandel oder, wie das Gesetz sagt, Schlägerei ist der in Körperverletzung übergegangene Streit zwischen mehr als zwei Personen.“ 694 Schlägereien waren oft in ritualisierter Form integraler Bestandteil der bei männlichen Jugendlichen - zumindest der nicht-bürgerlichen Schichten - akzeptierten und häufig vorkommenden „Aktivitäten“. „Raufhändel“ zwischen den Burschenschaften verschiedener rivalisierender Dörfer wurden teilweise äußerst brutal ausgetragen, verliefen aber auch nach bestimmten Eskalationsstufen, wie Andreas Gestrich zeigen konnte. Der verbalen Provokation der Gegner folgte die physische Konfrontation. 695 Diese Schlägereien blieben den Erwachsenen nicht verborgen, da sie in aller Öffentlichkeit stattfanden. Sie hätten also durchaus ein Strafverfahren nach sich ziehen können. Diese ritualisierte Form der Gewaltanwendung fand für Jugendliche offenbar Akzeptanz. Dies galt zumindest für Jungen. Prügeleien unter Mädchen und andere Gewaltakte des idealtypisch „zarten Geschlechts“ zählten nicht zum geduldeten Verhalten Heranwachsender. Die zeittypische Bipolarität der den Geschlechtern zugeschriebenen Charaktereigenschaften sprach Männern Gewaltbereitschaft, Frauen hingegen Güte und Bescheidenheit zu. 696 Sich prügelnde Mädchenhorden passten nicht in dieses Bild. Das Nichtvorkommen von Anklagen gegen Mädchen wegen Rohheitsdelikten erlaubt allerdings nicht automatisch den Schluss, dass diese Delikte von den nach weiblichen Idealvorstellungen sozialisierten jungen Mädchen nicht verübt worden wären. Es lässt sich nur mit Sicherheit konstatieren, dass diese Form von bei weiblichen Jugendlichen als abweichend stigmatisiertem Verhalten, sollte es vorgekommen sein, informell und nicht auf dem Wege eines Strafverfahrens geregelt wurde. Das geringe Vorkommen von Anklagen wegen Körperverletzungen gegen Jugendliche scheint allerdings kein reichsweiter Trend gewesen zu sein. So ergab eine im Krieg durchgeführte Umfrage bei den Jugendgerichten, dass sich die verhandelten Delikte „ihrer Art nach übereinstimmend aus Eigen- 693 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim, Privatklagelisten 1913-1916, StAL F 276 II, Bü 79-82. 694 Frank, Kommentar zu § 227 RStGB, S. 394. 695 Vgl. Gestrich, Traditionelle Jugendkultur, S. 108 ff. 696 Vgl. Kühne, Männergeschichte, S. 11. <?page no="190"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 191 tumsvergehen, Roheitsdelikten, insbes. Körperverletzungen, Tragen von Schußwaffen“ zusammensetzten. 697 Auch das zeigt, wie sehr es auf die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen ankam, ob sie vor Gericht eine Rolle spielten. e. Straftaten gegen die persönliche Freiheit Wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit, also die hierunter fallenden abweichenden Handlungsweisen der Freiheitsberaubung, der Nötigung und der Bedrohung gemäß den Paragraphen 239, 240 und 241 des Reichsstrafgesetzbuches, mussten sich im Untersuchungszeitraum ausschließlich männliche Jugendliche vor der Strafkammer verantworten. Es kam zu keiner einzigen Anklage gegen ein Mädchen. Freiheitsberaubung lag vor, wenn ein oder mehrere Akteure eine andere Person einsperrten oder in anderer Weise der persönlichen Freiheit, also der „Fähigkeit, den Willen zum Verlassen des Aufenthaltsortes zu betätigen“, beraubten. 698 Nötigung meinte allgemeiner das Erzwingen von Verhaltensweisen mittels Gewaltanwendung oder Androhung einer Straftat; Bedrohung meinte ganz konkret die Androhung einer Verbrechensbegehung. Eine Bedrohung musste nicht notwendigerweise mit dem Einsatz oder der Androhung von Gewalt verbunden sein. Die beiden erstgenannten Deliktformen setzten sich aus zur damaligen Zeit mit „männlichen“ Attributen in Zusammenhang gebrachten Handlungsweisen zusammen - aggressives Auftreten Dritten gegenüber und die Androhung von Gewaltanwendung. Dass keine Mädchen angeklagt wurden, hängt wie bei den Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit vermutlich mit dieser geschlechtsspezifischen Konnotation zusammen, die verhinderte, dass Mädchen solche Handlungen ausübten, oder es verhinderte, dass solche Verhaltensweisen an die Öffentlichkeit gebracht wurden. Dazu kommt die oben erläuterte stärkere Sozialkontrolle, denen heranwachsende Frauen im Gegensatz zu ihren männlichen Altersgenossen unterlagen. Insgesamt kamen diese Delikte selten zur Anklage: in den Jahren 1904, 1909, 1912 und 1913 je einmal sowie im Jahr 1908 viermal. Weiterführende Erkenntnisse lassen sich daraus nicht ableiten. 697 Meseritz, Einfluß des Krieges, S. 232. 698 Vgl. Frank, Kommentar zu § 239 RStGB, S. 406. <?page no="191"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 192 f. Straftaten gegen die Sittlichkeit Bei den vom Gesetzgeber mit Sanktionsdrohung belegten sexuellen Handlungen handelte es sich um Straftatbestände, die in einem besonderen Maße normativem Wandel unterlagen. Die Gruppe der Sittlichkeitsdelikte hat insgesamt eine Umwertung erfahren. Heute spricht das Gesetz von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Einige der früher als Sittlichkeitsdelikte gewerteten Handlungen sind aus dem Strafkatalog verschwunden. 699 Daher soll an dieser Stelle ein genauerer Blick auf die entsprechenden rechtlichen Bestimmungen geworfen werden. Die rigide Sexualmoral der bürgerlichen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches kannte eine Vielzahl von sexuellen Abweichungen, welche teilweise auch mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft wurden. Die klare offizielle Norm bildete innereheliche Sexualität: „Die zurzeit vom Recht anerkannte Form des Geschlechtslebens ist die sogenannte lebenslängliche Einehe zweier Personen verschiedenen Geschlechts.“ 700 , heißt es im einschlägigen Heft der progressiven, populärwissenschaftlichen Großstadtdokumente. 701 Hier werden Sexualität und Ehe gleichgesetzt. Das am häufigsten zur Anklage stehende Delikt war die so genannte Verübung unzüchtiger Handlungen mit Personen unter 14 Jahren nach Paragraph 176 Ziffer 3, also Kindesmissbrauch, ausgeübt meistens von männlichen Jugendlichen. In einzelnen Fällen standen aber auch Mädchen wegen Kindesmissbrauch vor Gericht. 702 Auch die Definition der potentiellen Opfer erfolgte geschlechtsneutral, es konnten sowohl Mädchen als auch Jungen betroffen sein. Das zu schützende Rechtsgut war keineswegs die physische oder psychische Unversehrtheit der Opfer selbst. Vielmehr spielte die Schädigung deren moralischer Unversehrtheit, notwendig als Basis einer weiteren sittlichen Entwicklung, die entscheidende Rolle beim Zustandekommen dieses Straftatbestandes. 703 699 Vgl. StGB, Dreizehnter Abschnitt, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Stand 2003). 700 Werthauer, Sittlichkeitsdelikte, S. 7. 701 Vgl. Thies, Ethnograph des dunklen Berlin, S. 120. 702 1904 in 4 Fällen sowie 1915 und 1916 in einem Fall. 703 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 59 f. <?page no="192"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 193 Im Gegensatz dazu bezog sich die Nötigung zur Unzucht, durch Paragraph 176 Ziffer 1 und 2 sanktioniert, nicht auf eine bestimmte Altersgruppe, sondern umfasste gewaltsam erzwungene sexuelle Handlungen an Frauen sowie den außerehelichen Beischlaf mit einer „willenlosen“, bewusstlosen oder „geisteskranke[n] Frauensperson“. 704 Eine Steigerung dazu stellte die Notzucht nach Paragraph 177 dar, da es hier nicht mehr allgemein um sexuelle Handlungen, sondern um den gewaltsam erzwungenen Geschlechtsverkehr ging. Bis zu einer Novelle des Strafrechts 1876 war Notzucht ein Antragsdelikt. 705 Vergewaltigung innerhalb der Ehe stand nicht unter Strafe, da das zu schützende Rechtsgut nicht die körperliche und seelische Unversehrtheit der Frau war. Vielmehr sollte die „Geschlechtsehre“ der Frau vor Übergriffen geschützt werden. Diese konnte ein Ehemann seiner Ehefrau jedoch nicht nehmen. 706 Ein nur bei männlichen Jugendlichen zur Anklage kommendes Delikt war die widernatürliche Unzucht oder Sodomie, definiert durch Paragraph 175, mit dem beischlafähnliche sexuelle Handlungen zwischen Männern und zwischen Menschen und Tieren unter Strafe gestellt wurden. Hier fand der Aspekt bürgerlicher Sexualmoral seinen juristischen Niederschlag, wonach Homosexualität unter Männern als sexuell abweichendes Verhalten anzusehen und auf eine Stufe mit Sexualkontakten zwischen Mensch und Tier zu stellen war. 707 Mit zunehmender Pathologisierung der Homosexualität - im Zuge allgemeiner Pathologisierungstendenzen von Kriminalität durch die Kriminologie - ab Ende des 19. Jahrhunderts stellten allerdings Psychiater ihre Strafbarkeit in Frage. Da sie Homosexuelle als „krank“ ansahen und ihnen damit die Verantwortlichkeit für ihr Tun aberkannten, war die Möglichkeit einer strafrechtlichen Sanktionierung in Frage gestellt. 708 Diese Sichtweise manifestierte sich jedoch nicht in einer Änderung der Strafgesetze. Weibliche Homosexualität stand nicht unter Strafe. Diese Forderung wurde zwar durchaus erhoben, seit Sexualpathologen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts weibliche Penetrationspraktiken „entdeckten“. Damit fand sich weibliche Homosexualität zu einer „echten“ Sexualität aufgewertet. 709 704 Vgl. § 176 Zif. 1 und 2 RStGB. 705 Vgl. Liszt, Lehrbuch, S. 200. 706 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 53. 707 Zum Thema Homosexualität liegen auch für die Zeit des Kaiserreichs zahlreiche Studien vor, vgl. u. a. Hutter, Gesellschaftliche Kontrolle; Mildenberger, Homosexualität; Nieden, Homosexualität und Staatsräson. 708 Vgl. Mildenberger, Homosexualität, S. 77 ff. 709 Vgl. Eder, Kultur der Begierde, S. 166. <?page no="193"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 194 Das Delikt des Ehebruchs nach Paragraph 172 kam bei Jugendlichen nur sehr selten zur Anklage. Dies verwundert insofern nicht, da die meisten Jugendlichen noch ledig waren, wenngleich des Ehebruchs auch nicht verheiratete Personen angeklagt werden konnten. Den Ehebruch, dessen genaue Definition im Gesetzestext selbst nicht gegeben wurde, sahen Strafrechtler als „Beischlaf zwischen zwei Personen, von denen wenigstens die eine mit einer dritten verheiratet ist.“ 710 Blutschande gemäß Paragraph 173 stellte den „Beischlaf zwischen Verwandten“ und Verschwägerten unter Strafe. 711 Dieses Delikt gilt heute - als freiwilliger Inzest - als extrem ungewöhnliche Verhaltensweise. Dazu trat Zuhälterei gemäß Paragraph 181a, wonach es Männern verboten war, durch sich prostituierende Frauen den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten oder die Prostitution in anderer Weise zu fördern. 712 Verführung gemäß Paragraph 182 lag vor, wenn ein „unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat“ von einem Mann zum Beischlaf verführt worden war. Verletzt wurde durch die Verführung die Ehre der Familie. Wann ein Mädchen als „bescholten“ galt, war unter Juristen durchaus umstritten. Enge Auslegungen setzten Unbescholtenheit mit Jungfräulichkeit gleich und benutzten somit eine von bürgerlichen Maßstäben geprägte Definition als Tatbestandsmerkmal. Kritiker dieser Auslegung forderten hingegen, auch die Moralvorstellungen anderer Schichten zu berücksichtigen, wonach ein Mädchen nicht automatisch mit der Defloration als „bescholten“ anzusehen sei. 713 Von all diesen Delikten waren Ehebruch und Verführung Antragsdelikte. Bei Ehebruch konnte der Antrag seitens des verletzten Ehegatten und bei Verführung seitens der Eltern oder des Vormundes des verführten Mädchens gestellt werden. In allen anderen Fällen musste die Strafverfolgungsbehörden aktiv werden, wenn sie von einem Rechtsbruch durch Anzeige oder durch eigene Ermittlungen Kenntnis erhielten. Für die praktische Umsetzung kann man jedoch davon ausgehen, dass gerade bei diesen Delikten die Dunkelziffer besonders hoch war, da sie sich häufig innerhalb der Familie abspielten. Da Sittlichkeitsdelikte häufig schon per Definition nur von Männern begangen werden konnten, soll hier zunächst ein Blick auf die genaue zahlenmäßige Verteilung zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen geworfen werden. 710 Vgl. Frank, Kommentar zu § 172 RStGB, S. 312. 711 Vgl. § 173 RStGB. 712 Vgl. § 181a RStGB. 713 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 57 ff. <?page no="194"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 195 Tabelle 7: Sittlichkeitsdelikte Jahr m f gesamt 1904 27 6 33 1905 23 1 24 1906 15 1 16 1907 9 - 9 1908 11 - 11 1909 32 - 32 1910 16 1 17 1911 14 - 14 1912 8 - 8 1913 13 1 14 1914 20 - 20 1915 13 3 16 1916 7 1 8 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 8 - 8 Wie erwartet, kamen überwiegend von männlichen Jugendlichen begangene Sittlichkeitsdelikte zur Anklage. Lediglich 1904 lag der Anteil weiblicher Angeklagter höher. Darunter fallen vier Anklagen aufgrund von Paragraph 176 Ziffer 3. Die Trends der Entwicklung stellen sich graphisch aufbereitet wie folgt dar: <?page no="195"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 196 Diagramm 12: Sittlichkeitsdelikte Höhepunkt war gleich das erste Jahr der hier vorgenommenen Auszählung, 1904, mit 33 Anklagen gegen jugendliche „Sittlichkeitsverbrecher“ beiderlei Geschlechts. Bis 1907 erfolgte eine stetige und kontinuierliche Abnahme auf neun Anklagen, die im nächsten Jahr leicht auf elf anstiegen. Mit 32 Anklagen 1909 wurde erneut fast der Höchststand von 1904 erreicht, um in den nächsten Jahren wieder zu sinken. Im Jahr des Kriegsausbruchs 1914 kletterten die Anklagen noch einmal auf 20. Während des Krieges sanken sie auf acht Anklagen ab. Vergleicht man die Entwicklung der Anklagen wegen Sittlichkeitsverbrechen mit der Anklageentwicklung insgesamt, so fällt besonders die unterschiedliche Entwicklung während der vier Kriegsjahre auf. Insgesamt stieg die Zahl der Anklagen während dieser Zeit bis 1916 kontinuierlich an, um (1917 unberücksichtigt) 1918 wieder zu sinken. Bei den Anklagen wegen Sittlichkeitsdelikte verhielt es sich genau umgekehrt. Bezogen auf die Kriegszeit erreichen die Anklagen 1914 ihren Höhepunkt, um anschließend zu sinken. Diese Entwicklung im Kleinen für das Landgericht 33 24 16 11 32 17 14 8 14 20 16 8 8 9 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Jahr Anzahl zur Anklage kommende Sittlichkeitsdelikte (m/ f) <?page no="196"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 197 Ulm entsprach dem Bild, das sich bei der Analyse der Gesamtentwicklung darbot. 714 g. Straftaten gegen die Ehre Anklagen gemäß Paragraph 185 des Reichsstrafgesetzbuches, der die einfache oder formelle Beleidigung unter Strafe stellte, erhoben die Staatsanwälte gegen Jugendliche in den 14 untersuchten Jahren zwischen 1904 und 1918 nur zweimal. In beiden Fällen richtete sich die Anklage gegen männliche Jugendliche. Unter der einfachen Beleidigung verstanden Juristen Handlungen, die Personen entweder verbal oder mittels einer Tätlichkeit herabsetzten. 715 Die beiden Anklagen wegen Beleidigung vor der Strafkammer waren nur „Nebenprodukte“ anderer Strafverfahren, 1908 eingebettet in ein Verfahren wegen versuchter Nötigung, einfachen Diebstahls und Sachhehlerei. Die zweite Anklage wegen Beleidigung war eingebunden in ein Verfahren wegen versuchter Notzucht und versuchten Raubes. Allerdings konnten Beleidigungsverfahren auch auf dem Wege einer Privatklage entschieden werden, dann waren die Schöffengerichte zuständig. Nur einmal, im Jahr 1915, klagte ein Bauer gegen eine vierzehnjährige Fabrikarbeiterin wegen Beleidigung gemäß den Paragraphen 186 und 200 des Reichstrafgesetzbuches. 716 Der Landwirt nahm seine Klage allerdings noch nach Beginn der Hauptverhandlung zurück, so dass das Mädchen keine Konsequenzen tragen musste. 717 Auch hier kann aus dem Vorkommen respektive dem Nicht-Vorkommen von „Beleidigungen“ vor Gericht nicht geschlossen werden, dass Beleidigungen nicht zum Repertoire jugendlicher Handlungen gehörten. Ein dem Nachbarsjungen zugerufenes „du blöder Hund“ hätte, wäre Strafanzeige erhoben worden, dem Straftatbestand der einfachen Beleidigung entsprochen. Solche Verhaltensweisen gehörten aber zur Interaktion der Jugendlichen und wurden von diesen untereinander selbst sanktioniert oder ignoriert. Auch wenn die Beleidigung gegen einen Erwachsenen gerichtet war, wird der Konflikt zwischen Jugendlichem und Erwachsenem direkt ohne Hinzuziehen der Behörden ausgetragen worden sein. 714 Vgl. Exner, Krieg und Kriminalität, S. 6. Exner bezieht sich auf die Verurteilungen. 715 Vgl. Frank, Kommentar § 239 RStGB, S. 338. 716 § 200 RStGB: Veröffentlichung des Urteils wegen Beleidigung, wenn Beleidigung durch Schriften, Bilder etc. öffentlich begangen worden war. 717 Vgl. K. Amtsgericht Kirchheim, Privatklageliste 1915, Eintrag Nr. 25, StAL F 276 II, Bü 81. <?page no="197"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 198 h. Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege Unter die Gruppe der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege fallen so unterschiedliche strafrechtliche Bestimmungen wie die Widersetzung gegen eine Vollstreckung (§ 113), Hausfriedensbruch (§ 123), Bruch der amtlichen Verfügungsgewalt (§ 133), Falschwerbung oder Verleitung zur Desertion (§ 141), Falschmünzerei und Verbreitung von Falschgeld (§§ 146, 147), Meineid und fahrlässiger Falscheid (§§ 154, 163), falsche Anschuldigung (§ 164) sowie gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304). Im Gegensatz zu der den Eigentumsdelikten zugehörigen einfachen Sachbeschädigung und der zu den gemeingefährlichen Straftaten gehörigen gemeingefährlichen Sachbeschädigung (§§ 303, 305) war das besondere Merkmal der gemeinschädlichen Sachbeschädigung, dass sie sich gegen Denkmäler, Kirchen, Kunstwerke, Gegenstände der Wissenschaft oder der allgemeinen Nutzung - beispielsweise Parkbänke - richtete, also „Sachbeschädigung, […] gegen öffentliche Interessen“. 718 Aus diesem Grunde lag die Strafandrohung höher, bis zu drei Jahren statt bis zu zwei Jahren bei der einfachen Sachbeschädigung. Für Jugendliche galten demnach gemäß den Milderungsbestimmungen des Paragraphen 57 Strafandrohungen von maximal anderthalb Jahren für gemeinschädliche Sachbeschädigung. Unter die Widersetzung gegen Vollstreckung fasste das Strafgesetzbuch die Behinderung von Beamten, auch durch Tätlichkeiten, bei ihrer Tätigkeit zur Vollziehung von Gesetzen, Verordnungen oder Ähnlichem. Dieses Delikt kam also mit anderen Delikten zur Anklage und konnte zum Beispiel beinhalten, dass sich ein Jugendlicher bei seiner Festnahme gewehrt hatte. Verwahrungsbruch lag vor, wenn jemand Akten, Urkunden oder Ähnliches, was sich in amtlicher Aufbewahrung befand, vorsätzlich vernichtete oder beschädigte. Auch diese Delikte kamen überwiegend bei männlichen Jugendlichen zur Anklage. Insgesamt entwickelten sich die Anklagen folgendermaßen: 718 Frank, Kommentar zu § 304 RStGB, S. 587. <?page no="198"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 199 Tabelle 8: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege Jahr m f gesamt 1904 6 - 6 1905 1 - 1 1906 2 2 4 1907 - - - 1908 7 - 7 1909 - - - 1910 2 - 2 1911 - 1 1 1912 3 1 4 1913 2 - 2 1914 2 - 2 1915 2 - 2 1916 - - - 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 1 - 1 „Spitzenwerte“, allerdings auf sehr niedrigem Niveau, wurden in den Jahren 1904 und 1908 erreicht. In den Jahren 1907, 1909, 1911 und 1916, in vier von 14 analysierten Jahren, kam es zu keiner Anklage wegen Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Rechtspflege gegen einen männlichen Jugendlichen. In der übrigen Zeit kam es vereinzelt, zwischen ein- und dreimal jährlich, vor, dass Delikte dieser Gruppe vor dem Landgericht Ulm in Strafverfahren gegen männliche Jugendliche zur Aburteilung gelangten. Eine Besonderheit hinsichtlich der Zeit des Ersten Weltkrieges lässt sich hier nicht beobachten. i. Urkundendelikte Die Urkundendelikte umfassten die Urkundenfälschung nach Paragraph 267 und dessen Qualifizierungsfälle schwere Urkundenfälschung gemäß Paragraph 268 sowie die durch Paragraph 269 sanktionierte Blankettfälschung. Dazu kamen das Gebrauchmachen von einer falschen oder verfälschten Urkunden (§ 270), die mittelbare und schwere mittelbare Falschbeurkundung (§§ 271, 272) sowie Urkundenbeseitigung respektive Urkundenunterdrückung gemäß Paragraph 274 Ziffer 1. <?page no="199"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 200 Die Anklagen entwickelten sich auf niedrigem bis mittlerem Niveau. Diagramm 13: Urkundendelikte Der Höchststand der Anklagen wegen Urkundendelikten wurde schon vor dem Krieg im Jahre 1913 erreicht. Gerade mit Einführung der Lebensmittelrationierung im Verlauf des Krieges und den daraufhin ausgegebenen Marken zur Abgabe von Lebensmitteln hätte sich eine neue Möglichkeit von Urkundenfälschung ergeben. Trotzdem kam es zu keinem nennenswerten Anstieg während des Krieges. Denkbar ist, dass die Verdoppelung von acht Anklagen 1915 auf 17 Anklagen 1916 auf die Kriegssituation zurückzuführen ist. j. Gemeingefährliche Straftaten Zu den gemeingefährlichen Straftaten zählen hier die Arten von Delikten, durch deren Begehung, wie die Bezeichnung hinreichend verdeutlicht, eine Gefahr für eine unbestimmte Anzahl von Sachen oder Menschen entstand. Zu dieser so im Reichsstrafgesetzbuch auch existierenden Kategorie, welche unter anderem die vor dem Landgericht Ulm abgeurteilten Delikte schwere, einfache und fahrlässige Brandstiftung (§§ 306, 308 und 309), Gefährdung 3 7 1 4 17 10 13 18 13 26 3 8 17 11 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Anzahl Jahr zur Anklage kommende Urkundendelikte (m/ f) <?page no="200"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 201 des Eisenbahntransportes (§ 315), vorsätzliche Gefährdung des Telegraphenbetriebes und Gefährdung des Rohrpostbetriebes (§§ 317, 318a) umfasste, wurde für die Auswertung der Strafprozesslisten ebenfalls die oben bereits erwähnte gemeingefährliche Sachbeschädigung (§ 305) gezählt. Tabelle 9: Gemeingefährliche Straftaten Jahr m f gesamt 1904 3 - 3 1905 2 - 2 1906 1 - 1 1907 2 - 2 1908 3 - 3 1909 9 - 9 1910 2 - 2 1911 - - - 1912 4 1 5 1913 - - - 1914 - - - 1915 10 - 10 1916 - 1 1 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 1 - 1 Auch die gemeingefährlichen Straftaten wurden in der Regel von männlichen Jugendlichen begangen oder kamen fast ausschließlich, wenn Jungen als Täter ausgemacht werden konnten, vor Gericht zur Aburteilung. Nur in den Jahren 1912 und 1916 mussten sich Mädchen für eine gemeingefährliche Handlung verantworten. Im Verlauf der 14 auswertbaren Jahre lassen sich zwei Höhepunkte ausmachen, im Jahr 1909 mit neun Anklagen und im Jahr 1915 mit zehn Anklagen. k. Straftaten im Amte Die hier zur Anklage gekommenen Straftaten im Amt umfassten aktive Bestechung (§ 333), Unterschlagung im Amte (§ 350), der diese erschwerende Fall nach Paragraph 351, also schwere Amtsunterschlagung, die übermäßige <?page no="201"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 202 Erhebung von Abgaben (§ 353) sowie die Verletzung des Postgeheimnisses und der postalischen Beförderungspflicht (§ 354). Keines der Delikte war ein Antragsdelikt, bei Entdeckung eines solchen Falles wurde von Amts wegen ein Strafverfahren in Gang gesetzt. Gerade bei diesen Delikten habe der Verantwortungszuwachs für Jugendliche während des Krieges, bedingt durch ihre Beschäftigung als Posthelfer oder in anderen Positionen, für die sie nach Auffassung der erwachsenen Beobachter noch nicht reif genug waren, zu einem Anstieg geführt. Demnach wären die Jugendlichen, die nun in vormals Erwachsenen vorbehaltene verantwortungsvolle Positionen aufgerückt seien, durch diese sie überfordernde Verantwortung der Versuchung illegaler Bereicherung erlegen. 719 Insgesamt kam es vor dem Krieg zu zwei Anklagen, im Krieg 1915 zu einer und 1916 zu drei Anklagen wegen strafbaren Verhaltens im Amt. In allen Fällen waren es männliche Jugendliche, die sich aus diesem Grund vor Gericht wieder fanden, was angesichts der Stellung, die notwendig war, um solche Delikte überhaupt begehen zu können, nicht verwunderlich ist. Eine Steigerung im Krieg fand also statt, allerdings können aufgrund der geringen Fallzahlen keine Rückschlüsse gezogen werden, ob dies an der veränderten Stellung Jugendlicher im Krieg lag. Plausibler erscheint die Erklärung, dass mit der allgemeinen Zunahme der Vermögens- und Eigentumsdelikte zwischen 1914 und 1918 auch diese speziellen Fälle von rechtswidriger Aneignung fremder Dinge zunahmen. Demnach wäre nicht die neue Position des Jugendlichen ausschlaggebend für die Begehung eines Deliktes, sondern dass Jugendliche in diesen Positionen, wie andere Jugendliche auch, vermehrt Vermögensdelikte begingen. Da sie nun beispielsweise als Posthelfer beschäftigt waren, kam den Delikten qua Strafrecht eine andere Gewichtung zu. l. Übertretungen Die Gruppe der Übertretungen umfasste ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Straftatbestände, deren Gemeinsamkeit in ihrer Geringfügigkeit, was ihre Strafwürdigkeit angeht, und somit in der mit ihr verbundenen geringen Strafandrohung liegt. Da hier die Sanktionierung hauptsächlich der Polizei oblag, waren auch die Anklagen aufgrund von Übertretungen „Nebenprodukte“ im Strafverfahren. 719 Vgl. Liszt, Krieg und Kriminalität der Jugendlichen, S. 506; sowie Hellwig, Krieg und Kriminalität, S. 83. <?page no="202"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 203 Gegen Jugendliche kamen unbefugtes Tragen von Uniformen, Titeln oder Ähnliches (§ 360 Zif. 8), Erregung ruhestörenden Lärms und Verübung groben Unfugs (§ 360 Zif. 11), Landstreicherei (§ 361 Zif. 3), Betteleidelikte (§ 361 Zif. 4), Prostitution (§ 361 Zif. 6), Fälschung von Legitimationspapieren oder Zeugnissen oder Gebrauch fremder oder Überlassung eigener Legitimationspapiere und Zeugnisse (§ 363), Werfen mit Steinen, harten Körpern oder Unrat (§ 366 Zif. 7), Beerdigung respektive Wegschaffen eines Leichnams ohne Vorwissen der Behörde oder Wegnahme eines Leichenteils aus dem Gewahrsam der dazu berechtigten Person (§ 367 Zif. 1), Gefährdung des Verkehrs durch Geschosse und Ähnliches (§ 367 Zif. 8) und Aneignung von Verbrauchsmitteln, der so genannte Mundraub (§ 370 Zif. 5), zur Anklage. Der unter Paragraph 360 Ziffer 11 als strafwürdig angeführte „grobe Unfug“ war eine sehr schwammige und unter Juristen umstrittene Bezeichnung für unliebsame Verhaltensweisen, welche die öffentliche Ordnung zu stören vermochten. 720 Tabelle 10: Übertretungen Jahr m f gesamt 1904 7 1 8 1905 5 1 6 1906 1 - 1 1907 4 - 4 1908 5 - 5 1909 1 - 1 1910 - - - 1911 - - - 1912 3 1 4 1913 8 1 9 1914 1 - 1 1915 5 - 5 1916 2 2 4 1917 k. A. k. A. k. A. 1918 - 2 2 720 Vgl. Frank, Kommentar zu § 360 Zif. 11, S. 661 ff. <?page no="203"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 204 m. Verstöße gegen andere Strafbestimmungen Neben den hauptsächlich zur Anklage kommenden Straftaten gegen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches traten in einigen Fällen auch Anklagen wegen weiterer reichsrechtlich geregelter Straftatbestände oder gegen landesrechtliche Strafbestimmungen. Teilweise wurden diese Delikte nicht einzeln gezählt, da sie gemäß den angegebenen Konkurrenzbestimmungen des Paragraphen 73 des Reichsstrafgesetzbuches in Anklagen wegen höher sanktionierter anderer Straftatbestimmungen aufgingen. In den ersten drei untersuchten Jahren finden sich keine Verfahren, in denen die Anklage auch andere zählende Strafbestimmungen außer denen des Reichsstrafgesetzbuches enthält. Erst ab 1907 war dies der Fall, ab diesem Jahr kommt mindestens einmal eine weitere rechtliche Regelung zur Anwendung. Eine Ausnahme ist das Jahr 1911, in dem es zu keiner Anklage strafrechtlicher Nebengesetze kam. Der Grund dafür deutet sich in dieser Bezeichnung an: Durch das Strafgesetzbuch waren alle wesentlichen Fälle von rein strafrechtlich relevantem Verhalten definiert und für die Justizpraxis zusammengestellt worden. Daneben existierten zwar zahlreiche, jedoch nicht unbedingt für das ordentliche Strafverfahren ausschlaggebende Strafnormen. In der Mehrzahl der hier analysierten Fälle kamen Verstöße gegen diese Normen in Verfahren, welche auch Straftaten gemäß der Bestimmungen des reichsweit gültigen Strafgesetzbuches umfassten, zur Anklage. Es handelte sich dabei um folgende strafrechtlichen Nebengesetze: Tabelle 11: Verstöße gegen strafrechtliche Nebengesetze Gesetzliche Bestimmungen Anzahl der Übertretungen Wü. Polizeistrafgesetz 18 Wü. Forstpolizeigesetz 2 Wü. Meldepolizeiordnung 1 Wü. Gesetz über den Besitz von Waffen 1 Wü. Weidegesetz 1 Wü. Strafverordnung 1901 1 Sprengstoffgesetz (Reich) 8 Viehseuchengesetz (Reich) 4 Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs (Reich) 1 Gewerbeordnung (Reich) 1 <?page no="204"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 205 Inhaltlich handelte es sich dabei um sehr unterschiedliche mit Strafe bedrohte Handlungen. Bereits das Landesrecht deckte viele Bereiche ab. Die württembergische Strafverordnung von 1901 stellte falsche Angaben von Übernachtungsgästen in Wirtshäusern unter Strafe. 721 Gleiches galt für die Meldepolizeiordnung und die einschlägige hier zur Anklage kommende Bestimmung des württembergischen Polizeistrafgesetzes. 722 Außerdem verbot eine landesgesetzliche Bestimmung das Mitführen von Waffen in öffentlichen Versammlungen oder Wirtshäuser. 723 Das württembergische Polizeistrafrecht verbot es zudem Dienstboten, ihren Dienst vorzeitig zu verlassen oder gar nicht erst anzutreten. Die Verfolgung setzte auf Antrag der Dienstherrschaft ein. 724 Außerdem sanktionierte es den Diebstahl von Feldfrüchten und anderen Bodenerzeugnissen. 725 In eine ähnliche Richtung wies das württembergische Weidegesetz mit seinem Verbot, eigene Tiere auf fremden Grundstücken weiden zu lassen. 726 Das württembergische Forstpolizeigesetz hingegen belegte die Waldaufstockung unter Ignorieren behördlicher Vorgaben mit Sanktionsdrohung. 727 Dazu kamen reichsweit gültige Strafbestimmungen. Vor der Strafkammer kam gemäß dem Sprengstoffgesetz der illegale Besitz respektive die Herstellung, Einführung oder Weitergabe von Sprengstoff zur Anklage. 728 Um was exakt es sich im konkreten Fall handelte, ist aus den Angaben der Strafprozesslisten nicht ersichtlich. Durch das Viehseuchengesetz, 1909 unter Bezugnahme auf ältere Regelungen erlassen, regelte der Gesetzgeber das Verhalten zur Prävention und Eindämmung von Viehseuchen mit Hilfe von Sanktionsdrohungen. So muss- 721 Vgl. § 1 der Kgl. Wü. Verordnung vom 25.5.1901 betreffend das polizeiliche Meldewesen, in: RegBl Wü 1901, S. 115-117. 722 Vgl. § 4 Zif. 1 der Verfügung des Kgl. Wü. Innenministeriums vom 20.12.1913 betreffend das polizeiliche Meldewesen (Meldepolizeiordnung), in: RegBl Wü 1913, S. S. 358-364; sowie Art. 15 Zif. 2 des Wü. Gesetzes vom 4.7.1898 betreffend die Abänderung des Polizeistrafrechts, in: RegBl Wü 1898, S. 149-157. 723 Vgl. Art. 6 des Wü. Gesetzes vom 11.6.1853 über den Besitz und Gebrauch von Waffen, so wie über die Errichtung von Schützengesellschaften und Bürgerwachen, in: RegBl Wü 1853, S. 151-160. 724 Vgl. Art. 16 des Wü. PStG von 1898. 725 Vgl. Art. 36 des Wü. PStG von 1898. 726 Vgl. Art. 84 des Wü. Gesetzes über die Ausübung und Ablösung der Weiderechte auf landwirthschaftlichen Grundstücken; sowie über die Ablösung der Waldweide-, Waldgräserei- und Waldstreu-Rechte, in: RegBl Wü 1873, S. 63-92. 727 Vgl. Art. 20 Zif. 1 des Wü. Forstpolizeigesetzes vom 19.2.1902, in: RegBl Wü 1902, S. 51- 64. 728 Vgl. §§ 1, 9 des Gesetzes gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoff vom 9.6.1884, in: RGBl 1884, S. 61-64. <?page no="205"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 206 ten unter anderem die Stallungen gesperrt werden und Verwertung oder Transport der betroffenen Tiere unterbleiben. 729 Außerdem sanktionierten die Ulmer Strafrichter auf Basis des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes die illegale Weitergabe von Betriebsgeheimnissen. 730 Die ebenfalls reichsweit gültige Gewerbeordnung stellte unter anderem gewerbliches Umherziehen ohne gesetzlich erforderlichen Wanderschein unter Strafe, wie es hier zur Anklage kam. 731 n. Verstöße gegen Verordnungen des Stv. Generalkommandos Wichtiger als Verstöße gegen strafrechtliche Nebengesetze waren Verstöße gegen die während des Krieges gültigen Verordnungen des Stellvertretenden Generalkommandos auf Grundlage des Paragraphen 9b des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand von 1851. Sie bilden durch einen legislativen Akt geschaffene Kriegskriminalität, da das genannte Gesetz nur aufgrund des Kriegsausbruches zur Anwendung kommen konnte und die aus diesem Grunde erlassenen Verordnungen nur für die Dauer des ausgerufenen Belagerungszustandes galten. Bis 1915 kam bei solchen Verstößen das ordentliche Verfahren der Strafprozessordnung zur Anwendung, sie mussten vor einer mit fünf Richtern besetzten Strafkammer verhandelt werden. Juristen beklagten dies, da gerade viele Jugendliche davon betroffen waren. 732 Analog zu einer Verordnung des Bundesrates vom Juni 1915, nach der Vergehen gegen wirtschaftliche Bestimmungen gemäß Paragraph 3 des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen per Strafbefehl erledigt werden konnten 733 , vereinfachte der Bundesrat auch das Verfahren bei Verstößen gegen das Belagerungszustandsgesetz. Damit dehnte der Bundesrat diese zunächst auf Wirtschaftskriminalität beschränkte Durchbrechung des Legalitätsprinzips im Oktober 1915 auch auf Verstöße gegen Bestimmungen der Stellvertretenden Generalkommandos aufgrund Paragraph 9b des preußischen Belagerungszustandsgesetzes und Artikel 4 Nr. 2 des bayerischen Gesetzes über den Kriegszustand von 1912, 729 Vgl. Viehseuchengesetze vom 1.5.1894, in: RGBl 1894, S. 405-409; und vom 26.6.1909, in: RGBl 1909, S. 519-542. 730 Vgl. § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27.5.1896, in: RGBl 1896, S. 145-149. 731 Vgl. § 148 Zif. 7 GO. 732 Vgl. Eberhard, Krieg und Strafprozeß, S. 152 f. 733 Vgl. Verordnung über Zulassung von Strafbefehlen bei Vergehen gegen Vorschriften über wirtschaftliche Maßnahmen vom 4.6.1915, in: RGBl 1915, S. 325. <?page no="206"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 207 die nicht mit einer höheren Strafe als einem Jahr Gefängnis bedroht waren, aus. Die erste Verordnung entfiel. 734 In den ersten beiden Kriegsjahren 1914 und 1915 kam kein Verstoß auf Grundlage des Belagerungszustandsgesetzes zur Verhandlung vor dem Landgericht Ulm. Insgesamt wurden in den Jahren 1916 und 1918 folgende Verstöße geahndet: Tabelle 12: Verstöße gegen Verordnungen des Stv. Generalkommandos Verordnung des Stv. GK Anzahl der Verstöße Sprengstoffverbot (13.5.1915) 6 Verbot der Verbreitung von Flugblättern 2 Unerlaubter Verkehr mit Kriegsgefangenen (7.5.1915) 2 Dazu kommen zwei nicht näher präzisierte Verstöße gegen Bestimmungen aufgrund Paragraph 9b des Belagerungszustandsgesetzes. Unerlaubter Verkehr mit Kriegsgefangenen stand im Zuständigkeitsbereich des Stellvertretenden Kommandierenden Generals des XIII. Armeekommandos in Württemberg seit dem 7. April 1915 unter Strafe. 735 Diese Strafdrohung bei Kontakten, die über das für gemeinsames Arbeiten unbedingt notwendige Maß herausgingen, galt nur für Einheimische, nicht für die Gefangenen, wie in Juristenkreisen durchaus - mit vorurteilsbelastetem Unterton, was den „liederliche“ Umgang zwischen Mann und Frau in den Feindesländern anging - moniert wurde. Denn die „an einen freien Verkehr der Geschlechter gewöhnten und aus ihren Lebensgewohnheiten herausgerissenen Gefangenen aus Ost und West sind oft sehr zu- 734 Vgl. Bekanntmachung zur Entlastung der Strafgerichte vom 7.10.1915, in: RGBl 1915, S. 631-632. 735 Vgl. Bekanntmachung des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 7.4.1915, in: Staatsanzeiger für Württemberg 83/ 1915 vom 10.4.1915. <?page no="207"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 208 dringlich gegen ihre weiblichen Arbeitsgenossen und gelangen nicht selten auch zum gewünschten Ziel.“ 736 Im Falle einer Schwangerschaft hätten die Kriegsgefangenen höchstens Disziplinarstrafen zu erwarten, die Forderung richtete sich auf eine Ausdehnung der Strafbarkeit auf die gefangenen Kombattanten. 737 Dieses Kontaktverbot zwischen Deutschen und gefangenen ausländischen Soldaten galt nicht nur in sexueller Hinsicht. Jeglicher normale Umgang zwischen Gefangenen und einheimischer Bevölkerung sollte unterbunden werden. So erhielt ein Siebzehnjähriger einen Strafbefehl über einen Tag Gefängnis, nachdem er einem russischen Kriegsgefangenen eine Zigarette gegeben haben soll. Das Schöffengericht Ulm kassierte den Strafbefehl nur, weil die zuständigen Richter davon ausgingen, dass der Jugendliche die Zigarette nicht freiwillig hergegeben habe. 738 Kriegsgefangene in ihrer Umgebung gehörten für die Menschen im Landgerichtsbezirk Ulm zu ihrem nun auch durch den Krieg mitgeprägten Alltag. So internierten die Deutschen in der Garnisonsstadt Ulm in einem Lager bis Kriegsende 29.000 russische Kriegsgefangene, die zu Zwangsarbeiten herangezogen wurden. 739 Gerade in der Landwirtschaft setzte man diese und andere alliierte gefangene feindliche Kombattanten ein, aber auch in der Industrie und im Bergbau. Dennoch war der Arbeitseinsatz von gefangen genommenen Soldaten ein Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung, dessen sich das Deutsche Reich ab 1915 im Zuge der prekärer werdenden eigenen Situation schuldig machte. 740 Verstöße gegen Verordnungen des Stellvertretenden Generalkommandos spielten demnach vor der Strafkammer eine marginale Rolle. Ganz anders stellt sich die Situation vor dem Amtsgericht Kirchheim dar. In einer sehr großen Zahl hatten die Richter und Schöffen Jugendliche vor sich, die Obst- und Felddiebstählen überführt worden waren, wie sie seit dem 27. Juni 1917 vom Stellvertretenden Generalkommando unter Strafe gestellt worden waren. 741 Bei den Täterinnen und Tätern handelte es sich überwiegend entweder um Fabrikarbeiter, oder um Technikerlehrlinge, also Jugendliche, die vermutlich auch in einem Fabrikationsbetrieb beschäftigt waren. 736 Vgl. Winkler, Verkehr mit Kriegsgefangenen, S. 889. 737 Vgl. ebd. 738 Vgl. UTb vom 30.12.1915. 739 Vgl. Rak, Krieg und Krisen, S. 138. 740 Vgl. Hinz, Kriegsgefangene, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 645. 741 Vgl. Bekanntmachung des Stv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps vom 27.6.1917, in Staatsanzeiger für Württemberg 150/ 1917 vom 30.6.1917. <?page no="208"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 209 Hier liegen die Motive auf der Hand: die Ausbesserung der Nahrungsrationen. 7 . Freisprüche Nicht alle der angeklagten Jugendlichen verurteilten die Richter auch für die ihnen zur Last gelegten Taten. Eine bestimmte Anzahl von ihnen sprachen die Richter frei. Unter die hier gezählten Freisprüche sollen daher nicht diejenigen fallen, bei denen ein Jugendlicher oder eine Jugendliche nur einzelner zur Anklage stehender Straftatbestände freigesprochen, in weiteren Anklagepunkten allerdings für schuldig befunden wurde. Es zählen nur die absoluten Freisprüche, bei denen die Richter keinerlei Sanktionen verhängten. Darunter fallen auch die Freisprüche aufgrund des Paragraphen 56 des Reichsstrafgesetzbuches wegen fehlender Einsichtserkenntnis. Dies kam 1904 bei einer weiblichen Angeklagten, 1905 bei zwei männlichen Angeklagten und 1914 bei einem männlichen Angeklagten vor, insgesamt demnach in den wenigsten Fällen. Die Häufigkeit dieser Freisprüche variierte im Deutschen Reich sehr stark. Daher sagen diese Freisprüche wenig über die Einsichtsfähigkeit der Jugendlichen einer Region, aber viel über die Auslegung des Paragraphen 56 durch die lokalen Richter aus. 742 Am Landgericht Ulm handhabten die Strafrichter den Umgang mit der jugendlichen Einsichtsfähigkeit demnach eher restriktiv denn progressiv. Sie nutzten ihn nicht, um Jugendliche straffrei ausgehen zu lassen. Auch eine Freisprechung auf Grund des Paragraphen 51 des Reichsstrafgesetzbuches, der die Unzurechnungsfähigkeit definierte, erfolgte nur einmal. Im Jahr 1905 sprachen die Richter auf dieser Grundlage eine weibliche Angeklagte frei. Die richterliche Zurückhaltung bei der Konsultation von externen Gutachtern zur Prüfung der Zurechnungsfähigkeit wurde bereits erörtert. 743 In dieses Bild fügt sich auch dieser Befund. Betrachtet man nun die numerische und Prozentuale Entwicklung der Freisprüche, so bietet sich folgendes Bild: 742 Vgl. Aschaffenburg, Verbrechen, S. 121. 743 Siehe dazu Punkt V.7. <?page no="209"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 210 Tabelle 13: Freisprüche Jahr m f gesamt % 1904 9 1 10 16 1905 3 2 5 9 1906 6 4 10 22 1907 3 1 4 11 1908 3 1 4 8 1909 7 4 11 20 1910 9 - 9 16 1911 9 - 9 16 1912 6 1 7 10 1913 4 3 7 9 1914 3 - 3 7 1915 2 - 2 2 1916 11 2 13 10 1917 k. A. k. A. k. A. k. A. 1918 11 - 11 10 1915 sprachen die Richter die wenigsten Freisprüche aus, sowohl in realen Zahlen als auch Prozentual gesehen. Nur zwei Prozent der angeklagten Jugendlichen verließen das Gerichtsgebäude ohne mit Sanktionen belegt worden zu sein. Dieser geringe Wert hängt vermutlich damit zusammen, dass während des Krieges die Strafverfolgung insgesamt im Vergleich zu Friedenszeiten auf einem niedrigeren Niveau betrieben wurde und daher vor der Strafkammer nur noch eindeutige Fälle zur Verhandlung standen. Diese Tendenz setzte sich allerdings im weiteren Verlauf des Krieges nicht fort. Schon 1916 kletterten die Werte wieder prozentual in den zweistelligen Bereich. Allerdings erreichten sie nicht mehr ähnlich hohe Prozentwerte wie in der Vorkriegszeit. In allen anderen Jahren bewegten sich die Anteile der Freisprüche oberhalb der Fünf-Prozent-Marke, 1914 waren es sieben, 1908 acht und 1905 neun Prozent. In den übrigen zehn Jahren erreichten die Prozentualen Werte sogar den zweistelligen Bereich. Bedenkt man bei diesen Prozentsätzen, bei wie wenigen Jugendlichen ein gerichtliches Verfahren anhänglich war, so ist die Feststellung gerechtfertigt, dass sehr viele der Angeklagten freigesprochen und im Umkehrschluss nur wenige Jugendliche von der Strafkammer des Ulmer Landgerichts verurteilt wurden. <?page no="210"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 211 Zu diesen Freisprüchen kam 1915 ein Fall, in dem das Verfahren gegen einen Jugendlichen gemäß Paragraph 55, also weil der Beschuldigte zu Tatzeit noch gar nicht strafmündig war, eingestellt wurde. 8 . Sanktionen Zwischen den verhängten Sanktionen bestand pro Jahr eine große Spannbreite, wie die Auflistung der Höchststrafe auf der einen sowie der geringsten Strafe auf der anderen Seite zeigt: Tabelle 14: Die Spanbreite der Sanktionen Jahr Höchststrafe geringste Strafe 1904 1 Jahr 6 Monate Verweis 1905 6 Jahre 3 Tage 1906 2 Jahre 1 Tag 1907 1 Jahr 1 Tag 1908 1 Jahr 6 Monate 6 Mark 1909 4 Monate Verweis 1910 1 Jahr 1 Tag Verweis 1911 1 Jahr Verweis 1912 1 Jahr Verweis 1913 1 Jahr 1 Monat 1 Tag 1914 1 Jahr 15 Mark 1915 1 Jahr 6 Monate Verweis 1916 1 Jahr 3 Monate Verweis 1917 k. A. k. A. 1918 1 Jahr 10 Monate Verweis Insgesamt blieben die verhängten Sanktionshöhen zwischen 1904 und 1918 konstant - mit zwei Ausnahmen bei den Höchststrafen. Die Verurteilung eines Jugendlichen zu sechs Jahren Gefängnis im Jahr 1905 geht auf den einzigen abzuurteilenden Mord (Versuch) vor der Strafkammer zurück. Sehr gering fällt dagegen die Höchststrafe des Jahres 1909 mit nur vier Monaten aus. Bei den geringsten verhängten Strafen deutet sich ab 1909 eine Verschiebung hin zur Erteilung von Verweisen an. Ausnahmen sind 1913 und 1914. Die Strafe des Verweises sah das Reichsstrafgesetzbuch als Zugeständnis für <?page no="211"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 212 Jugendliche bei geringfügigen Delikten vor. Reichsweit entwickelte sich diese Strafart gerade bei den sehr jungen Delinquentinnen und Delinquenten zwischen zwölf und 13 Jahren als wichtiges Sanktionsinstrument. Dies galt insbesondere für einfache Diebstahlsdelikte. 744 Die Richter der Strafkammer in Ulm wendeten die Strafe des Verweises hingegen nur selten an, über den gesamten untersuchten Zeitraum nur bei 20 Verurteilungen. Grund für die zurückhaltende Anwendung war unter anderem, dass die Fälle leichter Kriminalität zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörten. Daher war beim Schöffengericht Kirchheim die Quote an erteilten Verweisen höher, allerdings kann auch hier nicht von einem systematischen Sanktionsverzicht durch Rekurs auf das Mittel des Verweises gesprochen werden. 1913 erhielten zwei Angeklagte einen Verweis, 1914 ein Angeklagter sowie 1915 und 1916 je drei Angeklagte. Lediglich das Jahr 1918 ragt heraus, da hier 14 Verweise erteilt wurden. Unterschiede zwischen der Kriegs- und der Vorkriegszeit in Bezug auf die Sanktionierung lassen sich aus den Strafprozesslisten nicht ablesen. Bei allen Verurteilten galt: Sie hatten, zusätzlich zur ausgesprochenen Sanktion, die im Strafverfahren entstandenen Kosten zu tragen. 745 Waren sie von einzelnen Anklagepunkten freigesprochen worden, so fielen die aus diesen Teilverfahren entstandenen Kosten nicht ihnen, sondern der Staatskasse zu Last. 746 Man hat es mit einer doppelten Bestrafung zu tun, zum einen geschöpft aus dem durch das Strafgesetzbuch vorgegebenen Sanktionskatalog und zum zweiten aus der Abwälzung von Gerichtskosten auf die Verurteilten. Bei Angeklagten oder deren Familien in einer finanziell prekären Situation mag diese „Nebenstrafe“ schmerzhafter gewesen sein als ein paar Tage Haft. Dazu kommt, dass gerade bei den jüngeren Verurteilten ohne eigene Barmittel diese Kostenverpflichtung die Familie traf. Diese Effekte erfuhren als Folge kriegsbedingter Verschlechterung der ökonomischen Situation bestimmter Kreise eine Potenzierung. Welche Dimensionen diese Kosten bedeuteten, ist schwer zu errechnen und darzustellen. Allerdings lassen sich einige erklärende Eindrücke vermitteln. So verdiente ein Ausgänger, der 1917 wegen Diebstahls vor Gericht stand, mit seiner Tätigkeit für einen Tapezier neun Reichsmark pro Woche. 747 Das mit seiner Verurteilung endende Gerichtsverfahren verursachte Kosten 744 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 294 f. 745 Vgl. § 497 StPO. Siehe dazu auch Leuenberger, Mitgegangen, S. 119 f. 746 Vgl. § 498 StPO. 747 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 9.8.1917 gegen Paul F. und Josef M., StAL E 350a, Bü 985. <?page no="212"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 213 von 69 Reichsmark, also mehr als das Siebenfache seines Wochenlohns, fast zwei Monatslöhne. 748 Natürlich ist es schwer, ohne genaue Kenntnis der Vermögensverhältnisse, in denen sich der Angeklagte befand, festzustellen, ob diese Summe eine besondere Belastung für ihn darstellte. Da er einer ungelernten Tätigkeit nachging, ist er jedoch der Unterschicht zuzurechnen und dürfte mithin finanziell dürftig ausgestattet gewesen sein. Festhalten lässt sich anhand dieser Indizien, dass die Pflicht zur Kostenübernahme eine empfindliche „Nebensanktion“ darstellen konnte, wenn die Verurteilten oder ihre Familien nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügten. 9 . Die bedingte Begnadigung Insbesondere bei Straftätern und Straftäterinnen jugendlichen Alters, die nur zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, gab es die Möglichkeit, sie bedingt zu begnadigen. Auf diesem Wege konnte das Verbüßen der Strafe ausgesetzt werden und bei guter Führung der Verurteilten entgingen diese dem Freiheitsentzug, man sprach daher auch von bedingtem Strafaufschub. Dahinter stand die Befürchtung, dass gerade kurze Gefängnisstrafen eher negative Auswirkungen auf jugendliche Strafgefangene haben könnten. Sie kamen mit anderen jugendlichen Straftätern in Kontakt, während eine erzieherische Einwirkung seitens der Institution Gefängnis aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer kaum möglich war. Abgesehen davon waren Gefängnisse im Kaiserreich aus heutiger Sicht reine Verwahranstalten ohne Resozialisierungsversuche. Die Einweisung jugendlicher Rechtsbrecher in solch eine „Hochschule des Lasters“ 749 galt es aus diesen Überlegungen heraus möglichst zu vermeiden. In Württemberg stand dieses jugendkriminalpolitische Mittel seit 1896 der Justiz zur Verfügung. Im Laufe der Zeit präzisierte man es und wertete es auf. Bis 1907 erging eine Vielzahl von Ausführungsbestimmungen. Diese bündelte und aktualisierte 1911 eine umfangreiche Verfügung des württembergischen Justizministeriums, somit waren die früheren Bestimmungen außer Kraft gesetzt. 750 Mit der Erteilung von Strafaufschub mit Aussicht auf bedingte Begnadigung entließ die Justiz einen Jugendlichen nicht bedingungslos ins zivile 748 Vgl. handschriftliche Kostenrechnung der für Paul F. anfallenden Kosten am Rand des Urteils, ebd. 749 Aschaffenburg, Verbrechen, S. 242. 