eBooks

Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750)

0119
2011
978-3-8649-6225-7
978-3-8676-4254-5
UVK Verlag 
Prof. Dr. Mark Häberlein
Christian Kuhn
Lina Hörl

Die Beiträge dieses Bandes untersuchen die Generationengeschichte der europäischen Stadt der Vormoderne in unterschiedlichen sozialen und literarischen Kontexten. Ausgehend von aktuellen Debatten um Generationenbewusstsein und -konflikte in früheren Epochen thematisieren sie Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Altersgruppen in städtischen Räumen, materielle und immaterielle Übertragungsprozesse, innerfamiliäre Konflikte und Generationenmotive in literarischen Texten. In all diesen Konstellationen zeichnen sich kulturelle Praktiken und grundlegende Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Vormoderne ab.

<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 20 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch Ute Frevert · Iris Gareis · Silke Göttsch · Hans-Jürgen Lüsebrink Wilfried Nippel · Hedwig Röckelein · Andreas Roth · Gabriela Signori Reinhard Wendt <?page no="2"?> Mark Häberlein, Christian Kuhn, Lina Hörl (Hg.) Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750) UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-225-7 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Zwei der 32 Urururgroßeltern aus der Ahnenfolge des Martin II. Pfinzing von Jost Ammann 1568, Hallerarchiv Nürnberg-Großgründlach, Pfinzingbibel Bd. 1 (Foto: Markus Hilbich, Berlin) Druck: Bookstation GmbH, Sipplingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Vorwort Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des DFG-Graduiertenkollegs „Generationenenbewusstsein und Generationenkonflikte in der Antike und im Mittelalter“ zurück, die im Februar 2009 an der Universität Bamberg stattfand. Dem Sprecher und der stellvertretenden Sprecherin des Kollegs, Prof. Dr. Hartwin Brandt und Prof. Dr. Ingrid Bennewitz, gilt unser herzlicher Dank für die Möglichkeit, diese Tagung auszurichten, sowie für die Finanzierung der Drucklegung. Ferner danken wir Dr. Hartmut Bock und Berthold Freiherr von Haller für ihre Beteiligung an der Tagung; Letzterer hat uns auch die Abbildung auf dem Umschlag zur Verfügung gestellt. Die Betreuung des Bandes von Verlagsseite lag in den bewährten Händen von Uta C. Preimesser; das Register hat Gabi Schopf erstellt. Bamberg, im August 2010 Die Herausgeber <?page no="6"?> 7 Inhalt M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN Einleitung 9 B ENJAMIN S CHELLER Intergenerationelle Übertragung kultureller Differenz: Konvertierte Juden und ihre Nachkommen in der apulischen Hafenstadt Trani im späten Mittelalter 25 H EINRICH L ANG Zwischen Geschäft, Kunst und Macht: Das genealogisch-transzendentale Generationenmodell bei Patronage und Dynastiebildung der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts 43 M AXIMILIAN S CHUH Von alten Bürgern und jungen Studenten im spätmittelalterlichen Ingolstadt. Universität und Stadt im Generationenkonflikt? 73 C HRISTIAN K UHN Von Wohl, Ehre und Größe der Familie zu Generation. Der Generationsdiskurs in Albertis Della Famiglia (1433/ 41) und in der Familiengeschichtsschreibung Christoph Scheurls (1542) 93 B RITTA S CHNEIDER Reich statt Augsburg? Fuggersche Generationenkonflikte vor Gericht 117 M ARK H ÄBERLEIN Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte im Spiegel einer patrizischen Familienkorrespondenz des frühen 17. Jahrhunderts 133 <?page no="7"?> 8 P IA C LAUDIA D OERING Der gesellschaftliche Aufstieg des Corneilleschen Helden im Kontext des Generationenkonflikts (L’illusion comique - Le menteur - Le Cid) 149 C ORINNA F LÜGGE Adapting Arndt. Die Rezeption von Johann Arndts Büchern vom wahren Christentum als Indiz für den religiösen Generationenwechsel im städtischen England der Restaurationszeit 175 G ESA I NGENDAHL Witwenhaushalte in der frühneuzeitlichen Stadt: (k)ein Generationenprojekt 193 Autorenverzeichnis 213 Personenregister 215 Ortsregister 219 <?page no="8"?> 9 Mark Häberlein und Christian Kuhn Einleitung 1. Thematik und Zielsetzung Der vorliegende Sammelband verknüpft zwei Forschungsperspektiven, die bislang weitgehend getrennt voneinander betrachtet wurden. Während sich die Generationenforschung entweder auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentriert 1 oder sich - nicht zuletzt im Rahmen des Bamberger Graduiertenkollegs - mit höfisch-dynastischen, kirchlichen und literarischen Gegenständen in der Antike und im Mittelalter befasst hat, 2 richtete die sozial- und kulturhistorisch ausgerichtete Stadtgeschichtsforschung ihr Augenmerk vor allem auf die politische Verfasstheit, sozialen Strukturen, Familien- und Haushaltsformen sowie Praktiken der Repräsentation in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten. Bezüge zwischen vormoderner Stadt- und Generationen- 1 Dies gilt etwa für das Forschungsprojekt „Generationen in der Erbengesellschaft. Ein Deutungsmuster soziokulturellen Wandels“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung unter Leitung von Prof. Dr. Sigrid Weigel (www.generationenforschung.de, www.erbschaftsforschung.de) sowie für das DFG-Graduiertenkolleg „Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert“ an der Universität Göttingen (Sprecher: Prof. Dr. Bernd Weisbrod, www.generationengeschichte.uni-goettingen.de). Vgl. B ERND W EISBROD : Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), S. 3-9; H ERMANN S CHULZ / H ARTMUT R ADEBOLD / J ÜRGEN R EU - LECKE : Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Berlin 2004; U LRIKE J UREIT / M ICHAEL W ILDT (Hgg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; B ERND W EISBROD (Hg.): Historische Beiträge zur Generationenforschung (Göttinger Studien zur Generationsforschung, Bd. 2), Göttingen 2009; Andreas K RAFT / M ARK W EIßHAUPT (Hgg.): Generationen: Erfahrung - Erzählung - Identität (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 10), Konstanz 2009; W OLFGANG B URGDORF : Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reichs und die Generation von 1806 (Bibliothek Altes Reich, Bd. 2), München 2006. Eine eher skeptische Sichtweise bestimmt den älteren Aufsatz von H ANS J AEGER : Generationen in der Geschichte: Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429-452 (engl.: Generations in History: Reflections on a controversial concept, in: History and Theory 24/ 3 (1985), S. 273-292). 2 Vgl. T HOMAS B AIER (Hg.): Die Legitimation der Einzelherrschaft im Kontext der Generationenthematik (Beiträge zur Altertumskunde 251), Berlin u.a. 2008; H ARTWIN B RANDT / M AXIMILIAN S CHUH / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Familie - Generation - Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien, Bd. 2), Bamberg 2008; H ARTWIN B RANDT / K ATRIN K ÖHLER / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Genealogisches Bewusstsein als Legitimation. Inter- und intragenerationelle Auseinandersetzungen sowie die Bedeutung von Verwandtschaft bei Amtswechseln (Bamberger Historische Studien, Bd. 4), Bamberg 2009. <?page no="9"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 10 geschichte sind bislang nur vereinzelt hergestellt worden. Der renommierte Mediävist David Herlihy schlug 1974 eine generationengeschichtliche Perspektive auf das Mittelalter vor; er verstand Generationen im Wesentlichen als Alterskohorten und thematisierte die Auswirkungen demographischen Wandels auf Familien- und Sozialstrukturen. 3 Christiane Klapisch-Zuber untersuchte familiäre Strategien der Traditions- und Gedächtnisbildung, Namensgebung und materiellen Güterübertragung im Florenz der Renaissance. 4 Amy Nelson Burnett ging Generationenkonflikten im Basel der späten Reformationszeit nach, 5 und Gundula Grebner brachte Wandlungen in der notariellen Kultur Bolognas im Hochmittelalter mit personellen Generationswechseln in Zusammenhang. „Generationen“, so Grebner, „bringen Innovationen auf den Weg und rhythmisieren ihre Verbreitung. Sie halten Wissen für die Dauer der eigenen Aktivitätsphase stabil, danach wird es dann wieder zur Disposition gestellt“. 6 Im Rahmen eines Sammelbandes wurden Generationen- und Stadtgeschichte erstmals im Jahre 2009 unter dem Titel „Generations in Towns: Succession and Success in Pre-Industrial Urban Societies“ miteinander verknüpft. 7 Die Beiträge dieses thematisch und chronologisch breit angelegten Bandes thematisieren anhand mediterraner, mitteleuropäischer, britischer und skandinavischer Beispiele Generationenbeziehungen in Familien, Handwerksbetrieben, Handelsfirmen und politischen Institutionen vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert, wobei ein Schwerpunkt auf Fragen der Übertragung von Besitz und Ämtern liegt. Die Einleitung von Finn-Einar Eliassen und Katalin Szende skizziert historisch-demographische, familien-, privatrechts-, geschlechter-, erfah- 3 D AVID H ERLIHY : The Generation in Medieval History, in: Viator 5 (1974), S. 347-364. Herlihys Überlegungen stützten sich unter anderem auf das in der historischen Generationenforschung ansonsten eher selten rezipierte Werk von Julían Marías, einem Schüler Ortega y Gassets. Im Anschluss an Ortega y Gasset nahm Marías eine Zeitspanne von 30 Jahren als Lebensdauer einer Generation an und unterteilte diese Spanne wiederum in „fifteen years of preparation and fifteen years of acting“. Auf der Grundlage dieser Annahme versuchte er eine „historische Methode“ der Identifikation und Abgrenzung von Generationen zur Beschreibung historischen Wandels zu entwickeln. Vgl. J ULIÁN M ARÍAS : Generations: A Historical Method, Tuscaloosa/ Alabama 1970 (span. Originalausgabe 1967), Zitat S. 103. 4 C HRISTIANE K LAPISCH -Z UBER : Das Haus, der Name, der Brautschatz. Strategien und Rituale im gesellschaftlichen Leben der Renaissance (Geschichte und Geschlechter, Bd. 7), Frankfurt a.M./ New York 1995. 5 A MY N ELSON B URNETT : Generational Conflict in the Late Reformation: The Basel Paroxysm, in: Journal of Interdisciplinary History 32/ 2 (2001), S. 217-242. 6 Gundula Grebner, Kultureller Wandel und Generationswechsel. Bologneser Notare vom 11. zum 12. Jahrhundert, in: A NDREAS S CHULZ / G UNDULA G REBNER (Hgg.): Generationswechsel und historischer Wandel (Historische Zeitschrift, Beiheft 36), München 2003, S. 25-41. 7 F INN -E INAR E LIASSEN / K ATALIN S ZENDE (Hgg.): Generations in Towns: Succession and Success in Pre-Industrial Urban Societies, Newcastle-upon-Tyne 2009. <?page no="10"?> Einleitung 11 rungs- und gedächtnisgeschichtliche Ansätze und deren jeweiligen Erkenntniswert für die Generationenforschung. Eliassen und Szende betonen die Problematik der Identifikation und Abgrenzung von Generationen in makrohistorischer Perspektive und verweisen demgegenüber auf die Vorteile einer quellennahen, an einzelnen Familien orientierten Herangehensweise. Praktiken innerfamiliärer Nachfolge, Weitergabe und Übertragung sollten stets kontextbezogen und in kritischer Auseinandersetzung mit den Quellen ermittelt werden. 8 Der vorliegende Band, der von einem ähnlichen Ansatz ausgeht, greift die Thematik erstmals im deutschsprachigen Raum auf und vertieft sie anhand von Fallstudien zu italienischen, deutschen, französischen und englischen Konstellationen und Konflikten zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert. Auch wenn der Generationenbegriff in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften derzeit Konjunktur hat, ist nicht zu übersehen, dass er immer wieder - vielleicht sogar noch schärfer als andere wissenschaftliche „Modebegriffe“ - einer fundamentalen und mitunter polemischen Kritik unterzogen wird. So zweifelte etwa ein Tagungsbericht zu einem Forschungsprojekt des Zentrums für Literaturforschung Berlin unter der Überschrift „Wo Generation ist, wächst das Selbstredende auch“ die Legitimation der Generationenthematik grundsätzlich an. 9 In überregionalen Zeitungen wurde die erste umfassende „Wissenschafts- und Kulturgeschichte“ des Generationsdiskurses mit den Worten „Windelweich. Das nächste Buch zur Generationengeschichte“ abgekanzelt und die ganze Forschungsrichtung als thesenarm und methodologisch rückschrittlich abqualifiziert. 10 Ähnlich kritisch äußerte sich ein namhafter Soziologe, der unter anderem auf seine stets wiederkehrenden Erfahrungen als Hochschullehrer mit Kohorten junger Studenten rekurrierte, um Thesen zur Generationenthematik die Spitze zu brechen. 11 Angesichts solcher Vorbehalte können Forscherinnen und Forscher, die sich mit Generationengeschichte beschäftigen, nicht umhin, die 8 F INN -E INAR E LIASSEN / K ATALIN S ZENDE : Generations in Towns. Introduction, in: D IES . (Hgg.): Generations in Towns (wie Anm. 7), S. 1-21, bes. S. 4-9. 9 D ANIEL M ORAT : Wo Generation ist, wächst das Selbstredende auch. Eine Tagung über „Generationen“ am Hamburger Institut für Sozialforschung, 19.-21. Juni 2003, in: Werkstatt- Geschichte 35 (2003), S. 109-113, hier S. 109. 10 C HRISTIAN W ELZBACHER : Windelweich. Das nächste Buch zur Generationengeschichte, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Dezember 2008, S. 14. Von einem „Panorama der Querverbindungen“ spricht P ETRA G EHRING : Ich bin von heute, Sie sind von gestern (Rez. Parnes/ Vedder/ Willer: Generation), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. März 2008, S. 39. Beide Besprechungen beziehen sich auf O HAD P ARNES / U LRIKE V EDDER / S TEFAN W ILLER : Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. 11 R AINER L EPSIUS : Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: J UREIT / W ILDT (Hgg.): Generationen (wie Anm. 1), S. 45-52. <?page no="11"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 12 Relevanz ihres Gegenstands und die Brauchbarkeit der verwendeten Konzepte zu reflektieren. Im Folgenden wird daher zunächst die Entstehungsgeschichte des historischen Generationenbegriffs problematisiert, daran anschließend seine Tauglichkeit für den hier untersuchten Zeitraum diskutiert und schließlich der Inhalt der einzelnen Beiträge kurz vorgestellt. Um die Vielschichtigkeit der Generationenthematik anzudeuten, wurde als Titelbild ein Ausschnitt aus einer auch kunstgeschichtlich bedeutsamen genealogischen Quelle, der Nürnberger Pfinzingbibel von 1568, ausgewählt. Diese Ahnenfolge enthält in ihrer nicht abgebildeten Überschrift zugleich den Hinweis auf die Stellung der Personen in der familiären Generationenfolge. Bei den von Jost Amman stilisiert und nach Vorlagen Dürers abgebildeten Pfinzing handelt es sich um das erste Paar der 32 Urururgroßelten aus der Ahnenfolge von Martin II. Pfinzing. Dieses Beispiel einer für Eliten deutscher Reichsstädte wie für Familien des Hochadels üblichen Art und Weise der Abbildung von Vorfahren erschien besonders geeignet, die Thematik des vorliegenden Bandes vor Augen zu stellen. 2. Generationengeschichtsschreibung im Geist des 19. Jahrhunderts Bereits vor dem Erscheinen des für die aktuelle Diskussion maßgeblichen Aufsatzes von Karl Mannheim 12 hatten sich namhafte Gelehrte wie Auguste Comte, John Stuart Mill, Wilhelm Dilthey und Leopold von Ranke Gedanken über die Rolle von Generationen in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gemacht, ohne freilich eine explizite Konzeption oder klare Systematik zu entwickeln. 13 Während Ranke selbst den Begriff ‚Generation‘ nur sehr selten verwendete, erhob Ottokar Lorenz 14 in seiner Monographie „Leopold von Ranke, die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht“ von 1891 den Anspruch, eine Programmatik zu entwickeln, die Ranke in seinen Studien zum Reformationszeitalter „nach seiner Erfahrung und seiner Ueberzeugung von dem überwältigenden Wirken jener Männer“ unausgesprochen vorausgesetzt hatte. 15 Sich vorgeblich „strenge an Rankes Lehren […] haltend“, 12 Der häufig als Ausgangspunkt für die Generationengeschichte gewählte Schlüsselaufsatz ist zuerst 1928 erschienen und nachgedruckt greifbar: K ARL M ANNHEIM : Das Problem der Generation, in: K URT H. W OLFF (Hg.): Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied/ Berlin 1964, S. 509-565. 13 Vgl. den Überblick bei M ARÍAS : Generations (wie Anm. 3), S. 20-68. 14 Ottokar Lorenz (1832-1907) war Professor für Geschichte in Wien und Jena. Vgl. zu ihm und seinem Generationenkonzept M ARÍAS : Generations (wie Anm. 3), S. 60-65. 15 O TTOKAR L ORENZ : Leopold von Ranke, die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht (Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, Bd. 2), Berlin 1891, S. 213. <?page no="12"?> Einleitung 13 erläuterte Lorenz die Generationenlehre als historisches Gliederungsprinzip folgendermaßen: Man kann nun die Generationen vorwärts und rückwärts zählen. Wem es unbequem wäre, sich zu entscheiden, mit welcher er vorn anfangen müßte, der könnte doch schwerlich einem argen Irrthum verfallen, wenn er sich sagte: ich habe doch selbst einiges ganz gewichtige erfahren; wenn ich von Sedan rede, so kenne ich eine ganze Menge von Menschen, die dabei mithandelnd waren. Kaiser Wilhelm, Bismarck, Napoleon, das gibt doch unfraglich den Begriff einer Generation. 16 Diese Form der Generationengeschichte beruhte auf einem positivistischen wissenschaftlichen und politischen ‚Glaubensbekenntnis‘. Wenn bestimmte Phänomene als „unfraglich“, also einfach als faktisch gegeben angesehen werden - etwa dass „nichts klareres gedacht werden [könne] als […] die ‚Sonderung‘ der Alten und der Jungen um das Jahr 1515“ - , so wird die Standortgebundenheit des Historikers ausgeblendet. Lorenz führte weiter aus, dass die alte Generation […] bedächtig und langstilig [sic! ][…], die neue Generation nervös, realistisch und leichtlebig“ und die Religiosität „der einen […] hergebracht alterthümlich und skeptisch, die der anderen individualistisch, neuernd und heftig positiv“ gewesen sei. 17 Diese Gliederung von Geschichte in Generationen ist maßgeblich durch Setzungen des Autors konstituiert: Man müsse „sich entschließen, mit einem großen Manne anzufangen, wobei ein subjectives Moment selbstverständlich entscheidend sein wird. Aber sollte man ein solches nicht als begründet erachten können? “ 18 Die ‚großen Männer‘ bildeten in der Tradition Rankes den selbstverständlichen Gegenstand von Geschichtsschreibung und damit auch die Bezugsgröße für die Identifikation von Generationen, ohne dass die Kriterien der Zugehörigkeit klar benannt werden. Im Hinblick auf solche letztlich intuitiven Auswahlkriterien erscheint die ältere Generationenforschung gar nicht so weit entfernt von Teilen der neueren Publizistik, die lediglich „spontane Evidenz“ zur Grundlage griffiger Generationenbezeichnungen macht. 19 16 L ORENZ : Generationenlehre (wie Anm. 15), S. 215. 17 Ebd., S. 212, 216. 18 Ebd., S. 214. 19 Die gegenwärtig gehäuft auftretenden Generationenzuweisungen - von „Generation Golf“ über „Generation Reform“ bis hin zu „Generation Porno“ - sind insofern „folgenschwere Behauptung[en]“, als mit ihnen auch aktuelle politische Interessen verbunden sind. Vgl. B JÖRN B OHNENKAMP : Vom Zählen und Erzählen. Generationen als Effekt von Kulturtechniken, in: D ERS ./ T ILL M ANNING / E VA -M ARIA S ILIES (Hgg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster (Göttinger Studien zur Generationsforschung, Bd. 1), Göttingen 2009, S. 72-90, Zitate S. 77, 86. Wahrscheinlich ermöglichen manche tagesaktuellen Generationenbezeichnungen, die Unsicherheiten einer komplexer werdenden Welt zu kompensieren, indem Phänomenen Namen gegeben werden, vgl. etwa J OHANNES G ERNERT : Generation Porno. Jugend, Sex, Internet, Köln 2010. <?page no="13"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 14 Das ältere Konzept einer historischen „Generationenlehre“ basierte zudem auf essentialistischen Annahmen der damals aktuellen Naturwissenschaften. Die „Brücke zwischen historischer und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise“ sah Lorenz vornehmlich „in der Genealogie als Vererbungslehre“. 20 Ihm zufolge könne „darüber […] kein Zweifel sein, daß die Genealogie in sich eine Reihe von Thatsachen verbirgt, die den Causalzusammenhang vieler geschichtlicher Dinge einzig und allein aufzuklären vermögen“. 21 Die biologistische Komponente des Generationenbegriffs wurde damit zum maßgeblichen Kriterium für die Wissenschaftlichkeit von Geschichtsschreibung erhoben: „Die individuelle Untersuchung des Charakters und beziehungsweise [sic! ] des Vererbungsbestandes einer Generation unterscheidet die Geschichte im engeren Sinne von jeder andern wissenschaftlichen, auf die Erforschung der Vergangenheit gerichteten Disziplin.“ 22 Um historische Veränderungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen, dürften die Gliederungseinheiten nicht schematisch oder ‚äußerlich‘ sein; vielmehr müsse die kulturelle Entwicklung in ‚natürlichen‘ Einheiten, den Generationen, veranschaulicht werden. Generation ist in diesem Verständnis also auch eine Zeiteinheit, die dem menschlichen Leben und seiner ‚Taktung‘ besonders gerecht wird, ja wesentlich entspricht. Der Konflikt zwischen biologischer Vererbung und kultureller Prägung, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist bei Ranke „als Palimpsest der Begriffsgeschichte der ‚Generation‘“ betrachtet worden. Die Gleichsetzung von Natur und Kultur steht zudem Wilhelm Dilthey nahe, der in Bezug auf Generationen eine „historische Forschung in philosophischer Absicht“ anstrebte. 23 Zudem ließ sich Geschichte durch die Festlegung von Generationen auf eine bestimmte Anzahl von Jahren überschaubar gliedern und mit historischen Verlaufsmodellen verknüpfen. Eine besondere Faszination ging von dem vermeintlichen „Gesetz der drei Generationen aus“, welches Lorenz für „etwas biologisch ganz allgemeines“ hielt. Aus der Annahme von „dauerhaften Normalzeugungen bei Männern zwischen dem 30. und 40. Lebens- 20 L ORENZ : Generationenlehre (wie Anm. 15), S. 185. 21 Ebd., S. 257. An anderer Stelle heißt es: „Eine natürliche Grundlage für die Veränderungen der politischen Ideen und Absichten der Jahrhunderte zu gewinnen, dies war es, was im Geiste des großen Meisters der deutschen Geschichtsschreibung [Ranke] den Wunsch nach einer generationsweisen Darstellung der Vergangenheit gleichsam mit Gewalt hervorgetrieben hat. Diese selbst aber läßt sich erfahrungsgemäß nur auf das genealogische Schema aufbauen, ohne dessen Berücksichtigung überhaupt gar kein realer Zusammenhang geschichtlicher Dinge denkbar wäre.“ Ebd., S. 275. 22 L ORENZ : Generationenlehre (wie Anm. 15), S. 270. 23 Vgl. S IGRID W EIGEL : Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur und Naturwissenschaften, München 2006, S. 119f. (Zitate). <?page no="14"?> Einleitung 15 jahre“ 24 ergab sich scheinbar zwangsläufig „das Gesetz von den auf ein Jahrhundert fallenden drei Generationen.“ Die „durchschnittlich 33jährige Lebensdauer der Generation“ 25 brachte drei Generationen pro Jahrhundert hervor und machte die Generationenlehre kompatibel mit der Jahrhundertrechnung. Diese numerische Einteilung wird von der Geschichtsschreibung erst seit dem 16. Jahrhundert verwendet, so dass tatsächlich nur der kleinere Teil der christlichen Welt in „Epochenjahrhunderten“ ablief. Erst seit der Reformationszeit ging die historiographische Maßeinheit dem Geschichtsverlauf also voraus und strukturierte dadurch die Erfahrung. In der Folge wurde die neuere Zeit verstärkt als eine empirisch nachvollziehbare sachliche Einheit, etwa als ‚das 18. Jahrhundert‘, wahrgenommen. Lorenz verabsolutierte die Jahrhundertrechnung, indem er sie als Gesetz für den von ihm angenommenen natürlichen Geschichtsverlauf aller menschlichen Gesellschaften formulierte. Gemäß seines „Drei-Generationen-Gesetzes“ sah er es als natürliche Generationenfolge an, dass der Mittelwert von drei Generationen je Jahrhundert stets auch eine Einheit bildete. Regelmäßig bestehe ein volles Jahrhundert aus drei Generationen, so dass diese epochalen Charakter besäßen. Somit konnten die Jahrhundertreihe als „natürliches System geschichtlicher Perioden“ angesetzt und geschichtliche Abläufe gesetzmäßig verstanden werden. 26 Auch wenn diese „Generationenlehre“ bereits von Zeitgenossen wie Ernst Bernheim und Ignaz Jastrow kritisiert wurde 27 und heute naturgemäß veraltet wirkt, finden sich positivistische, auf scheinbare Gesetzmäßigkeiten rekurrierende Darstellungen von Generationenfolgen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. So widmete sich Götz Freiherr von Pölnitz 1955 dem „Generationenproblem“ in der Geschichte oberdeutscher Kaufmannsfamilien und sah die idealtypische Aufeinanderfolge dreier Generationen - Aufsteiger, Vollender und dekadente Epigonen - bei Familien wie den Fuggern bestätigt. 28 Noch 1990 fand diese essentialistische Sichtweise Eingang in eine Monographie eines anderen namhaften Fuggerforschers, der die wirtschaftliche Blütezeit der oberdeutschen Reichsstädte zwischen dem späten 15. und der Mitte des 24 L ORENZ : Generationenlehre (wie Anm. 15), S. 190, 198f. 25 Ebd., S. 195f. 26 Vgl. J OHANNES B URKHARDT : Die Entstehung der modernen Jahrhundertrechnung. Ursprung und Ausbildung einer historiographischen Technik von Flacius bis Ranke, Göppingen 1971, S. 102-116, Zitate 114-116. 27 Vgl. M ARÍAS : Generations (wie Anm. 3), S. 64f. 28 G ÖTZ F REIHERR VON P ÖLNITZ : Das Generationenproblem in der Geschichte der oberdeutschen Handelshäuser, in: K ARL R ÜDINGER (Hg.): Unser Geschichtsbild, München 1955, S. 65-79. <?page no="15"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 16 16. Jahrhunderts mit der wirtschaftlichen Tätigkeit zweier Generationen von Kaufleuten gleichsetzte. 29 3. Generationengeschichte: Konzepte und Operationalisierungen Die heutige Generationenforschung orientiert sich hingegen mehrheitlich an der Generationensoziologie Karl Mannheims, dessen Konzept programmatisch auf die Zeit nach der Französischen Revolution bezogen ist. 30 Mannheim zufolge ist eine bestimmte Alterskohorte von gemeinsamen Erlebnissen geprägt und bildet somit eine distinkte gesellschaftliche Formation, die Generation. Mannheim konzipierte seine Generationentheorie vor dem Hintergrund einer durch rapide soziale, politische und ideologische Veränderungen geprägten Gesellschaft. Insbesondere stand ihm die Generation der jungen Weltkriegsteilnehmer mit ihren qualitativ vollkommen neuartigen Kriegserlebnissen vor Augen. Diese Gruppe erlebte außerdem einen grundlegenden Wandel der politischen Ordnung durch die Abschaffung der Monarchie sowie die soziokulturelle Pluralisierung in der Weimarer Republik. Das prägende gemeinsame Erlebnis nannte Mannheim einen „Generationenzusammenhang“, der auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl beruhte. Dagegen sei den Menschen die eigene „Generationenlagerung“ stets unbewusst; hierin sah Mannheim einen ‚blinden Fleck‘, infolge dessen die Wahrnehmung der Individuen von den Zeitumständen abgekoppelt wurde. Innerhalb der Kohorte der in einem bestimmten Zeitraum geborenen Individuen könne demnach durch ähnliche Erfahrungen ein Generationenzusammenhang entstehen, innerhalb dessen sich „Generationseinheiten“ als Gruppen mit ähnlichen Handlungs- und Reaktionsmustern und einer kollektiven Identität bildeten. Diese Konzeption leitet also die Soziabilität von Menschen von der von ihnen erfahrenen sozialen Realität ab. Der Spielraum individueller Weltaneignung wird dadurch aber nicht reduziert; vielmehr wird hier die hermeneutische Dimension des individuellen Zeithorizonts, der natürlichen Perspektivierung als Grundlage allen Verstehens und des Verhaltens zur Umwelt, beschrieben. Die Semantik von Weitergabe, Übergang und Tradition erhält bei Mannheim eine progressive, auf die Zukunft hin aus- 29 H ERMANN K ELLENBENZ : Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560. Ein Großunternehmen des 16. Jahrhunderts, 2 Bde. (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 32), München 1990, Bd. 1, S. 493-508. 30 M ANNHEIM : Problem der Generation (wie Anm. 12). Vgl. dazu und zum Folgenden auch U TE D ANIEL : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 330-345; U LRIKE J UREIT : Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 20-39; S CHULZ / G REBNER (Hgg.): Generationswechsel (wie Anm. 6), S. 4-8. <?page no="16"?> Einleitung 17 gerichtete Bedeutung im Sinne etwa des spätaufklärerischen Kampfdiskurses Condorcets. 31 Generation in diesem Sinne ist eine lebensweltliche Größe, die auf kollektive Erfahrungen und Identitäten zurückgeführt wird. Der Generationenbegriff kann in diesem Verständnis auf Personenkreise unterschiedlicher Reichweite bezogen werden - bis hin zu europäischen und globalen Generationen. 32 Während Mannheim dieses Modell in Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart entwickelte und es seither überwiegend in zeithistorischen Untersuchungen aufgenommen worden ist, haben Andreas Schulz und Gundula Grebner darauf hingewiesen, dass das analytische Potential des Generationenkonzepts nicht auf die jüngere Vergangenheit beschränkt ist. Sein Potential kann das Konzept aus ihrer Sicht „gerade dann […] erfüllen, wenn Generationenselbstdeutungen offensichtlich soziale Interaktionen beeinflussen“. Es gilt demnach, die Zusammenhänge zwischen altersspezifischen kulturellen und intellektuellen Prägungen einerseits, sozialem und politischem Handeln andererseits zu analysieren. 33 Ulrike Nagengast und Maximilian Schuh zufolge kann sowohl die vertikal-diachrone als auch die von Mannheim entwickelte horizontal-synchrone Bedeutungsebene des Generationenbegriffs für interdisziplinäre Forschungen zur Vormoderne fruchtbar gemacht werden. 34 Im Hinblick auf die vertikal-diachrone Dimension, also die Beziehungen zwischen Altersgruppen innerhalb eines sozialen Verbandes, erweist sich das Generationenkonzept in hohem Maße anschlussfähig an die historischanthropologische Familien- und Verwandtschaftsforschung, 35 an die his- 31 W EIGEL : Genea-Logik (wie Anm. 23), S. 128-134. 32 Zur kulturwissenschaftlichen Diskussion vgl. A STRID E RLL : Generation, in: A NSGAR N ÜNN - ING (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 249. Zu den globalen Dimensionen von Ereignissen, sozialen Bewegungen und Generationen vgl. exemplarisch P HILIPP G ASSERT / M ARTIN K LIMKE : Introduction. 1968 from Revolt to Research, in: D IES . (Hgg.): 1968. Memories and Legacies of a Global Revolt (Bulletin of the German Historical Institute, Supplement, Bd. 6), Washington D.C. 2009, S. 5-24, bes. S. 11f. 33 S CHULZ / G REBNER (Hgg.): Generationswechsel (wie Anm. 6), S. 22. 34 U LRIKE N AGENGAST / M AXIMILIAN S CHUH : Natur vs. Kultur? Zu den Konzepten der Generationenforschung, in: B RANDT / S CHUH / S IEWERT (Hgg.): Familie - Generation - Institution (wie Anm. 2), S. 11-29. Vgl. allgemein auch W EIGEL : Genea-Logik (wie Anm. 23), S. 107-143. 35 Vgl. exemplarisch J ACK G OODY / J OAN T HIRSK / E. P. T HOMPSON (Hgg.): Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe, 1200-1800, Cambridge 1976; A NDREJS P LAKANS : Kinship in the Past: An Anthropology of European Family Life, 1500-1900, Oxford 1984; A NDREAS G ESTRICH / J ENS -U WE K RAUSE / M ICHAEL M ITTERAUER (Hgg.): Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte, Bd. 1), Stuttgart 2003; W OLFGANG R EINHARD : Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 199-285; D AVID W. S ABEAN (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development, 1300-1900, New York u.a. 2007; G ERHARD L UBICH : Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter (6.-11. Jahrhundert) (Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 16), Köln/ Weimar/ <?page no="17"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 18 torische Bildungs- und Sozialisationsforschung 36 sowie an sozial- und kulturhistorische Forschungen zu Phänomenen der Besitzübertragung, Vererbung und Versorgung von Nachkommen. 37 Im Hinblick auf die horizontal-synchrone Dimension des Generationenbegriffs, also das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer durch gemeinsame Erfahrungen beeinflussten Alterskohorte, lässt sich auch für die Vormoderne untersuchen, inwieweit das Erlebnis politischer und religiöser Umbrüche Generationen prägen konnte. Ein gelungenes Beispiel dafür bietet Amy Nelson Burnetts Untersuchung des „Paroxysmus Basiliensis“, eines theologischen Streits innerhalb der reformierten Kirche Basels 1570/ 71, die die Autorin in Anlehnung an Karl Mannheims Theorie als Generationenkonflikt - „a classic example of how the members of two different generations interpreted events according to their differing life experiences“ - interpretiert. In dieser Auseinandersetzung um die Auslegung der Basler Konfession von 1534 und speziell um deren Abendmahlsverständnis standen sich eine ältere Gruppe von Pastoren um den bereits über 60-jährigen Simon Sulzer und eine jüngere Gruppe um den erst 24-jährigen Heinrich Erzberger gegenüber. Burnett führt die divergierenden Abendmahlsauffassungen der beiden Gruppen überzeugend auf ihre unterschiedlichen generationellen Erfahrungen und Prägungen zurück. Die älteren Pastoren hatten die Auseinandersetzungen um das Abendmahl innerhalb der reformatorischen Bewegung in den 1520er und 30er Jahren noch selbst miterlebt und identifizierten sich mit Martin Bucers vermittelnder Haltung, die 1536 zur Wittenberger Konkordie geführt hatte. Ihre jüngeren Kollegen hingegen, die erst nach diesen Konflikten geboren waren, orientierten sich an den ‚reinen‘ reformierten Abendmahlslehren Wien 2008; K ARL -H EINZ S PIEß (Hg.): Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters (Vorträge und Forschungen, Bd. 71), Ostfildern 2009. Ein früher, wenngleich eher katalogisierender Beitrag zur Generationenthematik in diesem Kontext ist T HOMAS S CHULER : Der Generationsbegriff und die historische Familienforschung, in: P ETER -J OHANNES S CHULER (Hg.): Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 23-42. 36 So geht es Carola Groppe in ihrer bildungsgeschichtlich und familienbiographisch angelegten Untersuchung darum, „Wandlungsprozesse und Kontinuitäten der Lebensformen und Persönlichkeitsbildung in einer Familie über einen längeren Zeitraum zu beschreiben, z.B. als Veränderung der Erziehungspraxis und des Selbstverständnisses der jeweiligen Elterngeneration“. C AROLA G ROPPE : Der Geist des Unternehmertums. Eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsman (1649-1840), Köln/ Weimar/ Wien 2004, Zitat S. 26. 37 Vgl. S TEFAN B RAKENSIEK / M ICHAEL S TOLLEIS / H EIDE W UNDER (Hgg.): Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500-1850 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 37), Berlin 2006; G ESA I NGENDAHL : Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie (Geschichte und Geschlechter 54), Frankfurt a.M./ New York 2006; M ARKWART H ERZOG / C ECILIE H OLLBERG (Hgg.): Seelenheil und irdischer Besitz. Testamente als Quellen für den Umgang mit den „letzten Dingen“ (Irseer Schriften, N.F., Bd. 4), Konstanz 2007. <?page no="18"?> Einleitung 19 Zwinglis und Oekolampads und kritisierten die Auffassung der Älteren als lutherisch. Der Generationenkonflikt war Burnett zufolge besonders ausgeprägt, weil aufgrund des dramatischen Rückgangs der Immatrikulationszahlen an den theologischen Fakultäten der Universitäten in den 1520er und 30er Jahren eine mittlere Alterskohorte, die zwischen den beiden Generationen hätte vermitteln können, unter den Pastoren nur schwach vertreten war. 38 Enge Bezüge zwischen vormoderner Stadt- und Generationengeschichte bestehen ferner im Bereich der Familienhistoriographie. Im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit spielte die Legitimation von Herrschaft und sozialer Stellung durch Herkunft eine zentrale Rolle für Selbstverortungen und Fremdwahrnehmungen. Frühneuzeitliche europäische Fürstenhäuser führten ihre Ursprünge nicht selten in die Zeit Alexanders des Großen, wenn nicht gar des Trojanischen Krieges zurück, aber auch reichsstädtische Patrizier suchten ihre Ursprünge in der Zeit Karls des Großen, mitunter sogar in der römischen Antike. 39 Familiäre Generationen stellten die Kontinuität zwischen diesen Ursprungsmythen und der jeweiligen Gegenwart her. Beispiele dafür hat die Altgermanistin Beate Kellner in ihrer Studie über genealogisches Wissen im Mittelalter zusammengetragen und historiographie- und mediengeschichtlich systematisiert. 40 In oberitalienischen und oberdeutschen Kommunen bildete sich eine spezifische Tradition stadtbürgerlicher Familiengeschichtsschreibung aus, die der innerfamiliären Traditions- und Gedächtnisbildung ebenso diente wie dem Nachweis vornehmer alter Herkunft. In einigen deutschen Reichsstädten, namentlich in Augsburg, Nürnberg und Frankfurt am Main, kulminierte sie in aufwändig illustrierten Geschlechterbüchern, die Baum-, Porträt-, Kostüm- und Wappendarstellungen auf komplexe Weise miteinander kombinierten. 