750 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 29.4.1911 betreffend die bedingte Begnadigung, in: ABl Wü JM 1911, S. 241-250. <?page no="213"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 214 Leben. Damit durch den Strafaufschub auch die gewünschten erzieherischen Erfolge erzielt werden konnten, war an dessen Bewilligung besonderes „Wohlverhalten“ während der Probezeit geknüpft. 751 Die Strafvollstreckungsbehörden 752 , im Fall des Ulmer Landgerichtes die dortige Staatsanwaltschaft, sollten bei geeigneten jugendlichen Verurteilten prüfen, ob die bedingte Begnadigung Aussicht auf Erfolg haben könne, und in diesen Fällen einen Antrag beim Justizminister stellen. 753 Der Kreis der prinzipiell in Frage kommenden jugendlichen Verurteilten erweiterte sich im Laufe der Zeit. Waren es zunächst in der Regel nicht Vorbestrafte mit einer zuerkannten Strafe bis maximal drei Monate, wurde 1907 die Möglichkeit von Ausnahmen explizit betont. 754 Ab 1911 spielte die Sanktionshöhe von drei Monaten nur noch bei Vorbestraften als Richtwert eine Rolle. 755 Um entscheiden zu können, wer nun innerhalb des Kreises der potentiell Geeigneten tatsächlich zur bedingten Begnadigung vorgeschlagen werden sollte, mussten die Juristen oder ihre Mithelfer „detektivisch“ im sozialen Umfeld der betreffenden Jungen und Mädchen tätig werden, um herauszufinden, unter welchen Umständen sie lebten. Ein Rückgriff auf schon vor der Verurteilung für das Strafverfahren eingeholte Informationen war möglich. 756 1905 wurde ausdrücklich betont, dass die Ermittlungen nach Möglichkeit vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils einzuleiten seien. Das Verfahren sollte beschleunigt werden. 757 Vorher optional, musste sich ab 1902 auch das erkennende Gericht zu der Frage äußern, ob es einen bedingten Strafaufschub für 751 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 20. 752 Vgl. § 483 StPO: „Die Strafvollstreckung erfolgt durch die Staatsanwaltschaft auf Grund einer von dem Gerichtsschreiber zu erteilenden, mit der Bescheinigung der Vollstreckbarkeit versehenen, beglaubigten Abschrift der Urteilsformel.“ 753 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 1. 754 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 26.2.1896 betreffend die Ertheilung von Strafaufschub mit der Aussicht auf Begnadigung nach Ablauf einer Probezeit, in: ABl Wü JM 1896, S. 23-27, hier S. 24; und Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 30.9.1907 betreffend die Erteilung von Strafaufschub mit der Aussicht auf Begnadigung nach Ablauf einer Probezeit, in: ABl Wü JM 1907, S. 145-146, hier S. 146. 755 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 8. 756 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 11. 757 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 4.8.1905 betreffend die Beschleunigung des Verfahrens bei Erteilung von Strafaufschub mit der Aussicht auf Begnadigung nach Ablauf einer Probezeit, in: ABl Wü JM 1905, S. 69-70, hier S. 70. Genaue Gründe für den Wunsch nach Beschleunigung führte man nicht auf, es wurde lediglich auf die erfolgreiche Handhabung hingewiesen, die man so gewährleisten wollte. Es sollte also möglichst schnell geklärt werden, ob die Verurteilten die Gefängnisstrafe anzutreten hatten oder nicht, um den Vollzug gegebenenfalls nicht unnötig lange hinauszuzögern. <?page no="214"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 215 sinnvoll erachtete oder nicht. 758 Besonderes Gewicht erhielt das Votum der Richter schließlich ab 1911: Befürwortete das Gericht die bedingte Begnadigung, so hatte die Strafvollstreckungsbehörde auch dann die notwendigen Erhebungen einzuleiten und die Ergebnisse an das Justizministerium weiterzuleiten, wenn sie selbst dagegen war. 759 Die jugendlichen Verurteilten oder ihre gesetzlichen Vertreter konnten in Fällen, in denen das Gericht und die Strafvollstreckungsbehörde gegen die bedingte Begnadigung votiert hatten, selbst ein Gesuch für die Erteilung des Strafaufschubes einreichen. Die Strafvollstreckungsbehörde war dann auch gegen ihr Votum zu den erforderlichen Nachforschungen verpflichtet. 760 Wie oft dies vorkam und ob solchen Ersuchen regelmäßig Erfolg oder Misserfolg beschieden war, lässt sich aufgrund fehlenden Aktenmaterials nicht rekonstruieren. Für einzelne Fälle ist ein Gelingen dieser Bemühungen belegt, wie noch genauer gezeigt wird. Auf der anderen Seite mussten die Jugendlichen, die in den Genuss der Gnade kamen, diese nicht annehmen. Die Verurteilten konnten, wenn sie wollten, auf der Verbüßung der Freiheitsstrafe bestehen. 761 Das scheint auf den ersten Blick paradox. Es machte aber in Fällen Sinn, in denen sich eine sehr kurze Freiheitsstrafe weniger störend auf die weitere Lebensplanung auswirkte als die jahrelange Notwendigkeit, sich bewähren zu müssen - verbunden mit der Gefahr, doch noch die Freiheitsstrafe antreten zu müssen. Denkbar war dies in Fällen von anstehenden Ortswechseln, Eintritten in Arbeitsverhältnisse oder ähnlichen Zäsuren. Die verurteilten Jugendlichen erhielten, auch wenn sie bedingt begnadigt wurden, einen Eintrag in das Vorstrafenregister, da eine rechtskräftige Verurteilung der Begnadigung selbstverständlich vorausging. Strafrechtsreformer forderten daher die Einführung einer bedingten Verurteilung anstelle der bedingten Begnadigung. 762 Auf diese Weise sollte den Jugendlichen der Makel einer Vorstrafe erspart bleiben, um für ihre weitere Entwicklung keine unnötigen Hürden zu errichten. Zudem brachten Juristen als Argument für die bedingte Verurteilung vor, dass der Richter in der Hauptverhandlung einen besseren Eindruck von der Person des Delinquenten erhalte als die 758 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 5.11.1902 betreffend die Ertheilung von Strafaufschub mit der Aussicht auf Begnadigung nach Ablauf einer Probezeit, in: ABl Wü JM 1902, S. 142 f., hier S. 143. 759 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 16. 760 Vgl. ebd., § 17. 761 Vgl. ebd., § 19. 762 Vgl. Ellger, Fürsorge-Erziehung, S. 670. <?page no="215"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 216 Instanzen, die sich für ihre nachträgliche Entscheidung auf Berichte aus zweiter Hand stützen müssten. 763 Die bedingte Begnadigung kam natürlich auch bei den vom Landgericht Ulm verurteilten Jugendlichen zur Anwendung. Hier entwickelte sich die Gewährung der bedingten Begnadigung rein quantitativ wie folgt: Tabelle 15: Die bedingte Begnadigung 764 Jahr m f gesamt % 1904 12 - 12 24 1905 7 - 7 14 1906 6 - 6 17 1907 7 1 8 25 1908 10 5 15 31 1909 19 3 22 51 1910 18 4 22 46 1911 25 3 28 61 1912 29 5 34 54 1913 30 6 36 51 1914 17 1 18 42 1915 47 3 50 63 1916 77 4 81 68 1917 k. A. k. A. k. A. k. A. 1918 45 6 51 51 Die geringen Werte bei weiblichen Verurteilten liegen darin begründet, dass Mädchen und junge Frauen insgesamt seltener als Angeklagte vor der Ulmer Strafkammer standen. Sie sind nicht auf eine zögerlichere Gewährung zurückzuführen. Die Gewährung der bedingten Begnadigung bei verurteilten Jugendlichen nahm als Mittel der Kriminalpolitik gegenüber jugendlichen Straftätern an Bedeutung zu, eine Tendenz, die auch reichsweit zu beobachten war. 765 Von 763 Vgl. Correll, Bedingte Verurteilung, S. 557. In anderen europäischen Ländern bestand die Möglichkeit bedingter Verurteilung bereits, so etwa in Frankreich und Belgien, vgl. Oberwittler, Strafe, S. 298. 764 Mehrfachverurteilte eingeschlossen. Die hier angegebenen Prozentzahlen sind gerundete Werte. 765 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 299. <?page no="216"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 217 Beginn der Auswertung 1904 an lag der Prozentsatz immer im zweistelligen Bereich. 1907 hatte die jährlich vom Reichskanzler dem Reichstag vorgelegte statistische Erhebung über die Anwendung der bedingten Begnadigung im Deutschen Reich ergeben, dass Württemberg in dieser Hinsicht im Vergleich zu anderen Bundesstaaten zurückhaltender agierte. Preußen war in dieser Hinsicht, ganz wie es seinem Rang als größtem und bevölkerungsstärkstem Bundesstaat entsprach, Spitzenreiter, gefolgt von Bayern - zwei Befunde, die nicht verwundern und nicht irritieren mussten. Allerdings kam Württemberg erst an siebter Stelle, hinter Sachsen, Hamburg, Baden und Elsaß- Lothringen. 766 Zwischen 1896 und 1906 war in Württemberg 2.137-mal der bedingte Strafaufschub gewährt worden. In der Hansestadt Hamburg, die weniger als die Hälfte der Einwohner Württembergs hatte, gewährten die Behörden weit mehr als doppelt so viele bedingte Begnadigungen, nämlich 5.587. Allein der bayerische Oberlandesgerichtsbezirk Augsburg wies im gleichen Zeitabschnitt mit 2.558 bedingt Begnadigten gegenüber dem Königreich Württemberg höhere Werte auf. 767 Dieser Befund missfiel dem neuen württembergischen Justizminister. Schmidlin, geboren 1847, war von Haus aus Jurist. Er stand ab 1871 in Diensten der württembergischen Justiz, also seit dem Jahr der Reichsgründung und des Inkrafttretens des Reichsstrafgesetzbuches. Seit 1889 war er im Justizministerium tätig, von 1906 an schließlich als Minister. Dieses Amt übte er bis 1917 aus. 768 Obwohl seine Ausbildung demnach abgeschlossen war, bevor die „moderne“ Strafrechtsschule an den klassischen Strafvorstellungen nachhaltig zu rütteln begann und er während seiner „juristischen Primärsozialisation“ im Studium nicht mehr mit diesen Ideen in Berührung gekommen sein kann, stand er der bedingten Begnadigung als „modernem“ jugendkriminalpolitischem Instrument besonders aufgeschlossen gegenüber. Der Justizminister ging davon aus, dass einige Strafvollstreckungsbehörden in seinem Zuständigkeitsbereich verhältnismäßig zurückhaltend agierten, was eine interne Erhebung bestätigte. 769 Mit einer Verfügung sollte 1907 der besondere Stellenwert der Maßnahme betont werden, damit die zuständigen 766 Elsaß-Lothringen war zu diesem Zeitpunkt noch Reichsland und hatte demnach keine eigenen Ausführungsbestimmungen erlassen. 767 Vgl. Anlage 2, Übersicht I. Bewilligung des bedingten Strafaufschubs bis zum 31. Dezember 1906, in: Zusammenstellung der statistischen Ermittelungen über die Anwendung des bedingten Strafaufschubs bis Ende 1906, Reichstagsdrucksache Nr. 234, in: Drucksachen des Reichstags. XII. Legislaturperiode, I. Session. III. Band: Von Nr. 217 bis Nr. 267, Berlin 1907. 768 Vgl. Mann, Departementschefs, S. 239. 769 Die Erhebung liegt leider nicht vor. <?page no="217"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 218 Stellen zur häufigeren Antragstellung beim Justizministerium motiviert würden. 770 Auch für die Strafkammer des Landgerichtes Ulm kletterten in den folgenden Jahren die Werte; 1909 gewährte das Justizministerium erstmals mehr als der Hälfte der hier verurteilten Jugendlichen den bedingten Strafaufschub. Diese soliden Werte blieben fortan, bis auf zwei geringfügige Einbrüche 1910 auf 46 und im ersten Kriegsjahr 1914 auf 42 Prozent, die Regel. Der Höhepunkt dieser Entwicklung lag im Kriegsjahr 1916, als 68 Prozent der verurteilten Jugendlichen im Anschluss an ihr Urteil in den „Genuss“ der bedingten Begnadigung kamen. Während des Krieges erfuhr die bedingte Begnadigung somit keineswegs eine Einschränkung in der Anwendung. Das Gegenteil war der Fall, obwohl nicht alle mit der Jugendfürsorge betrauten Stellen die bedingte Begnadigung als Mittel der Jugendkriminalpolitik vorbehaltlos befürworteten. Vielmehr erhoben sich auch kritische Stimmen. So merkte die Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg 1915 in einem Schreiben an das Königliche Ministerium des Innern an, dass sich gerade auch in der Zeit des andauernden Weltkrieges die bedingte Begnadigung als kontraproduktiv erweise, da sich „Jugendliche aus einer Strafe, von der sie nichts zu fühlen bekommen, gar nichts machen und deshalb es auch nicht schwer nehmen, strafbare Handlungen zu begehen […].“ 771 Die Zentralleitung vertrat insgesamt in Fragen der Jugendkriminalpolitik keine progressive Einstellung, wie der Umgang mit der Jugendgerichtshilfe in Ulm zeigte. 772 In ihren Äußerungen spiegelt sich ein sehr eingeschränktes Verständnis von Sanktionen. Das mit der bedingten Begnadigung geforderte „Wohlverhalten“ konnte einen gravierenden Einschnitt in das alltägliche Leben eines Jugendlichen darstellen. Denn gefordert war ein über bloße Gesetzestreue hinausreichendes Maß an gesellschaftskonformem Verhalten, das Fürsorger, Geistliche, Ortsvorsteher, Lehrer oder andere erwachsene Autori- 770 Vgl. Verfügung JM b. B. 1907. 771 Auszug (maschinenschriftliche Abschrift) aus einem Schreiben der Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg an das Kgl. Wü. Innenministerium, November 1915, HStAS E 151/ 09, Bü 156. Als Absender wird in der Abschrift wörtlich die „Zentralstelle für Wohltätigkeit in Württemberg“ angeführt. Dabei handelt es sich um einen Fehler. Gemeint ist die 1817 gegründete Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg, die direkt dem König unterstand, siehe dazu Kgl. Statistisches Landesamt, Hof- und Staatshandbuch, S. 159 f. 772 Siehe S. 115 f. <?page no="218"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 219 tätspersonen im Umfeld des Jugendlichen für die endgültige Entscheidung kommentierten. 773 Da die Bewährungsfrist meistens zwei bis drei Jahre betrug, waren zeitlich viel länger Einflussmöglichkeiten als bei einem einwöchigen Gefängnisaufenthalt gegeben. Von „nichts fühlen“ kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. 774 Die Zentralleitung argumentierte auch entgegengesetzt zur Argumentation des Justizministers, der letztendlich die Richtlinien der strafrechtlichen Behandlung jugendlicher Verurteilter bestimmte. Auch als Reaktion auf so geartete Kritik konkretisierte das Justizministerium in einer Verfügung 1916 die Einflussmöglichkeiten. 775 Es konnten nun neben dem geforderten künftigen Wohlverhalten ganz konkrete, praktische Auflagen mit der Begnadigung verknüpft werden. Dazu zählten Wirtshausverbote für den jugendlichen Verurteilten ebenso wie die Aufforderung, eine als ungeeignet eingestufte Beschäftigung aufzugeben oder Schadensersatz für begangene Vermögensschädigungen zu leisten. 776 Entscheidend für die Gewährung einer bedingten Begnadigung war zunächst die Kriminalitätsstruktur. Denn die Häufigkeit der Anwendung hing natürlich auch mit den zur Anklage stehenden Straftaten und der damit verbundenen Höhe der Sanktionen zusammen, da die bedingte Begnadigung bis 1907 nur bei kurzer Dauer des verhängten Freiheitsentzugs angeordnet werden sollte. Zudem war entscheidend, ob die Persönlichkeiten der Verurteilten eine bedingte Begnadigung nahe legten. Hier handelt es sich um verfahrensimmanente Faktoren. Darüber hinaus war die bedingte Begnadigung jedoch ein Mittel, das der württembergische Justizminister Schmidlin, der letztendlich an Stelle des Königs über die Gewährung dieses Gnadenaktes befand, im Gegensatz zu den oben zitierten Kritikern entschieden befürwortete. Die besondere Forcierung des bedingten Strafaufschubs, deutlich ablesbar an der Verfügung von 1907, kam unter seine Ägide zustande. Gerade auch unter den besonderen Bedingungen der Kriegsgesellschaft trat er hierfür ein. Denn da man davon ausging, dass die kriegsbedingte Aufsichtslosigkeit als Hauptursache für Verwahrlosung und Kriminalität bei Jugendlichen zu gelten habe und diese mithin vorübergehend sei, wollte man 773 Vgl. Verfügung JM b. B. 1896, S. 26; und Verfügung JM b. B. 1911, § 27. 774 Demgegenüber geht Dietrich Oberwittler in Bezug auf die preußische Praxis bis 1914 davon aus, dass es sich im erzieherischen Sinne um eine ineffektive Sanktionsform gehandelt habe, vgl. ders., Strafe, S. 302 f. 775 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 31.3.1916 betreffend die bedingte Begnadigung, in: ABl Wü JM 1916, S. 35-41, hier S. 27. 776 Vgl. ebd., S. 36. <?page no="219"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 220 nicht durch besonders strikte Maßnahmen die weitere Lebensgestaltung der Jugendlichen erschweren. Das Justizministerium betonte in einer weiteren Verfügung von 1916, wie wichtig es sei, dass die bedingte Begnadigung als etabliertes Mittel der Jugendkriminalpolitik während des Krieges in ihrer Anwendung nicht eingeschränkt werde, und erließ, wie oben erwähnt, erneute Anwendungsbestimmungen. 777 Die Richter und Staatsanwälte des Ulmer Landgerichtes konnten sich in ihrer Vorgehensweise, die schon 1915 den Anteil der bedingten Begnadigungen auf 63 Prozent hatte ansteigen lassen, bestätigt sehen. Sie bekamen noch einmal ausdrücklich bescheinigt, dass sie für ihre Vorschläge mit der Zustimmung des Justizministers rechnen konnten. So erklärte Schmidlin in einem Schreiben an das Innenministerium aus dem Jahr des Spitzenwertes 1916 zur Erläuterung der von ihm erlassenen Verfügungen, dass sich die bedingte Begnadigung schon bisher bewährt habe. Er prophezeite weiterhin: „Aber auch unter den gegenwärtigen besonderen Verhältnissen lässt sie einen besonderen Erfolg erwarten, wofern nur ihre erzieherische Bedeutung von den beteiligten Stellen gewürdigt und der Einfluss, den der drohende Strafvollzug auf die Willensrichtung des Jugendlichen (und seiner Eltern) hat, für die Durchsetzung der nach Lage der Verhältnisse wünschenswerten besonderen Erziehungsmassnahmen nutzbar gemacht wird. So kann namentlich durch Auferlegung entsprechender Bedingungen bei Bewilligung probeweisen Strafaufschubs darauf hingearbeitet werden, dass der Jugendliche, soweit möglich, einen durch die Straftat verursachten Schaden ersetzt, dass er eine ungeeignete Beschäftigung aufgibt und anderer, geordneter Arbeit nachgeht, dass er das Wirtshaus oder eine böse Kameradschaft meidet, eine Wohnung oder einen Aufenthaltsort, die ihn gefährden, verlässt, sich freiwillig in eine Erziehungs- oder Rettungsanstalt begibt und dergl. Wo immer nach dem Inhalt der Akten die Verknüpfung einer solchen besonderen Auflage mit der Gewährung der bedingten Begnadigung angezeigt erscheint, wird von hier aus eine entsprechende Anordnung getroffen, […].“ 778 Es wird deutlich: Den Justizminister leitete nicht Mildtätigkeit den Jugendlichen gegenüber, denen ein unerfreulicher Gefängnisaufenthalt erspart bleiben sollte. Vielmehr schuf die bedingte Begnadigung durch die an sie geknüpften 777 Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 31.3.1916 betreffend die Fürsorge für Jugendliche während des Kriegs, in: ABl Wü JM 1916, S. 31-34, hier S. 32; und Verfügung JM b. B. 1916. 778 Maschinenschriftliches Schreiben des Kgl. Wü. Justizministers an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 14.4.1916, Betreff: Erziehung der Jugend während des Kriegs, HStAS E 151/ 09, Bü 156. <?page no="220"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 221 Auflagen für die jugendlichen Straftäter Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Lebensführung dieser Jugendlichen. 779 Solche Optionen wären in dieser Form nicht erlangt worden, hätte der Jugendliche „nur“ seine Haftstrafe verbüßt und wäre damit dem „langen Arm“ der Jugendpfleger und Jugendfürsorger entkommen. In die Argumentation mischten sich die damals bei Jugendlichen allgemein als kriminogen angesehenen Faktoren: der „schlechte“ Einfluss ungelernter Tätigkeit, „schlechte“ Gesellschaft, mangelhafte Wohnverhältnisse. 780 Besondere Bedeutung maß der Minister dem Umstand zu, dass Gefängnisstrafen ihr höchstes Abschreckungspotential besaßen, solange sie für den Jugendlichen nur als Schreckgespenst in seiner Phantasie existierten. Dies deutete er in der oben zitierten Passage seines Schreibens an, an anderer Stelle heißt es explizit: „Erfahrungsgemäss ist die Scheu vor diesen Strafen [Freiheitsstrafen, Anm.] bei den Jugendlichen grösser, solange sie ihnen als ein noch unbekanntes Zuchtmittel drohen, während nach Verbüssung die Furcht davor eher zu schwinden, als zu wachsen pflegt.“ 781 Er hoffte also auf eine disziplinierende Wirkung des drohenden Freiheitsentzuges auf die jugendlichen Gemüter, wenn dieser als Damoklesschwert über den Verurteilten schwebte. Solange sie noch nicht in Berührung mit der Institution Gefängnis gekommen waren, eignete sich eine Freiheitsstrafe auch als Projektionsfläche von Ängsten und Befürchtungen vor dem Unbekannten. Demgegenüber befürchtete man, dass das Gefängnis als Disziplinierungs- 779 Ob den Justizminister auch ganz praktische Gründe leiteten, etwa während des Krieges durchaus erstrebenswerte Kostensenkungen im Gefängniswesen, lässt sich nicht nachweisen. Allerdings wird in der ministeriellen Verfügung von 1916 mit Hinblick auf die bedingte Begnadigung erwachsener Verurteilter darauf hingewiesen, dass zwar einerseits im Krieg bei ihnen konsequente Bestrafung erforderlich sei. Andererseits könne es aber die „Rücksicht auf volkswirtschaftliche Bedürfnisse außergewöhnlicher Art in dieser Zeit äußerster Kräfteanspannung“ gegebenenfalls erfordern, dass den Familien und der Allgemeinheit „eine dringend notwendige Arbeits- und Erwerbskraft“ nicht durch einen Gefängnisaufenthalt entzogen werde. Hier konnte die Gewährung bedingten Strafaufschubs bei Erwachsenen auch dann gerechtfertigt sein, wo dies in Friedenszeiten unangebracht erschien, vgl. dazu Verfügung JM b. B. 1916, S. 35. Zweckfremde Überlegungen konnten also durchaus auch eine Rolle spielen. 780 Zu diesen Stereotypen siehe Punkt I.2. 781 Maschinenschriftliches Schreiben des Kgl. Wü. Justizministers an das Kgl. Wü. Innenministerium vom 14.4.1916, Betreff: Erziehung der Jugend während des Kriegs, in: HStAS E 151/ 09, Bü 156. <?page no="221"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 222 instanz seinen „negativen Zauber“ verlöre, wenn ein Jugendlicher erst einmal inhaftiert und das Gefängnisleben zur alltäglichen Erfahrung geworden war. Der Minister vertrat in dieser Frage eine den Strafrechtsreformern ähnliche Linie, die die schädliche Wirkung kurzer Freiheitsstrafen monierten, um deren Aussetzung es bei der bedingten Begnadigung ja konkret ging. Indem den Verurteilten ein „freiwilliger“ Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt nahe gelegt wurde, gelangte die Justiz zudem „durch die Hintertür“ zu einer Maßnahme, die ihr eigentlich verwehrt war: einen rechtskräftig verurteilten Straftäter jugendlichen Alters doch noch einer Jugendfürsorgeanstalt zu überantworten, ohne zuvor ein entsprechendes Verfahren beim Vormundschaftsgericht einleiten zu müssen. Die Einweisung in eine Fürsorgeerziehungsanstalt konnten die Richter bei erfolgter rechtskräftiger Verurteilung nicht mehr selbst veranlassen. Sie konnten die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt nur bei Jugendlichen anordnen, die sie zuvor wegen mangelnder Einsicht in die Strafbarkeit ihres Handelns gemäß Paragraph 56 des Reichstrafgesetzbuches freisprechen mussten - eine Einschränkung, die von der strafrechtlichen Reformbewegung heftig kritisiert wurde. Ein Verfahren zur Anordnung der Fürsorgeerziehung lag nach Verurteilung nicht mehr in ihrer Kompetenz. Die Richter konnten Fürsorgeerziehung beantragen, entschieden wurde es von anderer Stelle. 782 In Württemberg fungierten die Amtsgerichte als Vormundschaftsgerichte, wie sie gemäß den Paragraphen 1666 Absatz 1 und 1838 des BGB vorgesehen waren. 783 Natürlich war auch so die Option gegeben, einen straffälligen Jugendlichen nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe zusätzlich in einer Fürsorgeanstalt zu internieren, und dies kam auch vor. Allerdings waren dafür die bürokratischen Hürden eines weiteren Gerichtsverfahrens zu nehmen, diesmal vor dem Vormundschaftsgericht. Durch das Druckmittel, jugendlichen Verurteilten die bedingte Begnadigung zu verwehren, falls sie nicht „freiwillig“ in eine Fürsorgeanstalt gingen, kamen die Behörden ohne zusätzliches Verfahren unbürokratischer ans Ziel. Kritikern der bedingten Begnadigung durfte bei all den beschriebenen Reglementierungs- und Einflussmöglichkeiten glaubhaft entgegengehalten 782 In Württemberg waren zur Antragstellung Eltern und Großeltern, Vormund und Gegenvormund sowie Pfleger, der Beistand der Mutter und „diejenigen Behörden, welche von der Verwahrlosung eines Minderjährigen Kenntnis erhalten“ berechtigt, vgl. Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 29. Dezember 1899 in der Fassung des Gesetzes vom 11. November 1905, in: Schmitz, Fürsorgeerziehung Minderjähriger, S. 570-571. Da Kriminalität häufig als letzte Stufe im Prozess der „Verwahrlosung“ galt, waren Strafrichter wichtige Antragsberechtigte. 783 Vgl. Art. 2 des Wü. Fürsorgeerziehungsgesetzes. Zur Geschichte der Fürsorgeerziehung siehe die Studien von Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung; Malmede, Jugendkriminalität; Peukert, Grenzen. <?page no="222"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 223 werden, dass „[n]icht aus ,Sentimentalität’, sondern aus wohlverstandenem Staatsegoismus“ 784 Jugendliche bedingt begnadigt wurden. Falls sich die bedingt begnadigten Jugendlichen trotz intensiver Bemühungen oder Auflagen nicht gut führten, konnte die Bewährungsfrist für die bedingte Begnadigung auch nachträglich verlängert werden. 785 Auf diese Weise konnte man eine verstärkte Drohkulisse vor den Betroffenen aufbauen, ohne die Bewährungsmöglichkeit gleich widerrufen zu müssen. Davon erhofften sich die Verantwortlichen einen zusätzlichen Disziplinierungseffekt. Bei der Klientel des Landgerichtes wendete man die Fristverlängerung bis 1913, als einem bedingt begnadigten Jungen auf diese Weise ein Warnsignal gezeigt wurde, allerdings überhaupt nicht an. Weiterhin sind in den Strafprozesslisten für das Jahr 1915 sechs und für das Folgejahr 1916 drei Fristverlängerungen dokumentiert. Häufiger widerrief das Justizministerium gleich die bedingte Begnadigung, erstmals im Jahr 1905 bei einem Jungen. 1910 traf es zwei weitere bedingt Begnadigte, 1912 und 1914 je einen. 1915 gab es vier und 1916 neun Widerrufe, alle bei männlichen Verurteilten. Je häufiger die bedingte Begnadigung gewährt wurde, desto größer war natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass darunter Verurteilte waren, die in den Augen der Behörden nicht die nötigen Anstrengungen unternahmen, um sich zu bewähren. Mit den 1916 eingeführten Auflagen boten sich manifeste Maßstäbe für die Beurteilung der Frage, ob die Jugendlichen sich gut führten oder nicht. Damit war es einfacher zu entscheiden, ob ein bedingter Strafaufschub widerrufen werden sollte oder nicht. Auch das ist ein Grund für den Anstieg. Bei den mit der bedingten Begnadigung verbundenen Auflagen spielte auch die Vorstellung vom „Krieg als Erzieher“ eine Rolle. So vertraten Jugendpfleger durchaus die Ansicht, dass der Dienst an der Front auf gestrauchelte Jugendliche eine positive, resozialisierende Wirkung ausüben konnte: „Der Krieg wirkt heilend und ebnet vielen Jugendlichen den Weg ins Leben! “ 786 Diese Sichtweise teilte die Jugendgerichtshilfe in Ulm, die unter anderem bedingt begnadigte Straftäter betreute und als Kooperationspartner der zuständigen Strafvollstreckungsbehörden mögliche Auflagen vorschlagen 784 Liepmann, Kriminalität, S. 31. 785 Vgl. Verfügung JM b. B. 1911, § 29; und Verfügung JM b. B. 1916, S. 38 f. Zur Praxis dieser Bestimmungen siehe Erlass des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 16.4.1918 bezüglich der Verlängerung der Probezeit von Magdalena R., StAL E 350a, Bü 904. 786 Wittig, Einfluss des Krieges, S. 439. Wittig war Anstaltslehrer der Jugendabteilung in der Strafanstalt Bautzen. <?page no="223"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 224 konnte. 787 Bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Beaufsichtigungsmöglichkeit für ihre delinquenten jugendlichen Klienten ging es stets darum, dass diese den Weg zurück in ein konformes Leben fanden. Sie sollten (wieder) zu nützlichen Mitgliedern der wilhelminischen Gesellschaft werden - es ging um Resozialisierung im heutigen Sprachgebrauch. Darüber hinaus galt es, die Jugendlichen aus ihrem nach Ansicht der Jugendgerichtshilfe delinquenzfördernden Umfeld herauszulösen. Zu diesem Zweck befürworteten es die Jugendfürsorger aus Ulm, wenn bedingt begnadigte Jugendliche die Auflage erhielten, sich zum Heeresdienst zu melden. Die „’Sorgenkinder’ in den Soldatenrock zu stecken“ 788 war jedoch nicht die Standardbehandlung der bedingt begnadigten Jungen, vielmehr fungierte dies als letzter Ausweg, wenn keine anderen Unterbringungsmöglichkeiten für die „Problemfälle“ gefunden wurden. In solchen Fällen aber waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe für diese Option dankbar. 789 Im dritten Jahr des Krieges 1916 forcierte die Jugendgerichtshilfe bei sechs Jugendlichen den Eintritt in die Armee. 790 Man erwartete bei diesen besonders „hoffnungslosen Fällen“, dass sie, da sich im zivilen Leben keine als geeignet angesehene Betreuungsstelle finden ließ, unter den besonders extremen Bedingungen des Lebens an der Front zu Normen befolgenden, pflichtbewussten Menschen umgeformt werden würden: „Im friedlichen bürgerlichen Leben war’s ihnen zu eng gewesen. Unter dem Einfluß der militärischen Zucht, im gefährlichen Kampf, in dem es um ein so Großes ging, haben sie sich gefaßt und ihren Mann gestellt.“ 791 Die militärische Zucht und der Kampf um das große Ganze schien hier das kriminalpolitische Wundermittel gegenüber jenen Jugendlichen zu sein, bei denen andere Mittel versagten. Damit konnte der Krieg in der Sichtweise vieler in der Jugendarbeit Tätigen paradoxerweise beides darstellen: an der Heimatfront ein Fluch, da er die gewohnten Lebensumstände derart gravierend umwälzte respektive umzuwälzen schien, dass es aus zeitgenössischer Perspektive verstärkt zu abweichendem Verhalten Jugendlicher kam; am Schauplatz der Frontkämpfe ein Segen, um eben diese Jugendlichen zu disziplinieren. 787 Vgl. Verfügung JM b. B. 1916, S. 36. 788 Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 10, StAL E 191, Bü 5568. 789 Vgl. ebd. 790 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1916, S. 12, StAL E 191, Bü 5568. 791 Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 10, StAL E 191, Bü 5568. <?page no="224"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 225 Die zeitgenössische Bewertung des Allerhöchsten Gnadenerlasses des Kaisers aus den ersten Tagen des Krieges in seinen Auswirkungen auf jugendliche Verurteilte weist in diese Richtung. Ein positives Resultat schien der kaiserliche Erlass nur dann erzielen zu können, wenn die männlichen Jugendlichen die ihnen zuteil werdende Gnade dazu nutzten, um sich freiwillig zum Militär zu melden. 792 Es wurde in ideologischer Verklärung des Frontalltags nicht bedacht, dass ein Kriegseinsatz genau das Gegenteil bewirken konnte, nämlich Menschen vollends aus der zivilen Bahn zu werfen und auch so zu brutalisieren, dass ein Leben nach bürgerlichen Idealen kaum mehr möglich war. 793 Zynischerweise konnte diese Orientierungslosigkeit der Jugendlichen im Anschluss an ihr völlig unheroisches Kriegserlebnis wiederum den Eindruck einer in bedrohlichem Maße verwahrlosenden Jugend verstärken. 794 Die jugendlichen Verurteilten machten sich diese Denkweise der über ihr weiteres Fortkommen entscheidenden Stellen selbst zunutze. Auch wenn vom Gericht keine bedingte Begnadigung empfohlen worden war, konnten die Verurteilten diese selbst beantragen. Um ihrem Vorhaben, der Gefängnisstrafe zu entgehen oder sie abzukürzen, die notwendige und von den zuständigen Stellen akzeptierte Legitimation zu geben, konnten sie ihrer Bitte um bedingte Begnadigung mit dem Wunsch, ins Heer einzutreten und an die Front zu kommen, Nachdruck verleihen. Hinter der Adaption dieser Argumente konnte einerseits eine Beeinflussung durch die Jugendgerichtshilfe sowie die Wünsche und Erwartungen von Familie und Freunden stehen, andererseits auch die Hoffnung, dem Gefängnis an die Front zu entkommen und im Heer einen Prestigegewinn gegenüber dem Status als Häftling zu erreichen. Eindeutig kann die Motivation der Jugendlichen nicht geklärt werden. Diese Argumentation führte nicht zwangsläufig zum Erfolg. In Einzelfällen gewährte der Justizminister jedoch solchen jugendlichen Verurteilten bedingten Strafaufschub für den Dienst an der Waffe. 795 Das konnte sogar noch geschehen, wenn das erkennende Gericht die bedingte Begnadigung 792 Vgl. Leyen, Wirkung des Allerhöchsten Gnadenerlasses, S. 490. 793 Vgl. Mommsen, Militär, S. 270 f. Mommsen spricht von einer „Destruktion der Zivilgesellschaft“ in der Nachkriegsgesellschaft der Weimarer Republik. Literarisch verarbeitet hat Erich Maria Remarque die Schwierigkeiten der Rückkehr ins zivile Leben, vgl. ders., Weg zurück. Exemplarisch für unterschiedliche Handlungsnormen an der Front und in der Heimat sei hier die Episode um den geschlachteten Hahn erwähnt (S. 86-90). 794 Vgl. Gestrich, Jugendliche im Ersten Weltkrieg, S. 44. 795 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 10.7.1918 bezüglich der bedingten Begnadigung von Theodor Z., StAL E 350a, Bü 1092. <?page no="225"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 226 nicht empfohlen und der Jugendliche seine Haftstrafe schon angetreten hatte. Ein wegen Diebstahls Verurteilter, der selbst einen Antrag auf bedingte Strafunterbrechung stellte, kam wieder frei, um ins Heer eintreten zu können. Das Justizministerium wies die zuständige Gefängnisverwaltung an, ihn pünktlich zur Einberufung zu entlassen. Ende Juni 1918 tauschte der Siebzehnjährige seine Gefängniskluft gegen die Armeeuniform. 796 Gegen Ende des Krieges schien jeder Soldat für die Armee nützlich, der mit dazu beitragen konnte, die drohende Niederlage abzuwenden. Sogar bei Verurteilten, die schwerer Straftaten überführt worden waren, praktizierte das Justizministerium diese ungewöhnliche Form der Soldatenrekrutierung. Ewald O., der wegen besonders gewalttätigen Raubes ein Jahr und drei Monate im Gefängnis verbringen musste, kam auf Anweisung des Justizministeriums für den Heeresdienst vorläufig frei, obwohl sich das Gericht explizit gegen eine bedingte Begnadigung ausgesprochen hatte. 797 Allerdings wiesen die Richter selbst bei anderen Delinquenten in die gleiche Richtung. Damit signalisierten sie ihre Übereinstimmung mit dem Vorgehen der Jugendgerichtshilfe und des Justizministeriums und mit der Vorstellung, der Frontdienst könne resozialisierend auf die Verurteilten wirken. Die bedingte Begnadigung bei zwei 1917 verurteilten Dieben befürworteten sie für den Fall, dass diese ins Heer eingestellt würden. 798 Welche Bedeutung die Richter dem Frontdienst als Korrektionsmaßnahme zusprachen, zeigt noch deutlicher ein weiterer Fall. Für einen wegen Diebstahls Verurteilten konnten die zuständigen Strafrichter zwar die bedingte Begnadigung aufgrund der Schwere der Straftat nicht befürworten. Gleichwohl vermerkten sie im Urteil, dass sie sich einer bedingten Begnadigung auch nicht in den Weg stellen würden, wenn der Verurteilte sie beantrage, weil er freiwillig ins Heer 796 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Justizministeriums an die Kgl. Landesgefängnisverwaltung in Rottenburg vom 28.6.1918 bezüglich des bedingten Strafaufschubs für Bernhard R. (Abschrift für die Kgl. Staatsanwaltschaft in Ulm); und Schreiben des Kgl. Landesgefängnisses in Rottenburg an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 1.7.1918; beide Dokumente StAL E 350a, Bü 1075. 797 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Justizministeriums an die Kgl. Landesgefängnisverwaltung in Rottenburg vom 5.11.1917 bezüglich des bedingten Strafaufschubs für Ewald O. (Abschrift für die Kgl. Staatsanwaltschaft in Ulm); und Schreiben des Kgl. Landesgefängnisses in Rottenburg an die Kgl. Staatsanwaltschaft Ulm vom 14.11.1917; beide Dokumente StAL E 350a, Bü 2106. Hier kann aufgrund der lückenhaften Aktenüberlieferung nicht rekonstruiert werden, wer genau den Antrag auf bedingten Strafaufschub gestellt hat. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es Ewald O. selbst war. 798 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 3./ 4.5.1917 gegen Jakob M. u. a., StAL E 350a, Bü 950. <?page no="226"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 227 eintreten wolle. 799 Sie gingen demnach davon aus, dass eine Bewährung unter zivilen Umständen bei diesem Jugendlichen nicht zum Erfolg führen würde. Heeresdienst statt Gefängnisstrafe erachteten sie trotzdem als sinnvoll. Diese Praxis findet sich auch bei anderen Strafkammern im Königreich Württemberg. 800 Solche Befunde verwundern insofern nicht, da der Gedanke, militärische Zucht könne ein probates Mittel der Jugenderziehung sein, in der stark militärisch geprägten wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet war. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Forcierung von Jugendwehrgründungen zu Beginn des Krieges. 801 Im deutschen Kaiserreich genoss das Militär hohes Ansehen und galt als wichtige Sozialisationsinstanz für die jungen männlichen Staatsbürger, gerade auch für ihr Leben nach dem aktiven Militärdienst. 802 Dieses Bild wurde auch von ehemaligen Militärangehörigen in der Erinnerung an ihre Militärzeit adaptiert und weiterverbreitet, wenn sie von „Erziehung“ in der Armee sprachen. 803 Die Ansicht, dass durch militärische Institutionen ein Teil der notwendigen Erziehungs- und Sozialisationsaufgaben männlichen Jugendlichen gegenüber geleistet werden konnte, war innerhalb großer Teile der gesamten Bevölkerung virulent und wurde von Männern, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten und die selbstverständlich auch unter den Jugendpflegern vertreten waren, transportiert sowie für die Arbeit mit „schwierigen“ Jugendlichen nutzbar gemacht. Dazu kam das Selbstverständnis des Militärs als, wie es Ute Frevert charakterisiert hat, „Fels in der Brandung modernisierender Entwicklungen“ 804 . Da Jugendverwahrlosung häufig als ein Auswuchs der sozioökonomischen Wandlungsprozesse verstanden wurde, denen sich das deutsche Kaiserreich um die Jahrhundertwende ausgesetzt sah, konnte militärische Zucht und Ordnung als Mittel gegen diese „modernen Mangelerscheinungen“ betrachtet werden. Die Erziehungsideale des Bürgertums stimmten mit den Erziehungszielen der Armee überein - für beide bildeten Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit 799 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.5.1918 gegen Karl H., StAL E 350a, Bü 1089. 800 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ravensburg vom 26.7.1918 gegen Franz F. u. a., StAL E 350a, Bü 1092. 801 Siehe Punkt II.3.c. 802 Vgl. Frevert, Kasernierte Nation, S. 133 und S. 273 f. 803 Vgl. ebd., S. 216. 804 Ebd., S. 258. Sie weist aber ausdrücklich darauf hin, dass dies die Abschottung gegen gesellschaftlichen Wandel betraf, nicht jedoch eine Ablehnung neuer Technologien, die für die Kriegsführung nutzbar gemacht werden konnten. <?page no="227"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 228 und Gehorsam erstrebenswerte Sozialisationsziele für den Nachwuchs. 805 Hier überschnitten sich die Sekundärtugenden der wilhelminischen Gesellschaft und ihres Teilsystems, des Militärs. Somit war das Vorgehen der Jugendgerichtshilfe die logische Fortsetzung der Bemühungen, den nicht straffälligen Teil der männlichen Jugend seit Oktober 1914 in den Gruppen der neu gebildeten Jugendwehr positiv zu beeinflussen und vom „Abdriften“ in „schädliche“ Freizeitbeschäftigungen abzuhalten. Diese Intention scheiterte an der sozialen Selektion, die gerade den als gefährdet stigmatisierten Teil der Jugend von der Teilnahme an Übungen der Jugendwehr abhielt. In diesem Sinne kann der Einsatz von schon „gestrauchelten“ jungen Männern an der Front zu deren Resozialisierung als Potenzierung des „Zuchtmittels“ Jugendwehr gesehen werden. Jugendlichen, bei denen die vorbeugende Jugendpflege in der Jugendwehr nichts mehr ausrichten konnte, sollten statt dieser „Sandkastenspiele“ reale Fronterfahrungen die nötigen Einsichten und Konsequenzen für normkonformes Verhalten vermitteln. Allerdings glaubten nicht alle an die heilende Wirkung der Fronterfahrung. Franz von Liszt war beispielsweise der Überzeugung, dass sich „schwierige“ Jungen im Feld nicht plötzlich verantwortungsvoll verhielten. 806 Die beim Militär vorherrschende Erfahrung war, Teil einer gelenkten Masse zu werden. 807 Das Kriminellwerden als eine Form abweichenden Verhaltens stellte dagegen ein Ausscheren aus der Masse dar - die Motivation dafür sollte dem Jugendlichen beim Militär konsequent und dauerhaft genommen werden. Man hoffte dadurch einen jugendlichen Rechtsbrecher wieder zu einem „rechtschaffenen“ und gesetzestreuen Bürger formen zu können. Entsprechend waren auch Strafanstalten im Kaiserreich nach militärischen Mustern organisiert. Den Alltag bestimmten von der Armee kopierte Rituale zur Disziplinierung der Gefangenen und das Gefängnispersonal setzte sich zu einem Teil aus ehemaligen Soldaten zusammen. 808 Die Schnittmenge zwischen militärischer Zucht auf der einen sowie Verbrechenssühne und Verbrechensprävention auf der anderen Seite war im Kaiserreich demnach groß und im Krieg boten sich neue praktische Anwendungsmöglichkeiten an. Vom Untergang dieses Kaiserreiches profitierten die im letzten Kriegsjahr bedingt begnadigten Jugendlichen in besonderer Weise: Von den 51 Jugendlichen, denen 1918 Strafaufschub gewährt worden war, wurde 40 Jungen und 805 Vgl. ebd., S. 272; sowie dies., Schule der Männlichkeit, S. 161. 806 Vgl. Liszt, Krieg und Kriminalität der Jugendlichen, S. 501 f. 807 Vgl. Frevert, Kasernierte Nation, S. 246. 808 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 19 f. <?page no="228"?> VI. Die quantitative Entwicklung der Verfahren gegen Jugendliche 229 sechs Mädchen - das entspricht 90 Prozent - noch im selben Jahr durch die Reichsamnestie vom 3. Dezember 1918 die Strafe ganz erlassen. <?page no="230"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg Im Folgenden soll dargestellt werden, mit welchen Formen von Kriminalität sich die Juristen des Landgerichtes Ulm während des Krieges näher zu befassen hatten. Dadurch wird es möglich, die zuvor erhobenen statistischen Werte exemplarisch zu evaluieren. Tendenziell war das Landgericht im Vergleich zum Amtsgericht für schwerere Kriminalität zuständig. Die Art der verhandelten Kriminalität variierte allerdings nicht zwingend stark zwischen Landgericht und Amtsgericht. Die Gewichtung entschieden oft kleine Details in der Ausführung. So mussten sich zwei Jungen, einmal 1916 und einmal 1917, für Diebstähle vor dem Schöffengericht in Göppingen verantworten. Sie hatten aus Schubladen Geld und anderes gestohlen. Da sie die Schubladen dafür nicht aufbrechen mussten, handelte es sich um Diebstähle nach Paragraph 242. 809 Bei Aufbrechen der Schubladen hätte schwerer Diebstahl nach Paragraph 243 vorgelegen, für den die Strafkammer zuständig war. 1. Eigentumsdelinquenz Die größte Gruppe von Delikten bildete Eigentumskriminalität, hier wiederum Diebstähle. Vordergründig handelte es sich dabei um Straftaten, welche auf ökonomische Motive schließen lassen. Diese Motive wiederum konnten von unmittelbarer Bedarfsdeckung bis hin zum Erzielen von Gewinnen reichen. a. Gelddiebstähle Viele der überlieferten Urteile zeugen von Gelddiebstählen Jugendlicher. Unterscheidet man hier zwischen Taten in ihrem beruflichen sowie sozialen Umfeld, Delikte unmittelbar am Arbeitsplatz oder während der Arbeit, sowie delinquente Handlungen, die sich gegen dem Jugendlichen persönlich bekannte Personen richteten, oder in einem Rahmen, in dem sie anonym waren, 809 Vgl. Urteil des Kgl. Schöffengerichtes Göppingen vom 3.11.1916 gegen Eduard Sebastian R., StAL E 350a, Bü 989; und Urteil des Kgl. Schöffengerichtes Göppingen vom 28.12.1917 gegen Florian N., StAL E 350a, Bü 998. <?page no="231"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 232 fällt auf, dass die Jugendlichen viele Gelddiebstähle innerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes tätigten. Auch Gelddiebstähle innerhalb der Familie verhandelte das Gericht. Eugen R. stahl beispielsweise, um auf Wanderschaft gehen zu können, seiner Tante über 200 Mark aus einer Kommode. 810 Spielte sich die Tat am Wohnort der Delinquenten ab und war dieser klein, so zählten auch Gemeindebewohner, bei denen nicht explizit nachzuweisen ist, ob ein persönliches Verhältnis bestand, zum engeren Umfeld der Täter. 811 Dabei stellt sich die Frage, ob Jugendliche besonders häufig im persönlichen Umfeld Geld stahlen oder ob diese Arten Gelddiebstähle nur besonders häufig vor Gericht kamen. Einiges spricht für die letzte These. Denn die hier geschilderten Diebstähle boten eine günstige Ausgangslage für eine erfolgreiche Strafverfolgung. Ein Dienstknecht, der auf dem Hof seines Arbeitgebers wohnte, seinem Zimmergenossen aus dessen Koffer den Geldbeutel stahl und daraufhin die Arbeitsstätte verließ, bot sowohl dem Geschädigten als auch den Strafverfolgungsbehörden starke Verdachtsmomente. 812 Ähnliches galt bei einem Hausdiener. Er wurde von seinem Arbeitgeber beauftragt, aus den Geschäftsräumen etwas zu holen. Nachdem dort aus dem Schreibpult Kleingeld entwendet worden war, fiel der Verdacht sofort auf ihn. 813 Da in solchen Fällen, in denen der Täterkreis eng umgrenzt war, die Polizei ganz gezielt vorgehen konnte, lag die Aufklärungsquote besonders hoch. Diese günstigen Ausgangsbedingungen hätte beispielsweise der Taschendiebstahl einer Geldbörse auf dem Ulmer Münsterplatz während des Weihnachtsmarktes nicht geboten. 814 Bei Diebstählen am Arbeitsplatz provozierten die Jugendlichen mit ihrem Handeln nicht nur strafrechtliche Sanktionierung, sondern auch den Verlust des Arbeitsplatzes, da sie für ihre Arbeitgeber unhaltbar wurden. Letzteres konnte als Konsequenz zwar auch bei delinquentem Handeln außerhalb dieses Rahmens der Fall sein, es war aber keine zwangsläufige Konsequenz. 810 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.6.1917 gegen Eugen R., StAL E 350a, Bü 974. 811 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.12.1915 gegen Leonhard H., StAL E 350a, Bü 870. 812 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.5.1918 gegen Otto S., StAL E 350a, Bü 1088. 813 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 6.5.1915 gegen Georg B., StAL E 350a, Bü 853. 814 Der Weihnachtsmarkt, in Ulm „Weihnachtsmesse“ genannt, fand auch während des Krieges statt, vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 26.3.1918 gegen Peter W. und Anton G., StAL E 350a, Bü 1052. Zu den Schwierigkeiten der Überführung von Taschendieben siehe Roth, Kriminalitätsbekämpfung, S. 266 f. <?page no="232"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 233 b. Nahrungsmitteldiebstähle Diebstähle, bei denen Nahrungsmittel zur eigenen Bedarfssicherung gestohlen wurden, präsentieren sich im Spiegel der Ulmer Strafkammerurteile nur vereinzelt. Wenn man strenge Maßstäbe anlegt und nur die Urteile heranzieht, bei denen Kinder oder Jugendliche ausschließlich Grundnahrungsmittel stahlen, ohne gleichzeitig Geld, Genussmittel oder Ähnliches mitzunehmen, handelt es sich lediglich um vier dokumentierte Verfahren. Dazu kommen die unten beschriebenen Fälschungen von Bezugsscheinen sowie Markenklau. Auch diese Delikte können unter entsprechenden Umständen als Bedarfssicherungskriminalität angesehen werden. Aus der dünnen Überlieferung den Schluss zu ziehen, Nahrungsmitteldiebstähle zur unmittelbaren Kompensation der schon ab Winter 1914 auftretenden Versorgungsengpässe seien im Landgerichtsbezirk Ulm kaum vorgekommen, wäre allerdings falsch. Tatsächlich bot sich gerade bei diesen Straftaten, bei denen es um geringe Mengen Lebensmittel ging, die Aburteilung durch ein Schöffengericht an - allerdings nur dann, wenn es für den Diebstahl nicht notwendig gewesen war, in Gebäude einzudringen oder Behältnisse zu öffnen. Denn vor den Schöffengerichten kamen Diebstähle nur in ihrer „einfachen Variante“ und wegen geringer Mengen gemäß Paragraph 242 des Reichsstrafgesetzbuches zur Anklage. 815 Erstaunlich wenige Urteile betreffen zudem Diebstähle, die während des Kohlrübenwinters 1916/ 17 mit seinen extremen Versorgungsengpässen begangen wurden. Die zu erwartenden Diebstähle geringer Mengen Lebensmittel aus Not wurden vor der Strafkammer des Landgerichts offenbar nicht in größeren Ausmaßen gerichtsnotorisch. Auch hier waren vermutlich eher die Schöffengerichtskammern der Amtsgerichte zuständig. Einen Diebstahl von Grundnahrungsmitteln, der weit über den Eigenbedarf hinausging, begingen zwei Lehrlinge aus Ulm in Buttenhausen, Oberamtsbezirk Laupheim. Die beiden siebzehn und fünfzehn Jahre alten Jungen waren an der Versorgung ihrer Familien mit beteiligt. Sie waren von ihren Eltern an einem Maiwochenende 1918 zu Hamsterfahrten aufs Land in die Umgebung Laupheims geschickt worden. Ihre Bemühungen blieben am Sonntagmorgen erfolglos, da sich die Dorfbewohner in der Kirche befanden. Anstatt zu warten, brachen sie in ein verlassenes und verschlossenes Haus ein. Dort nahmen sie so große Mengen Lebensmittel mit, dass man hier von einer Plünderung sprechen kann: zehn jeweils sechs Pfund schwere Laibe 815 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozesslisten für die Jahre 1913; 1914; 1915; 1916; und 1918, StAL F 276 II, Bü 74-78. <?page no="233"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 234 Brot, ein halbes Pfund Zucker und 15 Pfund Mehl. Ihre Beute lieferten sie größtenteils bei ihren Eltern ab, denen sie erzählten, sie hätten sie gehamstert. Dingfest gemacht werden konnten die Jungen vermutlich, weil die Frau des Hauseigentümers sie schon vor dem Einbruch im Ort bemerkt hatte, weshalb sie ihr Haus, entgegen der sonstigen Gewohnheit, vor dem Kirchgang verschloss. 816 Die Fremden hatten Verdacht erregt, auch ohne schon abweichend in Erscheinung zu treten. Sie gehörten nicht zur dörflichen Gemeinschaft, daher war ihnen mit Vorsicht zu begegnen. Hier begingen die Jugendlichen demnach Straftaten in einem für sie anonymen, dörflichen Umfeld. Diese Art der „Beschaffungskriminalität“ reichte selbstverständlich weit über eine unmittelbare Bedarfsdeckung hinaus. Mit Hilfe einer Straftat konnte eine kleinere Vorratsbasis Lebensmittel für zwei Familien erlangt werden. Die Jugendlichen schädigten eine Bauernfamilie in erheblichem Maße, um für ihre Familien in der Stadt den Bedarf zu decken. Das Verhalten der Jungen illustriert die im Krieg auftretenden Konfliktlinien zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung. Die Städter machten die Bauern für ihre miserable materielle Situation (mit)verantwortlich. 817 Konsequent zu Ende gedacht, lag es aus dieser einseitigen Perspektive nahe, sich einfach zu holen, was die Agrarier den Städtern scheinbar böswillig vorenthielten. In diesem Sinne handelten die beiden Jungen. Darüber hinaus erscheint es aus Perspektive der Täter logisch, bei der sich einmal bietenden Gelegenheit möglichst viel Nahrungsmittel zur Selbstversorgung an sich zu bringen. Denn die Möglichkeiten, im Krieg Vorräte anzulegen, waren begrenzt. Das einmal auf sich genommene Risiko, welches mit strafbaren Handlungen verbunden war, konnte so in einem günstigen Kosten- Nutzen-Verhältnis aufgewogen werden. Auf der anderen Seite erscheint es aus Perspektive des Gerichtes logisch, diese Straftat nicht als Notdelikt zu werten. Einen uneigennützigen Diebstahl beging ein gerade voll strafmündig gewordener Tagelöhner in Ulm für einen jüngeren Kollegen, den man der Hehlerei beschuldigte. Der ältere hatte früher als Müllergeselle gearbeitet. Aus diesem Grunde fragte ihn Engelbert G., ob er Mehl besorgen könne. Denn in seiner Familie reichten Mehl und Brotmarken nicht aus. Vor Gericht verteidigte er sich damit, dass er dabei an einen legalen Erwerb gedacht habe, etwa durch Schenkung ehemaliger Kollegen des Müllergesellen. Da diese Annah- 816 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.8.1918 gegen Franz H. und Johannes Z., StAL E 350a, Bü 1116. 817 Vgl. Mommsen, Urkatastrophe, S. 95. <?page no="234"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 235 me zwischen den beiden aber nicht kommuniziert wurde, schlug Josef V. einen anderen Weg ein, um seinem Kollegen zu helfen. Er stieg nachts in die Mühle seines ehemaligen Arbeitgebers ein und nahm 20 Pfund Mehl mit, welches er Engelbert G. umsonst überließ. Vor Gericht kam den Angeklagten diese „Arbeitsteilung“ zugute. Josef V. verbuchten die Richter strafmildernd, dass er nicht aus Eigennutz gestohlen habe. Engelbert G. konnte die Strafkammer die angebliche häusliche Notlage nicht widerlegen. 818 Zwischen beiden Angeklagten muss ein freundschaftliches Verhältnis bestanden haben, sonst hätte sich Josef V. für den jüngeren vermutlich nicht strafbar gemacht und sich dem Sanktionsrisiko ausgesetzt. Zudem muss es ihm legitim erschienen sein, dem „Großen“ zu nehmen, um es dem „Kleinen“, seinem Tagelöhnerkollegen, zu geben. Der Krieg verstärkte nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen Besitzenden und ärmeren Menschen die Gegensätze und lieferte Letzteren eine Rechtfertigung, ihren Bedarf auf Kosten der „stärkeren Schultern“ sicherzustellen. Dies wird auch an einem anderen Fall deutlich. Zwei Jungen, die als Hausdiener in Ulmer Gasthöfen beschäftigt waren, stahlen aus einem Weinkeller erhebliche Mengen Alkohol. Eine Flasche davon wollte einer der beiden an seine Eltern schicken. In dem zugehörigen Begleitschreiben klärte der Junge seine Eltern darüber auf, woher der Cognac stammte, und bemerkte, „[d]em Fatz […] tue es nichts, der habe davon noch Hunderte im Keller.“ 819 Noch deutlicher kommt diese Stimmungslage bei einem Tagelöhner zum Ausdruck, dessen Sohn zusammen mit einem Freund im Herbst 1916 und im Frühjahr 1917 regelrechte Raubzüge in Ulm unternahm und dabei von Küchenzubehör über Lebensmittel und Alkohol bis hin zu Stallhasen eine beachtliche Menge Diebesgut zusammentrug. Dem Freund des Sohnes zufolge äußerte der Mann, dass man an der reichhaltigen Beute sehen könne, „wie die Leute im dritten Kriegsjahr noch leben, denen gehöre es genommen.“ 820 Deutlich spricht aus diesem Zitat die Verbitterung über tatsächliche und gefühlte Verteilungsungleichheiten bei denen, die besonders vom zunehmenden Mangel betroffen waren. Es war nicht so sehr der Mangel als solcher, der die Stimmung im Krieg vergiftete, sondern die als ungerecht empfundene Schere zwischen „Kriegsgewinnlern“ sowie nicht (stark) vom Mangel betroffenen 818 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.6.1916 gegen Josef V. und Engelbert G., StAL E 350a, Bü 891. 819 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 17.9.1917 gegen Albert G. und Josef K., StAL E 350a, Bü 1014. 820 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 3./ 4.5.1917 gegen Jakob M. u. a., StAL E 350a, Bü 950. <?page no="235"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 236 Bevölkerungsgruppen auf der einen und den „Verlierern“ der Verknappung auf der anderen Seite. 821 Allerdings stahlen die Jungen die Hasen aus den Kleingärten verschiedener Weichenwärter. 822 Die Weichenwärter zählten als Unterbeamte ebenfalls nicht zu den Begünstigten der Kriegssituation und versuchten mit der Hasenzucht vermutlich, ihre eigenen Rationen zu ergänzen. Möglicherweise waren die Gärten solche, die von der Stadtverwaltung Ulm nach Kriegsausbruch zur Sicherung der Eigenversorgung abgegeben worden waren. Bei dieser hier gegebenen Sachlage kann man eindeutig Roger Chickering zustimmen, der zugespitzt folgert, Kriminalität sei im Krieg wie im Frieden die Schädigung von Bedürftigen durch andere Bedürftige. 823 Auch drei jugendliche Tagelöhner im Alter von 15 und 16 Jahren, die auf dem Güterbahnhof in Ulm arbeiteten, suchten auf illegalem Wege neue Ressourcen zu erlangen. Zwei von ihnen waren bereits vorbestraft. Sie entdeckten bei ihrer Arbeit einen mittels eines Tuches „verschlossenen“ Korb - tatsächlich wertete die Zerstörung des Tuches den Diebstahl zu einem schweren Diebstahl gemäß Paragraph 243 auf. Einer der Jungen schnitt das Tuch auf und fand darin Hartwürste, von denen sich jeder Junge vier Stück nahm. Offenbar handelte es sich um einen Nahrungsmitteldiebstahl, den die Jungen aus der Unterschicht zur Kompensation des Mangels tätigten. Zum Verhängnis vor Gericht wurde ihnen jedoch, dass sie sich angeblich zu „allzu häufigem Wirtshausbesuch“ zusammenfanden. 824 Dieser Art der Freizeitgestaltung begegnete die bürgerliche Öffentlichkeit schon vor dem Krieg mit großer Skepsis. Während des Krieges und der gepredigten Opferbereitschaft konnte dieser Eskapismus noch weniger akzeptiert und toleriert werden, was schließlich im Verbot von Wirtshausbesuchen für Jugendliche mündete. Den Ausgleich von Mangel anzunehmen, fiel den Richtern bei einem vierzehnjährigen Schreinerlehrling verhältnismäßig leicht. Er hatte aus dem Dachabteil eines Nachbarn, in welches er über das Dach eingestiegen war, Rauchfleisch gestohlen. Da man ihm nicht mehr als die einmalige Wegnahme nachweisen konnte, wurde er statt schweren Diebstahls nur einer Übertretung des Mundraubes für schuldig befunden. Der notwendige Strafantrag - Mundraub gemäß Paragraph 370 Ziffer 5 des Strafgesetzbuches zählte zu den rei- 821 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 86. 822 Vgl. Urteil gegen Jakob M. u. a., StAL E 350a, Bü 950. 823 Vgl. Chickering, Great War, S. 526. 824 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 10.1.1916 gegen Johannes Sch., Eugen Sch. und Franz Sch., StAL E 350a, Bü 871. <?page no="236"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 237 nen Antragsdelikten - lag vor, und daher verurteilte ihn das Gericht zu fünf Tagen Haft. 825 Darüber hinaus wirft dieser Fall ein interessantes Licht auf die Art der Konfliktlösung während des Krieges. Das Wohnhaus war ein Dienstgebäude der Bahn in Söflingen, dem 1905 eingemeindeten industriellen Vorort Ulms. Hier wohnten ausschließlich Bahnbedienstete, also Kollegen, mit ihren Familien. Der Diebstahl wurde aktenkundig, da der ebenfalls im Haus wohnende Anton L. seiner Mutter erzählte, Ferdinand Sch. habe Rauchfleisch des Nachbarn gestohlen. 826 Auf diesem Weg muss der betroffene Weichenwärter von dem vermeintlichen Schuldigen erfahren haben. Offenbar erstattete er Anzeige, sonst wären aus dem Diebstahl keine polizeiliche Untersuchung und schließlich ein Gerichtsverfahren erwachsen. Was folgte, waren gegenseitige Beschuldigungen und Entlastungen. Ferdinand Sch. behauptete, Anton L. habe ihn erst auf das Rauchfleisch im Nachbardachabteil hingewiesen und auch selbst gestohlen. Demgegenüber führte Antons Mutter zu seiner Verteidigung an, ihr Sohn habe so harmlos berichtet, dass rein taktische Gründe für diesen Hinweis ausscheiden würden, er sei also unschuldig. Das Gericht folgte ihrer Darstellung. Ferdinand Sch. konnte als Entlastungszeugen nur seinen achtjährigen Bruder angeben, bei dem die Richter davon ausgingen, der Ältere habe den Jüngeren beeinflusst. Ohnehin sei Ferdinand Sch. ein Junge, der es „mit der Wahrheit nur sehr wenig genau nimmt u. im Lügen eine große Phantasie zeigt“ 827 . Andere Jungen, die als Zeugen vernommen wurden, stützten die Version der Familie L., da sie angaben, nur von Sch. und nie von L. Rauchfleisch erhalten zu haben. Weitere Komplexität erhielt der Fall, da das bestohlene Weichenwärterehepaar eine viel größere Menge Rauchfleisch als gestohlen deklarierte. Hier folgten die Richter jedoch aus Mangel an Beweisen der Argumentation der Erwachsenen nicht. 828 Es präsentiert sich eine Hausgemeinschaft voller „konkurrierender Wahrheiten“. Und es lassen sich Rückschlüsse über einen möglichen Grund für den Anstieg der Eigentumskriminalität während des Krieges ziehen. Plausibel ist, dass in Zeiten ohne Nahrungsmittelknappheit, in der sich die Gesellschaft nicht im Kriegszustand befand, ein solcher Nachbarschaftskonflikt ohne Hinzuziehen der Behörden geahndet und gelöst worden wäre. 825 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 13.6.1918 gegen Anton L. und Ferdinand Sch., StAL E 350a, Bü 1087. 826 Vgl. ebd. 827 Vgl. ebd. 828 Vgl. ebd. <?page no="237"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 238 Möglicherweise hätten sich die betroffenen Familien auf einen Ausgleich geeinigt. Aber womit hätte im letzten Kriegsjahr der Verlust von Rauchfleisch sinnvoll ausgeglichen werden können? Das Fleisch hatte einen Wert, der über den bezifferbaren Betrag - das Urteil geht von einem Wert von 3 Reichsmark pro Stück aus - hinausreichte. Es war durch eine Ausgleichszahlung nicht adäquat ersetzbar, da Rauchfleisch auf dem freien Markt nicht zu erwerben war. Eine Konfliktlösung zwischen den Nachbarn und Kollegen wurde damit erheblich erschwert. Für die Zunahme der Kriminalität im Krieg waren somit verschiedene sich ergänzende Faktoren ursächlich. Mit dem Anstieg der Kriminalität wuchs auch die Sensibilität ihr gegenüber; mit der Güterverknappung sank zwangsläufig die Bereitschaft, Diebstähle auch im unmittelbaren Umfeld informell zu sanktionieren oder über sie hinwegzusehen, wenn es sich nur um geringe Mengen handelte. 829 Zu diesen Diebstählen, bei denen Jugendliche ausschließlich (Grund)- Nahrungsmittel gestohlen hatten, kamen solche, bei denen auch (Grund)- Nahrungsmittel entwendet worden waren. Diebstähle von Nahrungsmitteln, die in Zeiten ohne Mangel für Kinder und Jugendliche „unattraktive“ Beute waren, stellten den Versuch dar, den Mangel auszugleichen. Das trifft auch dann zu, wenn zusätzlich noch Geld, Süßwaren oder Ähnliches gestohlen wurde. Hier griffen die Diebstähle über die reine Beseitigung eines Mangels hinaus, dennoch muss zunächst ein Bedürfnis zur Kompensation bestanden haben. Sonst wäre beispielsweise Brot bei einem Einbruch zur Geldbeschaffung unter Umständen einfach ignoriert worden. 830 Vor Gericht war es für die Jugendlichen in diesen Fällen jedoch problematisch, ihre Verteidigungsstrategie darauf aufzubauen, sie hätten aus Not gestohlen. Die ohnehin zurückhaltend bei der Zubilligung einer Notlage agierenden Richter gingen darauf gemäß ihrer Position nicht ein, wie später genauer erläutert wird. c. Hasen- und Viehdiebstähle Mit Diebstähle von Stallhasen 831 und der daraus resultierenden Problematik der strafrechtlichen Bewertung befasste sich 1916 ein Berliner Staatsanwalt. Da hier Behältnisse aufgebrochen wurden, die Hasenställe, mussten diese 829 Siehe dazu auch Jacobsen, Kriminalität der Jugendlichen, S. 7. 830 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.9.1915 gegen Anton W., StAL E 350a, Bü 865. 831 An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sich tatsächlich nicht um Hasen, sondern um Kaninchen handelte. Da hier jedoch von „Stallhasen“ und „Hasen“ die Rede ist, wird diese Formulierung beibehalten, auch wenn es biologisch falsch ist. <?page no="238"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 239 Fälle als schwere Diebstähle und damit als Verbrechen sanktioniert werden. Dies bedeute, „mit Kanonen nach Spatzen [zu] schießen“, da so „fünf gelehrte Richter mit der Aburteilung von Handlungen, die häufig nur Kindereien sind“, befasst waren - Verbrechen konnten generell nicht vor den Schöffengerichten abgeurteilt werden. 832 Diese Sichtweise greift jedoch gerade im Krieg zu kurz. In Zeiten von Fleischverknappung konnten Hasen, als Schwarzmarktgüter sehr begehrt, gewinnbringend verkauft werden. Ein sechzehnjähriger Schlosserlehrling, der bei Böhringer, einem kriegswichtigen Betrieb mit guten Verdienstmöglichkeiten, in Göppingen arbeitete, versuchte auf diese Weise sein Taschengeld aufzubessern. Dieses Bedürfnis war angeblich entstanden, da seine Freunde mehr zur Verfügung hatten. Er selbst musste den Großteil seines Verdienstes seiner Mutter abliefern, um mit zum Familieneinkommen beizutragen. Der Vater war einberufen - in diesen Fällen sank das Familieneinkommen. Bei einem in seinem Wohnort Gingen an der Fils ansässigen Bauern stahl er im April 1917 einen Rassehasen, den er an einen Kollegen verkaufte. Die Gewinnspanne für den Jungen war sehr lohnend. Der Hase war 10 Reichsmark wert, er erzielte immerhin 8 Reichsmark auf dem Schwarzmarkt. 833 Somit eignete er sich nicht direkt, beispielsweise durch Einbruch in ein Haus, illegal Barmittel an, sondern wählte den Umweg über einen Hasenstall für den illegalen Gelderwerb. Vielleicht hatte er für einen Einbruch in ein Wohngebäude in der überschaubaren Nachbarschaft Gingens zu große Skrupel. Neben Hasen boten sich auch Hühner und Enten als schwarzmarktkompatibles „Kleinvieh“ an. 834 Darüber hinaus konnten natürlich andere Überlegungen zum Diebstahl von Kleinvieh führen, vornehmlich um Nahrungsmittelknappheiten auszugleichen, wie in dem erwähnten Artikel beschrieben. 835 Motive, die sich nicht in das wirkmächtige Raster des Gelderwerbs oder der unmittelbaren Selbstversorgung einfügen lassen, offenbart der Fall eines fünfzehnjährigen Fabrikarbeiters aus Kleineislingen, Oberamtsbezirk Göppingen. Er war passionierter Hasenzüchter und besaß etwa vierzig Tiere. Aus seinem Bestand verkaufte er teilweise Hasen und beteiligte sich darüber hinaus mit der Schlachtung auf Naturalienbasis am Familieneinkommen. Im 832 Vgl. Rosenfeld, Notwendige Aenderungen, S. 162. 833 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 31.5.1917 gegen Wilhelm H., StAL E 350a, Bü 966. 834 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.6.1917 gegen Jakob H. und Johannes S., StAL E 350a, Bü 972. 835 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 6.6.1918 gegen Eugen K. und Gustav I., StAL E 350a, Bü 1065. <?page no="239"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 240 Januar 1918 jedoch, als er erneut Stallhasen zur Versorgung der eigenen Familie hergeben sollte, präsentierte er der Mutter keine aus der eigenen Zucht. Er hatte sich aus dem Bestand eines Kleineislingers und Fabrikarbeiters - auch hier wieder eine Schädigung von Menschen der gleichen sozialen Stufe - „bedient“ und insgesamt zwei Hasen gestohlen. 836 Sein Verhalten musste unter den Mangelbedingungen des Krieges besonders provozierend wirken. Er stahl ohne Notwendigkeit und ohne Motive, die man in irgendeiner Form als allgemein plausibel, zumindest in Ansätzen nachvollziehbar vermitteln konnte. Möglicherweise konnten andere Kaninchenzüchter nachempfinden, warum er seinen umfangreichen Bestand nicht dezimieren wollte - die Empathie konnte aber ebenso gut auf die geschädigten Kaninchenzüchter beschränkt bleiben. Das Gericht blieb allerdings sehr sachlich und verhängte keine drakonische Strafe zur Abschreckung. 837 d. Diebstähle knapper Güter Neben Lebens- und Genussmitteldiebstählen, die, wie gezeigt, auch der Kompensation materieller Notlagen dienen konnten, kamen Diebstähle anderer nicht mehr in ausreichendem Maße vorhandener Güter vor. Im November 1915 brachen mehrere Jugendliche in ein leer stehendes Sägewerk außerhalb Laupheims ein, um dort von dem ledernen Treibriemen Stücke abzuschneiden. Sie verwendeten das Leder, um ihre Stiefel neu zu sohlen. Darüber hinaus gaben sie Teile der Beute an Freunde und Familienangehörige weiter. Laut Strafkammer wollten sich die Jungen Kosten für das Besohlen der Stiefel sparen. 838 Ihr materieller Nutzen erstreckte sich demnach auf ihren eigenen unmittelbaren Bedarf, den sie mit ihnen nahe stehenden Personen teilten. Darüber hinaus bot es sich bei knappen Gütern eher noch als bei gestohlenen Lebensmitteln an, diese nicht nur in größeren Mengen als eigenen Vorrat zu stehlen, sondern die Güter auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Auf die Spitze trieben diese Möglichkeit zwei Jugendliche und ein junger Mann. Zwei von ihnen arbeiteten bei einem Flaschner in Göppingen, der junge Mann als Hilfsarbeiter, einer der Jungen als Lehrling. Sie hatten das Dach 836 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.3.1918 gegen Richard H. und Barbara H., StAL E 350a, Bü 1063. 837 Er erhielt für zwei gestohlene Hasen eine Gefängnisstrafe von einem Monat, der Schlosserlehrling für einen gestohlenen Hasen drei Wochen Gefängnis, bei beiden wurde die bedingte Begnadigung empfohlen, siehe die entsprechenden Urteile. 838 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.10.1916 gegen Georg B. u. a., StAL E 350a, Bü 903. <?page no="240"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 241 einer Fabrik auszubessern, wobei sie im Fabrikgebäude große Mengen Soldatenstiefel bemerkten, die dort zur Ausbesserung lagerten. Da ihr eigenes Schuhwerk in einem schlechten Zustand war, beschlossen sie, sich zu bedienen. Gemeinsam und teilweise zusätzlich mit dem jugendlichen Mitangeklagten stahlen sie dort erhebliche Mengen der Stiefel. Einige behielten sie selbst, den Rest verkauften sie an 16 Arbeiter der Firma Böhringer in Göppingen. Den Erlös der zwischen August 1917 und Januar 1918 gestohlenen und verkauften Stiefel schätzt das Gericht auf etwa 500 Mark. 839 Zur Verdeutlichung des Wertes dieser Waren muss angefügt werden, dass im Sommer 1917 die Lederknappheit enorme Ausmaße erreichte. Das Ulmer Tagblatt veröffentlichte aus diesem Anlass einen Aufruf mit dem Titel „Geht barfuß“. Die Bevölkerung sollte auf diese provokative Art dazu ermuntert werden, während des Sommers barfuß zu laufen, um Leder zu sparen. Die Schüler könnten den Erwachsenen hier „mit gutem Beispiel vorangehen“ - im wahrsten Sinne des Wortes. 840 Die ursprüngliche Ausgangslage der drei Göppinger, einem eigenen Mangel durch Schuhdiebstähle abzuhelfen, wandelte sich angesichts der schier unbegrenzten Menge an Schuhen und Stiefeln in eine „Geschäftsidee“. So bauten sie sich ihre eigene Schattenwirtschaft auf. Auch Metalle zählten im Krieg zu knappen Gütern. Das nutzten drei Flaschnerlehrlinge von Märklin in Göppingen, um am Arbeitsplatz Abfallmessing zu stehlen. Dies konnten sie gewinnbringend weiterverkaufen. 841 Der Jurist Moritz Liepmann wies in seiner 22 Jahre nach Kriegsende erschienenen Studie über Krieg und Kriminalität auf den Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Sammlungen aller Art und dieser Art von Diebstählen hin. So sei den Kindern der besondere Wert dieser Wertstoffe bewusst geworden. Seine Deutung erscheint sehr plausibel, sind doch beispielsweise die von ihm als Beispiel angeführten Dachrinnen an sich nichts, das besonderes Interesse von Halbwüchsigen erregt. 842 Ein weiteres Verfahren unter anderem wegen Messingdiebstählen von vier Jungen im Alter von 13 und 14 Jahren stützt diese Interpretation. 843 839 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 25.4.1918 gegen Eugen H. u. a., StAL E350a, Bü 1078. 840 Vgl. Geht barfuß! , in: UTb vom 25.7.1917. 841 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 22.5.1916 gegen Eugen G. u. a., StAL E 350a, Bü 886. 842 Vgl. Liepmann, Krieg und Kriminalität, S. 110. 843 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 27.7.1916 gegen Ludwig L. u. a., StAL E 350a, Bü 896. <?page no="241"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 242 e. „Selbstverschuldete Notlage“ - Delikte jugendlicher „Ausreißer“ Kinder und Jugendliche, die aus einer Fürsorgeanstalt entflohen, blieb meistens nichts anderes übrig, als sich die Dinge des täglichen Bedarfes illegal zu beschaffen. Sie wollten dadurch vermeiden, erkannt zu werden, da ihnen in diesem Fall die erneute Einweisung in die Fürsorgeanstalt drohte. Wenn man sich vor Augen führt, dass die „Fürsorgeerziehung“ sicherlich mehrheitlich von den betroffenen Jugendlichen als massiver Eingriff in ihre Lebensgestaltung empfunden wurde, war dies eine abschreckende Perspektive. Die Richter waren teilweise bereit, dieses Dilemma der Ausreißer in ihre Urteilspraxis zu integrieren. Sie erkannten unter Umständen an, dass bei der Begehung von Diebstählen eine Notlage vorlag - allerdings hatten sich die Jugendlichen durch ihre Flucht selbst in diese missliche Lage gebracht. 844 Der dahinter liegende Gedanke war, dass in der Fürsorgeanstalt die materielle Versorgung der Jugendlichen gewährleistet gewesen wäre. Durch das Entweichen hatten sie sich freiwillig davon abgekoppelt und waren größtenteils auf delinquente Strategien angewiesen, um ihre Bedarfsdeckung zu gewährleisten. Eine zweigleisige Strategie verfolgte hingegen Mathäus E. Er durchlief die Stationen eines als „verwahrlost“ eingeschätzten jugendlichen Mehrfachstraftäters. Nach zwei Verurteilungen wegen Diebstahls kam er in die Rettungsanstalt für Jungen in Schönbühl (Oberamt Mergentheim), aus der er im Juni 1916 floh. Seine persönliche Taktik war es nun, sich von Bauern als Knecht anstellen zu lassen, kurz darauf ohne Abmeldung weiter zu ziehen und entweder sofort oder später dorthin zurückzukehren, um Geld sowie Wertsachen zu stehlen. Zwischendurch wurde er gefasst und nach Schönbühl zurückgebracht, konnte aber erneut fliehen. Schließlich wich er von der Landwirtschaft auf andere Betriebe aus, etwa auf eine Brauerei in Söflingen. Seine Handlungen lassen eine Eskalation erkennen, da er vor seiner endgültigen Verhaftung auch in fremde Häuser einbrach. Im Oktober 1916 wurde er festgenommen. 845 Ob er von vornherein beabsichtigte, sich nur anstellen zu lassen, um Bauern bestehlen zu können, muss unbeantwortet bleiben. Das Ulmer Tagblatt berichtete bereits vor seiner Festnahme über den entwichenen Zwangszögling, der die Oberamtsbezirke Blaubeuren und Münsin- 844 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 13.8.1917 gegen Konrad B., StAL E 350a, Bü 1003. 845 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.1.1917 gegen Mathäus E., StAL E350a, Bü 917. <?page no="242"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 243 gen „unsicher“ mache. 846 Dieser Fall hatte einen hohen Nachrichtenwert für das Blatt, da die „kriminellen Aktivitäten“ des Mathäus E. eine besondere Dimension erreichten. Sie lassen sich zwar im Spiegel der Urteile als ein eher singuläres Phänomen einordnen, dennoch war es gerade diese Art Kriminalität - „Raubzüge“ eines Anstaltsinsassen auf der Flucht -, die geeignet waren, die Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung zu schüren. Dies galt stärker als beispielsweise bei den groß angelegten Stiefeldiebstählen mit weit größerem finanziellen Schaden. Denn im Gegensatz zu diesen waren hier Privatpersonen die Opfer, Menschen „wie du und ich“ aus den Ortschaften der Ulmer Umgebung. Empathie mit den Opfern konnte auf dieser Identifikationsbasis leicht entstehen und als weiter gehende Folge auch Kriminalitätsfurcht. Die Person des Mathäus E. und die ihm zugeschriebenen Straftaten ließen sich problemlos in vorhandene Verbrecherstereotypen einfügen; vor allem da er sich in der Zeit nach seiner Festnahme und Wiedereinlieferung in Schönbühl ganz dem Bild eines verwahrlosten, gefährlichen Mehrfachstraftäters entsprechend verhielt. Er floh erneut aus der Anstalt, ließ sich erneut mehrmals als Knecht anstellen und bestahl erneut seine Kostgeber, was in ein weiteres Verfahren vor der Strafkammer mündete. 847 Es gab keinen Anreiz für ihn, seine strafbaren Handlungen aufzugeben, da er nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hatte. Er hatte nach Verbüßen der Gefängnisstrafen keine Aussicht wieder in Freiheit zu gelangen, da immer wieder erfolgreiche Verfahren zur Anordnung der Fürsorgeerziehung eingeleitet wurden. Aus dieser Perspektive betrachtet, lohnte sich eine Verhaltensänderung nicht, zumal ihn auch nach der zum 18. Lebensjahr anstehenden Entlassung aus der Fürsorgeanstalt mit seiner Vorgeschichte denkbar schlechte Perspektiven im bürgerlichen Alltag erwarteten. Was sich aus seiner Sicht einzig lohnte, waren die kleineren Fluchten aus dem Anstaltsalltag - ein Teufelskreis aus Selffulfilling prophecies. Seine Perspektivlosigkeit spricht auch aus einer weiteren Meldung des Ulmer Tagblatts, diesmal nach der Festnahme unter Nennung seines Namens, in der zynisch angemerkt wird: „Im Gefängnis soll der Bursche einen Selbstmordversuch unternommen haben, der aber mißlungen ist.“ 848 Nicht nur Mathäus E., auch andere entlaufene Fürsorgezöglinge brachen bei ihren ehemaligen Dienstherren ein und stahlen dort. Der Unterschied zu ihrem Vorgehen liegt darin, dass sie sich nicht aus diesem Grunde anstellen ließen, sondern bei denen stahlen, die sie vor Einweisung in die Fürsorgean- 846 Vgl. UTb vom 30.10.1916. 847 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.5.1917 gegen Mathäus E., StAL E 350a, Bü 965. 848 UTb vom 2.11.1916. <?page no="243"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 244 stalt beschäftigt hatten. 849 Allen ist gemeinsam, dass sie versuchten, in möglichst bekannten Umgebungen zu stehlen. Hier wussten sie, ob und welche Güter zu erwarten waren. In letzter Konsequenz konnte hierin auch die Motivation entlaufener Fürsorgezöglinge liegen, in der Anstalt, der sie gerade entflohen waren, einzubrechen. 850 Mathäus E. konnte zwischenzeitlich seinen Lebensunterhalt auf legalem Wege bestreiten. Tendenziell konnten entlaufene Fürsorgezöglinge aber aufgrund des Entdeckungsrisikos nicht wie jugendliche „Zufallsdiebe“ auf eine günstige Gelegenheit zum Stehlen warten, wenn es um die Sicherstellung ihres kompletten Nahrungsbedarfes und eben nicht nur um dessen Ergänzung ging. Einige versuchten zunächst, ihren Bedarf auf ungefährlicherem Wege zu decken, wie zwei Fürsorgezöglinge, die gemeinsam aus Schönbühl entwichen. Skrupel, eine Straftat zu begehen, kann hier keine Rolle gespielt haben, da der ältere von ihnen, der fünfzehnjährige Leonhard N., schon vier Vorstrafen wegen Diebstahls vorzuweisen hatte. Der vierzehnjährige Albert D. war hingegen ein strafgerichtlich noch unbeschriebenes Blatt. Er war wegen Schulversäumnisses in Schönbühl - was ein Schlaglicht auf die weit reichende Anwendung der Fürsorgeerziehung wirft. Auf ihrer offenbar überstürzten Flucht aus der Anstalt, „nur mit Hemd und Hose bekleidet“, wanderten sie „bei strömendem Regen über den Schurwald nach Reichenbach a. d. F., wo sie durchnäßt und hungrig gegen Mitternacht ankamen […].“ Ihr Ziel war das Elternhaus von N., wo jedoch niemand zuhause und das Haus daher verschlossen war. Erst in dieser Situation, nass und hungrig, ohne Aussicht auf legale Änderungsmöglichkeiten ihrer Lage, brachen sie in ein Nachbarhaus ein. Dort tranken sie Milch und deckten sich mit dem ein, was sie für ihre weitere Flucht brauchen konnten: Schuhe, Kleidung, Hygieneartikel, Lebensmittel und Küchengeräte. Sie schafften es, über einen Monat über Land zu ziehen, bis sie Ende September 1917 in Sankt Gallen in der Schweiz festgenommen wurden. Das Urteil stellte lapidar fest: „Über das Treiben der Ang. auf ihrer Flucht ist nichts ermittelt [...]“ 851 - weitere Straftaten aus „selbstverschuldeter Not“ liegen nahe. 849 Vgl. Urteile gegen Friedrich H., Bü 866; und gegen Konrad B., Bü 1003; beide StAL E 350a. 850 Vgl. Urteil gegen Konrad B., StAL E 350a, Bü 1003. 851 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.11.1917 gegen Leonhard N. und Albert D., StAL E 350a, Bü 1026. <?page no="244"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 245 f. Raub Eine andere strafrechtliche und persönliche Dimension als Diebstähle und Unterschlagungen wiesen Raubdelikte Jugendlicher auf. Hier war eine unerkannte, „friedliche“ Wegnahme von vornherein ausgeschlossen, da bei einem Raub die direkte Konfrontation zwischen Täter und Opfer stattfand. Konstitutiv für diese Straftat war „Gewalt gegen eine Person oder […] Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben […].“ 852 Das Attribut „gegenwärtig“ weist dabei auf den situativen Charakter des Geschehens hin. Dabei war der Gewaltbegriff weit gefasst, da er nicht notwendigerweise direkte körperliche Angriffe beinhalten musste, wie folgender Fall verdeutlicht. Der wegen schweren Raubes verurteilte sechzehnjährige Ernst R. kam laut Gericht aus „geordneter Familie“. Sein an der Front stehender Vater arbeitete im zivilen Leben als Kutscher für eine Eierteigwarenfabrik in Ulm. Der Angeklagte selbst lernte zunächst das Schlosserhandwerk bei Magirus, seine Mutter nahm ihn aber in Folge des Strafverfahrens aus der Lehre. Im Dezember 1916 begegneter er in Ulm nach Einbruch der Dunkelheit zwischen einem Friedhof und einer Kirchenanlage einer jungen Kellnerin, die eine Handtasche bei sich trug. Ernst R. nutzte die in seinen Augen günstige Gelegenheit, stürzte sich, als sie die Handtasche an sich presste, auf sie und riss so lange an der Handtasche, bis der Griff abriss und er mit der Tasche fliehen konnte. 853 Er hatte die Kellnerin demnach nicht direkt angegriffen. Allerdings hatte sie Widerstand geleistet, indem sie ihre Handtasche festhielt. Gewalttätig handelte der Angeklagte, weil er diesen Widerstand durch Zerren überwand. Zum Ziel gelangte Ernst R. damit nicht. Drei zu Hilfe gerufene Männer konnten ihn stellen und übergaben ihn der Polizei. Die Handtasche hatte er unterwegs weggeworfen. 854 Eine solche Tat, bei der „Täter“ und „Opfer“ in direkte Konfrontation traten, erforderte seitens des „Täters“ eine viel größere Risikobereitschaft und Skrupellosigkeit als beispielsweise ein Gelegenheitsdiebstahl aus einem unbewachten Güterwagen. Zum einen war die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung viel größer, zum anderen musste die Bereitschaft zu persönlicher Gewaltanwendung bestehen. Raub kam im gesamten Untersuchungszeitraum nicht häufig zur Anklage. 1906 musste sich wegen schweren Raubes ein 852 § 249 RStGB. 853 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 15.1.1917 gegen Ernst R., StAL E 350a, Bü 2107. 854 Vgl. ebd. <?page no="245"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 246 dreizehnjähriger Volksschüler vor dem Landgericht verantworten. 855 1913 stand wegen des gleichen Deliktes eine sechzehnjährige Näherin vor den Richtern, dazu kamen ein gleichaltriger Tagelöhner, dem Raub vorgeworfen wurde, sowie drei Jungen mit einer Anklage wegen versuchten Raubes. 856 Im Jahr 1914 kamen zwei Raubanklagen hinzu, eine vor Kriegsausbruch gegen einen siebzehnjährigen Industriearbeiter, dazu eine weitere im Dezember gegen einen fünfzehnjährigen Kellnerlehrling. 857 1915 musste sich ein siebzehnjähriger Dienstknecht im Zuge einer Anklage wegen versuchter Notzucht auch wegen versuchten Raubes verantworten. 858 Zu den durch Urteil dokumentierten Fällen kamen schließlich 1916 fünf weitere Anklagen gegen fünf Jungen, die gemeinschaftlich gehandelt hatten, und für 1917 lässt sich trotz Fehlens der Strafprozessliste anhand des überlieferten Urteils mindestens der oben beschriebene Raub nachweisen. 859 Bei Raub bildeten die Anklagen vor der Strafkammer vermutlich die tatsächliche Anklagehäufigkeit im Landgerichtsbezirk Ulm realitätsnah ab. Raub war prinzipiell ein Verbrechen und nur, wenn mildernde Umstände vorlagen, ein Vergehen. Eine Überweisung an die Schöffengerichte bei den jeweiligen Amtsgerichten war daher unwahrscheinlich. Indizien dafür liefern die noch vorhandenen Strafprozesslisten des Amtsgerichtes Kirchheim unter Teck. Vor der dortigen Schöffenkammer kamen Anklagen gegen Jugendliche wegen Raubes in den Jahren 1913 bis 1916 und 1918 nicht vor. 860 Das bedeutet: Nur in drei von elf Friedensjahren, das erste Halbjahr 1914 eingeschlossen, aber in allen vier Jahren während des Krieges standen Jungen und Mädchen wegen Raubes vor Gericht. Auch wenn diese Deliktart insgesamt selten vorkam, scheint doch die Hemmschwelle bei den Jugendlichen, einen Raub zu begehen, unter den Bedingungen der Kriegsgesellschaft gesunken zu sein. Die Versorgungsengpässe trugen dazu bei, einer „Selbstversorgermentalität“, die gleichzeitig Skrupel vor Rechtsbrüchen herabsetzte, Raum zu geben. Dadurch stellt sich die Frage nach der Motivation des mutmaßlichen Täters. Ernst R. gab zunächst bei der polizeilichen Vernehmung an, er habe 855 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1906, Eintrag Nr. 313, StAL E 349, Bd. 106. 856 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1913, Einträge Nr. 371, 353 und 18, StAL E 349, Bd. 113. 857 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1914, Einträge Nr. 120 und 329, StAL E 349, Bd. 114. 858 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1915, Eintrag Nr. 362, StAL E 349, Bd. 115. 859 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozessliste 1916, Eintrag Nr. 179, StAL E 349, Bd. 116; sowie das Urteil gegen Ernst R., StAL E 350a, Bü 2107. 860 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim, Strafprozesslisten 1913; 1914; 1915; 1916; und 1918, StAL F 276 II, Bü 74-78. <?page no="246"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 247 „es auf Geld, wenn auch nur einen kleinen Betrag, und auf Eßwaren abgesehen gehabt, weil er nur noch 10 Pf. in der Tasche gehabt habe und hungrig gewesen sei“ 861 . Schließlich änderte er seine Verteidigungsstrategie dahingehend, dass er vorbrachte, er habe nur aus einem Anfall von Übermut heraus die Handtasche weggerissen und gar nichts nehmen wollen. „Jugendlichen Übermut“ als Ursache einer Straftat werteten die Richter strafmildernd. 862 In der Hauptverhandlung kehrte der Jugendliche zu seiner Ursprungsversion zurück, wobei er die Angabe zu den erhofften Nahrungsmitteln konkretisierte. Es sei ihm um Äpfel gegangen. 863 Eine Handtasche ohne jeglichen Hintergedanken zu rauben, wäre tatsächlich eine unüberlegte Tat, da weder ein erhoffter Nutzen angestrebt worden wäre, noch dazu die drohenden Konsequenzen für einen spontanen Ausbruch sehr hoch waren. Im Kohlrübenwinter 1916/ 17, offenbar angewiesen auf die für den Vater gezahlte spärliche Kriegsunterstützung und ein geringes Lehrlingsgehalt, könnte Hunger den Angeklagten durchaus zu einer solchen Tat motiviert haben. Denn die Gelegenheit in der „ruhigen Ecke“ war für einen Raub günstig. Durch den Tatzeitpunkt und den Tatort sowie das Opfer bildet dieser Raub eine „klassische“ Verbrechensform ab: der Überfall auf eine scheinbar wehrlose Person in der Dunkelheit der Stadt. 864 Täter und Opfer kannten sich nicht, standen sich aber in direkter Konfrontation gegenüber. Der zweite Raub auf offener Straße in Ulm gestaltete sich etwas anders, so dass hier die Deutung als Raub aus Hunger ausscheidet. Ein neunjähriges Mädchen war nach dem Einkauf von einer Gruppe Schüler beobachtet worden. Einer der Jungen eilte ihr nach und versuchte, ihr den Geldbeutel aus der Hand zu winden. Als dies nicht auf Anhieb gelang, rief er einen seiner Freunde zu Hilfe - da dieser zum Tatzeitpunkt strafunmündig war, musste er sich nicht vor Gericht verantworten. Nachdem die Jungen sich entfernt hatten, konnte das Mädchen noch beobachten, wie sie die Beute aufteilten. 865 Hier scheint eher die sich entfaltende Gruppendynamik einer jugendlichen Peer Group das ausschlaggebende Moment gewesen zu sein. Es kam den Jungen vermutlich weniger auf die Beute an. Denn sie überfielen ein sehr junges Mädchen, bei dem kein größerer Betrag, sondern nur Einkaufsgeld zu 861 Urteil gegen Ernst R., StAL E 350a, Bü 2107. 862 Siehe Punkt VIII.6.c. 863 Vgl. Urteil gegen Ernst R., StAL E 350a, Bü 2107. 864 Vgl. Roth, Kriminalitätsbekämpfung, S. 276. 865 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.1.1918 gegen Hugo Robert G., StAL E 350a, Bü 2109. <?page no="247"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 248 erwarten war. Dieses musste noch dazu unter vier Jungen verteilt werden. Vermutlich stand für die Jungen die Handlung als solche im Vordergrund, als Mutprobe oder Beweis ihrer Stärke und Überlegenheit. Raub zeigt sich in diesen Fällen als Delikt, das überwiegend im städtischen Raum begangen wurde. Die Möglichkeit, auf offener Straße eine unbekannte Person zu überfallen, war in einer Stadt ungleich größer als in einer dörflichen Umgebung. Da hier mehr Menschen auf einem Gebiet zusammenlebten, war die Wahrscheinlichkeit überhaupt ein Opfer zu treffen größer und es lag eher im Bereich des Möglichen, dass das potentielle Opfer auch eine unbekannte Person war. Einen Raub im sozialen Umfeld zu begehen, stellte eine weitere Steigerung der für diese Straftat benötigten Skrupellosigkeit dar. Der siebzehnjährige Ewald O., ehemaliger Kochlehrling, der nach verschiedenen Vorstrafen in einem Bodenlegergeschäft, in dem sein Vater Werkführer war, unterkam, überfiel seine ehemalige Zimmerwirtin in deren Wohnung. Das Urteil präsentiert einen äußerst brutal ausgeführten Übergriff, über die vermeintliche Motivation, die zu diesem Exzess führte, findet sich hingegen wenig. Der Angeklagte hatte angeblich Geldsorgen und besuchte auch nach seinem Auszug zweimal seine ehemalige Ulmer Zimmerwirtin zum Kaffee und zum Abendbrot. Seinen eigenen Angaben zufolge wollte er sie dabei um Geld bitten, was er allerdings nicht tat. Stattdessen überfiel er sie bei einer sich bietenden Gelegenheit von hinten und würgte sie - das Schlimmste verhinderte der ausgeprägte Kropf der Witwe. Nachdem sie es geschafft hatte, sich loszureißen, floh Ewald O. durch das Fenster. 866 Die Strafkammer folgerte, der Angeklagte habe vorgehabt, die Frau umzubringen, um auf diese Weise an ihr Geld zu gelangen. Da er dies allerdings leugnete und ihm der Tötungsvorsatz nicht nachgewiesen werden konnte, wurde er wegen versuchten Raubes zusammentreffend mit gefährlicher Körperverletzung und nicht wegen versuchten Mordes verurteilt. Die Richter nahmen schließlich zu seinen Gunsten an, dass er erst bei der sich bietenden günstigen Gelegenheit den Entschluss fasste, nicht nach Geld zu fragen, sondern die Frau zu überfallen. 867 Genaue Gründe für diesen rasanten Sprung vom Bittsteller zum Gewalttäter liefert das Urteil nicht. Das Opfer war, auch wenn es sich hier nicht um einen anonymen Überfall auf der Straße handelte, insofern aus Täterperspektive geschickt gewählt, da 866 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.12.1916 gegen Ewald O., StAL E 350a, Bü 2106. 867 Vgl. ebd. <?page no="248"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 249 es sich um eine allein lebende ältere Frau handelte. Die Gefahr einer Entdeckung am Tatort war demnach relativ eingegrenzt. Alle drei Fälle von Raub haben gemeinsam, dass junge Männer Frauen oder Mädchen überfielen. Für die Begehung eines Raubes war die körperliche Überlegenheit der Täter bedeutsam, um überhaupt eine Aussicht auf Erfolg zu haben. Das war bei den Konstellationen junge Männer - Mädchen, jüngere Frauen, ältere Frauen gegeben. Andere Konstellationen sind ebenfalls denkbar, so lange diese körperliche Überlegenheit gewahrt blieb. Diese ist hier besonders augenfällig. 2. Urkundenfälschung und Betrug Die Urkundenfälschungen und, wenn sie erfolgreich waren, damit zusammenhängende Betrügereien von Jugendlichen umfassen ein breites Spektrum an Delikten. Sie reichen von Versuchen, mittels Urkundenfälschung an geringe Geldbeträge zu gelangen, bis hin zu solchen, bei denen es um erhebliche Summen ging. Darüber hinaus konnten die Urkundenfälschungen aber auch immaterielle Ziele haben. Letzteres trifft auf einen unterrichtsmüden Zimmermannslehrling zu, der im Namen seines Lehrherren eine Postkarte an die Gewerbeschule in Ulm schickte. Darin schrieb er, dass der Lehrling - er selbst - nicht zum Unterricht kommen könne, da sie mit dem Aufbau von Messeständen beschäftigt seien. 868 Dem Sechzehnjährigen war bewusst, dass er dem zweimal pro Woche stattfindenden Unterricht der Gewerbeschule nur dann fernbleiben durfte, wenn sein Lehrherr ihn für dringende Aufgaben benötigte. Sonst drohte ihm eine Geldstrafe von bis zu 20 Mark. Vermutlich war ihm beim Verfassen der Postkarte aber nicht klar, dass er sich damit ein Gerichtsverfahren einhandeln könnte. Er musste für seinen Eskapismus mit einer zweitägigen Gefängnisstrafe und dem unweigerlich folgenden Eintrag in das Vorstrafenregister büßen. Das Gericht empfahl ihn zur bedingten Begnadigung. Der entsprechende Justizministererlass ist nicht überliefert, allerdings kann davon ausgegangen werden, dass er die Strafe nicht antreten musste. 869 Urkundenfälschungen mit geringem materiellen Ziel verübten gemeinschaftlich zwei Tagelöhner sowie ein Hausdiener. Die Tagelöhner arbeiteten im November 1915 auf einer Ulmer Baustelle. Sie fälschten die Quittung 868 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.2.1916 gegen Johann D., StAL E 350a, Bü 475. 869 Vgl. ebd. <?page no="249"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 250 über die Höhe des ihnen ausgezahlten Lohnvorschusses, um am Ende mehr als den ausstehenden Lohn ausgezahlt zu bekommen. Ihr Kalkül ging zunächst auf. Zu ihrer Verteidigung führten die beiden Jungen an, der Bauführer habe ihnen bei der Anstellung mehr Lohn versprochen. Sie hätten mit der Fälschung des Betrages lediglich die Differenz zwischen dem versprochenen und dem tatsächlichen Lohn ausgleichen wollen. 870 Aus ihren Äußerungen ergibt sich, dass die beiden sich gemäß ihrer eigenen Logik im Recht sahen. Sie hatten sich nur verschafft, was ihnen ihrer Ansicht nach ohnehin zustand. Nicht sie, sondern der Bauführer hatte sich aus ihrer Perspektive unrechtmäßig verhalten. Wie in einigen anderen Fällen auch, gerieten hier die strafrechtlichen Normen in Konflikt mit den eigenen Ordnungsvorstellungen der Angeklagten. Außerdem äußert sich auch hier die bereits beschriebene Mentalität, man könne es moralisch rechtfertigen - gerade unter Kriegsbedingungen -, sich selbst auf Kosten scheinbar besser gestellter Menschen einen materiellen oder fiskalischen Vorteil zu verschaffen. Es sei hier nur am Rande daran erinnert, wie schwer die Bauindustrie unter den ökonomischen Folgen des Krieges litt. Alfons L., der als Hausdiener für den Pächter des Ulmer Münstercafés arbeitete, fälschte im November 1915 nach einem Einkauf die Quittung über gezahlte 50 Pfennig auf 60 Pfennig. Angeblich hatte er zehn Pfennig des Restgeldes verloren und wollte sie nicht ersetzen. 871 Auf ähnlichem Wege versuchte ein vierzehnjähriger Ausläufer, seinen Lohn illegal zu erhöhen. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Expressstücke eines Kaufmanns in Ulm zur Güterstelle zu bringen und dort aufzugeben. Dafür erhielt er von der Kassiererin des Kaufmanns Geld im Vorschuss. Er fälschte die Frachteinträge und konnte so etwas vom Restgeld „abzweigen“, insgesamt 15 Mark. Als Auslöser ermittelte das Gericht, Karl S. habe den kompletten Lohn zu Hause bei der Schwester in Leipheim (Bayern) abgeben müssen, von ihr aber nicht genug Kostgeld für Ulm erhalten. Seine Schwester um ausreichende Mengen Geld zu bitten, traute er sich nicht. 872 Der Betrug kann nach dieser Darstellung als Versuch des Jungen gewertet werden, die prekäre Versorgungssituation der Familie zu entlasten. Der Vater von Karl S. war im Zeitraum der Straftatbegehungen seines Sohnes von Dezember 1917 bis Januar 1918 auswärts im Hilfsdienst eingesetzt. Die 870 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 7.2.1916 gegen Christof S. und Johann H., StAL E 350a, Bü 474. 871 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 31.1.1916 gegen Alfons L., StAL E 350a, Bü 473. 872 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.3.1918 gegen Karl S., StAL E 350a, Bü 490. <?page no="250"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 251 Schwester verwaltete die Familienökonomie, zu der Karl S. durch die Ausläufertätigkeit beitrug. 873 Er wollte offensichtlich die Schwester nicht mit seinen persönlichen Nöten belasten und versuchte, das Problem auf seine Art und Weise zu lösen. Vermutlich hatte er abgewogen, wer eine finanzielle Einbuße eher verschmerzen konnte: seine Schwester und damit insgesamt seine Familie oder sein Arbeitgeber. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, dass es unter den Bedingungen des Krieges auch in relativ überschaubaren, persönlichen Arbeitsverhältnissen legitim erschien, den Arbeitgeber durch Diebstähle, Unterschlagungen oder Betrügereien zu schädigen. In anonymeren Arbeitsverhältnissen war ein solches Verhalten insgesamt auch in Friedenszeiten sehr weit verbreitet. 874 In überschaubaren Arbeitsbeziehungen stellte dieses Verhalten allerdings eine besondere Dimension dar, die sich entweder durch ein schlechtes Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, durch einen hohen materiellen Leidensdruck, wie ihn der Krieg schuf, und schlicht durch eine gewisse Skrupellosigkeit erklären lässt. All diese Urkundenfälschungen und Betrugsversuche verübten die überwiegend männlichen Jugendlichen in Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit. Urkundenfälschung, wenn sie keine Bezugsscheinfälschung war, stellt sich im Spiegel der Urteile als ein überwiegend von männlichen Jugendlichen begangenes Delikt dar, das vornehmlich in städtischem Umfeld auftrat. Da die Jungen häufiger außerhäusliche Tätigkeiten ausübten, ist dieser Befund nicht weiter überraschend. Signifikanterweise war eine wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug verurteilte junge Frau als Dienstmagd angestellt, einem der typisch weiblichen Berufsfelder. 875 3. Sittlichkeitsdelikte Von den im Strafgesetzbuch definierten Verbrechen wider die Sittlichkeit bilden Verstöße gegen den Paragraphen 176 Ziffer 3, also die Verübung unzüchtiger Handlungen mit Personen unter 14 Jahren, die entscheidende Gruppe. Die Hypothese, durch diese Bestimmung sei pubertäres Sexualverhalten Jugendlicher gerichtlich stigmatisiert worden, kann durch die Urteile nicht bestätigt werden. Vielmehr präsentieren sich hier Fälle von Kindes- 873 Vgl. ebd. 874 Vgl. exemplarisch Grüttner, Unterklassenkriminalität, S. 153-184. 