41 Schließlich verdient im Rahmen 38 B URNETT : Generational Conflict (wie Anm. 5), Zitat S. 236. - Während solche Umbrüche in alteuropäischen Städten bislang nur selten unter einer generationengeschichtlichen Perspektive untersucht worden sind, hat die US-amerikanische Forschung etwa die Great Migration englischer Puritaner nach Neuengland zwischen 1629 und 1642 oder die amerikanische Revolution bereits als Generationenphänomene thematisiert. Vgl. V IRGINIA D E J OHN A NDERSON : New England’s Generation. The Great Migration and the Formation of Society and Culture in the Seventeenth Century, Cambridge u.a. 1991; J OSEPH J. E LLIS : Founding Brothers. The Revolutionary Generation, New York 2000. 39 Vgl. etwa K LAPISCH -Z UBER : Das Haus, der Name (wie Anm. 4), S. 21; W OLFGANG K UHOFF : Augsburger Handelshäuser und die Antike, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils (Colloquia Augustana, Bd. 3), Berlin 1996, S. 258-278, bes. S. 274f. 40 B EATE K ELLNER : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004; vgl. auch N AGENGAST / S CHUH : Natur vs. Kultur? (wie Anm. 33), S. 12-14. 41 K LAPISCH -Z UBER : Das Haus, der Name (wie Anm. 4), S. 7-23; G REGOR R OHMANN : Das Ehrenbuch der Fugger, 2 Bde. (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 39), Augsburg 2004; <?page no="19"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 20 einer Generationengeschichte der Vormoderne auch die vielschichtige historische Semantik des Generationsdiskurses in Mittelalter und Früher Neuzeit Aufmerksamkeit, da sich hier theologische, medizinische und juristische Debatten über Reproduktion, Generativität, Erbrecht und Legitimität überkreuzten. 42 4. Die Beiträge dieses Bandes Dem gegenwärtigen Stand der Generationenforschung entsprechend und im Interesse einer reflektierten und zugleich flexiblen, für spezifische Quellenbefunde offenen Begriffsverwendung liegt den folgenden Beiträgen kein einheitliches Generationenkonzept zugrunde. Vielmehr thematisieren sie in verschiedenen urbanen Kontexten Beziehungen zwischen Jung und Alt, Fragen der Erziehung, historiographische Generationendiskurse und generationelle Erfahrungen und erproben somit empirisch die Tragfähigkeit generationengeschichtlicher Forschungsansätze. Benjamin Schellers Beitrag befasst sich mit den Nachfahren einer Gruppe von Juden, die im Jahre 1292 im süditalienischen Trani zur Konversion gezwungen worden waren. Ausgehend von der Beobachtung, dass diese Neofiti H ARTMUT B OCK : Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat (Schriften des Historischen Museums Frankfurt a.M., Bd. 22), Frankfurt a.M. 2001; D ERS .: Die Familiengeschichtsschreibung der Welser, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 95 (2008), S. 93-162; B IRGIT S TUDT (Hg.): Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Städteforschung, Reihe A, Bd. 69), Köln/ Weimar/ Wien 2007; B AYERISCHE S TAATSBIBLIOTHEK (Hg.): Die Fugger im Bild. Selbstdarstellung einer Dynastie in der Renaissance (Ausstellungskatalog), Luzern/ Darmstadt 2010; C HRISTIAN K UHN : Das Erbe tradieren, die Gegenwart rezipieren. Erinnerungstendenzen der Familiengeschichte der Nürnberger Tucher in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: S USANNE R AU / B IRGIT S TUDT (Hgg.): Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350-1750), Berlin 2010, S. 308-318, sowie D ERS .: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (Formen der Erinnerung, Bd. 45), Göttingen 2010. 42 Vgl. E VE K ELLER : Generating Bodies and Gendered Selves. The Rhetoric of Reproduction in early modern England, Seattle/ London 2006; K ATHARINE P ARK : Secrets of Women. Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection, New York 2006; S TEFFAN M ÜLLER - W ILLE / H ANS -J ÖRG R HEINBERGER (Hgg.): Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politics, and Culture, 1500-1870, Cambridge, Mass./ London 2007; D IES : De la génération à l’hérédité. Continuités médiévales et conjonctures historiques modernes, in: M AAIKE VAN DER L UGT / C HARLES DE M IRAMON (Hgg.): L’hérédité entre Moyen Âge et Époque moderne. Perspectives historiques (Micrologus’ Library, Bd. 27), Florenz 2008, S. 355-390; V ALERIA F INUCCI / K EVIN B ROWNLEE (Hgg.): Generation and Degeneration: Tropes of Reproduction in Literature and History from Antiquity through Early Modern Europe, Durham, N.C./ London 2001. <?page no="20"?> Einleitung 21 bzw. Cristiani novelli bis ins 16. Jahrhundert hinein, also über mehr als dreihundert Jahre hinweg, als Neuchristen wahrgenommen wurden, geht er der Frage nach, ob es bei ihnen zu einer generationenübergreifenden Übertragung kultureller Differenz kam. Scheller zeigt, dass zwischen tatsächlichen Praktiken und der Außenwahrnehmung dieser Gruppe zu unterscheiden ist. Während Belege für eine kryptojüdische Religiosität der Cristiani novelli von Trani fehlen und diese zu Beginn des 15. Jahrhunderts die rechtliche und politische Gleichstellung mit anderen Stadtbürgern erlangten, sprechen ihr weitgehend endogames Heiratsverhalten, ihre starke soziale Binnenverflechtung und ihre Formierung als eigener Stand der adeligen Kaufleute innerhalb der Stadt für ein ausgeprägtes Gruppenbewusstsein. Hinsichtlich der Außenwahrnehmung dieser Gruppe beobachtet Scheller eine „neue, exkludierende Semantik der Differenz“ an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Wurden die Cristiani novelli zuvor semantisch von den anderen Christen unterschieden, rückten sie mit der nun auftauchenden Unterscheidung von Christiani de Natura sowie mit der Bezeichnung als Marrani in die Nähe von Häretikern. Damit wurde die kulturelle Differenz zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Christen in eine erbliche transformiert und der Ausschluss aus der Stadtgesellschaft ideologisch legitimiert. Wie Heinrich Lang anhand der Familie Medici ausführt, waren Vater- Sohn-Beziehungen für das Generationenbewusstsein im Florenz des 15. Jahrhunderts ausschlaggebend. Testamente und Erinnerungsschriften (Ricordi, Ricordanze) dienten der Konstruktion genealogischer Traditionslinien. Briefe an Mitglieder der Familie Medici zeigen zudem, dass auch Patronage-Klientel-Beziehungen häufig in die Terminologie des Vater-Sohn-Verhältnisses gefasst wurden, während „Freundschaft“ begrifflich als Beziehung zwischen Brüdern ausgedrückt wurde. Auf der Grundlage von Kirchen- und Kapellenstiftungen argumentiert Lang schließlich, dass die Beziehungen der Florentiner Patrizier zu ihren Familienheiligen und Namenspatronen als Vorbild für ihr patrilineares Generationenverständnis dienten und dieses gleichsam sakralisierten. Die Frage, ob es sich bei Konflikten zwischen ‚alten‘ Bürgern und ‚jungen‘ Studenten im spätmittelalterlichen Ingolstadt um einen Generationenkonflikt handelte, wird von Maximilian Schuh differenziert beantwortet. In der um 1500 ca. 5.000 Einwohner zählenden Stadt bildeten die bis zu 450 Universitätsangehörigen aufgrund der rechtlichen Sonderstellung der universitären Korporation, aber auch aufgrund des jugendlichen Alters der Studenten sowie der meisten Magister eine eigene Gruppe. Schuhs Auswertung der Fälle, die in den ersten drei Jahrzehnten nach der Universitätsgründung 1472 vor dem Rektoratsgericht verhandelt wurden, zeigt, dass es in der Tat zu <?page no="21"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 22 zahlreichen Konflikten zwischen Bürgern und Studenten um die Missachtung der Kleiderordnung, unbezahlte Schulden, das Tragen von Waffen, sexuelles Fehlverhalten und nächtliche Ruhestörung kam. In erster Linie handelt es sich hier allerdings um Manifestationen eines ständischen Konflikts zwischen Stadtgesellschaft und Universität und erst in zweiter Linie um eine Dichotomie von Jung und Alt. Durch ihre Überschreitung städtischer Normen aktualisierten die Studenten den Gegensatz zwischen Stadt und Universität und trugen damit letztlich zur Stabilisierung der ständischen Ordnung bei. Christian Kuhn wendet sich den Wertkonzepten zu, die die europäische Familiengeschichtsschreibung im Zeitalter der Renaissance bestimmten. Dabei richtet sich der Blick insbesondere auf die dialogisch verfassten Libri della Famiglia von Leon Battista Alberti aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts. Albertis Werk reflektiert einen genealogischen Diskurs über ‚Generation‘, welcher der Tugend der Familienmitglieder für die Fortexistenz und das Gedeihen der Familie zwar große Bedeutung beimisst, aber auch für die Wechselfälle des Glücks, der blinden Fortuna, offen bleibt. Im frühen 16. Jahrhundert fand dieser genealogische Diskurs auch in die Arbeiten des humanistischen Historiographen Christoph Scheurl in Nürnberg Eingang und schlug sich in der intensiven Familiengeschichtsschreibung der fränkischen Reichsstadt nieder. Britta Schneiders Untersuchung von Gerichtsprozessen, die Angehörige der Familie Fugger gegen andere Mitglieder der eigenen Familie führten, zeigt, dass sich diese Konflikte nach dem Tod des langjährigen Firmenleiters Anton Fugger im Jahre 1560 auffällig häuften. Während das Augsburger Stadtrecht, Gesellschaftsverträge und Testamente bis dahin als Grundlage zur Klärung erb- und besitzrechtlicher Fragen ausreichten, beschritten die Fugger im späten 16. Jahrhundert immer häufiger den Rechtsweg, um Besitzansprüche geltend zu machen oder Sanktionen gegen andere Familienmitglieder zu erwirken. Am Beispiel des ersten dokumentierten Prozesses „Fugger contra Fugger“ aus dem Jahre 1562 wird dieser Verhaltenswandel exemplarisch beschrieben. Anhand einer kürzlich edierten Familienkorrespondenz thematisiert Mark Häberlein Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte im reichsstädtischen Patriziat des frühen 17. Jahrhunderts. Der Augsburger Patriziersohn Friedrich Endorfer d.J., der zwischen 1620 und 1627 eine kaufmännische Ausbildung in Lucca und Lyon absolvierte, thematisierte in seinen Briefen an seinen gleichnamigen Vater sowohl die horizontal-synchrone Dimension des Generationenbegriffs, indem er die alters- und gruppenspezifischen Erfahrungen oberdeutscher Kaufmannslehrlinge im Ausland reflektierte, als auch dessen vertikal-diachrone Dimension, indem er die Proble- <?page no="22"?> Einleitung 23 matik einer zu delikaten Erziehung, Konflikte zwischen Stiefeltern und Stiefkindern sowie generationenübergreifende Diskurse über Heiratsprojekte aufgriff. Die Untersuchung derartiger Familienkorrespondenzen zeigt, dass der briefliche Diskurs zwischen im Ausland weilenden Patriziersöhnen und ihren Vätern stark von Normen angemessenen Verhaltens und Erwartungshaltungen geprägt war, dass diese Normen und Erwartungen aber auch immer wieder verletzt wurden. Wie gesellschaftlicher Wandel in Frankreich um die Mitte des 17. Jahrhunderts im zeitgenössischen Drama reflektiert wurde, zeigt Pia Claudia Doering am Beispiel von Pierre Corneilles Komödien L’illusion comique (1635) und Le menteur (1643) sowie seiner Tragikomödie Le Cid (1637). In den beiden Komödien, die im Milieu der vornehmen Pariser Gesellschaft angesiedelt sind, wird die Veränderung gesellschaftlicher Wert- und Tugendvorstellungen als Generationenkonflikt inszeniert. Corneille stellt seine Gegenwart als Epoche gesellschaftlichen Scheins dar, und in seinen Stücken sind es die Vertreter der jüngeren Generation, die sich durch Anpassung an das neue Ideal des honnête homme und durch Dissimulation behaupten, während die ältere Generation an überkommenen Tugendidealen festhält. Die in dieser Darstellung von Werte- und Generationenkonflikten implizite Gesellschaftskritik wird durch poetische Mittel und den Rückgriff auf überzeitliche Typen allerdings gemildert. Dass die Restauration der englischen Monarchie und die Wiederherstellung der anglikanischen Kirche im Jahre 1660 auch in religiöser und theologischer Hinsicht als Generationenwechsel verstanden werden können, demonstriert Corinna Flügge am Beispiel der beiden ersten Übertragungen von Johann Arndts Vier Büchern vom Wahren Christentum ins Englische. Arndts Wahres Christentum, eines der einflussreichsten Werke der protestantischen Erbauungsliteratur, wurde erstmals 1646 von einem bislang nicht identifizierten Autor teilweise übersetzt. Der Autor, der dem Umfeld der independenten Puritaner zuzuordnen ist, nutzte das Vorwort zu einer scharfen Polemik gegen die anglikanische Kirche, während die Übersetzung selbst den Gehalt von Arndts Werk nur geringfügig veränderte. Die zweite Arndtübersetzung am Beginn des 18. Jahrhunderts ging hingegen auf den lutherischen Hofkaplan Anton Wilhelm Böhme zurück, der enge Verbindungen zum Halleschen Pietismus sowie zur anglikanischen Society for Promoting Christian Knowledge unterhielt. Zwar grenzte sich auch Böhme polemisch von „falschen Christen“ ab, doch meinte er damit keine bestimmte Konfession, sondern allgemein eine falsche Glaubens- und Lebenseinstellung. Darüber hinaus stellt Flügge eine auffällige Übereinstimmung zwischen beiden Ausgaben hinsichtlich der Betonung der Notwendigkeit ethisch-christlichen <?page no="23"?> M ARK H ÄBERLEIN UND C HRISTIAN K UHN 24 Handelns fest. Die Arndt-Übertragungen, die sich an ein gebildetes stadtbürgerliches Publikum richteten, belegen somit auch, dass puritanische Auffassungen von der Einheit von Glaube und Leben um 1700 in den anglikanischen Mainstream Eingang gefunden hatten. Gesa Ingendahls Untersuchung zu Witwen in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Ravensburg schließlich nimmt eine Gruppe in den Blick, die in Untersuchungen zu Phänomenen intergenerationeller Übertragung häufig übersehen wird. Durch die Weiterführung von Haushalt und Betrieb nach dem Tod des Ehemanns stabilisierten Witwen unterbrochene innerhäusliche Beziehungsgeflechte und sorgten für die Bewahrung des Familienbesitzes. Mit der Übertragung von Arbeitsbereichen des Verstorbenen an erwachsene Kinder wurden zugleich Anwartschaften auf Besitz begründet. Die von Ingendahl untersuchten Heiratsverträge und Testamente zeigen, dass Witwen ihre Position als Haushaltsvorstand selbstbewusst wahrnahmen und die Beziehungen zu ihren erwachsenen Kindern und Schwiegersöhnen bzw. Schwiegertöchtern aktiv gestalteten. Das stereotype Bild der armen, verlassenen Witwe konnte gezielt genutzt werden, um materielle Unterstützung zu erlangen. Insgesamt stellt sich das Generationenmuster, das Ingendahl in Ravensburger Witwenhaushalten beobachtet, als reziprok und vom Gedanken des wechselseitigen Austauschs von Ansprüchen und Interessen geprägt dar. <?page no="24"?> 25 Benjamin Scheller Intergenerationelle Übertragung kultureller Differenz: Konvertierte Juden und ihre Nachkommen in der apulischen Hafenstadt Trani im späten Mittelalter Um das Jahr 1292 kam es im Königreich Neapel zu einer Massenkonversion von Juden zum Christentum, der einzigen in der Geschichte Europas im Mittelalter außerhalb der iberischen Halbinsel bzw. der spanischen Herrschaften. Als Folge einer systematischen Judenverfolgung durch die Inquisition traten die Judengemeinden zahlreicher Städte gleichsam kollektiv zum Christentum über. 1 Diese Städte lagen vor allem in Kampanien und Apulien. Seit 1293 bzw. 1294 sind die konvertierten Juden in den Quellen immer wieder als Neofiti bzw. Christiani Novi oder Novi Christiani belegt. Mitte des 14. Jahrhunderts verschwinden die Belege für Neofiti bzw. Christiani Novi in den meisten Regionen des Königreichs Neapel dann allerdings aus den Dokumenten. Nur in Apulien bezeichnete man weiterhin Personen als Neofiti bzw. Christiani Novi und ab der Mitte des 15. Jahrhunderts zunehmend auch als Cristiani Novelli, denn hier hatte man seit dem Ende des 14. Jahrhunderts begonnen, den Bedeutungsraum der Kategorie des ‚Neu gepflanzten‘ bzw. Neuchristen von den konvertierten Juden auch auf deren Nachkommen auszuweiten. Diese wurden so bis weit in das 16. Jahrhundert als Neuankömmlinge in der christlichen Gesellschaft markiert. 2 1 S. hierzu B ENJAMIN S CHELLER : Die politische Stellung der Juden im mittelalterlichen Süditalien und die Massenkonversion der Juden im Königreich Neapel im Jahr 1292, in: L UDGER G RENZMANN / T HOMAS H AYE / N IKOLAUS H ENKEL / T HOMAS K AUFMANN (Hgg.): Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, N.F. 4), Berlin/ New York 2009, S. 143-171; D ERS .: Die Bettelorden und die Juden. Mission, Inquisition und Konversion im Südwesteuropa des 13. Jahrhunderts: ein Vergleich, in: W OLFGANG H USCHNER / F RANK R EXROTH (Hgg.): Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa. Festschrift für M ICHAEL B ORGOLTE zum 60. Geburtstag, Berlin 2008, S. 89-122; zum folgenden vgl. außerdem D ERS .: Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im spätmittelalterlichen Trani zwischen Inklusion und Exklusion, Habilitationsschrift Humbolt-Universität Berlin 2009; dort auch ausführliche Belege und Ausführungen zur Methodologie. 2 Für ein spätes Beispiel hierfür s. C ESARE C OLAFEMMINA : Ebrei e Christiani Novelli in Puglia. Le Comunità minori, Bari 1991, S. 77f. <?page no="25"?> B ENJAMIN S CHELLER 26 So etwas wie die Metropole der Neuchristen im spätmittelalterlichen Königreich Neapel war die apulische Hafenstadt Trani. Hier ist für 1292 die größte Zahl von Konversionen in einer Stadt belegt. 3 Während des Spätmittelalters bildeten die Neuchristen von Trani das Rückgrat der Neofiti- Population Apuliens. Und auch wenn die Quellenlage für das spätmittelalterliche Trani wie für viele andere Städte Apuliens alles andere als hervorragend ist, so ist es im Fall von Trani möglich, die Geschichte der Konvertiten der Stadt und ihrer Nachkommen vom späten 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert zu verfolgen. 4 Die Forschung zur Geschichte von Massenkonversionen und ihren Folgen hat sich immer wieder mit dem Problem der intergenerationellen Übertragung kultureller Differenz befasst. Wie jüdisch blieben die Konvertiten und vor allem ihre Nachkommen? So lautet die Frage, die lange im Zentrum des Interesses stand. Diese wiederum war eng verbunden mit der Frage, warum es den Konvertiten und ihren Nachkommen gelang bzw. nicht gelang, Zugang zur christlichen Gesellschaft zu finden, deren Mitglieder sie durch die Konversion formal geworden waren. Vor allem Exklusionsprozesse standen hier im Zentrum des Interesses. So hat man versucht, die zunehmende Exklusion der Juden, die im Spanien des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts massenhaft zum Christentum übergetreten waren, und ihrer Nachkommen, der sogenannten conversos, mit der intergenerationellen Übertragung kultureller Differenz zu erklären. Dabei lassen sich freilich zwei konträre Positionen unterscheiden. Ersterer zufolge waren es die Konvertiten selbst, die insgeheim weiterhin ihrem alten Glauben angehangen und dessen Praktiken an ihre Nachkommen weitergegeben und so ihre kulturelle Differenz als religiöse Differenz reproduziert hätten. Anders die Gegenposition: Hier wird die intergenerationelle Übertragung in der kontinuierlichen Reproduktion antijüdischer Stereotypen seitens der christlichen Umwelt gesehen. Diese seien nach den Konversionswellen auch auf die Conversos übertragen und diese so aus der christlichen Gesellschaft ausgeschlossen worden. Die beiden Positionen zugrundeliegende Annahme, dass kulturelle Differenz nach den Massenkonversionen in gleicher Weise wie zuvor intergenerationell übertragen worden sei, ist allerdings in jüngster Zeit zusehends hinterfragt worden: „Both camps dissolve the paradoxical tension between assimilation and persecution, and they do so 3 N ICOLA F ERORELLI : Gli Ebrei nell’Italia meridionale, Torino 1915 (ND Napoli 1990), S. 55; R OMOLO C AGGESE : Roberto d’Angio e i suoi Tempi, Bd. 1, Firenze 1922, S. 299. 4 Zu Trani und den dortigen Neuchristen immer noch V ITO V ITALE : Trani dagli Angioini agli Spagnoli, Bari 1912; D ERS : Un Particolare ignorato di Storia pugliese: Neofiti e Mercanti, in: Studi di Storia napoletana in Onore di Michelangelo Schipa, Napoli 1926, S. 133-146. <?page no="26"?> Übertragung kultureller Differenz 27 by agreeing that those differences most essential to enmity and to identity remained unchanged by conversion.” 5 Vielmehr entstand die kulturelle Differenz der Konvertiten und ihrer Nachkommen in oftmals geradezu dialektischen Prozessen von Kontinuität und Diskontinuität. Im Spanien des 15. Jahrhunderts etwa bedurfte es „eines hohen Maßes an theologischem und gesellschaftlichem Wandel, um die Conversos zurück in Juden zu verwandeln“. 6 Die folgenden Überlegungen gehen von dieser paradoxen Spannung zwischen Inklusion und Exklusion einerseits und Kontinuität und Wandel andererseits aus. Sie sollen zeigen, dass durch die Massenkonversion der Juden im Königreich Neapel kulturelle Differenz transformiert und in neuer Weise intergenerationell übertragen wurde, dass auch die Vorstellungen, die die Zeitgenossen davon hatten, wie die Differenz der konvertierten Juden auf ihre Nachkommen übertragen wurde, dem Wandel unterworfen waren und dass die Prozesse der Exklusion, die sich beobachten lassen, hiermit erklärt werden müssen. Dabei legt sie den Schwerpunkt auf die Betrachtung jener Stadt, die im Spätmittelalter die Metropole der Neuchristen Apuliens war: Trani. Exklusion ist stets ein multidimensionaler Prozess der Zuschreibung von Differenz in Bereichen, die für die Lebensführung zentrale Bedeutung haben: Recht, Politik, soziale Strukturen etc. Selbstzuschreibung und Fremdzu schreibung können dabei Hand in Hand gehen. Die Differenz, die konver tierten Juden und ihren Nachkommen immer wieder in unterschiedlicher Form zugeschrieben wurde, die aber auch überschrieben werden konnte und die für ihre Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zur christlichen Gesellschaft entscheidend war, lässt sich als ihre ‚Jewishness‘ bezeichnen. Dieser englische Terminus wird hier ganz bewusst benutzt, um deutlich zu machen, dass die Frage nach dem ‚Jüdischen‘ an den Konvertiten und ihren Nachkommen nicht eine Suche nach einer historisch unwandelbaren Essenz darstellt, sondern als Analyse der Prozesse, in denen das ‚Jüdische‘ der Konver titen in unterschiedlichen Kontexten von konkreten Akteuren (re-)konstruiert oder dekonstruiert, überschrieben oder gar gelöscht wurde und so Inklusion bzw. Exklusion der Konvertiten in die christliche Gesellschaft bzw. aus der christlichen Gesellschaft verhandelt wurden. 5 D AVID N IRENBERG : Enmity and Assimilation. Jews, Christians, and Converts in Medieval Spain, in: Common Knowledge 9 (2003), S. 137-155. 6 D AVID N IRENBERG : Figures of Thought and Figures of Flesh: „Jews“ and „Judaism“ in Late- Medieval Spanish Poetry and Politics, in: Speculum 81 (2006), S. 398-426, S. 417. <?page no="27"?> B ENJAMIN S CHELLER 28 Die Frage nach der ‚Jewishness‘ der Konvertiten und ihrer Nachkommen betrifft daher nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie ihre religiöse Praxis. Selbstverständlich war das Fundament der ‚Jewishness‘ die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich selbst durch ihre Religion definierte und von ihrer nicht-jüdischen Umwelt über diese definiert wurde. Doch markierte die Religion eine Differenz der Juden zu den Christen, die auch einer Reihe von anderen zentralen Dimensionen des Lebens eingeschrieben war und die so zur (Re-)Produktion dieser Differenz beitrugen, wie der politisch-rechtlichen Stellung, den sozialen Beziehungen, dem Raum und eben auch dem Sprachgebrauch, der im Zentrum der folgenden Überlegungen zur intergenerationellen Übertragung kultureller Differenz stehen soll. Ermöglicht dies doch einerseits eine Analyse der Prozesse, wie die Differenz der Neuchristen kulturell (re-)produziert und in diesem Sinne intergenerationell übertragen wurde, und lässt andererseits deutlich werden, wie die Zeitgenossen selbst die intergenerationelle Übertragung der Differenz konzipierten und welchen Wandel dies erlebte. Sprachgebrauch lässt sich jedoch nicht allein auf die Intentionen und Motive der jeweiligen Sprecher zurückführen. „Dasjenige, was Gesellschaften und Individuen als Wissen und Wirklichkeit akzeptieren, ist zwangsläufig immer kulturell vermittelt, wie aus der Tatsache deutlich wird, dass wir unsere Welt nie frei einrichten können [...] sondern sie immer schon eingerichtet, das heißt geordnet und mit bestimmten Sinnmustern versehen, vorfinden.“ 7 Und eben diese Wirklichkeit wird den Sprechern durch institutionalisierte Redeweisen zur Verfügung gestellt, derer sie sich bedienen müssen. 8 Dennoch ist der „Bedeutungsraum“ dieser Redeweisen nicht stabil, „er wird ständig von unterschiedlich situierten Sprechern gedehnt und verzerrt, die in sozialen und politischen Auseinandersetzungen darum ringen, gültige Versionen von Wirklichkeit durchzusetzen.“ 9 Dabei wird eine Redeweise für die politisch-soziale Sprache gerade dadurch zentral, dass sie „eine sozial umkämpfte Projektion unterschiedlicher Sichtweisen der Gesellschaft darstellt.“ 10 Für die Produktion des jeweiligen Bedeutungsraums semantischer Formen und damit für deren inkludierende bzw. exkludierende 7 A CHIM L ANDWEHR : Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M./ New York 2008, S. 91. 8 P ETER S CHÖTTLER : Wer hat Angst vor dem ‚linguistic turn‘, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134-151, S. 139. 9 L ANDWEHR : Historische Diskursanalyse (wie Anm. 7), S. 91. 10 G ADI A LGAZI : Herrengewalt und Gewalt der Herren. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch im späten Mittelalter, Frankfurt a.M./ New York 1996, S. 22. <?page no="28"?> Übertragung kultureller Differenz 29 Effekte ist die politisch-soziale Umwelt, in der diese entstehen bzw. gebraucht werden, also entscheidend. 11 Es sollen daher zunächst die politische Stellung und die soziale Vernetzung der Neuchristen von Trani umrissen werden, bevor ich zur Analyse der Semantik der Differenz komme. Zuvor soll jedoch noch kurz auf die Gretchenfrage einer jeden Erforschung von Konversionen und Konvertiten eingegangen werden, und zwar im wahren Sinne des Wortes, nämlich die Frage nach der Religiosität der Konvertiten und ihrer Nachkommen. Denn in der Forschung zu jüdischen Konvertiten und ihren Nachkommen hat man Semantiken der Differenz lange Zeit mit einer stabilen Referenz auf religiöse Differenz erklärt. War es also so, dass die Konvertiten jüdische Bräuche und Praktiken an ihre Nachkommen weitergaben, so dass die Differenz im Kern durch die Neuchristen selbst reproduziert wurde und die Semantik der Differenz dies einfach widerspiegelte? Hierzu ist zunächst zu sagen, dass es für eine kryptojüdische Religiosität der konvertierten Juden im Königreich Neapel und ihrer Nachkommen keinen Beleg gibt, der quellenkritischen Ansprüchen genügt. Zwar wurde diesen immer wieder vorgeworfen, zu ‚judaisieren‘, doch ist dieser Vorwurf schwach und diskontinuierlich belegt. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts werfen die Inquisitoren konvertierten Juden und ihren Nachkommen wiederholt vor, weiterhin jüdische Bräuche zu befolgen. Mit dem Niedergang der Inquisition im Königreich Neapel verstummen diese Vorwürfe um die Mitte des 14. Jahrhunderts dann jedoch für beinahe einhundert Jahre. Erst Mitte des 15. Jahrhunderts werden sie erneut erhoben, und es kommt zu einer neuen Verfolgung durch Inquisitoren. Danach ist der Vorwurf des Judaisierens bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts immer wieder, wenn auch nicht besonders häufig, und von verschiedenen Seiten belegt. Worin denn nun konkret die religiöse ‚Jewishness‘ der Neuchristen bestanden haben soll, bleibt jedoch lange unspezifisch. Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts werden explizit religiöse Praktiken erwähnt, diese sind jedoch stereotyp bzw. offenkundig Projektionen, so dass sie als Beleg für eine kryptojüdische Religiosität der Neuchristen nicht taugen. Alle belegten Vorwürfe richten sich zudem gegen Konvertiten und ihre Nachkommen aus Apulien. Außerdem kam die Initiative zu der neuen Welle inquisitorischer Verfolgung ab der Mitte des 15. Jahrhunderts aus Trani. Und damit verweisen auch sie auf die politisch-soziale Umwelt, in der sie entstanden. 11 P IERRE B OURDIEU : Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 7-17. <?page no="29"?> B ENJAMIN S CHELLER 30 1. Die politisch-rechtliche Stellung der Neuchristen von Trani Die politisch-rechtliche Stellung der Juden im Süditalien des späten 13. Jahrhunderts war eine besondere. Wie in anderen europäischen Reichen beanspruchte zwar auch im Königreich Sizilien bzw. Neapel der König eine direkte Unterordnung der Juden unter seine Herrschaft. Doch blieb dieser Anspruch eher theoretischer Natur. Denn Jurisdiktion über die Judengemeinden und die Judensteuern hatten die Könige in den vielen Krisen der Königsherrschaft seit dem 11. Jahrhundert fast überall an die Bischofskirchen und auch an einige Abteien vergeben. Und diese betrachteten die Juden als homines ecclesiae. 12 An diesem Status wollte die erzbischöfliche Kirche von Trani auch nicht rütteln lassen, nur weil die Juden der Stadt konvertiert waren. Bereits 1305 und 1307 musste König Robert I. dem Erzbischof von Trani untersagen, die ehemaligen Juden auch nach ihrer Konversion noch vor sein Gericht zu ziehen und von der universitas neofitorum jene Abgaben zu verlangen, die ihm einstmals die Juden geschuldet hatten. 13 Dies war jedoch offensichtlich wirkungslos. Denn noch 1377 warf die Stadtgemeinde dem Erzbischof von Trani vor, dass er von den Neuchristen der Stadt weiterhin Steuern verlangte und die Jurisdiktion über sie beanspruchte. Wenn die städtischen Justitiare oder die königlichen Vögte sie vor ihr weltliches Gericht zögen, dann würde er diese exkommunizieren und Synodalbeschlüsse gegen sie erwirken. 14 Die Kirche von Trani behandelte die Konvertiten und ihre Nachkommen bis in die siebziger Jahre des 14. Jahrhunderts also in politisch-rechtlicher Hinsicht weiterhin als Juden. Ende des 14. Jahrhunderts gelang es den Neofiti von Trani dann, sich von der erzbischöflichen Herrschaft zu emanzipieren. 15 Im Jahr 1413 gewährte König Ladislaus I. den Bürgern von Trani das Recht, alle vier Monate einen Rat aus sechzehn Männern zu wählen: octo videlicet ex nobilibus, sex ex popularibus et duos ex neophitis. 16 Die Neuchristen wurden nun also am Stadtregiment beteiligt und den anderen Bürgern somit rechtlich-politisch gleichgestellt. Allein: Die Bezeichnung Neofiti markierte noch immer eine Differenz, die auf die jüdische Herkunft jener Stadtbürger verwies, deren 12 S CHELLER : Politische Stellung der Juden (wie Anm. 1), S. 163-168. 13 C AGGESE : Roberto d’Angio 1 (wie Anm. 3), S. 90f. 14 G IOVANNI B ATTISTA B ELTRANI : Cesare Lambertini é la Società Famigliare in Puglia durante i Secoli XV e XVI, Bd. 1, Milano/ Napoli/ Pisa 1884, Nr. 35. 15 G IOVANNI B ATTISTA B ELTRANI : Il conte Alberigo da Barbiano, la Regina Giovanna e gli Ebrei, Roma 1877. 16 B ELTRANI : Cesare Lambertini (wie Anm. 14), Nr. 59. <?page no="30"?> Übertragung kultureller Differenz 31 universitas wie die von Adel und Volk nun in die Stadtverfassung eingeschlossen wurde. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts geriet die politische Inklusion der Neuchristen allerdings in zwei schwere Krisen: einmal Mitte des 15. Jahrhunderts und einmal nach 1495. Diese zweite Krise sollte sie dann nicht überstehen. Mitte des 15. Jahrhunderts erlebte die Stadt Trani eine Phase heftiger innerstädtischer Konflikte, die erst 1466 mit der Reform der Stadtverfassung durch König Ferrante I. beendet wurden. In diese Konflikte wurden auch die Cristiani Novelli verwickelt, und dabei wurde erstmals seit Beginn des 14. Jahrhunderts auch wieder ihre religiöse Lebensführung thematisiert. Im Jahr 1328 hatte die erzbischöfliche Kirche von Trani bei Papst Johannes XXII. die Immunisierung ihrer Diözese gegen die Inquisitoren erwirkt. Dies hatte sie damit begründet, dass die Inquisitoren die Juden in Trani in vergangener Zeit so sehr bedrängt hätten, dass nur noch sehr wenige von ihnen übrig blieben, die außerdem noch in solche Armut herabgedrückt worden seien, dass die Kirche von Trani von ihnen kaum noch Einkünfte bezöge. Und nun würden die Inquisitoren die Neofiti, die aus dem Volk der genannten Juden zum katholischen Glauben übergetreten seien, in gleicher Weise bedrängen, wobei sie bei ihnen eher weltlichen Gewinn suchten, als ihnen geistliche Erbauung zu verschaffen. Johannes XXII. hatte daraufhin den Inquisitoren zunächst für die folgenden zwei Jahre untersagt, ohne Aufforderung des künftigen Erzbischofs oder seiner Beauftragten gegen die Juden und Neofiti in der Diözese von Trani vorzugehen. 17 Doch hatte diese Suspendierung der Inquisition wesentlich länger, nämlich fast 120 Jahre Bestand. Erst Mitte der vierziger Jahre des 15. Jahrhunderts kam es wieder zu einer Verfolgung der Neuchristen von Trani durch Inquisitoren. Die Initiative für die Verfolgung der Neofiti kam diesmal nicht aus Neapel, sondern aus Trani selbst. Im Jahr 1446 klagten Cristiani Novelli aus Trani bei Papst Eugen IV., dass sie von den anderen Christgläubigen der Stadt und Diözese von Trani als Ketzer behandelt und gemieden würden, da man ihnen und ihren Vorfahren nachsage, seit der Zeit der Konversion weiterhin „besondere Sitten, Bräuche und Lebensformen“ befolgt zu haben und noch zu befolgen, die sich von denen der anderen Christgläubigen jener Stadt und Diözese sehr unterschieden. 18 17 S HLOMO S IMONSOHN : The Apostolic See and the Jews, Bd. 1, Leiden 1988, Nr. 336. 18 Ebd., Nr. 750. <?page no="31"?> B ENJAMIN S CHELLER 32 Als vermeintlichen Apostaten, also Ketzern, drohte ihnen die Infamierung und damit auch der Ausschluss von allen politischen Ämtern. Und die Neuchristen versuchten wiederholt, die Infamierung abzuwenden. Die Thematisierung der religiösen Lebensführung der Neofiti von Trani Mitte des 15. Jahrhunderts war also offensichtlich auch ein Versuch ihrer politischen Re- Exklusion. Während der innerstädtischen Konflikte verließen die Neuchristen in ihrer Mehrheit die Stadt, so dass der Versuch der politischen Exklusion der Neuchristen aus der Stadtgemeinde auch eine physische Exklusion aus der Stadt nach sich zog. Diese wurde seit 1464 jedoch noch einmal rückgängig gemacht. In diesem Jahr unterband König Ferrante I. die Verfolgung der Neuchristen durch die Inquisition. 19 Die Neofiti kehrten nach Trani zurück. 1466 wurde auch ihre politische Inklusion in die Stadtgemeinde noch einmal bekräftigt und befestigt. In diesem Jahr ordnete König Ferrante I. die Stadtverfassung von Trani neu. Geführt werden sollte die Stadt künftig von einem kleinen Rat von sechs ordinati bzw. priores. Diese sechs Verordneten bzw. Vorsteher wiederum sollten aus den Mitgliedern eines vierzigbis sechzigköpfigen großen Rats gewählt werden. Wie der sechzehnköpfige Rat der Stadtverfassung von 1413 sollten auch der neue große Rat und das sechsköpfige Gremium der Verordneten bzw. Vorsteher aus den Ständen (gradus) rekrutiert werden, in die die Stadtgesellschaft differenziert wurde. Allerdings ist nicht mehr die Rede von nobiles, populares und neofiti, sondern von nobiles, plebei und mercatores. Sie sollten zu gleichen Teilen den Rat bilden und die sechs Verordneten oder Vorsteher der Gemeinde stellen. 20 Doch dies bedeutete nicht, dass die Nachkommen der 1292 konvertierten Juden nun wieder aus dem Stadtregiment ausgeschlossen worden wären. Es belegt vielmehr, dass sie an diesem nun unter einer neuen Bezeichnung teilhatten, die nicht mehr auf ihre Abstammung von Juden Bezug nahm, sondern auf ihr ökonomisches Hauptbetätigungsfeld, nämlich dasjenige des Handels. 21 Als Kaufleute waren sie nun zudem ein eigener Berufsstand. Sie hatten sich also ständisch aus dem populus herausdifferenziert. Gut dreißig Jahre später allerdings, im Jahr 1499, erschienen die Kategorien Neofiti und Cristiani Novelli - ergänzt noch um einen semantischen Import aus Spanien - dann allerdings wieder in Beschlüssen der Stadt Trani, 19 C ESARE C OLAFEMMINA (Hg.): Documenti per la storia degli ebrei in Puglia e nel Mezzogiorno nella Biblioteca Comunale di Bitonto, in: Sefer Yuhasin 9 (1993), S. 9-44, Nr. 18; Biblioteca Comunale di Bitonto, Fondo Rogadeo, Ms. A 14, f. 510v. 20 V ITALE : Trani (wie Anm. 4), Nr. 49; Siehe auch ebd., S. 471-475; G ERARDO C IOFFARI / M ARIO S CHIRALLI (Hgg.): Il Libro Rosso dell’Università di Trani, Bari 1995, Nr. 50. 21 V ITALE : Un Particolare ignorato (wie Anm. 4), S. 236-238. <?page no="32"?> Übertragung kultureller Differenz 33 und zwar in solchen, die versuchten, ihre abermalige und diesmal dauerhafte politische und physische Exklusion aus der Stadtgemeinde mit ihrer vermeintlichen religiösen Devianz zu legitimieren. Die Invasion Karls VIII. von Frankreich löste zu Beginn des Jahres 1495 im Königreich Neapel in vielen Städten Gewaltausbrüche gegen Juden und Cristiani Novelli aus. 22 Abermals kam es zu Zwangstaufen von Juden. Die Neuchristen von Trani wurden aus der Stadt vertrieben und ihres Besitzes beraubt. Sie wurden somit also nicht nur politisch, sondern auch physisch aus der Stadt ausgeschlossen. Immerhin jedoch konnten sich die Neuchristen von Trani der Vertreibung der Cristiani Novelli aus dem Königreich Neapel entziehen, die König Ferdinand der Katholische 1510 und noch einmal 1514 befahl. 23 Denn die Neuchristen-Familien, deren Angehörige 1495 aus Trani vertrieben wurden, lassen sich in anderen Städten der Terra di Bari, aber auch andernorts bis weit über das Ende des 16. Jahrhunderts hinaus nachweisen. 2. Soziale Vernetzung Während der erwähnten innerstädtischen Konflikte wurden die Neofiti von Trani Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals seit knapp 120 Jahren wieder von der Inquisition verfolgt. Die einzige konkrete Verhaltensweise, die dabei von einem Inquisitor inkriminiert wurde, war allerdings keine im engeren Sinne religiöse Praxis, sondern eine soziale, nämlich ihre Heiratspraxis. In einer Bulle Papst Nikolaus’ V. für den Inquisitor Petrus de Mistretta vom 18. September 1453 heißt es, die Neuchristen hätten Ehen bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich untereinander geschlossen. Gleichsam als Bewährungsauflage ordnete der Inquisitor an, dass sie für die nächsten fünfzig Jahre Ehen nicht mehr wie bisher bei ihnen üblich ausschließlich untereinander, sondern mit anderen Christen schließen sollten. 24 22 Zur Invasion Karls VIII. s. die Beiträge in D AVID A BULAFIA : The French Descent into Renaissance Italy 1494-95. Antecedents and Effects, Aldershot 1995. Zu den Folgen der Invasion für die Juden s. V IVIANA B ONAZZOLI : Gli Ebrei del Regno di Napoli all’Epoca della loro Espulsione. I Parte: Il Periodo Aragonese (1456-1499), in: Archivio Storico Italiano 137 (1979), S. 495-559, hier S. 499-506. 23 V IVIANA B ONAZZOLI : Gli Ebrei del Regno di Napoli all’Epoca della loro Espulsione. II Parte: Il Periodo Spagnolo (1501-1541), in: Archivio Storico Italiano 138 (1981), S. 179-287, hier S. 181-199; F ELIPE R UIZ M ARTÍN : La Expulsion de los Judios del Reino de Napoles, in: Hispania 9 (1949), S. 28-76, 179-240, hier S. 28-76. 24 S IMONSOHN : Apostolic See 1 (wie Anm. 17), Nr. 814; vgl. P IETRO L ONARDO : Un’Abiura di Ebrei a Lucera nel 1454, in: Studi Storici 1907, S. 581-591. <?page no="33"?> B ENJAMIN S CHELLER 34 Die Heiratspraxis der Neofiti von Trani ist sehr schwach überliefert. Nur wenige Ehen von Personen, die sich prosopographisch als Neofiti identifizieren lassen, sind überhaupt belegt. Sie stammen aus der Zeit zwischen 1450 und 1500 und sind allesamt endogam. Nach der Vertreibung der Neuchristen aus Trani wollte die Stadt im Jahr 1509 außerdem denjenigen von ihnen die Rückkehr gestatten, die Verwandte unter den Bürgern von Trani hatten. 25 Es muss also auch Ehen zwischen Neuchristen und Bürgern bzw. Bewohnern der Stadt gegeben haben, die nicht zu den Neofiti gezählt wurden. Die Stadt hatte nach 1495 allerdings wiederholt versucht, allen Neuchristen die Rückkehr nach Trani untersagen zu lassen. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Neuchristen und den anderen Bewohnern der Stadt waren deshalb wohl nicht sehr zahlreich, denn sonst hätte die städtische Führung ihre eigene Politik hintertrieben, als sie jenen Neofiti die Rückkehr gestattete, die Verwandte unter den Stadtbürgern hatten. Außerdem erhielt der Inquisitor Petrus de Mistretta 1453 von Papst Nikolaus V. die Erlaubnis, den Neuchristen Dispense für Ehen zu erteilen, die sie untereinander schlossen. 26 Er trug also gleichsam Vorsorge für den Fall, dass sie gegen die Auflage verstoßen würden, ihre endogame Heiratspraxis aufzugeben. Auch dies spricht dafür, dass die Neuchristen tatsächlich Endogamie praktizierten und sich somit durch ihr Heiratsverhalten sozial von den anderen Stadtbewohnern differenzierten. Vor allem aber zeigt die Analyse anderer, besser dokumentierter sozialer Beziehungen mit Hilfe der Methoden der Social Network Analysis, dass die Neuchristen von Trani zumindest im 15. Jahrhundert tatsächlich ein Cluster weitgehend geschlossener und verdichteter Beziehungen in der Stadtgesellschaft gebildet haben. 27 Dies gilt sowohl für die Zeit vor 1464/ 66 als auch für die Zeit danach. Zu Handelsgesellschaften etwa schlossen sie sich fast ausschließlich mit anderen Neuchristen zusammen. Da Handelsgesellschaften sehr oft unter Verwandten gebildet wurden, ist dies auch ein Indiz dafür, dass die Neuchristen wohl tatsächlich vor allem untereinander Ehen eingingen. 25 V ITALE : Trani (wie Anm. 4), Nr. 104. 26 S IMONSOHN : Apostolic See 1 (wie Anm. 17), Nr. 814; L ONARDO : Abiura di Ebrei (wie Anm. 24), S. 581. 27 Zur Social Network Analysis vgl. den Überblick von K ATHERINE F AUST / S TANLEY W ASSER - MAN : Social Network Analysis: Methods and Applications, Cambridge 1994. Eine Anwendung der Methode auf das Mittelalter aus soziologischer Perspektive ist C HRISTOPHER A NSELL / J OHN F. P ADGETT : Robust Action and the Rise of the Medici. 1400-1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993) S. 1259-1319. <?page no="34"?> Übertragung kultureller Differenz 35 Die Betrachtung des Gesamtnetzwerks der Stadtgesellschaft, soweit es sich über die Kontakte anlässlich der Bezeugung von Notariatsinstrumenten erschließen lässt, zeigt gleichfalls eine starke Binnenkohäsion der Neuchristen von Trani. Sowohl vor als auch nach 1464 unterhalten sie über 70 Prozent ihrer Beziehungen, die hier deutlich werden, zu anderen Neuchristen. Allerdings verdoppelt sich nach der Zeit der innerstädtischen Konflikte die Dichte der Beziehungen innerhalb der eigenen Gruppe noch einmal. Zudem sind die Neuchristen im Gesamtnetzwerk nach 1464 deutlich zentraler positioniert. Vor 1464 stellen die Neuchristen von Trani zwei der zehn Familien mit der höchsten Zentralität, nach 1464 sind es sieben, unter ihnen die drei bestpositionierten. Knapp dahinter rangieren zwei weitere Familien. Nur zwei der zehn im Gesamtnetzwerk der Stadtgesellschaft belegten Neuchristenfamilien sind in diesem unterdurchschnittlich zentral positioniert. Die Netzwerkananlyse zeigt: Die Neuchristen rücken nach 1464 als zunehmend verdichtetes Cluster zusehends ins Zentrum der Stadtgesellschaft von Trani. Die Muster der sozialen Beziehungen der Neuchristen waren daher wohl weniger auf die kontinuierliche Reproduktion sozialer Beziehungsstrukturen zurückzuführen, die noch aus der Zeit vor der Konversion stammten, als auf Prozesse sozialer Schließung, die auch bei anderen Akteuren innerhalb der städtischen Eliten während des 15. Jahrhunderts zu beobachten sind. Der städtische Adel hatte sich bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts geburtsständisch weitgehend abgeschlossen. Wie die Neuchristen bilden die Familien des Stadtadels im Gesamtnetzwerk der städtischen Gesellschaft ein distinktes Cluster, wenn auch nicht mit so hoher Dichte. Die Neuchristen wiederum stellten die überwiegende Mehrheit der merca tores, die in der Stadtverfassung von 1466 als eigener Stand neben Adel und plebei erscheinen. Sie hatten sich aus dem populus herausdifferenziert, zu dem sie 1413 noch gezählt worden waren. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts ist der Titel des egregius, honorabilis, ja sogar nobilis mercator belegt. Die Kaufleute von Trani hoben sich als neuer Stand also so deutlich vom populus bzw. von der plebs der Stadt ab, dass die Differenz zwischen ihrer Ehre und der des Adels begann, eingeebnet zu werden. Mit dieser Formierung als Stand der „adligen Kaufleute“ zogen sich die Neuchristen den Neid ihrer Mitbürger oder zumindest eines Teiles dieser Mitbürger zu, und hierin lag allem Anschein nach eine wichtige Ursache für ihre Vertreibung aus der Stadt. In einem Brief König Federicos I. von 1497 <?page no="35"?> B ENJAMIN S CHELLER 36 heißt es explizit, die Cristiani Novelli seien per loro emuli, also von ihren Neidern bzw. Rivalen vertrieben worden. 28 Allerdings hatten die Neuchristen auch zuvor schon wiederholt die Stadt verlassen, zuletzt während der Zeit der innerstädtischen Konflikte Mitte des 15. Jahrhunderts. Und jedes Mal war die physische Exklusion nur vorübergehend gewesen. Anders als in den Jahrhunderten zuvor stand nach 1495 jedoch erstmals eine neue, exkludierende Semantik der Differenz zur Verfügung und vor allem ein neues Konzept der intergenerationellen Übertragung von Differenz. Und dies erklärt, warum der Ausschluss aus der Stadt nun nicht mehr vorübergehend, sondern dauerhaft war. 3. Semantik der Differenz zwischen inklusiver Inklusion und Totalexklusion Dass es überhaupt eine Semantik der Differenz für konvertierte Juden bzw. ihre Nachkommen gab, versteht sich keinesfalls von selbst. Stand doch gleichsam am Beginn der christlichen Wissensordnung das Konzept der Einheit aller Christen in Christo durch die Taufe. Dies hatte der Apostel Paulus mehrfach betont, etwa in Galater III, 28: Non est Iudaeus neque Graecus […] Omnes enim vos unum estis in Christo Jesu. Diese und andere ähnliche Aussagen des Apostels wurden im Spätmittelalter von den Verteidigern konvertierter Juden und ihrer Nachkommen immer wieder angeführt. 29 Vor 1293 existierten im durch die Quellen dokumentierten Sprachgebrauch des Königreichs Neapel auch keine speziellen Nomina für die Bezeichnung konvertierter Juden. Sie werden entweder als Christiani bezeichnet, oder aber die Sprecher bilden mithilfe von Adverbien oder Partizipien als Unterkategorien von Judei Formen wie Judei ad fidem christianam conversi. Ab 1293 verschwindet diese semantische Form aus den Quellen und wird durch die Nomina Neofita/ Neofitus und Christianus Novus/ Novus Christianus bzw. deren Pluralformen ersetzt. Bis 1495 werden konvertierte Juden bzw. deren Nachkommen auf dem süditalienischen Festland ausschließlich als Neofiti oder Christiani Novi kategorisiert. Für letztere Bezeichnung ist zudem ab der Mitte des 15. Jahrhunderts regelmäßig die volkssprachliche Übersetzung Cristiani Novelli belegt. 28 V ITALE : Trani (wie Anm. 4), Nr. 81. 29 D AVID N IRENBERG : Mass Conversion and Genalogical Mentalities: Jews and Christians in Fifteenth-Century Spain, in: Past and Present 174 (2002) S. 3-41, hier S. 24. <?page no="36"?> Übertragung kultureller Differenz 37 Die Differenz, die diese Bezeichnungen artikulieren, ist zunächst einmal unbestimmt, wird jedoch im Sprachgebrauch denotativ geklärt. Die Quellen verwenden die Kategorien Neofitus bzw. Christianus Novus in der Regel in einem Atemzug mit Attributen wie olim iudeus und bestimmen den ‚Neugepflanzten‘ bzw. Neuchristen so weiterhin als einen ehemaligen Juden. Mit dem Aussterben der ehemaligen Juden, also der Generation von Juden, die 1292 konvertiert waren, verschwinden auch in den meisten Gegenden des Königreichs Neapel die Kategorien Neofitus und Christianus Novus aus den Quellen. Nur in Apulien erweiterte sich der Bedeutungsraum der Kategorien ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts so, dass hier nicht nur konvertierte Juden, sondern auch ihre Nachkommen als Neofiti bzw. Cristiani Novelli bezeichnet wurden. Diese Ausweitung des Bedeutungsraums war Resultat der spezifischen politisch-sozialen Auseinandersetzung um die Herrschaft über die Neofiti, die in Trani während des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts geführt wurde. In diesem Rahmen wurde der Bedeutungsraum der Kategorien Neofitus bzw. Christianus Novus durch einen spezifisch situierten Sprecher gedehnt: den Erzbischof von Trani, der so die Herrschaft der Kirche nach den konvertierten Juden auch noch auf deren Nachkommen übertragen und so behaupten konnte. Wie erwähnt klagen die Vertreter der Stadt Trani im Jahr 1377 bei Königin Johanna I. über ihren Erzbischof unter anderem, weil er von den Neofiti und ihren Nachkommen, die sich der vollen Freiheit erfreuen sollten wie die anderen Traneser, verschiedene Geldsummen eintrieb, ihnen nach Belieben Steuern auferlegte und sie in jedweder Angelegenheit vor seinen Hof und sein kirchliches Gericht zwinge, während er die königlichen Justitiare und Vögte exkommuniziere und Synodalbeschlüsse gegen sie erwirke, wenn sie die erwähnten Neofiti (dictos neophidos) vor ihre Gerichte zögen. 30 Zu Beginn des Passus ist von „Neofiti und ihren Nachkommen“ (a neophidis eorumque filiis) die Rede, an seinem Ende nur von den „erwähnten Neofiti“ (dictos neophidos). Dabei ist aus dem Zusammenhang ersichtlich, dass die „erwähnten Neofiti“ jene sind, die zu Beginn als „Neofiti und ihre Nachkommen“ bezeichnet worden waren. Der Bedeutungsraum der Kategorie umfasst hier also sowohl Neofiti in einem engeren als auch in einem weiteren 30 B ELTRANI : Cesare Lambertini (wie Anm. 14), Nr. 35: Et inter alia quod ipse archiepiscopus a neophidis eorumque filiis qui gaudere debent libertate plena qua gaudent alii trani exigit diversas pecuniarum summas. Eisque collectas imponit pro libito et cogit eos coram suo et ecclesiastico suo iudicio in causis quibuscumque respondere excommunicando et constitucionem sinodalem divulgando tam contra iusticiaros nostros quam [contra] baiulos si dictos neophidos ad eorum iudicia traherent quoquo modo; vgl. V ITALE : Un particolare ignorato (wie Anm. 4), S. 234. <?page no="37"?> B ENJAMIN S CHELLER 38 Sinne, nämlich einerseits konvertierte Juden und andererseits auch deren Nachkommen. Von Trani ausgehend scheint sich dieser erweiterte Bedeutungsraum der Kategorien Neofitus bzw. Christianus novus dann im Sprachgebrauch der angrenzenden Regionen Apuliens verbreitet zu haben, vor allem als Mitte des 15. Jahrhunderts die Neuchristen von Trani fast geschlossen die Stadt verließen und ihre Wohnsitze in andere Städte Apuliens verlegten. Aus dieser Zeit liegen dann Quellen vor, die zeigen, wie die Zeitgenossen die intergenerationelle Übertragung der Differenz konzipierten. So heißt es in einer Bulle Papst Eugens IV. von 1446, die Neofiti bzw. Cristiani Novelli aus Stadt und Diözese Trani würden von anderen Gläubigen als Ketzer behandelt und bezeichnet, weil man ihnen und ihren Vorfahren, die vor langer Zeit vom Judentum zum katholischen Glauben übergetreten seien, nachsage, seit der Zeit ihres Übertritts gewisse besondere Sitten, Bräuche und Lebensformen (mores, ritus sei vivendi modos singulares) befolgt zu haben und noch zu befolgen, die sich sehr von denen der anderen Christgläubigen jener Stadt und Diözese unterschieden. 31 Und in einer Bulle Nikolaus’ V. von 1453 heißt es, die neophiti empfingen wie die anderen Christen öffentlich die Taufe und die anderen Sakramente der Kirche. Ihre Vorfahren freilich seien Juden gewesen, die vor mehr als 150 Jahren mehr gezwungen als freiwillig zu Christen gemacht worden seien. So habe die Mehrheit von ihnen bis zum heutigen Tage die Riten und Zeremonien der Juden bewahrt und glaube nicht an die Religion der Christen. 32 In beiden Bullen wird die intergenerationelle Übertragung der Differenz als Resultat einer Weitergabe religiöser Praktiken von einer Generation zur anderen konzipiert, also als Kulttradition. Als Neofiti bzw. Cristiani Novelli werden also zum einen Juden bezeichnet, die getauft wurden, zum anderen 31 S IMONSOHN : Apostolic See 1 (wie Anm. 17), Nr. 750: [...] pervenit auditum, nonulli Christifideles, neofiti seu Christiani novelli vulgo nominate, in civitate et diocese Tranensi moram trahentes, pro eo quod ipsi eorumque antecessores, licet a quamplurimis annis iam decursis, divina illustrati gratia, de Iudaismo ad Catholicam fidem conversi, ab illorum conversionis huiusmodi temporibus quosdam mores, ritus, seu vivendi modos singulares, plurimumque diversos ab illis aliorum Christifidelium ipsarum civitatis et diocesis observasse et oberservare dicuntur per dictos alios fideles velut heretici habiti et reputati, nec non ut tales etiam evitati fuerint. 32 L ONARDO : Abiura (wie Anm 24), S. 584: Nuper siquidem intelleximus, quod in diversis civitatibus et locis regni Cicilie citra Farum habitant quamplures homines utriusque sexus, neophiti nuncupati, qui baptismum et aliis sacramenta Ecclesie in publico recipient sicut ceteri christiani, quorum antecessores fuerunt Iudei, quique pro maiori parte iam sunt anni elapse centum quinquaginta quod magis coacte quam voluntarie effecti fuerunt xristiani et usque in hodiernum diem pro maiori parte servaverunt ritus et ceremonias judeorum non credentes fidei xristiane; vgl. S IMONSOHN : Apostolic See 1 (wie Anm. 17), Nr. 814. <?page no="38"?> Übertragung kultureller Differenz 39 aber auch Nachkommen von Juden, die getauft wurden und denen man nachsagte, dass sie weiterhin jüdische Bräuche praktizierten. Die Kategorien Neofitus, Christianus Novus und Cristiano Novello markierten also eine Differenz, die zunächst einmal unbestimmt blieb. Im Sprachgebrauch wurde sie jedoch zunächst im Sinne einer ehemaligen, mit der Ausdehnung der Bedeutung auf die Nachkommen konvertierter Juden aber zusehends einer noch gegenwärtigen ‚Jewishness‘ denotiert, die ihrerseits wiederum als häretische Devianz konnotiert werden konnte. Die Kategorien produzierten im Sprachgebrauch also durchaus exkludierende Effekte. Allerdings sind Kategorien immer Produkt einer kommunikativen Operation, einer Unterscheidung, mit der sie gleichsam zusammenfallen. Sie bilden die Innenseite dieser Unterscheidung, wobei die nicht bezeichnete Außenseite mitgeführt wird und selbst wieder in die Kommunikation eintreten kann. 33 Für die Frage nach dem Verhältnis von Inklusion bzw. Exklusion und der Semantik der Differenz ist daher die Frage zentral: Wovon wurde unterschieden, wenn die Bezeichnungen Neofiti, Christiani Novi bzw. Cristiani Novelli kommunikativ produziert wurden? Die Antwort ist überraschend eindeutig: Die Außenseite der Kategorien Cristiani Novelli/ Neofiti lautet vom späten 13. bis zum späten 15. Jahrhundert unabhängig von der Sprecherposition: „die anderen Christen“ (alii Christicolae, alii Christifideles, ceteri/ alii Christiani). Betrachtet man die Außenseite der Unterscheidung, die in der Regel nicht erscheint, somit gleichsam als Innenseite einer Differenzierung, dann zeigt sich, dass die kommunikative Operation, in der die Kategorien Neofiti und Cristiani Novelli produziert wurden, sich als inkludierende Exklusion verstehen läßt. Denn „andere Christen“ können ihrerseits wieder nur von „anderen Christen“ unterschieden werden, und das heißt: auch die Neofiti bzw. Cristiani Novelli sind „andere Christen“. Die Neuchristen wurden also als Teil einer differenzierten christlichen Gesellschaft wahrgenommen, ohne dass zunächst einmal eine Hierarchie zwischen den Neuchristen und den anderen Christen konstruiert wurde. Trotz aller exkludierenden Redeweisen, die sich beobachten lassen, situiert der Sprachgebrauch die Neuchristen innerhalb der Gruppe der Christen. 33 G EORGE S PENCER B ROWN : Laws of Form, New York 1972, S. 1; Niklas L UHMANN : Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: U RSULA P ASSERO / C HRISTINE W EINBACH (Hgg.): Frauen, Männer, Gender Trouble - Systemtheoretische Essays, Frankfurt a.M. 2003, S. 15-62, S. 18; S INA F ARZIN : Inklusion/ Exklusion. Entwicklungen und Probleme einer systemtheoretischen Unterscheidung, Bielefeld 2006, S. 91-93. <?page no="39"?> B ENJAMIN S CHELLER 40 Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts belegen Quellen für das süditalienische Festland dann jedoch erstmals den Gebrauch einer neuen Bezeichnung für diejenigen, die man dort seit über zweihundert Jahren ausschließlich als Neofiti, Christiani Novi bzw. Cristiani Novelli ettikettiert hatte, gemeint ist die Bezeichnung Marrano bzw. Marrani. 34 Diese Bezeichnung war ein semantischer Import aus Spanien, wo man jene Juden, die in den Konversionswellen 1391 und zu Beginn des 15. Jahrhunderts zum Christentum übergetreten waren, als marranos bezeichnete. 35 Die Etymologie des Wortes Marrano ist unklar. Es hatte möglicherweise arabische Wurzeln und eine eindeutig pejorative Konnotation. Wahrscheinlich war die Bezeichnung Marrano aus Spanien über die Zwischenstation Venedig nach Süditalien und vor allen Dingen nach Apulien und Trani gelangt. Nach der Einführung der spanischen Inquisition waren viele Conversos aus Spanien nach Venedig geflohen. Im November 1497 ordnete der Senat von Venedig die Vertreibung aller Marrani aus seinem Herrschaftsbereich binnen zwei Monaten an. 36 In dem Vertreibungsedikt erscheint die Bezeichnung Marrano gleichsam als Unterkategorie von Häretiker und wird gleichzeitig mit Reichtum konnotiert, der freilich dem eigennützigen und gemeinschaftsschädlichen Vorteilsstreben entspringt. Unterschieden wird der Marrano von „guten Christen“ und „gutwilligen Personen“. Zum venezianischen Herrschaftsbereich gehörte seit 1496 auch Trani. Und die Capitoli, mit denen die Stadt die Zustimmung des Senats und später auch des spanischen Vizekönigs zur Vertreibung der Neuchristen erreichen wollte, bedienen sich der Bezeichnung Marrani samt deren Konnotation mit Häresie. Die neue Bezeichnung verdrängte die alten, lang etablierten Bezeichnungen zwar nicht. In der städtischen Überlieferung etwa stehen die Kategorien Marrani und Cristiani Novelli oft nebeneinander. 37 Allerdings veränderte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch die Bedeutung der alten Kategorien Neofiti und Cristiani Novelli. Dies wird deutlich, wenn man wiederum die Unterscheidung ins Auge fasst, durch welche die Kategorien Neofiti bzw. Cristiani Novelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts gebildet wurden. Während des 14. und 15. Jahrhunderts lautete die Außenseite der Unterscheidung, deren Innenseite die Kategorie 34 B ONAZZOLI : Gli Ebrei all’epoca della loro espulsione 2 (wie Anm. 23), S. 200-203; A RTURO F ARINELLI : Marrano (storia di un Vituperio), Genève 1925. 35 F ARINELLI : Marrano (wie Anm. 34). 36 D AVID K AUFMANN : Die Vertreibung der Marranen aus Venedig im Jahre 1550, in: The Jewish Quarterly Review 13 (1901), S. 520-532. 37 V ITALE : Trani (wie Anm. 4), Nr. 83, 104; vgl. C IOFFARI / S CHIRALLI (Hgg.): Libro Rosso di Trani (wie Anm. 20), Nr. 98, 60. <?page no="40"?> Übertragung kultureller Differenz 41 Cristiani Novelli bildete, „die anderen Christen“. Dies hatte den Effekt, dass zwischen Innenseite und Außenseite keine prinzipielle Unvereinbarkeit bestand, die Kategorie im Sprachgebrauch trotz aller exkludierenden Konnotationen also stärker inklusiv als exklusiv wirkte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts jedoch erhielt die Kategorie Cristiani Novelli eine neue Außenseite. Dies zeigt vor allem der Sprachgebrauch zahlreicher Gesuche aus dem Jahr 1512, in denen verschiedene Bittsteller aus Apulien darlegten, dass das Ausweisungsedikt von 1510 für sie nicht gelte. Ihre Hauptargumente sind dabei erstens, dass sie nicht de linia iudayca abstammten, sondern Cristiani a Nativitate seien, und zweitens, dass sie und ihre Familie Heiratsbeziehungen zu cristiani de natura unterhielten. Die Cristiani Novelli wurden nun also nicht mehr von den „anderen Christen“ unterschieden, sondern von den „Christen von Natur“ bzw. von „Christen durch Geburt“. Letztere wurden in den meisten der Gesuche noch genauer bestimmt als Cristiani a nativitate bzw. de natura antiqui (bzw. antiquissimi) et perfecti (perfectissimi), ein Supplikant bezeichnet sich gar als vero et optimo Cristiano. Die „Christen von Natur aus“ bzw. „qua Geburt“ stammten also nicht von Juden ab, sondern waren dies seit allerältesten Zeiten und waren gleichzeitig „allervollkommenste“, „hervorragende“ und „wahre“ Christen. Die Bezeichnung Cristiano Novello dagegen erhielt durch diese Unterscheidung die Bedeutung des defizitären, gar falschen Christen, der dies ebenfalls von Natur aus, nämlich aufgrund seiner Herkunft von Juden war. Ein Kapitel der Stadt Trani, mit dem diese 1509 ein ewig währendes Rückkehrverbot für die marrani et cristiani novelli der Stadt forderte, führte deren notoria heresia denn auch auf ihre mala natura zurück. 38 Die Unterscheidung von Neofiti bzw. Cristiani Novelli von Cristiani de Natura war ebenfalls ein semantischer Import aus Spanien, wo man bereits Ende des 14. Jahrhunderts Christiani a progenie seu natura von Neophyti unterschieden hatte und wo man seit der Mitte des 15. Jahrhunderts begann, den Zugang zu Ämtern und Würden an die „Reinheit des Blutes“ (limpieza del sangre) knüpfen. 38 V ITALE : Trani (wie Anm. 4), Nr. 104: Item se fa intendere ad dicto I. S. como in tempo del Ser.mo Re Ferrando secundo se obtenne cpituli expediti che li marrani et christiani novelli de dicta cità expulis da quella per la loro notoria heresia non possessero più repatriare in questa cità per la loro mala natura […]. Vgl. C IOFFARI / S CHIRALLI (Hgg.): Libro Rosso di Trani (wie Anm. 20), Nr. 60. <?page no="41"?> B ENJAMIN S CHELLER 42 Der Import dieser Biologisierung der Kategorien Neofiti und Cristiani Novelli im italienischen Süden bedeutete so etwas wie einen epistemischen Bruch. Noch Mitte des 15. Jahrhunderts hatte man die Tatsache, dass Nachkommen von Neofiti ihrerseits Neofiti waren, damit erklärt, dass Riten, Bräuche und Lebensweisen von einer Generation an die nächste weitergegeben würden. Dies hatte auch zur Folge, dass die exkludierende Wirkung der Konnotation ‚Häresie‘ stark abgemildert wurde. Denn die Häresie der Neuchristen wurde zwar gleichsam vererbt, jedoch nicht durch Blut, sondern durch Praktiken, die zumindest theoretisch auch aufgegeben werden konnten. Der Neuchrist konnte aufhören, die Bräuche seiner Vorfahren zu praktizieren, und dann auch aufhören, Häretiker zu sein, wieder in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen werden und in dieser seinen Platz einnehmen. Nun wurde die Differenz des Cristiano Novello als Folge einer Natur konzipiert, die er von seinen Vorfahren ererbt hatte und die damit unveränderbar war. Was vorher ein kulturelles Phänomen war, wurde nun also als ein biologisches verstanden. Zwar blieb diese biologistische Konzeption der Kategorien Neofiti und Cristiani Novelli sowie der intergenerationellen Übertragung kultureller Differenz stark der konkreten historischen Situation in den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts verhaftet. Danach verschwindet dieses Konzept der ‚Reinheit des Blutes‘ wieder aus der Wissensordnung des italienischen Südens. Für die Neuchristen von Trani gab es zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits kein Zurück mehr in ihre Stadt. <?page no="42"?> 43 Heinrich Lang Zwischen Geschäft, Kunst und Macht Das genealogisch-transzendentale Generationenmodell bei Patronage und Dynastiebildung der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts I. Einleitung Das Tabernakel, das Michelozzo und Pagno di Lapo Ende der 1440er Jahre für die Florentiner Kirche Santissima Annunziata schufen, ist Ausgangspunkt einer Forschungsdebatte über die Rolle Piero de’ Medicis des Gichtbrüchigen (1416-1469) 1 bei Kunstaufträgen geworden, und dies nicht nur aufgrund der Inschrift auf dem inneren Architrav costo fiorini 4000 el marmo - „Der Marmor kostete fl 4.000“ 2 (Abbildung 1). Piero gehörte 1445 den operai des besagten Gotteshauses, der Kirchenfabrik, an. Noch im Jahr seiner Ernennung zwang man ihn zum Rückzug, weil er offenbar nicht nur als Einzelperson, sondern als Repräsentant seiner Familie, die unter der Führung 1 Vgl. L EONIDA P ANDIMIGLIO : Medici, in: V OLKER R EINHARDT (Hg.): Die großen Familien Italiens, Stuttgart 1992, S. 338-359, hier S. 344. - Aufsätze zu Piero de’ Medici: A NDREAS B EYER / B RUCE B OUCHER (Hgg.): Piero de’ Medici „il Gottoso“ (1416-1469). Kunst im Dienst der Mediceer, Berlin 1993. 2 E RNST F. G OMBRICH : Die Medici als Kunstmäzene. Ein Überblick über die Zeugnisse des 15. Jahrhunderts, in: D ERS .: Die Kunst der Renaissance I. Norm und Form, Stuttgart 1985 [engl. Erstausgabe London 1966], S. 51-78; D ALE K ENT : Cosimo de’ Medici and the Florentine Renaissance. The Patron’s Oeuvre, New Haven/ London 2000; T OBIAS L EUKER : Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung und Kunst des 15. Jahrhunderts, Köln u.a. 2007, S. 461-471. In seinem Schlusskapitel diskutiert Leuker die zurückhaltende Interpretation Dale Kents, die Cosimo de’ Medici vor allem als Patron im Stil des Florentiner Quattrocento sieht und sich damit gegen die Darstellung der Medici-Kunstpatronage als primär strategisch-politisches Instrument wendet. Leuker entwirft das Bild einer „Kulturpolitik“ der Medici. Ich halte vor dem hier entwickelten Hintergrund beide Interpretationen für Extrempositionen; denn beide lassen die korporativen Elemente der Medici-Patronage in ihren abschließenden Bewertungen zu kurz kommen. Im vorliegenden Aufsatz wird vorgeschlagen, dass Cosimo und seine Söhne in „Netzwerken“, in Gruppen, dachten: vgl. J OHN P AOLETTI : Fraternal Piety and Family Power: The Artistic Patronage of Cosimo and Lorenzo de’ Medici, in: F RANCIS A MES -L EWIS (Hg.): Cosimo ‘il Vecchio’ de’ Medici, 1389-1464. Essays in Commemoration of the 600th anniversary of Cosimo de’ Medici’s birth, Oxford 1992, S.195-219; J OHN P AOLETTI : The Banco Medici in Milan. Urban Politics and Family Power, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 24 (1994), S. 199-238. <?page no="43"?> H EINRICH L ANG 44 Cosimos des Alten (1389-1464) 3 die Patronatsrechte einer ganzen Reihe Florentiner Kirchen an sich riss, begriffen wurde. Die Hälfte des Gremiums bestand aus Männern, die eine Majorisierung der Patronatsrechte durch die Medici wie im Fall des Klosterkonvents San Marco befürchteten. 4 In seinem Traktat über Architektur stellte Antonio Averlino, genannt Filarete (1400-1469) 5 , wenig später über Pieros Kunstauftrag des Tabernakels fest: ha fatto Piero con voluntà del padre - „Piero hat es mit dem Willen seines Vaters gemacht“. 6 Allerdings war die Familie Medici keineswegs nur durch Piero di Cosimo im Kirchenwerk der Santissima Annunziata vertreten: Die beiden Cousins Cosimos, Orlando di Guccio (1380-1456) und Bernardetto (eigentlich: Bernardo di Antonio, 1393-ca. 1471) 7 , die seit der Rückkehr der Medici aus dem Exil 1434 zu den wichtigsten Figuren des Medici- Regimes gehörten, 8 übten im Wechsel an Pieros Statt die Funktion eines operaio (= Mitglied des Rates der Kirchenfabrik) aus, auch Pieros jüngerer Bruder Giovanni (1421-1463) 9 tat dergleichen 1452-53. 10 Vor allem im Zusammenhang mit den Kunstaufträgen Cosimo des Alten, seines Sohnes Piero und seines Enkels Lorenzo (1449-1492) 11 hat die Forschung den Einsatz von Patronage zur Dynastiebildung beobachtet. Dabei hat man eine Entwicklungstendenz unterstellt: Cosimo sei der bedeutendste 3 Ausführlich: K ENT : Cosimo de’ Medici (wie Anm. 2). Eine breiter angelegte, niemals überarbeitete „Biographie“: C URT S IGMAR G UTKIND : Cosimo de’ Medici, London 1938. 4 J OHN T. P AOLETTI : „...ha fatto Piero con voluntà del padre...“. Piero de’ Medici and the Corporate Commissions of Art, in: A NDREAS B EYER / B RUCE B OUCHER (Hgg.): Piero de’ Medici „il Gottoso“ (1416-1469). Kunst im Dienst der Mediceer, Berlin 1993, S. 221-250, hier S. 221f., 238f. (dort die Hinweise zur Literatur über die Interventionen Piero de’ Medicis); W OLFGANG L IEBENWEIN : Die ‚Privatisierung‘ des Wunders. Piero de’ Medici in SS. Annunziata und San Miniato, in: ebd., S. 251-290; Vgl. C AROLINE E LAM : Cosimo de’ Medici and San Lorenzo, in: F RANCIS A MES -L EWIS (Hg.): Cosimo ‘il Vecchio’ de’ Medici, 1389-1464. Essays in Commemoration of the 600th anniversary of Cosimo de’ Medici’s birth, Oxford 1992, S. 157-180; C RISPIN R OBINSON : Cosimo de’ Medici and the Franciscan Observants at Bosco ai Frati, in: ebd., S. 181-194. Vgl. R OGER J. C RUM : Roberto Martelli, the Council of Florence, and the Medici-Palace Chapel, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59 (1996), S. 403-418. 5 A DOLF R EINLE : Filarete, in: Lexikon des Mittelalters, München 2002 [Erstausgabe 1989], Sp. 444. 6 A NTONIO A VERLINO F ILARETE : Trattato di architettura, hrsg. v. A NNA M ARIA F INOLI / L ILIANA G RASSI , Introduzione e note di Liliana Grassi, Mailand 1972, II, S. 690: Questo ha fatto fare Piero di Cosimo con voluntà del padre [...]. 7 Vgl. H EINRICH L ANG : Cosimo de’ Medici (1369-1464), die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert, Paderborn 2009, S. 214-236. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. V ITTORIO R OSSI : L’indole e gli studi di Giovanni di Cosimo de’ Medici, in: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei, Classe di science morali, storiche e filologiche 2 (1893), S. 38-150. 10 Vgl. J OHN R. S PENCER : Andrea del Castagno and his Patrons, Durham/ London 1991. 11 F RANCIS W ILLIAM K ENT : Lorenzo de’ Medici. The Art of Magnificence, Baltimore/ London 2004. <?page no="44"?> Geschäft, Kunst und Macht 45 private Kunstauftraggeber seiner Zeit gewesen. 12 Piero hätte demnach die Vorhaben seines Vaters fortgeführt, während Lorenzo il Magnifico als schillernder Überpatron in einem geradezu höfischen Ambiente nachrangigen Kunstpatronen in Ratschläge gehüllte Weisungen erteilt hätte. 13 Dieser Ansatz liegt auf der Hand: Bei der Kunstpatronage vollzieht sich eine semiotische Verdichtung, durch die in soziale Beziehungen und Ordnungsgefüge produktiv eingegriffen wird. 14 Die Formulierung von hierarchischen, dynastischen sowie politischen Ansprüchen durch visuelle Zeichensysteme manifestiert sich in Stein und Bild. 15 Die patrimoniale Gesellschaft des Florenz der Renaissance kristallisierte sich in Kunstwerken, die der 12 Vgl. B ERND R OECK : Motive bürgerlicher Kunstpatronage in der Renaissance. Beispiele aus Deutschland und Italien, in: D ERS .: Kunstpatronage in der Frühen Neuzeit. Studien zum Kunstmarkt, Künstlern und ihren Auftraggebern in Italien und im Heiligen Römischen Reich (15.-17. Jahrhundert), Göttingen 1999, S. 35-59. 13 Die überzeugendste Darstellung stammt von Richard Trexler, der die Kunstpatronage in das breitere Netz der Florentiner Ritualität einbaut und damit die Akzente von Patronage-Beziehungen zugunsten eines sozialbehavioristischen Konzepts verschiebt: R ICHARD C. T REXLER : Public Life in Renaissance Florence, New York 1980. - Die These vom „Meta-Patron“ wird von Bill Kent am klarsten formuliert: F RANCIS W ILLIAM K ENT : Patron-Cient Networks in Renaissance Florence and the Emergence of Lorenzo as ‘maestro della bottega’, in: B ERNARD T OSCANI (Hg.): Lorenzo de’ Medici. New Perspectives. Proceedings of the International Conference Held at Brooklyn College and the Graduate Center of the City University, New York, April 30-May 2, 1992 (Studies in Italian Culture, Literature in History, Bd. 13), New York 1993, S. 279-314. - Und als Typologie im Fall der Kunstpatronage: F RANCIS W ILLIAM K ENT : The Making of a Renaissance Patron of Arts, in: F RANCIS W ILLIAM K ENT / A LESSANDRO P EROSA / B RENDA P REYER / P IERO S ANPAOLESI / R OBERTO S ALVINI (Hgg.): Giovanni Rucellai ed il suo Zibaldone, II: A Florentine Patrician and his Palace (Studies of the Warburg Institute, Bd. 24.2), London 1981, S. 9-95. Noch pointierter als „Giovanni X“ in F RANCIS W ILLIAM K ENT : Individuals and Families as Patrons of Culture in Quattrocento Florence, in: A LISON B ROWN (Hg.): Language and Images of Renaissance Italy, Oxford 1995, S. 171-192, hier S. 182-187. Die Gegenposition, die dem Konzept der „Meta-Patronage“ insbesondere korporative Strukturen entgegenhält, wird besonders prägnant von Melissa Meriam Bullard vertreten: M ELISSA M ERIAM B ULLARD : Heroes and their workshops. Medici patronage and the problem of shared agency, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 24 (1994), S. 179-198. 14 Vgl. P IERRE B OURDIEU : Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: D ERS .: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 6 1997 [franz. Erstausgabe Paris 1970], S. 75-124; B ERND R OECK : Das Historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, Göttingen 2004; P ETER B URKE : Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003. 15 Der Grundgedanke der Wechselbeziehung zwischen der Wahrnehmung des menschlichen Körpers und der urbanen Raumgestaltung findet sich bei R ICHARD S ENNETT : Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995. Unter der Adaptionen vergleichbarer Konzeptionen für Florenz ist grundlegend: M ARVIN T RACHTENBERG : Dominion of the Eye. Urbanism, Art, and Power in Early Modern Florence, Cambridge 1997. Insbesondere für Lorenzo de’ Medici: C AROLINE E LAM : Lorenzo de’ Medici and the Urban Development of Renaissance Florence, in: Art History 1 (1978), S. 43-66. <?page no="45"?