875 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 2.3.1916 gegen Marie K., StAL E 350a, Bü 194. <?page no="251"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 252 missbrauch, bei denen ein jugendlicher und meistens männlicher Täter jüngere Kinder sexuell missbrauchte. Auch bei den Missbrauchsfällen erscheint es angebracht, zwischen Taten im sozialen Umfeld und solchen außerhalb zu unterscheiden. Es stellt sich die Frage, ob die Täter die von ihnen missbrauchten Kinder kannten oder nicht. Dabei bleibt zunächst festzuhalten: Die durch Urteil dokumentierten Missbrauchsfälle spielten sich nie in der eigenen Familie der Angeklagten ab. Fälle, in denen Verwandte wie Geschwister oder Cousins und Cousinen die Opfer gewesen wären, wurden vor der Ulmer Strafkammer nicht als Missbräuche verhandelt. Vielmehr scheinen Missbräuche innerhalb der Familie als Inzest abgeurteilt worden zu sein. Zu zwei Inzestverfahren liegen Urteile vor. Dabei stellt sich einer dieser Fälle im Urteil als „freiwilliger“ Inzest zwischen Geschwistern dar - eine insgesamt sehr selten vorkommende Variante menschlichen Sexualverhaltens. Der zweite Inzest kann nach heutiger Lesart durchaus als Missbrauch der Schwester durch den Bruder gedeutet werden. Auch weil das Mädchen schon über 14 Jahre alt war, fiel das Delikt nicht mehr unter den Paragraphen 176. Zudem kam es nicht nur zu „unzüchtigen Handlungen“, sondern zum Geschlechtsverkehr. Damit war das Straftatbestandsmerkmal des Inzests erfüllt. Die Angeklagte - ihr Bruder war Soldat und unterstand demnach nicht mehr der zivilen Gerichtsbarkeit, weshalb sie einzeln abgeurteilt wurden - hatte angegeben, ihr Bruder habe sie zum Geschlechtsverkehr genötigt, sie „herumgerissen“. Das Gericht ging demgegenüber davon aus, die Siebzehnjährige habe sich erst gewehrt, dann aber freiwillig „hingegeben“ - nach Einschätzung des Gerichtes damit kein Fall von Nötigung respektive Vergewaltigung und somit Inzest. 876 Die für das Straftatbestandsmerkmal der Notzucht erforderliche Gewaltanwendung legten zeitgenössische Juristen sehr strikt aus. Darunter fiel lediglich physische, äußere Gewalteinwirkung. Sobald das Opfer aufhörte, sich zu wehren - wie in dem beschriebenen Fall - gingen die Juristen von einem freiwilligen Akt aus. Das „Sträuben“ der Frau gehörte zur weiblichen Sexualität ebenso wie auf der anderen Seite das Überwinden dieses Widerstandes durch den Mann und schließlich das „Hingeben“ der Frau. 877 Daher erkannten die Gerichte auch häufiger Männer der versuchten Notzucht als der vollendeten Notzucht für schuldig, da hier die Gegenwehr der Frauen bis zum Abbruch des Vergewaltigungsversuches zu 876 Vg. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.11.1915 gegen Elisabetha H., StAL E 350a, Bü 5497. 877 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 35 ff. <?page no="252"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 253 erkennen war. 878 Auch das einzige überlieferte Urteil eines Notzuchtverfahrens gegen Jugendliche bestätigt dies. 879 In Relation zu seiner Außergewöhnlichkeit kam Inzest vor der Strafkammer häufig zur Anklage. Neben den genannten Fällen urteilte das Landgericht Ulm im Jahr 1904, 1910 und 1913 je ein Mädchen gemeinsam mit Erwachsenen, im Jahr 1905 einen Jungen und ein Jahr später ein Mädchen sowie 1914 und 1915 je einen Jungen gemeinsam mit Erwachsenen ab. 880 Höchstwahrscheinlich verbargen sich dahinter Delikte, die nach heutigem Verständnis als Missbrauch oder Vergewaltigung gewertet würden. Auch wenn man die Fälle von Inzest aus dieser Perspektive betrachtet, kamen Missbrauchsfälle im Familienverbund selten vor Gericht. Das überrascht jedoch nicht, da insbesondere die bürgerliche Normfamilie hohen Schutz genoss. 881 Oder, wie es Miloš Vec ausdrückt: „[D]ie tüchtigen, moralisch gefestigten Bürger“ durften „gewissermaßen als administrative Belohnung unkontrolliert bleiben.“ 882 Allerdings kam es auch bei den Missbrauchsfällen zu Taten im außerfamiliären sozialen Umfeld der Täter. Sie kannten die Opfer demnach schon vorher. Es konnte sich dabei um Freundinnen der jüngeren Schwester oder um Kinder von Nachbarn handeln, mit denen die Jungen öfters in Kontakt kamen. 883 Insgesamt halten sich die durch Urteil dokumentierten Fälle von Missbrauchsdelikten durch Jugendliche an ihnen bekannten einerseits und an ihnen unbekannten Kindern andererseits die Waage. Für erstere sind fünf, für letztere sechs Verfahren dokumentiert. Die Jungen trafen die ihnen unbekannten Kinder nach den Darstellungen des Gerichtes zufällig. Die Schwere der Missbräuche variierte zwischen dem Betasten von Mädchen „unter den Röcken“ bis hin zu brutalen Übergriffen. 884 Martin G., dem beim Strohernten vier Mädchen zufällig begegneten, von denen er eines gepackt und zu Boden geworfen hatte, klagte die Staats- 878 Vgl. ebd., S. 118. 879 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 25.11.1915 gegen Eugen F. und Georg B., StAL E 350a, Bü 5498. 880 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozesslisten 1904, Eintrag Nr. 100; 1905, Eintrag Nr. 37; 1906, Eintrag Nr. 250; 1910, Eintrag Nr. 79; 1913, Eintrag Nr. 470; 1914, Eintrag Nr. 146; 1915, Eintrag Nr. 13; alle StAL E 349, Bd. 104-106; und 110; und 113-115. 881 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1, S. 43. 882 Vec, Freiheit unter Verdacht, S. 964. 883 Vgl. Urteile gegen Karl H., Bü 5489; und Karl H., Bü 5502; beide StAL E 350a. 884 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 26.2.1918 gegen Leonhard Sch., StAL E 350a, Bü 5521. <?page no="253"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 254 anwaltschaft wegen versuchter Notzucht an. 885 Laut Eröffnungsbeschluss hatte der Angeklagte dem sechsjährigen Mädchen gedroht: „Wenn du nicht liegen bleibst, schneide ich Dir den Hals ab! “ 886 Die Strafkammer erkannte hiervon abweichend jedoch nur auf Verübung unzüchtiger Handlungen, da ihm angeblich das Bewusstsein für Gewaltanwendung gefehlt habe. 887 Betrachtet man die örtliche Verteilung der Missbrauchsfälle, so wird klar, dass diese Deliktform weder eindeutig dem städtischen noch dem ländlichen Milieu des Landgerichtsbezirkes zuzuordnen ist. Sowohl Ulm und Göppingen als auch kleinere Orte wie Heiningen oder Burgrieden werden in den Urteilen als Tatorte genannt. Ulm kommt dabei relativ oft vor. Das verwundert aber nicht, da, wie erwähnt, hier einerseits sehr viele der Menschen des Landgerichtsbezirkes lebten und andererseits hier die Polizeidichte im Vergleich zu den ländlichen Gebieten höher war. Missbrauch stellt sich insgesamt als ein Delikt dar, für dessen Begehung nicht die ökonomischen Rahmenbedingungen ausschlaggebend waren, was die quantitative Anklageentwicklung vor und während des Krieges belegt. Aus dem Rahmen fällt die Verurteilung eines vierzehnjährigen Mädchens wegen Missbrauchs im September 1915. Diese durch die Urteilsüberlieferung begründete Tendenz entspricht der Gerichtstätigkeitsstatistik der Strafprozesslisten. Außer dieses einen Verfahrens 1915 kamen solche Verfahren nur noch zwei weitere Male vor, nämlich im Jahr 1904 und im Jahr 1916. 888 Die Vierzehnjährige, die als Magd bei einem Heuhändler arbeitete, wurde von der Mutter ihres Dienstherren ertappt, als sie „hoch entblöst“ [sic] auf dem Boden lag, der fünfjährige Sohn des Heuhändlers neben ihr stehend. Für Missbrauchshandlungen als solche gab es keine Zeugen. Cäcilie J. räumte sie selbst ein. Über anfängliches oder teilweises Abstreiten finden sich keine Hinweise im Urteil. Vielmehr gab Cäcilie J. sogar zu, den Jungen schon früher missbraucht zu haben. 889 Hier zeigt sich beispielhaft, wie strafrechtliche Normen die Deutung von Geschehnissen beeinflussen können. Das Bild der „unzüchtigen Handlungen“ bot sich bei der Entdeckung eines halbnackten Mädchens neben einem kleinen Jungen an. Es könnte eventuell etwas 885 Vgl. Beschluß zur Eröffnung des Hauptverfahrens vom 13.6.1918 gegen Martin G., StAL E 350a, Bü 5525. 886 Ebd. 887 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 1.7.1918 gegen Martin G., StAL E 350a, Bü 5525. 888 Vgl. Kgl. Landgericht Ulm, Strafprozesslisten 1904, Eintrag Nr. 151; und 1916, Eintrag Nr. 96; beide StAL E 349, Bd. 104; und 116. 889 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 23.9.1915 gegen Cäcilie J., StAL E 350a, Bü 5494. <?page no="254"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 255 anderes vorgefallen sein, Zeugin und Gericht interpretierten das Vorkommnis jedoch vor dem Hintergrund des Paragraphen 176 als Verübung unzüchtiger Handlungen mit Personen unter 14 Jahren. An diesem Beispiel, bei dem es keine direkten Zeugen für die Tat als solche gab und das Delikt aus der Retrospektive mit Hilfe des umfangreichen Zugeständnisses des Mädchens rekonstruiert wurde, wird diese Deutung mit Hilfe der Schablone des Strafrechts besonders augenfällig. Warum das Mädchen diese weit reichenden Bekenntnisse machte, bleibt im Dunkeln. Die Richter sahen es auf dieser Grundlage aber als erwiesen an, dass sie den Jungen dazu gebracht habe, sie in „unsittlicher Weise“ zu berühren, sie an den Geschlechtsteilen zu reiben und sie ihn auch selbst berührte. 890 Ebenso wenig wie Missbräuche innerhalb der Familie sind Missbräuche von männlichen Tätern an männlichen Opfern, obwohl Paragraph 176 „geschlechtsneutral“ formuliert war, durch Urteil dokumentiert. Gleiches gilt für homosexuelle Handlungen zwischen Jungen nach Paragraph 175. Das einzig überlieferte Urteil wegen widernatürlicher Unzucht gegen einen Jugendlichen betraf Sodomie. Ein sechzehnjähriger Fuhrknecht hatte bei einer seiner Fahrten eines der Zugtiere dazu benutzt, „sich unter beischlafähnlichen Bewegungen über das Pferd“ zu beugen. Dabei war er von einem Dienstknecht beobachtet worden. Das Gericht konnte nicht klären, ob es bei „beischlafähnlichen Bewegungen“ geblieben war oder ob der Knecht die Stute penetriert hatte. Für den Straftatbestand der widernatürlichen Unzucht war dies jedoch unerheblich. 891 Regina Schulte folgert aufgrund ihrer Untersuchungsergebnisse für das ländliche Oberbayern, einer Viehzüchtergesellschaft, dass Sodomie innerhalb der dörflichen Bevölkerung nicht selten war. In den von ihr herangezogenen Gerichtsakten findet sich häufig Sodomie, fast nie Homosexualität. Daraus schließt sie, dass erstere weniger angstbesetzt war als letztere, daher öfter vorkam und auch öfter aufgedeckt und gerichtlich geahndet wurde. 892 Ob das für die männlichen Jugendlichen in den ländlichen Gebieten des Landgerichtsbezirkes Ulm auch zutrifft, kann auf Basis der überlieferten Akten nicht eindeutig geklärt werden. Dafür spricht die Beiläufigkeit, mit der die Strafrichter diesen Fall aburteilten. Dagegen spricht, dass es für die Tat nur einen einzigen Zeugen gab. Das Verfahren beruht daher höchstwahrscheinlich auf dessen Anzeige. Er stammt allerdings ebenfalls aus dem dörflichen Umfeld. Wäre das Verhalten für ihn normal gewesen, hätte er es ver- 890 Vgl. ebd. 891 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 31.5.1917 gegen Jakob Z., StAL E 350a, Bü 5514. 892 Vgl. Schulte, Dorf im Verhör, S. 239 f. <?page no="255"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 256 mutlich nicht angezeigt. Im Gegensatz zu Schultes’ Schlussfolgerungen zeigt sich in dieser Untersuchung, dass gerade Delikte, die nicht akzeptiert waren, gerichtsnotorisch wurden. 4. Sonstige Delikte a. Die Kompensation von „Luxusproblemen“ In der überwiegenden Mehrzahl mussten sich Angehörige der unteren Schichten wegen Straftaten vor dem Landgericht verantworten, was sowohl die statistische Auswertung als auch die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. Vereinzelt standen aber auch Kinder aus „besseren Elternhäusern“ vor Gericht, bei einigen der Urteile lässt sich dieser soziale Hintergrund relativ eindeutig ermitteln. Im Zeichen des Krieges und seiner Begleiterscheinungen kann hier von Luxuskriminalität gesprochen werden. Auch diese Kriminalität zielte auf die Beseitigung eines persönlich empfundenen Mangels und ging über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinaus. Der Unterschied lag in dem, was als Mangel empfunden wurde. Während sich die illegalen Begehrlichkeiten jugendlicher Angehöriger der unteren Schichten auf Nahrungsmittel - auch über den unmittelbaren Eigenbedarf hinaus - und praktische Gegenstände wie intakte Stiefel richtete, standen diese Güter nicht im Fokus von Jugendlichen, die hier weniger Einschränkungen erfuhren. Ihre Aufmerksamkeit galt anderen Waren. Symptomatisch dafür ist der Betrug des siebzehnjährigen Wilhelm Karl K. Sein im Feld stehender Vater hatte ihm den Kauf eines Tourenanzugs versprochen, den der Junge sich wünschte, um mit seinen Freunden Touren unternehmen zu können. Wilhelm Karl K. wollte allerdings nicht die angekündigten Monate auf den Anzug warten. Stattdessen schrieb er einen Brief an ein Kostümgeschäft in seinem Wohnort Göppingen, mit dem er das Geschäft bewog, sich einen kompletten Tourenanzug aushändigen zu lassen ohne zu bezahlen. Er war als Neffe der Ehefrau eines vermögenden Göppinger Bürgers aufgetreten, und zwar so überzeugend, dass sowohl die Verkäuferin als auch der Ladenbesitzer ihm Glauben schenkten. 893 Demnach musste er mit dem Habitus eines Jungen aus „gutem Hause“ so weit vertraut sein, dass er ihn erfolgreich darstellen konnte. Der Betrug wurde offenkundig, als 893 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 17.8.1916 gegen Wilhelm Karl K., StAL E 350a, Bü 202. <?page no="256"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 257 die vermeintliche Tante die Rechnung erhielt. Hier war der Ladenbesitzer nach Ermittlung des Täters allerdings bereit, auf Bestrafung zu verzichten, nachdem Wilhelm Karl K. den Tourenanzug zurückgebracht hatte - ebenfalls ein Indiz dafür, dass der Junge trotz des Betruges auf den Ladenbesitzer einen soliden und vertrauenswürdigen Eindruck machte. 894 Er genoss einen Vertrauensvorschuss. Ein Strafverfahren kam trotz Nachsicht des Betroffenen nun auf Wilhelm Karl K. zu, da Urkundenfälschung sowie Betrug zu den Offizialdelikten zählten und hier der Automatismus des Legalitätsprinzips griff. Gestoppt werden konnte das einmal in Gang gebrachte Verfahren nicht, auch wenn dies im Sinne aller Beteiligten war. b. Strafrechtsgrenzen überschreitende Spiele Gerichtliche Sanktionierung drohte Kindern und Jugendlichen auch, wenn sie bei ihren alltäglichen Spielen die Grenze der strafrechtlich kodifizierten Normen überschritten. Das musste dabei kein bewusster Vorgang sein. Diese Gruppe wird von verschiedenen Formen strafrechtlich abweichenden Verhaltens gebildet, hierzu zählen offenkundig zwei fahrlässige Tötungen und zwei gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigungen sowie ein Diebstahl. Sachbeschädigungen und Tötungen durch Jugendliche kamen sehr selten zur Anklage vor der Strafkammer und waren demnach Ausnahmeerscheinungen im strafrichterlichen Alltagsgeschäft. Die Richter hatten sich im Juli 1915 mit vier gerade strafmündigen Jungen zu befassen. Diese hatten um Ostern 1915 mit Steinen nach Isolatoren geworfen, die an Telegraphenmasten in der Nähe Laupheims angebracht waren. So zerstörten sie eine erhebliche Zahl, das Urteil erwähnt 50 schadhafte Isolatoren, die ersetzt werden mussten. Die Jungen selbst gaben zu, mit Steinen nach den „weißen Vögeln“, wie sie sie laut Urteil nannten, gezielt zu haben. 895 Die kindliche Umschreibung für die aus der Ferne tatsächlich wie hockende Vögel erscheinenden Zubehörteile der aufkommenden Telekommunikation deutet auf die Motivation hin. Die Jungen selbst betrachteten ihr Tun offenbar als spielerische Handlung, dem Dosenwerfen verwandt. Etwas rabiater gestaltete sich ein Fall, bei dem fünf kurz vor ihrer Schulentlassung stehende Jungen die Dachplatten einer ehemaligen Schutzhütte in einem Steinbruch nahe Geislingen zerstörten. Einige der Dachplatten waren bereits beschädigt, viele weitere zertrümmerten die Jungen mit Steinwür- 894 Vgl. ebd. 895 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 27.7.1915 gegen Friedrich M. u. a., StAL E 350a, Bü 2183. <?page no="257"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 258 fen. 896 Hier stellt sich die Grenze zwischen jugendlichem Spiel und Vandalismus fließender dar als bei der Beschädigung der Isolatoren, weil Beschreibungen wie die der „weißen Vögel“ fehlen. Gerade solche Topoi lassen aber die Assoziation mit spielerischen Handlungen leichter aufkommen. Durch Verkettung unglücklicher Zufälle konnten Spiele wesentlich fatalere Folgen haben als materielle Zerstörungen. Zweimal standen Jungen vor Gericht, die aus Versehen, also fahrlässig, jemanden getötet hatten: der vierzehnjährige Gymnasiast Meinrad Blasius H. in einer Jagdhütte einen Spielkameraden und der ein Jahr ältere Schafknecht Wilhelm Andreas M. seine Cousine. Beide hatten mit einem Gewehr auf ihre Gegenüber gezielt und in der fälschlichen Annahme, die Waffen seien gesichert, abgedrückt. 897 Da bei diesen Tötungsdelikten die Folgen nicht intendiert waren, konnte den Jugendlichen unmittelbar während der Tat gar nicht klar sein, dass sie sich rechtswidrig verhielten. Die von ihnen geplante Handlung - Abdrücken, ohne dass sich ein Schuss löst - stimmte nicht mit dem, was tatsächlich passierte, überein. Harmlosere Folgen hatte der „spielerische Diebstahl“. Drei Halbwüchsige trafen sich nachmittags zufällig vor der Groß-Süßener Turnhalle. Sie beschlossen zu turnen und kletterten daraufhin durch ein zerbrochenes beziehungsweise ein von innen geöffnetes Fenster hinein. Nachdem ihnen sowohl Turnen als auch Kartenspielen zu langweilig wurde, brachen sie die Garderobe und einen Garderobenschrank auf, in dem sie Theaterblitze fanden. Diese brannten sie vor der Halle ab. 898 Der Diebstahl in der Turnhalle ereignete sich nebenbei, er stand nicht im Mittelpunkt der jugendlichen Aktivität. Das Aufbrechen des Schrankes und die Wegnahme der Theaterblitze sollten die aufkommende Langeweile beseitigen und „neuen Schwung“ in die Nachmittagsgestaltung bringen. c. Brandstiftungen Verfahren wegen Brandstiftungen kamen vor dem Landgericht Ulm sehr selten vor. In den drei Fällen, die hier ausführlich durch das Urteil dokumen- 896 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.10.1915 gegen Alfred R. u. a., StAL E 350a, Bü 2194. 897 Vgl. Urteile gegen Meinrad Blasius H., Bü 2298; und Wilhelm Andreas M., Bü 2299; beide StAL E 350a. 898 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Eugen K., Gustav R. und Karl V., StAL E 350a, Bü 1072. <?page no="258"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 259 tiert sind, handelte es sich um bewusst begangene Taten im unmittelbaren sozialen Umfeld der jugendlichen Tatverdächtigen. Die Jugendlichen hatten nicht aus „Spaß am Zündeln“ oder fahrlässig Feuer gelegt, beispielsweise mit einem Lagerfeuer im Wald. Der sechzehnjährige Linus W. zündete die elterliche Scheune an, die siebzehnjährige Dienstmagd Maria Anna W. setzte Stroh in Brand, was zur Zerstörung des gesamten Wohnhauses ihrer Arbeitgeber führte, und die vierzehnjährige Marie W. zündelte verschiedene Male in der Wohnung ihrer Eltern und in der Scheune. 899 Die Jugendlichen schädigten durch ihr Verhalten demnach Menschen, mit denen sie ihren Alltag teilten und zu denen eine große persönliche Nähe - die allerdings nicht im Sinne von Verbundenheit positiv aufgeladen sein musste - bestand. Die drei verurteilten jugendlichen Brandstifter hatten die Feuer laut eigenen Darstellungen nicht als Selbstzweck gelegt. Vielmehr wollten sie durch die Brandstiftungen weiter reichende Ziele als das Niederbrennen erreichen. In allen drei Fällen hat die Brandstiftung eine Vorgeschichte in den persönlichen Beziehungen der Angeklagten zu ihren Verwandten und Arbeitgebern. Der Vater von Linus W. war ihm und seinem Bruder gegenüber sehr gewalttätig, er übte das damals existierende Züchtigungsrecht exzessiv und über das auch von den Juristen zugestandene Maß hinaus aus. Bei einer dieser Züchtigungsaktionen fürchtete Linus W., der Vater werde seinen älteren Bruder zu Tode prügeln. Um den Bruder zu retten, schlug er den Vater mit einem Holzknüppel nieder. Das war der Ausgangspunkt der anschließenden Brandstiftung. Denn diese Notwehraktion des Angeklagten drohte in seinen Augen die Gewaltspirale zu beschleunigen: Er hatte Angst vor den nach seiner Gegenwehr zwangsläufig anstehenden Prügeln des Vaters. Um diesen effektiv abzulenken und der befürchteten Strafe entgehen zu können, zündete er die elterliche Scheune an. 900 Maria Anna W. arbeitete als Dienstmagd. Laut Urteil kam es vielfach zu Konflikten zwischen ihr und der sie beaufsichtigenden Tochter ihres Dienstherren, da W. angeblich „störrisch und faul“ sei. Die Tochter habe sie deshalb öfters zurechtgewiesen und Maria Anna W. hege deshalb einen „gewissen Groll und Haß“ gegen sie. Der Konflikt eskalierte. Maria Anna W. zündete Stroh an, als sie ihrem Dienstherren selbiges aus dem Heuboden zuwerfen sollte. Im unmittelbaren Anschluss an ihr Handel warnte sie ihren Dienstherren durch Zurufen - vergeblich, denn sowohl Scheune als auch das 899 Vgl. Urteile gegen Linus W., Bü 776; Maria Anna W., Bü 778; Marie W., Bü 779; alle StAL E 350a. 900 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.2.1915 gegen Linus W., StAL E 350a, Bü 776. <?page no="259"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 260 Wohnhaus brannten bis auf die Grundmauern ab. Als der Tat zugrunde liegendes Motiv sah das Gericht Rachsucht an. 901 Diese mit erheblichen Folgen verbundene Brandstiftung vermeldete bereits vier Tage nach der Tat das Ulmer Tagblatt und nannte auch gleich die vermeintlich Schuldige beim - wenn auch falsch geschriebenen - Namen. 902 Der Fall schien also sehr schnell klar und journalistische Zurückhaltung nicht geboten zu sein. Denn die schnell gefundene „Schuldige“ entsprach dem Bild von Brandstifterinnen, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts virulent war: ein Dienstmädchen, das in seiner Stellung nicht zurechtkam. 903 Auch die dritte Brandstiftung, die bereits im Zusammenhang mit der Gutachtertätigkeit dargestellt wurde, war dem Ulmer Tagblatt wenige Tage nach der vorläufigen Verhaftung der Vierzehnjährigen eine namentliche Erwähnung wert. 904 Es scheint symptomatisch für die Wahrnehmung von Brandstiftung als ein „weibliches“ Delikt zu sein, dass das Ulmer Tagblatt nur über die von den Mädchen gelegten Brände berichtete. Und dies, obwohl der „Fall Linus W.“ im Vergleich zum „Fall Marie W.“ spektakulärer anmutet. Diese Taten, wie sie sich hier in den Urteilen präsentieren, könnten tatsächlich als Form jugendlicher Konfliktbewältigung gedeutet werden. Den Jugendlichen war es nicht möglich, auf Augenhöhe mit denen aus ihrer Sicht ungerecht handelnden Autoritätspersonen zu kommunizieren. Eine direkte Austragung der Konflikte schied demnach aus Sicht der betroffenen Jugendlichen aus, sie suchten nach anderen Mitteln und fanden diese im kriminellen Akt der Brandstiftung. Sie handelten nach ihrer eigenen Logik, welche die Grenze des gesellschaftlich und strafrechtlich akzeptierten Maßes an Verhaltensweisen weit überschritt. Die Brandstiftungen wurden im kleinstädtisch-ländlichen Umfeld begangen. 905 Aufgrund der geringen Fallzahlen ist es jedoch müßig, daraus verallgemeinerbare Schlüsse ziehen zu wollen. 906 901 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.5.1916 gegen Maria Anna W., Bü 778. 902 Vgl. UTb vom 21.3.1916. 903 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib, S. 74 f. 904 Vgl. UTb vom 12.2.1917. 905 Marie W.: Blaubeuren, Maria Anna W.: Boll, Oberamt Göppingen, Linus W.: Birenbach, Oberamt Göppingen. 906 Siehe zu Brandstiftungen im bäuerlich-ländlichen Milieu Schulte, Feuer im Dorf; sowie dies., Dorf im Verhör, S. 41-117 und 276-279. <?page no="260"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 261 5. Kriegsdelikte Die bereits analysierten Delikte konnten - oberflächlich betrachtet - sowohl in Friedensals auch in Kriegszeiten begangen werden. Dazu kommen spezielle Kriegsdelikte. Unter Kriegsdelikten im engen Sinne sollen solche Straftaten verstanden werden, die nicht nur durch den Kriegszustand eine Steigerung erfuhren, sondern die in dieser Form nur unter den speziellen Rahmenbedingungen des Krieges begangen werden konnten. Hierzu zählten zum einen Feldpostdiebstähle, da das Objekt der Diebeshandlungen nur während des Krieges existierte. Zum anderen traf dieser Umstand auch bei Verstößen gegen den Belagerungszustand zu, da die entsprechende Rechtsnorm nur während der Dauer des Krieges respektive des Belagerungszustandes gültig war. Es handelt sich demnach um eine heterogene Gruppe von Delikten, deren verbindendes Element ihr ausschließliches Vorkommen unter den Bedingungen der Kriegsgesellschaft war. Diebstähle aus einer der zahlreichen Ulmer Kasernen zählen jedoch nicht dazu. 907 Auch wenn hier die Möglichkeit zur Begehung solcher Delikte durch den Kriegszustand und die damit einhergehende Mehrbelegung der Kasernen potenziert worden sein mag, war die prinzipielle Möglichkeit dafür auch schon vorher gegeben. Gleiches gilt für Diebstähle von Soldatenstiefeln - in der Garnisonsstadt Ulm kann das nicht als Kriegsdelikt bewertet werden. 908 a. Neue Objekte für Straftaten Besonders prädestiniert für die Begehung von Feldpostdiebstählen waren Postaushelfer. Das liegt auf der Hand, da sie durch ihre Tätigkeit im Gegensatz zu anderen Jugendlichen automatisch mit solchen Päckchen in Berührung kamen. Hatten diese Jugendlichen zu Beginn ihres Dienstes einen Beamteneid abgelegt, war die Wegnahme strafrechtlich gesehen eine Amtsunterschlagung und kein bloßer Diebstahl mehr. Zwei der Postaushelfer waren unter anderem dafür zuständig, Postsendungen in verschlossenen Säcken zwischen zwei Postämtern oder auch zum Bahnhof zu transportieren. Der zu den Tatzeitpunkten im Juni und Juli 1917 siebzehnjährige Martin H. übernahm diese Aufgabe in Buttenhausen (Oberamt Münsingen), der gleichaltrige Florian N. in Geislingen. Er stahl zwischen 907 Vgl. u. a. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.7.1918 gegen Michael S., StAL E 350a, Bü 1105. 908 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 22.7.1915 gegen Georg K. und Albert M., StAL E 350a, Bü 856. <?page no="261"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 262 März und Juli 1917 verschiedentlich Post. 909 Bei der Anstellung von Florian N. als Posthelfer war den zuständigen Stellen ein Fehler unterlaufen. Er war wegen Diebstahls vorbestraft, das Schultheißamt seiner Heimatgemeinde Böhmenkirchen hatte ihm jedoch einen guten Leumund und fälschlicherweise das Fehlen von Vorstrafen bescheinigt. So konnte er beim Postamt Geislingen als vereidigter Posthelfer zu arbeiten beginnen. Er erlangte beachtliche Mengen Beute. Das Urteil listet 31 verschiedene Posten auf, die wiederum oft mehrere Stücke umfassen, etwa drei Stück Seife oder zwei Taschenlampen. Aus sieben Feldpostpäckchen stammten Zigaretten und verschiedene Nahrungs- und Genussmittel. 910 Diese großen Mengen übertrafen bei weitem das, was als Diebstähle aus Not angesehen werden konnte. Im Frühjahr und Sommer 1917 waren Eier, Rauchfleisch, Schuhfett, Kerzen, weißes Gebäck, Butter und Ähnliches knappe, kostbare Güter. Sie waren auch in Haushalten, die nicht von ausgeprägtem Mangel betroffenen waren, keine Dinge des alltäglichen Bedarfs mehr. Die Logik der Jungendlichen lässt sich leicht nachvollziehen. Die Feldpostdiebe hatten durch ihre Zugriffsmöglichkeiten auf Feldpost die luxuriöse Möglichkeit, kriegsbedingte Knappheiten umfassend zu „überkompensieren“. Sie stahlen soviel wie möglich. Ihre Motivation kann nicht so sehr in der Beseitigung einer akuten Notlage gesucht werden. Vielmehr bot das Wissen um den leichten Zugriff auf knappe Güter einen Anreiz, sich diese unerlaubt anzueignen. Allerdings vergriffen sich nicht nur Postaushelfer, die qua Amt mit Feldpost zu tun hatten, daran. Auf Güterbahnhöfen konnte bei günstiger Gelegenheit jeder, der sich befugt oder unbefugt dort aufhielt, einen Diebstahlversuch begehen. Denn die Feldpost war nur gering bewacht. Mehrere Jungen machten sich diese Tatsache in Ulm zu Nutze und stahlen aus Paketen, in denen Soldaten Andenken, aber auch dreckige Wäsche aus dem Feld nach Hause sandten. 911 Ähnlich der Feldpost schuf auch das Rationierungssystem und damit verbunden die Abgabe von Lebensmitteln auf Bezugsschein neue Objekte und neue Möglichkeiten für die Begehung von Straftaten. Hier bot sich durch die Kriegssituation ein neuer Anlass für Urkundenfälschung verbunden mit Betrug. 909 Vgl. Urteile gegen Martin H., Bü 5; und Florian N., Bü 998; beide StAL E 350a. 910 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.8.1917 gegen Florian N., StAL E 350a, Bü 998. 911 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 27.5.1915 gegen Albert M. u. a., StAL E 350a, Bü 860. <?page no="262"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 263 Im April 1917, unmittelbar nach dem „Kohlrübenwinter“, in dem Kartoffeln als Grundnahrungsmittel breiter Bevölkerungskreise nicht mehr zur Verfügung standen und stattdessen die verhasste Kohlrübe spärlichen Ersatz bieten sollte, versuchten in Ulm mehrere Mädchen und ein Junge gemeinsam, die ihren Familien zustehenden Kartoffelrationen illegal zu erhöhen. 912 Die jugendlichen Täterinnen und der Täter besuchten mehrheitlich noch die Volksschule. Nur zwei von ihnen arbeiteten bereits, eine als Laufmädchen, die andere als un- und angelernte Fabrikarbeiterin. Der Vater von zwei Schwestern, im zivilen Leben Schuhmacher, stand im Feld. Die Väter der anderen Mädchen waren jeweils ein Fabrikarbeiter, ein Bierführer sowie ein Tagelöhner. Da diese Angaben nicht spezifiziert werden, können keine genauen Aussagen über die materielle Situation ihrer Familien getroffen werden. Bei dem Fabrikarbeiter und dem Tagelöhner wäre dafür der Hinweis ausschlaggebend, wo sie beschäftigt waren: in einem der Ulmer Rüstungsbetriebe oder in einer unter der Kriegskonjunktur leidenden Branche. Für einen Bierfahrer waren die Kriegszeiten prekär, da seine „Geschäftsgrundlage“ ein Genussmittel war - mithin ein knappes Gut. Über den familiären Hintergrund des Jungen finden sich keine Angaben. Da das Gericht eine Mangelsituation als gegeben ansah, kann aber angenommen werden, dass die Familien mit materiellen Problemen konfrontiert waren. 913 Denn die Strafkammer war, wie noch genauer erläutert wird, sehr zögerlich mit der Zubilligung einer Notlage: wenn sie eine solche einräumte, musste diese sehr manifest und offensichtlich zutage treten. Die Mädchen und der Junge waren von ihren Eltern beauftragt worden, die den Familien zustehenden Kartoffeln bei der Stadt Ulm abzuholen. Das im Krieg geschaffene städtische Lebensmittelamt Ulm gab an die Bevölkerung Gutscheine für den Bezug von Kartoffeln aus dem kommunalen Vorrat aus. 914 Diese Gutscheine wertete das Amt entsprechend der jeweiligen Versorgungsberechtigten auf. Beim Abholen der Gutscheine trugen die Mitarbeiter der Kartenausgabestellen die zustehenden Mengen und den dafür gezahlten Preis ein. Möglich wurden die nicht vorgesehene Doppelabgabe von rationierten Gütern, da die Bezahlung derselben nicht unmittelbar beim Empfang anstand, sondern schon vorher. Den Angeklagten warf das Gericht vor, sie hätten sowohl Mengen als auch Preise ausradiert und durch höhere Beträge ersetzt. So bekamen die Mädchen und der Junge bei der Ausgabestelle 912 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Albert K. u. a., StAL E 350a, Bü 491. 913 Vgl. ebd. 914 Diese kommunale Abgabestelle errichtete Ulm Ende 1916, vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 347. <?page no="263"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 264 mehr Kartoffeln ausgehändigt als ihnen und ihren Familien offiziell zugestanden hätte. 915 Auffallend ist, dass hier laut Ermittlungsergebnissen hauptsächlich Mädchen involviert waren. Da es darum ging, die Familienversorgung mit Lebensmitteln zu gewährleisten, könnte der Grund für die im Vergleich zu anderen Deliktarten überdurchschnittlich hohe Beteiligung von Mädchen darin liegen, dass sie für diesen Aspekt des Familienlebens in einem höheren Maße als die Jungen mitverantwortlich waren. 916 Überspitzt formuliert: Während die Jungen Genussmittel für ihren eigenen Bedarf stahlen, zielten die „kriminellen Aktivitäten“ der Mädchen auf die Versorgung des Familienverbandes. Da die Kinder mit an der Sicherstellung des familiären Bedarfes beteiligt waren und durch das Beschaffen der Kartoffeln an der Versorgung aktiv partizipierten, lag für das Gericht der Schluss nahe, die Eltern treffe eine Mitschuld an den Straftaten ihrer Kinder. Das Gericht mutmaßte, die Kinder seien von ihren Eltern zu den Fälschungen angestiftet worden. Beweisen ließ sich dieser Verdacht nicht, so dass die Eltern gar nicht erst angeklagt wurden. 917 Ganz ähnlich stellt sich eine weitere Bezugsscheinfälschung dar, diesmal begangen von einem vorbestraften siebzehnjährigen Sohn eines Bauarbeiters. Er radierte im Juni 1918, nachdem sein Bruder schon Eier bei der Verkaufsstelle geholte hatte, zweimal den entsprechenden Eintrag aus und versuchte auf diese Weise, die doppelte Menge zu beziehen. Das gelang ihm beim ersten Mal, der zweite Versuch führte zur Entdeckung der Fälschung. 918 Zu seiner Verteidigung brachte er vor, er habe seinem an der Front stehenden Bruder Essbares schicken wollen und nichts anderes gehabt. 919 Falls diese Behauptung nur ein Schutzvorbringen des Angeklagten war, wollte er sich möglicherweise bewusst oder unbewusst den hohen Stellenwert nutzbar machen, den die Versorgung der Soldaten an der Front einnahm. Denn die Schwierigkeiten, die zivile Bevölkerung zu versorgen, wurden von offizieller Seite in Kauf genommen, um ein Millionenheer von Soldaten für die Kriegsführung unterhalten zu können. 920 Aus dieser Logik heraus konnte ein Eingriff in die Versorgung der Zivilbevölkerung höchstens dann ansatzweise 915 Vgl. Urteil gegen Albert K. u. a., StAL E 350a, Bü 491. 916 Zur Einbeziehung von Kindern beiderlei Geschlechts in die Familienökonomie, auch durch illegale Aktivitäten, siehe Daniel, Krieg der Frauen, S. 141. 917 Vgl. Urteil gegen Albert K. u. a., StAL E 350a, Bü 491. 918 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.8.1918 gegen Leonhard B., StAL E 350a, Bü 496. 919 Vgl. ebd. 920 Vgl. Ullmann, Kriegswirtschaft, S. 227 f. <?page no="264"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 265 gerechtfertigt werden, wenn dieser der Versorgung der Soldaten zugute kam. Weiterhin gab der Junge an, die nicht verschickten Eier aus Hunger selbst gegessen zu haben - dies war eine allgemein akzeptierte Begründung für das illegale Aneignen von Nahrungsmitteln. 921 Ob diese Begründung auch strafmildernd vor Gericht akzeptiert wurde, hing von Art und Menge ab. Auch hier waren Kinder und Jugendliche an der Sicherstellung der Versorgung in ihrer Familie mit beteiligt. Die Eltern hatten das Abholen der Lebensmittel in die Verantwortung ihrer Kinder gelegt. Sei es aus eigener Initiative, sei es aufgrund elterlicher Anstiftung, die Kinder und Jugendlichen fühlten sich so verantwortlich für die Versorgung, dass sie sich moralisch zu einer Straftat berechtigt sahen, obwohl sie eigenen Angaben vor Gericht zufolge wussten, dass ihr Vorgehen rechtlich nicht erlaubt war. 922 Bei diesen Gesetzesverstößen verhielten sich die Kinder und Jugendlichen zwar strafrechtlich bewertet kriminell, allerdings innerhalb des Normsystems Familie keineswegs abweichend. Ute Daniel hat treffend herausgearbeitet, dass sich hier keine „verwahrlosten“ Familienstrukturen offenbaren, sondern im Gegenteil „das Funktionieren familiärer Sozialisation unter den speziellen Bedingungen der Kriegszeit.“ 923 Allerdings bedeutete die so geartete „Funktionstüchtigkeit“ der Kleingruppe Familie eine Entsolidarisierung der Gesamtgesellschaft, da sie Platz für eine umfassende Selbstversorgermentalität bot. Wie die Hamsterfahrten kann auch das Fälschen von Bezugsscheinen als Teil der durch den Kriegsmangel hervorgerufenen „Schattenwirtschaft“ zur Sicherstellung der eigenen Versorgung betrachtet werden. Während die Hamsterfahrten jedoch halblegal waren und aufgrund ihrer weiten Verbreitung nicht effektiv eingedämmt werden konnten, überschritt die Bezugsscheinfälschung die Grenze zur Illegalität eindeutig. Durch die im Strafgesetzbuch verankerten Straftatbestände der Urkundenfälschung und des Betruges boten sich hier für die Behörden ganz eindeutige Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten. Darüber hinaus war die Bezugsscheinfälschung ein direkterer Angriff auf das öffentlich organisierte Versorgungssystem. Für die Hamsterfahrten hielten die Erzeuger zwar Lebensmittel zurück, die daher dem staatlichen Verteilungssystem nicht mehr zur Verfügung standen, durch die Bezugsscheinfälschung wurden aber auch die raren Güter, welche noch zur Verteilung bereit standen, für alle Bezugsberechtigten verknappt. Wären diese Fälschungen massenhaft aufgetreten, hätte das öffentliche Versor- 921 Vgl. Urteil gegen Leonhard B., StAL E 350a, Bü 496. 922 Vgl. die entsprechenden Angaben in den zwei Urteilen. 923 Daniel, Krieg der Frauen, S. 141. <?page no="265"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 266 gungssystem zusammenbrechen können. Wie die statistische Auswertung gezeigt hat, war der Höchststand der Anklagen wegen von Jugendlichen begangener Urkundendelikte vor der Strafkammer in Ulm jedoch in der Vorkriegszeit erreicht und lag im Krieg nicht höher als in Friedenszeiten. Solche Bezugsscheinfälschungen als Reaktion Jugendlicher auf die angespannte Versorgungslage kamen demnach vor, allerdings wurden sie nicht in einem bedrohlichen Maße gerichtsnotorisch. Die Reglementierung der Nahrungsmittelversorgung brachte neben den Bezugsscheinen, die sich für Betrug auf Basis von Urkundenfälschungen anboten, auch Lebensmittelmarken hervor. Sie konnten neue, durch den Kriegszustand hervorgebrachte Objekte von Diebstählen werden. Auch bei Markendiebstählen lag die Deutung, dass die Wegnahme der Sicherstellung der eigenen Lebensmittelversorgung dienen sollte, näher als bei Diebstählen von Genussmitteln. Denn die offiziellen Rationen deckten den realen Bedarf nicht. 924 Dieser Interpretation schlossen sich die Richter der Strafkammer bei einem vierzehnjährigen Elektrotechnikerlehrling an. Er war im Juni 1917 in die Ulmer Grenadierkaserne eingedrungen und hatte, während sich die Mannschaften beim Appell befanden, in einem der Zimmer mehrere Kästen aufgebrochen. Er nahm schließlich Brotmarken und einen Fotoapparat mit, wobei er auf frischer Tat ertappt wurde. Die Richter kamen in ihrem Urteil zu folgendem Ergebnis: „Hinsichtlich des Zwecks seines Handelns behauptet der Angeklagte, er habe beim Einsteigen in die Kaserne lediglich die Absicht gehabt, von Soldaten Brot zu betteln, da er Hunger gehabt habe und von seiner Mutter, deren Brotvorrat aufgebraucht gewesen sei, mit Geld ausgeschickt worden sei, um markenfreies Brot beizuschaffen. Erst nachdem seine Bemühungen sich vergeblich erwiesen haben, insofern er nur von Einem [sic] Soldaten ein Stückchen Brot bekommen habe, habe er sich entschlossen in ein Zimmer einzudringen, wobei er lediglich die Absicht gehabt habe Brot zu stehlen. Erst als er dort nirgends Brot gefunden habe und schon alle Schlösser aufgebrochen habe, habe er sich zur Wegnahme der Brotmarken entschlossen und auch das Ledertäschchen mit dem Photographieapparat ohne Überlegung an sich genommen. Dieses Schutzvorbringen wurde nicht für voll widerlegt erachtet; es wird durch die Tatsache unterstützt, daß der Angekl. 8 Kästen durchsucht hat, ohne etwas andres zu nehmen als die vorbezeichneten Sachen.“ 925 924 Vgl. Liepmann, Krieg und Kriminalität, S. 81. 925 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.7.1917 gegen Karl Edmund G., StAL E 350 a, Bü 980. <?page no="266"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 267 Der Angeklagte erschien dem Gericht so überzeugend, dass nicht einmal die Mitnahme des Fotoapparats etwas an der Interpretation eines Diebstahls aus Not ändern konnte. Das war aber nur der Fall, weil er außer des scheinbar versehentlich eingesteckten Fotoapparates wirklich nur Brotmarken an sich nahm. Eine zusätzliche Mitnahme von Zigaretten oder Ähnlichem hätte seine Argumentation für die Richter unannehmbar gemacht. So war es bei dem zum Zeitpunkt der ersten Tat im April 1917 gerade zwölf Jahre alten Volksschüler Albert Sch.: Er drang in ein Haus in seinem Heimatort Kirchheim unter Teck ein und stahl dort neben Brot- und einer Zuckermarke auch Geld. Letzteres verwendete er sukzessive für Brötchen, Süßwaren, Limonade und Zigaretten. 926 Der Markendiebstahl kann als Kriegsdelikt gewertet werden. Als Diebstahl aus Not bewerteten die Richter ihn nicht - Süßwaren oder Zigaretten als „Objekte der Begierde“ wirkten dafür zu provozierend. 927 b. Neue Straftatbestimmungen Zu diesen neuen Objekten strafbaren Handelns traten im Krieg neue Straftatbestimmungen. Dazu zählten insbesondere die aufgrund des Belagerungszustandsgesetzes erlassenen Verbote des Stellvertretenden Generalkommandos. Die hier mit Urteil dokumentierten Fälle betreffen beide unerlaubten Geschlechtsverkehr mit russischen Kriegsgefangenen. 928 Durch dieses Verbot sollte generell der Kontakt zwischen einheimischer Bevölkerung und Kriegsgefangenen aus verteidigungsstrategischer Logik unterbunden werden - die Grenzen zwischen „Feind“ und „Freund“ durften auch ohne trennende Schützengräben nicht verwischt werden. Die Fälle ereigneten sich im ländlichen Umfeld, also dort, wo Kriegsgefangene außerhalb von Lagern in der Landwirtschaft eingesetzt wurden und so in direkten Kontakt mit Einheimischen kamen. Im Vergleich zu den Kriegsgefangenen, die in der Industrie oder im Bergbau eingesetzt wurden, waren hier Bewachung und Reglementierungen weniger intensiv. 929 Die Rahmenbedingungen zur Übertretung der Strafbestimmung in dieser sexuellen Form waren hier gegeben. 926 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 13.8.1917 gegen Albert Sch., StAL E 350a, Bü 992. 927 Vgl. ebd. 928 Vgl. Urteile gegen Barbara S., Bü 2613; und Karoline T., Bü 2583; beide StAL E 350a. 929 Vgl. Artikel „Kriegsgefangene“, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 645. <?page no="267"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 268 Barbara S., die auf dem elterlichen Hof mithalf, kam im Winter 1917/ 18 häufig in eine nachbarschaftliche Lichtstube. 930 Sie lernte einen dort arbeitenden russischen Kriegsgefangenen kennen, von dem sie sich mehrfach „gebrauchen“ ließ. Zu ihrer Verteidigung brachte Barbara S. vor, sie habe den Russen zunächst gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Schließlich habe sie nichts mehr eingewendet. 931 Der Russe erscheint hier, ganz gemäß den zeittypischen Bildern von männlicher und weiblicher Sexualität, als der aktive, handelnde Part, während das Mädchen sich letztendlich in ihr Schicksal ergab. Vom „Begehen“ einer Tat kann so betrachtet keine Rede sein, die Schuld des Mädchens lag in der Passivität. Das vermeintliche Verhalten von Barbara S. entsprach dem bei einer Frau erwarteten Tun. c. Neue Opfer Neben neuen Objekten illegaler Handlungen und neuen Strafbestimmungen schufen die Rahmenbedingungen des Krieges auch eine neue Opfergruppe, die Kriegsgefangenen. Sie waren aufgrund ihres erzwungenen Aufenthaltes in einem feindlichen Land besonders schutz- und hilflos. Daher verwundert es nicht, dass sich jugendliche Diebe an ihrem Eigentum vergriffen. Christian H. suchte sich im Januar 1917 ganz bewusst serbische Kriegsgefangene als Opfer aus. Den Schuhmacherlehrling wies ein Knecht darauf hin, dass die im Armenhaus in Bühl untergebrachten Serben Geld hätten. 932 Möglicherweise war dies keine allgemeine Information, sondern ein konkreter Hinweis, wo Beute zu erwarten war. Gezielt ging der Siebzehnjährige daraufhin zu einer Zeit, als die Gefangenen auswärts arbeiteten, in das Armenhaus und stahl dort aus einem ursprünglich verschlossenen Koffer 20 Mark. 933 Zwei Schlosserlehrlingen, die im Juli 1917 Reparaturarbeiten auf dem Ulmer Niederländerhof durchzuführen hatten, bot sich die Gelegenheit, aus Kisten der dort untergebrachten serbischen Kriegsgefangenen zu stehlen. Der Niederländerhof war das Armenhaus der Stadt Ulm, welches 1893 zu einer Beschäftigungsanstalt ausgebaut wurde. 934 Sie konnten dort Dinge an sich 930 Lichtstuben waren abendliche Versammlungen der jungen Frauen eines Ortes in Privathäusern zur Handarbeit, vgl. Gestrich, Traditionelle Jugendkultur, S.93 ff. 931 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Barbara S., StAL E 350a, Bü 2613. 932 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 15.3.1917 gegen Christian H., StAL E 350a, Bü 938. 933 Vgl. ebd. 934 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 179, 96 und 208 f. <?page no="268"?> VII. Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Krieg 269 bringen, die den Inhalten von Feldpostpäckchen entsprachen: Schokolade, Zigaretten und Ähnliches, mithin kostbare Genussmittel. 935 Da die Versorgungslage von Kriegsgefangenen in der Regel besonders prekär war, waren diese „Funde“ nicht wie in den Feldpostpäckchen erwartbar. 936 Hier bestahlen die Jungen anonyme Angehörige feindlicher Staaten. Die vorherrschenden Ressentiments mögen die Hemmschwelle dazu besonders gesenkt haben. Die mutmaßlichen Täter hatten keinen persönlichen Bezug zu den von ihnen Bestohlenen - mehr noch. Vermutlich hegten sie aufgrund der sie umgebenden Propaganda sogar Aversionen gegen sie. 937 Etwas anders stellt sich der ermittelte Tathergang im Urteil gegen den sechzehnjährigen Dienstknecht Bernhard W. dar. Er arbeitete im Winter 1917 auf dem Schlossgut in Laupheim als Knecht, wo er einen dort eingesetzten russischen Kriegsgefangen kennen lernte. Nach dem Verlust seiner Anstellung und vor der daraufhin geplanten Fahrt nach Biberach halft ihm der Russe, indem er ihn bei sich übernachten ließ. Diese Gelegenheit nutzte der Knecht laut Urteil, um aus dem Koffer des Russen zu stehlen. 938 Für Bernhard W. war der gefangene Kombattant nicht mehr nur ein gesichtsloser Angehöriger einer feindlichen Armee. Er beging den Diebstahl, durch den er einen Kriegsgefangenen schädigte, in seinem sozialen Umfeld. Darin unterscheidet er sich von den zwei anderen geschilderten Fällen. 935 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 23.8.1917 gegen Georg L. und August K., StAL E 350a, Bü 1007. 936 Vgl. Artikel „Kriegsgefangene“, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 645. 937 Zur Verächtlichmachung von Angehörigen der gegnerischen Nationen siehe u. a. Vogt, Radikalisierung, S. 214. 938 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Bernhard W., StAL E 350a, Bü 1066. <?page no="270"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg Die zuvor geschilderten Fälle sind ein Teil der Verfahren, die die Richter der Ulmer Strafkammer während des Krieges bearbeiteten. Gerade bei der letztgenannten Gruppe, den reinen Kriegsdelikten, war der Bezug zwischen Krieg und Kriminalität evident. Darüber hinaus kam es zu einer Steigerung der Anklagen vor dem Landgericht. Wie gingen die Richter nun damit um? Finden sich wertende Bezüge zum Krieg in den Urteilen? Wo sahen sie die Ursachen jugendlicher Kriminalität? 1. Analytische Vorüberlegungen Zunächst bleibt festzustellen: Nicht alle Urteile enthalten überhaupt Versuche des Gerichts, die jeweilige Ursache für die Straftat genauer herzuleiten. Manche Urteilstexte bestehen lediglich aus einer deskriptiven Schilderung des Tathergangs, wie er zur Feststellung des strafrechtlich relevanten Sachverhalts notwendig war. Dabei verzichteten die Richter in diesen Fällen auf erklärende Ansätze. 939 Sie waren gesetzlich nicht dazu verpflichtet, in ihrem Urteil Ursachenforschung zu betreiben. Ihre Aufgabe war es, begangene Straftaten durch ein Urteil strafrechtlich zu ahnden, und nicht, diese analytisch zu durchdringen. Das Urteil musste nur alle Straftatbestandsmerkmale erfüllenden, erwiesenen Tatsachen und die dem Strafmaß zugrunde liegenden Umstände, also auch strafmildernde oder straferhöhende Faktoren, enthalten. 