> H EINRICH L ANG 46 Flüchtigkeit von kirchlichen Prozessionen und urbanem Zeremoniell entkommen und die Zeiten überdauern können. 16 Das Generationenbewusstsein der italienischen Renaissance basierte auf Vater-Sohn-Beziehungen. 17 Diese genealogische Gestalt sozialer Interaktion erzeugte und prägte auch das gesellschaftliche Medium der Patronage, durch das Netzwerke sozialer Beziehungen reguliert wurden. 18 Dabei ist Patronage nicht ausschließlich als vertikale, dyadische Sozialbeziehung zu begreifen; vielmehr handelt es sich um ein flexibel einsetzbares Medium sozialer Orga nisation, dessen Textur sich in besonderem Maße aus dem Vokabular genea logischer Hierarchisierung speiste. 19 Diesem spezifischen Generationen modell möchte ich vorrangig am Beispiel der Familie Medici im 15. Jahrhundert nachgehen: Denn die Geschichte des Regimes, das die historische Person Cosimo de’ Medicis und seine Nachfahren anführten, umfasst das Bemühen einer Patrizierfamilie, den sozialen und politischen Rahmen von Bürgern einer Republik zu sprengen und sich zu einer fürstlichen Dynastie zu erheben. Diese Entwicklung unterliegt keinem Masterplan, der intentionale Handlungsstrategien voraussetzen würde; vielmehr müssen die dem Verhalten der Mitglieder der Bankiersfamilie im Kontext der Florentiner Elite inhärenten Muster entziffert werden. 20 16 M ICHAEL L INGOHR : The Palace and Villa as Spaces of Patrician Self-Definition, in: R OGER J. C RUM / J OHN T. P AOLETTI (Hgg.): Renaissance Florence. A Social History, Cambridge 2006, S. 240-272. Zum Theatralisierungsparadigma: H ELMAR S CHRAMM : Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 113-118, 129-136. 17 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), Kap. 5. Einführend zum genealogischen Denken der ‚Vormoderne‘: O HAD P ARNES / U LRIKE V EDDER / S TEFAN W ILLER : Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008, S. 40-51. Grundlegend für Spätmittelalter und Frühe Neuzeit vor italienisch-französischer Folie: C HRISTIANE K LAPISCH - Z UBER : L’ombre des ancêtres. Essai sur l’imaginaire médiéval de la parenté, Paris 2000. 18 B ULLARD : Heroes (wie Anm. 13), S. 193: Bullard beschreibt Patronage als Aushandlungsprozess mit shared agency; in diesem Zusammenhang diskutiert sie die häufig verwendete Metapher der bottega, welche sie als „collaboration in the creation of culture“ identifiziert. 19 Ebd., S. 191. Hier beschreibt Bullard das Florentiner Patronagemodell: „Rather than conceiving of Renaissance patronage as a vertical social configuration, we might more accurately describe it, like language itself, as a very flexible medium of negotiation in which agency was shared among various participants.“ Vgl. zum Verhältnis der beiden verwandten Sozialsysteme Freundschaft und Patronage: G UY F ITCH L YTLE : Friendship and Patronage in Renaissance Europe, in: F RANCIS W ILLIAM K ENT / P ATRICIA S IMONS (Hgg.): Patronage, Art, and Society in Renaissance Italy, Canberra/ Oxford 1987, S. 45-61. Vgl. zu Begriff und Phänomenologie der Patronage (vor allem in der Kritik an vereinfachenden dyadischen Ungleichheitsbeziehungen): A NTONI M ACZAK : Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart (Klio in Polen. Deutsches Historisches Institut Warschau, Bd. 7), Osnabrück 2005. 20 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 1-8. Vgl. demgegenüber P AUL M C L EAN : The Art of the Network. Strategic Interaction and Patronage in Renaissance Florence, Durham/ London 2007. <?page no="46"?> Geschäft, Kunst und Macht 47 Meine Untersuchung möchte ich in drei Schritten durchführen: Zunächst sollen Vater-Sohn-Beziehungen als Kernbausteine des Florentiner Generationenbewusstseins untersucht werden, zweitens wird die politische Verflechtungen konstituierende soziale Kategorie der Patronage im Lichte des auf männlicher Abstammungslinie basierenden Generationenmodells interpretiert werden, drittens werden die sozialen Beziehungen zu Heiligen in Kunstaufträgen als Ferment genealogischer Begründungszusammenhänge vorgestellt. Am Ende steht meine These eines transzendentalen Modells von Vater-Sohn- Beziehungen als Substanz der Patronage im Florenz der Renaissance. Damit wendet sich dieser Ansatz von quantifizierenden Methoden der Rekonstruktion von Netzwerken ab. 21 Stattdessen konzentriere ich mich auf den performativen und symbolischen Gehalt historischer Interaktion. 22 Damit wird das Generationenbewusstsein als Ansatz für eine Neuinterpretation begriffen. Der umfangreichen Literatur zur Patronage im Florenz des Quattrocento soll eine Perspektive hinzugefügt werden, die die ausgeprägte metaphysische Rückbindung von Patronage ernst nimmt und als patrilineares Generationenmodell begreift. 23 Symbolische, rhetorische und ikonographische Repräsentationsformen zeigen dabei das Wissen um die genealogische Struktur der Generationenabfolge. 24 Demgegenüber widmet sich die kulturgeschichtliche Forschung, die sich auf das 19. und 20. Jahrhundert bezieht, der Generationengeschichte vorwiegend mit einem horizontalen Begriff, der sich mit der charakteristischen Lage einer spezifischen Altersgruppe und der Formierung kollektiver Identität („Erlebnisgemeinschaft“) befasst. 25 21 Vgl. J OHN F. P ADGETT / C HRISTOPHER K. A NSELL : Robust Action and the Rise of the Medici 1400-1434, in: American Journal of Sociology 98, 2 (1993), S. 1259-1319. 22 Jüngst: M C L EAN : The Art of the Network (wie Anm. 20), S. 22-27. 23 Vgl. zur Deutung von Patronage-Beziehungen: F RANCIS W ILLIAM K ENT / P ATRICIA S IMONS : Renaissance Patronage. An Introductory Essay, in: D IES . (Hgg.): Patronage, Art, and Society in Renaissance Italy, Canberra/ Oxford 1987, S. 1-21; A NTHONY M OLHO : Il patronato a Firenze nella storiografia anglofona, in: Ricerche storiche 15 (1985), S. 5-16. 24 Zu dieser Unterscheidung des synchronen Generationenbegriffs (altersspezifische Gruppen) vom diachronen Generationenbegriff (Abfolge von Generationen) und der Überlieferung der Genealogie: S IGRID W EIGEL : Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 26. 25 Vgl. U TE D ANIEL : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 330-345 („Generationengeschichte“); P ARNES / V EDDER / W ILLER : Konzept (wie Anm. 17), S. 11f. <?page no="47"?> H EINRICH L ANG 48 2. Vater-Sohn-Beziehungen und Generationenbewusstsein In seiner „Geschichte von Florenz“ fügt Niccolò Machiavelli (1469-1528) 26 in den chronologischen Verlauf seiner Erzählung ein theoretisierendes, literarisierendes Porträt Cosimos des Alten ein. Vor dem Hintergrund der folgenden Entwicklung, als Pieros vermeintliche Inkompetenz die Verschwörung eines Teils der politischen Führung 1466 hervorrief, nimmt sich dies wie ein politisches Testament aus. Zwar seien Cosimos Bauvorhaben diejenigen eines Fürsten gewesen, doch habe der Bankier genügend prudentia besessen, um stets den Lebensstil einer modestia civile zu pflegen. 27 Diesem Entwurf fiktiver politischer Aufgaben korrelieren zwei Erklärungen der jeweiligen Söhne Cosimos und Pieros, denen ihre Väter notariell keine Testamente hinterlegten: Piero bemerkt in seinem für den Vater 1465 gestellten Inventar: Er wollte kein Testament machen, sondern sagte offen, er würde alles mir übertragen. 28 Wenig später, nach Pieros Tod 1469, hielt dessen Sohn Lorenzo wiederum fest: Weil Piero stark von der Gicht beeinträchtigt war, wollte er kein Testament machen; stattdessen machte ich das Inventar und darin finden wir also einen Wert von 238 000. 29 Florentiner Familienoberhäupter konnten davon ausgehen, dass sowohl ihr materieller Besitz als auch das ideelle Vermächtnis an die Haushalte bzw. Familien der Söhne übergeben werden würden. Aus der Perspektive der Söhne wurde das väterliche Erbe als familiäre Gesamtüberlieferung wahrgenommen, das die männlichen Kinder im Regelfall gemeinsam verwalteten. 30 So erklärt sich auch, dass der Besitz von Cosimos Vater, Giovanni di Bicci (1360-1429) 31 , zunächst auf beide Söhne, Cosimo und Lorenzo (ca. 1395-1440) 32 , vererbt wurde und nach Lorenzos Tod noch auf die zwei Familienlinien gemein - 26 G IORGIO I NGLESE : Machiavelli, Niccolò, in: Dizionario Biografico degli Italiani [künftig: DBI] 67 (2006), S. 81-97. 27 N ICCOLÒ M ACHIAVELLI : Geschichte von Florenz, in: D ERS .: Gesammelte Schriften IV, hrsg. v. H ANNS F LOERKE , München 1925, S. 414f. Vgl. M ARK P HILLIPS : The Memoir of Marco Parenti. A Life in Medici Florence, Princeton, N.J. 1987, S. 228-239. 28 Archivio di Stato di Firenze, Mediceo avanti il Principato [künftig: ASFi, MAP] CLXIII, c. 2v: […] non volle fare testamento ma liberamente el tucto rimisse in me. 29 Libro d’inventario dei beni di Lorenzo il Magnifico, hrsg. v. M ARCO S PALLANZANI / G. G AETA B ERTELÀ , Florenz 1992, S. 1 30 Vgl. J ULIUS K IRSHNER : Family and marriage: a socio-legal perspective, in: J OHN M. N AJEMY (Hg.): Italy in the Age of the Renaissance, Oxford 2004, S. 82-102, hier S. 99f.; F RANCIS W ILLIAM K ENT : Household and Lineage in Renaissance Florence. The Family Life of the Capponi, Ginori, and Rucellai, Princeton, N.J. 1977, S. 75-77. 31 Vgl. J OHN R. H ALE : Firenze e i Medici. Storia di una città e di una famiglia, Mailand 1980. 32 Vgl. P ANDIMIGLIO : Medici (wie Anm. 1), S. 339. <?page no="48"?> Geschäft, Kunst und Macht 49 schaftlich verteilt blieb. Erst 1451 strengte Cosimos Neffe Pierfrancesco (1430-1476) 33 die notariell beglaubigte Aufteilung des Besitzes an. 34 Neben dem notariellen Akt eines schriftlichen Testaments entwickelten sich vor allem die Erinnerungsschriften, die Ricordi oder Ricordanze, die ursprünglich aus kaufmännischen Aufzeichnungen hervorgingen und in die ihre Autoren zunehmend genealogische Konstruktionen und autobiographische Markierungen inserierten, zu identitätsstiftenden Zeugnissen familiärer Tradi tionslinien und pädagogisch aufgeladenen Abhandlungen. 35 Ihr Aufkommen entsprach zunächst einer für Florenz spezifischen Notwendigkeit, den Nach weis über die Zugehörigkeit zur politischen Elite zu erbringen und damit soziales Kapital für sich zu reklamieren. 36 Die Weitergabe der ricordanze erfolgte vom Vater auf den Sohn, so dass diese Form der Nutzung nicht nur eine familiäre Traditionsbildung ermöglichte; vielmehr lebte dieses Verhal tensmuster vom Glauben an die ethische Kraft der imitatio. 37 Die Gedächtnis - 33 A LISON B ROWN : Pierfrancesco de’ Medici, 1430-1476, in: D IES .: The Medici in Florence. The exercise and language of power (Italian Medieval and Renaissance Studies, The University of Western Australia, Bd. 3), Florenz/ Perth 1992, S. 73-102. 34 ASFi, MAP CLIX, c. 1rv: Cosimo di Giovanni di Bicci e Pierfrancesco di Lorenzo di Giovanni de’ Medici, con atto rogato ser Antonio Leonardi de Pugis, del 1450 [1451] mar. 23, eleggono arbitri delle vertenze patrimoniali insorte tra Marcello di Strozza Strozzi, Carlo di Gregorio Marsuppini, Alamanno di Jacopo Salviati, Amerigo di Giovanni di Amerigo Cavalcanti, Giovanni di Antonio di Salvestro Serristori, Bernardo di Antonio de’ Medici (copia dall’originale, autenticata von ser Laurentius Mutius, 1574 set. 14). - ASFi, MAP CL, 41: Copia del lodo pronunziato da Carolus Georgii de Marsuppinis e da Bernardus Antonii de Medicis, eletti arbitri nella controversia patrimoniale vertente tra Cosimo di Giovanni di Averardo detto Bicci de’ Medici da una parte, e Pierfrancesco di Lorenzo di Giovanni di Averardo detto Bicci de’ Medici dall’altra. Firenze, 1451, nov. 17. Vgl. K ENT : Household (wie Anm. 30), S. 133-135. 35 C HRISTIAN B EC : Les Livres des Florentins. 1413-1608 (Biblioteca di „Lettere italiane“, Studi e testi, Bd. 29), Florenz 1984; F ULVIO P EZZAROSSA : La tradizione fiorentina della memorialistica, in: G IAN M ARIO A NSELMI / F ULVIO P EZZAROSSA / L UISA A VELLINI (Hgg.): La ‘memoria’ dei mercatores. Tendenze ideologiche, ricordanze, artigianato in versi nella Firenze del Quattrocento (L’esperienza critica, Bd. 1), Bologna 1980, S. 39-149. Allgemeiner Verweis: G IOVANNI C IAPPELLI : Introduction, in: G IOVANNI C IAPPELLI / P ATRICIA L EE R UBIN (Hgg.): Art, Memory, and Family in Renaissance Florence, Cambridge 2000, S. 1-13, hier S. 2f. - Zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Erinnerungsschriften Florentiner Kaufleute im Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert: F RANZ -J OSEF A RLINGHAUS : Zwischen Notiz und Bilanz: Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/ di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367-1373) (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge, Bd. 8), Frankfurt a.M. 2000. 36 Vgl. D ALE K ENT : The Florentine reggimento in the Fifteenth Century, in: Renaissance Quarterly 28 (1975), S. 575-638; N ICOLAI R UBINSTEIN : Florentine Constitutionalism and the Medici Ascendancy in the Fifteenth Century, in: D ERS .: Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence, London 1968, S. 442-462. 37 G IOVANNI C IAPPELLI : Family Memory: Functions, Evolution, Recurrences, in: G IOVANNI C IAPPELLI / P ATRICIA L EE R UBIN (Hgg): Art, Memory, and Family in Renaissance Florence, Cambridge 2000, S. 26-38, hier S. 27f. Diese Argumentation baut wesentlich auf der überzeugenden Antwort auf die Frage nach dem Grund für das Aufkommen ungewöhnlich zahl- <?page no="49"?> H EINRICH L ANG 50 funktion mit engem Gruppenbezug erzeugte somit soziale Identität. 38 Die Produktion familiärer Erinnerung entstand mit der Genealogie, d.h. die Gleichsetzung von Familiengeschichte und Genealogie - eine Traditionsform, die in der Antike ihre Wurzeln hatte. 39 Der genealogische Entwurf der Familie erwies sich als ein wirkungsmächtiges Schema, das auch auf die republikanisch-humanistische Formulierung kollektiver Identität als väterlich-männlicher Überlieferungsstrang übertragen wurde. 40 Die Patriliniarität wurde als Strukturmerkmal familiärer und verwandtschaftlicher Verbindungen interpretiert. 41 Giovanni Morelli verarbeitet in seinen Ricordi die von ihm als widrig wahrgenommenen Schicksalsfälle, die ihn und seine Familie ereilten. Für ihn substantiiert sich familiäre Genealogie in der Linie der männlichen Mitglieder. In den Augen Morellis stellte diese Tradition die Nobilität seiner Familie sicher. 42 Damit diese sich in ihrer Alterskohorte behaupten können, richtete er an seine eigenen Söhne die Empfehlung: Entscheidend sei, sich mächtige Freunde und Protektoren wie Guido Del Palagio zu suchen, die es dann nachzuahmen gelte. Und wörtlich: Wenn ihr sie nicht durch verwandtschaftliche Bindung erreichen könnt, macht sie Euch zu Freunden, indem ihr gut über sie sprecht. 43 Dazu bietet reicher ricordanze in Florenz in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf; diese Begründung geht auf das im Detail nicht mehr akzeptable, in den Grundzügen aber sehr anregende Buch von Lauro Martines zurück: L AURO M ARTINES : The Social World of the Florentine Humanists. 1390-1460, Princeton, N.J. 1963. 38 Vgl. H EIDEMARIE U HL : Gedächtnis - Konstruktion kollektiver Vergangenheit im sozialen Raum, in: C HRISTINA L UTTER / M ARGIT S ZÖLLÖSI -J ANZE / H EIDRUN U HL (Hgg.): Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen (Querschnitte, Bd. 15), Innsbruck 2004, S. 139-158, hier S. 144. 39 Vgl. C IAPPELLI : Family Memory (wie Anm. 37), S. 30f.; P ATRICK G EARY : The Historical Material of Memory, in: G IOVANNI C IAPPELLI / P ATRICIA L EE R UBIN (Hgg): Art, Memory, and Family in Renaissance Florence, Cambridge 2000, S. 17-25. 40 C IAPPELLI : Family Memory (wie Anm. 37), S. 34: Dabei ist speziell an die Laudatio urbis des Lionardo Bruni gedacht. 41 Vgl. F RANCIS W ILLIAM K ENT : La famiglia patrizia fiorentina nel Quattrocento. Nuovi orientamenti nella storiografia recentei, in: D ANIELA L AMBERTINI (Hg.): Palazzo Strozzi. Metà Millennio 1489-1989 (Atti del Convegno di Studi, Firenze, 3-6 luglio 1989. Istituto della Enciclopedia Italiana, Fondata da Giovanni Treccani, Roma), Rom 1991, S. 70-91, hier S. 85-91; K ENT : Household (wie Anm. 30), S. 6f. Zu consorteria: „a consorteria was a group of kinsmen tracing descent in the male line from a common ancestor.“ Etwa in den Statuten von 1415: sint de eadem stripe per lineam masculinam, etiam spurios, usque in infinitum. Kent definiert: „In technical language the Florentine consorteria was therefore a patrilineal lineage - Florentines themselves sometimes use the word lignaggio (lineage) and agnatio (agnatic kin group) to describe it.“ 42 N ICOLAI R UBINSTEIN : Family, Memory, and History, in: G IOVANNI C IAPPELLI / P ATRICIA L EE R UBIN (Hgg.): Art, Memory, and Family in Renaissance Florence, Cambridge 2000, S. 38-47, hier S. 40. 43 T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 170: E se non puoi per la via del parentado, fattelo amico in dire bene di lui. <?page no="50"?> Geschäft, Kunst und Macht 51 Richard Trexler die eingängigsten Erläuterungen zum Thema und deutet Morellis Ratschläge als Ausdruck der für einen Florentiner Kaufmann typischen Suche nach dem früh verlorenen Vater. 44 Giovanni Rucellai behandelt in seinem Zibaldone die eigene Verwandtschaft als ein ausgedehntes Netz, dessen Fluchtpunkt in der agnatischen Linie besteht. 45 Als strukturbildend erwies sich dabei die Vater-Sohn-Beziehung: Sie lieferte nicht nur das grundlegende Bauelement sozialer Netzwerke, sondern bot auch das Vokabular an, dessen rhetorische Elemente in den Kontext anderer sozialer Beziehungen eingebettet werden konnten und ihnen so einen Tonfall verwandtschaftlicher Verbindlichkeit verliehen. Eine beträchtliche Anzahl von Briefen an Cosimo, seine Söhne Piero und Giovanni oder seinen Enkel Lorenzo enthalten Formulierungen, die dem Sprachschatz zwischen Söhnen und Vätern entlehnt sind. Ein besonders präg nantes Beispiel stammt von einem Agenten Lorenzo il Magnificos, Bartolo meo Nettoli, der 1479 über die Villa der Medici im nördlich von Florenz gelegenen Mugello schreibt und dabei zwei genealogische Abfolgen paralle lisiert: Ich erinnere Euch an die 50 Jahre, die sich mein Vater um Euer Haus gekümmert hat, als sich Cosimo und [sein Bruder] Lorenzo dort einzustellen pflegten. Nun tue ich das Gleiche, und ich kümmere mich um Euch, Eure Söhne wie um Lorenzo und Giovanni, Eure Groß- Cousins. 46 Aber auch andere wie der Humanist Alessandro Cortesi gelangen zu vergleichbaren Einschätzungen. Cortesi bemühte sich um eine Pfründe, weswegen er sich an Lorenzo de’ Medici wandte und davon Marsilio Ficino in einem Brief berichtete: 44 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 89f., 163-172. 45 Vgl. R UBINSTEIN : Family (wie Anm. 42), S. 40, 42f.; C HRISTIANE K LAPISCH -Z UBER : La Femme et le lignage florentin (XIV e -XVI e siècles), in: R ICHARD C. T REXLER (Hg.): Persons in Groups. Social Behavior as Identity Formation in Medieval and Renaissance Europe. Papers of the Sixteenth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies (Medieval and Renaissance Texts and Studies, Bd. 36), Binghamton, N.Y. 1985, S. 141-153; C HRISTIANE K LAPISCH -Z UBER : La famiglia e le donne nel Rinascimento a Firenze, Rom 1988, S. 54. 46 ASFi, MAP XXIII, c. 703 (18.6.1471): O richordo di 50 ani che mio padre la facieva guardare per la chasa vostra, che cci soleva atendere Chosimo e Lorenzo. Ora anche io f oil simile, v’ò chura per voi e per li vostri figliuoli e per Lorenzo e Giovanni vostri sechondo chugini. Zitiert nach: F RANCIS W. K ENT : Il Medici Avanti il Principato al tempo di Lorenzo, in: I RENE C OTTA / F RANCESCA K LEIN (Hgg.): I Medici in rete. Ricerca e progettualità scientifica a proposito dell’archivio Mediceo avanti il Principato (Atti e convegni. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Bd. 22), Florenz 2003, S. 123-141, hier S. 131. <?page no="51"?> H EINRICH L ANG 52 Ich bin unter [Lorenzos] Schutz geboren und aufgewachsen, und ich sehe, dass Seine Hoheit die weltlichen Güter meines Bruders gefördert hat, daher scheint es mir angemessen, bei ihm nachzusuchen, ob er mich in kirchlichen Gütern ebenso fördert [...]. 47 Diese Sprache der Ehrerbietung ist weniger devot und unterwürfig, als es den Anschein hat: Vielmehr instrumentalisierten die Verfasser eine rituelle Rhe torik, um ihrem Gegenüber die Anerkennung als Patron zu signalisieren und damit für sich die entsprechende Schutzleistung zu beanspruchen. Dazu nutzten sie das sprachliche Register der Verständigung zwischen Vater und Sohn. 48 Ein Tafelbild Sandro Botticellis, üblicherweise auf etwa 1474 datiert, zeigt einen jungen Mann, der eine Medaille mit dem Porträt Cosimos des Alten im Profil präsentiert (Abbildung 2). Dabei ist nicht geklärt, um wen es sich bei dem jungen Mann handelt. 49 Die Ikonographie des Doppelporträts ist aller dings eindeutig: Cosimo, dem nach seinem Tod der Ehrentitel Pater Patriae verliehen wurde, wird von seiner Nachwelt in Ehren gehalten, sei es, dass sich nachfolgende Generationen seiner vermittels einer Ikone erinnern, sei es, dass der Maler Cosimos Enkel Lorenzo direkt anzusprechen gedachte, um ihn an die Qualitäten Cosimos als Kunstpatron zu gemahnen. 50 Das dem Zusammenhang familiärer Genealogie entstammende Generationenmodell von Vater-Sohn-Beziehungen fungierte als sprachliches Reservoir und verweist auf den Denkrahmen, innerhalb dessen soziale Beziehungen greifbar und beschrieben wurden. In diesem Sinn wurden Patronagebeziehungen familiarisiert und zeichneten sich durch einen einhegenden diskursiven Stil aus. 51 47 Zitiert nach: B ULLARD : Heroes (wie Anm. 13), S. 195. 48 Vgl. ebd., S. 195f. 49 Vgl. H ANS K ÖRNER : Botticelli, Köln 2006, S. 75; L EUKER : Bausteine (wie Anm. 2), S. 116- 120: Die Medaillenumschrift weist Cosimo de’ Medici mit dem Titel „PPP“ (=„[COSMUS MEDICES DECRETO] P[UBLICO] P[ater] P[atriae]“) aus. Leuker diskutiert ausführlich die Datierung der Medaillen mit der Umschrift pater patriae, wobei er zum Schluss kommt, dass die Zuschreibung des Botticelli-Bildes auf 1474 nicht nur aus stilistischen Gründen zu revidieren ist. 50 A LISON B ROWN : The Humanist Portrait of Cosimo de’ Medici, Pater Patriae, in: D IES .: The Medici in Florence. The exercise and language of power (Italian Medieval and Renaissance Studies, Bd. 3), Florenz/ Perth 1992, S. 3-52; S USANNE K RESS : Das autonome Porträt in Florenz. Studien zu Ort, Funktion und Entwicklung des florentinischen Bildnisses im Quattrocento, Diss. phil. Gießen 1995, S. 190-192. 51 Vgl. mit besonderem Bezug zu Stephen Greenblatts Darstellung des Gebrauchs von Sprache in diskursiver Konstruktion: C HRISTINA L UTTER : Geschlecht. Wissen. Kultur. Mediävistik als historische Kulturwissenschaft, in: C HRISTINA L UTTER / M ARGIT S ZÖLLÖSI -J ANZE / H EIDRUN U HL (Hgg.): Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen (Querschnitte, Bd. 15), Innsbruck 2004, S. 117-138, hier S. 127. <?page no="52"?> Geschäft, Kunst und Macht 53 3. Patronage in politischen Netzwerken im Lichte des Generationenbewusstseins Die überlieferte Dokumenten- und Briefsammlung der Medici bis zu ihrem Aufstieg zu den Herzögen der Toskana, der Mediceo avanti il principato 52 , enthält weit über 1.000 Schreiben an Cosimo de’ Medici; die Zahl der Briefe, die an seine Söhne Piero und Giovanni gerichtet sind, übersteigt diejenige an Cosimo noch um ein Vielfaches. Die schriftlichen Mitteilungen an Lorenzo, den Sohn Pieros, übertreffen die Summe der Briefe an Piero und Giovanni abermals. 53 Das Familienarchiv der Medici erfuhr zwar nachhaltige Selektionsprozesse, denen vor allem die Geschäftskorrespondenz zum Opfer fiel. 54 Die erhaltenen Schreiben vermitteln dennoch ein aufschlussreiches Bild. Bis zu seinem frühen Tod 1440 war Lorenzo, der Bruder Cosimos, ein durchaus prominenter Empfänger von Briefen, viele waren an beide Brüder gemeinsam adressiert. 55 Noch zu Cosimos Lebzeiten nahm die Bedeutung seiner beiden Söhne als Adressaten enorm zu. Dabei entwickelte sich der jüngere, Giovanni, bevor er 1463 unerwartet verschied, zum zentralen Ansprechpartner der Familie. An ihn wandte sich 1451 der wiederholt durch die Republik Florenz angeheuerte Söldnerkapitän Micheletto Attendoli (1390-1463) 56 , um Zugriff auf seinen in Staatsanleihen investierten Sold zu erlangen. Wie zahlreiche andere glaubte er, durch einen an Giovanni adressierten Brief bei Cosimo Gehör zu finden: 52 http: / / www.archiviodistato.firenze.it/ rMap/ index.html [Zugriff am 28.3.2010]. 53 Vgl. A NTHONY M OLHO : Cosimo de’ Medici: Pater Patriae or Padrino? , in: Stanford Italian Review 1 (1979), S. 5-33; W ILLIAM J. C ONNELL : Changing Patterns of Medicean Patronage. The Florentine Dominion During the Fifteenth Century, in: G IAN C ARLO G ARFAGNINI (Hgg.): Lorenzo il Magnifico e il suo mondo. Convegno internazionale di studi, Firenze, 9-13 giugno 1992 (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Atti di Convegni, Bd. 19), Florenz 1994, S. 87-107. 54 Vgl. N ICOLAI R UBINSTEIN : L’archivio ‘Mediceo avanti il principato’ da archivio di famiglia ad archivio principesco, in: I RENE C OTTA / F RANCESCA K LEIN (Hgg.): I Medici in rete. Ricerca e progettualità scientifica a proposito dell’archivio Mediceo avanti il Principato (Atti e convegni, Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Bd. 22), Florenz, 2003, S. 117-122. 55 Vgl. P AOLETTI : Fraternal Piety (wie Anm. 2), S. 209; H ANS T EUBNER : San Marco in Florenz. Umbauten vor 1500, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 23 (1979), S. 239-271, hier doc. 13, S. 265. 56 Vgl. R. C APASSO : Attendoli, Micheletto, in: DBI 4 (1962), S. 542f.; P ETER B LASTENBREI : Die Sforza und ihr Heer. Studien zur Struktur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Söldnerwesens in der italienischen Frührenaissance (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, N.F. Bd. 1), Heidelberg 1987, S. 321; M ARIA N ADIA C OVINI : L’esercito del duca. Organizzazione militare e istituzioni al tempo degli Sforza (1450-1480) (Istituto storico italiano per il medio evo. Nuovi studi storici, Bd. 42), Rom 1998, S. 109. <?page no="53"?> H EINRICH L ANG 54 Hiermit teile ich Euch mit, dass wir Eure Angelegenheiten und diejenigen Eurer Freunde behandeln [...], als wären sie unsere eigenen, und dass wir stets zu Euren Diensten stehen. Dabei möge es Euch gefallen, mich an den Magnifico Cosimo [...] zu empfehlen. 57 Entgegen der Vorstellung einer Vererbung der Rolle des Patrons auf den ältesten Sohn verteilten sich die Aufgaben gleichzeitig auf mehrere Familienmitglieder, die verschiedenen Generationen angehörten. 58 Die Errichtung des Stadtpalastes in der Via Larga erforderte ein hohes Maß an Koordination, die Cosimo mit seinen Söhnen kooperativ bewerkstelligte. Über die malerische Ausgestaltung der Kapelle im Inneren durch Benozzo Gozzoli beispielsweise verhandelte Piero oder ließ in Phasen seiner eigenen Unpässlichkeit den Chef-Bankier der Medici-Bank, Roberto Martelli, den Ort des Geschehens besichtigen. 59 Der Einzug der Heiligen Drei Könige, das große Fresko Gozzolis, vergegenwärtigt die genealogische Abfolge der Medici und assoziiert sie mit Dynastien der verbündeten Fürsten (Abbildung 3). 60 Die Familie der Medici wird hier in eine Erzählung des Heilsgeschehens eingebunden. 61 Mehr noch als in anderen Fällen wird deutlich, dass Piero bei den Verhandlungen mit dem Künstler in enger Abstimmung mit seinem Vater gehandelt haben dürfte. Die genealogische Identitätsbildung in Florentiner Familien der Renaissance regte Piero an, den väterlichen Willen im gemeinsamen Kunstauftrag zu verwirklichen. 62 Das Patronagesystem der Medici weist strukturelle Ähnlichkeiten mit innerfamiliärer Kommunikation auf. Anreden und Sprache der Briefe artiku- 57 ASFi, MAP VI, c. 115: Micheletto Attendoli, Giezani bei Pisa, an Giovanni di Cosimo de’ Medici, 21.3.1451: Avisandove che sempre le cose vostri et quelle deli amici vostrj riguardaremo et riguardare faremo quanto Le nostre prop(ri)e offerendose ad tucti gli vostrj piacerj apparechiati etc. Piacque ciò ricomendarme a lo M(agnifi) co Cosimo a le M(agnicen) cia del qual nostra speranza consiste. 58 Vgl. B ULLARD : Heroes (wie Anm. 13), S. 195f. 59 C RUM : Roberto Martelli (wie Anm. 4). Vgl. als Gegenthese: E RNST F. G OMBRICH : Die Medici als Kunstmäzene. Ein Überblick über die Zeugnisse des 15. Jahrhunderts, in: D ERS .: Die Kunst der Renaissance, I: Norm und Form, Stuttgart 1985 [engl. Erstausgabe London 1966], S. 51-78, hier S. 70f. 60 Vgl. J ULIAN -M ATTHIAS K LIEMANN : Gesta dipinte. La grande decorazione nelle dimore italiane dal Quattrocento al Seicento, Mailand 1993, S. 7-34; A NDREAS B EYER : Der Zug der Könige. Studien zum Ausstattungsprogramm der Kapelle des Palazzo Medici in Florenz, Diss. phil., Frankfurt a.M. 1985. 61 Vgl. R AB H ATFIELD : Cosimo de’ Medici and the Chapel of his Palace, in: F RANCIS A MES - L EWIS (Hg.): Cosimo ‘il Vecchio’ de’ Medici, 1389-1464. Essays in Commemoration of the 600th anniversary of Cosimo de’ Medici’s birth, Oxford 1992, S. 221-244, hier S. 226-228; T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 263-270. 62 Vgl. K ENT : Cosimo de’ Medici (wie Anm. 2). Methodisch zur Rolle des „Patron in the Picture“ vgl. A LISON W RIGHT / E CKART M ARCHAND : The patron in the picture, in: D IESS . (Hgg.): With and Without the Medici. Studies in Tuscan Art and Patronage 1434-1530, Cambridge 1998, S. 1-18. <?page no="54"?> Geschäft, Kunst und Macht 55 lierten das Schema der patrilinearen Beziehungstypen als symbolische Textur von Beziehungen im Netzwerk. Das persönliche Verwandtschaftsverhältnis von Vater, Sohn und Onkel wird dabei auf andere Beziehungstypen wie diejenigen zwischen politisch verbündeten Clans übertragen. Beispielsweise verwendet der Söldnerkapitän und Herr von Faenza, Astorgio Manfredi (1412-1468) 63 , dem deutlich älteren Cosimo gegenüber in einem Schreiben von 1458 die Anrede Mag(nifi) ce pater hon(orand) e - „Hoher, ehrwürdiger Vater“. 64 Diese symbolische Subordination besteht einerseits in dem Ritual, das durch die Adressierung an einen Patron entsprechende Leistungen aus Gunst erwarten lässt, andererseits in der Subordination gegenüber dem Patron. 65 Vier Jahre später, 1462, spricht Manfredi die Söhne Cosimos als fratelli (=„Brüder“) an und stuft sich als gleichrangig mit seinen Adressaten ein. 66 In diesem Schreiben fährt er fort: [...] und ich möchte der dritte Sohn unseres gemeinsamen Vaters Cosimos sein [...]. 67 Die ‚Vererbung‘ der Freundschaften vom Vater auf den Sohn verdeutlicht eine schriftliche Äußerung, die Astorgio 1467 an Pieros Sohn Lorenzo richtete: Hier tituliert Manfredi den Freund aus der Medici-Familie in dritter Generation als lieben Sohn. 68 Die grundlegende Beziehungsfigur der amicitia (=„Freundschaft“) entlehnte ihre Wirkungskraft dem patrilinearen Konzept: Freunde wurden als Brüder begriffen, die von einem gemeinsamen, wiewohl fiktiv gemeinsamen Vater abstammten und deren Söhne nicht minder als ‚eigene‘ Söhne dargestellt wurden. 69 63 I SABELLA L AZZARINI : Manfredi, Astorgio, in: DBI 68 (2007), S. 653-656. 64 ASFi, MAP XII, 280: Astorgio Manfredi, Faenza, an Cosimo de’ Medici, 25.3.1458 65 Zur Reziprozität von Patronagebeziehungen bzw. Beziehungen zwischen Ungleichen: T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 131-158. 66 ASFi, MAP X, 464: Astorgio Manfredi, Faenza, an Piero und Giovanni di Cosimo de’ Medici, 12.12.1462. Schon zuvor: ASFi, MAP XVI, 20: Astorgio Manfredi, Faenza, an Piero und Giovanni di Cosimo de’ Medici, Florenz, 27.12.1442: Spectabiles viri et generosi tamque fratres dilectissimi. 67 ASFi, MAP X, 464: Astorgio Manfredi, Faenza, an Piero und Giovanni di Cosimo de’ Medici, 12.12.1462: e intendo essere al terzo figliuolo del M(agnifi) co n(ost)ro comune padre cosmo al quale piazavj ricomandarmi continuo [...] et ricordarvj ch’io son v(ost)ro in anima e in corpo. 68 MAP XX, 292: Astorgio Manfredi, Faenza, an Lorenzo di Piero de’ Medici, 14.4.1467: Magnifice tamque fili car(issime). 69 Vgl. R ONALD W EISSMAN : Ritual Brotherhood in Renaissance Florence, New York 1982; D ALE K ENT : The Dynamic of Power in Cosimo de’ Medici’s Florence, in: F RANCIS W ILLIAM K ENT / P ATRICIA S IMONS (Hgg.): Patronage, Art, and Society in Renaissance Italy, Canberra/ Oxford 1987, S. 63-77. Vgl. K ENT : Individuals (wie Anm. 13), S. 177f. Die mutua amicitia erklärt Astorgio Manfredi in einem Brief an Piero de’ Medici selbst: Unde per satisfactione del uno debito benchè non accada tra noi offerte perchè già molti abbi sono state facte e per la mutua nostra amicitia: se essa veda che io possi cosa a lei grata: fare, che non di meno po’ disponere de mi / e de ogne mia fac(e)rate che ella puote: de si mede(si)mo e de le sue cose proprie. (ASFi, MAP XVII, c. 298: Astorgio Manfredi, Faenza, an Piero di Cosimo de’ Medici, 5.1.1461). <?page no="55"?> H EINRICH L ANG 56 Die sprachlichen Formulierungen für soziale Beziehungen in Briefen fanden ihre Entsprechung in einem ebenfalls familialen Ritual, das mit der Vater-Sohn-Typisierung operierte. Die Transponierung in visuelle Repräsentation hatte dabei zum Ziel, den flüchtigen Akt der Begegnung der Generationen dauerhaft und repräsentativ zu reproduzieren. 70 Astorgio Manfredi wurde bisher zwar nicht im Zug der Heiligen Drei Könige ausfindig gemacht, 71 doch ist er neben den identifizierten Sigismondo Pandolfo Malatesta (1417-1468) 72 und Galeazzo Maria Sforza (1444-1476) 73 zu erwarten, 74 zumal er beim Besuch Papst Pius’ II. im Mai 1459 in Florenz und im Palazzo Cosimos ebenfalls anwesend war. Gozzolis Wandgemälde bezieht sich augenfällig auf diesen Papstbesuch: 75 Während sich der Herr von Rimini, Malatesta, in seiner Korrespondenz auf einer Stufe mit seinem fratello Giovanni di Cosimo sieht, 76 schildert sich Galeazzo Maria, der Sohn des mit Cosimo eng verbündeten Herzogs von Mailand Francesco Sforza, 77 in den Berichten an seinen Vater als Schützling des väterlichen Gastgebers. 78 Auf diese Weise ist die Darstellung in der Kapelle im Palazzo Medici von einer doppelten Textur genealogischer Interaktion durchzogen: Sowohl Auftragsvergabe und Durchführung des Projekts waren ein abgestimmtes Werk von Vater, Söhnen und Brüdern, als auch das gezeigte Geschehen selbst. Die 70 Vgl. K LAPISCH -Z UBER : L’ombre (wie Anm. 17), S. 321. 71 C RISTINA A CIDINI L UCHINAT : Medici e cittadini nei cortei dei Re Magi. Ritratto di una società, in: D IES . (Hg.): Benozzo Gozzoli. La cappella dei Magi, Mailand 1993, S. 363-370, hier S. 336. Vgl. D IANE C OLE A HL : Benozzo Gozzoli, New Haven/ London 1996, S. 96-98. 72 A NNA F ALCIONI : Malatesta (de Malatestis), Sigismondo Pandolfo, in: DBI 68 (2007), S. 107- 114; A NGELA D ONATI (Hg.): Il potere, le arti, la guerra. Lo splendore dei Malatesta (Rimini, Castel Sismondo, 3 marzo - 15 giugno), Mailand 2001. 73 A CIDINI L UCHINAT : Medici (wie Anm. 71), S. 336. 74 Zu dieser These L ANG : Cosimo de’ Medici (wie Anm. 7), S. 115. 75 A NNA P ADOA R IZZO : La Cappella dei Magi nell’attività di Benozzo Gozzoli, in: C RISTINA A CIDINI L UCHINAT (Hg.): Benozzo Gozzoli. La Cappella dei Magi, Mailand 1993, S. 357-362; S USANNE K RESS : Per honore della ciptà. Zeremoniell im Florentiner Quattrocento am Beispiel des Besuchs Galeazzo Maria Sforzas im April 1459, in: W ERNER P ARAVICINI (Hg.): Zeremoniell und Raum: 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Potsdam, 25. bis 27. September 1994 (Residenzenforschung, Bd. 6), Sigmaringen 1997, S. 113-125. 76 ASFi, MAP VI, c. 75: Sigismondo Pandolfo Malatesta an Giovanni di Cosimo de’ Medici, 6.4.1448, Anrede: Magnifice tamq(ue) frater car(issi)me. 77 Vgl. V INCENT I LARDI : The Banker-Statesman and the Condottiere-Prince. Cosimo de’ Medici und Francesco Sforza, 1450-1464, in: C RAIG H UGH S MYTH / G IAN C ARLO G ARFAGNINI (Hgg.): Florence and Milan. Comparisons and Relations, Florenz 1989, Bd. II, S. 217-237. 78 Vgl. Archivio di Stato di Milano, Potenze sovrane, Galeazzo Sforza: Galeazzo Sforza an Francesco Sforza, 22.04.1459. Wiedergabe bei R ACHELE M AGNANI : Relazioni private tra la corte sforzesca di Milano e casa Medici, 1450-1500, Tesi di storia a Firenze, Mailand 1910, Doc. 22, S. XVf.; R AB H ATFIELD : Some Unknown Descriptions of the Medici Palace in 1459, in: Art Bulletin 52 (1970), S. 232-249. <?page no="56"?> Geschäft, Kunst und Macht 57 Verwendung der innerfamiliären Genealogie für soziale Bindungen im Patronagesystem sollte die „weak ties“ der Freundschaft als „strong ties“ der Zusammengehörigkeit von Vater und Sohn überschreiben. 79 Die Integration dieser Thematik in ein Kunstwerk unterstreicht die tiefgreifende Bedeutung, die man diesen Zusammenhängen beimaß und die man somit für künftige Generationen reformulierte. Zwei weitere Beziehungstypen, die in besonderem Maße auf die Vater- Sohn-Abfolge als genealogisches Konstruktionsprinzip zurückgriffen, sind Adoption und Patenschaft. 80 Die soziale Institution der Patenschaft symbolisierte eine patrimoniale Bindung. Innerhalb der Florentiner Gesellschaft war der compare bedeutender Patron für ein Kind, nicht zufällig bestimmte man in der Regel einen biologischen Onkel zum Paten. 81 Die Wahl des compare war ein beliebtes Instrument der Stiftung und Festigung von Patronagegefügen. 82 Ein Beispiel hierfür sind die Paten, die Ugolino Martelli bei der Taufe seines Sohnes Niccolò im März 1436 auswählte: den Markgrafen Spinetta Malaspina von Verrucola, der sich durch seinen Kanzler Ser Gherardino da Foligno vertreten ließ, den Medici-Intimus Giovanni Caffarecci und Nicola di Vieri de’ Medici. 83 Die rituelle Subordination gegenüber der zentralen Figur eines Patronagesystems entlehnte ihre Sprache dem eingeübten genealogischen Diskurs. Die Selbstunterordnung konfigurierte soziale Beziehungen in einem solchen Maße, dass sie auch ein erhebliches Sanktionspotenzial barg. Der Grund hierfür lag in der vermeintlichen Herkunft des patrilinearen Generationenkonzepts: Es war das Modell der sozialen Beziehungen zu Heiligen. Die Vater-Sohn-Beziehung war ein Passepartout, das auf die Hierarchie der Heiligen übertragen wurde; in der Rückwirkung wiederum verlieh die genealogisch interpretierte himmlische Ordnung den irdischen Entsprechungen Sakralität. Dieser Übergang zwischen irdischen und himmlischen Patronagesystemen, die ihr Konstruktionsprinzip in der genealogischen Abfolge hatten, 79 Zu diesen Beziehungstypen grundlegend: M ARK G RANOVETTER : The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-1380. 80 B ERNHARD J USSEN : Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991, S. 47. 81 C HRISTIANE K LAPISCH -Z UBER : Compérage et clientélisme à Florence (1360-1520), in: Ricerche Storiche 15 (1985), S. 61-76. 82 Vgl. P ADGETT / A NSELL : Robust Action (wie Anm. 21): ohne Patenschaften! 83 U GOLINO DI N ICCOLÒ M ARTELLI : Ricordanze dal 1433 al 1483, hrsg. v. F ULVIO P EZZAROSSA (La Memoria Familiare, Bd. 3), Roma 1989, S. 130; P ATRIZIA M ELI : Malaspina, Spinetta, in: DBI 67 (2006), S. 817-819, hier S. 818: Vor 1433 war Spinetta Malaspina insbesondere mit Marcello degli Strozzi verbunden, denn Strozzi war Mitglied des florentinischen Kollegs, das 1418 die Vormundschaft Malaspinas übernahm; Malaspinas Nichte Costanza di Niccolò Malaspina wurde mit Marcello degli Strozzi verheiratet. <?page no="57"?> H EINRICH L ANG 58 zeigt sich auch in der hagiographischen Aufwertung des Lebenswegs der Mutter Lorenzo il Magnificos, Lucrezia Tornabuoni (1425-1482) 84 : Die in karitativen Bereichen profilierte Ehefrau Piero di Cosimo de’ Medicis erfuhr eine zunehmende Verehrung, die insbesondere nach ihrem Tod in den bereitwillig formulierten Erzählungen ihres Lebens auftrat - ohne dass Lucrezia tatsächlich heilig gesprochen worden wäre. Hier stellte man eine unmissverständliche Verbindung zwischen irdischer und transzendenter Patronage her. 85 4. Soziale Beziehungen zu Heiligen Während die früh- und kleinkindliche Unterweisung den Ammen, Mägden, großen Schwestern, Tanten sowie besonders den Müttern oblag, bezog sich ihr Inhalt augenscheinlich auf patriarchalische Verhältnisse. 86 Die Einführung in Glaubensfragen und spirituelle Grundbezüge, d.h. die Vermittlung von Wertempfinden, Normen und innerweltlicher Orientierung, geschah durch die Einübung des religiösen Rituals in Gebeten und Erzählungen. 87 Der am höchsten bewertete Gegenstand dabei war das Heilige, die Schutzsuche bei und der Dienst an metaphysischer Macht, deren Wirklichkeit im Erfolg oder Misserfolg irdischer Vorhaben zu erleben und in Bildern oder Kirchenräumen sinnlich wahrzunehmen war. 88 Heilige fungierten als Fürsprecher und konnten entsprechende Devotion erwarten: Ihre Präsenz im Kirchenraum erfuhr eine Rahmung, die durch Kulthandlungen dynamisiert wurde. 89 Altar- 84 L UCREZIA T ORNABUONI : Lettere, hrsg. v. P ATRIZIA S ALVADORI , Florenz 1993. 85 Vgl. F RANCIS W ILLIAM K ENT : Sainted Mother, Magnificent Son. Lucrezia Tornabuoni and Lorenzo de’ Medici, in: Italian History and Culture (Yearbook of Georgetown University at Villa Le Balze, Fiesole, Firenze) 3 (1997), S. 3-34, hier S. 24f., 26f., 30f. Bill Kent interpretiert Lucrezia Tornabuoni de’ Medici als Schlüsselfigur des Mythos Medici-Regime (governo stato), weil sich Bedürftige aus dem Florentiner Territorium hilfesuchend an Lucrezia wandten und anschließend zu ihrer Verehrung beitrugen. Humanisten wie Niccolò Valori und Marsilio Ficino formulierten hagiographisierende Lebensbeschreibungen der Lucrezia Tornabuoni. 86 Vgl. J AMES B RUCE R OSS : The Middle Class Child in Urban Italy, in: L LOYD D E M AUSE (Hg.): History of Childhood, New York 1974, S. 183-228, hier S. 197-202. Erstaunlicherweise verliert Ross, der sich aufmerksam der Kindheit in der städtischen Umgebung annimmt, kein Wort über die religiöse und rituelle Erziehung. 87 Vgl. R ICHARD C. T REXLER : Ritual in Florence. Adolescence and Salvation in the Renaissance, in: C HARLES T RINKAUS / H EIKO O BERMAN (Hgg.): The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion. Papers from the University of Michigan Conference (Studies in Medieval and Reformation Thought, Bd. 10), Leiden 1974, S. 200-264, hier S. 204f. 88 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 54-72. 89 Vgl. D AVID H ERLIHY : Sancta Maria Impruneta: A Rural Commune in the late Middle Ages, in: N ICOLAI R UBINSTEIN (Hg.): Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence, London 1968, S. 242-276. <?page no="58"?> Geschäft, Kunst und Macht 59 bilder bedurften nicht nur eines Themas, das sich mit einem Familienheiligen oder Namenspatron verbinden ließ, sondern mussten auch mit wertvollen Farben ausgeführt und von prunkvollen Gegenständen - Bildeinfassungen, Textilien auf dem Altar, Messgeräten aus Edelmetallen - umgeben sein, um der Bedeutung der Heiligen Ausdruck zu verleihen. 90 Die saisonale Abfolge des Kirchenkalenders, die rituell-kultische Einteilung des zirkulär wahrgenommenen Jahreslaufes und die darin wiederkehrenden Feste des Gedenkens konstituierten die Zeiterfahrung von Kindesbeinen an. 91 Dabei wurden die Heiligen und der Dienst an ihnen als gegenwärtig erlebt. 92 Die ständige Aktualisierung der Heiligenverehrung und die diversifizierten Funktionen der verschiedenen Heiligen in der Alltagswirklichkeit generierten ein genealogisch-hierarchisch strukturiertes Bewusstsein 93 , das in der Verehrung der eigenen Vorfahren als Vorbilder und Fürsprecher seine Entsprechung fand: Die Namensgebung sowie der Kult von Familienheiligen orientierten nicht nur die familiäre Generationenabfolge an der Hierarchie der Heiligen, sondern ermöglichten auch, Schutzbitten für die irdischen Generationen an die Heiligen zu richten. 94 Der hier transzendentale Rückgriff auf das genealogische Prinzip gehorcht dem grundlegenden Deutungsschema, durch das Gedächtnisbildung generell konstituiert wird. 95 Der sakrale Ort, an dem Familien ihre Heiligen ehrten und mit ihnen ins Gespräch kamen, waren die Familienkapellen in den Gemeinde- und Stadtkirchen. Über die Stiftung von Kirchenfabriken bemühten sich die Vertreter 90 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 91-96; N EITHARD B ULST : Heiligenverehrung in Pestzeiten. Soziale und religiöse Reaktionen auf die spätmittelalterlichen Pestzeiten, in: A NDREA L ÖTHER / U LRICH M EIER / N ORBERT S CHNITZLER / G ERD S CHWERHOFF / G ABRIELA S IGNORI (Hgg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 63-97. Zur Bedeutung der Materialität von Bildern und der Erwartungshaltung von Patronen und Auftraggebern siehe M ICHAEL B AXANDALL : Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1987 [engl. Erstausgabe 1972]. 91 Zusammenfassend V OLKER B REIDECKER : Florenz. Oder: Die Rede, die zum Auge spricht. Kunst, Fest und Macht im Ambiente der Stadt, München 2 1992. 92 Vgl. A LBRECHT K OSCHORKE : Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt a.M. 2000, S. 23. 93 Vgl. B EATE K ELLNER : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 126. 94 Im Kontrast zu dieser Ausprägung des Heiligen- und Familienkultes kann ohne weiteres eine materielle „Unterseite“ der Stiftung von Familienkapellen identifiziert werden: K ENT : Household (wie Anm. 30), S. 99f., 106-109: Über die pragmatische, steuerrechtliche Komponente von Familienkapellen. 95 Ein konkreter Fall wird in den Begriffen eines anderen, vorherigen, dargestellt: es handelt sich um ein Grundschema der historischen Rezeption und Gestaltung von Gedächtnis/ Erinnerung: P ETER B URKE : History as Social Memory, in: D ERS .: Varieties of Cultural History, Cambridge 1997, S. 38-52, hier S. 49f. <?page no="59"?> H EINRICH L ANG 60 der mächtigeren Familien um Einfluss auf die Gestaltung von Kirchen und die Vergabe von Patronatsrechten. 96 Hierin ist zunächst eine wesentliche Dimension der Laienfrömmigkeit zu sehen, die sich im Laufe des 14. Jahrhunderts zu einer wirkmächtigen sozialen und spirituellen Bewegung entwickelte. 97 Durch die in Stiftungen bewirkte Verschränkung des individuellen Seelenheils mit der Artikulation familiärer memoria wurde die Signatur von Kultgegenständen oder Kapellen mit Familienwappen möglich, so dass sich das nur analytisch zu trennende weltliche Konzept der Ehre und das spirituelle Paradigma des Seelenheils sichtbar ergänzten. 98 Dabei machten sich insbesondere die Kaufmannbankiers das propagandistische Potential ihrer Stiftungen zunutze. Dies gilt gerade im Fall der von ihnen großzügig geförderten Mendikantenorden, indem beispielsweise Cosimo de’ Medici die Anlagen des Konvents der Franziskaner Bosco ai Frati außerhalb der Stadt finanziell großzügig unterstützte. 99 Die in den Bildern entsprechender Einrichtungen bevorzugt dargestellten Motive biblischer oder monastischer Erzählungen bzw. die in ihnen zitierten Heiligen verweisen somit zugleich auf die Programme der jeweiligen geistlichen Orden wie auch auf das Selbstdarstellungsbedürfnis der agnatischen Linien der Stifterfamilien. 100 96 Vgl. R OBERTO B IZZOCCHI : Patronato politico e giuspatronati ecclesiastici. Il caso fiorentino, in: Ricerche Storiche 15 (1985), S. 95-106. 97 Vgl. M ARVIN B. B ECKER : Aspects of Lay Piety in Early Renaissance Florence, in: C HARLES T RINKAUS / H EIKO O BERMAN (Hgg.): The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion. Papers from the University of Michigan Conference (Studies in Medieval and Reformation Thought, Bd. 10), Leiden 1974, S. 177-199, hier S. 185-190; M ILLARD M EISS : Painting in Florence and Siena after the Black Death. The Arts, Religion, and Society in the Mid- Fourteenth Century, New York 2 1973 [engl. Erstausgabe 1964], S. 123; J OHN H ENDERSON : Penitence and the Laity in Fifteenth-Century Florence, in: T IMOTHY V ERDON / J OHN H ENDERSON (Hgg.): Christianity and the Renaissance. Images and Religious Imagination in the Quattrocento, Syracuse 1990, S. 229-249, hier S. 231f. - Beispielhaft: N ICHOLAS A. E CKSTEIN : The District of the Green Dragon. Neighbourhood Life and Social Change in Renaissance Florence (Quaderni di Rinascimento, Bd. 22), Florenz 1995, S. 97-138. - Für die Bedeutung der patrizischen Einflussnahme auf kirchliche Ämter in der Stadt: R OBERTO B IZZOCCHI : Chiesa e aristocrazia nella Firenze del Quattrocento, in: Archivio storico italiano 142 (1984), S. 191-282. - Über die Spannungen zwischen Laienfrömmigkeit und Stiftertätigkeit zugunsten von Bettelorden: B RAM K EMPERS : Kunst, Macht und Mäzenatentum. Der Beruf des Malers in der italienischen Renaissance, München 1989. 98 Vgl. S AMUEL K LINE C OHN : The Cult of Remembrance and the Black Death. Six Renaissance Studies in Central Italy, Baltimore/ London 1992, Kap. 6. 99 Vgl. R OBINSON : Cosimo de’ Medici (wie Anm. 4). 100 Vgl. N ICOLAI R UBINSTEIN : Lay Patronage and Observant Reform in Fifteenth-Century Florence, in: T IMOTHY V ERDON / J OHN H ENDERSON (Hgg.): Christianity and the Renaissance. Image and Religious Imagination in the Quattrocento, Syracuse 1990, S. 63-82; W ILLIAM H OOD : Creating Memory: Monumental Painting and Cultural Definition, in: A LISON B ROWN (Hg.): Language and Images of Renaissance Italy, Oxford 1995, S. 157-169, hier S. 162-165. <?page no="60"?> Geschäft, Kunst und Macht 61 Im Fall der Gemeindekirche San Lorenzo in der Nachbarschaft des um 1450 neu gebauten Medici-Palasts gelang es Cosimo nicht nur, die Vorhaben seines Vaters zum Kirchenneubau fortzuführen, vielmehr geriet die Sanierung des Gebäudes zum steinernen Ausdruck der Machtverhältnisse im Stadtteil. 101 Die wichtigsten Geschäftspartner und politischen Verbündeten im Medici-Regime - die Martelli, die Neroni, die Della Stufa und als Klientel die Ginori sowie die Pucci - ergatterten Patronatsrechte für Familienkapellen, wohingegen sich Cosimos Haushalt die Sakristei, die Hauptkapelle und die zentrale Grablege sicherte. 102 In den Familienkapellen verschmolzen Heiligen- und Familienkult. Denn die Patrone stifteten jeweils ein Kanonikat mit Präbende im Namen ihres speziellen Heiligen. Der Inhaber dieser Stelle bezog die Einkünfte aus dem der Kirche überschriebenen Grund und hatte die Abhaltung von Memorialdiensten ebenso wie die kirchlichen Riten für die Familie in ihrer Kapelle zu gewährleisten. 103 Der Preis für die finanziell üppige Zuwendung Cosimos war, aus der Perspektive des kirchlichen Zeremoniells, hoch: 104 An seine Stiftung knüpfte er 1447 die Bedingung, zum Namens- und Todestag seines Vaters Giovanni Gedenkgottesdienste abzuhalten; für sich und seine Nachkommen verfügte er das Gleiche. In der Urkunde lässt er erklären: Die Offizien für die Toten sollen dem Seelenheil des obengenannten geehrten und würdigen Manns Giovanni de’ Medici und demjenigen seiner Söhne, Nachkommen und Freunde dienen. 105 Zudem wies er das Kapitel von San Lorenzo 101 Vgl. I SABELLE H YMAN : Fifteenth Century Florentine Studies. The Palazzo Medici and a Ledger for the Church of San Lorenzo, New York/ London 1977; B REIDECKER : Florenz (wie Anm. 91). - Vgl. für einen Gegenentwurf C AROLINE E LAM : Palazzo Strozzi nel contesto urbano, in: D ANIELA L AMBERTINI (Hg.): Palazzo Strozzi. Metà Millennio 1489-1989 (Atti del Convegno di Studi, Firenze, 3-6 luglio 1989. Istituto della Enciclopedia Italiana, Fondata da Giovanni Treccani, Roma), Rom 1991, S. 183-194. - Vgl. für Cosimo und das Patronatsrecht der Hauptkapelle von San Lorenzo: V OLKER H ERZNER : Zur Baugeschichte von San Lorenzo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 37 (1974), S. 89-115, hier S. 92. 102 E LAM : Cosimo de’ Medici (wie Anm. 4), S. 161-168: Zur Rolle der operai im Fall von San Lorenzo und der mächtigen Patronatsfamilien aus der Nachbarschaft. P AOLO V ITI : San Lorenzo e i Medici nel Quattrocento, in: San Lorenzo. I documenti e i tesori nascosti (Celebrazioni per il sedicesimo centenario 393-1993; Firenze, Complesso di San Lorenzo, 25.09.-12.12.1993), Florenz 1993, S. 35f.; P IERO G INORI C ONTI : La Basilica di San Lorenzo e la famiglia Ginori, Florenz 1940, S. 234-236. 103 Zur Verbindung von Seelengedenken und Pfründen S AMUEL K. C OHN : Death and Property in Siena, 1205-1808, Baltimore 1988, S. 102-113. 104 Archivio di San Lorenzo di Firenze [künftig: ASLFi], Nr. 2132, fol. 35r; später erfolgt die Anweisung an den Sakristan: ASLFi, Nr. 2051, f. 3r, 1529. R OBERT G ASTON : Liturgy and Patronage in San Lorenzo, Florence, 1350-1650, in: F RANCIS W ILLIAM K ENT / P ATRICIA S IMONS (Hgg.): Patronage, Art, and Society in Renaissance Italy, Canberra/ Oxford 1987, S. 111-133, hier S. 121f., 125: Memorialgottesdienste für führende Medici. 105 ASLFi, Nr. 1127: Atto con cui Cosimo il Vecchio conferma tutte le donazioni, istituzioni di canonicati e farebevole, creazioni di feste fatte da suo padre, suo fratello e se stesso dal 1428 <?page no="61"?> H EINRICH L ANG 62 an, welchen Heiligen die Kapellen zu widmen seien, wobei er die eigenen Familienheiligen und Namenspatrone benannte. 106 Diese Eingriffe in die Liturgie beabsichtigten, die stetige geistliche Fürbitte bei den Vätern, den Toten und Heiligen, um das Seelenheil der Söhne und ihrer Klienten zu gewährleisten. 107 Die Invocatio zu Beginn der Stiftung des ersten Kanonikats 1428 repräsentiert diese Verbindung, indem unter den Namen Jesu Christi und der Muttergottes die Namenspatrone der Stifter angerufen werden: In nomine Domini Nostri YH(s)V XP(ist)I eiusq(ue) Matris gloriose et beati Joh(ann)is Evangeliste et s(an)c(t)or(um) Cosme et Damiani nec no(n) beati Laurentij martiris et totius celestis curie paradisi. Amen. 108 Die himmlische Hierarchie wird genealogisch gedeutet, wie durch die Nennung der Namenspatrone in patrilinearer Abfolge von Giovanni, Cosimos Vater, sowie von fino al di presente in favore della Basilica, 22.1.1447: [...] officuum mortuorum pro remedio salutis anime supradicti spectabilis et egregy viri Joh(ann)es et filiorum atque descendentium et amicorum suorum ac etiam benefactorum opere d(ic)te eccl(es)ie s(anc)ti Laurentij et omnium illorum qui sepulti festo in d(ic)ta eccl(es)ia. Stiftung des Begräbnisses und der Kommemorialmessen für Cosimos Vater Giovanni: […] in qua celebrata fuit magnifica sepultura ip(s)ius Joh(ann)is offici(um) anniversarium soleprimissime celebretur in d(ic)ta eccl(es)ia pro salute anime sue in quo officio annuti […]. - Einrichtung der Kapelle und Generationenbezug zwischen Vater und Söhnen: Et adtendens qualiter do(min)us laudabilis memorie Joh(ann)es eiusdem Cosme genitor tunc in presentia p(ri)oris et canonicorum capitualaritur congregatorum constitutus pro in cremento divini cultus et per sue et suorum parentum et amicorum animarum salutate in prelibata eccl(es)ia s(an) Laurenty de bonis sibi a deo collatis constrivet edificare ficerat notabilem cum duabus in ibi pro celebratione missarum capellis fariestiam operem […]. Verfügung der Festtage in der Kapelle: […] qualiter ip(s)e Joh(ann)es desiderabat per priorem canonicos et cap(itu)lum d(i)c(t)e eccl(es)ie expensis in prius cap(itu)li in festivitatibus s(an)c(t)orum Cosme et Damiani et s(ancti) Joh(ann)is Evangeliste soleprie celebrari offitium in capellis per eundem Joh(ann)em edificatis et constructis perpetuis temporibus justa morem in maioribus festis d(i)c(t)e eccl(es)ie consuctum […]. Die Bestellung der jährlichen Gedenkmesse zum Seelenheil: […] in qua celebrata fuit magnifica sepultura ip(s)ius joh(ann)is offici(um) anniversarium soleprimissime celebretur in d(ic)ta eccl(es)ia pro salute anime sue in quo officio annuti […]. 106 Vgl. D OMENICO M ORENI : Continuazione delle memorie istoriche dell’ Ambrosiana imperial basilica di San Lorenzo dalla erezione della chiesa presente a tutto il regno mediceo raccolte dal canonico Domenico Moreni, Bd. II, Florenz 1817, S. 22, 27, 366-368; G INORI C ONTI : San Lorenzo (wie Anm. 102), S. 46-48. 107 Vgl. D ALE K ENT : The Buonomini di San Martino: Charity for ‘the glory of God, the honour of the city, and the commemoration of myself’, in: F RANCIS A MES -L EWIS (Hg.): Cosimo ‘il Vecchio’ de’ Medici, 1389-1464. Essays in Commemoration of the 600 th anniversary of Cosimo de’ Medici’s birth, Oxford 1992, S. 49-67, hier S. 65-67; A NTONINO [F LORENTINO ]: Sancti Antonii archiepiscopi Florentini ordinis praedictatorum Summa Theologica, Verona 1740, Bd. II, tit. XI, cap. XII und III, tit. XIII, cap. II: Die Praxis der Finanzierung von Offizien blieb allerdings nicht unumstritten. Antonino Pierozzi, Erzbischof von Florenz (1389-1454), warnt vor der Laienfinanzierung der Liturgie mittels distributiones und rückt sie in die Nähe der Simonie: docendus est enim populus non sequendus. 108 ASFi, MAP CLV, c. 1r (Zusammenstellung der Kanonikate und Patronatskapellanien der Medici, 1428 bis 1460). <?page no="62"?> Geschäft, Kunst und Macht 63 Cosimo und seinem Bruder Lorenzo gezeigt wird, und damit zugleich sanktifizierend auf die dynastische Linie der Kernfamilie der Medici übertragen. Auf diese Weise wurden irdische und jenseitige Patronagesysteme im Heiligenkult miteinander verknüpft. Die Patronage von Kapellen, besonders im Zusammenhang mit den Stif tungen innerhalb der Gemeindekirchen wie bei San Lorenzo in der Medici- Nachbarschaft, und die Bestellung der dazugehörigen liturgischen Hand lungen boten den entsprechenden Patronatsinhabern die Möglichkeit, ihre Familienehre deutlich zu steigern. 109 Zudem fand die Verflechtung individueller und familiärer Beziehungen zu Heiligen ihren Ausdruck im gemein samen Stadtpatron - im Florentiner Fall handelte es sich um Johannes den Täufer, in dessen Baptisterium gegenüber dem Dom Santa Maria del Fiore jedes Florentiner Kind getauft werden sollte und so in die kommunale wie die christliche Gemeinschaft als väterliche Schutzinstanz eintrat. 110 Überdies dienten die Heiligenbilder in Familienkapellen oder Kirchenräumen irdischen Zwecken, weil eine Stadtrepublik wie Florenz einer göttlich eingesetzten Sanktionsinstanz entbehrte: Die Heiligen fungierten als Schutzherren von Verträgen, die man zur Beilegung familiärer Zwistigkeiten, zur Aussöhnung von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Clans, zur Anbahnung von Heiraten oder bei Geschäftsgründungen schloss. 111 Die Invocatio in rechtlich bindenden Abkommen, Gesellschaftsverträgen oder auf dem Deckblatt eines Geschäftsbuches vergegenwärtigte die legitimierende und sanktionierende Kraft von Heiligen, unter deren Augen weltliche Absichten wie gemeinsamer Profit beschworen worden waren. 112 Dabei konnte 109 P AOLETTI : Fraternal Piety (wie Anm. 2), S. 201f., 210f. 110 Zur Genese des Patronatskultes von San Giovanni Battista in Florenz im Hochmittelalter H ANS C ONRAD P EYER : Stadt und Stadtpatron im mittelalterlichen Italien (Wirtschaft, Gesellschaft, Staat. Züricher Studien zur allgemeinen Geschichte, Bd. 13), Zürich 1955. - Zum Zusammenhang von Wehrhaftigkeit, Ehre und Sakralisierung in der städtischen Gesellschaft E RNST V OLTMER : Leben im Schutz der Heiligen. Die mittelalterliches Stadt als Kult- und Kampfgemeinschaft, in: C HRISTIAN M EIER (Hg.): Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Okzident (Historische Zeitschrift, Beihefte Neue Folge, Bd. 17), München 1994, S. 213-242. 111 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 19-21. 112 Über die besondere Rolle des Klerus in diesem spezifischen System der gesellschaftlichen Vertrauensbildung: R ICHARD T REXLER : Honor among Thieves. The Trust Function of the Urban Clergy in the Florentine Republic, in: S ERGIO B ERTELLI / G. R AMAKUS (Hgg.): Essays presented to Myron P. Gilmore, Florenz 1978, Bd. I, 2, S. 317-334. - Zum Abschluss von Verträgen am Altar (die gratia Dei stiftet Verträge): T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 112f. Vgl. P AOLETTI : Fraternal Piety (wie Anm. 2), S. 211: In Handelsverträgen der Brüder treten die Hl. Laurentius, Cosmas und Damian auf. 1435 bei der Reorganisation der Bank (Cosimo et Lorenzo di Giovanni de’ Medici e compagni) wird die Ehre Gottes, der Gottesmutter und der Hll. Laurentius, Cosmas und Damian angerufen: In nome di Dio e della gloriosa vergine Maria e di’ <?page no="63"?> H EINRICH L ANG 64 die Anrufung Gottes und himmlischen Beistandes geradezu bildlich inszeniert werden: In Schuldbüchern trat die Hierarchie der Heiligen in genealogischer Abfolge auf, um die irdische, hierarchisch - im Kern zumeist patrilinear - organisierte Unternehmung unter den himmlischen Schutz zu stellen. Als toskanische Besonderheit tritt die Muttergottes an der Spitze der Aufstellung der Heiligen in Erscheinung. Ohne Rücksicht auf das kanonische Zinsverbot, dessen Bedeutung im Verlauf des 15. Jahrhunderts stetig abnahm, 113 wurden beim Wunsch nach einem profitablen Geschäftsverlauf ikonographische Programme, die den Bezug von metaphysischen und irdischen Patronen herstellten, präsentiert. Ein markantes Beispiel ist das Schuldbuch der Seiden-Gesellschaft des zur Florentiner Elite zählenden Averardo Salviati von 1517, dessen erste Seite folgende Verbindungen erklärt: Im Namen des Allmächtigen und Unsterblichen Gottes und seiner Rühmlichen und Heiligen Mutter, der Jungfrau Maria, und der Allerheiligsten Apostel Hl. Peter und Hl. Paul und des Rühmlichen, Großherzigen Hl. Nikolaus, dem Anwalt der Kaufleute, und des Heiligen Propheten, des Hl. und Großherzigen Johannes, Anwalt und Protektor der Stadt [Florenz] und Direktor des himmlischen Hofes des Paradieses. All diese werde ich bitten, dass Sie aus der Gnade des Allmächtigen helfen, dass wir all unsere Geschäfte mit unserem Seelenheil erledigen und dass [Sie] diesem unsrigen Geschäft [helfen] und dass Sie uns Gewinn zugestehen mit dem Heil unserer Körper und dass Sie uns mit guten Personen in Verbindung bringen. Amen. 114 In Briefen, die an die Medici gerichtet sind, klingt die Verklammerung der Familienheiligen des himmlischen Patronats mit der innerweltlichen Patronage ebenfalls an. Giovanni Tornabuoni (nach 1490) 115 , Schwager Lorenzo il gloriosi martiri Santo Lorenzo e Santo [sic] Cosimo e Damiano. Cosimo hat beide Heiligen und als capofamilias hat er beide medici an sich gezogen. 113 Vgl. J ACQUES L E G OFF : Time, Work, and Culture in the Middle Ages, Chicago/ London 1982. 114 Archivio Salviati di Pisa, I, Nr. 435: Libro Debitori Creditori, segnato F (1517-1530), c. 1r: [1517] Al nome sia dello honipotente et inm(or)tale iddio e della sua groliosa [! ] e santisima madre madona santa Maria senp(r)e v(er)gine e de’ santisimj apostolj m(agnifi) ci santo Piero e santo Pagholo (e) del grolioso m(agnific) e santo Nicholo avochato de’ m(er)chatantj e del santisimo p(r)ofeta m(anfignic)e san G[i]ovannj avochato e p(r)otetore d(i) questa città e diretor la celestiale chorte del paradiso e qualj tuttj p(r)eghiabo che p(er) noj intercedino grazia da esso honipotente iddio che noj faciamo tutt e le nost(r) e faccende chon salute del anime nost(r) e e in questa nost(r) a rag[i]one e chonceda ghuadagnio chon salute de chorpj nost(r)i e sop(r)a tutto e inpaciano chon buone p(er)sone amene [! ]. Q[u]esto libro è d’Averardo d’Alamano Salviatj e (c)honpagnj setaiuolj e (c)hiamasj libro paghonazo segniato F e de charte a -/ / -. Über die „Gemeinschaft“ der Heiligen und die besondere Rolle „erfolgreicher“ Heiliger wie etwa Bernardino da Sienas: G ARY D ICKSON : The 115 cults of the saints in later medieval and Renaissance Perugia. A demographic overview of a civic pantheon, in: Renaissance Quarterly 12 (1998), S. 6-25, hier S. 14f. 115 Vgl. J OSEF S CHMID : „et pro remedio animae et pro memoria”. Bürgerliche repraesentatio in der Capella Tornabuoni in S. Maria Novella, München/ Berlin 2002. <?page no="64"?> Geschäft, Kunst und Macht 65 Magnificos, führt im November 1487 in einem Schreiben an Lorenzo de‘ Medici aus: Und tatsächlich, Ihr habt Euch in dieser Angelegenheit nicht geändert. Denn ich habe Gott im Himmel und Eure Hoheit auf Erden und, wiewohl ich nicht in der Lage bin dies zu zeigen, wenigstens mit gutem Willen [versuche ich es], die Taten werden es erweisen. 116 Derartige Formulierungen spiegeln die Aktualität eingeübter Verhaltensweisen, die ihre Wirksamkeit aus dem religiösen Kontext beziehen. Sie exemplifizieren das transzendentale Verständnis von Vater-Sohn-Beziehungen, wie sie in der Konstruktion der Dreieinigkeit und der Familie der Heiligen ihr Vorbild haben, und damit dessen Gültigkeit für Beziehungen in Patronagesystemen. Die Verbindung der hierarchischen, genealogisch organisierten Ordnung der Heiligen mit der weltlichen Genealogie wird augenfällig, wenn ein Inventar Piero di Cosimos, das den materiellen Zustand des Erbes Cosimos erfasst, mit der Aufzählung der Familienheiligen in der Generationenabfolge der Familie beginnt: Al nome sia dell’On(n)ipotente Dio et della sua gloriosa Madre Madonna sancta Maria sempre vergine et di mess(er) sancto Giovanbatista et di mess(er) sancto Lorenzo et di mess(er) sancto Cosimo et mess(er) sancto Damiano et di mess(er) sancto Antonio et di mess(er) sancto Piero Martire et di mess(er) sancto Francescho et di mess(er) sancto Giuliano et universalmente di tucta l’altra celestiale corte di Paradiso al loro laude et gloria et revere(n)tia p(er)petuame(n)te sia. Questo libro è di Piero di Cosimo di Giovanni de Medici […]. 117 Die genealogische Kette der Namen - das in Florenz übliche Verfahren, Väter und Großväter bei der Angabe des eigenen Namens mit anzugeben - 116 B ULLARD : Heroes (wie Anm. 13), S. 189: Et veramente non ne siate chanbiato perché io o iddio in celo et Vostra Magnificentia in terra et benché la qualità mia non sia di poterlo mostrare, almeno con la buona volontà et ll’ opera siano quelle l’anno a dimostrare (ASFi, MAP 40, c. 180; November 1487). - Eine vergleichbare Formulierung findet sich in einem Brief eines Unbekannten an Forese Sacchetti, um seiner Bitte um einen Gefallen deutlich Ausdruck zu verleihen: […] se questo mi farai, potrò dire che tu sia per me il padre, el figlio e llo spirito santo, e a tte sarò senpre e a ttua famiglia fedeli e obrigato io e mia famiglia; e a niun’ altra famiglia non mi raccomando seno’ a tte (ASFi, Corporazioni religiose soppresse, 78, 325, c. 334). Zitiert nach: F RANCIS W ILLIAM K ENT : Patron-Client Networks in Renaissance Florence and the Emergence of Lorenzo as ‘maestro della bottega’, in: B ERNARD T OSCANI (Hg.): Lorenzo de’ Medici. New Perspectives (Proceedings of the International Conference Held at Brooklyn College and the Graduate Center of the City University, New York, April 30 - May 2, 1992, Studies in Italian Culture, Literature in History, Bd. 13), New York 1993, S. 279-314, hier S. 307, Anm. 34. 117 ASFi, MAP CLXIII (1.1.1465), zitiert (korrigiert) nach: F RANCES L EWIS -A MES : Art in the Service of the Family. The Taste and Patronage of Piero di Cosimo de’ Medici, in: A NDREAS B EYER / B RUCE B OUCHER (Hgg.): Piero de’ Medici „il Gottoso“ (1416-1469). Kunst im Dienst der Mediceer, Berlin 1993, S. 207-220, hier S. 215: Dort zudem falsche Angabe zu MAP. <?page no="65"?> H EINRICH L ANG 66 stellt die Beziehung zwischen beiden Formulierungen her und artikuliert das transzendentale Bewusstsein metaphysischer und weltlicher Patronagebeziehungen in genealogischer Sprache. 5. Fazit In dem von Cosimo de’ Medici in Auftrag gegebenen Altarbild zu San Marco, der Pala di San Marco, visualisiert Fra Angelico das genealogische Prinzip der Patronage (Abbildung 4). 118 Unter der Muttergottes mit dem Christuskind stehen Heilige, die durch ihre perspektivierenden Blicke eine Mittlerfunktion zwischen den Betrachtern und dem Göttlichen herstellen. Auf der untersten Ebene knien Cosmas und Damian, die Familienpatrone (und Heiligen der Ärzte = Medici/ medici), wobei Cosmas Cosimos Namenspatron ist. Er fungiert als Scharnier zwischen den Irdischen und den Himmlischen. Zu Mariens rechter Seite stehen der Heilige Markus, Patron des Konvents, der Heilige Johannes Evangelist, Namenspatron von Cosimos Vater und zweitem Sohn, sowie der Heilige Lorenz, Namenspatron des verstorbenen Bruders Cosimos und der Gemeinde. Zu Mariens linker Seite treten auf der Heilige Dominikus, Patron der Dominikaner, denen der Konvent angehörte, der Heilige Franz sowie der Heilige Petrus Martyr. Petrus ist der Namenspatron von Cosimos Sohn Piero, Franz und Petrus verweisen auf die Söhne von Cosimos Bruder, Francesco und Pierfrancesco. Die Bühne, auf der die himmlische Gesellschaft zugegen ist, ist signiert mit den Bällen, den palle, der Medici. 119 Durch die beiden knienden Heiligen Cosmas und Damian wird die Rolle, die sich die Medici zugedacht haben, expliziert: Sie sind die Vermittler zwischen Himmel und Erde. Die irdischen Patrone beziehen ihre Legitimität unmittelbar aus der himmlischen Ordnung. Die hier inszenierte Gesellschaft der Heiligen erweist sich als Präskript für das gesellschaftliche Gefüge in Florenz. Die höchste himmlische Größe, die Muttergottes mit dem Christuskind, ist über die väterliche Linie der Heiligenpatrone mit den irdischen 118 Einführend zu Datierung und Zusammenhang: C ORNELIA S YRE : Fra Angelico. Die Münchner Tafeln und der Hochaltar von San Marco in Florenz, in: D IES . (Hg.): Fra Angelico. Die Münchner Tafeln und der Hochaltar von San Marco in Florenz. Mit einem Beitrag zur Maltechnik von Veronika Poll-Frommel. Bayerische Staatsgemäldesammlungen Studio-Ausstellung. München, Neue Pinakothek 5.9. bis 17.11.1996. München 1996, S. 7-40, hier S. 29-32. Vgl. J OHN P OPE -H ENNESSEY : Fra Angelico, London 2 1974 [engl. Erstausgabe 1954] und W ILLIAM H OOD : Fra Angelico at San Marco, New Haven/ London 1993. 119 Vgl. P AOLETTI : Fraternal Piety (wie Anm. 2), S. 209-218; J ULIA I SABEL M ILLER : Medici- Patronage and the Iconography of Fra Angelico’s San Marco Altarpiece, in: Studies in Iconography 11 (1987), S. 1-13. <?page no="66"?> Geschäft, Kunst und Macht 67 Patronen verbunden. 120 Das genealogische Modell von Patronage transzendiert als Passepartout die innerweltlichen Verhältnisse und findet sein sanktionierendes Vorbild in der patrilinear gedachten Hierarchie der Heiligen. Die szenische Darstellung der Heiligen verweist auf einen genealogischen Begriff, der die väterliche Linie der jen- und diesseitigen Patrone weniger als zeitliche Abfolge schildert, sondern als präsent vorfindet. Das Weibliche allerdings erscheint hier nur als Engel, von der Muttergottes abgesehen. In der Medici-Ikonographie finden sich Frauen in der zweiten Reihe wieder, und doch üben sie eine Mittlerfunktion zwischen der florentinischen Zentralfigur, der Heiligen Jungfrau Maria mit Christus, und der übrigen himmlischen Ordnung sowie den Menschen aus. In der patrilinearen Genealogie verbinden sie die Generationen miteinander, zählen selbst allerdings nur als soziales Kapital der spirituellen Reinheit. 121 Mehr als in anderen Kunstaufträgen Cosimo de’ Medicis formulierte Fra Angelico mit diesem Altarbild das Ordnungssystem des Medici-Regimes, das hier der stadtbürgerlichen Gesellschaft enthoben und als Familienherrschaft in patriarchalischer Abfolge sakralisiert wird. 122 Die Patronage der Medici erscheint somit als genealogische Folge der Heiligenerzählung und versteht sich nicht nur als soziales Medium 123 von Herrschaftsansprüchen im Dienst der Dynastiebildung; vielmehr erhebt sie sich zur Hierophanie durch die Väter gegenüber den Söhnen. Fra Angelicos Bild projizierte ein Konzept, das zukunftsweisend war und das in den Zeilen Giovanni Tornabuonis rund 45 Jahre später zum Ausdruck kam. 124 120 Vgl. T REXLER : Public Life (wie Anm. 13), S. 113-115. 121 Vgl. R ICHARD C. T REXLER : Celibacy in the Renaissance. The Nuns of Florence, in: D ERS .: Dependence in Context in Renaissance Florence (Medieval and Renaissance Texts and Studies, Bd. 111), Binghamton, N.Y. 1994, S. 343-372. 122 Vgl. K ENT : Buonomini (wie Anm. 107), S. 57-60. 123 Diesen Begriff wählt die anglophone „Patronage“-Forschung: B ULLARD : Heroes (wie Anm. 13), S. 191: „flexible medium of negotiation“. Vgl.: Il patronato (wie Anm. 23) S. 5-16. 124 Diese These führt über die Analyse von Francis William Kent hinaus, der den von Bernadetto Dei in den 1480er Jahren kritisch eingeführten Begriff des governo santo bemüht. F RANCIS W ILLIAM K ENT : Lorenzo ..., amico degli uomini da bene. Lorenzo de’ Medici and Oligarchy, in: G IAN C ARLO G ARFAGNINI (Hg.): Lorenzo il Magnifico e il suo mondo (Convegno internazionale di studi, Firenze, 9-13 giugno 1992. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Atti di Convegni, 19), Florenz 1994, S. 43-60, hier S. 56. Nach dem Tod Lucrezia Tornabuonis, der Mutter Lorenzos, wird diese Tendenz ins Positive gewendet und in weiblicher Linie auf die Familie der Medici bezogen: K ENT : Sainted Mother (wie Anm. 85), S. 30f. <?page no="67"?> H EINRICH L ANG 68 Abb. 1: Tabernakel in der Santissima Annunziata, Florenz, Michelozzo und Pagno di Lapo, 1448 Nachweis: A NDREAS B EYER / B RUCE B OUCHER (Hgg.): Piero de’ Medici „il Gottoso“ (1416-1469). Kunst im Dienste der Mediceer, Berlin 1993. <?page no="68"?> Geschäft, Kunst und Macht 69 Abb. 2: Sandro Botticelli, Porträt eines jungen Mannes mit Medaille (Cosimo de’ Medici, pater patriae), ca. 1474 (Ausschnitt) Nachweis: H ANS K ÖRNER : Botticelli, Köln 2006, Abb. Nr. 79, S. 114. <?page no="69"?> H EINRICH L ANG 70 Abb. 3: Benozzo Gozzoli, Der Zug der Heiligen Drei Könige, Hauskapelle der Medici, Juli-Dezember 1459 (Ausschnitt) Nachweis: D IANE C OLE A HL : Benozzo Gozzoli New Haven / London 1996. Abb. 109, S. 93. <?page no="70"?> Geschäft, Kunst und Macht 71 Abb. 4: Fra Angelico, 1442 / 43: Pala di San Marco (Ausschnitt) Nachweis: J AQUELINE et M AURICE G UILLARD : L umière de l’âme. Peintures sur bois et fresques du Couvent San Marco de Florence, Paris/ New York 1968, Abb. 67, S. 109. <?page no="72"?