940 Letztere konnten sich lediglich auf Fragen der Entschädigung, eines 939 Eine Erörterung der Ursachen jugendlicher Kriminalität fehlt komplett in den Urteilen der Ulmer Strafkammer gegen Alfons L., Bü 473; Johann D., Bü 475; Leonhard B., Bü 496; Hans Sch., Bü 844; Albert Z., Bü 877; Eugen G. u. a., Bü 886; Josef V. und Engelbert G., Bü 891; Otto M., Bü 919; Christian H., Bü 938; Jakob H. und Johannes S., Bü 972; Florian N., Bü 998; August H. und Johannes K., Bü 1005; Walter Sch., Bü 1035; Anton Sch. und Xaver S., Bü 1048; Richard H. und Barbara H., Bü 1063; Otto Sch., Bü 1083; Otto S., Bü 1088; Rudolf Georg O., Bü 1099; Michael S., Bü 1105; Franz H. und Johannes Z., Bü 1116; Ernst H., Bü 1119; August G., Bü 1130; Ernst R., Bü 2107; Meinrad Blasius H., Bü 2298; Wilhelm Andreas M., Bü 2299; Georg P., Bü 2311; Lorenz R. und Franz W., Bü 5501; Paul Josef W., Bü 5503; Jakob Z., Bü 5514; Leonhard Sch., Bü 5521; alle StAL E 350a. Dazu kommen Urteile aus Verfahren mit mehreren Angeklagten, bei denen nicht für jeden Ursachen des strafrechtlichen Fehltritts benannt werden, vgl. u. a. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.8.1917 gegen Marie W. u. a., StAL E 350a, Bü 779. 940 Vgl. § 266 StPO. <?page no="271"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 272 Geständnisses, einer besonderen Schwere der Schuld oder Ähnliches mehr beziehen und nichts mit den Ursachen zu tun haben. Gleichwohl versuchten die Richter in vielen Fällen, die Ursachen zu ergründen, und ließen diese Versuche in ihre Urteile einfließen. Eine stärkere Orientierung an den persönlichen Hintergründen der Delinquentinnen und Delinquenten war in Strafverfahren gegen Jugendliche auch seitens des württembergischen Justizministeriums erwünscht, wie eine ministerielle Verfügung von 1911 klarstellte. 941 Hinweise zu den angenommenen Ursachen gaben die Richter in den persönlichen Angaben zu dem jeweiligen Angeklagten und seinem Umfeld, am häufigsten jedoch bei der Begründung ihrer Strafzumessung. Damit floss neben den oben genannten Aspekten wie einer Entschädigung die richterliche Sichtweise auf die Delinquenten in die Höhe der Strafe ein. Die Persönlichkeit der Täterinnen und Täter besaß in diesen Fällen neben der Tat eine Bedeutung für die Art der Strafe. Diese Hinwendung zu den Tätern entwickelte sich erst im Kaiserreich. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts interessierten sich Juristen in Diebstahlsprozessen kaum für die Täter, sondern richteten ihr Augenmerk intensiv auf die Tat beziehungsweise die gestohlenen Gegenstände. Die entscheidende Frage, die beantwortet werden sollte, war die nach dem „Was“. „Wer“ und „warum“ interessierten hingegen nur (noch) am Rande. Rebecca Habermas bescheinigt den so insistierenden Juristen daher auch eine „Obsession für die Gegenstände“. 942 Dies änderte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Zeitgenössische Kriminologen und mit der Frage nach Kriminalitätsursachen befasste Juristen - meist Vertreter der „modernen“ Strafrechtsschule - benannten zwei Forschungsrichtungen, die jeweils verschiedene Grundannahmen über die mögliche Ätiologie der Kriminalität pflegten. Auf der einen Seite stand die Kriminalsoziologie 943 , welche auf exogene Ursachen rekurrierte, auf der anderen Seite die Kriminalpsychologie oder Kriminalbiologie, die ihr Hauptaugenmerk auf endogene Verbrechensursachen richtete. 944 Dies waren zunächst theoretische Reinformen, welche in der Forschungspraxis jedoch kombiniert und verschieden gewichtet wurden. Eine bestimmte Grundhaltung gegenüber Kriminalität, Kriminellen und Kriminalpolitik war davon geprägt, ob stärker von exogenen oder endogenen Ursachen ausgegangen wurde. 941 Vgl. Verfügung des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 24.1.1911 betreffend das Strafverfahren gegen Jugendliche, in: ABl Wü JM 1911, S. 11-15, hier S. 12. 942 Vgl. Habermas, Eigentum vor Gericht, S. 37 f. Beispielhaft auch dies., Diebe, S. 147-150. 943 Um Missverständnisse vorzubeugen sei darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnung von Juristen wie Franz von Liszt und Psychiatern wie Gustav Aschaffenburg verwendet wurde. Um eine methodologisch durchdachte soziologische Theorie handelte es sich hingegen nicht. 944 Vgl. Aschaffenburg, Verbrechen, S. 3. <?page no="272"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 273 Diese Dichotomie hat auch die historiographische Forschung zur Kriminologie des Kaiserreiches benannt und für weitere Untersuchungen nutzbar gemacht. So spricht Richard F. Wetzell von kriminalsoziologischer und kriminalbiologischer Forschung; Silviana Galassi differenziert kriminal- oder moralsoziologische und medizinischbeziehungsweise psychiatrisch-kriminologische Ansätze. 945 Die von Historikern beschriebenen nicht-soziologischen Ansätze verband, dass sie Kriminalität und Kriminelle pathologisierten. Beschäftigt man sich mit dem Spezialfall jugendlicher Kriminalität im Kaiserreich und dem Umgang praktizierender Juristen mit ihr, so erscheint es sinnvoll, die unterschiedlichen Begründungsansätze - über die Dichotomie endogen/ exogen hinaus - zu differenzieren, da die mit den Erklärungen verbundenen Intentionen sehr breit gefächert sind. Aus den Urteilen der Ulmer Strafrichter lassen sich diese verschiedenartigen Kategorien erschließen. Als eine erste Gruppe hat die historische Forschung über Kriminologie und kriminalbiologische Ätiologie biologistische Deutungsmuster jugendlicher Kriminalität ausgemacht. Pascal Grosse hat für seine Analyse des Zusammenhangs von Kolonialismus und Eugenik im 19. Jahrhundert Biologismus als Versuch beschrieben, „sozialen Wandel und gesellschaftlichen Konflikt als universelle Naturgesetzmäßigkeiten zu deuten, die auf fixierten biologischen Unterschieden zwischen Völkern, Nationen und ‚Rassen beruhten.“ 946 Transformiert auf biologistische Erklärungsmodelle von Kriminalität bedeutet dies, dass sie innerhalb einer Gesellschaft Unterschiede zwischen „normalen“ Bürgern und „kriminellen“ Subjekten deterministisch festschrieben. Damit implizieren biologistische Deutungsmuster von Kriminalität eine negative Stigmatisierung oder sogar Pathologisierung von Straftätern. Die in den Urteilen anzutreffenden Hintergrunderörterungen, welche als biologistisch bezeichnet werden sollen, nehmen eindeutig Anleihen bei den zeitgenössischen kriminologischen Fachdiskursen über die Ursachen von Kriminalität. Damit wurden endogene Auslöser für kriminelles Verhalten beschrieben, da man die Ursachen in der Persönlichkeit der betreffenden Jugendlichen verortete. Die Wortwahl verrät hier eine Adaption wissenschaftlich virulenter Vorstellungen durch die Rechtspraktiker. Biologistische 945 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 295; und Galassi, Kriminologie, S. 416. 946 Grosse, Kolonialismus, S. 44. <?page no="273"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 274 Erklärungsansätze von kriminellem Verhalten trugen mit zu einer „Biologisierung sozialer Probleme“ 947 bei. Als eine Untergruppe der offensichtlich biologistischen Deutungen können essentialisierende Zuschreibungen von „kriminogenen Charaktereigenschaften“ gelten. Essentialisierung bedeutet, dass bestimmte Eigenschaften als einer Person immanent erklärt werden. Das muss nicht notwendigerweise abwertend gemeint sein, reduziert Menschen allerdings in nicht zu unterschätzender Weise. Essentialisierend ist etwa die weit verbreitete Ansicht, „Südländer“ seien temperamentvoller als Mitteleuropäer. Gemeinsam mit biologistisch konnotierten Aussagen über kriminell gewordene Personen zogen auch essentialisierende Zuschreibungen eine klare Trennlinie zwischen „normalen“ und „kriminellen“ Menschen und auch hier war diese Aufteilung deterministisch. So attestierten die Richter bei den Jugendlichen Merkmale wie „Genusssucht“, „Hang zum Leichtsinn“ oder „sittliche Gesunkenheit“, um ihr Verhalten zu begründen. Diese Zuschreibungen bewegen sich noch auf der Schwelle zwischen alten Verbrechensvorstellungen moralisch-christlicher Provenienz und neuen, biologistischen Bildern. 948 Letztere gewannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu moralischen Erklärungsmustern an Bedeutung. 949 Allerdings waren, wie Dietrich Oberwittler feststellt, die Deutungen von jugendlicher Kriminalität auch um die Jahrhundertwende „noch immer stark von der moralischen Verurteilung der kulturellen Lebensformen der Unterschicht geprägt“ 950 - was allerdings nicht bedeuten muss, dass in diesen Fällen die Anwendung neuer kriminologischer Prämissen ausgeschlossen war. Die Grenzen sind hier fließend. Peter Becker beschreibt eine Entwicklung vom moralischen Verbrecherbild des „gefallenen Menschen“ am Beginn des 19. Jahrhunderts hin zum kriminologischen des „verhinderten Menschen“ gegen Ende dieses Jahrhunderts. Auf der Schwelle zwischen diesen Bildern oszillierten die in den Urteilen gefundenen essentialisierenden Typisierungen „jugendlicher Verbrecher“. Sie transportierten aber bereits Vorstellungen, die auch für den neu aufgetauchten „verhinderten Menschen“ charakteristisch waren. Genau wie bei „verhinderten Menschen“ beobachtet, wiesen die essentialisierenden Zuschreibungen den Jugendlichen „fehlende Vernunft oder 947 Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 143. 948 Vgl. zum zunächst ablehnenden, dann aneignenden und umformend adaptierenden Umgang mit neu aufkommenden Erklärungsmustern durch (christliche) Straffälligenfürsorgevereine Schauz, Straffälligenfürsorge und Kriminologie, bes. S. 255-270; und dies., Strafen, S. 310- 318. 949 Vgl. Becker, The Criminologists’ Gaze, S. 105. 950 Vgl. Oberwittler, Strafe, S. 32. <?page no="274"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 275 Moral, schwach entwickelte Hemmvorstellungen gegenüber kriminellen Handlungen sowie eine nur gering ausgebildete Persönlichkeit“ zu. 951 Aus den Urteilen kann nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden, von welchen Prämissen die Richter geprägt waren. Daher ist es sinnvoll, sie nicht als eindeutig biologistische Erklärungen zu bezeichnen, sondern genauer zu differenzieren. Für eine eindeutige Zuordnung zu biologistischen Deutungsmustern sind die von den Richtern genannten Ursachen meist zu kursorisch dargelegt, was in der Eigenart der Quellengattung begründet liegt: Die Juristen betrieben in den Urteilen keine ausführliche wissenschaftliche Ursachenforschung. Sie erwähnten, wenn überhaupt, lediglich kurz, was sie als Ursache zugrunde legten. Mehr war keinesfalls gefordert und mehr war für die Zwecke des Urteilens auch nicht erforderlich. Wie die klar erkennbaren biologistischen Beschreibungen leisteten aber auch essentialisierende Typisierungen einer stigmatisierenden Zuschreibung bestimmter endogener Merkmale „jugendlicher Verbrecher“ Vorschub. Zuschreibungen wie „sittlich verdorben“ oder „besitzt einen Hang zum Stehlen“ waren also wenn nicht explizit und reflektiert biologistisch, so doch essentialisierend. Bei den betreffenden Jugendlichen glaubte man Eigenschaften zu erkennen, die ihnen fest und endgültig innewohnten. Sie hatten nicht im konkreten Fall „sittlich falsch“ gehandelt, sondern sie waren „sittlich schlecht“, auch wenn sie sich nicht dauernd so verhielten. In diesen Fällen, wenn biologistische und essentialisierende Ursachen zugrunde gelegt wurden, etikettierten die Juristen die betreffenden Jugendlichen und sprachen ihnen - über ihr delinquentes Handeln hinaus - eine deviante Persönlichkeit zu. Sie galten als generell abweichende Personen. Dies konnte auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Jugendlichen durch Dritte, beispielsweise ihrer Arbeitgeber, Meister oder Lehrer, führen. 952 Dabei ist zu bedenken, dass der Status als deviante Persönlichkeit ein Hauptstatus ist, also ein Status, welcher andere persönliche Zugehörigkeiten - im Falle von Jugendlichen etwa Junge, Mädchen, Schüler, Lehrling oder Dienstmagd - überlagert. Ein als „verbrecherische Persönlichkeit“ definierter Jugendlicher wurde zunächst als solcher und erst anschließend in einer seiner anderen sozialen Rollen wahrgenommen. 953 Gerade biologistische und essentialisierende Deutungen konnten demnach weit über eine strafrechtliche Sanktionierung hinausreichende Folgen für die weitere Entwicklung des Jugendlichen haben. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwierig es für 951 Vgl. Becker, Verderbnis, S. 279. 952 Vgl. Becker, Outsiders, S. 31 f. 953 Vgl. ebd., S. 33. <?page no="275"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 276 vorbestrafte Jugendliche war, eine Arbeit zu finden - trotz Mithilfe der Jugendgerichtshilfe. 954 Demgegenüber finden sich in den Urteilen auch biologische Deutungsmuster, die Kriminalität zwar endogen begründeten, den Straftäter aber nicht abwerteten. Gerade bei jugendlichen Straftätern war dies evident, wenn ihre „Fehltritte“ beispielsweise nur auf „jugendlichen Übermut“ zurückgeführt wurden. Diese Deutungen spielen auf psychologische und physiologische Besonderheiten Heranwachsender an. Biologische Ursachen konstatieren einen biologisch begründeten Unterschied zwischen Erwachsenen auf der einen sowie Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite, welche bei letzteren eine bestimmte Ausformung von Kriminalität bedingen konnte. Die halbwüchsigen Straftäter wurden dabei allerdings gerade nicht stigmatisiert, vielmehr wirkten diese Erklärungen entschuldigend. Sie hatten sich nur abweichenden Verhaltens schuldig gemacht, waren aber nicht - wie biologistisch-essentialisierend stigmatisierte jugendliche Straftäter - per se abweichende Persönlichkeiten. Auch in der strafrichterlichen Argumentation spielten soziologische Deutungsmuster für die Kriminalität von Jugendlichen eine Rolle. Die Praktiker der Strafverfolgung folgten hier den Diskussionen der neu entstandenen kriminologischen Wissenschaft. Diese benennen äußere Faktoren als Auslöser für kriminelle Handlungen. Eine klassisch zeitgenössische soziologische Begründung ist beispielsweise die Herleitung eines Nahrungsmitteldiebstahls durch eine Notsituation. 955 Die zeitgenössischen soziologischen Erklärungen teilen ihren Bezug auf primär exogene Auslöser kriminellen Verhaltens. Zudem kam es bei ausschließlichem Rekurs auf soziologische Ursachenkomplexe nicht zu einer Stigmatisierung oder Pathologisierung der Jugendlichen. Denn hier waren die äußeren Verhältnisse „schuld“ am strafrechtlichen Fehlverhalten und nicht persönliche oder charakterliche Merkmale. Oft treten diese Erklärungsansätze allerdings nicht in Reinform, sondern miteinander verbunden auf. Eine soziologische Ursache mit biologischer Konnotation liegt etwa vor, wenn die Richter davon ausgingen, Kinokonsum habe einen Jugendlichen so verwirrt, dass er straffällig geworden sei. Hier handelt es sich zwar in erster Linie um eine soziologische Erklärung, da es sich vornehmlich um eine exogene Wirkung auf den Jugendlichen handelt. Andererseits konnten diese Medien in der Vorstellung der Richter nur deshalb besonders kriminogen wirken, weil der Angeklagte noch jugendlich war. 954 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 8, StAL E 191, Bü 5568. 955 Hieran wird deutlich, dass es sich um trivialsoziologische Annahmen und nicht um ausgereifte Theorien handelte, wie in Fußnote 943 beschrieben. <?page no="276"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 277 Hier spielt natürlich auch die bereits erläuterte Unterscheidung zwischen formbaren Jugendlichen und gefestigten Erwachsenen eine Rolle. Diese Art soziologischer Faktoren hatte - im Gegensatz zu allgemein wirkmächtigen Notlagen - lediglich altersspezifische Relevanz. Zu derart interdependenten Ursachenkomplexen kommen in den Urteilen eher summarische Kombinationen von Ursachenkomplexen, wenn etwa vernachlässigte Erziehung und „verbrecherischer Hang“ nebeneinander genannt, aber nicht aufeinander bezogen werden. Die Unterschiede zwischen soziologischen, biologischen sowie biologistischen oder essentialisierenden Kriminalitätsursachen werden auch deutlich, wenn man sich ihre Bekämpfung in einem über gerichtliche Vorgaben hinausweisenden Sinne vor Augen führt. Wurde eine Straftat von einem Jugendlichen ausschließlich auf biologische Gründe zurückgeführt, handelte es sich letztendlich um einen Ausfluss der natürlichen Entwicklungslinien der Adoleszenz. Das „Problem“ versprach, sich auf natürlichem Wege „auszuwachsen“, und erforderte keine weiteren Korrektionsmaßnahmen. Anders bei soziologischen Auslösern für jugendliche Kriminalität. Auch wenn sie häufig nur durch das Zusammenspiel mit den „jugendlichen Besonderheiten“ ihre Wirkmacht entfalten konnten, so lag es hier nahe, eine Veränderung der Rahmenbedingungen anzustreben. Der Ruf nach einem Verbot von Kino und Schundheftchen erschien als probates und relativ einfaches Mittel und weist in diese Richtung. Lagen aber scheinbar biologistische oder zumindest essentialisierende Faktoren zugrunde, so konnte versucht werden, die betreffenden Jugendlichen zu „korrigieren“, soweit dies noch Aussicht auf Erfolg bot. Ein Mittel konnte beispielsweise die Fürsorgeerziehung sein. Gerade bei Jugendlichen bestand die Hoffnung, die „schädlichen“ Persönlichkeitsmerkmale wenn nicht zu beheben, so wenigstens unterdrücken zu können. Wenn dies keinen Erfolg zu gewährleisten schien, kapitulierte die Kriminalpolitik. Bei „unverbesserlichen Gewohnheitstätern“ blieb letztendlich nur, sie „unschädlich“ zu machen - ein Mittel, das im Kaiserreich jedoch praktisch nicht zur Verfügung stand. 956 Die in den Urteilen genannten Ursachen kann man demnach drei großen Gruppen zuordnen: die auf endogene Faktoren Bezug nehmenden biologistisch-essentialisierenden Erklärungen, welche mit einer Pathologisierung oder Stigmatisierung jugendlicher Straftäter verbunden waren; die ebenfalls 956 Die so genannte „Sicherungsverwahrung“, welche erstmals der Justiz strafrechtlich das Instrument eines dauerhaften „Wegsperrens“ von Straftätern ohne medizinische Indikation zur Verfügung stellte, führten die Nationalsozialisten mit dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ im November 1933 ein. Vgl. zur Frage nach Brüchen und Kontinuitäten Sander, Unheilvolle Kontinuitäten, bes. S. 519 ff. <?page no="277"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 278 endogene Faktoren aufgreifenden, aber von stigmatisierenden Zuschreibungen freien biologischen Deutungen und schließlich soziologische Erklärungen mit primärer Bezugnahme auf exogene Auslöser krimineller Handlungen. Schematisch vereinfacht und ohne Rücksichtnahme auf Überlappungen in der strafrichterlichen Anwendung lassen sie sich folgendermaßen darstellen: Tabelle 16: Schematische Darstellung der Ursachen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen der Strafkammer Ulm Erklärungsart Form der Etikettierung Auswirkung auf die Strafzumessung idealtypische Gegenmaßnahme biologistisch 1. Pathologisierung oder 2. Stigmatisierung 1. strafmildernd oder 2. straferhöhend Korrektionsversuch, bei Unmöglichkeit: Wegsperren essentialisierend Stigmatisierung straferhöhend Korrektionsversuch, bei Unmöglichkeit: Wegsperren biologisch keine Etikettierung strafmildernd keine Notwendigkeit für Gegenmaßnahmen soziologisch keine Etikettierung strafmildernd Änderung der äußeren Rahmenbedingungen Im Folgenden wird zunächst der vermutete Einfluss des Krieges auf die Entwicklung jugendlicher Delinquenz analysiert. Dabei handelt es sich um soziologische Erklärungen. <?page no="278"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 279 2. Reflexionen über die Auswirkungen des Krieges auf die Straffälligkeit Jugendlicher Der Krieg veränderte die Lebensbedingungen der Menschen entscheidend. Daher verwundert es nicht, dass während des Ersten Weltkrieges auch über dessen Auswirkungen auf die Entwicklung der Jugendkriminalität nachgedacht wurde. Sowohl unter Juristen als auch unter Jugendkundlern, Pädagogen und Jugendfürsorgern kursierten klare Deutungen über die Ursachen der als bedrohlich wahrgenommenen steigenden Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität. Diese ergänzten die bereits bestehenden Überlegungen und integrierten die neuartige Situation des Kriegszustandes. Über Ursachen und Symptome herrschte in der Fachpresse ein breiter Konsens. Man nahm an, dass die Jugend im andauernden Kriegszustand, in dem sich die Gesellschaft seit 1914 befand, nach einem anfänglichen „patriotischen Hoch“ unmittelbar nach Ausbruch des Krieges zunehmend verwahrloste. Dazu zählte auch die Annahme einer stetig steigenden Kriminalitätsbelastung der heranwachsenden Generation. 957 Die juristische Fachpresse stimmte dabei mit den anderen relevanten Berufsgruppen auf analytischer Ebene darin überein, dass man sich mit diesen jungen Menschen beschäftigen musste, da sie angeblich zunehmend verwahrlosten. a. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität in der juristischen Fachpresse Für die angenommene Entwicklung ansteigender Jugendkriminalität lassen sich aus der juristischen Fachpresse drei Hauptursachenkomplexe herauskristallisieren: erstens kriegsbedingter Aufsichtsmangel, zweitens kriegsbedingte ökonomische Veränderung und drittens - in der juristischen Fachpresse nicht ganz so zentral - Auswirkungen des Krieges auf die jugendliche Psyche. Auf der einen Seite stand das durch die Abwesenheit der männlichen Autoritätspersonen wie Väter, Lehrherren, Lehrer oder Vormünder der Kinder und Jugendlichen entstandene Autoritätsvakuum. Man kann die so vorgetra- 957 Vgl. zur Thematik in der jugendkundlichen, jugendfürsorgerischen und pädagogischen Fachpresse Bornhorst, Jugendverwahrlosung, S. 41-60. Für dieses Kapitel wurden hingegen Aufsätze aus den juristischen Fachpublikationen und die Jahresberichte der Jugendgerichtshilfe in Ulm herangezogen. Die Argumente sind jedoch weitestgehend identisch, auch gibt es Überschneidungen bei den Autoren der juristischen und sonstigen Fachpresse. Siehe bezüglich der Jugendkriminalität auch Kebbedies, Außer Kontrolle, S. 57-62. <?page no="279"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 280 genen Argumente unter dem Stichwort „Aufsichtsmangel“ subsumieren. In allen Meldungen und Abhandlungen juristischer Zeitschriften, welche steigende Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität thematisierten, findet sich der Hinweis auf diese mangelnde Beaufsichtigung. 958 Dahinter verbarg sich der nicht erst durch den Krieg wirkmächtig auftretende Gedanke, dass Kinder und Jugendliche, welche ohne jegliche Aufsicht - insbesondere von männlichen Respektspersonen - aufwuchsen und ohne moralische Leitbilder für ihr Handeln vermittelt zu bekommen, den „Versuchungen des Lebens“ schutz- und wehrlos ausgeliefert wären. 959 Ob ein Jugendlicher sich gesellschaftlich konform verhalten konnte oder ob er abweichende Verhaltensweisen an den Tag legen musste, war hier eine Frage der Aktivierung moralischer Willenskräfte. Auf der anderen Seite sprach man den durch die Kriegswirtschaft veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen, denen sich die Jugendlichen ausgesetzt sahen, Verantwortung für den konstatierten Verfall der Jugend zu. Diese ökonomischen Ursachen stellen den zweiten Ursachenkomplex in der zeitgenössischen Deutung von Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs dar. Insbesondere die Möglichkeiten eines guten Verdienstes in der boomenden Rüstungsindustrie für junge Angelernte wurden sehr kritisch gesehen. Dieser ungewohnte finanzielle Segen, so schlussfolgerten die Juristen, verleite ungefestigte junge Menschen zu unstetem Lebenswandel und Leichtsinn, was letztendlich zu einem abweichenden und delinquenten Lebensstil führe. 960 Die hier angeführte Ursache für steigende Jugendverwahrlosung war jedoch, im Gegensatz zu den anderen angenommenen Ursachen für eine zunehmende Jugendkriminalität, nicht unumstritten. Juristen aus der strafrechtlichen Praxis bezweifelten, dass guter Verdienst mit abweichendem 958 Vgl. Anonymus, Anordnungen der Militärbehörden, S. 417; Anonymus, Zunahme der Fürsorgeerziehungssachen; Köhne, Jugendgericht Berlin-Mitte, S. 1023; ders., Jugendlichen und Krieg, S. 14; Korn, Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen; ders., Zukunft Jugendrecht, S. 597; Leyen, Wirkung des Allerhöchsten Gnadenerlasses, S. 489; Lilienthal, Kriminalität während des Krieges, S. 93; Lindenberg, Fürsorgeerziehung in Preußen, S. 162; Liszt/ Leyen, Berliner Jugendgerichtshilfe, S. 125 f.; Liszt, Krieg und Kriminalität der Jugendlichen, S. 505 f.; Meseritz, Einfluß des Krieges, S. 232; Meyer, Zu viele Strafen, S. 1025; Prölß, Kriegsjugendschutz, S. 186 f.; Rosenbaum, Kriegskriminalität, S. 274; sowie Rupprecht, Jugendstraffälligkeit in Bayern, S. 132 f. 959 Vgl. Prölß, Kriegsjugendschutz, S. 186. 960 Vgl. Lindenberg, Fürsorgeerziehung in Preußen, S. 162; Liszt, Krieg und Kriminalität der Jugendlichen, S. 506; Liszt/ Leyen, Berliner Jugendgerichtshilfe, S. 126; Prölß, Kriegsjugendschutz, S. 187. Dieses Argumentationsmuster findet sich auch hinsichtlich hoher Löhne während des Gründerbooms um 1870 und der anschließenden Rezession, vgl. Althammer, Der Vagabund, S. 430 f. <?page no="280"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 281 Verhalten in Zusammenhang stünde, denn, so der nachvollziehbare Einwand, wer ausreichend verdiene, müsse sich nicht an fremdem Eigentum vergreifen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. 961 Zudem beäugten bürgerliche Betrachter mit großer Skepsis, dass Jugendliche in zuvor Erwachsenen vorbehaltene Vertrauenspositionen aufrückten. Sie sollten dort die Lücken schließen, welche die Einberufungen der eigentlichen Funktionsträger hinterlassen hatten. Dadurch hätten sie eine Verantwortung zu schultern, der sie nicht gewachsen seien. Den Versuchungen in den ihnen ungewohnten Stellungen wären sie vielfach erlegen, wie zum Beispiel jugendliche Posthelfer, die sich an Sendungen vergriffen. 962 Mit längerer Dauer des Krieges rückte auch die existierende Notlage als mögliche Ursache gesteigerter Jugendkriminalität in den Blick. 963 Diebstähle aus Not fanden durchaus Verständnis. 964 So stellte im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges ein Jurist fest: „Der Erwachsene, der von seiner gesetzlichen Ration nicht satt wird, hamstert, der Jugendliche stiehlt [...]“ 965 . Aus diesem Blickwinkel erschienen kriminelle Aktivitäten Jugendlicher vor dem Hintergrund des grassierenden Kriegsmangels als eine von zwei generationsspezifischen Überlebensstrategien. Allerdings schätzte man die hohen Löhne im Vergleich zur Not kriminogener ein - ein Ignorieren der prekären Situation vieler Menschen im Krieg. 966 Diese Argumente waren nicht neu. Spezifisch für ihre Ausformung zwischen 1914/ 15 und 1918 war jedoch, dass die schon vor dem Krieg als kriminogen eingestuften sozialen und ökonomischen Veränderungen durch den Krieg einen besonderen Schub erhielten. 967 So wurden, wie bereits in Punkt I.2. gezeigt, Erziehungs- und Beaufsichtigungsdefizite schon vor dem Krieg maßgeblich für kriminelles Verhalten Jugendlicher verantwortlich gemacht. Durch die massenhafte Einberufung von Männern zum Kriegsdienst waren nun aber breitere Kreise von familiären Defiziten betroffen, auch wenn sich über die tatsächlichen Auswirkungen auf die Erziehung der Jugendlichen und Kinder diskutieren ließe. Zudem betraf die Entwicklung nicht mehr nur die außerhäusliche Erwerbsarbeit beider Geschlechter, vielmehr traf es nun die Achillesferse der Familie als Sozialisationsinstanz. Denn 961 Vgl. Rupprecht, Jugendstraffälligkeit in Bayern, S. 132; sowie Köhne, Jugendlichen und Krieg, S. 15. 962 Vgl. Hellwig, Krieg und Kriminalität, S. 149 f. 963 Vgl. Lindenberg, Fürsorgeerziehung in Preußen, S. 162. 964 Vgl. Lilienthal, Kriminalität während des Krieges, S. 93. 965 Nagel, Betrachtung, S. 280. 966 Vgl. Lilienthal, Kriminalität während des Krieges, S. 93. 967 Vgl. Köhne, Jugendliche und Krieg, S. 16; sowie Rosenbaum, Kriegskriminalität, S. 274. <?page no="281"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 282 der Vater übte nach bürgerlicher Idealvorstellung die entscheidende „Rolle als oberster Normenvollstrecker“ der Familie aus, auch wenn er tagsüber außer Haus seiner Erwerbstätigkeit nachging. 968 Aus dieser Perspektive erschien Regellosigkeit von vaterlos aufwachsenden Kindern vorprogrammiert. Gleiches galt für die angenommenen Gefahren von ungelernter Tätigkeit für jugendliche Arbeiter. Auch dieser Aspekt fand schon vor dem Krieg Beachtung. Nun strömten aber aus Sicht des Bürgertums vermehrt jugendliche Arbeiter - wie auch Frauen - in die Fabriken, um die eingezogenen Männer zu ersetzen. Neben diesen Ursachen machte man als dritten Punkt die vermeintlichen Auswirkungen des Krieges auf die jugendliche Psyche für abweichendes Verhalten und Kriminalität Jugendlicher verantwortlich. So meinten einige zu beobachten, dass die tägliche Konfrontation mit den an der Front stattfindenden Ereignissen, sei es als Thema im Unterricht, in den Zeitungen und alltäglicher Gespräche oder aber die zunehmende Präsenz von Truppen - also die Militarisierung des Alltagslebens -, die Phantasie der Jugendlichen auf eine „schädliche Weise“ anregen würde. Man vermutete beispielsweise, dass sich Jungen, die Soldaten sein wollten, zu Diebstählen von militärischen Ausrüstungsgegenständen hinreißen ließen. 969 Bei den Beschreibungen dieses Phänomens schwang paradoxerweise unterschwellig der Stolz der Betrachter mit, dass die Jungen sich so sehr für die militärischen Begleiterscheinungen des Krieges begeisterten. Offensichtlich nahm man das beobachtete „Überdie-Stränge-Schlagen“ dabei billigend in Kauf. Bei fast allen hier auf den Krieg zurückgeführten möglichen Ursachen für jugendliche Kriminalität handelte es sich um im weitesten Sinne soziologische Faktoren, die exogen auf die Jugendlichen einwirkten und sie so scheinbar anfällig für die Begehung von Verbrechen machte. Zwar spielten biologische Faktoren hier mit hinein, da - außer im Falle der Not - an die weit verbreitete Vorstellung der jugendlichen Entwicklungsstufe angeknüpft wurde, welche jungen Menschen im Vergleich zu gefestigten Erwachsenen leichter beeinflussbar erscheinen ließen. Im Gegensatz zu Taten aus „jugendlichem Übermut“, welche ohne weiteren Grund begangen wurden, bedurfte es hier gleichwohl eines weiteren exogenen Auslösers. Analog zum Vorkriegsdiskurs bezogen sich auch die hier beschriebenen Entwicklungen vornehmlich auf männliche Jugendliche. Mädchen benötigten angeblich die männliche, insbesondere die väterliche Autorität nicht so sehr 968 Vgl. Schütze, Mutterliebe - Vaterliebe, S. 125. 969 Vgl. Köhne, Jugendliche und Krieg, S. 14 f.; Rosenbaum, Kriegskriminalität, S. 274; sowie Rupprecht, Jugendstraffälligkeit in Bayern, S. 132. <?page no="282"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 283 wie Jungen. Auch ließen sie sich nicht durch kriegerische Reizüberflutung zu ausufernden Soldatenspielen hinreißen, da diese Kriegsspiele idealtypisch nicht zum möglichen Repertoire weiblicher Freizeitgestaltung gehörten. Lediglich kriegsbedingt verstärkte „sittliche Gefahren“ bedrohten explizit weibliche Jugendliche. So bereitete die anwachsende Belegschaft von Soldaten in Garnisonsstädten den Betrachtern Sorge, da die große, konzentrierte Masse von Männern zu einer „ungeheuren Steigerungen der Prostitution“ bei jungen Mädchen führen würde. 970 Als Grund für den „sittlichen Niedergang“ weiblicher Jugendlicher im Krieg galt insbesondere die Anziehungskraft, welche Soldaten auf Mädchen ausüben würde. 971 In der juristischen Fachpresse wurde die Situation des Krieges in ihrer kriminalitätsfördernden Wirkung auf Jugendliche demnach thematisiert. In den sehr traditionell ausgerichteten Fachpublikationen wie der Deutschen Richterzeitung oder der Juristischen Wochenschrift und im Gerichtssaal finden sich zwar kaum Erörterungen zu diesem Thema, in anderen Zeitschriften, nicht nur im Organ der „modernen“ Juristen, der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, hingegen schon. 972 Auch wenn die steigende Jugendkriminalität für Juristen nur ein Thema neben vielen weiteren bildete - wie zum Beispiel die generell enorme Arbeitsbelastung der Gerichte während des Krieges - und nicht den gleichen Stellenwert wie in der jugendkundlichen Fachpresse einnahm, so war sie doch virulent und begleitete juristische Reflexionen zwischen 1914 und 1918. Darüber hinaus wirkte sich der besorgte Blick auf die Jugend, wie bereits erörtert wurde, auch auf die Gesetzgebung aus - bei den Erlassen des Stellvertretenden Generalkommandos ebenso wie bei den Verordnungen des württembergischen Justizministeriums. b. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität aus Sicht der Jugendgerichtshilfe Ulm und der Tagespresse Es liegt nahe, dass sich auch die Jugendgerichtshilfe Ulm in ihren Publikationen mit den Ursachen der ansteigenden Jugendkriminalität auseinander setzte. Auch sie tradierte die verbreiteten Annahmen, wie sie zuvor geschildert 970 Vgl. Rosenbaum, Kriegskriminalität, S. 274. 971 Vgl. Hellwig, Krieg und Kriminalität, S. 132 ff. 972 Vgl. DRZ 6 (1914) bis 10 (1918); JW (43) 1914 bis 47 (1918); und GS 82 (1914) bis 86 (1918). Die DRZ vermeldet im September 1918 sehr kurz eine „[s]tarke Zunahme der Kriminalität der Jugendlichen in Preußen“, vgl. DRZ 10 (1918), S. 266. Siehe zu den anderen juristischen Fachzeitschriften die entsprechend genannten Aufsätze. <?page no="283"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 284 wurden. So betrachtete auch die Jugendgerichtshilfe die „häufige Abwesenheit der zur Erziehung und Aufsicht bestimmten Personen“, neue Vertrauenspositionen im Beruf und die in der Kriegsindustrie gezahlten hohen Löhne als Ursachen jugendlicher Kriminalität. 973 Für die Jugendgerichtshilfe spielte neben verallgemeinerbaren Tendenzen dabei die spezielle lokale Situation Ulms eine Rolle: „Es wird wenig Städte von der Größe Ulms geben, die so stark unter dem Zeichen des kriegerischen bezw. militärischen Lebens stehen. Es muß die Jugend mehr als irgendwo in Anspruch nehmen und die Gefahr, durch die Häufung dessen, was er vom kriegerischen Leben sieht und hört, aus dem Gleichgewicht gebracht werden, ist in einer Garnisonsstadt wie Ulm wohl besonders groß.“ 974 Daneben war Ulm ein Zentrum der Kriegsindustrie, weshalb den als gefährlich empfundenen hohen Löhnen hier entsprechendes Gewicht zuerkannt wurde. 975 Bezeichnenderweise integrierten die Jugendgerichtshelfer Notsituationen nicht in ihre Überlegungen. Zwar war die Situation in Ulm günstiger als in anderen Gebieten des Reiches, trotzdem blieb auch Ulm und sein Umland nicht vom Kriegsmangel verschont. 976 Da allerdings Jahresberichte nur bis 1916 vorliegen, könnte es sein, dass in späteren Berichten, gerade auch nach den Erfahrungen des „Kohlrübenwinters“ 1916/ 17, darauf Bezug genommen wurde. Diese Befürchtungen waren jedoch nicht nur im Fachdiskurs und bei den ehrenamtlichen Helfern der Jugendgerichtshilfe virulent, sondern wurden ebenso durch die Berichterstattung der Tageszeitungen kolportiert. Erstaunt stellte etwa das Ulmer Tagblatt am 1. April 1916 fest, in welchem „seltsamen Widerspruch mit der in den ersten Kriegsmonaten festgestellten sittlichen Verbesserung des Volkes“ die zunehmend festzustellende Verwilderung und Verwahrlosung der Jugend stehe. Weiterhin nahm die Zeitung in ihrem Artikel ausführlich auf Recherchen des bereits erwähnten Albert Hellwig Bezug und referierte dessen Ausführungen zu Themen wie höhere Kriminalitätsbelastung in größeren Städten, die Rolle neuartiger „Versuchungen“ auf 973 Vgl. Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 4 ff., das Zitat S. 4, StAL E 191, Bü 5568. 974 Ebd., S. 4 f. 975 Vgl. ebd., S. 5 f. 976 Siehe Punkt II.2.b. <?page no="284"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 285 der einen sowie zunehmender Not auf der anderen Seite oder neue Gesetze, die verletzt werden können. 977 3. Kriegsbedingte Ursachen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen der Ulmer Strafkammer Nachdem die Situation des Krieges sowohl den Diskurs in der juristischen Fachpresse als auch die Exekutive in ihrer Gesetzgebung und zudem die Sichtweise der Jugendgerichtshilfe in Ulm beeinflusste, stellt sich die Frage, ob die spezifische Kriegssituation, welche von zeitgenössischen Praktikern und Analytikern aller relevanten Fachrichtungen als kriminalitätsfördernd eingestuft wurde, bei der Urteilsfindung der Richter eine Rolle spielte. Finden Aspekte der oben skizzierten Diskussion ihren Niederschlag in der Urteilspraxis der Justiz? Schafften die theoretisch umrissenen Ursachenkomplexe den Sprung aus der Fachpublizistik in die alltägliche Praxis vor Gericht? Bei der Beantwortung dieser Fragen bleiben die Urteile unberücksichtigt, bei denen der Krieg lediglich als Zustandsbeschreibung aus dem Leben der Angeklagten auftaucht. Aus den entsprechenden Passagen erschließt sich zwar, dass Krieg herrschte. Dieser Hinweis war keine Selbstverständlichkeit. Bei einigen Urteilen deutet außer den Daten nichts darauf hin, dass die zugrunde liegenden Straftaten während des Ersten Weltkrieges begangen wurden. 978 Die Richter stellten in den Fällen mit rein deskriptiven Hinweisen keine Kausalzusammenhänge zwischen den Angaben über Aspekte des Krieges und den zur Aburteilung stehenden Straftaten her. Der Umstand, dass Krieg herrschte, war auch nicht bei jeder Straftat relevant. 979 Angesichts der stark formalisierten Verschriftlichung der gefällten Urteile ist es generell von Bedeutung, an welcher Stelle im Urteil auf den Krieg verwiesen wurde. War dies zu Beginn der Fall, im Rubrum oder an der Stelle der Begründung, an der die persönlichen Verhältnisse des oder der Angeklagten kurz umrissen 977 Vgl. Die Kriegskriminalität der Jugendlichen, in: UTb vom 1.4.1916. Siehe als umfassende Zusammenstellung der zeitgenössischen Überlegungen Hellwig, Krieg und Kriminalität. 978 Vgl. u. a. die Urteile gegen Georg B., Bü 853; Karl Sch., Bü 864; Albert Z., Bü 877; Magdalena R., Bü 904; Hedwig W. und Antonia M., Bü 960; Otto H., Bü 979; Rudolf Georg O., Bü 1099; Carl H., Bü 1126; Meinrad Blasius H., Bü 2298; Georg P., Bü 2311; Karl E., Bü 5507; Paul Josef W., Bü 5503; alle StAL E 350a. 979 Vgl. u. a. die Urteile gegen Max H. und Otto St., Bü 894; Johannes H., Bü 899; Eugen R., Bü 974; August H. und Johannes K., Bü 1005; Matthäus K., Bü 1027; Johann Georg G., Bü 1071; Karl D., Bü 1134; Richard V., Bü 1153; Wilhelm Andreas M., Bü 2299; Marie Albertine E., Bü 2577; Karl H., Bü 5502; alle StAL E 350a. <?page no="285"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 286 wurden, musste die Bedeutung des Hinweises über reine Deskription nicht hinausweisen. Im Rubrum hatte eine wertende Aussage keinen Platz, da hier nur in Stichpunkten persönliche Angaben zu den Angeklagten zusammengetragen wurden. Der Tenor, welcher aus Urteilsformel und Strafmaß bestand, gibt ebenfalls keinen Aufschluss über persönliche Verhältnisse und sonstige Hintergründe. Der Hinweis, dass die Väter der Angeklagten eingezogen waren, kam teilweise nur rein deskriptiv vor. In neun der vorliegenden Urteile lässt sich nachlesen, dass die Väter der Angeklagten zur Zeit des Verfahrens an der Front waren. Von den betroffenen Angeklagten waren drei Mädchen. 980 Dazu kam ein Angeklagter, dessen Vater auswärts beim Hilfsdienst eingesetzt war. 981 In all diesen Fällen handelte es sich nur um eine Feststellung von familiären Hintergründen der Angeklagten, die keinen weiteren Niederschlag in der Urteilsbegründung fand. Ob darüber hinaus manche der Richter von dem Fakt, dass in diesen Fällen die „straffe Hand“ des Vaters fehlte, bei ihren Entscheidungen beeinflusst wurden, ohne dass sie dies explizit äußerten, bleibt spekulativ. In einem Falle, einem Urteil wegen Raubes, dessen sich ein Fünfzehnjähriger zu verantworten hatte, dem das Gericht bescheinigte, aus einer geordneten Familie zu stammen, ist die Erwähnung der väterlichen Abwesenheit eine Rechtfertigung des Handelns der Mutter. Im Urteil heißt es nämlich: „Infolge des jetzt zur Anklage stehenden Vorkommnisses nahm ihn seine Mutter - der Vater ist zum Heer eingezogen - aus seiner Stelle.“ 982 Der Hinweis auf das Fehlen des Vaters diente hier zur Erklärung der ansonsten unverständlichen Vorgehensweise der Mutter, ihren Sohn aus seiner Lehrstelle zu nehmen. Denn hätten die Richter nur diese weit reichende, von der Mutter ohne das Zutun ihres Ehemannes getroffene Entscheidung erwähnt, ohne hinzuzufügen, dass der Mann gar nicht da war, um diese Entscheidung selbst zu treffen, so hätte dies die Einschätzung, der Angeklagte stamme aus geordneter Familie, konterkariert. Dieser erzieherische Akt gegenüber dem Jungen wäre bei dessen Anwesenheit dem Vater als männlichem Familienoberhaupt zugekommen. Allerdings ging die Ausübung der elterlichen Gewalt im Falle der 980 Vgl. die Urteile gegen Adolf B., Bü 4; Alfons I. und Wilhelm M., Bü 485; Albert K. u. a., Bü 491; Mathäus E., Bü 917; Jakob H. und Johannes St., Bü 972; Anton Engelbert St., Bü 1061; Ernst Sch. und Johannes K., Bü 1064; Karoline K., Bü 1164; Ernst R., Bü 2107; alle StAL E 350a. 981 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.3.1918 gegen Karl S., StAL E 350a, Bü 490. 982 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 15.1.1917 gegen Ernst R., StAL E 350a, Bü 2107. <?page no="286"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 287 Abwesenheit des Vaters durch Kriegsdienst auf die Mutter über. So regelte es eine Verfügung des württembergischen Justizministeriums abweichend von den üblichen Bestimmungen des BGB. 983 Die Richter mussten also zur Rechtfertigung der zuvor abgegebenen Einschätzung über die familiären Verhältnisse des Angeklagten diese Tatsache erwähnen. Eine weiter reichende Bedeutung für die Beurteilung des Angeklagten und die Ursachen seiner Tat wohnt dem Hinweis jedoch nicht inne. Neben diesen deskriptiven Angaben zur Kriegssituation finden sich Bezüge zum Krieg in unterschiedlicher Form. Hier interessieren zunächst Erörterungen möglicher Ursachen für das Verhalten der angeklagten Jugendlichen. In 13 der überlieferten Urteile erkannten die Richter einen Zusammenhang zwischen der Straftat und der durch den Krieg formierten Lebenssituation der Jugendlichen. 984 Es fällt sofort auf, dass sich unter diesen Urteilen nur ein Urteil wegen eines Sexualdeliktes findet. Zwar betrifft dies ein Vergehen gegen den Belagerungszustand, war also kein „klassisches“ Sittlichkeitsdelikt, allerdings geht es im konkreten Fall um verbotenen Geschlechtsverkehr mit Kriegsgefangenen, demnach ebenfalls um normiertes Sexualverhalten. 985 Sonst handelt es sich ausschließlich um Eigentumsdelikte und deren Sonderfälle Amtsvergehen sowie Vermögensdelikte und Urkundendelikte. Dabei war im juristischen Diskurs auch davon die Rede, dass die Jugendlichen durch den Krieg auch sexuell verwahrlosten und sexuell abweichende Verhaltensweisen an den Tag legten. Diese Ausdrucksform abweichenden Verhaltens bei Jugendlichen sprach man jedoch hauptsächlich den Mädchen, insbesondere in Großstädten, zu, denen man „sittliche Verwahrlosung“ unterstellte. 986 Das bedeutete in der Realität natürlich nicht, dass es sich dabei - wenn es überhaupt zu einer Veränderung des Sexualverhaltens von Jugendlichen während des Krieges gekommen sein sollte - auch um strafrechtlich relevante Handlungen handelte. Vielmehr hat die quantitative Analyse der Strafverfahren gezeigt, dass die 983 Vgl. Friedeberg, Jugendgerichtspraxis, S. 237. 984 Vgl. die Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; Marie K., Bü 194; Wilhelm Karl K., Bü 202; Anton W., Bü 865; Johannes Sch. u. a., Bü 871; Julius B., Bü 878; Karl T. und Gustav K., Bü 892; Georg B. u. a., Bü 903; Wilhelm Johannes Daniel W., Bü 929 (in diesem Urteil wird zweimal auf kriegsbedingte Ursachen verwiesen); Wilhelm H., Bü 966; Anton L. und Ferdinand Sch., Bü 1087; Ewald O., Bü 2106; Karoline T., Bü 2583; alle StAL E 350a. 985 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.7.1917 gegen Karoline T., StAL E 350a, Bü 2583. 986 Allerdings wurde hier genau nach dem Grad der Sittlichkeit der Mädchen, der auf dem Land unter Umständen sogar niedriger als bei den Mädchen in der Stadt lag, und sittlicher Verwahrlosung unterschieden. Sexuelle Ausschweifungen waren in dieser Sichtweise nicht identisch mit Verwahrlosung, vgl. Hellwig, Krieg und Kriminalität, S. 139. <?page no="287"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 288 Anklagen wegen Sittlichkeitsverbrechen in der Kriegszeit, abgesehen von einem Zwischenhoch 1914, nicht zunahmen und die zur Anklage gekommenen Delikte hauptsächlich von Jungen begangen wurden. Dies blieb den Richtern, die über diese Anklagen zu urteilen hatten, selbstverständlich nicht verborgen. Sie konnten demnach nicht davon ausgehen, dass der Krieg zu einer Steigerung von strafbarem sexuell abweichendem Verhalten beitrug und stellten deshalb offenbar - soweit es die vorhandenen Quellen erkennen lassen - auch nur in für sie offenkundigen Fällen besondere Bezüge zwischen den veränderten Rahmenbedingungen des Krieges und Sexualdelikten her. Die Kriegssituation stuften die Richter demnach gerade für die Deliktarten als kriminogen ein, die auch hauptsächlich den Anstieg der Anklagen vor dem Landgericht verursachten, nämlich insbesondere für Eigentumsdelinquenz. Natürlich kann von dem überlieferten Teil der Urteile nicht auf alle anderen Urteile geschlossen werden, die Tendenz erscheint jedoch plausibel und daher verallgemeinerbar. a. Kriegsbedingter Aufsichtsmangel Bei der Ursachenerörterung mit Bezug auf die Kriegssituation finden sich in den Urteilen nun verschiedene Aspekte des Diskurses um steigende Jugendkriminalität im Krieg wieder. Ein Aspekt ist die Abwesenheit von Vätern und Vormündern und die damit zwangsläufig einhergehende geminderte Aufsicht. In sieben Urteilen nahmen die Richter auf diesen soziologischen Erklärungsansatz Bezug. 987 Diese Überlegung spielte bei der Bewertung der Tat durch die Richter eine Rolle, auch wenn sie nicht unmittelbar an der Stelle im Urteil zu finden ist, an der konkret die Strafzumessung abgewogen und erläutert wird. Hier verbarg sich hinter dem Hinweis auf die Abwesenheit der Väter der Versuch des Gerichts, die Ursache dafür, dass der vor ihnen stehende minderjährige Delinquent eine Straftat begangen hat, herauszufinden. In diesen Fällen kann mit vollem Recht von Delinquenten nur in der männlichen Form gesprochen werden, da die verminderte Aufsicht in Zusammenhang mit der Einberufung der Väter nur in Bezug auf Jungen in den Urteilen erwähnt wurde. Offensichtlich schien das Autoritätsvakuum, welches die Einberufung des Vaters in den betroffenen Familien angeblich hinterlassen hatte, auch in den Augen der Ulmer Richter besonders bei männlichen jugendlichen Delinquenten seine Wirkung zu entfalten. Diese Lesart legen 987 Vgl. die Urteile gegen Wilhelm Karl K., Bü 202; Anton W., Bü 865; Johannes Sch. u. a., Bü 871; Julius B., Bü 878; Karl T. und Gustav K., Bü 892; Wilhelm Johannes Daniel W., Bü 929; Wilhelm H., Bü 966; alle StAL E 350a. <?page no="288"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 289 zumindest die überlieferten Urteile nahe, sie erscheint aber durchaus plausibel und verallgemeinerbar. Dies verwundert vor dem Hintergrund der Diskussion nicht, herrschte doch weitestgehend Konsens darüber, dass die starke männliche Hand bei der Erziehung der Jungen fehlte. 988 Auf die Erziehung der Mädchen wirkte sich das Fehlen einer männlichen Autoritätsperson in den Augen der Betrachter nicht besonders negativ aus. Für die - so die darin implizierte Sicht der Differenzen zwischen den Geschlechtern - passiveren, „zahmeren“ Mädchen reichte die weibliche Erziehungsautorität der Mutter aus, um sie auf der geraden Bahn zu halten. Die Abwesenheit der Väter fand insbesondere wertend Eingang in Urteile, die in Verfahren in Verbindung mit Diebstählen gesprochen wurden. Nur in einem der sieben Urteile ging es um ein Strafverfahren wegen Betruges. 989 In diesen Urteilen erwähnte das Gericht im jeweils dritten Teil der Urteile, also in den Urteilsbegründungen, die Abwesenheit der Väter. Das war, wie oben bereits erläutert, auch der einzig mögliche Platz, an dem mit einer expliziten Wertung versehen auf diesen Aspekt eingegangen werden konnte. In drei der Urteile kam das viel beschworene „Autoritätsvakuum“ als konkrete Angabe bei der Strafzumessung zum Tragen - jeweils strafmildernd. 990 Den Richtern war demnach bewusst, dass die Jugendlichen für die zeittypischen Erziehungsdefizite nicht verantwortlich gemacht werden konnten, und zogen daraus auch die strafrechtlichen Konsequenzen. Ob die Angeklagten darüber hinaus frei von der Zuschreibung einer „abweichenden Persönlichkeit“ blieben, hing von weiteren Faktoren ab. Wilhelm H., bei dem lediglich die soziologische Ursache der fehlenden väterlichen Aufsicht angegeben wurde, hatte aus Sicht der Richter nur abweichend gehandelt. Er erscheint im Spiegel des Richterspruchs nicht als abweichende Persönlichkeit. Außer dem Aspekt, „daß der Angeklagte schon seit längerer Zeit der väterlichen Aufsicht entbehrt“, erwähnten die Richter in diesem Zusammenhang das straflose Vorleben des Angeklagten und die erfolgte Entschädigung des Opfers - zwei Standardgründe für Strafmilderung. 