> 73 Maximilian Schuh Von alten Bürgern und jungen Studenten im spätmittelalterlichen Ingolstadt. Universität und Stadt im Generationenkonflikt? Wenzeslaus Nauhaimer ist zu einem halben Gulden Strafe verurteilt worden zahlbar innerhalb von vierzehn Tagen, weil er vor den Toren der Stadt mit einem Ball spielte. 1 Dieser Eintrag vom 29. August 1501 in den Akten des Ingolstädter Rektoratsgerichts verdeutlicht nach Petronella Loew die umfassenden Regelungsabsichten der spätmittelalterlichen Universitätsleitung, die den jugendlichen Studenten jegliche Freizeitbeschäftigungen verbot und Verstöße rigide ahndete. 2 Allerdings verwechselte sie pila - Ablativ von lat. pila Ball - mit pilo - Ablativ von lat. pilum Speer. 3 Diese Strafe zeugt daher nicht von strengem, gegen jede Art von Vergnügungen gerichtetem Übereifer. Sie wurde wegen des unerlaubten Gebrauchs von Waffen im öffentlichen Raum verhängt, ein ständiges Gefahrenpotential im Verhältnis von Universitätsangehörigen und Stadtbewohnern, das die universitäre Obrigkeit durch Vorschriften und Sanktionierung zu reduzieren suchte. 4 1 München, Universitätsarchiv [im Folgenden UA], D III, Nr. 1, f. 440r (29. August 1501): Wencnslaus Nawhaimer, quia lusit ante portam civitatis cum pilo, punitus est in medio floreno solvendo infra quindenam. Transskription nach P ETRONELLA L OEW : Die Geschichte des Studententums an der Universität Ingolstadt im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (1472- 1550), Diss. masch., München 1941, S. 61 mit Anm. 6. Diese quellengesättigte Studie stellt ihre Erkenntnisse äußerst unsystematisch zusammen. 2 L OEW : Die Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 61f. 3 Vgl. dazu auch die korrekte Übersetzung bei A DOLF S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge zur Frühgeschichte der Universität Ingolstadt (Hochschulkundliche Forschung, Bd. 1), München 1930, S. 43 mit Anm. 11. In dieser bisher nicht überholten Studie sind die zentralen Aspekte der universitären Gerichtsbarkeit in Ingolstadt konzise zusammengefasst. 4 Für die die Frühe Neuzeit vgl. etwa B ARBARA K RUG -R ICHTER : Du Bacchant, quid est grammatica? Konflikte zwischen Studenten und Bürgern im frühneuzeitlichen Freiburg/ Br., in: D IES ./ R UTH -E. M OHRMANN (Hgg.): Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, Münster 2004, S. 79-104, Tafeln I-VII; M ARIAN F ÜSSEL : Umstrittene Grenzen. Zur symbolischen Konstitution sozialer Ordnung in einer frühneuzeitlichen Universitätsstadt am Beispiel Helmstedt, in: C HRISTIAN H OCHMUTH / S USANNE R AU (Hgg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt (Konflikte und Kultur, Bd. 13), Konstanz 2006, S. 171-191. <?page no="73"?> M AXIMILIAN S CHUH 74 1. Die Universität in der Stadt Mit der universitas magistrorum et scholarium und der universitas civium standen sich im Ingolstadt des ausgehenden Mittelalters zwei privilegierte Personenverbände gegenüber. 5 Diese agierten im selben geographischen Raum und waren beide einem Landesherrn, dem Herzog von Bayern- Landshut verpflichtet, genossen jedoch jeweils erhebliche Autonomie, z.B. im Bereich der Gerichtsbarkeit, der Selbstverwaltung und der Steuerbzw. Gebührenerhebung. 6 Die Universitätsangehörigen waren von städtischen Steuern, Zöllen und anderen Pflichten befreit, so dass bereits durch diese wirtschaftliche Privilegierung Konfliktpotentiale mit den Stadtbewohnern angelegt waren. Verschärft wurden diese durch die Exemtion der Studenten, Magister und Doktoren sowie aller anderen Universitätsangehörigen von der städtischen Gerichtsbarkeit, so dass sämtliche rechtliche Streitigkeiten mit ihnen vor dem Rektor der Universität als Richter ausgetragen werden mussten. Die Stadtbewohner glaubten, hier schwieriger ihr Recht zu finden als vor einem städtischen Gericht, da der Rektor-Richter Angehörige seiner Korporation in der Regel relativ milde bestrafte. 7 Weshalb hatte Ludwig IX., der Reiche, Herzog von Bayern-Landshut, 1472 gerade im oberbayerischen Ingolstadt eine Universität gegründet? Nachdem Ludwig VII., der Gebartete, Herzog von Bayern-Ingolstadt mit den weitreichenden Plänen für sein kleines Teilherzogtum gescheitert und nach seinem Sohn Ludwig VIII. 1447 verstorben war, wurde das Territorium 5 Vgl. allgemein H EINRICH K OLLER : Stadt und Universität im Spätmittelalter, in: E RICH M ASCHKE / J ÜRGEN S YDOW (Hgg.): Stadt und Universität im Mittelalter und in der früheren Neuzeit (Stadt in der Geschichte, Bd. 3), Sigmaringen 1977, S. 9-26; H EINZ D UCHHARDT (Hg.): Stadt und Universität (Städteforschung. Reihe A. Darstellungen, Bd. 33), Köln/ Weimar/ Wien 1993. Zu Ingolstadt vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 25f.; H UBERT F REILINGER : Ingolstadt als Universitätsstadt. Das Verhältnis von Bürgertum und Universität, in: K ARL B OSL (Hg.): Die mittelalterliche Stadt in Bayern (Beiträge zur Geschichte von Stadt und Bürgertum in Bayern, Bd. 2), München 1974, S. 143-162, S. 148-154; unter einseitiger Berücksichtigung der Bursen S IEGFRIED H OFMANN : Geschichte der Stadt Ingolstadt. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1505, Ingolstadt 2000, S. 750-752, 767-769. 6 Die universitären Privilegien sind im herzoglichen Stiftungsbrief festgehalten, der ediert vorliegt bei K ARL VON P RANTL : Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München. Zur Festfeier ihres vierhundertjährigen Bestehens im Auftrage des akademischen Senats verfaßt, 2 Bde., München 1872 (Neudruck Aalen 1968), Bd. 2, S. 10-37; vgl. dazu A RNO S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472- 1586) (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 1), Berlin 1971, S. 358-365. Zu den städtischen Privilegien, die in einer Kompilation von 1448 zusammengestellt und 1451 von Ludwig IX. von Bayern-Landshut bestätigt wurden, vgl. H OFMANN : Geschichte der Stadt Ingolstadt (wie Anm. 5), S. 545-547. 7 L OEW : Die Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 66f.; S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 34f. <?page no="74"?> Universität und Stadt 75 zwischen den Herzögen von Bayern-München und Bayern-Landshut aufgeteilt. Der über große Ressourcen verfügende Heinrich XVI., der Reiche, von Bayern-Landshut konnte sich durch sein schnelles machtpolitisches Handeln den Großteil davon sichern. Sein Sohn Ludwig IX. sah sich nach dem Tod des Vaters 1450 vor die Aufgabe gestellt, die neuen Gebiete in seine Herrschaft zu integrieren. 8 Die Entscheidung, in Ingolstadt eine Universität einzurichten, wurde bereits in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts getroffen. Pius II. stellte die päpstliche Gründungsbulle auf eine herzogliche Supplik hin 1459 aus. Bei der Ortswahl spielte einerseits die Verfügbarkeit kirchlicher Stiftungen, die zur Finanzierung der Hohen Schule herangezogen werden konnten, eine erhebliche Rolle. Andererseits bot sich für Ludwig den Reichen die Möglichkeit, die Stadt für den Wegfall der herzoglichen Residenz zu entschädigen und zugleich durch die Gründung einer landesherrlichen Institution seinen Machtanspruch in den neugewonnenen Landesteilen zu demonstrieren. 9 Allerdings gab es in Ingolstadt keine Schultradition wie in Regensburg, wo in den 1480er Jahren eine Universitätsgründung Herzogs Albrechts IV. von 8 T HEODOR S TAUB : Bayern im Zeichen der Teilungen und Teilherzogtümer (1347-1450), in: M AX S PINDLER / A NDREAS K RAUS (Hgg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 2 1988, S. 199-287, S. 283-287; A NDREAS K RAUS : Sammlung der Kräfte und Aufschwung (1450-1508), in: M AX S PINDLER / D ERS . (Hgg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 2 1988, S. 289-321, S. 289-297; B EATRIX E TTELT - S CHÖNEWALD : Herzog Ludwig der Reiche von Bayern-Landshut, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 106 (1997), S. 9-20. 9 Vgl. L AETITIA B OEHM : Das Hochschulwesen in seiner organisatorischen Entwicklung, in: M AX S PINDLER / A NDREAS K RAUS (Hgg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 2 1988, S. 920-965, S. 929-941; B EATRIX E TTELT -S CHÖNEWALD : Kanzlei, Rat und Regierung Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut (1450-1479) (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, Bd. 97, 1-2), 2 Bde., München 1996, Bd. 1, S. 321-332; R AINER A. M ÜLLER : Ludwig IX. der Reiche, Herzog von Bayern-Landshut (1450-1479) und die Gründung der Universität Ingolstadt 1472, in: S ÖNKE L ORENZ (Hg.): Attempto - oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich (Contubernium, Bd. 50), Stuttgart 1999, S. 129-155. In den Deutungen der Motive des Herzogs spekulativ H OFMANN : Geschichte der Stadt Ingolstadt (wie Anm. 6), S. 478, 738-748. Ähnliche Motive bewegten den Erzbischof von Mainz 1462 bei dem ersten Gründungsversuch einer Universität in seiner zuvor von ihm abgefallenen Residenzstadtstadt. Vgl. M ICHAEL M ATHEUS : Rom und Mainz. Italienische und deutsche Universitäten im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, in: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 102 (2007) S. 47-75, S. 55-57. Allgemein zu den Motiven landesherrlicher bzw. städtischer Universitätsgründungen im 15. Jahrhundert vgl. E RNST S CHUBERT : Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: P ETER B AUMGART / N OTKER H AMMER - STEIN (Hgg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen in der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen 4), Nendeln/ Liechtenstein 1978, S. 13-74. <?page no="75"?> M AXIMILIAN S CHUH 76 Bayern-München aus unterschiedlichen Gründen scheiterte. 10 Scholaren und Magister waren den Bewohnern der Stadt nicht vertraut und müssen daher als neuer und unbekannter Gruppenkörper wahrgenommen worden sein. Ingolstadt hatte um das Jahr 1500 ungefähr 5.000 Einwohner. 11 An der Universität immatrikulierten sich trotz verschiedener Krisen seit 1472 durchschnittlich 200 Personen im Jahr. 12 Doch schlossen die wenigsten mittelalterlichen Studenten das Studium mit einer Promotion ab, sondern sie besuchten die Hohe Schule nur für einen bestimmten Zeitraum, um förderliche Kontakte aufzubauen und verwertbares Wissen zu erwerben. 13 Multipliziert man die Zahl der Immatrikulationen mit einer angenommenen durchschnittlichen Verweildauer von knapp zwei Jahren und rundet das Ergebnis auf, 14 um weiteres Universitätspersonal und Angehörige zu berücksichtigen, sind wohl zwischen 350 und 450 Personen in der Stadt der Rechtssphäre der Universität zuzurechnen. Ein Großteil von ihnen (ca. 80%) war an der Artistenfakultät eingeschrieben und überwiegend zwischen 14 und 20 Jahren alt, nach heutigem Verständnis stellten sie daher eher Gymnasiasten dar. 15 An den höheren Fakultäten waren dagegen vergleichsweise wenige Studenten eingeschrieben, da sie es in der Regel vorzogen, an den prestigereichen Universitäten in 10 Vgl. A LOIS W EISSTHANNER : Die Gesandtschaft Herzog Albrechts IV. von Bayern an die Römische Kurie 1487. Stiftungsprivileg für eine Universität zu Regensburg, in: Archivalische Zeitschrift 47 (1951), S. 189-200; S ÖNKE L ORENZ : Fehlgeschlagen, gescheitert und erfolglos. Vergebliche Versuche von Universitätsgründungen in Regensburg, Lüneburg, Breslau und Pforzheim, in: D ERS . (Hg.): Attempto - oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich (Contubernium, Bd. 50), Stuttgart 1999, S. 7-18, hier S. 7-17; D AVID L. S HEFFLER : Schools and Schooling in Late Medieval Germany. Regensburg 1250-1500 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, Bd. 33), Leiden/ Boston 2008, S. 180. 11 F REILINGER : Ingolstadt als Universitätsstadt (wie Anm. 5), S. 146. 12 R AINER C. S CHWINGES : Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 123), Stuttgart 1986, S. 177. 13 Vgl. R AINER C. S CHWINGES : Der Student in der Universität, in: W ALTER R ÜEGG (Hg.): Die Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Das Mittelalter, München 1993, S. 181-223, S. 181- 187; K LAUS W RIEDT : Studium und Tätigkeitsfelder der Artisten im späten Mittelalter, in: R AINER C. S CHWINGES (Hg.): Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der GUW, Bd. 1), Basel 1999, S. 9-24, S. 12-14; G ÖTZ -R ÜDIGER T EWES : Dynamische und sozialgeschichtliche Aspekte spätmittelalterlicher Artes-Lehrpläne, in: R AINER C. S CHWINGES (Hg.): Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der GUW, Bd. 1), Basel 1999, S. 105-128. 14 Vgl. S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 182. 15 Da zu Ingolstadt keine konkreten Untersuchungen zu den Zahlen vorliegen, werden hier zunächst allgemeine Erkenntnisse zur Verhältnisstruktur an den Universitäten im Reich nördlich der Alpen zugrunde gelegt. Vgl. S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 182f. Diese werden durch den Vergleich mit den Besucherzahlen der höheren Fakultäten bestätigt, vgl. Anm. 16. <?page no="76"?> Universität und Stadt 77 Frankreich und Italien Theologie, die Rechte und Medizin zu studieren. 16 Auch die Mehrheit der Magister an der Artistenfakultät war mit 20 bis 35 Jahren in der Regel relativ jung. 17 Insgesamt zog die Gründung der Universität also ein überwiegend jugendliches Publikum nach Ingolstadt, das einen nicht unerheblichen Anteil der Gesamteinwohnerschaft ausmachte. 2. Generation und Stand Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, dass das konfliktreiche Verhältnis von Stadt und Universität einem generationalen Gegensatz zwischen jungen Studenten und alten Bürgern entsprang. Da sich hier nicht genealogisch, sondern soziologisch definierte Generationen gegenüberstehen, sind einige Überlegungen zu den zugrundeliegenden Konzeptionen notwendig. Das klassische soziologische Generationenkonzept Karl Mannheims, 18 das für die kulturhistorische Erforschung moderner gesellschaftlicher Entwicklungen in den letzten Jahren intensiv genutzt wurde, 19 ist für die Analyse dieses 16 Für die relativ große juristische Fakultät nimmt H ELMUT W OLFF : Geschichte der Ingolstädter Juristenfakultät 1472-1625 (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 5), Berlin 1973, S. 166- 169, ungefähr 15% der Gesamtbesucherzahl an. An der theologischen Fakultät immatrikulierten sich erheblich weniger Studenten, in manchen Jahren sogar gar keine, so dass allenfalls ein durchschnittlicher Wert von 5% erreicht wurde. Vgl. W INFRIED K AUSCH : Geschichte der Theologischen Fakultät Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert (1472-1605) (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 9), Berlin 1977, S. 125-127. Für das 15. Jahrhundert lassen sich in Ingolstadt nur 31 Medizinstudenten nachweisen, so dass die Größe dieser Fakultät zu vernachlässigen ist. Vgl. L EONORE L IESS : Geschichte der medizinischen Fakultät in Ingolstadt von 1472-1600 (Schriftenreihe der Münchner Vereinigung für Geschichte der Medizin, Bd. 14), Gräfelfing 1984, S. 50-52. Insgesamt sind also höchstens 20% der Universitätsangehörigen den höheren Fakultäten zuzuordnen. 17 Vgl. S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 183; C HRISTOPH S CHÖNER : Die magistri regentes der Artistenfakultät 1472-1526, in: L AETITIA B OEHM u.a. (Hgg.): Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München, Teil 1: Ingolstadt-Landshut 1472-1826 (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 18), Berlin 1998, S. 507- 521, S. 507f. 18 K ARL M ANNHEIM : Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157-185, S. 309-330. 19 Von den zahlreichen Studien, die sich mit Mannheims Konzept aus einer dezidiert historischen Perspektive auseinandersetzen, seien genannt: U TE D ANIEL : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 330-345; A NDREAS S CHULZ / G UN - DULA G REBNER : Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: D IES . (Hgg.): Generationswechsel und historischer Wandel (Historische Zeitschrift, Beihefte 36), München 2003, S. 1-23; J ÜRGEN Z INNECKER : „Das Problem der Generationen“. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text, in: J ÜRGEN R EULECKE (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 58), München 2003, S. 33-58; B ERND W EISBROD : Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), S. 3-9; U LRIKE J UREIT : Generationenforschung (Grundkurs Neuere Geschichte), Göttingen 2006, S. 20-39; <?page no="77"?> M AXIMILIAN S CHUH 78 Verhältnisses wenig ergiebig, da grundlegende Prämissen nicht erfüllt sind. Ausgehend von der Vorstellung, dass Generationen in erster Linie der Ausdruck kollektiver Identitätskonstruktionen sind, war es Mannheims erklärtes Ziel, mit seiner Vorstellung von Generationalität kulturellen Wandel durch das „Neueinsetzen neuer Kulturträger“ zu erklären. 20 Im spätmittelalterlichen Ingolstadt wurde die bestehende Ordnung - wie zu zeigen sein wird - jedoch durch die Konflikte stabilisiert, nicht verändert. Zudem erweist sich die Anwendung von Mannheims dreistufiger Typologie von Generationenlagerung, Generationenzusammenhang und Generationseinheit als problemstiftend. Generationenlagerung beschreibt allein die Tatsache, dass Menschen in ähnlichen Geburtsjahrgängen und in einem gemeinsamen historisch-sozialen Bezugsrahmen leben und so ein mögliches Merkmal zur kollektiven Identitätsstiftung bzw. ein Moment zur gemeinsamen Lokalisierung im sozialen Raum vorhanden ist. 21 Innerhalb der Generationenlagerung konkretisieren sich dann Generationenzusammenhänge, deren Mitglieder durch die Partizipation an gemeinsamen Schicksalen verbunden sind. Sie haben an denselben intellektuellen und sozialen Strö mungen teil, wobei räumliche oder schichtspezifische Grenzen die Ausbildung eines Generationenzusammenhangs verhindern können. 22 In Ingolstadt ist ein ganze Alterskohorten der Stadtbevölkerung umfassender Generationenzusammenhang nicht festzustellen, denn Universitätsangehörige und Bürger waren keineswegs ähnlich im sozialen Raum gelagert, sie verband allein die Nähe im geographischen Raum. Studenten, Magister und Doktoren hatten innerhalb der Stadtgemeinschaft einen herausgehobenen sozialen Status, sie genossen einen eigenen Gerichtsstand sowie die Befreiung von Steuern und städtischen Pflichten. Ihre Aufnahme in eine privilegierte Korporation wurde durch symbolisch aufgeladene Handlungen, wie die Leistung des Immatrikulationseids und das Initiationsritual der Deposition - die symbolische Kultivierung des neuen Studenten durch Angehörige der U LRIKE N AGENGAST / M AXIMILIAN S CHUH : Natur vs. Kultur? Zu den Konzepten der Generationenforschung, in: H ARTWIN B RANDT / M AXIMILIAN S CHUH / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Familie - Generation - Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien, Bd. 2), Bamberg 2008, S. 11-30, S. 20-24. 20 Vgl. M ANNHEIM : Problem (wie Anm. 18), S. 530. 21 Vgl. M ANNHEIM : Problem (wie Anm. 18), S. 527f., 542f., 546f. Vgl. dazu M ARK R OSEMAN : Generationen als „Imagined Communities“. Mythen, generationelle Identitäten und Generationenkonflikte in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: U LRIKE J UREIT / M ICHAEL W ILDT (Hgg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 180-199. 22 Vgl. M ANNHEIM : Problem (wie Anm. 18), S. 542-544, 546. <?page no="78"?> Universität und Stadt 79 Universität 23 - inszeniert. Die imaginierte kollektive ständische Identität wurde durch Kleidungsvorschriften und andere normierte Ausdrücke des sozialen Habitus ständig neu konstruiert, gestärkt und sichtbar gemacht. 24 Ähnliche Selbstversicherungen sind auch auf städtischer Seite zu beobachten. 25 Die beiden Gruppen als sich aus einem gemeinsamen Generationenzusammenhang bildende Generationseinheiten zu verstehen, 26 dem eigentlichen Kern von Mannheims Konzeption, ginge also fehl. Vielmehr sind diese Generationenkonzepte in einer ständisch organisierten Gesellschaft nicht korporationsübergreifend anzuwenden. Allein innerhalb eines Personenverbandes sind sie als heuristisches Instrumentarium sinnvoll einzusetzen. Die Auseinandersetzungen zwischen Universität und Stadt führten nicht zu Wandel, sondern stabilisierten die bestehende gesellschaftliche Ordnung. Zunächst ist daher von ständischen Konfliktpotentialen auszugehen. Da allerdings ein Großteil der Universitätsangehörigen als ‚jung‘ einzustufen ist, erweitert sich diese Problemlage um eine generationale Perspektive. Für die Betrachtung der Konflikte in Ingolstadt bietet es sich folglich an, von einem traditionellen Gegensatz von Alt und Jung als generationaler Konfliktlage auszugehen. 27 Die Terminologie in den Quellen legt das bereits nahe, wenn im studentischen Kontext wiederholt von chinder und jungen knaben sowie allgemein von jugent die Rede ist. 28 Die Klage über die jugendlichen 23 Vgl. dazu R AINER C. S CHWINGES : Mit Mückensenf und Hellschepoff. Fest und Freizeit in der Universität des Mittelalters (14. bis 16. Jahrhundert), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 11-27; R AINER A. M ÜLLER : Studentenkultur und akademischer Alltag, in: W ALTER R ÜEGG (Hg.): Die Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500-1800), München 1993, S. 263-286, S. 281-283; M ARIAN F ÜSSEL : Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 605-648. Dass die Deposition auch in Ingolstadt üblich war, zeigt das Aktenmaterial der Artistenfakultät. München, UA, O I, Nr. 2, f. 15v (1485) Vicesima vero tercia mensis marcii conclusit […] facultas […], vexatores et tribulatores novellorum studentum quos beanos vocant, arbitraria pena punire et mulctare. 24 Vgl. M ARIAN F ÜSSEL : Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 73-126; D ERS .: Die inszenierte Universität. Ritual und Zeremoniell als Gegenstand der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 19-33. 25 Vgl. etwa F ÜSSEL : Umstrittene Grenzen (wie Anm. 4), S. 174f. 26 Vgl. M ANNHEIM : Problem (wie Anm. 18), S. 543-550. 27 Vgl. K URT L ÜSCHER : Die Ambivalenz von Generationenbeziehungen - eine allgemeine heuristische Hypothese, in: M ARTIN K OHLI / M ARC S ZYDLIK (Hgg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 138-161, hier S. 149-152; N AGENGAST / S CHUH : Natur vs. Kultur (wie Anm. 18), S. 17f. 28 Vgl. etwa das Schreiben an den Ingolstädter Rentmeister (1488), aus München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (= BayHStA), Neuburger Copialbücher X, abgedruckt bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 95-97. <?page no="79"?> M AXIMILIAN S CHUH 80 Studenten stellt dabei einen Topos dar, der sich im gesamten lateinischen Europa seit dem Bestehen von Schulen und Universitäten finden lässt. 29 3. Das Rektoratsgericht Bei der Analyse der Ingolstädter Konflikte ist nun einerseits das Verhältnis von Stadtbewohnern und Universitätsangehörigen zu betrachten, auf der anderen Seite aber auch das Verhältnis von Jung und alt innerhalb der Universität. Deren konkrete Ausgestaltung lässt sich aus den Verhandlungen vor dem Rektoratsgericht der Universität rekonstruieren. 30 Der semesterweise amtierende Rektor, den die vier Fakultäten abwechselnd stellten, war die administrative und jurisdiktionelle Spitze der Korporation und vertrat sie nach innen und außen. 31 Vor ihm wurden zunächst alle die Universitätsangehörigen betreffenden Rechtssachen erstinstanzlich verhandelt, als zweite Instanz konnte nur das Konzil der Universität angerufen werden. Dabei klagte sowohl die Universität selbst aufgrund von Verstößen gegen die Statuten, wie auch rechtssuchende Mitglieder der Korporation ebenso wie Nichtmitglieder als Kläger auftraten. 32 Kurze Protokolle der Verhandlungen und die Urteile des Rektoratsgerichts wurden von dem jeweiligen Universitätsnotar in einen Codex eingetragen. 33 Die 416 Folioseiten umfassen den Zeitraum von September 1472 bis 1503. Die Eintragungen sind nach Gerichtstagen unterteilt. Das Gericht tagte bis etwa 1480 zweibis dreimal die Woche, dann änderte sich der Verhandlungsmodus zu drei bis vier Gerichtstagen im Monat. 34 Diese Reduzierung lässt sich durch die Vorverlagerung der Disziplinargerichtsbarkeit an den Dekan und die Bursenvorsteher erklären, welche den 1472/ 74 entstandenen 29 S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 206f. 30 Vgl. allgemein zu vormoderner Universitätsgerichtsbarkeit S TEFAN B RÜDERMANN : Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert (Göttinger Universitätsschriften. Reihe A, Bd. 15), Göttingen 1990; aus rechtshistorischer Perspektive B ETTINA B UBACH : Richten, Strafen und Vertragen. Rechtspflege der Universität Freiburg im 16. Jahrhundert (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Bd. 47), Berlin 2005. 31 Zum Amt des Rektors in Ingolstadt vgl. S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 221-227. 32 Vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 28-31; L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 49-51; S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 394-401. Die 1472 entstandenen Statuten beschreiben die richterlichen Aufgaben des Rektors ausführlich, vgl. die Edition bei S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 454f. 33 München, UA, D III, Nr. 1 Liber Judicarius universitatis Ingolstatensis. Vgl. dazu S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 388f. Anm. 93. 34 Vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 29; L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 51-54. <?page no="80"?> Universität und Stadt 81 Statuten der Artistenfakultät zu entnehmen ist. 35 Zunehmend wurden offenbar nur noch besonders schwere Fälle an das Rektoratsgericht verwiesen. Die Richtertätigkeit nahm also in der Frühzeit der Universität Ingolstadt den Rektor erheblich in Anspruch. Für die Rekonstruktion der unterschiedlichen Konflikte ist davon auszugehen, dass bei weitem nicht alle Streitfälle vor Gericht gebracht wurden. 36 Nichtsdestotrotz bietet das hier Überlieferte tiefere Einblicke in die Verhältnisse im spätmittelalterlichen Ingolstadt. 4. Universitätsangehörige vor Gericht (I): Verstöße gegen die Statuten Zunächst sind die Verstöße der Studenten und Magister gegen die in Statuten und Konzilsbeschlüssen festgelegten universitären Regeln in den Blick zu nehmen, 37 die von der Universität ex officio vor Gericht gebracht wurden. 38 Ein nicht unbedeutender Teil der Fälle umfasst die Nichtbeachtung der universitären Kleiderordnung. 39 Der Student Leonard Einsiedeln wurde etwa im Januar 1499 zu der Zahlung von zehn Groschen verurteilt, weil er ein 35 Statuten der Artistenfakultät, abgedruckt bei J OHANN N EPOMUK M EDERER : Annales Ingolstadiensis Academiae, Bd. 4: Codex diplomaticus, Ingolstadt 1782, S. 69-94, z.B. S. 83: De manentibus extra Bursam. Item nullus Studentum suum hospicium sine scitu & consensu sui hospitis sub pena decem grossorum pernoctet. […] Hanc autem penam eorum conventor irremissibiliter exigere teneatur, rebelles & contumaces suo Decano denunciaturus. Zum Entstehungszeitpunkt vgl. A LBRECHT L IESS : Die artistische Fakultät der Universität Ingolstadt 1472-1588, in: L AETITIA B OEHM / J OHANNES S PÖRL (Hgg.): Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, 2 Bde., Berlin 1972-1980, Bd. 2, S. 9-35, S. 12f. Allgemein zur Gerichtsbarkeit der Fakultäten in Ingolstadt vgl. S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 393f. 36 Vgl. zu den quellenkritischen Problemen bei der Untersuchung von Gerichtsakten G ERD S CHWERHOFF : Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen, Bd. 3), Tübingen 1999, S. 46-68. 37 Die 1472 entstandenen Statuten der Universität sind ediert bei S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 449-463. Die diese Regelungen spezifizierenden Beschlüsse des Konzils der Universität aus den Jahren 1472-1477 sind abgedruckt bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 48f. 38 Vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 33, der einen universitären Staatsanwalt (procurator fisci) annimmt. Dagegen geht S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 4), S. 397, von keinem institutionalisierten universitären Anklagevertreter aus. 39 Vgl. Statuten, in: S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 460: De habitu et incessu suppositorum. […] Volumus eciam et ordinamus, ut nullus pileum aut capucium parvum vel non liripipiatum publice deferat, sub pena duorum grossorum. Zur Bedeutung von Kleidung für den mittelalterlichen Gelehrtenstand vgl. A NDREA VON H ÜLSEN -E SCH : Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institus für Geschichte, Bd. 201), Göttingen 2006, S. 61-202. <?page no="81"?> M AXIMILIAN S CHUH 82 Gewand ohne Ärmel trug. 40 Bereits im Juni 1474 wurde ein anderer Student vor Gericht zitiert, da er nicht den Vorschriften der Statuen entsprechend gekleidet war. 41 Diese Formen der Devianz scheinen auf einen Alt-Jung- Gegensatz hinzuweisen, der in einer ständischen Gesellschaft erweiterte Dimensionen gewinnt. 42 Denn die Überschreitung der Kleidungsvorschriften konnte in letzter Konsequenz die Überschreitung ständischer Trennlinien inner- und außerhalb der Korporation bedeuten, wie die immer wieder aufflammenden Konflikte um diese Regelungen zeigen. 43 Die herzogliche Verwaltung sah sich 1488 genötigt, diese Umstände zu beklagen: Item das all studenten aller facultet erberlich geklait giengen und nit also mit getailten varben mit kurtzen mäntln und röbln mit klain kapplein und zu zeiten in chränntzen, das alles zu anfang der universitet verpoten ist gewesen, und durch sölchs unter jungen leuten manigveltig üppigkait und unordnung erwachset, das ir durch neu klaidung und fünd anweren, dan die studenten den frawen gleich thun, die was sy neues sehen auch wellen haben, als wir schwerlich an den frawen von Ingolstat sehen, wer sie vor 16 jarn und itzundt gegneinander schätzte, gleichen sich als menschen und affen. 44 Bemerkenswert ist neben der landesherrlichen Einmischung in inneruniversitäre Belange, dass deviantes Verhalten der Studenten als weiblich bzw. in einem zweiten Schritt sogar als tierisch gekennzeichnet wird. 45 Andere Arten von Verstößen zeigen, dass die universitären Vorschriften grundsätzlich ein nächtliches Aufeinandertreffen von Studenten und Stadtbevölkerung zu vermeiden suchten. 46 So hatte Adam Hanskorn 1474 einen 40 München, UA, D III, Nr. 1, f. 430v (16. Mai 1499) Leonardus Ainsiedel punitus est in decem grossos, quia incessit in habitus statutis et decretis universitatis prohibitus evacuatis manicis. 41 München, UA, D III, Nr. 1, f. 51r (27. Juni 1474) Jacob Egloff citatus est ex officio, quod detulit pectorale perforatum et habitum insolitum. 42 Zur studentischen Devianz vgl. insbesondere M ARIAN F ÜSSEL : Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145-166. 43 Zu Ingolstädter Streitigkeiten über das unerlaubte Tragen des den Doktoren der höheren Fakultäten vorbehaltenen roten Birrets vgl. S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 400f. mit Anm. 143; C HRISTOPH S CHÖNER : Mathematik und Astronomie an der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 13), Berlin 1994, S. 164f. 44 Aus München, BayHStA, Neuburger Copialbücher X, abgedruckt bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 97f. 45 Zur Konstruktion von Männlichkeit im studentischen Kontext vgl. M ARIAN F ÜSSEL : Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? Überlegungen zum Wandel akademischer Habitusformen vom Ancien Régime zur Moderne, in: M ARTIN D INGES (Hg.): Männer - Macht - Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter, Bd. 49), Frankfurt a.M. 2005, S. 85-100, S. 88-96. 46 Vgl. Statuten, in: S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 456: Statuimus et ordinamus, ut si quis post pulsum campane sancti Mauricii, qui ut frequenter fit, circa horam octavam ante medium noctis absque lumine sine racionabili causa in civitate vel suburbis <?page no="82"?> Universität und Stadt 83 Gulden Strafe zu zahlen, da er wiederholt in einer taberna publica angetroffen worden war. 47 Ein anderer Scholar wiederum wurde verurteilt, weil er nachts ohne Licht in plateis, auf den Gassen der Stadt, unterwegs gewesen war. 48 Dass hier keine konkreten gewaltsamen Vorfälle, sondern nur Zuwiderhandlungen gegen die statuarischen Bestimmungen geahndet wurden, macht die Absicht deutlich, Universitätsangehörige von Orten fernzuhalten, an denen Konflikte überhaupt erst entstehen konnten. Das Konzil der Universität sah sich aufgrund der Nichtbeachtung solcher Verbote dazu veranlasst, sie durch den Rektor wiederholt aussprechen zu lassen. 49 Die einen Großteil der Studentenschaft treffende Verpflichtung, in Bursen zu leben, ist der deutlichste Ausdruck solcher Bemühungen. Denn nur Ingolstädter Bürgersöhne, reiche Studenten mit Privatlehrern und Arme, die sich als Bedienstete verdingen mussten, waren von diesem Zwang ausgenommen. 50 Dass sich vor allem die ‚jungen‘ Studenten über diese Regelungen der ‚alten‘ Universitätsleitung hinwegsetzten, zeigen auch die Eintragungen über Strafzahlungen an den Dekan im Rechnungsbuch der Artistenfakultät, die wegen verbotenen Ausgangs oder Gewalt in der Burse erhoben wurden. 51 repertus aut de hoc convictus fuerit, pena medii floreni puniatur. […] Ludens in publicis tabernis ad taxillos, aleam aut cartarum ludum aut alias impudentibus personis ibi se conjungens, de hoc convictus aut confesus primo medio floreno, si altera vice repertus, uno integro, si tercia vice, duobus florenis mulctetur. 47 München, UA, D III, Nr. 1, f. 64r (26. September 1474) Item Adam Hanskorn […] punitus est in quatuor grossis contumancie et in uno floreno, quia reperitus fuit in taberna publica. Die Strafe von einem Gulden zeigt, dass der Verurteilte bereits zum zweiten Mal in einem Wirtshaus angetroffen worden war. 48 München, UA, D III, Nr. 1, f. 343v (ohne Tagesangabe 1490) Fredericus Weykenwein, quia noctinagus incessit in plateis post pulsum campane sine lumine, punitus est iuxta statutum in medio floreno. 49 Vgl. etwa die Senatsprotokolle, abgedruckt bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 49 (1474): […] introduxit universitas, per quemlibet rectorem de novo electum sub certis poenis mandari, ne aliquis studentum choreas aut tabernas publicas visitare sive absque speciali licentia impetrata extra collegium aut bursas approbatas vel doctorum domos morari praesumat […]. 50 Statuten der Artistenfakultät, abgedruckt bei bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 88: Ubi supposita debeant habitare? Volumus, quod quilibet volens promoveri in Artibus, sit astrictus sub pena non admissionis ad talem gradum ad standum continuo in Collegio, aut aliqua bursarum, per consilium Facultatis approbatarum sub Magistro ad regendum approbato, nisi filius civitatis, vel alias adeo abundans extiteret, qui domum propriam tenere, & expensas proprias cum Magistro vel informatore habere poterit, vel nisi gravatus paupertate servire alibi cogatur, vel alias racionabili ex causa per Facultatem approbanda excusatus videatur. Vgl. dazu R AINER A. M ÜLLER : Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472-1648 (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 7), Berlin 1974, S. 186-189. 51 München, UA, O V, Nr. 1, f. 17v (Sommersemester 1492): Precepta ex penis: […] Item unum florenum rhen. ab Uldarico Hirsb, quia eximit bursam per exitum prohibitum. Item LXX den. de bursa Aquile, quia unum alium lesit. <?page no="83"?> M AXIMILIAN S CHUH 84 Das statuarische Verbot, Waffen zu tragen, 52 zielte in eine ähnliche Richtung. So wurden Studenten wiederholt aufgrund des öffentlichen Umgangs mit Waffen zu Geldstrafen verurteilt, wie das eingangs zitierte Beispiel zeigt. Dieses Vorgehen war durchaus notwendig, da es schon zwischen Universitätsangehörigen und auch in geschlossenen Räumen zu gewaltsamen Vorfällen kam. Der Kleriker Michael Pfranger etwa, der in Ingolstadt studierte, verletzte nach gemeinsamem Studium und Weinkonsum im Haus seiner Mutter den Studenten Wolfgang Schabel, der ihn mit gezogenem Schwert angegriffen hatte, in Notwehr tödlich. 53 Die Gesamteinschätzung der Sanktionen als disziplinierend ist nicht unberechtigt, da auch verboten wurde, in Kutschen zu fahren, an dörflichen Festen teilzunehmen, überhaupt zu singen, zu lärmen und zu musizieren. 54 Die Studenten sahen sich zahlreichen rigiden Geboten gegenüber, die sie stets aufs Neue übertraten. Devianz scheint einen zentralen Teil studentischen Selbstverständnisses ausgemacht zu haben. 55 Alleine die fontonia bzw. fontania genannten Ausflüge in die Umgebung, die allerdings ebenfalls reglementiert wurden, boten eine erlaubte Form der gemeinsamen Vergnügung. 56 Die Studenten spielten wiederholt Streiche, die gerichtlich geahndet wurden. So zitierte man Konrad Heller unter Hinweis auf die mangelnde 52 Vgl. Statuten, in: S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 456: Deprehensus de die in opido aut suburbiis arma publice deferens, ipsa perdat et rectori cedant. 