991 Gegen eine Stigmatisierung sprach also das übrige von den Richtern registrierte Verhalten des Jungen. Ganz anders in den restlichen zwei Fällen, in denen das „Autoritätsvakuum“ strafmildernd berücksichtigt wurde. Hier 988 Vgl. Lindenberg, Fürsorgeerziehung in Preußen, S. 162. 989 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 17.8.1916 gegen Wilhelm Karl K., StAL E 350a, Bü 202. 990 Vgl. die Urteile gegen Julius B., Bü 878; Karl T. und Gustav K., Bü 892; sowie Wilhelm H., Bü 966; alle StAL E 350a. 991 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 31.5.1917 gegen Wilhelm H., StAL E 350a, Bü 966. <?page no="289"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 290 wurde neben der soziologischen Erklärung auf essentialisierende Beschreibungen zur Erklärung der strafrechtlichen Fehltritte Bezug genommen, weshalb die Angeklagten dauerhaft abweichende Charaktereigenschaften zugesprochen bekamen. Die Richter bescheinigten ihnen „einen hohen Grad sittlicher Gesunkenheit u. Arbeitsscheue“ 992 sowie einen tiefgehenden „verbrecherischen Willen“. Julius B., bei welchem der letzte Charakterzug bemerkt worden war, befand sich zum Zeitpunkt seiner Verurteilung in Fürsorgeerziehung. 993 Da Fürsorgezöglinge einen schlechten Leumund hatten, galten sie bereits als „verwahrlost“, was bei der negativen Bewertung des Jungen eine Rolle gespielt haben mag. Da hier aus Sicht des Gerichtes nicht nur soziologische, sondern auch essentialisierende Ursachen zugrunde lagen, waren zwar auch, aber nicht nur die entlastenden soziologischen Faktoren maßgeblich. Für die Einschätzung und damit in diesen Fällen für eine Stigmatisierung der Jugendlichen hatten die essentialisierenden Faktoren mehr Gewicht. Die Erwähnung der kriegsbedingten Abwesenheit des Vaters kann mit Hinweisen verbunden sein, dass die Mutter, welche unter Umständen sogar noch „kränklich“ war, mit der Erziehung der halbwüchsigen Knaben alleine überfordert sei. 994 Hier spiegelt sich die Sichtweise, dass die väterliche Autorität für die Formung eines Jungen zu einem in die Gesellschaft integrierten Menschen notwendig sei. Dazu war es notwendig, dass für den Vater die Option gegeben war, auf die Erziehung der Kinder aktiv Einfluss zu nehmen, auch wenn er nicht als Erzieher permanent anwesend war. Ein anderer Argumentationsstrang zur Beleuchtung der Hintergründe des Kriminellwerdens dieser Jungen war, dass sie wegen der fehlenden väterlichen Autorität offensichtlich leicht dem negativen Einfluss von schlechten Kameraden oder verschiedenen Versuchungen erliegen konnten. 995 In diesen Fällen sind die Hinweise auf die Abwesenheit der Väter nur vage in einen näheren Kontext zur Klärung der Frage, warum die Jungen eine Straftat begingen, eingeordnet. Es werden mögliche Faktoren aufgelistet und angeboten, die unter Umständen Teil einer Erklärung sein konnten. Das Gericht 992 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.7.1915 gegen Karl T. und Gustav K., StAL E 350a, Bü 892. 993 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 9.3.1916 gegen Julius B., StAL E 350a, Bü 878. 994 Vgl. die Urteile gegen Wilhelm Johannes Daniel W., Bü 929; und Julius B., Bü 878; beide StAL E 350a. 995 Vgl. die Urteile gegen Wilhelm Karl K., Bü 202; und Johannes Sch. u. a., Bü 871; beide StAL E 350a. Im Zweiten Weltkrieg standen Hinweise auf die Abwesenheit der Väter häufiger als Begründung für die Begehung einer Straftat durch Jugendliche, vgl. Wolff, Jugendliche vor Gericht, S. 306. <?page no="290"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 291 versuchte, durch das Zusammentragen der einzelnen Teile ein Gesamtbild zu entwickeln. Anders bei einem Urteil aus dem Jahr 1915, als die Warnung vor dem kriegsbedingten „Erziehungsnotstand“ erstmals mit voller Wucht aus der Fachpresse hallte - die Beschreibung der persönlichen Verhältnisse eines erst zwölfjährigen Volksschülers könnte als warnendes Beispiel einer solchen Zeitschrift entnommen sein. Über den noch nicht vorbestraften Anton W. führte der Richter aus: „[S]ein Vater ist im Felde, so daß die Mutter die alleinige Aufsicht über ihre sieben Kinder, von denen der Angekl. das zweitälteste ist, zu führen hat. Da sie tagsüber auswärts in Arbeit ist, sind die Kinder sich selbst überlassen u. der Angekl. treibt sich viel auf der Straße herum, da die Schulzeit um die Hälfte verringert ist. Dabei kam er auch in Kameradschaft mit dem 16 J. alten Flaschnerlehrling Karl J., welcher Neigung zum Stehlen hat, der Zucht u. Arbeit bei seinem Meister gerne aus dem Wege geht u. schon als noch schulpflichtiger Zögling im Waisenhaus Ochsenhausen einem seiner Lehrer Geld entwendete. Dieser J. übte sicherlich keinen guten Einfluß auf den Angeklagten aus; er war auch bei der in Frage kommenden Tat desselben beteiligt.“ 996 Diese Passage ist die Schilderung einer klassischen Abwärtsspirale, in deren Strudel ein bis dahin gerichtlich unbelangter Jugendlicher gelangen und die vor den Schranken des Strafgerichts oder im schlimmsten Falle im Gefängnis enden konnte. Viele zur damaligen Zeit virulente Faktoren, die als kriminogen bewertet wurden, finden sich hier. Dazu gehören das Herumtreiben auf der Straße und die überforderte, auswärts arbeitende Mutter sowie die „schlechte Gesellschaft“ des Jungen. Diese Bilder finden sich, wie schon aufgezeigt, bereits in den Diskursen der Vorkriegszeit. Durch den Kriegszustand kamen des weiteren die Abwesenheit des Vaters und der massive Ausfall von Schulunterricht, welcher im Landgerichtsbezirk Ulm seit 1914 zu beobachten war und im weiteren Verlauf zunehmend zum Problem wurde, hinzu. Bemerkenswert ist die Einsicht Paul Köhnes, der den Klagen über sinnlose „Herumtreiberei“ der Jugend auf der Straße entgegenhält, dass das abendliche „Verweilen“, wie er es weniger abwertend nennt, angesichts der unzulänglichen Wohnverhältnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten schlichtweg der Erholung diene. 997 Diese Einschätzung blieb allerdings eine Minderheitenposition. 996 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.9.1915 gegen Anton W., StAL E 350a, Bü 865. 997 Vgl. Köhne, Jugendliche und Krieg, S. 17. <?page no="291"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 292 Das Erklärungsmuster des „Autoritätsvakuums“ war in den Urteilen, in denen Kriminalitätsursachen von der neuen Kriegssituation hergeleitet wurden, das wichtigste. Genau wie in der Fachpresse nahm es damit in den Urteilen unter den kriegsbedingten Ursachen einen zentralen Platz ein. Die Argumentation der Richter verlief innerhalb des durch den Fachdiskurs vorgegebenen Deutungsmusters. Allerdings spielte das kriegsbedingte Autoritätsvakuum im Gesamtkontext der Urteile eine eher untergeordnete Rolle. Beurteilt man die Erwähnung väterlichen Fehlens aufgrund eines Kriegseinsatzes rein quantitativ im Vergleich zu allen überlieferten Urteilen, so ergibt sich folgendes Bild: Nur in 15 der 136 analysierten Urteile wird - siebenmal wertend, neunmal deskriptiv - angegeben, die Väter der angeklagten Jugendlichen seien „im Felde“. Aus den Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der anderen Urteile lässt sich nicht ablesen, dass die jeweiligen Familien aufgrund des Kriegsdienstes des Vaters auseinander gerissen und damit aus Sicht bürgerlicher Betrachter dysfunktional waren. Gemessen an den aus den Urteilen zu entnehmenden Informationen war ein Großteil der Familien von angeklagten Jugendlichen rein strukturell betrachtet intakt oder zumindest nicht wegen Einberufung der Väter durch ein „Autoritätsvakuum“ geschwächt. Dieses Bild findet sich demnach zwar durch die zeitgenössische Publizistik verbreitet, allerdings nicht unbedingt in der strafrichterlichen Alltagspraxis bestätigt. Die historische Forschung griff jedoch auf dieses wirkmächtige Bild zur Erklärung des Phänomens der steigenden Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität zurück. 998 An der Plausibilität dieser Deutung können auf Basis der hier herangezogenen strafprozessualen Quellen jedoch Zweifel angemeldet werden. b. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen Typisch für die Schilderung von durch die neuartigen Kriegsverhältnisse auftretender Kriminalität und deren Ursachen war, wie oben erwähnt, der Hinweis auf neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche und den ihnen daraus erwachsenden Versuchungen. Dazu zählte insbesondere die Anstellung Jugendlicher als vereidigte Postaushelfer und somit die Möglichkeit „leichte Beute“ bei Feldpostsendungen zu machen. Diese Fälle kamen auch in Ulm vor. Allerdings teilten die Juristen, soweit das offensichtlich geschah, nur bei einem der straffällig gewordenen Postaushelfer die weit 998 Vgl. Mommsen, Bürgerstolz, S. 726; und Peukert, Weimarer Republik, S. 97. Auch weitere zeitgenössische Erklärungen übernimmt Jon Savage sehr unreflektiert, vgl. ders., Teenage, S. 161 f. <?page no="292"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 293 verbreitete Ansicht, dass sich durch die verantwortungsvolle Position eine „starke an ihn herangetretene Versuchung“ ergeben habe. Michael Sch., der im Winter 1915/ 16 während seiner Tätigkeit als Postaushelfer zahlreiche Feldpostpäckchen unterschlagen hatte, stammte laut Angaben der Richter aus einer geordneten Bauernfamilie, arbeitete aber in städtischer Umgebung in Ulm. Er war der einzige wegen Amtsunterschlagung verurteilte Postaushelfer, dem die Richter zugestanden, aus „jugendliche[r] Unbesonnenheit“ gehandelt zu haben. Sie sahen eine starke Versuchung für ihn gegeben, welche letztendlich dazu geführt habe, dass er sich an den Paketen vergriff. Da seine Widerstandskräfte gegen die Begehung einer strafbaren Handlung demnach gemindert waren, veranschlagten sie die Versuchung bei der Urteilszumessung strafmildernd. Damit ergab sich die etwas paradoxe Argumentation, dass die Juristen es auf der einen Seite dem Jugendlichen als straferhöhend anrechneten, dass er Feldpostpäckchen gestohlen hatte, auf der anderen Seite aber die Tatsache, dass er überhaupt in die Lage gekommen war, diese Amtsvergehen zu begehen, als strafmildernd beurteilten. 999 Bei der Strafbemessung war es für die Richter möglich, verschiedene Punkte isoliert zu betrachten, so dass Ursache und Wirkung eine konträre Bewertung erfahren konnten. Abgesehen davon reproduzierten und erzählten die Richter hier die Geschichte des jungen Arbeitsmigranten vom Lande, der sich in der (Groß-)Stadt nicht zurechtfinden konnte und strauchelte. Dies war ein weit verbreitetes zeitgenössisches Bild jugendlicher Erfahrungen. 1000 In großen Städten mit hohen Migrationszuwächsen führte es schon vor dem Krieg zur Gründung von Vereinen, die es sich zur Aufgabe machten, sich um junge Arbeitsmigranten zu kümmern. Auf diese Weise sollten die Weichen weg von drohender Verwahrlosung hin zu einer moralisch einwandfreien Zukunft gestellt werden. Diese Vereine wie die christliche Innere Mission in Berlin erfreuten sich bei ihren potentiellen Klienten nicht unbedingt großer Beliebtheit. Zu groß waren die Differenzen zwischen den engagierten bürgerlichen Erwachsenen und den Jugendlichen mit ihren Problemen im Arbeitsalltag, in welche sich die Helfer nicht einfühlen konnten. 1001 Die Anstellung Jugendlicher in normalerweise Erwachsenen vorbehaltenen vertrauens- und verantwortungsvollen Positionen während des Krieges fügte sich in dieses Wahrnehmungsmuster ein und potenzierte die scheinbaren „Versuchungen“ der modernen Arbeitswelt. 999 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 6.3.1916 gegen Michael Sch., StAL E 350a, Bü 2. 1000 Vgl. Köhne, Kriminalität, S. 7. 1001 Vgl. Hitzer, Amid the Wave of Youth, S. 11 f. und 25. <?page no="293"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 294 Im Vergleich zu Michael Sch. fielen die moralischen Bewertungen der anderen Posthelfer, welche sich der Amtsunterschlagung schuldig gemacht hatten, wesentlich härter aus. Auch sein in Göppingen arbeitender Kollege Adolf B. stammte laut gerichtlichen Angaben aus geordneter Familie. Im Unterschied zum gerade erstmals „gestrauchelten“ Michael Sch. war er aber bereits wegen Bedrohung vorbestraft. Aus der soziologisch gemeinten starken äußeren Versuchung in Kombination mit biologischen Deutungsansätzen jugendlicher Eigenarten wird bei Adolf B. die essentialisierende Erklärung, er scheine ein „etwas beschränkter Mensch mit geringer sittlicher Widerstandskraft zu sein“, der noch dazu Neigung zum Leichtsinn an den Tag lege. 1002 In dieser etwas unpräzisen Formulierung zeigt sich das pathologischpsychiatrische Konzept der so genannten moral insanity, ohne ganz eindeutig greifbar zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts nahm beispielsweise der Psychiater Emil Kraepelin an, es handele sich dabei um eine angeborene Form „sittlicher Unfähigkeit“. 1003 Während der „moralische Irrsinn“ im 19. Jahrhundert als eigenständige Krankheit bewertet wurde, hielt man ihn Anfang des 20. Jahrhunderts nun abgeschwächter für einen „ethischen Defekt mit Neigung zu verbrecherischen Handlungen“, wie Meyers Lexikon postulierte. Als unzurechnungsfähig im Sinne des Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches galten Personen mit diesem „Defekt“ allerdings nur dann, wenn sie auch sonst vermeintliche Zeichen von „Schwachsinn“ oder geistigen Störungen zeigten. 1004 Jugendliche Unbesonnenheit als Auslöser strafrechtlich zu sanktionierenden Verhaltens schied somit aus. Adolf B. habe aus „Genußsucht“ gehandelt. 1005 Dieser Topos hing schon in der Vorkriegszeit besonders negativ und irrational bewerteten Handlungen an. Das Substantiv „Sucht“ deutet es an: Gemeint waren „kranke“, nicht akzeptable Verhaltensweisen. In der Zeit des Krieges mit den bekannten Mangelerscheinungen war dies eine ungleich härtere Beurteilung als in Friedenszeiten. Die „Sucht“ schädigte jetzt eine Gesellschaft im Kampf gegen äußere Feinde - was am Stehlen respektive Unterschlagen von Feldpostpäckchen sehr greifbar zum Ausdruck kam. Bei Adolf B. spielte denn auch, obwohl er wie Michael Sch. aufgrund der kriegsbedingten Personalknappheit in eine Vertrauensposition aufrückte, das Bild der „neuartigen Versuchung“ keine Rolle. Die neuen Gefahren konnten auch „normale“ Jugendliche wie Michael Sch. straucheln lassen. Bei 1002 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.1.1917 gegen Adolf B., StAL E 350a, Bü 4. 1003 Vgl. Gadebusch Bondio, Atavistic to Inferior, S. 199. 1004 Vgl. Artikel „moral insanity“, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon 14, S. 130. 1005 Vgl. Urteil gegen Adolf B., StAL E 350a, Bü 4. <?page no="294"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 295 schon „sittlich verwahrlosten“ Jugendlichen, etwa Adolf B., brauchte es hingegen keine extraordinären Auslöser. Die beiden Beispiele zeigen sehr deutlich, wie unterschiedlich ähnlich handelnde Personen vor Gericht beurteilt werden konnten. Es kam hierbei entscheidend auf die persönlichen Umstände und deren Bewertung durch die Richter an. Auf das Strafmaß, die Verurteilung, hatten diese moralischen Bewertungen allerdings nur bedingt Einfluss. Hier waren die (Straf-)Taten gemäß der klassischen Vergeltungsstraflehre trotz aller „Ursachenforschung“ weiterhin ausschlaggebend, die persönlichen Faktoren ergänzten bei schuldfähigen Angeklagten lediglich die Abwägung des Strafmaßes. So verurteilten die Richter den moralisch entlasteten Michael Sch. zu vier Monaten Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft, auch wenn sowohl seine Herkunft als auch die starke „Versuchung“ strafmildernde Berücksichtigung fanden. Der schon gerichtlich belangte und von den Richtern zudem als abweichend stigmatisierte Adolf B. hingegen erhielt, da die strafrechtliche Dimension seiner aktuell zur Bewertung stehenden Handlungen im Vergleich zum Fall Michael Sch. geringer einzuschätzen war, zwei Monate Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft. 1006 Die Gegenüberstellung der beiden Fälle zeigt aber auch, dass die Herkunft aus einer als geordnet geltenden Familie keine Garantie dafür war, vor Gericht der Stigmatisierung der eigenen Person zu entgehen. Hier spielten die konkreten Handlungsweisen der Jugendlichen eine wichtige Rolle, und waren diese schon einmal gerichtlich belangt worden, interpretierten die Richter die neuerliche Handlung als weiteren Schritt in die falsche Richtung. Analog zu neuen Beschäftigungsmöglichkeiten sprachen die Beobachter in der Fachpublizistik auch den hohen Löhnen, welche die Kriegsindustrie an (jugendliche) un- und angelernte Arbeiter zahlen konnte, kriminogene Wirkung zu. Darüber hinaus gab es Bemühungen, den Jugendlichen durch Einführung des so genannten Sparzwangs die finanziellen Früchte ihrer Arbeit vorzuenthalten. Zur Erklärung einer Straftat zogen die Ulmer Richter die hohen Löhne und die damit verbundenen sittlichen Gefahren allerdings in den vorliegenden Fällen nur bei einem sehr schweren Delikt heran. Es handelte sich um versuchten Raub, begangen durch einen siebzehnjährigen Hilfsarbeiter, der eine Kriegszulage zum Lohn erhielt. Die Richter versuchten wie folgt herzuleiten, warum es soweit kommen konnte: „Es ist bezeichnend für den Leichtsinn u. die schon fortgeschrittene sittliche Verdorbenheit des Angekl., daß er mit seinem für sein Alter auffallend hohen 1006 Vgl. die Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; und Adolf B., Bü 4; beide StAL E 350a. <?page no="295"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 296 Einnahmen nicht auskam, was daher rührt, daß er zu viel verbraucht und in bedenklicher Wirtschaft mit Dirnen das Geld vergeudete.“ 1007 Hier spielten soziologische, auf den ökonomischen Rahmenbedingungen der Kriegsgesellschaft fußende Ursachen mit essentialisierenden Zuschreibungen eines „verschwendungssüchtig[en] und sittlich gesunken[en]“ 1008 Charakters zusammen. So, wie sich das Verhalten von Ewald O. den Richtern präsentierte, lieferte er ihnen einen Grund, die von ihm begangene Straftat als Ausfluss einer abweichenden Persönlichkeit und nicht als einmaligen Ausrutscher zu bewerten. Die - in den Augen der bürgerlichen Betrachter - verwerfliche Verwendung des Lohnes für die Dienste von Prostituierten widersprach schon im Frieden einer akzeptablen und respektablen Lebensführung. In Zeiten des Krieges galt diese Form des Eskapismus aus einem immer trostloser werdenden Alltag als subversiv und gegen die Notwendigkeiten der Kriegsgesellschaft gerichtet. Entsagung war die Losung der Stunde, denn „[n]iemand hat ein Recht, so zu leben, wie er zu Friedenszeiten gelebt hat.“ 1009 Dass die hier beschworene Solidargemeinschaft aus dem Kaiser, einem morgens keine Butter mehr essenden Kanzler und der Bevölkerung, also einem einig Volk und Vaterland, bestehend nur noch aus Deutschen, so nie existiert hat und demnach auch nicht einseitig von abweichendem Jugendverhalten zu Fall gebracht werden konnte, steht außer Zweifel. 1010 Der kriegswirtschaftliche Einsatz von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft, auch eine ökonomisch erst durch den Kriegszustand hervorgerufene Situation, brachte ebenfalls „neue Versuchungen“. Hier handelte es sich jedoch nicht um materielle, sondern sittliche Gefährdungen. Da die Kriegsgefangenen mit Deutschen, auch mit Frauen in Kontakt kamen, sah man letztere „sittlichen Gefahren“ ausgesetzt. In einem Urteil zogen die Richter, wie erwähnt, diese Schlussfolgerung. Das Zusammenleben als Dienstmagd auf einem Hof mit russischen Kriegsgefangenen stelle für ein junges, noch wenig widerstandsfähiges Mädchen eine große Versuchung dar, befanden die Richter. 1011 Damit sahen sie auch hier eine soziologische Ursache im Zusammenspiel mit biologischen Faktoren gegeben. Bei ihrer Verurteilung aufgrund des 1007 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.12.1916 gegen Ewald O., StAL E 350a, Bü 2106. 1008 Ebd. 1009 Nötige Worte, in: UTb vom 10.7.1916. 1010 Vgl. ebd. 1011 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 6.5.1917 gegen Karoline T., StAL E 350a, Bü 2583. <?page no="296"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 297 Gesetzes über den Belagerungszustand berücksichtigten sie dies strafmildernd. Eine moralische Verurteilung unterließen die Richter in diesem Fall - im Gegensatz zur Jugendgerichtshilfe in Ulm, die diese Gesetzesverstöße aufs Schärfste verurteilte, denn man müsse es „als trauriges Zeichen völliger innerer Haltlosigkeit und mangelnden Ehrgefühls […] ansehen, wenn sich auch Mädchen im jugendlichen Alter schon an Fremde wegwerfen, die gegen uns gekämpft haben, und deren Regierungen die Vernichtung des Bestands unseres Vaterlandes als Kriegsziel in’s Auge fassen.“ 1012 Die Richter nahmen, anders als die Jugendgerichtshilfe, keine weiter gehende Bewertung des Deliktes vor. Sie bewerteten das Mädchen individuell, zu ihren Gunsten. Gegen eine moralische Verurteilung sprach sicherlich aus Sicht der Richter auch, dass sie aus einer „geordneten Familie“ stammte. 1013 Neue durch den Krieg geschaffene Versuchungen spielten im Vergleich zum Autoritätsvakuum eine geringere Rolle in der richterlichen Argumentation. Doch auch hier griffen die Richter Argumente des Fachdiskurses auf. Als eine weitere Ursache für den Anstieg der Jugendkriminalität benannten die Diskursteilnehmer mit längerer Dauer des Krieges Not, eine Begründung, die auch von den Ulmer Strafrichtern benutzt wurde. Hierbei handelt es sich um einen soziologischen Komplex frei von altersgruppenspezifischen Differenzierungen. Aus den rein formalen Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der Jugendlichen ging zunächst nichts darüber hervor, ob eine prekäre ökonomische Situation vorlag. Daher waren die Richter in ihrer Bewertung der Verhältnisse, wie bereits erwähnt, besonders frei. Zudem waren sie bei der Zubilligung einer Notlage der jugendlichen Delinquentinnen und Delinquenten, die eine materielle Notsituation zu einem Diebstahl, einer Unterschlagung oder einer Urkundenfälschung motiviert haben könnte, sehr streng. Dies verwundert nicht, da sie als Repräsentanten des Staates auch die Situation der Allgemeinheit und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Blick haben mussten. Wäre der Bevölkerung bekannte geworden, dass Lebensmitteldiebstähle, Bezugsmarkenfälschungen oder Ähnliches mit dem Hinweis auf die prekäre Lage im Krieg auch vor Gericht üblicherweise entschuldigt und dementsprechend milde sanktioniert würden, hätte dies fatale Folgen für die künftige Anerkennung strafrechtlicher Normen haben können. Denn in einer schwierigen Lage befand sich zu diesem Zeitpunkt ein großer Teil der Bevölkerung. Diese allein konnte also nicht den Ausschlag 1012 Jahresbericht Jugendgerichtshilfe 1915, S. 6, StAL E 191, Bü 5568. 1013 Vgl. Urteil gegen Karoline T., StAL E 350a, Bü 2583. <?page no="297"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 298 für eine abgemilderte Bestrafung geben, sonst wäre der abschreckende Charakter der strafrechtlichen Sanktionierung abweichenden Verhaltens verloren gegangen. Die für die Strafmilderung erforderliche Notlage musste zudem während des Krieges schwerer sein als vor dem Krieg. Denn strafmildernde Faktoren konnten nur im Einzelfall gewährt werden und nicht per se. 1014 Sonst drohte die zugrunde liegende Strafnorm unterhöhlt zu werden. Da Not, mindestens aber materielle Einschränkungen, während der Zeit des Krieges zum Erfahrungsschatz breiter Bevölkerungskreise gehörte, musste der für Strafmilderung heranzuziehende Notzustand diese Regelerscheinung übertreffen, um weiterhin eine Ausnahme zu sein. Die jugendlichen Angeklagten selbst versuchten durchaus, ihre strafrechtlichen Fehltritte dadurch zu erklären, dass sie aus Not gehandelt hätten, und unter Umständen verfolgten sie damit die Strategie, ihr Handeln zu entschuldigen. 1015 Letzteres setzte ihr Wissen oder mindestens ihre Ahnung darüber voraus, dass Straftaten aus Not weniger strafwürdig beurteilt wurden als solche ohne den entsprechenden Hintergrund. Dies ist wahrscheinlich, da es eine tief im Rechtsempfinden verwurzelte Vorstellung betrifft. Wenn allerdings tatsächlich eine nach den strengen Kriterien der Richter feststellbare und durch die Kriegssituation bedingte Notlage vorlag, floss diese auch strafmildernd in die Abwägung des Strafmaßes ein. 1016 In einem Fall folgte das Gericht nicht dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die gegen zwei Jungen Anklage wegen schweren Diebstahls erhoben hatte. Einer der Jungen musste mangels Beweise freigesprochen werden, bei seinem Freund sah das Gericht die Straftatbestandsmerkmale des schweren Diebstahls nicht erfüllt. Er war in das Dachabteil eines Nachbarn eingestiegen und hatte dort lagerndes Rauchfleisch, allerdings nur in geringen Mengen und mit dem Vorsatz es selbst zu verzehren, gestohlen - ein klassischer Mundraub, wie das Gericht befand. Dieser Herabstufung des begangenen Deliktes von einem Verbrechen des schweren Diebstahls zu einer Übertretung des Mundraubs folgte bei der Strafzumessung der zugebilligte Milderungsgrund, „[…] daß die Versuchung zu solchem Eingriff in fremdes Eigentum zur Zeit besonders groß“ sei. 1017 Entscheidend ist hier, dass die Richter Verständnis dafür aufbrachten, dass der Junge Nahrungsmittel gestohlen hatte. Die Umbewertung 1014 Vgl. Köhler, Deutsches Strafrecht, S. 682 f. 1015 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 1.8.1918 gegen Anton H., StAL E 350a, Bü 1120. 1016 Vgl. die Urteile gegen Marie K., Bü 194; Georg B. u. a., Bü 903; Anton L. und Ferdinand Sch., Bü 1087; alle StAL E 350a. 1017 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 13.6.1918 gegen Anton L. und Ferdinand Sch., StAL E 350a, Bü 1087. <?page no="298"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 299 der Tat von einem Diebstahl, wie es die Staatsanwaltschaft sah, zu einem Mundraub ist dabei nicht ausschlaggebend. Dabei handelt es sich um das übliche strafprozessuale Verfahren, da man dem Jungen nur die Wegnahme einer sehr geringen Menge exakt nachweisen konnte. Wirtschaftliche Not als Begründung für die Strafe mildernde Umstände kam demnach insbesondere in Betracht, wenn es sich tatsächlich um die Wegnahme oder anderweitig rechtswidrige Aneignung von Grundnahrungsmitteln handelte. Dazu konnte wie geschildert Fleisch oder auch Mehl gehören. 1018 Der Diebstahl von Genussmitteln, auch in einem weit gefassten Sinne wie beispielsweise Backwaren, konnte vom Gericht nicht als Notdiebstahl bewertet werden, da alles, was über die reine Grundversorgung der Bevölkerung hinauswies, nicht mehr dem zugebilligten Bedarf während des Krieges entsprach. Dabei wäre es gesetzeskonform gewesen, auch die Entwendung geringer Mengen Genussmittel als Mundraub einzustufen. 1019 Es musste jedoch bei der Zubilligung einer Notlage ausgeschlossen werden können, dass ein Diebstahl aus „Genusssucht“ begangen worden war. Ein solches Verhalten konnte während des Krieges nicht toleriert werden, da die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung und die Bewahrung der „Moral“ an der Heimatfront durch diese Form des abweichenden Verhaltens schwer getroffen werden konnte. Auffallend ist, dass nur in drei Fällen explizit der Bezug zwischen Not und Kriegssituation hergestellt wird. 1020 Auch in anderen Fällen, nicht nur hinsichtlich Nahrungsmitteln, sondern auch knapper Güter des alltäglichen Bedarfs wie Schuhe, erkannten die Richter eine Notlage an, was jeweils strafmildernde Berücksichtigung fand, zogen aber keine weiterführenden Schlussfolgerung mit Hinblick auf den Krieg. 1021 Dies lag entweder daran, dass die Richter aus ihrer relativ gesicherten Position diesen Mangel nicht bemerken konnten respektive wollten, oder daran, dass sie ihm eine dominierende Bedeutung für die Lebensführung vieler Menschen einräumten, welche explizit argumentativ ausgebreitete Zusammenhänge obsolet machte. Die erste Annahme ist weniger plausibel. Auch wenn bei der Einschätzung dessen, was als Mangel gelten konnte, vor Ge- 1018 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.6.1916 gegen Josef V. und Engelbert Johann G., StAL E 350a, Bü 891. 1019 Vgl. § 370 Zif. 5. RStGB. 1020 Vgl. die Urteile gegen Marie K., Bü 194; Georg B. u. a., Bü 903; sowie Anton L. und Ferdinand Sch., Bü 1087; alle StAL E 350a. 1021 Vgl. die Urteile gegen Karl S., Bü 490; Albert K. u. a., Bü 491; Karl Edmund G., Bü 980; Eugen K. und Gustav I., Bü 1065; Josef V. und Engelbert Johann G., Bü 891; Eugen H. u. a., Bü 1078; alle StAL E 350a. <?page no="299"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 300 richt sehr unterschiedliche Positionen möglich waren und vorkamen, konnte den Richtern die zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten großer Teile der Bevölkerung nicht verborgen bleiben. Sie lebten nicht im luftleeren Raum, sondern waren Teil der Kriegsgesellschaft, auch wenn sie sich selbst im Vergleich zur Mehrzahl der Angeklagten in privilegierten Positionen befanden. Für den zweiten Deutungsversuch spricht mehr, denn der Mangel des Krieges tauchte in einem anderen Zusammenhang unabhängig von der Erforschung der Ursachen erneut in den Urteilen auf. Die Richter erwähnten den Mangel, um bei Hehlerei den Wissensstand der Angeklagten belegen zu können, wie unter Punkt 4 dieses Kapitels gezeigt wird. Damit spielte aber auch die Notsituation des Krieges in den Augen der Richter keine bedeutende Rolle als Ursache jugendlicher Kriminalität, wenn man nur die drei Urteile mit direktem Bezug zum Krieg berücksichtigt. Etwas mehr Gewicht erhält Not als Ursache jugendlicher Kriminalität, berücksichtigt man die sechs weiteren Urteile, in denen das Vorhandensein einer Notsituation anerkannt wird, allerdings ohne Bezug zum Krieg. c. Wirkungen des Krieges auf die jugendliche Psyche Nur ein überliefertes Urteil thematisiert den angeblich durch die zunehmende Präsenz des Militärischen gesteigerten Wunsch von Jungen, an Utensilien für Soldatenspiele zu gelangen. Die Interpretation bot sich in diesem Falle in seltener Eindeutigkeit an, da der angeklagte Junge gemeinsam mit strafunmündigen Freunden, alle Kinder Militärangehöriger, in die Ulmer Garnisonskaserne Wilhelmsburg einstieg, um dort Ausrüstungsgegenstände zu entwenden. Hier drängte sich diese Interpretation geradezu auf, so dass es nicht verwundert, wenn für die Strafabwägung der „Anreiz in Betracht zu ziehen“ war, welcher „besonders in gegenwärtiger Zeit der Besitz von Hilfsmitteln für Soldatenspiele für Knaben hat“. Dies wurde strafmildernd berücksichtigt, was ein gewisses Verständnis für solche Wünsche transportiert. 1022 Die durch den Krieg angeblich hervorgerufene „psychische Verwirrung“ spielte somit eine sehr geringe Rolle in der richterlichen Argumentation zur Erklärung jugendlicher Kriminalität. Das deutet nicht nur auf die geringe Akzeptanz dieses Deutungsmusters hin, sondern liegt auch darin begründet, dass solche Diebstähle die Strafkammer sehr selten beschäftigten. Nur in 1022 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.2.1917 gegen Wilhelm Johannes Daniel W., StAL E 350a, Bü 929. Bei ihm sahen die Richter zudem ein „Autoritätsvakuum“ gegeben. <?page no="300"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 301 einem weiteren Fall hatten zwei Jungen unter anderem Leder gestohlen, um sich daraus Säbelriemen für das Soldatenspiel zu basteln. 1023 Außer den genannten Ursachen, dem „Autoritätsvakuum“, den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen mit neuen Versuchungen auf der einen und Not auf der anderen Seite sowie den kriminogenen Auswirkungen der Militarisierung des Alltags erwähnten die Richter in ihren Urteilen keine weiteren Auslöser jugendlicher Kriminalität, die in der Kriegssituation begründet lagen. Sie orientierten sich damit vollständig an den auch in der Fachpublizistik anzutreffenden Begründungsmustern, ohne weitere Deutungsmöglichkeiten mit Bezug zum Krieg anzudenken. Darüber hinaus zeigt sich, dass die zeitgenössisch wahrgenommenen Bedingungen der Kriegsgesellschaft zwar eine Rolle zur Erklärung jugendlicher Kriminalität vor Gericht spielten, allerdings insgesamt keinen zentralen Stellenwert besaßen. Nur in 13 Urteilen - in einem kommen zwei Aspekte, die Abwesenheit des Vaters und der „Reiz“, an Ausrüstungsgegenstände für das Soldatenspiel zu kommen, vor - stellten die Richter explizit einen Bezug zwischen der durch den Krieg geprägten Situation der Jugendlichen und deren Kriminellwerden her. Neben der Ursachenerörterung tauchte die Kriegssituation jedoch in anderen Formen wertend in den Urteilen auf. 4. Die Kriegssituation als Mittel der Beweisführung Die durch den Krieg hervorgerufene Güterknappheit führten die Richter bei Hehlerei auf, wenn es ihnen darum ging, Verteidigungsstrategien der Angeklagten auszuhebeln. Die Richter mussten vermeintlichen Hehlern nachweisen, dass sie vom illegalen Erwerb der Dinge gewusst hatten oder es „den Umständen nach“ wissen konnten, um sie verurteilen zu können. 1024 Auf der anderen Seite gab derjenige, der gestohlene Gegenstände annahm, natürlich zur Verteidigung an, von der illegalen Herkunft derselben nichts gewusst zu haben. Die genaueste Beschreibung der durch den Krieg in Gang gesetzten Spirale von Teuerung und Knappheit liefert ein Urteil aus dem Jahre 1916. So deutlich gingen die Richter in keinem anderen der überlieferten Urteile da- 1023 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 22.7.1915 gegen Georg K. und Albert M., StAL E 350a, Bü 856. 1024 Vgl. § 259 RStGB. <?page no="301"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 302 rauf ein. Den geforderten Wissensnachweis brachten die Richter folgendermaßen vor: „Nun ist es schon in normalen Zeiten bei Leuten, die in kleinen Verhältnissen leben, nicht üblich, auf einmal Garn für mindestens 1 Dutzend Strümpfe anzuschaffen. Im Laufe des Kriegs aber ist der Garnpreis erheblich gestiegen und infolge des militärischen Bedarfs ist der Erwerb durch Privatpersonen wohl überhaupt erschwert und beschränkt. Gegenwärtig, wo schon die zum Leben nötigen Nahrungsmittel eine erhebliche Preissteigerung erfahren haben, kann die Angeklagte Anna Sch. unmöglich angenommen haben, dass ihr Sohn so viel Geld übrig habe, um eine solche Menge Garn anzuschaffen, wo doch sein Bedarf mit weit weniger gedeckt gewesen wäre. Das Gericht war hienach überzeugt, dass die Angeklagte Anna Sch. mit der Möglichkeit gerechnet hat, dass ihr Sohn das Garn durch eine strafbare Handlung erlangt haben könnte.“ 1025 Im Vergleich zu dieser ausführlichen Darstellung hebt sich ein weiteres Beispiel durch seine Komprimiertheit ab. In einem Verfahren, bei dem es um zahlreiche Schuhdiebstähle aus einer Fabrik, in der diese zur Ausbesserung lagerten - es handelte sich um Eigentum des Heeres -, ging, war ebenfalls die Frage des Mitwissens strittig. Die Richter erörterten diese Frage und kamen zunächst zu dem Schluss, „daß an sich gegenwärtig jeder Erwerber von Schuhen, der nicht mit Bezugsschein einkauft, zumal wenn es sich offensichtlich um Militärschuhe handelt - das ist zugestandenermaßen keinem der Angeklagten entgangen - Bedenken kommen müssen, wie der Veräußerer zu den Schuhen gelangt ist.“ 1026 Hier versteckt sich die besondere Situation des Krieges hinter dem unscheinbaren Adverb „gegenwärtig“. Die Richter gingen also implizit davon aus, dass es eine spezifische, durch den Krieg hervorgerufene und von allen so erfahrene Güterknappheit gab, die nicht mehr näher erläutert werden musste. So konnte der zaghafte Hinweis auf eine besondere „gegenwärtige Situation“ eine hinreichende Erklärung für die Sanktionierung der Angeklagten bieten. Durch den Rekurs auf die „gegenwärtigen Verhältnisse“ hielt der Mangel des Krieges Einzug ins Juristendeutsch. Trotzdem gingen die Richter in diesem Falle davon aus, dass bei dem jugendlichen Alter der wegen Hehlerei ange- 1025 Urteil (maschinenschriftliche Abschrift) der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.10.1916 gegen Johann Adolf W. u. a., StAL E 350a, Bü 901. 1026 Urteil der Strafkammer des Königlichen Landgerichtes Ulm vom 25.4.1918 gegen Eugen H. u. a., StAL E 350a, Bü 1078. <?page no="302"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 303 klagten Jugendlichen nicht automatisch diese Logik zu Ende gedacht werden konnte. Diejenigen, bei denen keine weiteren Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass sie von den Schuhdiebstählen gewusst hatten, wurden daher vom Vorwurf der Hehlerei freigesprochen. 1027 Hier unterschieden die Richter demnach zwischen den Wissensmöglichkeiten von Erwachsenen und Jugendlichen. Darüber hinaus sind die Unterschiede in diesen zwei Zitaten sehr deutlich. Im ersten Fall wird sehr detailliert auf die Güterknappheit des Krieges und ihre Auswirkungen eingegangen, im zweiten Zitat fällt der Nachweis des Wissens um den unrechtmäßigen Erwerb wesentlich kürzer aus. Diese Unterschiede sollen nicht überbewertet werden, da sie jeweils vom individuellen Stil des Verfassers der Urteile herrühren können. In den beiden Fällen waren die Vorsitzenden Richter nicht identisch, von den fünf anderen Richtern war nur einer an beiden Urteilen beteiligt. Allerdings lagen zwischen dem ersten Urteil aus dem Herbst 1916 und dem zweiten Urteil, gefällt im Frühjahr 1918, anderthalb Jahre Kriegszustand. In dieser Zeit verschlechterte sich die Versorgungslage stetig, ganz besonders evident im „Kohlrübenwinter“ 1916/ 17. Es ist also durchaus plausibel anzunehmen, dass 1918 die Notwendigkeit, die Knappheit genauer darzustellen, um legitime strafrechtliche Konsequenzen zu ziehen, durch die Alltagserfahrung überholt worden war. Gleiches gilt für die oben geschilderte Erwähnung einer strafmildernden Notlage ohne Bezug zum Krieg, um die aufgestellte These wieder aufzugreifen. Auch diese Urteile ergingen bis auf eine Ausnahme in den Jahren 1917 und 1918. Demgegenüber stehen die Fälle aus dem Jahr 1916, bei denen zwischen der Not- und der Kriegssituation ein Zusammenhang hergestellt wird. Dadurch zeigt sich deutlich, dass die Dauer des Krieges den Begründungsaufwand der Richter beeinflusste. Bei erwachsenen Mitangeklagten hegten die Richter Zweifel bezüglich des Wissens um gestohlene Waren nur, wenn besondere Umstände dies vermuten ließen. Dazu zählte, wenn der vermeintliche Hehler den Anbieter von Diebesbeute nicht kannte. Somit konnte er nicht unbedingt Rückschlüsse darüber ziehen, ob der Anbieter die Möglichkeit gehabt hätte, legal an bestimmte Güter zu gelangen. Dieses „Im Zweifel für den Angeklagten“ konnte sogar dann Bestand haben, wenn es sich bei der angenommenen Ware um Unterwäsche für das Militär handelte, da bei diesen die geplante Verwendung durch das Heer weniger ins Auge stach als bei anderen militärischen Kleidungsstücken wie etwa bei Militärschuhen. Ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten des wegen Hehlerei Angeklagten war aber in diesem 1027 Vgl. ebd. <?page no="303"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 304 speziellen Fall auch die Tatsache, dass er den handelsüblichen Preis und keinen günstigeren „Illegalentarif“ für die Ware gezahlt hatte. 1028 In einem weiteren Verfahren ging es um Messingdiebstähle aus einer Fabrik. Die Beute der drei Jungen hatten ein Altmetallhändler und seine Frau angenommen. Den Händler überführten die Richter unter anderem mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Situation, denn „die große Menge des von den damals noch nicht 17 Jahre alten Burschen ihm trotz der amtlichen Beschlagnahme zum Kauf angebotenen Messings mußten den L. zu der Überzeugung führen, daß das Metall aus der Fabrik stammte, in der die Burschen beschäftigt waren, u. daß es dort von ihnen gestohlen worden war.“ 1029 Bei Hehlerei von Leder, ein während des Krieges gleichfalls sehr kostbares und knappes Gut, ließen es die Richter auch nicht zu, dass Angeklagte sich trotz der Knappheit zu ahnungs- und damit schuldlosen Abnehmern stilisierten. 1030 Angesichts der sich immer mehr verschlimmernden Lederknappheit war dies eine nachvollziehbare Begründung des Gerichtes. In all diesen Fällen kam der Knappheit, welche durch die Kriegsbewirtschaftung hervorgerufen worden war, nur eine Bedeutung für die kognitiven Erkenntnisse der Angeklagten zu. Der Mangel war demnach eine Erfahrung, die Wissen schuf. Die Richter schlugen in diesen Fällen den Bogen nicht dahin, dass die Knappheit auch als Motiv oder Auslöser für Straftaten anzusehen war. Bei erst im Krieg erlassenen Strafbestimmungen nutzten Angeklagte die Möglichkeit, zu ihrer Verteidigung vorzubringen, von den noch nicht lange geltenden Bestimmungen nichts gewusst zu haben. Auf diese Weise versuchte ein Mädchen, der das Gericht unerlaubten Verkehr mit einem russischen Kriegsgefangenen zur Last legte, der Verurteilung zu entkommen. Doch auch in solchen Fällen ging das Gericht davon aus, dass die Kriegssituation Wissen schuf: „In der langen Kriegszeit sind solche Verfehlungen von Frauenspersonen mit Kriegsgefangenen schon so häufig, auch im Ehinger Bezirk, vorgekommen und zum Gegenstand gerichtlicher Aburteilung und öffentlicher Erörterung gemacht 1028 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 12.9.1918 gegen Emil S. u. a., StAL E 350a, Bü 1137. 1029 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 22.5.1916 gegen Eugen G. u. a. StAL E 350a, Bü 886. 1030 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 16.10.1916 gegen Georg B. u. a., StAL E 350a, Bü 903. <?page no="304"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 305 worden, daß das Gericht, obwohl selbstverständlich ein Nachweis der einzelnen Umstände fast niemals möglich ist, hier wie in anderen Fällen unbedenklich angenommen hat daß das Verbot jedermann d.h. jedem vernünftigen Erwachsenem bekannt ist.“ 1031 Hier vereinfachten die von vielen geteilten Kriegserfahrungen die richterliche Beweisführung, da sie Einzelnachweise überflüssige machten - vorausgesetzt, es handelte sich um „vernünftige“ Erwachsene. Zweifel daran hatten die Juristen in diesem Falle nicht, obwohl die vor ihnen stehende Angeklagte noch gar nicht volljährig war. Paradoxerweise erkannten die Richter ihr mildernde Umstände zu, da - entsprechend einer biologisch-soziologischen Ursachenerörterung - das Zusammenleben mit Kriegsgefangenen für „das junge noch wenig widerstandsfähige Mädchen eine große Verführung in sich schloß“. 1032 Nicht immer waren die Urteile in sich stringent, für unterschiedliche Zwecke wurden auch wenig deckungsgleiche Argumente bemüht. 5. „Niedere Gesinnung“ - Die Bewertung einzelner Deliktarten durch die Richter Neben der Ursachenerörterung und dem Nachweis von strafrechtlich relevantem Wissen bildet der moralisierende Blick der Richter auf verschiedene Delikte einen letzten Komplex, der einen wertenden Bezug auf die durch den Krieg geschaffene Situation herstellt. So beurteilten die Richter das Stehlen von Feldpost als besonders verwerfliche Art des Diebstahls. 1033 Dem Stehlen von Feldpostpäckchen durch bei der Post oder der Bahn beschäftigte Jugendliche lag aus Sicht der Straftäter eine bestechende Logik zugrunde. Bei dieser Art Post, die zumeist von Verwandten an ihre an der Front stehenden Angehörigen gesendet wurde, war der Inhalt leicht zu erraten: Die Verwandten 1031 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.7.1917 gegen Karoline T., StAL E 350a, Bü 2583. 1032 Vgl. ebd. 1033 Hier sei ein Ausblick auf die nationalsozialistische Strafrechtspraxis während des Zweiten Weltkrieges gegeben: Nun wurden Feldpostdiebstähle nicht nur als besonders verwerflich, sondern entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie als „volksschädlich“ eingestuft. Das Reichsjustizministerium wies die Staatsanwaltschaften an, sie gemäß der Volksschädlingsverordnung von 1939 anzuklagen. Die nach dieser Verordnung zu verhängenden Sanktionen waren Zuchthaus und Todesstrafe, also Strafarten, von denen Jugendliche eigentlich ausgenommen waren. Nicht immer kamen die Gerichte bei der Aburteilung dieser Anklage nach, sondern verweigerten die Anwendung der Volksschädlingsverordnung, vgl. Wolff, Jugendliche vor Gericht, S. 280. <?page no="305"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 306 sandten Nahrungs- und Genussmittel sowie kleinere Kleidungsstücke, etwa wollene Socken, ins Feld. 1034 Damit versuchten sie den Frontalltag der Soldaten zu erleichtern. Denn die Briefe von der Front verdeutlichten, wie entbehrungsreich das Leben dort war. 1035 Die Diebe konnten also davon ausgehen, dass die Päckchen in der Regel auch für sie verwertbare Dinge enthielten, gerade die knappen Genussmittel übten dabei einen besonderen Reiz aus. In drei Fällen, einem Diebstahl zusammentreffend mit Amtsunterschlagung und zwei weiteren Amtsvergehen, begangen von vereidigten Postaushelfern, kommt diese moralische Verurteilung bestimmter Delikte seitens der Richter zum Ausdruck. 1036 Einem der Postaushelfer bescheinigten sie eine „niedrige Gesinnung“. 1037 Um Nachahmungstaten zu vermeiden sahen es die Richter zudem als geboten an, durch die Strafzumessung eine abschreckende Wirkung zu erzielen. 1038 Denn neben der geschilderten persönlichen Bedeutung der Feldpost für Absender und Adressaten kam ihnen auch eine „nationale“ Bedeutung zu. Die Feldpostsendungen hatten die implizierte Funktion, die Moral der Truppe aufrecht zu erhalten und das Band zwischen Front und Heimat zu bewahren und zu stärken. 1039 Damit war der Diebstahl von Feldpost nicht nur die bloße Wegnahme fremden Eigentums, sondern ein Angriff auf die Kampfmoral der Krieger an der Front. Eine ähnliche Annahme lag zugrunde, wenn die Richter es bei ihrer Strafzumessung als straferhöhend betrachteten, dass sich „in frecher Weise […] an Soldatengut“ vergriffen worden sei. 1040 Hatten sich Angeklagte Eigentum des Heeres wie Ausrüstungsgegenstände oder Eigentum von einzelnen Solda- 1034 Natürlich umfasst der Begriff Feldpost auch die Postsendungen aller Art, welche die Soldaten von der Front in die Heimat schickten. In den Urteilen ist damit allerdings die oben genannte Art Post gemeint. 1035 Vgl. dazu u. a. Ziemann, Front und Heimat, S. 186 f. 1036 Vgl. Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; Adolf B., Bü 4; und Florian N., Bü 998; alle StAL E 350a. 1037 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.8.1917 gegen Florian N., StAL E 350a, Bü 998. 1038 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 6.3.1916 gegen Michael Sch., StAL E 350a, Bü 2. 1039 Nikolaus Buschmann schreibt diese Funktion den so genannten „Liebesgaben“ zu, also organisierten Feldpostsendungen an die Frontsoldaten, die sich aus gesammelten Dingen zusammensetzten, vgl. ders., Der verschwiegene Krieg, S. 211 f. Man kann meines Erachtens aber bei den Feldpostpäckchen der Angehörigen in diesem Interpretationszusammenhang durchaus von privaten Liebesgaben sprechen, die auf individueller Ebene eine ähnliche Bedeutung hatten, wenn sie auch nicht kollektiv organisiert und konzipiert waren. 1040 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 27.5.1915 gegen Albert M. u. a., StAL E 350a, Bü 860. Siehe auch Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.2.1917 gegen Wilhelm Johannes Daniel W., StAL E 350a, Bü 929. <?page no="306"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 307 ten illegal angeeignet, werteten die Richter dies als strafverschärfenden Faktor. Dem militärischen Eigentum kam also eine Sonderstellung in Zeiten des Krieges zu, weil hier Diebstähle negativen Einfluss auf die militärische Stärke und Leistungskraft des deutschen Heeres haben konnten. Dies tritt ganz offensichtlich aus einem weiteren Urteil hervor. Dort wird explizit erwähnt, dass der Diebstahl von Heeresgut als solcher straferhöhend wirke. 1041 Die militärische Schlagkraft der Armee war demnach für die Richter ein besonders schützenswertes Rechtsgut, dessen Verletzung sie mit besonderer Strenge bei der Strafzumessung ahndeten. Dadurch konnten sie ihren Beitrag zum „Gelingen“ des Krieges leisten. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in den Bestimmungen des Paragraphen 243, der den Diebstahl in erschwerter Form regelte, die Wegnahme von militärischen Ausrüstungsgegenständen - im Gegensatz zu sakralen Gegenständen - nicht angeführt wurde. 1042 Diesen Strafschärfungsgrund sprachen die Richter demnach eigenständig aus. Darin spiegelt sich das Selbstverständnis der Richter im Krieg: Während ihre eingezogenen Kollegen im Feld ihre Pflichten erfüllen, so müssen auch sie „Pflichterfüllung bis zum Aeußersten“ an der Heimatfront praktizieren, wenn die Richter zu Hause auch „in anderer Weise als sie dem Vaterlande dienen“. 