53 Pfranger supplizierte in Rom erfolgreich bei der päpstlichen Poenitentiarie um Absolution. Vatikanstadt, Archivio Segreto Vaticano, Penitenzieria Ap., Reg. Matrim. et Div. 29, f. 207r, zitiert nach dem Regest bei L UDWIG S CHMUGGE / M ICHAEL M ARSCH / A LESSANDRA M OSCIATTI (Bearb.): Repertorium Poenitentiariae Germanicum, Bd. 6: Sixtus IV. 1471-1484, 2 Bde., Tübingen 2005, Bd. 1, S. 585 (20. Juni 1480): Michael Pfragner cler. de op. Ingelstat Eistet dioc., quod cum ipse in dicto op. et studio gener. Ingelstat in bursa Konis nuncupata stando studens foret et certo sero nocturno tempore in domo sue matris in dicto op. sita exp. et quidam suus consanguineus insimul more solito ab ipsis hincinde audita lecture repetendo resumpsissent, tandem exp. pro recreatione ingeniorum quodam cantro in eo vinum afferre volens accepto exivisset, quidam Wolfgang Schabel cler. de Tegernbach Frising. dioc., dicti studii gener. studens, cum suo gladio, quem idem deferebat, dictum exp. insequendo animo ut creditur occidendi invasit; et dum exp. ipsum Wolgangun suum gladium evaginatum in suis manibus habere vidisset, timore concussus ob periculum eminens etiam suum exemit gladium et cum eodem vim vi repellendo et se defendo dictum Wolfgangum in capite lesit, qui post aliquos dies ex huiusmodi percussione et forsan potius ipsius seu medici inertia, ut ab aliquibus asseritur, suum sicut Domino placuit diem clausit extremum. 54 Vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 43; L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 61. Vgl. etwa München UA, D III, Nr. 1, f. 107v (22. Januar 1476): Jodocus Waldawer […] contra mandatum universitatis vectus est in vehiculo. Vgl. auch Statuten der Artistenfakultät, abgedruckt bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 85: De Instrumentis musicalibus. Nullus Bursalium instrumentis musicis indecenter canat in camera sua […]. 55 Vgl. F ÜSSEL : Devianz als Norm? (wie Anm. 42), S. 162-164. 56 Vgl. P RANTL : Geschichte 1 (wie Anm. 6), S. 95. <?page no="84"?> Universität und Stadt 85 Reife vor das Rektoratsgericht, weil er im öffentlichen Badehaus nicht einen Kommilitonen, sondern die falsche Person mit kaltem Wasser übergossen hatte. 57 Dass hier Vorbehalte gegenüber der Jugendkultur im Vordergrund stehen, ist kaum von der Hand zu weisen. Doch auch die jüngeren Lehrenden, die zwischen 20 und 35 Jahren alten Artistenmagister, legten durchaus deviantes Verhalten an den Tag. Der Bursenvorsteher Johannes Gutanus musste sich z.B. 1475 vor Gericht verantworten, weil er zusammen mit zwei Studenten lärmend durch die Straßen gezogen war. 58 Bestimmt man daher im inneruniversitären Bereich eine Konfliktlinie zwischen Jung und Alt, so sind auch die Magister in einigen Fällen der jungen Seite zuzuordnen. Auch wenn sie grundsätzlich als Teil der universitären Obrigkeit fungierten, verhielten sich auch diese jüngeren Lehrenden nicht immer den Vorschriften entsprechend. Die zahlreichen Verhandlungen und Verurteilungen lassen einen strengen Kurs der universitären Obrigkeit, aber auch eine Überlastung des Rektoratsgerichts vermuten. Nicht zu rekonstruieren ist jedoch, wie viele Verstöße ungeahndet blieben. Zudem konnte etwa in den 70er Jahren fast ein Drittel der Prozesse nicht beendet werden, da der Beklagte nicht vor Gericht erschien. 59 Auch die relativ geringen Strafmaße sowie die Kapitalisierung der Freiheitsstrafen deuten auf Milde gegenüber den Studenten hin, so dass sich die herzogliche Verwaltung 1488 wiederum genötigt sah, diese Zustände unter Hinweis auf den jugendlichen Leichtsinn zu kritisieren und körperliche Bestrafungen zu fordern. 60 Das universitätsinterne Verhältnis von Alt und Jung war also von dem Wechselspiel von Geboten und Devianz sowie dem Wechselspiel von Strenge und Milde geprägt. 57 München, UA, D III, Nr. 1, f. 381r (7. März 1494) Conradus Heller […], qui nostrum dominum videlicet Sigismundum de Lawingen in balneo turbavit perfudendo eum aqua frigida, quod maturitate per cives coram conciliariis principis universitatis obiectum est et conquestum. Vgl. L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 74. 58 München, UA, D III, Nr. 1, f. 91r (18. August 1475) Johannes Gutanus procurator burse dingolfing […] quia lutina de die transierunt in plateis clamantes contra bonos mores. 59 Angesichts solcher Befunde ist unklar, inwieweit das Rektoratsgericht Bestrafungen wirksam durchsetzten konnte. Vgl. dazu S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 39. 60 Aus München, BayHStA, Neuburger Copialbücher X, abgedruckt bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 99: Item das die studenten nit all mal an gelt gepüst würden, das sie als jung und unverständig wenig achten oder fürchten, dan allein ir eltern die straff dulden; darumb wäre vast fruchtper, das man nach gstalt der person die misshandlung püste, also das die jungen knaben durch die, den sie bevohlen sind, oder ein andern mit ruten gestrafft würden, oder das mans fännklich dester herter hielt und nit also an unterschaid sie in dem gelt straffte, dan böss ist die universitet mit solchem gelt reych zu werden, das mer zu abnemen und schannt der universitet, dan zu füdrung und auffnemen diennt. Vgl. L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 66; S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 398f. <?page no="85"?> M AXIMILIAN S CHUH 86 5. Universitätsangehörige vor Gericht (II): Klagen der Bürger und der Stadt Gerade in wirtschaftlichen Fragen gab es ein erhebliches Konfliktpotential zwischen Stadt und Universität. Etwa die Hälfte der vor dem Rektoratsgericht verhandelten Fälle hat Schuldklagen gegen Universitätsangehörige zum Gegenstand. 61 Die prekäre wirtschaftliche Situation eines großen Teils der Akademiker wird hierin sehr deutlich. 62 Die Schuldner stammten aus allen akademischen Hierarchieebenen, vom einfachen Scholaren bis hin zum Lehrstuhlinhaber. Die Gläubiger waren in der Regel Handwerker, Lebensmittelhändler und Vermieter. 63 Besonders betroffen von Klagen waren die Bursenvorsteher, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden knappen Mitteln nur ungenügend wirtschaften konnten. Der Leiter der Pariser Burse musste sich Ende des 15. Jahrhunderts wegen 127 Gulden Außenständen bei Bäckern und Metzgern vor Gericht verantworten; für diesen Betrag konnte man sich zu der Zeit in Regensburg ein Haus kaufen. 64 Allerdings ist Verschuldung bei den Stadtbewohnern als allgemeines universitäres Phänomen zu betrachten, weniger als altersgruppenspezifische Besonderheit. Dennoch belastete dieser Missstand das Verhältnis von Stadt und Universität in besonderer Weise, vor allem da die Streitigkeiten vor dem Universitätsgericht ausgetragen werden mussten, von dem sich die klagenden Stadtbewohner nicht immer gerecht behandelt fühlten. Da die Universität als eine Institution kirchlichen Ursprungs eine quasi klerikale Lebensweise ihrer Mitglieder forderte, stellten gerade Kontakte zu Frauen einen stets neu auflodernden Konfliktherd dar. 65 Schon im Stiftungsbrief sicherte der Herzog denjenigen Ingolstädter Bürgern Straffreiheit zu, die angaben, ihre Frauen, Töchter und Schwestern vor zudringlichen Universi- 61 Vgl. L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 54f. 62 Vgl. allgemein zur wirtschaftlichen Situation von Universitätsangehörigen S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 216-221. 63 Vgl. etwa München, UA, D III, Nr. 1, f. 23r (27. August 1473) Decretum, quod magister paulus de monaco debet persolvere mediam libram infra triduum cuidem mulieri suae antiquae hospiti sub pena carceris. Weitere Beispiele bei L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 54f. 64 Vgl. L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 87. 65 Vgl. dazu allgemein S CHWINGES : Der Student in der Universität (wie Anm. 13), S. 185-187; W OLFGANG E RIC W AGNER : uxorati - conjugati - bigami. Die Verheirateten an der spätmittelalterlichen Universität, in: Antrittsvorlesungen der philosophischen Fakultät 2007 (Rostocker Universitätsreden. Neue Folge, Bd. 16), Rostock 2007, S. 15-40, S. 23-25; F ÜSSEL : Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? (wie Anm. 45), S. 95f. <?page no="86"?> Universität und Stadt 87 tätsangehörigen notfalls auch mit Gewalt beschützt zu haben. 66 Die Gerichtsakten bestätigen die Notwendigkeit solcher Regelungen. Johannes Hay aus Augsburg wurde 1475 zu einem Gulden Strafe verurteilt, weil er eine Frau auf offener Straße beschimpft und ihr Teile der Kleidung heruntergerissen hatte, 67 ein anderer Student, weil er die Ehefrau eines Medizinprofessors belästigt hatte. 68 Ähnliche Fälle von Nötigung, Belästigung und Vergewaltigung wiederholten sich. 69 Allerdings verließ auch eine Ingolstädterin ihren Mann unter Mitnahme mehrerer Wertgegenstände. Dieser fand dann Gattin nebst Kleinodien in der Wohnung eines der Magister der Artistenfakultät wieder. 70 Dass den Magistern nicht automatisch moralische Integrität zugesprochen wurde, zeigt ein am 27. Januar 1473 verhandeltes Verfahren, in dem sich der Bursenvorsteher Heinrich von Petzenstein gegen die Behauptung wehrte: Ain solcher man wie ir seit, sollt ein hurenhaws regirn, nicht ein bursen. 71 Bei diesen Auseinandersetzungen handelte es sich auch um eine generational aufgeladene Konfliktlinie. Die Bürger sahen ihre Frauen und Töchter von den jungen Studenten und Magistern bedroht, die schon der Stiftungsbrief als erhebliche Gefährdung gekennzeichnet hatte. Der Umgang von Universitätsangehörigen mit Prostituierten war andererseits ein Problem der Korporation, 72 vor allem wenn diese in Bursen oder sogar in das Kolleggebäude selbst eingelassen wurden. Hier sah die Universitätsleitung das An- 66 Stiftungsbrief, ediert bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 34: Würde auch ein studennt oder mer der egenannten universitet bey unnser burger oder inwoner zu Ingolstat ains oder mer eeliche weyb in unerbarkait an haimlichn arckwenigen steten betreten, und gen demselbn studenten von dem eeman und dem, so er bey im hette, ichts fürgenommen, wie sich das begäb, darumb sollt derselb eemann und auch die, so er allssdenn bei im hett, der obgemelten freyhait der universitet gegeben dem und den selben studenntn, so allso betreten wären, nichts schuldig noch pflichtig sein. 67 München, UA, D III, Nr. 1, f. 76r (25. Februar 1475): Johannes Haii de Augusta condempnatus est in uno floreno Rh., quem dare debet infra triduum sub pena carcerre, quia qandam mulierem insolenter invasit publice in plateis rapiendo ei pallium. 68 München, UA, D III, Nr. 1, f. 2v (9. Oktober 1472) […] qui hesterno vesperi se impudenter aput dominam uxorem domini doctoris medici cantando inhonestas catalenas. 69 Vgl. die Beispiele bei S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 45f. sowie bei L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 59f. 70 Vgl. dazu S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 46. Sein Verweis auf München, UA, D III, Nr. 3, f. 43r kann nicht überprüft werden, da dieser im Universitätsarchiv München aufbewahrte Akt verloren gegangen ist. 71 München, UA, D III, Nr. 1, f. 9r (27. Januar 1473). 72 Die universitären Normen verbieten ausdrücklich den Umgang mit Prostituierten. Vgl. Statuten, in: S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 460: Statuimus et ordinamus, ut nulli suppositorum in loco suspecto morari aut habitare liceat, sub pena per rectorem et duos a consilio sibi adjunctos imponenda. Deutlicher noch die Statuten der Artistenfakultät, abgedruckt bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 87: De mulieribus suspectis vitandis. Quilibet bursalium cum muliere suspecta occulte deprehensus det penam trium grossorum […]. <?page no="87"?> M AXIMILIAN S CHUH 88 sehen der Korporation gefährdet und verhängte schwere Strafen. 73 Man erreichte damit offenbar einen Punkt, an dem die Milde ihr Ende fand. An den vor dem Rektor verhandelten gewaltsamen Vorfällen zwischen Stadtbewohnern und Universitätsangehörigen wird deutlich, dass die Bemühungen, Studenten und Magister von öffentlichen Orten fernzuhalten, um Konflikte zu vermeiden, zum Scheitern verurteilt waren. Denn selbstverständlich kam es gerade auf den Gassen der Stadt, in Wirtshäusern und an anderen öffentlichen Orten zu Zusammenstößen. Straffälle mit Prügeleien auf der Straße, in Tavernen und in Bursen erscheinen oft im Gerichtsbuch. An ihnen waren Stadtbewohner sowie Studenten und Magister beteiligt. 74 Der ‚junge‘ Teil der Universität trat hier wiederum gemeinsam auf. Selbst größere Schlachten mit Handwerksgesellen lieferte man sich, was den Universitätsnotar dazu veranlasste, von einem allgemeinen Aufruhr zu schreiben. 75 Solche gewaltsamen Zusammenstöße forderten die Bestimmung des Verhältnisses von Stadt und Universität heraus. Denn zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung inhaftierte die Stadtwache des Öfteren Universitätsangehörige im städtischen Gefängnis. Die Register der päpstlichen Poenitentiarie, bei der Kleriker um bestimmte Dispense supplizierten, belegen, dass unter anderem auch der Subdiakon Alexander Peuchler und der Priester Stephan Primart - beide studierten in Ingolstadt - nach solchen Auseinandersetzungen in städtischen Gewahrsam genommen wurden. 76 Im September 1472 drangen Studenten ins Stadtgefängnis ein, um einen festgehaltenen Kommilitonen zu befreien. Allerdings wurden sie für diese Form der Selbstjustiz vom Rektor zu Geldstrafen verurteilt. 77 Im Januar 1474 befreite man mit Nachschlüsseln ebendort einen anderen Festgehaltenen. 78 Nicht eindeutig zu klären ist jedoch, ob in der Frühzeit der Ingolstädter Universität das städtische Gefängnis auch als universitärer Karzer genutzt 73 München, UA, D III, Nr. 1, f. 60r (16. September 1474): Mathias Schrygk […] nuper in collegium introduxit meretrices publicas, ipsis collegis et toti universitati in scandalum non modicum, ex quo collegium est domus communis toti universitati. 74 Vgl. die Beispiele bei S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 44f. sowie bei L OEW : Geschichte des Studententums (wie Anm. 1), S. 58f. 75 München, UA, D III, Nr. 1 f. 54r. (8. August 1474). Vgl. S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 44. 76 Vatikanstadt, Archivio Segreto Vaticano, Penitenzieria Ap., Reg. Matrim. et Div. 41, f. 317r- 318r. Vgl. dazu L UDWIG S CHMUGGE / A LESSANDRA M OSCIATTI / W OLFGANG M ÜLLER (Bearb.): Repertorium Poenitentiariae Germanicum, Bd. 7: Innozenz VIII. 1484-1492, 2 Bde.,Tübingen 2008, Bd. 1, S. 503f. 77 München, UA, D III, Nr. 1, f. 2r (7. Oktober 1472): […] prefati inquisiti nocte se contulerunt […] ad carcerem oppidi Ingolstatensis […] violenter extrahendi. 78 München, UA, D III, Nr. 1, f. 38r (3. Januar 1474). <?page no="88"?> Universität und Stadt 89 wurde. 79 1484 beschwerte sich die Universität beim Herzog über die schlechte Behandlung ihrer Angehörigen durch den Stadtrichter sowie die ihm unterstehenden Wachen und forderte die Beachtung der herzoglichen Verordnungen und Privilegien. Auslöser des Streits war wiederum das Verbot des nächtlichen Waffentragens, das die Knechte der Stadtwache dazu nutzten, Studenten zu schikanieren, ihnen Geld abzunehmen und sie zu verletzen. 80 Einen Höhepunkt erreichte diese spezifische Form der Auseinandersetzung 1487, als wiederum zwei Studenten im städtischen Kerker inhaftiert wurden. Diesmal nahmen ihre Standesgenossen das Recht nicht in die eigenen Hände, sondern belagerten den Rektor und das versammelte Konzil des studium generale, um sie zum Einschreiten und zur Verteidigung der universitären Privilegien zu bewegen. 81 Das geschah in aufgeheizter Atmosphäre, denn bereits 1473 hatte sich ein aufgebrachter Student zu der in den Gerichtsakten beschriebenen Bemerkung hinreißen lassen: Wie wenn man die Sturm uber die studenten lewtet, so wolt er an zehn enden feuer einlegen. 82 Hubert Freilinger sah darin in einem 1974 erschienenen Aufsatz die Präfiguration der studentischen Proteste des Jahres 1968: Die gegenwärtigen Unruhen an unseren akademischen Lehranstalten, die Aktivitäten ideologisierter studentischer Kader, die Betroffenheit der sog. Etablierten, die Hau-ruck-Aktionen der einen, die Law-and-Order-Taktiken der anderen, das sind epochenspezifische Phänomene mit einer beträchtlichen Präxistenz [sic! ] , die im Interesse aller zu ergründen wäre; das sind 79 Vgl. S EIFERT : Statuten- und Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 398f. Vgl. dazu auch folgende Regelung im Stiftungsbrief, ediert bei P RANTL : Geschichte 2 (wie Anm. 6), S. 30 Var. 539: Ob auch der rector ainichen oder mer studenten von ambts wegen vahen lassen und die von Ingolstat, das sy den und dieselben studenten in ir gefenncknuss annemen und ungeverlich verwaren sollten, ersuechen würde, so sollten sy solichs auf des rectors ersuechen von stonndan schuldig sein zethun […]. 80 München, UA, B V, Nr. 1, 1484, f. 1r-2v, abgedruckt bei A RNO S EIFERT (Hg.): Die Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Texte und Regesten (Ludovico Maximilianea. Quellen, Bd. 1), S. 34-36, hier S. 35f.: Und nam derselben knecht mutwil sovil überhannd, das sich der nymer verpergen mochte und das sy yetzo umb Galli eins nachts um die sybent stund zwayen studenten fräflich ein liecht ausleschten auf der gassen und in die schergen stuben in ein wueste krichen fuerten, darinn sy ein nacht und lenger dann einen halben tag in abwesen des richters gehallten wurden unverschult aller sachen, das erberen leuten, die sy die knecht fahen, wissentlich ist, sy dringen sy auch an umb gellt und schatzung, sich von in zuerledigen, ee sy die hineinfuerten. […] Synd sy von ainem genant Jorgen Illsung, des richters swager, und seiner geselschaft uberloffen, geslagen […] das alles wider der universitet freihait und sundre odnung durch ewr gnaden vatter loblicher gedechtnuss gemacht warlichen ist. Vgl. dazu P RANTL : Geschichte 1 (wie Anm. 6), S. 96. 81 Vgl. P RANTL : Geschichte 1 (wie Anm. 6), S. 96. 82 München, UA, D III, Nr. 1, f. 11r (15. Februar 1473). <?page no="89"?> M AXIMILIAN S CHUH 90 epochenunabhängige Erscheinungen, die sich - zum Teil wenigstens - aus wiederholbaren sozialen und politischen Faktoren ergeben. 83 Dieser Vergleich zwischen den Studentenprotesten des Jahres 1968 und dem Verhalten der vormodernen Studentenschaft in Ingolstadt basiert auf einem fundamentalen Missverständnis. Während die „68er-Generation“, über soziale Grenzen hinweg, die bestehende gesellschaftliche Ordnung - innerhalb eines demokratisch legitimierten politischen Systems - in Frage stellte und etwas Neues schaffen wollte, 84 war für die spätmittelalterlichen Studenten vor allem die situative Wiederherstellung bzw. Behauptung ständischer Privilegien die Motivation für gewaltsame Aktionen. Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass das deviante Verhalten der Studenten den häufig drohenden Konflikt zwischen Stadt und Universität um Privilegien und Gerichtsrechte ständig aktualisierte und beide Seiten zu Stellungnahmen zwang. 85 Denn die Normüberschreitungen der jungen Universitätsangehörigen, die unter anderem einem generationalen Gegensatz entsprangen, veranlassten die Stadt dazu, ihren Rechtsbereich zu überschreiten. Die Universitätsleitung auf der anderen Seite musste die rechtliche Sonderstellung der Korporation und ihrer Mitglieder der Stadt gegenüber behaupten. Wenn sie das nicht oder nicht schnell genug tat, übten die Studenten gezielt Druck auf Rektor und Konzil aus, um ihre Rechte zu wahren. Da Stadt und Universität diese Konfliktpotentiale nicht befriedigend abfedern konnten, schaltete sich die landesherrliche Seite wiederholt ein. Bereits im August 1472 stellte die herzogliche Verwaltung ein Schreiben aus, das die Festnahme eines bewaffneten Studenten von städtischer Seite rügte und die Rechte der Universität und des Rektors hervorhob. 86 1508 erließ 83 Vgl. F REILINGER : Ingolstadt (wie Anm. 5), S. 143, vgl. auch S. 155: „[…] daß also Zustände herrschten, die sich mit den negativen Erfahrungen unser Zeit durchaus vergleichen lassen, wenn man einmal davon absieht, daß damals eine ideologische Motivation für studentische Kraftmeier und Herostraten durchaus fehlte.“ 84 Vgl. etwa I NGRID G ILCHER -H OLTEY : Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA, München 2001, S. 61-94. 85 Ähnlich für Helmstedt F ÜSSEL : Umstrittene Grenzen (wie Anm. 25), S. 182f. 86 München, UA, D VIII, Nr. 1, Fasc. 1, f. 1r. abgedruckt bei Seifert: Die Universität Ingolstadt (wie Anm. 80), S. 29: Wir vernemen wie ir negst ainen studenten zu Ingolstat bey nacht angenomen, und als ir den dem rector in craft unnser freyheit der universitet daselbs gegeben geantwurt, habet ir desselben studenten were, so ir bey im betreten habet, zu ewrn handen genomen, in meynung euch die zubehallten. Darzu so vermaint ir von dem studenten, so ir also annemet, von einfurn in die gevencknuss und von den auslassen gellt zuhaben. Wo dem also, verstet ir selbs wol, das solhs wider unnser gemeltn freyheit were, und darumb schaffen wir mit euch ernstlich, das ir dem gemelltn studenten sein genomen were onentgelltnus wider geben, im noch anderen, die ir also furtter annemen wurdet, ir were nicht noch ainich gellt der gevencknuss halben von in nemet, sunder sy mitsambt der habe, so ungeverlich bey im betreten wurdet, dem rector auf lautt der gemellten freyheit on all beswerung uberantwurtet und darinn <?page no="90"?> Universität und Stadt 91 Albrecht IV., der Weise, Herzog des inzwischen wiedervereinigten Bayerns, schließlich eine Instruktion für eine aus acht so genannten Zirkern bestehende Stadtwache. 87 Diese sollte polizeiliche Gewalt über alle Einwohner Ingolstadts - es sey Student, Burger, Handwerksknecht, oder ander inwoner 88 - ausüben können. Die Hälfte der Finanzierung wurde von landesherrlicher Seite zugesagt. Allerdings scheiterte dieser Plan, da man sich über die Ausgestaltung des symbolisch aufgeladenen Akts der Eidesleistung nicht einigen konnte - ein zentrales Problem der Vormoderne. 89 Die Zirker hatten sowohl einem Vertreter des Herzogs, dem Rektor, als auch dem Bürgermeister einen Amtseid zu leisten. 90 Landesherrliche Seite und Stadt wollten die Eidesleistung im Rathaus vornehmen, wogegen der Rektor sich verwahrte. Er sah dadurch die rechtliche Stellung und das Ansehen seiner Korporation geschmälert, die ja päpstliche und kaiserliche Privilegien inne hatte und die selbst über Kleriker Gerichtsbarkeit ausüben konnte. 91 Eine pragmatische Lösung der Probleme wurde also durch die immense Bedeutung symbolischer Akte für die Konstitution und Inszenierung ständischer Rangordnung verhindert. 92 nicht anders handlet; des verlassen wir uns ganntz zu euch. Vgl. dazu P RANTL : Geschichte 1 (wie Anm. 6), S. 67. 87 München, UA, D VIII, Nr. 1, Fasc. 2, „Ordnung der Wachthuet“, abgedruckt bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 164-168. 88 „Ordnung der Wachthuet“, abgedruckt bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 165. 89 Vgl. M ARIAN F ÜSSEL / T HOMAS W ELLER : Einleitung, in: D IES . (Hgg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, S. 9-22, S. 18-20. 90 Ordnung der Wachthuet, abgedruckt bei M EDERER : Annales 4 (wie Anm. 35), S. 164: Fürs erst sollen und wollen wir mit sambt ainem Rate zu Ingolstadt acht Zircker und Wachter halten, die sollen uns als Landsfürsten, oder unserm Anwald, auch dem Rector unser Universitet, und Burgermaistrn und Rat in Lawt, wie vor auch geschehen ist, und hienach volgt, ainen Ayd gegen Gott sweren. 91 München, UA, D VIII, Nr. 1, Fasc. 3, f. 2v: Der Universitet Protestation an die Burger zu Ingolstatt betreffend die Ordnung der nachtwacht. Mehrere mit Korrekturen versehene Versionen des Konzepts eines Schreibens an Bürgermeister und Rat von Ingolstadt. Vgl. dazu S ANDBERGER : Rechts- und kulturhistorische Beiträge (wie Anm. 3), S. 26. 92 Vgl. etwa B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER : Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe, Forschungsperspektiven, Thesen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489-527. <?page no="91"?> M AXIMILIAN S CHUH 92 6. Fazit Die Konfliktlinien verliefen im spätmittelalterlichen Ingolstadt primär entlang der ständischen Grenzlinien zwischen den beiden rechtlich privilegierten Korporationen. Das zentrale Problem bildete der rechtliche Sonderstatus der Universitätsangehörigen, mit dem der eigene Gerichtsstand einherging. Erst hier gewinnt das Verhältnis eine generationale Dimension. Denn die studentische Devianz gegenüber universitärer und städtischer Obrigkeit scheint in dem Gegensatz von Jung und Alt zu wurzeln, wobei auch die graduierten Magister teilweise der ‚jungen‘ Seite zuzuordnen sind. Durch ihre Normüberschreitungen, die auch in zahlreichen inneruniversitären Angelegenheiten aufgezeigt wurden, aktualisierten die jungen Universitätsangehörigen ständig die Konfliktlage zwischen den Korporationen. Universität und Stadt mussten ihre Positionen klar definieren und behaupten. Die studentische Seite zwang im Extremfall sogar die Universitätsleitung, ihre eigenen wie auch die Interessen der Korporation durchzusetzen. Die generationale Komponente wird hier besonders deutlich. Der Gegensatz ‚alt‘/ ‚jung‘ erzeugte jedoch keine Veränderungen, sondern verstärkte die ständische Abgrenzung und stabilisierte dadurch die gesellschaftliche Ordnung. Dies ist ein wesentliches Charakteristikum, das bei der Beschäftigung mit Generationalität in der Vormoderne jenseits von genealogischen Ordnungsmustern zu beachten ist. Die Notwendigkeit der Rückbindung der Konzeption von Generation an andere soziale Ordnungsvorstellungen, wie Stand und Obrigkeit, lässt sich am Beispiel der vormodernen Stadt begründen. Das bedeutet jedoch nicht, dass soziologischen Generationenkonzepten ein heuristischer Wert für die Untersuchung vormoderner Gesellschaften abgesprochen werden soll. Allein eine genaue Betrachtung der zu untersuchenden Gesellschaftsstrukturen ist unabdingbar, um Fehlschlüsse zu vermeiden und zu schnell moderne Phänomene in vormoderne Gegebenheiten zurückzuprojizieren. Karl Mannheims Überlegungen sind in diesem Zusammenhang von großem Wert, da die Lagerung im sozialen Raum ein fundamentales Element seines Generationenmodells darstellt und damit allzu umfassende Generationenbewegungen ausgeschlossen werden, eine Konzeption, die bei der Untersuchung ständisch gegliederter Gesellschaften der Vormoderne anachronistische Deutungen zu verhindern hilft. <?page no="92"?> 93 Christian Kuhn Von Wohl, Ehre und Größe der Familie zu Generation Der Generationsdiskurs in Albertis Della Famiglia (1433/ 41) und in der Familiengeschichtsschreibung Christoph Scheurls (1542) 1. Die Geschichtstheologie und der Generationsdiskurs des Renaissancehumanismus Am Beginn der Neuzeit beschäftigten sich europäische Gelehrte zunehmend mit der Frage, wie der handelnde Mensch in einer von der Fortuna geprägten Welt bestehen kann. 1 Dieses gesteigerte Kontingenzbewusstsein des 15. und 16. Jahrhunderts wirkte sich in Form verstärkter Reflexionen über familiäre Werte aus. 2 Die seit dem 14. Jahrhundert zu beobachtende, von Italien ausgehende und ab dem 16. Jahrhundert auch zunehmend in Deutschland verbreitete schriftliche Familiengeschichtsschreibung war ein Mittel zur Bewältigung der als Unsicherheit wahrgenommenen Veränderungen. 3 Ausgehend vom Erfahrungs- und praktischen Handelswissen in den ricordanze italienischer Kaufleute gaben libri di famiglia und mitunter bebilderte Geschlechterbücher Orientierung in der als Zukunftsmodell verstandenen Geschichte der eigenen Familie. 4 1 Zu ‚Fortuna‘ als überkonfessionellem, theologisch-philosophischem Sinnproblem vgl. A LFRED J AKOB D OREN : Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Bibliothek Warburg. Vorträge 1922-1923, Leizig 1924, S. 71-144. 2 Familiengeschichtsschreibung stand in einem engen Wechselverhältnis mit Motiven der italienischen Moralistik, vgl. die Hinweise auf den moralistischen Hintergrund der libri di famiglia in H ERMANN K LEBER : Italienische Moralistik im europäischen Kontext, in: J OHANNES K RAMER / I GNAZIO T OSCANI (Hgg.): Italienische Sprache und Literatur an der Jahrtausendwende: Beiträge zum Kolloquium zu Ehren von Ignazio Toscani, Trier, 19. und 20. Januar 2001 (Romanistik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7), Hamburg 2002, S. 145-160. 3 A NTHONY G RAFTON : Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002, S. 230; C HRISTOF W EIAND : „Libri di famiglia“ und Autobiographie in Italien zwischen Tre- und Cinquecento. Studien zur Entwicklung des Schreibens über sich selbst, Tübingen 1993. 4 So G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 228f. <?page no="93"?> C HRISTIAN K UHN 94 Die erinnerten Vorfahren verkörperten bestimmte Tugenden, so dass Geschichtsschreibung zur Orientierungshilfe für ein erfolgreiches Leben werden konnte. Die textlich verfügbare Geschichte war so den Mitgliedern der Familien städtischer Eliten eine Lehrmeisterin nicht allein des politischen Lebens. Neben die Tugend trat nämlich ein weiteres zentrales Wertkonzept. Gleichzeitig wurde auch die fremdbestimmende Fortuna zu einem Teil der anthropologischen Grundfrage der beginnenden Neuzeit. Das Zusammenspiel beider Konstituenten historischer Prozesse ist kaum eindeutig zu charakterisieren. Der Renaissancehumanismus sah tugendhaftes Handeln und die von außen auf das Leben einwirkende Fortuna in einem Spannungsverhältnis zueinander. 5 Der stets gefährdete Fortbestand von Familien war durch richtiges proaktives und reaktives Handeln zu sichern. Aus der Reflexion beider Bezugsgrößen des Lebens entsprang der Generationsdiskurs der Renaissance. Dieser war im Kern eine beziehungsreiche Verflechtung der historischen Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die familiäre Herkunft, das von den Vorfahren ererbte Vermächtnis und die daraus resultierende, von den Nachfahren zu erhaltende Identität der sozialen Gruppe wurden als Zeithorizonte miteinander in Beziehung gesetzt. 6 Die Geschichte des Konzepts kann nicht mit der Geschichte des Wortes Generation ineinsgesetzt werden, sondern bedarf der hermeneutischen Erschließung. 7 Der Generationsdiskurs inspirierte eine Kontinuitätssemantik, die mit zeittypischem kulturellem Wissen, religiösen Sinnmustern und Ausdrucksformen angereichert und befrachtet werden konnte. Ihre Interpretation muss also die Ansätze der Diskursanalyse, der Historiographiegeschichte und der historischen Geschichtsreflexion zusammenführen, 8 um die Produktion von histo- 5 Auf dieser Unterscheidung beruhen die Beiträge in M ICHAEL M ATTHIESEN / M ARTIAL S TAUB (Hgg.): Gegenwarten der Renaissance 1. Handeln zwischen ‚virtu‘ und ‚Fortuna‘: Verfügbarkeit und Verantwortung, Göttingen 2004. 6 Vgl. hierzu C HRISTIAN K UHN : Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (Formen der Erinnerung, Bd. 45), Göttingen 2010. Die reformatorische Zeitreflexion analysiert eingehend M ARCUS S ANDL : Historizität der Erinnerung/ Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, in: G ÜNTHER O ESTERLE (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Formen der Erinnerung, Bd. 26), Göttingen 2005, S. 89-119. 7 Zur methodischen Einsicht vgl. O SKAR R EICHMANN : Sprache und Kulturwissen - ihre Darstellung im historischen Bedeutungswörterbuch, in: http: / / www.saw-leipzig.de/ forschung/ kommissionen/ sprachwissenschaft/ reichmann_1 [Zugriff am 5. April 2010]. Für eine darauf aufbauende historisch-semantische Untersuchung vgl. K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 379-480. 8 Über den aktuellen Stand in diesen Gebieten informieren S USANNE R AU / B IRGIT S TUDT : Einleitung, in: D IES . (Hgg.): Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historio- <?page no="94"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 95 rischem Sinn in einer Epoche zu skizzieren, die sich besonders intensiv ihrer selbst vergewisserte. 2. Quellen und Vorgehensweise Um das Problem zu skizzieren, eignet sich Leon Battista Albertis (1404- 1472) Schrift „Vom Hauswesen“ (Della Famiglia) in besonderer Weise. 9 Dieses Werk thematisiert das vielschichtige ökonomische Denken des Renaissancehumanismus, 10 den der in Genua geborene Sohn einer Florentiner Familie geradezu prototypisch verkörperte. Außer in literarischen Werken betätigte Alberti sich auch als Künstler und Architekt, so dass er die gelehrten Kontroversen seiner Zeit umfassend kannte und mitbestimmte. 11 In Della Famiglia wählte Alberti keine der üblichen Gattungen der Familiengeschichtsschreibung, sondern führte verschiedene Gattungen auf neue Weise zusammen. Der aus vier Büchern bestehende Dialog von Vertretern der Familie Alberti ist wahrscheinlich noch vor der Rückkehr der exilierten Alberti nach Florenz 1434 entstanden, das vierte Buch trat 1441 hinzu. 12 Alberti lässt die Dialoge in Padua um 1421 stattfinden. Die bemerkenswert plastischen Charaktere verkörpern eine Vielzahl von Positionen, die Alberti Werken der antiken Ökonomik - oder bereits den vermittelnden Werken anderer Humanisten - entnimmt und eigenständig zu neuem Sinn zusammenstellt und formt. 13 Die derart vielschichtig rezipierte antike ökonomische Literatur wird mit Blick auf die Frage herangezogen, wie Kontinuität über Generationswechsel hinweg zu sichern sei, ein Problem, dem eine monumentalisierende Familiengeschichtsschreibung Herkunftserzählungen entgegengrafie (ca. 1350-1750), Berlin 2010, S. 1-10; A CHIM L ANDWEHR : Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. 9 Eine konzise Einführung und Hinweise auf die beste Literatur bietet S ABRINA E BBERSMEYER / E CKHARD K EßLER / M ARTIN S CHMIESSER : Ethik des Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie im italienischen Humanismus (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen, Bd. 36), München 2007, S. 206-209. 10 Die komplexen Praetexte seit der Antike skizziert I RMINTRAUT R ICHARTZ : Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991, S. 60-64. Zur Breite philosophischer Ansätze im Florentiner Humanismus, mit Blick auf Alberti, vgl. E CK - HARD K ESSLER : Die Philosophie der Renaissance im 15. Jahrhundert, München 2008, S. 36-49. 11 Die zur Zeit thematisch am weitesten ausgreifende Darstellung zum Werk Albertis ist G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3). 12 E BBERSMEYER / K ESSLER / S CHMEISSER : Humanismus (wie Anm. 9), S. 207. Zweifel an dieser Version hegt mit Hinweisen auf den literarischen Charakter der Selbstauskünfte Albertis G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 221. 13 G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 241 <?page no="95"?> C HRISTIAN K UHN 96 gesetzt hätte. 14 Die vertraut wirkende Atmosphäre der Gespräche könnte den spezifischen Quellenwert dieses Werkes vergessen lassen, der nicht etwa in einer empirischen Übereinstimmung von Gesprächsinhalt und historischer Gesellschaft liegt. Vielmehr zeigt die kritische Diskussion der Einzelpunkte, dass das Florenz des 15. Jahrhunderts, für das die Dialoge geschrieben worden waren, eine Gesellschaft im Wandel war, in der die traditionellen Werte durch ihre Relativierung sichtbar wurden. Aus diesem Grund sollte „Vom Hauswesen“ auch nicht in die interpretatorische Dichotomie von nostalgischem Rückblick und programmatischem Manifest gepresst werden. Ob Alberti sich mit dem Werk stärker in die Familie integrieren wollte, mag in Bezug auf die Generationenthematik ebenfalls dahin gestellt bleiben. 15 Entscheidend ist, dass die Perspektive des literarischen Textes, der die Normen verschiedener Gattungen reflektiert, ironisiert und teilweise gegen sie polemisiert, ihn zu einem besonders geeigneten Ausgangspunkt macht. 16 Die von Alberti gestellten hausökonomischen Fragen wurden durch den humanistischen Historiographen Dr. Christoph Scheurl (1481-1542) auf bemerkenswerte Weise rezipiert. 17 Als Autor zahlreicher genealogischer Arbeiten zu Nürnberger Patrizierfamilien widmete Scheurl diese Familiengeschichten den betreffenden Geschlechtern mit Verweisen auf Kontinuitätsfragen und den Generationsdiskurs. 18 Eines seiner letzten derartigen Werke, die Geschichte der bedeutenden Nürnberger Familie Tucher, erhielt 1542 eine besonders ausführliche Widmung. Darin positionierte er das Geschlecht der Tucher in einem Feld, in dem lokale Patriziergeschlechter unter Rückbezug auf die jeweilige familiäre Vergangenheit intensiv um Ehre und Reputation konkurrierten. Diese Ausführungen transzendieren die bloßen genealogischen Daten und erschließen (geschichts)theologische Dimensionen, die das Wort Generation in einem auf die Zukunft gerichteten Sinn von erfolgreicher Reproduktion, Vererbung und Kontinuierung verwenden. Diese Sinngebung wurde auch mit Blick auf den Generationsdiskurs rezipiert, wie die 14 Vgl. für diese systematischen Aspekte B EATE K ELLNER : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 131-137 und passim. 