1043 Eine konsequente Anwendung der Gesetze zur Aufrechterhaltung der Ordnung gehörte zu diesen Pflichten. Die Richter stammten, wie gezeigt, aus dem Establishment des Kaiserreiches und vertraten demnach auch die hier vorherrschenden Ideen - während des Krieges unter anderem die Notwendigkeit, für den Sieg seine vaterländische Aufgabe, gleich ob unmittelbar im Kampf oder im zivilen Leben, zu erfüllen. Nicht nur militärische Ausrüstungsgegenstände betrachtete die Justiz während des Krieges als besonders schützenswertes Rechtsgut und sanktionierte ihren Diebstahl deshalb streng. Auch das Zuteilungssystem, das den Bedarf der Bevölkerung an Grundnahrungsmitteln sicherstellen sollte, bedurfte besonderen Schutzes. Davon zeugten auch die zahlreichen Verordnungen, die auf Seite der Produzenten ansetzten, um gleiche Bedingungen zu schaffen (Höchstpreisverordnungen u. ä.). Denn eine massenhafte aktive Infragestellung des Systems, von Seiten der Produzenten wie der Verbraucher, hätte die Heimatfront kollabieren lassen und so eine Weiterführung des Krieges - vorzeitig - unmöglich gemacht. Eine systemerhaltende Funktion kam dabei 1041 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 12.9.1918 gegen Emil S. u. a. StAL E 350a, Bü 1137. 1042 Vgl. § 243 RStGB. 1043 Vgl. Riß, Richter und Krieg, S. 722. In diese patriotische Grundstimmung fügt es sich ein, dass die Deutsche Richterzeitung ihr Schriftbild 1916 vom bis dato verwendeten römischen Schrifttypus auf Fraktur umstellte. <?page no="307"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 308 auch den Strafrichtern zu, wenn bei einem Verstoß gegen die Kriegsbewirtschaftung strafrechtliche Normen verletzt worden waren. Wer Lebensmittelzuteilungsurkunden fälschte, musste wie ein siebzehnjähriger Stationsarbeiter damit rechnen, dass ihm dies straferhöhend angerechnet wurde, da „derartige Urkunden im Interesse der Allgemeinheit eines besonderen strafrechtlichen Schutzes“ bedurften. 1044 Das Schutzinteresse ging also über den ohnehin hoch angesiedelten Schutzwert einer öffentlichen Urkunde, wie er in Paragraph 268 festgeschrieben wurde, hinaus. Gegen deutsche Interessen gerichtet war in den Augen der Richter auch das Bestehlen von Kriegsgefangenen. Auch hier spiegelte sich ihrer Ansicht nach eine niedere Gesinnung. Dies werteten sie als strafverschärfend, denn, so heißt es im entsprechenden Urteil, es „stellt die Achtung vor unserem Volk bloß.“ 1045 Die Richter waren offenbar um das Ansehen der deutschen Nation bei den momentanen Kriegsgegnern besorgt und um strafrechtliche Imagepflege bemüht. Das selbst gepflegte Bild einer Kulturnation, die einen aufgezwungenen Krieg gegen moralisch unterlegene Gegner zu führen hatte, konnte durch solche Straftaten Schaden nehmen, falls der bestohlene Gefangene nach seiner Freilassung davon in der Heimat berichten würde. 1046 Zudem reizten die Krieg führenden Nationen jeden Missstand auf der Gegenseite im Umgang mit Kriegsgefangenen propagandistisch aus, um die Gegner als „barbarisch“ zu diffamieren und demgegenüber zu zeigen, dass man selbst korrekt mit gefangenen feindlichen Kombattanten umging. 1047 6. Andere Erklärungen jugendlicher Kriminalität in den Urteilen In der überwiegenden Mehrzahl sahen die Richter den Kriegszustand und die durch ihn veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht als ursächlich für die Delinquenz der jugendlichen Angeklagten an. Die Kriegssituation fand zwar über die Ursachenforschung hinaus - etwa als Bereich neuen Alltagswissens und in der Bewertung bestimmter Delikte - Eingang in die Urteilspraxis. Es stellt sich an dieser Stelle allerdings unweigerlich die 1044 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.8.1918 gegen Leonhard B., StAL E 350a, Bü 496. 1045 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 15.3.1917 gegen Christian H., StAL E 350a, Bü 938. In abgeschwächter Form siehe das Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Bernhard W., StAL E 350a, Bü 1066. 1046 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 185 f. 1047 Vgl. Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 13 ff., 353. <?page no="308"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 309 Frage, welche Erklärungen die Richter darüber hinaus zur Beurteilung der Straftaten heranzogen. a. Explizit kriminologisch-biologistische Annahmen in den Urteilen Rein biologistische Erklärungen, die eindeutig Anleihen bei der zeitgenössischen kriminologischen Terminologie nahmen, findet man in den Urteilen selten. In einigen Fällen sind diese zudem durch Gerichtsgutachter eingebracht worden. 1048 Dies sollte jedoch nicht überbewertet werden, da insgesamt unterschiedliche Personen wie Helferinnen und Helfer der Jugendgerichtshilfe oder Lehrer als Zeugen Beschreibungen der jugendlichen Angeklagten in den Prozess einbrachten. In den seltensten Fällen gründete sich die Einschätzung der Delinquentinnen und Delinquenten ausschließlich auf dem Eindruck, den die Richter unmittelbar gewonnen hatten. Entscheidend ist daher an dieser Stelle nicht so sehr, woher die Deutungsmuster kamen, sondern dass die Richter sie in ihre Urteile integrierten. Die Richter waren ihrer unabhängigen Stellung entsprechend hier sehr frei. Eine Adaption von Erklärungen seitens der Richter und die durch sie vorgenommene Integration in die Rechtssprechung bedeutet, dass die Richter diese Erklärungen als plausibel annahmen und sich zu eigen machten. Konkret werden in den Urteilen unterschiedliche Sichtweisen der zeitgenössischen Kriminologie übernommen. Die Attribute „geistig minderwertig“ und „krankhaft entartet“ verwendeten die Richter für drei Angeklagte, davon war eine weiblich. 1049 Eine „krankhafte Anlage“ respektive „erbliche Belastung“ führten die Richter zweimal an. 1050 Außerdem referierten die Richter bei der erwachsenen Mitangeklagten einer jugendlichen Hehlerin das kriminologische Konzept der „Schwangerschaftsgelüste“. 1051 Dazu gehörte nach zeitgenössischer Sichtweise unter anderem auch ein irrationaler Drang, Diebstähle zu begehen, auf den die Richter in diesem Fall anspielten. 1052 Zudem 1048 Zur Rolle von Gerichtsgutachtern siehe Punkt V.7. 1049 Vgl. Urteile gegen Hermann R., Bü 858; Mathäus E., Bü 965; und Marie W. u. a. 779; alle StAL E 350a. 1050 Vgl. Urteile gegen Anna Maria W., Bü 778; und Leonhard H., Bü 870; beide StAL E 350a. 1051 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 2.9.1918 gegen Franziska S. und Marie S., StAL E 350a, Bü 1134. 1052 Vgl. Uhl, Verbrecherisches Weib, S. 79 ff. <?page no="309"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 310 beziehen sie sich in drei Fällen explizit auf den Typus des „Gewohnheitsverbrechers“. 1053 Bei einer der beiden Brandstifterinnen, von denen schon die Rede war, gingen die Richter davon aus, sie leide an „einer gewissen Schwäche des sittlichen Empfindens, wahrscheinlich auf ererbter Grundlage“ 1054 , da ihr Vater Trinker war. Hier hatte das Gericht die Einschätzung eines externen Sachverständigen übernommen, der ihre Zurechnungsfähigkeit gemäß Paragraph 51 des Reichsstrafgesetzbuches zu prüfen hatte. Es handelt sich um einen der seltenen Fälle, in denen die Richter der Strafkammer in Ulm externe psychiatrische Gutachter zu Rate zogen. Es ist bezeichnend, dass in diesem Falle von ererbten Mängeln gesprochen wurde. Wenn die Richter bei der Beschreibung der persönlichen Verhältnisse der Angeklagten darauf hinwiesen, dass in der Familie Alkoholismus auftrete, so darf dies nicht lediglich als ein Hinweis auf problematische innerfamiliäre Situationen gelesen werden - auch nicht, wenn kein weiterer Rekurs auf erbliche Schädigungen erfolgte. Vielmehr galt Alkoholismus nicht nur als moralisches Übel, sondern als Krankheit, die durch Vererbung an die Nachkommenschaft weitergegeben werden konnte. 1055 Alkoholkonsum wurde zudem eine besonders kriminogene Wirkung zugesprochen, gerade im Hinblick auf Gewaltverbrechen. 1056 Wenn diese beunruhigenden Möglichkeiten scheinbar in einem Jugendlichen verborgen schlummerten und sich gewisse „kriminelle“ Tendenzen schon bemerkbar gemacht hatten, ließ dies für die zukünftige Entwicklung der betreffenden Heranwachsenden nichts Positives erwarten. Sie drohten, zu einer latenten Bedrohung ihrer Mitmenschen zu werden. Bei einem des Diebstahls angeklagten Jungen ließen die Richter ebenfalls in ihr Urteil einfließen, er sei „offenbar erblich belastet“ 1057 . Dies schlossen sie aus der Tatsache, dass der Vater und die Großmutter Trinker gewesen seien, seine „leichtsinnige[n]“ Mutter hätte außer ihm noch zahlreiche ande- 1053 Vgl. Urteile gegen Mathäus E., Bü 917; und Ewald O., Bü 2106; sowie Entscheidungsgründe zum Urteil gegen Peter W. und Anton G., Bü 1052; alle StAL E 350a. 1054 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 8.5.1916 gegen Anna Maria W., StAL E 350a, Bü 778. 1055 Vgl. Giles, Drinking and Crime, S. 474 f. Diese Sichtweise führte in letzter Konsequenz schon in der Frühphase des NS-Regimes zur Aufnahme von schwerem Alkoholismus in den Katalog der „Erbkrankheiten“, welche im Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 die Sterilisierung der Betroffenen rechtfertigte, vgl. dazu Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 306. 1056 Vgl. Giles, Drinking and Crime. 1057 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 20.12.1915 gegen Leonhard H., StAL E 350a, Bü 870. <?page no="310"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 311 re uneheliche Kinder. 1058 Die Richter verfolgten die angenommene Vererbungskette des Alkoholismus zwei Generationen zurück. Allerdings blieb der Bezug auf eine erbliche Belastung vager als im Falle der externen Begutachtung der Brandstifterin: Das Gericht legte sich nicht fest, ob er nur belastet war oder ob schon „Schädigungen“ durch diese Vorbelastung aufgetreten seien. In diesem Urteil bezogen sich die Richter nicht auf einen externen Sachverständigen. Auch für die Verhandlung wurden keine weiteren Zeugen oder Sachverständige geladen. 1059 Die Schlussfolgerung, die erbliche Belastung des Jungen resultiere aus der Trunksucht der Vorgängergenerationen, zogen die Juristen demnach eigenständig. Hier offenbart sich, wie souverän die Juristen mit den kriminologischen Erklärungsmustern ihrer Zeitgenossen operieren konnten, wenn sie wollten. Denn dieser Zusammenhang von Trunksucht und Erbkrankheiten entsprach exakt den gängigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. 1060 Weitere Urteile, in denen auf die Vererbungslehre Bezug genommen wird, sind nicht überliefert. Man kann daraus schlussfolgern, dass vererbungstheoretische Verbrechensmodelle nur eine marginale Rolle für die Richter in ihrer alltäglichen Praxis besaßen. Trotzdem waren sie ihnen geläufig und sie wurden in ihrer Anwendung dieser Erklärungsmuster von externer Expertise bestätigt. Die Unterscheidung bei Kriminalitätsursachen zwischen „Anlage“ und „Umwelt“ war den Richtern der Strafkammer durchaus bekannt. Das zeigt auch ein weiteres Beispiel. Bei der Verurteilung zweier Mädchen wegen Diebstahls stellten sie fest, dass die Straftaten „mehr die Folge unguter Verhältnisse und mangelhafter Erziehung, als schlechter Charakteranlage“ sei. 1061 Die Richter stellten hier eigenständig Deutungsmuster gegenüber, welche den Prototypen „Anlage“ und „Umwelt“ zugeordnet werden können, und legten wieder eine gewisse Souveränität im Umgang mit kriminologischen Konzepten an den Tag. Bei Fragen der Vererbung nahmen die Richter Anleihen bei den auf Cesare Lombroso gegründeten Vorstellungen vom „geborenen Verbrecher“. Zwar übernahmen deutsche Kriminologen nicht einschränkungslos dessen Sichtweise. Mariacarla Gadebusch Bondio charakterisiert den deutschen Umgang mit Lombrosos Theorien als eine zwar formale Zurückweisung, 1058 Vgl. ebd. 1059 Vgl. Ladung der Kgl. Staatsanwaltschaft vom 17.12.1915 für die Hauptverhandlung gegen Leonhard H., StAL E 350a, Bü 870. 1060 Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 48 f. 1061 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 7.5.1917 gegen Hedwig W. und Antonia M., StAL E 350a, Bü 960. <?page no="311"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 312 allerdings verbunden mit einer grundsätzlichen Angleichung und Umdeutung wesentlicher Teile der Theorie des „geborenen Verbrechers“. 1062 Bis auf Hans Kurella fanden sich keine Anhänger der Atavismus-Theorie Lombrosos. 1063 Lombroso ging davon aus, Verbrecher stünden evolutionär auf einer tieferen Entwicklungsstufe als andere Menschen und seien demnach „primitiver“. 1064 Allerdings vertraten auch deutsche Kriminologen die These, es gebe „geborene Verbrecher“ - nur galten sie nicht als evolutionär zurückgeblieben. Der einflussreichste deutsche Vertreter der Theorie vom „geborenen Verbrecher“ während des Kaiserreichs war Emil Kraepelin, mithin einer der einflussreichsten deutschen Kriminologen. 1065 Das Konzept der Minderwertigkeit war allerdings weder im eugenischen oder kriminologischen Diskurs noch in der Adaption vor Gericht auf ererbte Minderwertigkeit beschränkt, wie bereits dargelegt wurde. „Minderwertigkeit“ war ein äußerst dehnbarer Begriff, unter den zahlreiche Krankheiten, aber auch viel weiter gehend diverse unerwünschte Verhaltensweisen wie beispielsweise Kriminalität subsumiert werden konnten. 1066 Richard F. Wetzell unterscheidet für die Kriminologie zwei Erklärungstypen. Auf der einen Seite sieht er die Vertreter des „Kraepelin-Paradigmas“. Diese sich um den Psychiater Emil Kraepelin gruppierenden Kriminologen waren der Ansicht, es gebe Verbrecher, die aufgrund eines primär endogenen Defektes zu ihren Taten getrieben würden. Demgegenüber vertrat eine zweite Gruppe von Kriminologen in Anlehnung an den Kraepelin-Schüler Gustav Aschaffenburg das „Aschaffenburg-Paradigma“. Sie gingen davon aus, dass persönliche Defekte durch äußere Umstände verursacht wurden. 1067 In beiden Fällen handelte es sich um „minderwertige“ Personen. Auch die Ulmer Strafrichter nahmen bei zwei des Diebstahls angeklagten Jungen an, dass sie „geistig minderwertig“ seien. Auch dieses Mal brachte diese Bewertung in einem Fall ein Gerichtsgutachter ein. 1068 Interessanter liegt der andere, chronologisch der frühere Fall. Hier wird weder im Urteil ein Gutachter erwähnt, noch lud die Staatsanwaltschaft einen Sachverständi- 1062 Vgl. Gadebusch Bondio, Atavistic to Inferior, S. 184. 1063 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 53. 1064 Vgl. ebd., S. 29. 1065 Vgl. ebd., S. 59. 1066 Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 154. 1067 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 69. 1068 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.5.1917 gegen Mathäus E., StAL E 350a, Bü 965. Siehe zu diesem Fall ausführlich S. 160 f. <?page no="312"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 313 gen oder sonstige Zeugen zur Hauptverhandlung. 1069 Der sechzehnjährige Schmiedlehrling Hermann R. hinterließ demnach bei den Richtern selbst den Eindruck, dass er „offenbar ein geistig minderwertiger Mensch“ sei, was ihm strafmildernd angerechnet wurde. 1070 Erneut zeigt sich der eigenständige Umgang mit kriminologischem Gedankengut seitens der Richter. Diese biologistischen Zuschreibungen hatten für die Angeklagten zwar negative Konsequenzen, sie wurden pathologisiert. Auch wenn sie selbst die Pathologisierung nicht erkannten oder nicht verstanden - zumindest mittelbar waren sie doch nicht selten geschädigt, nicht weil sie sich pathologisiert fühlten, sondern weil die Pathologisierung Auswirkungen auf ihr Leben hatte. Strafrechtlich galt das Gegenteil. Biologistische Schwächen konnten, wie gezeigt, strafmildernde Berücksichtigung bei der Abwägung des Strafmaßes finden. Daran wird deutlich, dass die Richter in diesen Fällen „krankhafte“ Charakterzüge zu erkennen glaubten, welche die Verantwortung der Angeklagten für ihre Taten verringerte. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Die strafrechtliche Bewertung der Täterinnen und Täter samt den ihnen zur Last gelegten Taten auf der einen sowie die ebenfalls durch die Richter vorgenommene persönliche Bewertung auf der anderen Seite waren nicht deckungsgleich. Eine persönlich stigmatisierende Abwertung bedeutete nicht notwendigerweise eine rigorose strafrichterliche Sanktionierung. Von Seiten der Psychiater, welche als Sachverständige - wo für nötig erachtet - über die Zurechnungsfähigkeit zu entscheiden hatten, galt die Möglichkeit, mildernde Umstände anzuerkennen, als Notlösung. 1071 Die Angeklagten wurden zwar nicht im Sinne des Paragraphen 51 für schuldunfähig erklärt. Wenn allerdings Zeichen krankhafter Entartung aus Sicht der Gutachter und hier auch der Richter vorlagen, nutzten die Richter den ihnen zustehenden Spielraum, um eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit insofern zuzulassen, als die Angeklagten aus diesen Gründen milder sanktioniert wurden. Sie signalisierten damit Übereinstimmung mit der herrschenden psychiatrischen Lehre, wonach hinsichtlich der Zustände „Krankheit“ und damit unzurechnungsfähig und „Gesundheit“ und damit zurechnungsfähig keine klare bipolare Trennung möglich war. Vielmehr oszillierten verschiedene Schattierungen zwischen „krank“ und „gesund“, also unzurechnungsfähig und zurechnungsfähig, die nicht strikt einer Seite zugeschlagen werden konn- 1069 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 24.6.1915 gegen Hermann R.; sowie Ladung der Kgl. Staatsanwaltschaft vom 17.6.1915 für die Hauptverhandlung gegen Hermann R.,; beide Dokumente StAL E 350a, Bü 858. 1070 Vgl. Urteil gegen Hermann R., StAL E 350a, Bü 858. 1071 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 142. <?page no="313"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 314 ten. Vor diesem Hintergrund erfolgte das strafrechtsreformerische Plädoyer für die Einführung der bedingten Zurechnungsfähigkeit. 1072 Da dies den Juristen in der Praxis jedoch nicht zur Verfügung stand, bemühten sie sich, dieses Konzept so weit wie möglich innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens anzuwenden. Hier entfernten sie sich jedoch sehr weit von dem ursprünglichen psychiatrischen Konzept. Denn vermindert zurechnungsfähige, „minderwertige“ Verbrecher galten der Kriminologie zwar als weniger verantwortlich, schienen dafür aber gefährlicher als „normale“ Verbrecher. 1073 Die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit machte demnach kriminalpolitisch als Schutz der Gesellschaft vor Verbrechen nur Sinn, wenn der ursprüngliche Zusammenhang zwischen - strafrechtlich verminderter - Schuld auf der einen und - milder - Strafzumessung auf der anderen Seite aufgegeben wurde. Hier war es vielmehr notwendig, andere Formen der Bestrafung und Sanktion in den zur Verfügung stehenden Maßnahmenkatalog zu integrieren. Solange die Bestrafung jedoch auf die Schuld des Individuums hin abgestimmt war, war eine härtere Bestrafung von nicht vollständig schuldfähigen Verbrechern rechtsdogmatisch eine Unmöglichkeit. 1074 Erst seit den 1890er-Jahren im Zuge erster Erfolge der „modernen“ Strafrechtsschule und der von ihr verfochtenen „Schutzstrafe“ konnte man sich vorstellen, vermindert zurechnungsfähige Verbrecher unbefristet und unabhängig von ihrer individuellen Schuld zum Schutz der Gesellschaft zu verwahren. 1075 Ganz aus dem weiterhin bestehenden Paradox des geltenden Strafrechtes heraus schöpften die Ulmer Strafrichter ihre Strafen. Die Juristen integrierten die ihnen von Psychiatern präsentierte verminderte Schuldfähigkeit der Logik des herrschenden Strafrechts in ihre Rechtspraxis und verkehrten auf diesem Weg die medizinische Intention in ihr genaues Gegenteil. 1076 Die Ulmer Justizjuristen argumentierten also unter anderem mit Hilfe neuer kriminologischer Theorien, wenn es um die Erklärung der Straffälligkeit jugendlicher Personen ging. Die Möglichkeit einer praktischen Nutzbarmachung dieser Erkenntnisse für die Sanktionierung war indes zur Zeit des Kaiserreiches noch beschränkt. Es gab zwar neue Möglichkeiten, wie die bedingte Begnadigung und die damit verbundenen Auflagen. Wenn es nicht zur Erklärung von Schuldunfähigkeit gemäß Paragraph 51 des Reichsstrafgesetzbuches kam - dies geschah von 1904 bis 1918 nur einmal im Jahr 1905 - 1072 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 363 f. 1073 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 79; sowie Becker, Verderbnis, S. 277 f. 1074 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 365. Siehe auch Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 142. 1075 Vgl. Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 142. 1076 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 365. <?page no="314"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 315 und so die Option einer Einweisung in eine psychiatrische Anstalt eröffnet wurde, konnte es zu absurden Diskrepanzen zwischen dem Urteil der Richter und dem weiteren Vorgehen der Behörden kommen. So hatte das Justizministerium für die von einem gerichtlich beauftragten Sachverständigen als wahrscheinlich „krankhaft entartet“, allerdings schuldfähig etikettierte Marie W. eine Auflage mit ihrer bedingten Begnadigung verknüpft. Der Vater des Mädchens solle sie so unterbringen, dass die „ihre sittliche Entwicklung in hohem Grade gefährdende Art regelmässiger Benützung der Eisenbahn vermieden wird.“ 1077 Angesichts eines „krankhaft entarteten“ Mädchens erscheint dies als ein recht zahnloser Versuch, disziplinierend auf ihre weitere Entwicklung einzuwirken. Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen den theoretischen Erklärungen, die auch in der Rechtsprechung angekommen waren, und ihrer weiteren praktischen Umsetzung. Schließlich bezogen sich die Ulmer Strafrichter auf den kriminologischen Typus des so genannten „Gewohnheitsverbrechers“, welcher von Juristen wie Franz von Liszt - und auch durch die deutsche Landessektion der IKV - oder Psychiatern wie Gustav Aschaffenburg benannt wurde. Für letzteren waren Gewohnheitsverbrecher Menschen, die aufgrund degenerativer Schwächen wieder und wieder kriminelle Aktivitäten an den Tag legten, sei es getrieben durch Bedürfnisse oder verleitet durch günstige Gelegenheiten, wobei allerdings zwischen besserungsfähigen und unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern differenziert wurde. 1078 Wenn die Richter auf diesen kriminologischen Verbrechertyp verwiesen, dann rechneten sie den Angeklagten diese Charakterschwäche bei der Verurteilung straferhöhend an. Obwohl sie wieder ein kriminologisches Konzept verwandten, das von degenerativen Schwächen und damit von „krankhaften Entartungen“ ausging, scheuten die Richter nun vor der letzten Konsequenz zurück, die sie bei Angeklagten mit anderweitiger „krankhafter Entartung“ zu ziehen bereit waren: der Anerkennung mildernder Umstände. Die Feststellung, dass ein jugendlicher Dieb sich erneut als ein „unverbesserliche[r], gemeingefährliche[r] Gewohnheitsdieb“ präsentiert habe, fand bei diesem wie bei seinen drei ähnlich titulierten, jugendlichen Mitangeklagten straferhöhend Eingang in den Urteilsspruch. 1079 An diesen Beispielen lässt sich gut illustrieren, dass die Richter auch bei Verwendung bestimmter biologistischer Bilder im Hinterkopf ebenfalls moralische Vorstellungen von Verbrechern gespeichert hatten. Besonders deut- 1077 Vgl. Erlass des Kgl. Wü. Justizministeriums vom 17.10.1917 betreffend die bedingte Begnadigung von Marie W., StAL E 350a, Bü 779. 1078 Vgl. Galassi, Kriminologie, S. 357 f. 1079 Vgl. Urteile gegen Mathäus E., Bü 917; und Ewald O., Bü 2106; sowie Entscheidungsgründe zum Urteil gegen Peter W. und Anton G., Bü 1052; alle StAL E 350a. Das Zitat aus Bü 917. <?page no="315"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 316 lich wird dies bei Peter W., einem siebzehnjährigen, mehrfach wegen Diebstahls vorbestraften Tagelöhner, der als „gewohnheitsmäßiger Dieb und Tunichtgut“ agiert habe. 1080 Hier stehen kriminologischer Typus und moralische Verurteilung einträchtig Seite an Seite. Wissenschaftliche Konzeptionen und Bilder der Kriminologie fanden ihren Eingang in die Urteilspraxis der Richter, wie die geschilderten Fälle verdeutlichen. Deutlich wird aber mit Blick auf die geringe Zahl biologistischer Erklärungen auch, dass eindeutig als biologistisch identifizierbare Erklärungen eine sehr geringe Rolle in Strafverfahren gegen Jugendliche vor der Strafkammer in Ulm spielten. Die Richter konnten eigenständig mit biologistischen Erklärungen operieren. Sie taten es selten. Wichtiger waren essentialisierende Erklärungen, die im folgenden Abschnitt genauer vorgestellt werden. b. „Lügnerisch, arbeitsscheu, genusssüchtig, verdorben, verbrecherischer Hang“ - Codes für kriminelle Karrieren Bei allen in der Überschrift genannten Zuschreibungen handelte es sich um essentialisierend gebrauchte Typisierungen der betroffenen Jugendlichen. Sie stehen sinnbildlich für unterschiedliche Sprossen einer kriminellen Laufbahn. Das „harmloseste“ Attribut in diesem Zusammenhang mochte noch „lügnerisch“ sein. Hinweise, dass ein Delinquent oder eine Delinquentin „lügnerisch“ sei, dürfen jedoch keineswegs nur als eine Bewertung des Verteidigungsverhaltens vor Gericht und damit als eine zwar wertende, aber eher deskriptive Aussage betrachtet werden. Vielmehr wollte ein gängiges zeitgenössisches Klischee, dass „verwahrloste“ Kinder diese Charaktereigenschaft besäßen. 1081 Die Erwähnung des Attributes „lügnerisch“ in Zusammenhang mit den jugendlichen Angeklagten ist zwar auch als eine Einschätzung des Verhaltens im Strafverfahren zu lesen, aber nicht nur. Gleichzeitig muss es als Einschätzung der Person im Hinblick auf eine Prognose des weiteren abweichenden Verhaltens verstanden werden, wenn die Richter annahmen, eine „verwahrloste“ Person vor sich zu haben. Dies bedeutet jedoch nichts anderes als eine essentialisierende Stigmatisierung der betreffenden Jugendlichen. Vier männliche und zwei weibliche Angeklagte bezeichneten die Richter als „lügnerisch“, immer in Zusammenhang mit weiteren biologistischen oder 1080 Vgl. Entscheidungsgründe zum Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 26.2.1918 gegen Peter W., StAL E 350a, Bü 1052. 1081 Vgl. Roth, Erfindung des Jugendlichen, S. 115. <?page no="316"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 317 essentialisierenden Attributen. 1082 Den Charakter der „Lügenhaftigkeit“ als erster Stufe einer Verbrecherkarriere verdeutlicht die folgende Einschätzung: „Das sinkende Pflichtbewußtsein brachte den bis jetzt unbestraften und abgesehen von seiner Lügenhaftigkeit in sittlicher Beziehung nicht getadelten Angeklagten auf den Weg des Diebstahls.“ 1083 Bis zum Zeitpunkt der ersten Verfehlung war es „nur“ die vermeintliche „Lügenhaftigkeit“ des Jungen, die den immerhin bereits vorhandenen Unterschied zwischen ihm und ehrlichen Altersgenossen ausmachte. Doch die Kluft öffnete sich weiter und führte schließlich dazu, dass der Junge sich kriminell verhielt und damit nach Meinung des Gerichts einen tiefgehenden „verbrecherische[n] Wille[n]“ an den Tag legte. 1084 Als Fortsetzung eines „abweichenden Lebensweges“ kann „Arbeitsscheue“ verstanden werden. Es handelte sich dabei nicht mehr um eine Charaktereigenschaft ohne unmittelbar handlungsleitenden Bezug. Vielmehr drohte von „arbeitsscheuen“ Jugendlichen konkret die Gefahr, dass diese ihre materiellen Bedürfnisse nicht auf legalem Wege, sondern mit illegalen Mitteln zu sichern suchten, eine Gefahr, die laut der überlieferten Urteile von vier männlichen Angeklagten ausging. 1085 So habe ein siebzehnjähriger Posthelfer ohne zwingenden Grund gestohlen, weil er gewohnt war, „ein lockeres, leichtsinniges Leben zu führen“. Den Diebstahl eines vierstelligen Geldbetrages erklärte sich das Gericht mit seinem mangelnden Arbeitswillen. 1086 13 männliche jugendliche Angeklagte hatten aus Sicht der Richter aus Genuss- oder Verschwendungssucht gehandelt oder gestohlenes Geld „nutzlos vergeudet“. Immer berücksichtigten die Strafrichter scheinbare jugendliche Verschwendungssucht oder eine in den Augen der Richter sinnlose Verwendung von illegal angeeigneten Gütern straferhöhend. 1087 Auffällig ist diese 1082 Vgl. Urteile gegen Anna Maria W., Bü 778; Julius B., Bü 878; Max H. und Otto S., Bü 894; Georg B., Bü 935; Hugo Robert G., Bü 2109; Cäzilie J., Bü 5494; alle StAL E 350a. 1083 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 9.3.1916 gegen Julius B., StAL E 350a, Bü 878. 1084 Vgl. ebd. 1085 Vgl. Urteile gegen Alfons I. und Wilhelm M., Bü 485; Karl T. und Gustav K., Bü 892; sowie Leonhard R., Bü 1075; alle StAL E 350a. 1086 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm gegen Leonhard R., StAL E 350a, Bü 1075. 1087 Vgl. Urteile gegen Heinrich O., Bü 3; Adolf B., Bü 4; Georg K., Bü 859; Karl Sch., Bü 864; Christian K., Bü 881; Paul F. und Josef M., Bü 985; Albert G. und Josef K., Bü 1014; Eugen H. u. a., Bü 1078; Franz F. u. a. Bü 1092; Richard V., Bü 1153; alle StAL E 350a. Das Zitat siehe Bü 1092. <?page no="317"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 318 Zahl, wenn man sich an dieser Stelle erneut vergegenwärtigt, wie häufig die Richter kriegsbedingte Not - das genaue Gegenteil von „Genusssucht“ - als ursächlich für Straftaten betrachteten: lediglich dreimal, dazu sechsmal ohne ausdrücklichen Bezug zum Krieg. In Zeiten äußerster materieller Knappheit während des Krieges besaß die essentialisierende Zuschreibung scheinbarer „Genusssucht“ für die Erklärung von Jugendkriminalität also einen höheren Stellenwert als der soziologische Deutungsansatz von Not. Grund dafür war neben weit verbreiteten Stereotypen von „genusssüchtigen“ Jugendlichen, wie sie sich im Vorkriegs- und im Kriegsdiskurs und in der hysterischen Diskussion um die Einführung des Sparzwangs manifestierten, die Art der von der Strafkammer behandelten Kriminalität. Die Strafkammer des Landgerichtes verhandelte vornehmlich schwere Diebstähle, bei denen die Täter Behältnisse oder Gebäude aufgebrochen hatten. Im Gegensatz dazu stehen etwa Obstdiebstähle, die unter anderem die Schöffengerichtskammer des Amtsgerichtes Kirchheim im Jahr 1918 verstärkt abzuurteilen hatte. 1088 Hier hatten die Jugendlichen Obst mitgenommen. Die Urteile dazu sind nicht überliefert, allerdings lag seitens der Richter hier eine Deutung als Notdiebstahl sehr viel näher und war plausibler zu begründen als bei den schweren Diebstählen, mit denen sich das Landgericht befassen musste. Auf der anderen Seite galt aus Sicht der Jugendlichen: Gerade weil Nahrungs- und Genussmittel knapp waren, wäre es - aus Perspektive eines Einbrechers - unlogisch gewesen, eine günstige Gelegenheit auszulassen und zudem nur für geringe Mengen den Aufwand eines Einbruchs und damit das Risiko erheblicher strafrechtlicher Konsequenzen auf sich zu nehmen. Aus Sicht der Jugendlichen war es sinnvoll, gerade wenn sie sich in prekären ökonomischen Situationen befanden, so große Mengen zu stehlen, wodurch den Richtern wiederum die Option genommen wurde, hier Notdiebstähle anzunehmen. Denn es ist ebenso offensichtlich, dass ein Gericht dieser Logik nicht folgen durfte und wollte. Zwar sind zwölf laut Strafkammerurteilen „genusssüchtige“ Angeklagte keine übermäßig große Zahl angesichts der nicht-gerichtlichen Wahrnehmung; die Etikettierung Jugendlicher als „genusssüchtig“ weist jedoch über die folgerichtige Unmöglichkeit hinaus, umfangreiche Diebstähle in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Die in den Urteilen als genusssüchtig beschriebenen Jungen arbeiteten nicht nur als Angelernte, sondern standen auch in Lehrverhältnissen oder gingen noch zur Schule. 1089 Entgegen dem vorherrschenden Bild sahen die 1088 Vgl. Kgl. Amtsgericht Kirchheim unter Teck, Strafprozessliste 1918, StAL F 276 II, Bü 78. 1089 Bsp. Tagelöhner: Paul F. und Josef M., Bü 985; Bsp. Lehrling: Karl Sch., Bü 864; Bsp. Volksschüler: Christian K., Bü 881; alle StAL E 350a. <?page no="318"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 319 Richter demnach „Genusssucht“ nicht nur unter ungelernten jugendlichen Arbeitern verbreitet. Vor diesem Hintergrund stechen als Kontrast zwei Fälle ins Auge, bei denen die Richter gerade keine Genusssucht annahmen und sogar ein gewisses Verständnis für die Situation des Angeklagten entwickelten. Auf den ersten Fall wurde bereits ausführlich eingegangen. 1090 Der Technikerlehrling aus soliden häuslichen Verhältnissen, welcher sich ein paar Monate früher als von seinem Vater versprochen durch einen Betrug einen Tourenanzug beschaffen wollte, blieb frei von der Etikettierung als „genusssüchtig“. Bei ihm war die Tat aus Sicht der Richter mehr ein „unüberlegter Jungenstreich“, zu dem er nur aufgrund der schlechten Beeinflussung von Kameraden überhaupt in der Lage schien. Beeinflusst werden konnte er zudem nur, da sein Vater im Feld war und seine Autorität bei der Erziehung des Jungen fehlte. Zum einen lag dies selbstverständlich daran, dass Kleidung nicht im Wortsinn „genossen“ werden konnte. Auffallend ist jedoch die extrem milde Bewertung der Tat, die ebenfalls als eine überflüssige Handlung wahrgenommen werden konnte . Dabei sollte sich unter den der Allgemeinheit auferlegten freiwilligen und erzwungenen Einschränkungen durch den Krieg das Bedürfnis nach einem Wanderanzug - so könnte man erwarten - mindestens als ebenso egoistisch ausnehmen wie Diebstähle von Geld oder Süßigkeiten aus „Genusssucht“. In Einzelfällen - so die zweiten Beobachtung - versuchten die Richter zudem, sich in die Logik der Angeklagten hineinzudenken. Bei Diebstählen von Arbeitern, unter ihnen auch ein Jugendlicher, am Arbeitsplatz berücksichtigten die Richter, dass hier jegliche Kontrolle fehlte. Diesen Gruppendruck erkannten die Richter durchaus an und legten ihn als Strafmilderungsgrund aus. Aus diesem Grunde sei die Versuchung zu Diebstählen sehr hoch - folglich unter Arbeitern auch weit verbreitet. Wer sich hier ausklinke, sei bei seinen Kollegen schnell als Aufpasser verschrien. 1091 Die essentialisierende Feststellung, Angeklagte seien „verwahrlost“, „sittlich verdorben“ oder „tief gesunken“ und hätten sich deshalb Gesetzesverstöße zu Schulden kommen lassen, taucht in verschiedenen Formen in elf Urteilen straferhöhend auf. 1092 Dazu kommt die Einschätzung eines jugendlichen 1090 Siehe S. 256 f. 1091 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.10.1916 gegen Johann Adolf W. u. a., StAL E 350a, Bü 901. Zur Verbreitung von Diebstählen am Arbeitsplatz siehe auch das Beispiel der Hamburger Hafenarbeiter, vgl. Grüttner, Unterklassenkriminalität, S. 153-184. 1092 Vgl. Urteile gegen Erwin B. und Karl S., Bü 868; Karl T. und Gustav K., Bü 892; Wilhelm Johannes Daniel W., Bü 929; Eugen R., Bü 974; Konrad B., Bü 1003; Albert G. und <?page no="319"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 320 Sexualstraftäters, er habe einen „unsittlichen, ja widernatürlichen Trieb an den Tag gelegt“, obwohl das Gericht annahm, der von ihm verübte Missbrauch hänge mit der sich entfaltenden Geschlechtsreife zusammen. 1093 Die Tat wies demnach für die Richter auch „natürliche“, weil aus der physiologischen Entwicklung des Heranwachsenden erklärbare Züge auf. Darüber hinaus kombinierte der Urteilsspruch erneut biologistische und moralischessentialisierende Typisierungen unmittelbar nebeneinander und zeigt die Gleichzeitigkeit und Verschränkung von kriminologischen und moralischen Verbrechensbildern. „[I]n bedenklicher Weise sittlich abwärts gegangen“ sein konnten nicht nur Jugendliche, die Sexualdelikte begangen oder sich anderweitig sexuell abweichend verhalten hatten, sondern auch jugendliche Diebe. 1094 Bei ersteren kam der explizite Bezug auf die Sittlichkeit allerdings häufiger vor. Auch diese Etikettierungen traten in Kombination mit weiteren angenommenen Ursachen auf, etwa wenn „verdorbene“ Angeklagte auch Taten aus „Genusssucht“ bescheinigt wurden. Logisch erscheint die Zuschreibung von „sittlicher Verdorbenheit“ vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Sexualmoral im Falle einer siebzehnjährigen ledigen Fabrikarbeiterin, die der Anstiftung zur Abtreibung - sie hatte laut Gericht ihren an der Front stehenden Freund um Abtreibungsmittel gebeten - beschuldigt wurde. Da der Freund ihr diese Mittel nicht beschaffte, blieb es beim Straftatbestand Anstiftung. 1095 Sie unterhielt eine voreheliche sexuelle Beziehung, was dem akzeptierten bürgerlichen Verhaltenskodex - nach dem die Richter sozialisiert worden waren - widersprach. Einerseits konnte Sittlichkeitsdelikten ein gewisses Verständnis entgegengebracht werden - andererseits aber auch besondere Härte. Die Beurteilungen von Sittlichkeitsdelikten variierten, je nachdem, ob das Verhalten den Lebenserfahrungen und den geschlechtsstereotypen Erwartungen der Richter entsprach. Die letzte Stufe des kriminellen Lebensweges schien erreicht, wenn Jugendliche einen „verbrecherischen Hang“ ausgebildet hatten oder bereits besaßen. Diese Zuschreibung bildet in den Urteilen eine wichtige Erklärung Josef K., Bü 1014; Ewald O., Bü 2106; Marie Albertine E., Bü 2577; Karl H., Bü 5489; Cäzilie J., Bü 5494; Heinrich B., Bü 5519; alle StAL E 350a. 1093 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 30.3.1916 gegen Karl H., StAL E 350a, Bü 5502. 1094 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 2.12.1915 gegen Erwin B. und Karl S., StAL E 350a, Bü 868. 1095 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.10.1916, StAL E 350a, Bü 2577. <?page no="320"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 321 strafrechtlich abweichenden Verhaltens der jugendlichen Angeklagten. In neunzehn Urteilen, davon zwei gegen Mädchen, taucht die Zuschreibung dieses immanenten kriminellen Charakterzuges bei jugendlichen Tätern auf. 1096 Die Deliktstruktur ist dabei sehr monoton: Bis auf einen des Missbrauchs bezichtigten Jungen nannten die Richter „verbrecherische Neigungen“ nur im Zusammenhang mit Diebstählen, Betrug oder Hehlerei. 1097 Auch wenn hier nicht zweifelsfreie Formulierungen wie „gewohnheitsmäßiger Dieb“ verwendet wurden, nahmen die Richter eindeutig Anleihen bei dem - in seltenen Fällen ja auch direkt angesprochenen - kriminologischen Typ des „Gewohnheitsverbrechers“. War diese spezielle „Neigung“ erst einmal ausgemacht worden, fand sie straferhöhend Berücksichtigung. Auf diese Weise begründeten die Richter das hohe Strafmaß von zwei Monaten für einen wegen mehrerer Diebstähle abgeurteilten siebzehnjährigen Hilfsarbeiter, denn „[i]mmerhin waren empfindliche Strafen am Platz, um den an den Tag getretenen diebischen Hang des Angeklagten zu bekämpfen.“ 1098 In den Urteilen tauchen Vorstellungen von „Gewohnheitsverbrechern“ auf, die bemerkenswerterweise mit dem „klassischen“ Strafgedanken der Abschreckung, der an ein rational handelndes Individuum appellierte, gepaart wurden. Erneut zeigt sich, dass neue kriminologische Vorstellungen selbstverständlich nicht schlagartig althergebrachte Strafbegründungen, Strafarten oder Verbrecherbilder ersetzten, sondern dass trotz immanenter Widersprüche eine friedliche Koexistenz von neuen kriminologischen Vorstellungen und „klassischen“ Strafarten in der Strafrechtspraxis herrschte. Auch wenn der „verbrecherische Hang“ durch die Erwähnung in neunzehn Urteilen eine prominente Rolle einnimmt, muss berücksichtigt werden, bei welchen Jugendlichen die Richter ihn gegeben sahen. Leichtfertig etikettierten sie Jugendliche nicht in dieser Art und Weise. Die Täter waren entweder bereits vorbestraft oder hatten bis zu ihrer Entdeckung eine Serie von Straftaten begangen, die ihnen nun nachgewiesen wurden. Als Gelegenheitsdelikte konnten solche Serientaten nicht eingestuft werden. 1096 Vgl. Urteile gegen Alfons I. und Wilhelm M., Bü 485; Karl Sch., Bü 864; Friedrich H., Bü 866; Georg L., Bü 867; Julius B., Bü 878; Max H. und Otto S., Bü 894; Josef A., Bü 898; Magdalene R., Bü 904; Otto M., Bü 928; Otto H., Bü 979; Johann Georg G., Bü 1071; Anton H., Bü 1120; Walter Sch., Bü 1123; Karl H., Bü 1126; Karl D., Bü 1133; Paul Wilhelm B., Bü 1172; Marie G., Bü 5841; alle StAL E 350a. 1097 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 14.5.1917 gegen Karl E., StAL E 350a, Bü 5511. 1098 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 1.8.1918 gegen Anton H., StAL E 350a, Bü 1120. <?page no="321"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 322 Gleichwohl gilt, wie im Falle von Mathäus E., für den ein psychiatrisches Gutachten angefordert worden war: Die Begehung mehrerer Straftaten - entweder in Serie oder nach bereits erfolgter Verurteilung - zeugte in den Augen der Richter von immanenten, abweichenden Persönlichkeitsstrukturen jenseits rationaler Entscheidungen und Motive der Täter. c. Jugendlicher Leichtsinn In neun Urteilen operierten die Richter mit der auf das biologische Alter Heranwachsender gestützten Deutung jugendlicher Kriminalität aus „jugendlichem Übermut“, die sie jeweils strafmildernd berücksichtigten. 1099 Die so eingeschätzten Angeklagten waren ausnahmslos Jungen. Dies kann aufgrund der geringen Fallzahl von Urteilen gegen Täterinnen dem Zufall der Quellenüberlieferung geschuldet sein. Es liegt aber vielmehr ein anderer Schluss nahe. Aufgrund der geschlechtstypischen Zuschreibungen von Eigenschaften wie Aktivität bei Jungen und Zurückhaltung bei Mädchen ist es wahrscheinlich, dass man Jungen ein „Über-die-Stränge-Schlagen“, welches auch strafrechtliche Relevanz hatte, eher nachsah als Mädchen. Vermutlich spielte auch die Alltagserfahrung der Richter mit geschlechtstypisch ausgeprägten jugendlichen Verhaltensweisen eine Rolle. Erinnert sei an die von Andreas Gestrich beschriebene unterschiedliche Freizeitgestaltung dörflicher Jugendlicher. „Raufhändel“ und „Streiche“ der Jungen waren fester Bestandteil der abendlichen Aktivitäten. 1100 So verwundert es nicht, dass in beiden Fällen von Sachbeschädigung, für die ein Urteil vorliegt, sich diese Taten für die Richter als „unüberlegtes Treiben“ 1101 oder sogar ausdrücklich als ein „unüberlegter, auf jugendlichen Übermut zurückzuführender Bubenstreich“ 1102 darstellten. Sie unterstellten den angeklagten Jungen keine böse Absicht. Jungenstreiche waren normal, sie gehörten zum Verhalten halbwüchsiger Männer dazu. Zwar sollten sie innerhalb eines gesellschaftlich tolerierten Rahmens bleiben - etwa keine materiellen Schäden verursachen -, wenn sie aber einmal aus diesem Rah- 1099 Vgl. Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; Martin H., Bü 5; Wilhelm Karl K., Bü 202; Christof S. und Johann H., Bü 474; Ludwig L. u. a., Bü 896; Ernst Sch. und Johannes K., Bü 1064; Eugen K., Gustav R. und Karl V., Bü 1072; Friedrich M. u. a., Bü 2183; Alfred R. u. a., Bü 2194; alle StAL E 350a. 1100 Vgl. Gestrich, Traditionelle Jugendkultur, S. 95 f. 1101 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.7.1915 gegen Friedrich M. u. a., StAL E 350a, Bü 2183. 1102 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 11.10.1915 gegen Alfred R. u. a., Bü 2194. <?page no="322"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 323 men fielen und strafrechtliche Relevanz bekamen, bestand kein Grund, die „Übeltäter“ als Person abzuwerten. Dabei verlief die Grenze zwischen akzeptiertem jugendlichem Übermut und nicht mehr akzeptiertem verbrecherischem Verhalten jenseits der Strafgesetze. Allgemein anerkannte gesellschaftliche Normen und juristische Normen waren hier ausnahmsweise nicht deckungsgleich. Sachbeschädigung war zwar strafbar, schien aber in den analysierten Fällen offenbar nicht als verwerflich. Dem stehen jugendliche Verhaltensweisen wie das Rauchen gegenüber. Auch dies hätte man nach heutigen Maßstäben als jugendliches Ausprobieren werten können. Dem war nicht so: Vielmehr verhielten sich jugendliche Raucher in den Augen vieler bürgerlicher Betrachter abweichend, da Tabak ein - in Maßen - Erwachsenen vorbehaltenes Genussmittel war. Daher war der jugendliche „Straßenjunge“ oder im süddeutschen Sprachgebrauch der „Gassenbub“ mit Mütze und Zigarette ein typisches Klischeebild des verwahrlosten (städtischen oder Arbeiter-)Jungen. 1103 Man findet auf der einen Seite demnach ein akzeptiertes Ausprobieren der eigenen Kräfte, eine Art sportliches Messen, dessen Ausgestaltung leider unter den Straftatbestand der Sachbeschädigung fiel. Auf der anderen Seite stand angeblich eskapistisches, „genusssüchtiges“ Verhalten wie das Rauchen. Bei den Sachbeschädigungen treten derartige biologische Erklärungen zudem alleine auf, sie werden nicht mit anderen Faktoren in Verbindung gebracht. Eine solche monokausale Erklärung war dabei logisch, da andere Ursachen damit nicht vereinbar gewesen wären: In den Augen der Richter handelte es sich ja gerade um unüberlegtes jugendliches Treiben, welches ohne speziellen Grund ausgeübt worden war , damit erübrigte sich die Frage nach weiteren Ursachen. Doch auch die Diebstähle und Urkundenfälschungen konnten mit Hilfe des Bildes vom „jugendlichen Übermut“ oder als „Bubenstreich“ erklärt werden. 1104 Im Fall des betrügerisch mittels Urkundenfälschung erlangten Tourenanzugs durch Wilhelm Karl K. oder bei einem Mundharmonikadiebstahl handelte es sich dabei um Diebstähle, die eine rational greifbare ökonomische „Kalkulation“ nicht unmittelbar erkennen ließen. 1105 Außerdem bot sich diese Deutung an, wenn Gegenstände zum Spielen gestohlen wurden, wie etwa Eisenstängchen, welche die jugendlichen Diebe als Blasrohre 1103 Vgl. Lindner, Straße, S. 195 und 193. 1104 Vgl. Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; Martin H., Bü 5; Wilhelm Karl K., Bü 202; Christof S. und Johann H., Bü 474; Ludwig L. u. a., Bü 896; Ernst Sch. und Johannes K., Bü 1064; Eugen K., Gustav R. und Karl V., Bü 1072; alle StAL E 350a. 1105 Vgl. Urteile gegen Wilhelm Karl K., Bü 202; und Martin H., Bü 5; beide StAL E 350a. <?page no="323"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 324 verwenden wollten, oder Theaterblitze, die die Täter unmittelbar nach dem Diebstahl verbraucht, also „abgefackelt“ hatten. 1106 Traten diese biologischen Erklärungen in Kombination mit soziologischen Ursachen auf, spielten die Umstände des Krieges, die neuen Versuchungen durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten sowie vielschichtig die Abwesenheit des Vaters und die negative Beeinflussung durch Gleichaltrige mit eine Rolle. 1107 Das impliziert die Lesart, bei diesen Jungen sei ihr „Übermut“ nur aufgrund weiterer, entscheidenderer Gründe mit ihnen „durchgegangen“. Der Anteil ländlicher Tatorte überwiegt bei Tätern aus „jugendlichem Leichtsinn“. Tatort war in drei Fällen Ulm und einmal Göppingen. 1108 In den übrigen sieben Fällen hatten die Jugendlichen ihre Taten in den ländlichen Regionen des Amtsgerichtsbezirkes begangen. Auch dies könnte aufgrund der geringen Fallzahlen ein Zufall sein, doch ist wieder eine andere Interpretation plausibler. Ressentiments gegenüber urbanen Lebensweisen spielten im Zusammenhang mit der Bewertung jugendlicher Delinquenz eine wichtige Rolle, wie bereits gezeigt wurde. So waren die Richter vermutlich bei Jugendlichen aus ländlichem Umfeld, „de[m] Jungbrunnen an sittlicher Kraft und Gesundheit für unser ganzes Volk“ 1109 , eher geneigt, Kriminalität lediglich als einmaliges Handeln denn als Persönlichkeitsstruktur einzuschätzen. Der soziale Hintergrund der Jungen war sehr breit gefächert und reichte von Tagelöhnern im Baugewerbe 1110 über Lehrlinge 1111 bis hin zu Söhnen wohlhabender Familien, 1112 wobei insgesamt letztere hier vermutlich überrepräsentiert sind. Allerdings war „jugendlicher Leichtsinn“ als strafmildernder Faktor nicht das Privileg der Bessergestellten. Auch Jungen aus den unteren Bereichen der Sozialhierarchie wurde vom Gericht dieses Verhaltensmuster zugestanden. 1106 Vgl. Urteile gegen Ludwig L. u. a., Bü 896; und Eugen K., Gustav R. und Karl V., Bü 1072; beide StAL E 350a. Zum letzten Fall siehe ausführlich S. 258. 1107 Vgl. Urteile gegen Michael Sch., Bü 2; und Wilhelm Karl K., Bü 202; beide StAL E 350a. Zu Michael Sch. siehe ausführlich S. 292 f. 1108 Ulm: Michael Sch., Bü 2; Christof S. und Johann H., Bü 474; Ludwig L. u. a., Bü 896; Göppingen: Wilhelm Karl K., Bü 202; alle StAL E 350a. 1109 Bovensiepen, Krieg und Kriminalität der Jugendlichen, S. 840. 1110 Vgl. Urteile gegen Christof S. und Johann H., Bü 474; und Ludwig L. u. a., Bü 896; beide StAL E 350a. 1111 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 4.4.1918 gegen Eugen K., Gustav R. und Karl V., StAL E 350a, Bü 1072. 1112 Vgl. Urteile gegen Wilhelm Karl K., Bü 202; und Ernst Sch. und Johannes K., Bü 1064; beide StAL E 350a. <?page no="324"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 325 d. Aufsichtsmängel und Erziehungsdefizite Eine wichtige Erklärung jugendlicher Kriminalität durch die Juristen des Landgerichtes Ulm bildeten - auch über kriegsbedingte Einwirkungen wie die Abwesenheit der Väter hinaus - Defizite in der Erziehung der Jugendlichen. Vor dem Hintergrund des Vorkriegsdiskurses über die allgemein akzeptierte Annahme eines „ungefestigten Charakters“ Jugendlicher und dann der speziellen Prägung des Kriegsdiskurses verwundert dies nicht. Insgesamt verweisen die Richter in fünfzehn Urteilen - zusätzlich zu den oben abgehandelten Urteilen, in denen „kriegsbedingte Aufsichtsmängel“ festgestellt werden - auf mangelnde familiäre Aufsicht. Trat dieses soziologische Deutungsmuster alleine oder nur im Zusammenhang mit weiteren soziologischen oder biologischen Erklärungen auf, so entschuldigten die Richter damit das Verhalten der Jugendlichen. Eine moralische Schuld traf die Jugendlichen nicht, sie galten weder als abweichende Persönlichkeiten noch als „krank“. In neun Urteilen war dies der Fall. 1113 Wenn mangelnde Erziehung gemeinsam mit essentialisierenden Zuschreibungen genannt wurde, hatte sich die ungünstige Situation allerdings schon so negativ ausgewirkt, dass die Jugendlichen nachhaltig geschädigt erschienen. Für die Bewertung der Person über die strafrechtlichen Folgen hinaus waren diese Zuschreibungen entscheidend. Diese Kombination findet sich in den restlichen sechs Urteilen. 1114 Das Erklärungsmuster entspricht in den Fällen von Aufsichtsmängeln diverser Art den ausführlich geschilderten kriegsbedingten Aufsichtsmängeln, daher muss hier nicht mehr näher darauf eingegangen werden. 1115 Der Unterschied lag im Grund der väterlichen Abwesenheit, nicht in den Folgen. Durch die Abwesenheit der Väter fehlte in den Augen der Richter die erforderliche familiäre Leitfigur. Auch wenn die Eltern nicht mehr lebten und Kinder bei ihren Großeltern aufwuchsen, konnte die innerfamiliäre Struktur so defizitär sein, dass eine geordnete Erziehung nicht mehr möglich war. 1116 1113 Vgl. Urteile gegen Linus W., Bü 776; Friedrich P., Bü 925; Hedwig W. und Antonia M., Bü 960; Matthäus K., Bü 1027; Karl H., Bü 1089; Karoline K., Bü 1164; Martha H., Bü 2167; Gustav G. und Klara G., Bü 5492; Karl E., Bü 5507; Eugen F. und Georg B., Bü 5498; alle StAL E 350a. 1114 Vgl. Urteile gegen Georg L., Bü 867; Christian K., Bü 881; Max H. und Otto S., Bü 894; Cäzilie J., Bü 5494; Georg B., Bü 935; Marie G., Bü 5841; alle StAL E 350a. 1115 Siehe dazu Punkt VIII.3.a. 1116 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 1.3.1917 gegen Georg B., StAL E 350a, Bü 935. <?page no="325"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 326 Welche enorme Bedeutung die Richter Aufsichtsmängeln zusprachen, wird pointiert am Beispiel eines Inzestfalles zwischen einer Siebzehnjährigen und ihrem ein Jahr jüngeren Bruder deutlich. Zunächst stellten sie als unmittelbaren Auslöser für den innerfamiliären geschwisterlichen Sexualkontakt fest: „Die erste Anregung ging von dem Ang. Gustav G. aus, der hiezu durch Reden seiner Schwester über geschlechtliche Dinge angereizt worden sein will. Die Ang. Klara G. hat sich von Anfang an niemals ernstlich gesträubt, sondern war mit dem Vorhaben ihres Bruders ganz einverstanden.“ 1117 Dies entspricht ganz der zeitgenössischen Sichtweise, Männer nähmen in der Sexualität eine aktive, einfordernde Rolle ein, während Frauen zwar der verführende, dann aber passive, hinnehmende Part zukam. 1118 Daher hatten die Richter auch keine Bedenken, das Vorbringen des Angeklagten als plausibel zu akzeptieren. 1119 Zum Geschlechtsverkehr kam es jeweils, wenn der Vater abwesend war - was aus „praktischen“ Gründen auf der Hand liegt, für die Richter jedoch weiter gehende Bedeutung besaß. Denn weshalb es zwischen den Geschwistern überhaupt zu Sexualkontakten kommen konnte, erklärte sich für die Strafkammer damit, „daß in ihrem öfteren Zusammensein ohne Aufsicht eine Versuchung gelegen haben mag“. 1120 Unbeaufsichtigte Jugendliche waren in dieser Logik nicht unbedingt in der Lage, sich gesellschaftlich konform zu verhalten. Sie brauchten Kontrolle, um akzeptiertes Verhalten an den Tag zu legen. In den Jugendlichen schlummerte der Hang zu abweichendem Verhalten, den es durch Reglementierungen zu bannen galt. Dieses abweichende Verhalten musste nicht zwangsläufig delinquent sein, zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an andere unliebsame Verhaltensweisen. Neben Aufsichtsdefiziten und damit einem „Zuwenig“ an Erziehung traten als schlechte häusliche Bedingungen auch ein „Zuviel“ an Erziehung. Bei dem bereits erwähnten einzigen männlichen jugendlichen Brandstifter, für den ein Urteil vorliegt, lebte der Vater zu Hause. Er schlug seinen Sohn, 1117 Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 19.8.1915 gegen Gustav G. und Klara G., StAL E 350a, Bü 5492. 1118 Vgl. Eder, Kultur der Begierde, S. 140 ff. 1119 Vgl. Urteil gegen Gustav G. und Klara G., StAL E 350a, Bü 5492. 1120 Vgl. ebd. <?page no="326"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 327 diese Art der Erziehung war nach Sicht der Richter „verfehlt“. 1121 Der Vater nutzte sein grundsätzlich akzeptiertes und für geboten gehaltenes Recht der väterliche Züchtigung, allerdings ging sie so weit, dass der Jungen nicht geleitet, sondern - bildlich gesprochen - vom rechten Weg heruntergeprügelt wurde. e. „Ungünstige Beeinflussung“ Eine bedeutende soziologische Erklärung war die ungünstige Beeinflussung Jugendlicher. Diese Verleitung zu strafbaren Handlungen konnte von - oft „verdorbenen“ - Freunden ausgehen. Davon gingen die Richter in fünfzehn Urteilen aus. 1122 Auch Erwachsene konnten Jugendliche zur Begehung von Straftaten anstiften. In diesen fünf Fällen war es weniger schlechte Gesellschaft, durch die Jugendliche insgesamt „verdorben“ wurden, sondern das Zureden von Autoritätspersonen. 1123 Dazu kamen klassische „Verführungsdelikte“, wenn junge Frauen durch Männer zu Sittlichkeitsdelikten verführt wurden. 1124 Die Grundannahme vom ungefestigten jugendlichen Charakter spielte bei allen drei Arten eine wichtige Rolle, allerdings handelte es sich in letzter Konsequenz um eine exogene Ursache. Eine Veränderung der Entwicklung hin zum Positiven konnte bei „verdorbenen“ Freunden durch ein Unterbinden des Umgangs erreicht werden. Schwieriger war dies natürlich bei Familienangehörigen. 1121 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.2.1915 gegen Linus W., StAL E 350a, Bü 776. 1122 Vgl. Urteile gegen Wilhelm Karl K., Bü 202; Georg K. und Albert M., Bü 856; Anton W., Bü 865; Erwin B. und Karl S., Bü 868; Johannes Sch., Eugen Sch. und Franz Sch., Bü 871; Karl T. und Gustav K., Bü 892; Max H. und Otto S., Bü 894; August E. u. a., Bü 910; Jakob M. u. a., Bü 950; Paul F. und Josef M., Bü 985; Georg L. und August K., Bü 1007; Albert G. und Josef K., Bü 1014; Eugen H. u. a., Bü 1078; Walter Sch., Bü 1123; Martin G., Bü 5525; alle StAL E 350a. 1123 Vgl. Urteile gegen Viktoria S. und Franz S., Bü 199; Albert K. u. a., Bü 491; Franziska S. und Marie S., Bü 1134; Richard V., Bü 1153; Christine G., Bü 2294; alle StAL E 350a. 1124 Vgl. Urteile gegen Barbara S., Bü 2163; und Elisabetha H., Bü 5497; beide StAL E 350a. Barbara S. war wegen unerlaubten Verkehrs mit einem russischen Kriegsgefangenen verurteilt worden. Im Gegensatz zu dem auf S. 296 f. beschriebenen verbotenen Verkehr mit Kriegsgefangenen stellten die Richter in ihrer Urteilsbegründung in diesem Fall nicht auf den Aspekt des Umgangs mit Kriegsgefangenen ab und folgten damit allgemein vorherrschenden Vorstellungen von männlicher und weiblicher Kriminalität über die angebliche „Verführung“ eines jungen Mädchens durch einen Mann. Daher wird dieses Urteil nicht bei den kriegsbedingten Ursachen aufgelistet. <?page no="327"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 328 Entsprechend der Bewertung von Erziehungsmängeln war für die persönliche Einschätzung der Jugendlichen relevant, ob diese Ursache alleine oder bereits in Kombination mit essentialisierenden Faktoren wie „Verschwendungssucht“ auftrat - wie weit die „schlechte“ Beeinflussung also schon die Persönlichkeit verändert hatte, oder umgekehrt, wie entscheidend diese überhaupt noch war. Ein sechzehnjähriger Malerlehrling war aus Sicht des Gerichts „durch seine Großmutter, die an Arterienverkalkung litt und vieles Essen und Naschen liebte offenbar zu den Diebstählen verleitet“ worden. Ein weiterer von ihm begangener Diebstahl resultierte dann allerdings aus eigener „Genuß- und Vergnügungssucht“. Hier hatte er nicht, wie in den übrigen abgeurteilten Fällen, Nahrungs- und Genussmittel entwendet, sondern erhebliche Mengen Geld aus dem Kontor der väterlichen Firma gestohlen. 1125 Es bedurfte demnach nicht immer der „Ermunterung“ seiner „kranken“ Großmutter, um den Jungen zu Diebstählen zu bewegen. Er war nach Ansicht der Richter nun selbst „genusssüchtig“ veranlagt, der Einfluss seiner Großmutter ergänzte und bestärkte ihn. f. Sonstige Erklärungen Eine sehr marginale Rolle zur Erklärung jugendlicher Kriminalität nehmen in den Urteilen mit einem Fall kriminogene Freizeitbeschäftigungen wie Kino- und Schundheftekonsum sowie in zwei Fällen Wirtshausbesuche ein. 1126 Ersteres lag sicher auch darin begründet, dass in den ländlichen Gebieten die Gelegenheit zu Kinobesuchen nicht vorhanden war. Diese Erklärung bot sich für die Richter daher auch nicht an. Bei einem Postanwärter nahmen die Richter an, er sei durch das Lesen von Detektivromanen und Kinobesuchen verwirrt worden, was sie ihm strafmildernd zugute hielten. Dazu kam, dass sein Vater als Lokomotivführer berufsbedingt häufig von zu Hause abwesend war. 1127 Die soziologisch-kriminogene Medienwirkung konnte sich daher nur im Zusammenspiel mit den in den Augen der Richter bestehenden Erziehungsbeeinträchtigungen entfalten. 1125 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 24.10.1918 gegen Richard V., StAL E 350a, Bü 1153. 1126 Vgl. die Urteile gegen Heinrich O., Bü 472; Johannes Sch., Eugen Sch. und Franz Sch., Bü 871; sowie Walter Sch., Bü 1123; alle StAL E 350a. 1127 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 9.12.1915 gegen Heinrich O., StAL E 350a, Bü 472. <?page no="328"?> VIII. Urteilsfindung im Krieg 329 Kino und Schundheftchen wurden im jugendkundlichen Diskurs häufig als Auslöser abweichenden Verhaltens Jugendlicher benannt. In erster Linie war dies eine alarmistische Reaktion auf neue Medien, welche stark konstruktivistische Züge trägt - ähnlich der aktuellen Diskussion um die kriminogene Wirkung von Gewalt verherrlichenden Computerspielen, die gleichwohl umstritten und nicht eindeutig geklärt ist. Bei Kino und Groschenheftchen entwickelten Kinder und Jugendliche Mediennutzungsarten und Medienkompetenzen, mit denen sie Erwachsene auf diesem Gebiet „überholten“. So deutet Kaspar Maase den „Schmutz- und Schundkampf“ konsequenterweise auch als einen Generationenkonflikt. 1128 Im konkreten Fall lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn der Junge hatte gemäß der Darstellung des Urteils mit einem ausgeklügelten Betrug 700 Mark illegal an sich bringen können und davon unter anderem einen Revolver gekauft. 1129 Die Frage, ob der Junge von fiktiven Darstellungen „inspiriert“ worden sein könnte, scheint hier nicht allzu abwegig. Ebenfalls nur in zwei überlieferten Urteilen nahmen die Richter auf Wirtshausbesuche Bezug. Im Gegensatz zum Besuch der seltenen und lokal begrenzten Kinovorstellungen waren Wirtshäuser flächendeckend verbreitet. Wirtshäuser konnten daher theoretisch von mehr Jugendlichen aufgesucht werden. So wurde laut Strafkammer ein Mehrfachtäter, der mit 15 begann Diebstähle zu begehen und sich deswegen schließlich mit 17 vor der Strafkammer verantworten musste, durch leichtsinnige Kameraden zum Wirtshausbesuch „verführt“. Dadurch geriet er in Geldnot. Durch diese „Versuchung“ entwickelte er einen „diebischen Hang“ und Leichtsinn. 1130 Hier griffen verschiedene kriminogene Faktoren ineinander. Die primären Auslöser der Entwicklung waren für die Richter jedoch die Wirtshausbesuche. 1128 Vgl. Maase, Kinder als Fremde. 1129 Vgl. Urteil gegen Heinrich O., StAL E 350a, Bü 472. 1130 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 5.8.1918 gegen Walter Sch., StAL E 350a, Bü 1123. <?page no="330"?> Schlussbetrachtung Ziel der Studie war es, die Entwicklung der Jugendkriminalität unter den besonderen Bedingungen des Ersten Weltkrieges anhand eines konkreten Beispiels zu analysieren. Ausgehend von der Theorie des Labeling Approaches in seiner „gemäßigten“ Ausprägung mit der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz - also Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Ursachen und die Etikettierung solcher Verhaltensweisen als abweichend - interessierten dabei zwei wesentliche Punkte. Erstens standen die quantitative Entwicklung und die konkreten Erscheinungsformen jugendlicher Kriminalität im Fokus der Analyse. Zweitens wurde nach dem Umgang der Strafverfolgungsinstanzen mit den kriminellen Jugendlichen gefragt. Als Beispiel diente der Landgerichtsbezirk Ulm, eine überwiegend ländlich-kleinstädtisch geprägte Region mit einigen industriellen Zentren, wie es sie zur damaligen Zeit im Deutschen Reich häufiger gab. Auch die Bevölkerung dieser Region spürte die Auswirkungen des Krieges. Der Alltag militarisierte sich - in der Garnisonsstadt Ulm besonders augenfällig durch die enorm anwachsende Festungsbesatzung. Güter des alltäglichen Bedarfs verknappten sich mehr und mehr, wurden rationiert und verteuerten sich, bis ein umfassender Mangel herrschte. Obwohl die Behörden vorausschauend agiert hatten - Ulm stellte beispielsweise Kleingärten zur Selbstversorgung zur Verfügung - und obwohl die Auswirkungen des Mangels in dieser gemischt strukturierten Region im Vergleich zu industriellen Ballungszentren abgefedert wurden, beeinträchtigte der Krieg das Leben der Menschen maßgeblich. Neben den alle Altersgruppen betreffenden Auswirkungen betrafen Kinder und Jugendliche auch spezielle Entwicklungen. Der Schulalltag wurde den Erfordernissen der Kriegsgesellschaft unterworfen. Der patriotischen Beeinflussung im Unterricht, als es für das Deutsche Reich noch Erfolge zu feiern gab, folgte die Inanspruchnahme der Kinder und Jugendlichen für die Kriegswirtschaft. In Sammlungsaktionen trugen sie erhebliche Mengen Geld, Naturalien und Wertstoffe zusammen; jugendliche Bewohner der Städte halfen bei der Ernte im agrarischen Umland und damit bei der Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung. Die Heranwachsenden waren unverzichtbar. Sie galten gerade im Krieg als kostbare Ressource künftiger Entwicklungen, besonders die Jungen erschienen aber aufgrund bereits vor dem Krieg wahrgenommener und durch den Krieg verstärkter Entwicklungen als gefährdet. Generell bedrohlich waren aus zeitgenössischer Perspektive Aufsichtsmängel und Erziehungsdefizite - die Einberufung großer Teile der männlichen Bevölkerung zum Kriegsdienst schien ein „Autoritätsvakuum“ gefährlichen Ausmaßes herbeizuführen. Die <?page no="331"?> Schlussbetrachtung 332 boomende Rüstungsindustrie - beispielsweise in Geislingen oder Göppingen - bedingte eine verstärkte Abwanderung Jugendlicher von Lehrberufen in ungelernte Industriebeschäftigung, die ebenfalls schon lange vorher als jugendgefährdend ausgemacht worden war. Neue Vertrauenspositionen, etwa bei der Post, in welche Jugendliche als Ersatz für eingezogene Männer rückten, bargen „neue Versuchungen“. Hier setzten diverse behördliche Gegenmaßnahmen an. Vorbeugend forcierte man die Gründung von Jugendwehren, in denen die männliche Jugend körperlich und moralisch gestärkt werden sollte - auch im Hinblick auf einen künftigen Fronteinsatz. Diese Bemühungen stießen jedoch schnell an ihre Grenzen. Den als besonders gefährdet geltenden Teil der Jugend, die jugendlichen Fabrikarbeiter, erreichte die Jugendwehr nicht. Daher versuchten militärische und zivile Behörden mit Restriktionen, als schädlich angesehene Verhaltensweisen zu unterbinden: Rauchen und Wirtshausbesuche wurden verboten, ein Sparzwang, um die scheinbare Verschwendung hoher Löhne zu verhindern, angedacht. Trotzdem kam es - wie von zeitgenössischen Betrachtern alarmiert zur Kenntnis genommen wurde - zu einem Anstieg der Jugendkriminalität. Das manifestiert sich auch in der Entwicklung der Anklagen vor der Strafkammer Ulm. Die Richter des Landgerichtes, der bildungsbürgerlichen Funktionselite zugehörig, waren verstärkt mit der Aburteilung jugendlicher Delinquenten, häufig aus den unteren Schichten, befasst. Im Vergleich zur Vorkriegszeit stiegen die Anklageziffern von Jugendlichen, während die Anklagen gegen Erwachsene zurückgingen. Überwiegend standen Jungen vor den Schranke des Landgerichtes - Delinquenz von Mädchen war selten, beziehungsweise wurde sie sowohl in der Vorkriegsals auch in der Kriegszeit sehr viel seltener gerichtsnotorisch. Die Form der abzuurteilenden Kriminalität spiegelt die sich verschlechternde materielle Situation der Menschen: Überwiegend handelte es sich um Eigentumsdelinquenz, insbesondere um Diebstähle. Hingegen nahmen beispielsweise Anklagen wegen Sittlichkeitsdelikten ab. Die Jugendlichen stahlen Geld, Nahrungs- und Genussmittel, Wertstoffe. Sie verbrauchten ihre „Beute“ entweder selbst und mit ihnen nahe stehenden Menschen wie Familienangehörigen und Freunden oder sie kauften sich dafür eigene Güter auf dem Schwarzmarkt. Damit deutet sich bereits an, dass häufig große Mengen auf einmal gestohlen wurden. Der Mangel des Krieges leistete einer weit reichenden „Selbstversorgermentalität“ Vorschub. Mit diesen Formen jugendlicher Kriminalität hatten sich die Richter auseinander zu setzen. Ihre Aufgabe war in erster Linie die Aburteilung auf Basis der verletzten Straftatbestände, also eine an der Tat orientierte Sühne von Rechtsbrüchen. Allerdings entwickelte sich seit den 1880er-Jahren im Zuge <?page no="332"?> Schlussbetrachtung 333 strafrechtlicher Reformbemühungen eine stärkere Hinwendung zu den Tätern, die - auch wenn die materiellrechtlichen Strafbestimmungen gleich blieben - durch allmähliche Modifikationen der verfahrensrechtlichen Vorgaben in die strafrechtliche Praxis integriert wurden. Beispielsweise bemühte sich der württembergische Justizminister, mit seinen Erlassen die Justizjuristen bei jugendlichen Straftätern vermehrt zu einer pädagogischeren Orientierung ihrer Arbeit zu bewegen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an das Prozedere der bedingten Begnadigung. Auch oder gerade angesichts der Kriminalitätsentwicklung während des Krieges wurde diese Richtung beibehalten. Gleichwohl war die Strafkammer des Landgerichts Ulm ein „herkömmliches“ Gericht und nicht etwa - wie das Jugendgericht in Stuttgart - auf die Aburteilung jugendlicher Straftäter spezialisiert. Anknüpfungspunkte für die strafrichterliche Praxis boten Diskurse über Kriminalität. Die Kriminologie beschäftigte sich seit mehreren Jahrzehnten mit der Ergründung der Ursachen kriminellen Verhaltens und rückte dabei besonders pathologische Faktoren in den Fokus ihrer Betrachtungen. Konkret mit Bezug auf die Jugendkriminalität setzten sich Abhandlungen in der juristischen Fachpresse mit den Auswirkungen des Krieges auf jugendliche Delinquenz auseinander. Als wichtigste kriegsbedingte Ursache sahen die Juristen - analog zu Vertretern anderer Disziplinen wie der Jugendkunde - die Abwesenheit von männlichen Autoritätspersonen, besonders der Väter, an. Weiterhin sprachen sie den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen in Form von hohen Löhnen und neuen „Versuchungen“ kriminogene Wirkungen zu. Auch Mangel und Not erschienen kriminalitätssteigernd. Eine geringere Rolle spielten die vermeintlichen Auswirkungen des Krieges auf die jugendliche Psyche; die „Aufregung“ durch die Präsenz von Soldaten, Berichte über den Krieg oder Ähnliches. Es stellte sich die Frage, ob die Richter die Anknüpfungspunkte nutzten. Nicht immer versuchten sie, die Ursachen der strafrechtlichen Fehltritte der Jugendlichen zu ergründen. Die in den Urteilen kursierenden Ursachen konnten in drei Gruppen unterteilt werden: biologistisch-essentialisierende, biologische und soziologische Ursachen, wobei die kriegsbedingten Ursachen den soziologischen Ursachen zuzurechnen sind. 1131 Bei der Urteilsfindung der Ulmer Richter, soweit sie aus den überlieferten Urteilen rekonstruiert werden kann, spielte der Kriegszustand mit seinen Folgen und ihr tatsächlicher sowie vermeintlicher Einfluss auf die Entwicklung jugendlicher Delinquenz und Delinquenten eine eher untergeordnete 1131 Siehe dazu Tabelle 16. <?page no="333"?> Schlussbetrachtung 334 Rolle. Bei über 130 analysierten Verfahren machen die 13 Urteile, in denen dem Krieg explizit eine Bedeutung für delinquentes Handeln Jugendlicher zuerkannt wird, nur einen kleinen Anteil aus. Bis auf eine Ausnahme finden sich lediglich bei Eigentums-, Vermögens-, Urkunden- und Amtsdelikten Querverweise der Richter zu möglichen im Krieg fußenden Ursachen der Straftatbegehung. Wurde das Urteil auch mit Rekurs auf besondere, durch den Krieg hervorgerufene Umstände gefällt, verliefen die Begründungen entlang der durch die Fachpublizistik vorgegebenen Argumentationsstränge. Der wichtigste von ihnen in den Urteilen war die Erklärung abweichenden Verhaltens mit dem durch die Abwesenheit von Vätern und Vormündern an der Front hervorgerufenen Autoritätsvakuum, in dem sich die straffällig gewordenen Jugendlichen wieder-fanden. Auch über das kriegsbedingte Autoritätsvakuum hinaus besaßen Aufsichtsmängel jedoch eine Relevanz zur Deutung von kriminellem Handeln, konkret in 15 weiteren überlieferten Urteilen. Eine untergeordnete Rolle spielte das Deutungsmuster der kriegsbedingt „angeregten Phantasie“ bei der Erklärung jugendlicher Kriminalität. Neue Deutungen für die Kriminalität während des Krieges dachten die Richter hingegen nicht an. Dagegen fand die Kriegssituation auf anderem Wege Eingang in die Urteilspraxis: als Bereich neuen Alltagswissens. Die Richter begründeten unter Rekurs auf den grassierenden Mangel ihre Beweisführung bei Hehlerei - waren knappe Güter erworben worden, konnten die Angeklagten kaum Unwissenheit vorschützen. Zudem bewerteten die Richter bestimmte Formen von Eigentumsdelinquenz vor dem Hintergrund ihrer „vaterländischen Pflicht“ an der Heimatfront. Diebstähle von Soldateneigentum galten als besonders verwerflich. Bereits im Krieg wurde der Anstieg der Kriminalität durch zeitgenössische Beobachter wahrgenommen und unter anderem im juristischen Fachdiskurs aufbereitet. In der Praxis vor Gericht spielten diese Reflexionen dagegen keine entscheidende Rolle. Ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielten explizit an kriminologischen Konzepten orientierte biologistische Erklärungen, welche die Richter auf acht jugendliche Angeklagte anwendeten. Schließlich weisen neun Urteile auf „jugendlichen Leichtsinn“ respektive „Unbesonnenheit“, ein biologisches Erklärungsmuster, als ursächlich für das Begehen strafbarer Handlungen bei Heranwachsenden hin. In weiteren 18 Urteilen beziehen sich die Richter auf die Erklärung von Kriminalität durch „schlechte Gesellschaft“, schädlichen Medienkonsum, Wirtshausbesuche und ähnliche soziologische Deutungsmuster. Am wichtigsten für die Urteilsfindung der Richter waren essentialisierende Erklärungen. Über 40 der vor ihnen stehenden Jugendlichen be- <?page no="334"?> Schlussbetrachtung 335 scheinigten sie „Genusssucht“, „Arbeitsscheue“ oder beurteilten sie als „verwahrlost“ und erklärten auf diese Weise das abweichende Verhalten. In Bezug auf die Nutzbarmachung neuer kriminologischer Erkenntnisse in der alltäglichen Praxis der Gerichte bietet sich ein sehr differenziertes Bild. Wären lediglich soziologische, biologische und essentialisierende Ursachen in den Urteilen zu finden, wäre es legitim zu vermuten, dass essentialisierende Faktoren als Auslöser für delinquentes Verhalten Jugendlicher noch einer religiös-moralischen Vorstellung von Kriminalität entsprächen, die in der Kriminologie bereits als überholt galt. Da die Juristen auch auf biologistische Bilder von „degenerierten“ Menschen verwiesen, kann davon nicht mehr ausgegangen werden. Vielmehr bedeutet das Auftreten biologistischer Stereotype im Verbund mit essentialisierenden Bildern, welche nicht mehr nur althergebrachte religiös-moralische Kategorien, sondern auch als breitenwirksam umgesetzte kriminologische Konzepte gedeutet werden können, dass das neue Wissen der Kriminologie bereits bis zu den Richtern durchgesickert war. Mehr noch - sie wandten es in ihrer alltäglichen Berufspraxis im Umgang mit delinquenten Jugendlichen auch souverän an. Natürlich treten in den Urteilen keine kriminologischen Konzepte in Reinform zu Tage. Die Juristen operationalisierten sie und wählten die im konkreten Einzelfall passenden Kombinationen aus. Es ist auch fraglich, ob sie sich kriminologisches Wissen neben ihrer Tätigkeit am Gericht aktiv durch die Rezeption von Fachpublikationen angeeignet hatten. Gleichwohl jonglierten sie mit Bildern „jugendlicher Verbrecher“, die sich in ihren Augen substanziell von ihren „normalen“ Altersgenossen unterschieden. Die kriminologischen Konzepte waren zumeist verfremdet, umgeformt und für den alltagsjuristischen Gebrauch „zurechtgeschnitten“ worden. Man könnte von vulgärkriminologischen Erklärungen sprechen. Gerade hierin lag der besonders attraktive und „nutzerfreundliche“ Charakter kriminologischer Bilder begründet. Durch biologistische Aufladung althergebrachter Stereotype - beispielsweise von „genusssüchtigen“ Menschen, welche an die religiöse Ablehnung der „Völlerei“ anknüpfte, konnten diese wissenschaftlichen Konzepte in den strafprozessualen Alltag integriert werden, ohne dass eine vorherige intensive Beschäftigung notwendig war. Zum Abschluss soll pointiert die Frage aufgeworfen werden, ob jugendliche Angeklagte den Gerichtssaal häufiger ohne negative Etikettierungen verließen oder ob sie häufiger stigmatisiert respektive pathologisiert wurden. Dazu werden die zuvor gewonnenen Erkenntnisse zusammen mit einer Auszählung der Urteilsschriften auf diese Fragestellung hin verdichtet. Zunächst stechen die Urteile heraus, in denen die Richter auch Ursachen für das kriminelle Verhalten der jugendlichen Angeklagten zu ergründen <?page no="335"?> Schlussbetrachtung 336 versuchten. Doch wie bereits erläutert, unterließen die Richter in einigen Fällen diese Differenzierungen und urteilten knapp nach den Straftatbeständen der verletzten Strafgesetze ab - ohne auf die Persönlichkeit oder weitere Faktoren einzugehen und damit auch ohne Zuschreibungen jedweder Art vorzunehmen. Zudem gilt es, zwischen Ursachen zu unterscheiden, mit denen Richter Jugendliche stigmatisierten oder pathologisierten, und jenen, bei denen dies unterblieb. Wie dargestellt, wirkten essentialisierende Erklärungen stigmatisierend. Die meisten biologistischen Erklärungen - mit Ausnahme des stigmatisierenden Etikettes eines „Gewohnheitsverbrechers“ - pathologisierten die betreffenden Jugendlichen. Ein wichtiger Unterschied ergab sich dabei aber bei der Strafzumessung. Während essentialisiernde Ursachen und die Persönlichkeitsstruktur des „Gewohnheitsverbrechers“ straferhöhend Berücksichtigung fanden, zogen die Richter „krankhafte“ Eigenschaften, festgemacht an biologistischen Erklärungen, strafmildernd heran. Dies brachte es gleichwohl für diese Gruppe von Angeklagten mit sich, als vom akzeptierten Durchschnitt der Bevölkerung abweichende Personen etikettiert zu werden. Biologische Erklärungen entschuldigten die Taten Jugendlicher als Auswuchs der natürlichen psychologischen und physiologischen Entwicklungsstufen. Auch die soziologischen Deutungen jugendlicher Kriminalität führten - wenn sie alleine oder in Kombination mit biologischen Ursachen genannt wurden - weder zur Pathologisierung noch zur Stigmatisierung der Täter. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass beispielsweise die gerichtliche Diagnose „unguter Familienverhältnisse“ zwar die abzuurteilenden Jugendlichen moralisch entlastete, ihre Eltern dafür aber belasten konnte, außer es lagen „unverschuldete Mängel“ vor, wie die kriegsbedingte Abwesenheit der Väter. Insgesamt wurden in den 136 analysierten Urteilen 211 Jugendliche abgeurteilt - Mehrfachtäter und freigesprochene Jugendliche eingeschlossen, darunter 29 Mädchen. 1132 Durch essentialisierende oder biologistische Etikettierungen wurden 50 Jungen und 5 Mädchen, also zusammen etwa ein Viertel der Jugendlichen, als abweichende Persönlichkeiten stigmatisiert. Von biologistischen Zuschreibungen krankhafter Eigenschaften war hingegen nur ein Bruchteil betroffen. Das Gericht pathologisierte zwei Mädchen und drei Jungen. Zudem wurde ein Junge sowohl als abweichende Persönlichkeit stigmatisiert als auch pathologisiert. 1132 Siehe zu diesen und den folgenden Zahlenangaben die Zusammenstellung im Anhang, S. 341. <?page no="336"?> Schlussbetrachtung 337 Dem stehen Täter gegenüber, bei denen Ursachen angenommen wurden, welche sie entlasteten - sei es, dass sie aus „jugendlichem Leichtsinn“ handelten, sie als „Verführte“ galten oder ihre häuslichen Verhältnisse „schuld“ an ihrem Fehltritt waren. Dazu gesellten sich die Jugendlichen, bei denen das Gericht den Ursachen nicht näher nachging und keine weitere Persönlichkeitsforschung betrieb. Sie alle verließen das Gericht zwar meistens - nur wenige Jugendliche, für die das Urteil überliefert ist, wurden freigesprochen - mit einem strafrechtlichen Schuldspruch, aber eben ohne als Person abgewertet worden zu sein. Das waren 150 Jugendliche (22 Mädchen und 128 Jungen), also fast drei Viertel der Untersuchungsgruppe. Aus der Auswertung der überlieferten Urteile kann man daher schließen: In der überwiegenden Mehrzahl verurteilte das Gericht die angeklagten Jugendlichen aufgrund ihrer strafrechtlichen Fehltritte, ohne sie weiter zu stigmatisieren oder zu pathologisieren oder überhaupt eine Erforschung der Ursachen für nötig zu halten. Da die Zahlen eine sehr deutliche Tendenz erkennen lassen, darf aus den überlieferten Urteilen auch auf die generelle Praxis der Strafkammer geschlossen werden. Auch wenn vor dem Landgericht Ulm Tendenzen zu einer von der Kriminologie inspirierten grundsätzlichen Trennung zwischen „gesunden“, „normalen“ Individuen auf der einen und „kranken“ oder „abweichenden“ Verbrechern auf der anderen Seite zu beobachten sind, so dominierten sie die Rechtsprechung der Strafkammer in Jugendsachen nicht. Pauschale Vermutungen der Art, dass die Richter jugendliche Angeklagte aus den unteren Schichten per se stigmatisiert hätten, finden außerdem keine Bestätigung. Natürlich kommt dies in der Summe häufiger vor, da aufgrund verschiedener Faktoren mehr Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten vor Gericht standen. Allerdings verurteilte das Gericht auch Tagelöhner oder Kinder von Ungelernten, ohne in ihnen „abweichende Persönlichkeiten“ zu sehen, und bewerteten ihre Taten aus „jugendlichem Leichtsinn“. 1133 Auch Kinder aus unkonventionellen und daher skeptisch beäugten Familien - wie unehelich Geborene - zogen nicht zwangsläufig moralische Verurteilungen auf sich. 1134 Bei der Einschätzung der Jugendlichen war die Deliktart nicht entscheidend. Es lassen sich keine Muster in der Rechtssprechung feststellen. Diebe konnten ebenso persönlich abgewertet werden wie Sittlichkeitsverbrecher, auf der anderen Seite konnten Sittlichkeitsverbrecher genau wie Betrüger frei 1133 Vgl. Urteile gegen Christof S. und Johann H., Bü 474; und Ludwig L. u. a., Bü 896; beide StAL E 350a. 1134 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 7.5.1917 gegen Hedwig W. und Antonia M., StAL E 350a, Bü 960. <?page no="337"?> Schlussbetrachtung 338 von negativen Zuschreibungen verurteilt werden. Es kam demnach auf das Gesamtbild an, welches die Richter von den einzelnen jugendlichen Persönlichkeiten in Kombination mit den betreffenden Straftaten erhielten. Für männliche Sittlichkeitsverbrecher galt, dass optional die gewalttätige Form der Sexualität nach herrschender Sichtweise in jedem Mann vorhanden war. Ob diese erfolgreich beherrscht werden konnte oder zum Ausbruch drängte, hing idealtypisch von der Klassenzugehörigkeit ab - Proletarier könnten sich schwieriger beherrschen als gebildete, bürgerliche „Kulturmenschen“. 1135 Es war eine Frage der Sozialisation, ob männliche Sexualität in geordneten Bahnen blieb. Demnach konnten jugendliche Sittlichkeitsverbrecher frei von Stigmatisierungen oder Pathologisierungen verurteilt werden, da ihnen Erziehungsdefizite nicht zwangsläufig „angekreidet“ wurden. Die Verantwortung lag in diesen Fällen bei den Eltern und nicht bei den Jugendlichen selbst. Die Taten waren nur in einem bestimmten Rahmen dafür ausschlaggebend, welche Ursachen angenommen wurden, und damit auch, ob die jeweiligen Täter als abweichende Persönlichkeiten etikettiert wurden oder ihre Taten zumindest als nachvollziehbar erschienen. Entscheidend waren die angeklagten Jugendlichen selbst, respektive deren Wahrnehmung. Das lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass wegen einer Straftat gemeinsam vor Gericht stehende Jugendliche ganz unterschiedlich durch die Richter bewertet wurden. So im Falle von zwei entlaufenen Fürsorgezöglingen, die auf ihrer länger dauernden Flucht mindestens einen Einbruchsdiebstahl begingen. Einer wird im Urteil als „grundverdorbener Bursche, bei dem zu befürchten ist daß er unaufhaltsam dem Zuchthause zusteuert“ beschrieben - die Begehung der Straftaten führten die Richter demnach essentialisierend auf seine Persönlichkeitsstruktur zurück. Seinen Mitangeklagten hatte dieser abweichende Mensch nach Überzeugung der Richter zu den Straftaten verführt - bei diesem lagen also eher soziologische Gründe, die schlechte Beeinflussung durch seine „schlechte Gesellschaft“, seinen Fehltritten zugrunde. Er wurde, obwohl er vor Gericht der gleichen Taten überführt worden war, nicht dauerhaft stigmatisiert. Auch für das Strafmaß spielten diese Einschätzungen eine entscheidende Rolle: vier Monate Gefängnis für den „verdorbenen“ Jungen, drei Wochen für den „Verführten“. 1136 Bei der Untersuchung der polizeilichen Ermittlungsarbeit hatten sich Tendenzen angekündigt, dass bestimmte Gruppen Jugendlicher besonders in den Fokus der Strafverfolgungsinstanzen gerieten. Diese Gruppen wurden 1135 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen, S. 74 ff. 1136 Vgl. Urteil der Strafkammer des Kgl. Landgerichtes Ulm vom 29.11.1917 gegen Leonhard N. und Albert D., StAL E 350a, Bü 1026. <?page no="338"?> Schlussbetrachtung 339 schließlich angeklagt und vor Gericht gestellt. Mit Blick auf bestehende Stereotype und Vorentscheidungen der Ermittler wirkten die Richter fast als ein (ungewolltes) Korrektiv, da sie die Jugendlichen sehr häufig „nur“ verurteilten und sich weiterer Zuschreibungen oft enthielten. Damit soll nicht postuliert werden, die Richter hätten den delinquenten Jugendlichen Sympathie oder besondere Empathie entgegengebracht. Sie brachten aber häufig keine eigenen Zuschreibungen an. Eine Rolle mag dabei auch die Arbeitsbelastung der Richter im Krieg gespielt haben: Sie hatten schlicht keine Zeit, um sich Ursachenforschung und Etikettierung (was ja arbeitsökonomisch einen Mehraufwand bedeutete) zu widmen. Es geht hier um die Feststellung der Folge der Verurteilung, nicht eines guten Willens der Richter. Entscheidend ist auch Folgendes: Man muss sich zur Einschätzung dieser Befunde erneut vergegenwärtigen, unter welchen Rahmenbedingungen die Richter ihre Urteile fällten. Vielfach erklangen Klagen über einen Anstieg jugendlicher Kriminalität und Verwahrlosung im Krieg - seitens Jugendkundlern und Juristen in Fachdiskursen 1137 , in der Lokalpresse 1138 und seitens ehrenamtlicher Jugendpfleger. 1139 Als Reaktion darauf bemühte sich beispielsweise das Stellvertretende Generalkommando in Stuttgart, mit alarmistischen Erlassen die „Zuchtlosigkeit“ einzudämmen. Die Stimmung für eine weitgehende Etikettierung jugendlicher Delinquenten war also gegeben. Demgegenüber - und nur vor diesem Hintergrund - erscheint die richterliche Urteilspraxis im Krieg eher ausgeglichen respektive in einem bestimmten Maße desinteressiert. Die Richter ließen sich zwar zumeist nicht auf jugendliche Sichtweisen und Erklärungsversuche ein, etwa wenn diese vorgaben, aus Mangel gestohlen zu haben. Ein solcher Blickwinkel wäre ohnehin eher merkwürdig gewesen - natürlich urteilten die Richter aus der Perspektive staatlicher Funktionsträger. Sie waren dazu da, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten - und diese Ordnung war von bürgerlichen Wertvorstellungen geprägt. Trotzdem - General von Schäfer wäre wohl enttäuscht über diese „juristische Klüngelei“ gewesen. 1137 Siehe Punkt VIII.2.a. 1138 Vgl. u. a. Jugendfürsorge im Krieg, in: UTb vom 7.1.1915 (1. Blatt); Jugendgerichtshilfe, in: UTb vom 29.9.1915 (1. Blatt). 1139 Vgl. Bericht des Stuttgarter Jugendsekretariats (Jugendverein) Jugendfürsorge vom 16.3.1916 an das Kgl. Wü. Innenministerium: Die Kriminalität der Jugendlichen während des Kriegs nach den Erfahrungen der Stuttgarter Jugendgerichtshilfe, HStAS E 151/ 09, Bü 156. <?page no="340"?> Anhang Liste der verwendeten Strafakten Akten betreffend Strafverfahren gegen Jugendliche (StAL E 350a) mit Angaben zur Etikettierung der jugendlichen Angeklagten Bü Name Angaben zur Etikettierung 2 Michael Sch. nicht als abweichend etikettiert 3 Heinrich O. stigmatisiert 4 Adolf B. stigmatisiert 5 Martin H. nicht als abweichend etikettiert 194 Marie K. nicht als abweichend etikettiert 199 Viktoria S. (erw.) Franz S. nicht als abweichend etikettiert 202 Wilhelm Karl K. nicht als abweichend etikettiert 472 Heinrich O. nicht als abweichend etikettiert 473 Alfons L. nicht als abweichend etikettiert 474 Christof S., Johann H. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 475 Johann D. nicht als abweichend etikettiert 485 Alfons I. Wilhelm M. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 490 Karl St. nicht als abweichend etikettiert 491 Albert K. Franziska W. Magdalene B. Anna W. Frida B. Klara B. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 496 Leonhard B. nicht als abweichend etikettiert 776 Linus W. nicht als abweichend etikettiert 778 Anna Maria W. pathologisiert 779 Marie W. Rosa S. Elise W. Dorothea S. Marie B. pathologisiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert <?page no="341"?> Anhang 342 Bü Name Angaben zur Etikettierung 844 Hans Sch. nicht als abweichend etikettiert 853 Georg B. nicht als abweichend etikettiert 856 Georg K. Albert M. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 858 Hermann R. pathologisiert 859 Georg K. stigmatisiert 860 Albert M. Martin S. Georg K. Walburga K. (erw.) Barbara S. (erw.) nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 864 Karl Sch. stigmatisiert 865 Anton W. nicht als abweichend etikettiert 866 Friedrich H. stigmatisiert 867 Georg L. stigmatisiert 868 Erwin B. Karl S. stigmatisiert stigmatisiert 870 Leonhard H. pathologisiert 871 Johannes Sch. Eugen Sch. Franz Sch. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 877 Albert Z. nicht als abweichend etikettiert 878 Julius B. stigmatisiert 881 Christian K. stigmatisiert 886 Eugen G. Eugen B. Albert W. Hermann L. (erw.) Rosine L. (erw.) nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 891 Josef V. Engelbert G. (erw.) nicht als abweichend etikettiert 892 Karl T. Gustav K. stigmatisiert stigmatisiert 894 Max H. Otto S. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 896 Ludwig L. Adolf L. Albert K. Karl H. Berta M. (erw.) nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert <?page no="342"?> Anhang 343 Bü Name Angaben zur Etikettierung 898 Josef A. stigmatisiert 899 Johannes H. nicht als abweichend etikettiert 901 Johann Adolf W. Heinrich Sch. (erw.) Rosine Sofie W. (erw.) Karl L. (erw.) Anna Sch. (erw.) Christian M. (erw.) Berta W. Anna M. (erw.) nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 903 Georg B. Josef G. Alois G. (erw.) Magdalena G. Theresia G. (erw.) Johannes W. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 904 Magdalene R. stigmatisiert 905 Eugen W. Johann B. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 910 August E. Johannes B. Adolf G. Friedrich G. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 917 Mathäus E. pathologisiert und stigmatisiert 919 Otto M. nicht als abweichend etikettiert 925 Friedrich P. nicht als abweichend etikettiert 928 Otto M. stigmatisiert 929 Wilhelm Johannes Daniel W. stigmatisiert 935 Georg B. stigmatisiert 938 Christian H. nicht als abweichend etikettiert 950 Jakob M. Georg H. Christian M. (erw.) Johannes H. (erw.) Marie H. (erw.) nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 960 Hedwig W. Antonia M. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 965 Mathäus E. pathologisiert 966 Wilhelm H. nicht als abweichend etikettiert 972 Jakob H. nicht als abweichend etikettiert <?page no="343"?> Anhang 344 Bü Name Angaben zur Etikettierung Johannes S. nicht als abweichend etikettiert 974 Eugen R. stigmatisiert 979 Otto H. stigmatisiert 980 Karl G. nicht als abweichend etikettiert 985 Paul F. Josef M. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 990 Peter W. stigmatisiert 992 Albert Sch. stigmatisiert 993 Josef Sch. stigmatisiert 994 Karoline S. stigmatisiert 998 Florian N. nicht als abweichend etikettiert 1003 Konrad B. stigmatisiert 1005 August H. Johann K. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1007 Georg L. Ernst K. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1014 Albert G. Josef K. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 1020 Ambrosius M. (erw.) Clemens S. Albert G. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1026 Leonhard N. Albert D. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 1027 Matthäus K. nicht als abweichend etikettiert 1028 Hugo B. stigmatisiert 1035 Walter Sch. nicht als abweichend etikettiert 1048 Anton Sch. Xaver S. (erw.) nicht als abweichend etikettiert 1052 Peter W. Anton G. stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 1061 Anton Engelbert S. nicht als abweichend etikettiert 1063 Richard H. Barbara H. (erw.) nicht als abweichend etikettiert 1064 Ernst Sch. Johannes K. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1065 Eugen K. (erw.) Gustav I. nicht als abweichend etikettiert 1066 Bernhard W. stigmatisiert 1071 Johann Georg G. stigmatisiert 1072 Eugen K. nicht als abweichend etikettiert <?page no="344"?> Anhang 345 Bü Name Angaben zur Etikettierung Gustav R. Karl V. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1075 Leonhard R. stigmatisiert 1078 Eugen H. Adolf K. Wilhelm H. (erw.) Edwin R. (erw.) Berthold M. Hugo A. Richard Sch. Wilhelm I. Karl B. Albert H. Karl B. Emil E. Karl S. (erw.) Karl Ü. Emil M. Theodor B. Karl A. Alfons M. Karl N. stigmatisiert stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1083 Otto Sch. nicht als abweichend etikettiert 1087 Anton L. Ferdinand Sch. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1088 Otto S. nicht als abweichend etikettiert 1089 Karl H. nicht als abweichend etikettiert 1092 Franz F. Georg G. Theodor Z. Fridolin K. stigmatisiert stigmatisiert stigmatisiert nicht als abweichend etikettiert 1099 Rudolf Georg O. nicht als abweichend etikettiert 1105 Michael S. nicht als abweichend etikettiert 1116 Franz H. Johannes Z. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 1119 Ernst H. nicht als abweichend etikettiert 1120 Anton H. stigmatisiert 1122 August Sch. nicht als abweichend etikettiert 1123 Walter Sch. stigmatisiert 1126 Carl H. stigmatisiert <?page no="345"?> Anhang 346 Bü Name Angaben zur Etikettierung 1130 August G. nicht als abweichend etikettiert 1133 Karl D. stigmatisiert 1134 Franziska S. (erw.) Marie S. nicht als abweichend etikettiert 1137 Emil S. (erw.) Franz A. Eugen E. (erw.) Alois H. (erw.) Erhard Sch. (erw.) nicht als abweichend etikettiert 1153 Richard V. stigmatisiert 1164 Karoline K. nicht als abweichend etikettiert 1172 Paul Wilhelm B. stigmatisiert 2106 Ewald O. stigmatisiert 2107 Ernst R. nicht als abweichend etikettiert 2109 Hugo Robert G. stigmatisiert 2167 Martha H. nicht als abweichend etikettiert 2183 Friedrich M. Alois R. Georg M. Eugen G. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 2194 Alfred R. Otto H. Georg S. Christian G. Wilhelm Heinrich K. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 2294 Christine G. nicht als abweichend etikettiert 2298 Meinrad Blasius H. nicht als abweichend etikettiert 2299 Wilhelm Andreas M. nicht als abweichend etikettiert 2311 Georg P. nicht als abweichend etikettiert 2577 Marie Albertine E. stigmatisiert 2583 Karoline T. nicht als abweichend etikettiert 2613 Barbara S. nicht als abweichend etikettiert 5489 Karl H. stigmatisiert 5492 Gustav G. Klara G. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 5494 Cäzilie J. stigmatisiert 5497 Elisabetha H. nicht als abweichend etikettiert 5498 Eugen F. Georg B. nicht als abweichend etikettiert nicht als abweichend etikettiert 5501 Lorenz R. nicht als abweichend etikettiert <?page no="346"?> Anhang 347 Bü Name Angaben zur Etikettierung Franz W. nicht als abweichend etikettiert 5502 Karl H. stigmatisiert 5503 Paul Josef W. nicht als abweichend etikettiert 5507 Karl E. nicht als abweichend etikettiert 5511 Karl E. stigmatisiert 5514 Jakob Z. nicht als abweichend etikettiert 5519 Heinrich B. stigmatisiert 5521 Leonhard Sch. nicht als abweichend etikettiert 5525 Martin G. nicht als abweichend etikettiert 5528 Alfons I. nicht als abweichend etikettiert 5841 Marie G. stigmatisiert <?page no="347"?> Abkürzungen ABl Wü IM: Amtsblatt des Königlich Württembergischen Ministeriums des Innern ABl Wü JM: Amtsblatt des Königlich Württembergischen Justizministeriums ABl Wü MKSch: Amtsblatt des Königlich Württembergischen Ministeriums des Kirchen und Schulwesens AfS: Archiv für Sozialgeschichte BdIP: Blätter für deutsche und internationale Politik BGB: Bürgerliches Gesetzbuch Bü: Büschel (Bezeichnung für Archivalien aus Württemberg) DJZ: Deutsche Juristen-Zeitung DRZ: Deutsche Richter-Zeitung DtStrZ: Deutsche Strafrechts-Zeitung GG: Geschichte und Gesellschaft GS: Der Gerichtssaal GVG: Gerichtsverfassungsgesetz des Deutschen Reiches HA: Historische Anthropologie HStAS: Hauptstaatsarchiv Stuttgart IKV: Internationale Kriminalistische Vereinigung IM: Innenministerium JW: Juristische Wochenschrift KrimJ: Kriminologisches Journal KZfSS: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie MGM: Militärgeschichtliche Mitteilungen MGZ: Militärgeschichtliche Zeitung RGBl: Reichsgesetsblatt RegBl Wü: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg RStGB: Reichsstrafgesetzbuch SPL: Strafprozessliste StAL: Staatsarchiv Ludwigsburg StGB: Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland StPO: Strafprozessordnung für das Deutsche Reich UTb: Ulmer Tagblatt VSWG: Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ZfPäd: Zeitschrift für Pädagogik ZfRSoz: Zeitschrift für Rechtssoziologie <?page no="348"?> Anhang 349 ZWLG: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte ZNR: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte ZStW: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft <?page no="349"?> Quellenverzeichnis Nicht archivierte Quellen Angaben aus den noch beim Landgericht Ulm lagernden Personalakten, zusammengestellt vom Landgericht Ulm Archivbestände Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 14: Königliches Kabinett II, 1805 - 1918 E 130b: Staatsministerium, 1876 - 1945 E 151/ 09: Innenministerium, Geschäftsteil IX: Wohlfahrtspflege, Jugendfürsorge, Armenwesen (Fürsorge), 1808 - 1945 EA 4/ 150: Justizministerium: Personalakten „Alt-Württemberg“, 19./ 20. Jahrhundert M 77/ 1: Stellvertretendes Generalkommando XIII. A.K./ Generalkommando, 1914 - 1920 M 430/ 3: Personalakten III, 19./ 20. Jahrhundert Staatsarchiv Ludwigsburg E 179 II: Kreisregierung Ulm: Verwaltungsakten, 1818 - 1924 E 191: Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins bzw. für Wohltätigkeit, 1818 - 1971 E 349: Kreisgerichtshof/ Landgericht Ulm: Amtsbücher, Register, Protokolle, 1806 - 1945 E 350 a: Landgericht Ulm: Strafkammer, 1893 - 1945 F 276 II: Amtsgericht Kirchheim unter Teck, 1773 - 1939 Gesetze und Verordnungen C. V ON B RIESEN , Das Reichskriegswesen und die Preußische Militair-Gesetzgebung, Düsseldorf 1872. P. D AUDE , Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Februar 1877 und das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877/ 17. Mai 1898/ 1. Juni 1909, 9. Aufl., München/ Berlin 1917. R EINHARD F RANK , Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze, 1. bis 14., neu bearb. u. ergänzte Aufl., Tübingen 1915. 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