15 So G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 223. 16 Der Charakter der Schrift ist in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur kontrovers im Hinblick auf werkexterne Maßstäbe diskutiert worden, vgl. etwa die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Kategorisierungsversuche durch Max Weber und Werner Sombart: G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 219f. Dagegen soll hier vielmehr der zeitgenössische Maßstab der Bewertung von Familiengeschichte in den Blick genommen werden, so wie er von Alberti reflektiert wird. 17 Vgl. W ILHELM G RAF : Doktor Christoph Scheurl von Nürnberg, Leipzig 1930, sowie demnächst der angekündigte Beitrag von F RANZ F UCHS : Christoph Scheurl, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York vorauss. 2011. 18 Vgl. dazu K UHN : Generation (wie Anm. 6), vor allem S. 79-89. <?page no="96"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 97 ca. 50 Jahre später von der Familie Tucher zusätzlich in Auftrag gegebene, bemerkenswert ausführliche theologische Vorrede zeigt. Diese erscheint geradezu programmatisch nach den semantischen Bereichen von Generation im 16. Jahrhundert aufgebaut zu sein. Diese mehrschichtige Rezeption und Anverwandlung des Generationsdiskurses in Nürnberg ist in ihre zeitgebundenen Bezüge auf das lutherische Christentum aufzuschlüsseln. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Reflexion über den vormodernen Generationsdiskurs mit Blick auf die historische Semantik. Abschließend ist zu resümieren, welche Verbindungen mit dem Generationsdiskurs in Della Famiglia bestehen. 3. Wie eure Tugend, so euer Glück. Der Generationsdiskurs bei Alberti Albertis zum nostalgischen Einfühlen einladender Text trägt pseudo-autobiographische Züge, doch ist dieser Aspekt den didaktischen Zielen unterzuordnen. 19 Zwar herrscht über die literarische Motivation Albertis, seine mit dieser Schrift verfolgten und auch von ihm selbst thematisierten familiären Interessen, keine Einigkeit in der Forschung. Sicher ist jedoch ein vordergründiges Hauptziel des Werkes, die Kontinuität von Familie als sozialer Existenzform überhaupt und der Familie Alberti im Besonderen zu sichern. Damit ist gleichermaßen eine erzieherische Reproduktion wie auch die ‚demographische Gesundheit‘ der Familie gemeint. 20 Das dritte der vier Bücher enthält eine Widmung, in der der Autor die Intentionen der einzelnen Bücher bezeichnet. 21 So habe das erste Buch Beziehungen zwischen Jung und Alt, die Erziehung und die der Jugend gebotene Einstellung zum Alter behandelt. Zusammen mit dem zweiten Buch, das das chronologisch spätere Lebensstadium der Heirat behandelt, stehe es dem dritten Buch gegenüber als einer Anleitung zum Haushalten. Darin wird normativ ein Hausvater vorgestellt, dessen Werturteile zu verschiedensten Fragen der Haushaltsführung behandelt werden. Das vierte Buch, das der Erzähler Leon Battista erst später an seine Familie gerichtet haben will, behandelt nicht mehr die stadtbürgerliche, sondern eine eher am höfischen Leben orientierte Verhaltens- und Zivilisationslehre. 22 19 G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 241. 20 Ebd., S. 224. 21 L EON B ATTISTA A LBERTI : Über das Hauswesen (Della famiglia), übersetzt von W ALTHER K RAUS , eingeleitet von F RITZ S CHALK , Zürich/ Stuttgart 1962, S. 195-200. 22 Vgl. zum vierten Buch M ARIA T ERESA R ICCI : De la famille marchande à la cour princière: I libri della Famiglia de Leon Battista Alberti, in: Renaissance and Reformation 25/ 2 (2001), S. <?page no="97"?> C HRISTIAN K UHN 98 Schon der Inhalt aller vier Bücher wird jedoch - typisch für die Geschichte der Renaissanceforschung 23 - unterschiedlich interpretiert. 24 Unzweifelhaft zählten die Kontinuitäts- und Überlebensfrage der Familie als Zeitkörper und reale soziale Gruppe zu den zentralen Themen des Werks, wie bereits die Problemexposition zeigt: Ich habe mich oft gewundert, wenn ich bedachte, dass sowohl nach den Geschichten des Altertums und der Erinnerung alter Leute bei uns, als auch nach dem, was man in unseren Tagen wie anderwärts, so in Italien erleben konnte, nicht wenige Familien lange Zeit hindurch auf der Höhe des Glückes und Ruhmes standen, die jetzt dahingeschwunden und erloschen sind […] mich peinigte die Frage, ob denn wirklich das Glück die Macht habe, sich wider die Menschen so unbillig und tückisch zu erweisen […] Geschlechter die mit tüchtigen Männern wohl versehen waren und an allem, was die Menschen schätzen und begehren […] von einer großen Zahl von Vätern auf ganz wenige Nachkommen zu verringern […]. 25 Für sich genommen überraschen diese Zeilen nicht, denn Fortuna und Tugend waren bereits länger das zentrale Gegensatzpaar des politischen Denkens der Florentiner Renaissance. Bereits in der christlichen Tradition war seit Augustinus häufig die Vergänglichkeit, Sterblichkeit und Endlichkeit des ethisch orientierungsbedürftigen Menschen reflektiert worden; im Florenz der Renaissance waren diese Pole geradezu topisch geworden. 26 Alberti erhebt diesen Gegensatz nun zum Ausgangspunkt der Geschichtsreflexion, wobei er die antiken Beispiele der Fabier, Decier, Druser, Gracchen und Marceller als Beispiele heranzieht. Er macht deutlich, dass seine Sorge sich nicht nur auf die Ehre der Familie und deren möglichst dauerhafte Erinnerung richtet, sondern gleichzeitig auch auf ihr leibliches Aussterben: Alle diese Geschlechter sind nicht bloß in ihrer Macht und Größe, sondern in ihrem leiblichen Bestand vergangen und verschwunden, und nicht bloß ausgestorben, sondern ihr Name selbst, ihre Überlieferung, jede Erinnerung an sie findet sich fast gänzlich zerstört und ausgelöscht. 27 Die Feststellung legt bereits nahe, dass das Aussterben für 55-65. Dieses war als Beitrag zu einem Wettbewerb geschrieben worden, so F RITZ S CHALK : Einleitung, in: A LBERTI : Hauswesen (wie Anm. 21), S. VIII. 23 C HRISTIAN K UHN / H EINRICH L ANG : Die mittelalterliche Stadt der Romania in der Kulturgeschichtsschreibung: Jakob Burckhardt, Johan Huizinga, Hans Baron als Quellen, in: R EMBERT E UFE / S ABINE H EINEMANN (Hgg.): Stadt und Land in Mittelalter und Renaissance in der Romania (Mittelalter und Renaissance in der Romania, Bd. 3), München 2010 [im Ersch.]. 24 G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 218-221. 25 A LBERTI : Hauswesen (wie Anm. 21), S. 3. 26 Vgl. zur Polarisierung von virtù und fortuna B IRGER P. P RIDDAT : Unternehmer in Renaissancerepubliken: Der Fall Alberti. Proportionierte Haushaltstugenden als Komplementärhaltung für abenteuerliche Handelsgeschichte, in: M ATTHIESEN / S TAUB (Hgg.): Gegenwarten der Renaissance (wie Anm. 5), S. 151-179. 27 A LBERTI : Hauswesen (wie Anm. 21), S. 3. <?page no="98"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 99 Alberti nicht allein in der Verantwortung der Familien gelegen hat. Tatsächlich legen einzelne Belege die Annahme nahe, dass für Alberti das Glück zwar präsent bleibe, jedoch nicht in der Lage sei, uns irgendeine, sei es die kleinste, Tugend zu rauben, und dass wir anderseits die Tugend als hinreichend erachten müssen, alles Hohe und Erhabene zu erreichen. 28 Diese Feststellung wird weiter zugespitzt auf die Sentenz Klugheit vermag mehr als irgendein Zufall, 29 so dass kaum mehr ein Zweifel zu bleiben scheint, dass hier eine stoische Tugendethik gemeint ist. 30 Die bisherige Forschung hat sich Alberti an dieser Stelle von Machiavelli her angenähert. Dieser hatte mit seiner Schrift Il Principe beabsichtigt, die tatsächlich in der Politik beobachtbaren Erfolgsstrategien zusammenzustellen, während Fortuna als eine - im Sinne des Stoizismus - schlechthin unkontrollierbare, und daher in ihren Auswirkungen auch emotional zu ignorierende, Größe dargestellt wurde. 31 Ähnliche Annahmen hat die Albertiforschung in die Schrift „Vom Hauswesen“ projiziert. Auch hier habe die Tugend als Faktor in der Familiengeschichtsschreibung dominiert, Alberti wurde geradezu „Tugendmodernisierung“ unterstellt. 32 Damit wird Alberti als Wegbereiter Machiavellis interpretiert; sein Werk trage Züge einer mentalitätsgeschichtlichen Modernisierung, die wirtschaftlichen Konsequenzen seines Denkens wirkten sich weitreichend auf die alteuropäische Ökonomik aus und rührten unter anderem vom verstärkten Engagement der Alberti im Fernhandel her. Die europäische Expansion und ihre ökonomischen Folgen hätten die geographische Welt immer stärker als einen Raum voller Gestaltungschancen erscheinen lassen. Aus einer solchen Perspektive musste die Frage Albertis, ob Geschlechter durch das Schicksal untergingen, bloß rhetorisch erscheinen. Denn es war gewissermaßen vorgegeben, dass allein richtiges Verhalten die Geschlechter am Leben erhielt. Für diese Tugendorientierung spricht der Erzählrahmen, für den ein Dialog verschiedener Charaktere am Totenbett des 1421 verstorbenen Vaters Lorenzo gewählt wurde. Die Frage der Kontinuität der Familien wird damit in einer familiären Krisensituation situativ verortet. In der hierarchischen Kommunikationssituation zwischen dem sterbenden Vater und den das Vermächtnis antretenden Söhnen ist der Dialog nicht auf das Finden von 28 Ebd., S. 10. 29 Ebd., S. 11. 30 Zur Aufnahme stoischen Denkens in der frühen Neuzeit vgl. G ÜNTER A BEL : Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/ New York 1978. 31 P ETER S CHRÖDER : Niccolo Machiavelli, Hamburg 2004, S. 40. 32 Auf den älteren Ansatz von Sombart legt sich fest P RIDDAT : Haushaltstugenden (wie Anm. 26), S. 153, 161. <?page no="99"?> C HRISTIAN K UHN 100 Wahrheit ausgerichtet. Vielmehr sollen bereits festgestellte Inhalte vermittelt und gegen Einwände verteidigt werden. Der inhaltliche Akzent liegt weniger auf der Reflexion als auf der dogmatischen Feststellung der Faktoren, die die Geschichte der Familie beeinflussen. Schon der Titel Della Famiglia wirkt programmatisch; es geht nicht etwa um den Einzelnen als Renaissanceindividuum (etwa im Sinne der Interpretationen Jakob Burckhardts), sondern um dessen Beziehungsnetzwerk, den familiär-genealogischen Zeitkörper mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunftserwartung. Die Interpretation bleibt in vielen Fällen strittig, denn nur selten lassen sich Aussagen in den Dialogen wirklich zweifelsfrei festhalten wie im zweiten Buch in der Aussage Lionardos: Folglich können wir in unserer Erörterung vier Hauptregeln als sichere und feste Grundlagen festsetzen, aus denen alle anderen erwachsen, die sich an sie anschließen. Ich nenne sie: Die Zahl der Köpfe der Familie soll nicht abnehmen, sondern sich vervielfachen; das Vermögen soll nicht schwinden, sondern zunehmen; jede Schädigung des Rufes soll man vermeiden, den guten Namen lieben und ihm nachtrachten; […] Neigung und Freundschaft erwerben, steigern und bewahren. 33 Diese Aussagen sind als eine Strategie für einen städtisch-bürgerlichen Erfolgs- und Reputationswettbewerb gedeutet worden. 34 Die Zahl der Familienmitglieder, ihr Vermögen, ihr Ruhm und das Verwandtschaftsnetzwerk sollen alle gleichermaßen wachsen, damit in der Folge auch die Reputation der Familie, das etwa für Kreditgeschäfte und politische Aufgaben wichtige Vertrauen wachsen. Tugend ragt also möglicherweise als das erstrangige Reputationskriterium hervor, 35 sie wird geradezu verherrlicht, 36 während andere Faktoren verabschiedet werden. War jedoch Alberti tatsächlich der moderne Theoretiker, der die antiken Autoritäten aufnahm, kategorisierte und zu einer stetigen familiären Willenserneuerung zusammensetzte? 37 Eine solche Einordnung lassen die Dialoge im ersten Buch nicht zu, auch wenn man sie nur als mit familiärem Personal bekleidete Thesendialoge verstanden hat, 38 die Positionen aus den allgemeinen humanistischen Diskursen über Fragen von Erziehung und Haushalt auch zu politisch nützlichen Zwecken thematisieren. Die Dialoge ermöglichen es vielmehr, auch Kontroversen aufzuzeigen, ohne eine Entscheidung 33 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 131f. 34 Vgl. dazu S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. XX. 35 So P RIDDAT : Haushaltstugenden (wie Anm. 26), S. 178. 36 S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. XXI. 37 Ebd., S. XXVI. 38 So zunächst ebd., S. XVI, während Grafton Ansätze unterstreicht, die den lebhaft Diskutierenden eine erkenntnisbezogene Eigenständigkeit beimessen, vgl. G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 221, 225. <?page no="100"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 101 zu suggerieren. Zwar herrscht ein gewisser Tugendoptimismus vor, doch erscheint dieser an keiner Stelle blind für die Gefahren des Glücks. 39 Eines der Gegenbeispiele ist die Äußerung Lionardos, dass auch ein reicher und vornehmer Vater seinen Sohn nicht nur standesgemäße Fähigkeiten erlernen lassen solle, sondern zusätzlich auch irgendein Handwerk, durch das er von der Arbeit seiner Hände anständig leben könnte, wenn eine missgünstige Wendung seines Glückes eintreten sollte. 40 Im Folgenden werden die Wechselfälle des Glücks als dominierender, unberechenbarer Lebensfaktor dargestellt. 41 Dem Lebensstilkonzept der städtischen Elite in Florenz wurde es sicher nicht gerecht, dass auch nichtadlige Karrieremuster im Blick behalten werden sollten, wie Alberti fordert: Jede Betätigung, die sich mit der Ehre verträgt, steht einem adligen Sinn nicht übel an. 42 Damit wird die Vergänglichkeit materieller Güter reflektiert, die weiterhin als bestimmende Größe angenommen wird, denn nichts erweist sich als so zerbrechlich wie der Reichtum 43 - eine Feststellung, der in der ökonomischen Hauslehre besonders grundlegende Bedeutung zukommt. Im Grunde präsentiert Alberti Elemente der stoischen Affektenlehre, 44 insbesondere wenn er von der Jugend spricht: er kontrastiert die Konstanz der Vernunft und den Wechsel der Gefühle, ebenso das Männlichkeitsgefühl, das das weiche Weibliche abwehren sollte. 45 Es ist die Rede von tierischer Leidenschaft 46 und davon, dass es falsch sei, das zu fürchten, welches ohnehin nicht geändert werden könne, also im Sinne der stoischen Affektenlehre der letztendlich von jedem einzelnen zu erwartende Tod. 47 Durch diese Gefühlsbildung soll Tugend als in sich vollendete und glücklich hervorgebrachte Natur gesichert werden. 48 Bildung als standesgemäße Bildung steht immer Bildung als einem in sich ruhenden Wert gegenüber. Er umfasst nicht nur Erfolg verbürgende historische Exempla aus der Literatur und Geschichtsschreibung, sondern verschafft den Jungen durch Arbeit in der Weise ihrer Vorfahren […] selbst die größte Befriedigung und ziert das Leben des Men- 39 Dies ist eine Schwierigkeit der behutsamen Interpretation durch S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. XXVI. 40 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 95. 41 Ebd., S. 95. 42 Ebd., S. 94. 43 Ebd., S. 67. 44 Dagegen vermerkt Schalk einen konsistenten Einfluss epikureischer Gedanken im Gesamtwerk von Alberti, vgl. S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. IX. 45 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 80. 46 Ebd., S. 46. 47 Ebd., S. 48. 48 Ebd., S. 78. <?page no="101"?> C HRISTIAN K UHN 102 schen. 49 Die hier - vor einem stoisch anmutenden Hintergrund - anklingende epikureische Lehre zeigt, wie stark Text und Zitat ineinandergreifen, so dass zwar Intertextualität vor allem zu antiken Autoren festgestellt, diese aber im Grunde zu einem eigenständigen Sinnganzen - zumal in offener Dialogform - zusammengesetzt wird. 50 Daher würde eine eindeutig mentalitätsgeschichtliche Zuordnung des Werks die Annahme einer dem Autor vorschwebenden und daher seinem Werk programmatisch zu Grunde liegenden Ideologie erfordern. Eine in diesem Sinne wirtschaftsgeschichtliche Lesart von Della Famiglia wird jedoch auch ironisch unterlaufen. Sicher nicht frühkapitalistisch lässt sich etwa die Bemerkung deuten, dass alle, scheint es, an Erwerbssinn [zunehmen], jedes Gespräch nach Wirtschaft [schmeckt], jeder Gedanke auf Gewinn abgerichtet [ist], jede Tätigkeit sich darin [erschöpft], Reichtümer aufzuhäufen. Ich weiß nicht, ob dies in uns Toskanern eine Wirkung des Klimas ist. 51 Sicherlich wird hier die zunehmende Ökonomisierung der Florentiner Lebenswelt erkannt. Dies geschieht allerdings in der Form einer dezidierten Außenperspektive, nicht zuletzt weil der materielle Reichtum sowohl dem Vererbenden als auch dem Erbenden leicht wieder genommen werden kann. 52 Auch dient die Vergrößerung der Familie nicht etwa ökonomischen Zwecken oder der sozialen Vernetzung allein. Vielmehr lebe von Natur aus in den Vätern ich weiß nicht was für ein übermächtiger Drang, irgendein Verlangen Kinder zu haben und aufzuziehen und dann die Freude zu erleben, in ihnen gleichsam das eigene Ebenbild ausgeprägt zu sehen, in dem man alle seine Hoffnungen vereinigt, an dem man erwartet, im Alter eine feste Stütze zu haben; 53 Fortpflanzung sei geradezu ein Muss der Natur. 54 Dieses Gesetz der Familienbildung lässt sich vor allem an den Vorfahren ablesen. Daher wird aus ethischen Gründen gefordert, dass jeder einzelne junge Mann den Rat dieser vortrefflichen Alten vergegenwärtigt und die ausgezeichneten Sitten unserer Vorfahren aus dem Hause Alberti [sich] eingeprägt [hat] […] ihr werdet an ihnen sehen, auf welche Weise die Familie sich vervielfacht. 55 Die Erkenntnisse der familiengeschichtlichen Genealogie, eine klassische historia magistra vitae, stimmen mit der natürlichen Disposition überein und sollten somit Teil der anerzogenen Kultur werden. Die Semantik der idealen Familie ist hier ein ‚Inbegriff‘ sowohl der geschichtlichen als auch der natür- 49 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 86f. 50 S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. XVII. 51 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 50. 52 Ebd., S. 49. 53 Ebd., S. 37. 54 Ebd., S. 38. 55 Ebd., S. 13. <?page no="102"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 103 lichen Welt. Der genealogische Zeitkörper der Familie beruht auf einer Kombination von inneren und äußeren Faktoren. Die historische Existenz der Familie resultiert aus Handlungen und der zu erhoffenden Fortuna. 56 Eine Besonderheit des Werkes Albertis ist, dass christliche Elemente gänzlich zu fehlen scheinen, 57 obwohl eine theologische Sinnebene nahegelegen hätte. Wenn die Dialoge auch deutlich von mehreren Facetten des Wirtschaftsdenkens inspiriert erscheinen, so ist dieser Diskurs jedoch keinesfalls konsistent. Der Generationsdiskurs wird in dieser Schrift nicht nur zum Tragen gebracht, sondern auch von der Figur des wunschlos glücklichen, obwohl unverheirateten Lionardo als bestimmende Lebensregel thematisiert: Ihn störe sehr, dass Verwandte ihn zu verkuppeln versuchten mit der Vorhaltung, die von der ursprünglichen Natur selbst eingesetzte Gemeinschaft, die Erzeugung von Erben und Nachfolgern, das Wachstum und die Zunahme der Familie nicht zu fördern und sich - wie seine Vorfahren - gebührend an der Mehrung der Familie prokreativ zu beteiligen. 58 Zusammenfassend lässt sich zu Alberti sagen, dass der Geschichte der Familie, der Herkunft und der tradierten Tugend der noch historisch fassbaren Vorfahren ein hoher Wert beigemessen wird. Keinesfalls wird die Tugend in frühkapitalistischer Weise instrumentalisiert, denn wer Tugend in sich hat, bedarf nur sehr weniger anderer äußerer Dinge. 59 Unkontrollierbare Mächte, die an keiner Stelle spezifiziert werden, 60 deren Gesetze gleichwohl zu befolgen seien, sowie die blinde Macht des Schicksals bleiben vollgültige Faktoren, 61 die die Familiengeschichte bestimmen. 56 Vgl. für eine Exposition des Problems U LRIKE N AGENGAST / M AXIMILIAN S CHUH : Natur vs. Kultur? Zu den Konzepten der Generationenforschung, in: H ARTWIN B RANDT / M AXIMILIAN S CHUH / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Familie - Generation - Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien, Bd. 2), Bamberg 2008, S. 11-29, http: / / www.opus-bayern.de/ unibamberg/ volltexte/ 2008/ 151/ [Zugriff 6. April 2010]. Zur Semantik, die nicht mit dem Wort ‚Generation‘ ineinsgesetzt werden kann, vgl. O HAD P ARNES / U LRIKE V EDDER / S TEFAN W ILLER : Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. 57 S CHALK : Einleitung (wie Anm. 22), S. XVII. 58 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 44. 59 Ebd., S. 32. 60 Ebd., passim. 61 Die Blindheit des Schicksals, wie Alberti sie darstellt, müsste genauer interpretiert werden im Hinblick auf die Unterscheidung von Zufall und ‚Vorsehung‘. Eine derartige Fragestellung zu einem satirischen Dialog im Stile Lukians von Samosata, in dem zwischen divina voluntas und fortuna unterschieden wird, bietet B ERND H ÄSNER / A NGELIKA L OZAR : Providenz oder Kontingenz? Antonio Galateos Eremita und die ‚Lukianisierung‘ des religiösen Diskurses, in: K LAUS W. H EMPFER (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs (Text und Kontext, Bd. 24), Stuttgart 2006, S. 13-58, 40. <?page no="103"?> C HRISTIAN K UHN 104 4. Das historische Wort Generation, das Konzept ‚Generation‘ und die Alterität seiner Semantik Der Schrift „Vom Hauswesen“ unterliegt somit über die in Gegensätzen vorgetragenen Positionen hinweg die historische Semantik von Generation. 62 Seine zeitspezifische Bedeutung wird von einer kulturgeschichtlichen Forschung untersucht, die das moderne Generationskonzept als eine semantisch reduzierte Kategorie charakterisiert, die einseitig in die Zukunft gerichtet ist. Damit wird dezidiert hinter die seit der Französischen Revolution erfolgte Futurisierung zurückgegangen. Generation im historischen Sinne ist dann nicht mehr modern auf die Beschreibung von Wandel zu verengen, die vormoderne Semantik von Generation besitzt als Sinnkategorie also in hohem Maße historische Alterität. Generation, so Weigel, habe jedoch immer vielfältige Konnotationen zugelassen, die in jeweils unterschiedlichen Medien aktualisiert werden konnten. Die verschiedenen semantischen Bereiche, in die sich der Generationsdiskurs analytisch gliedern lässt, sind stets ineinander verwoben. Für die Analyse genealogischer Diskurse des Humanismus lassen sich drei relevante Sinnbereiche idealtypisch aufgliedern. Die wohl nächstliegende Bedeutung ist (1.) die schon im Wort erkennbare Verknüpfung von Schöpfung, Entstehung und Herkunft. Hierunter wird man das prominente Auftreten von sagenhaft frühen Vertretern der Familie (Spitzenahnen), aufwendig durch Gutachten beglaubigte Herkunftslegenden adeliger und bürgerlicher Familien, etwa aus den Heerscharen Alexanders des Großen oder aus dem mittelalterlichen Rittertum, subsummieren dürfen. Neben dem Ursprung nimmt (2.) in der Semantik von Generation die biologische Reproduktion einen wichtigen Platz ein. Die kontinuierliche Abfolge der Generationen im Zeitkörper eines Geschlechts wird also auch im Zusammenhang mit der Geburt und Erziehung von Kindern - oder deren Abwesenheit - gesehen. Eine weitere Bedeutungsebene ist (3.) die der Identität der sozialen Gruppe. Sie ist engstens mit den beiden ersten Feldern verbunden und leitet sich im Grunde von ihnen ab. Denn Identität entsteht in der vormodernen Genealogie aus einer Wahrnehmung, die zutiefst von der Vergangenheitsdeutung bestimmt ist, die im Zusammenspiel von „Abstam- 62 Die Arbeiten von Sigrid Weigel umkreisen dieses vormoderne Konzept mit häufigen Ausblicken auf moderne Verwandlungen, wobei Kritiker sich vor allem an der ‚fuzziness‘ der diskursgeschichtlichen Analysen rieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Geschichte des in der Familienhistoriographie zu einer bestimmten Zeit ‚Sagbaren‘ nicht immer das Wort mit dem Konzept ineinssetzen kann und die Leistung des Ansatzes gerade im sprachlich-atmosphärisch verkörperten Sinn gesehen werden sollte, vgl. S IGRID W EIGEL : Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur und Naturwissenschaften, München 2006, passim. <?page no="104"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 105 mung und Erbschaft, Prokreation und Tradition, Herkunft und Gedächtnis“ konstruiert wird. 63 Die Tragkraft dieses semantischen Feldes illustriert der Artikel Genero aus einem Lateinwörterbuch für Sprecher des Deutschen im 16. Jahrhundert, dem Dictionarium Latinogermanicum von Petrus Dasypodius. 64 Es wurde zwischen 1535 und 1709 in 51 textlich nur leicht variierenden Ausgaben nachgedruckt; als ein konservativ den Sprachwandel des Deutschen nachzeichnendes Medium besitzt dieses Wörterbuch somit eine besondere diskursgeschichtliche Aussagekraft. Dabei interessiert hier das Wortfeld der deutschen Übersetzung lateinischer Vokabeln und Wortfamilien weniger als Spiegel der Latinität. Im Vordergrund steht die deutschsprachige Wiedergabe des Wortsinns, die im Sinne des hermeneutischen Zeithorizonts Gradmesser für das zeitspezifische Kulturwissen ist. 65 Der vorgeführte Wortgebrauch, die angegebenen Komposita, Substantivierungen und präfigierten Verben folgen den semantischen Differenzierungen, in denen im Deutschen des 16. Jahrhunderts gesprochen wurde. Insbesondere sind die Bereiche des Gebärens, der Herkunft aus einer sozialen Schicht und des gesellschaftlichen Status miteinander verknüpft, wie das Lemma Genero zeigt: Genero, as, Jch gebier. Vnde generatio, Ein geberung. It genus, Ein geschlecht/ oder das harkommen […] Alienigena, Eins frembden geschlechts harkommens. […] generosus, a, um, Edel/ eins g ten harkommens/ wolgebornwol geboren/ dapffer manlich. Generositas, Adelkeit. 66 Dieser semantische Komplex wird auch in der Form eines Mangels an gutem Herkommen ausgedrückt, wobei eine dem Inhalt eigentlich unangemessene Selbstaussage fällt, die dennoch im Gegenlicht den positiven Sinn der Semantik aufzeigt: Natura nobis amorem nostri ingenerauit, Die natur hat vns vnserselbs liebe angeborn. Progenero, Jch gebir weyter/ ich mehre das geschlecht. […] Degenero, Jch schlach auß dem geschlecht/ oder art. Degener, Vnedel vnartig/ schlecht. 67 Dieser mehrschichtigen, gleichzeitig theologischen, biologischen und sozialen Semantik wird die Diskursgeschichte am besten durch eine Trennung zwischen Quellensprache (dem Wort generatio) und dem wissenschaftlichen Konstrukt Generation gerecht. Der Generationsdiskurs ist auch im Wort generatio entfaltet, kann jedoch darüber hinaus hermeneutisch aus größeren Sinneinheiten erschlossen werden, die - darin liegt eine Erweiterung der älteren Lexiko- 63 W EIGEL : Genea-Logik (wie Anm. 62), S. 109. 64 J ONATHAN W EST (Hg.): Dasypodius’ Dictionarium Latinogermanicum (Editiones Electronicae Guelferbytanae, Nr. 3), Wolfenbüttel 2007, Permalink: http: / / diglib.hab.de/ edoc/ ed000008/ start.htm [Zugriff am 15. April 2010]. 65 R EICHMANN : Kulturwissen (wie Anm. 7). 66 W EST (Hg.): Dictionarium (wie Anm. 64). 67 Ebd. <?page no="105"?> C HRISTIAN K UHN 106 graphie - nicht unbedingt auf das Wort beschränkt sind. 68 Bedeutungseinheiten stehen also ausdrücklich nicht - wie etwa in programmatischen Schriften Kosellecks - in einem Spiegelverhältnis zu einer dahinter liegenden Realität, sondern sind wissenschaftliche Konstrukte, die hermeneutisch auch anders verfasst werden können. Die Sprache als das Material der Quellen liegt nur in konkreten Sprachhandlungen vor. Zusammenfassend erzeugt historische Semantik also stets wissenschaftliche Konstrukte, die sich heuristisch auf quellensprachliche Bedeutungen beziehen. 69 Albertis Werk präfiguriert den Generationsdiskurs, ohne dass dieser bereits dem Wort nach vorkommt. Der humanistische Autor hatte die Absicht, auf die Erziehung und damit letztlich auf die politische Kultur seiner Zeit einzuwirken; wenn er Mitglieder seiner Familie in die Darstellung seiner Ziele einbezog, so beabsichtigte er damit, die Überzeugungskraft des Inhalts zu erhöhen. „Vom Hauswesen“ hat somit Fragen aufgeworfen, die durchaus geeignet waren, auch von der deutschen Familiengeschichtsschreibung rezipiert zu werden. 5. Der Generationsdiskurs in Familiengeschichten des Humanisten Christoph Scheurl (1481-1542) Die deutsche Familiengeschichtsschreibung ist auf die Eliten süddeutscher Reichsstädte konzentriert. In einigen Reichsstädten wie Frankfurt, Augsburg und Nürnberg ist eine besonders aufwändige historiographische Repräsentation der relativ geschlossenen Führungskreise der Geschlechter zu konstatieren. Auf diese reagierten dann Aufsteigerfamilien in der Form von bebilderten Familiengeschichten. Die ‚Geschlechterbücher‘ im engeren Sinne wurden insbesondere in Nürnberg künstlerisch sehr aufwändig gestaltet. Die patri- 68 Die Kritik an der Methodik der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ formuliert implizit von Seiten der Lexikographie das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch. Als methodische Alternative wird die semantische Erschließung älterer Sprachstufen des Deutschen dort konsequent als ein hermeneutischer Prozess verstanden, der sich an historischen Sprechakten abarbeitet und diese metasprachlich nach angesetzten semantischen Einheiten durchgliedert, vgl. O SKAR R EICH - MANN : Lexikographische Einleitung, in: R.R. A NDERSON / U LRICH G OEBEL / O SKAR R EICHMANN (Hgg.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Einführung. aäpfelkern, bearb. von O SKAR R EICHMANN , Berlin/ New York 1989, S. 10-164. 69 Dieses prinzipiell einleuchtende Verfahren führt also dazu, dass der Artikel „Generation“ im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch auf andere Wörter des semantischen Feldes verweist, etwa Geburt oder Herkunft und den Blick für die Alterität des Frühneuhochdeutschen öffnet, ohne eine lateinische Begrifflichkeit als Prisma diesem semantischen Feld, das Übertragungsphänomene bezeichnet, vorzuschalten, vgl. J OACHIM S CHILDT : generation, s. generieren, in: U LRICH G OEBEL / A NJA L OBENSTEIN -R EICHMANN / O SKAR R EICHMANN (Hgg.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 6, Berlin/ New York 2005, S. 905. <?page no="106"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 107 zischen Geschlechter kultivierten in einem intensiven Prestigewettbewerb untereinander, aber auch in der Hoffnung auf Konnubium mit dem Adel und mit dem Ziel der Distinktion gegenüber neureichen Kaufmannsfamilien, außergewöhnliche Formen der Selbstthematisierung. Nach einer ersten Phase eher autobiographischer Schriftstellerei entstanden bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert genealogische Texte, die die Vorfahren systematisch wiedergaben und biographisch kennzeichneten. 70 Dabei wurden Repräsentationsweisen des Hochadels rezipiert. Zu den textlich charakterisierten Patriziern treten bald auch teilweise ganzseitige Abbildungen hinzu. Obwohl die historiographische Quellenbindung zunahm, traten Ursprungslegenden der Geschlechter noch im Spätmittelalter häufig auf. In Nürnberg geschah dies noch länger und auf der Grundlage von - als Geschichtsgutachten in Auftrag gegebenen - Fälschungen durch den Reichsherold Rixner. 71 Die Nürnberger Geschlechterbücher erlebten im späten 16. Jahrhundert eine Konjunktur, wobei unter den Patrizierfamilien insbesondere die Tucher ihre historiographische Selbstthematisierung und Repräsentation auf der Grundlage ihres Geschlechterbuchs von 1542 forcierten. Sie erneuerten das vorliegende Tucherbuch 1565, 1570 und in einem komplexen und langwierigen Planungsverfahren erneut ab ca. 1588. 72 Das Interesse an dieser Form der Familienhistoriographie hielt bis in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts an. Einer der Höhepunkte im Hinblick auf die opulente Gestaltung und den geschichtstheologischen Reflexionsgrad war das seit dem 17. Jahrhundert so genannte Große Tucherbuch. 73 Die Erstfassung dieses Buchs war, wie zahlreiche andere Nürnberger Familiengeschichten, durch den Ratskonsulenten Christoph Scheurl (1481- 1542) erstellt worden, 74 dessen Prägung und Einfluss im Folgenden charakterisiert werden sollen. 70 Vgl. zum Material C ARLA M EYER : Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 (Mittelalter-Forschungen, Bd. 26), Ostfildern 2009, S. 89-101. Zum Gliederungsversuch vgl. K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 68-98. 71 Vgl. K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 436-439; B ERTHOLD F REIHERR VON H ALLER : Das Turnierwesen, in: K AREL H ALLA (Hg.): Auf den Spuren eines Adelsgeschlechts. Die Notthaffte in Bömen und Bayern, Cheb 2006, S. 237-262. 72 Vgl. K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 237-274. 73 Vgl. M ICHAEL D IEFENBACHER / H ORST -D IETER B EYERSTEDT (Hgg.): Das große Tucherbuch. Eine Handschrift zum Blättern. Stadtarchiv Nürnberg E 29 II 258, CD-ROM, Augsburg 2004. 74 Scheurls maßgeblicher Einfluss auf die Nürnberger Geschichtsschreibung macht es umso bedauerlicher, dass sein Werk, bedingt auch durch die Quellenlage in teilweise noch privaten Familienarchiven, eine Forschungslücke bildet, vgl. G REGOR R OHMANN : „Eines Erbaren Raths gehorsamer amptman“. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens, Bd. 28), Augsburg 2001, 199. So war die erste Fassung des Tucherschen Geschlechterbuchs zwar in Katalogen verzeichnet, der Forschung war dies aber nicht bekannt, <?page no="107"?> C HRISTIAN K UHN 108 Scheurl rezipierte aktuelle Trends und stand mit zahlreichen produktiven Intellektuellen in engem Kontakt. 75 Seinen beinahe ein Jahrzehnt dauernden Aufenthalt in Bologna zum Studium der Rechtswissenschaften ab 1498 charakterisiert Scheurl im familienhistoriographischen Kontext der Tucher, da er durch seine Mutter, Helena Tucher (1462-1516), mit diesem Patriziergeschlecht verwandt war. 76 In Bologna setzte er sich intensiv mit dem maßgeblich durch die humanistische Antikenrezeption mitbestimmten 77 aufkeimenden Nationalgefühl auseinander, 78 denn er war dort Syndikus der deutschen Nation. Nach der Promotion 1506 wurde Scheurl durch die Fürsprache seines Onkels, des Nürnberger Stadtoberhaupts Anton Tucher, auf eine Professur an der sächsischen Landesuniversität in Wittenberg berufen und noch im selben Jahr zum Rektor gewählt. Die Zeit bis zu seiner Abberufung war intellektuell besonders produktiv, denn Scheurl beteiligte sich intensiv an humanistischen Briefnetzwerken. 1512 nahm Scheurl das Amt des Nürnberger Ratskonsulenten an. Während er es ausübte, stand er aber auch in diplomatischen Diensten der Reichsstadt. Scheurl suchte den Kontakt mit Humanisten, wobei die Initiative meist auf seiner Seite lag; lediglich Melanchthon hat einmal Kontakt mit Scheurl gesucht. In einigen Werken seines umfangreichen Schaffens steht Scheurl Albertis bekanntesten Werken zur Renaissancekunst nahe. So verfasste Scheurl um 1506 einen Libellus de laudibus germaniae, in dessen zweiter Druckauflage 1508 er in typisch humanistischem Sprachstil und Topik die Stadt Nürnberg und die dortige deutsche Kunst lobte. 79 Er verherrlichte Dürer mit dem Hinweis, dass dieser durch italienische Künstler gelobt worden sei. 80 Seiner Dürerbiographie in diesem Städtelob lag zwar keine stichhaltige Stilanalyse vgl. H ANS T IETZE : Die illuminierten Handschriften der Rossiana in Wien-Lainz, Leipzig 1911, S. 19 mit Figur 26 (S. 21); E RNST M UMMENHOFF : Scheurl, Christoph, in: ADB, Bd. 31, Leipzig 1890, S. 145-154. 75 Vgl. etwa F RANZ VON S ODEN / J. K. F. K NAAKE (Hgg.): Christoph Scheurl’s Briefbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit, Aalen 1962. 76 D IEFENBACHER / B EYERSTEDT (Hgg.): Tucherbuch (wie Anm. 73), fol. 23r. 77 D IETER M ERTENS : Auslandsstudium und „acts of identity“ im Spätmittelalter, in: E LISABETH V OGEL (Hg.): Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung: Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive (Identitäten und Alteritäten, Bd. 14), Würzburg 2003, S. 97-106. 78 Vgl. die umfassenden Ausführungen in C ASPAR H IRSCHI : Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. 79 W ILHELM W AETZOLDT : Die Anfänge deutscher Kunstliteratur, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft 13 (1920), S. 137-153, hier S. 137-139. 80 Ebd., S. 138. <?page no="108"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 109 zu Grunde, 81 entscheidend war aber, dass Scheurl Dürer in den humanistischen Kunstdiskurs einschrieb, indem er dessen Werke mit antiken Größen in Beziehung setzte. 82 Auch in der 1509 erschienenen Rede auf den in Wittenberg tätigen Lucas Cranach bediente Scheurl das wirkungsvolle Klischee von der nunmehr neugeborenen Schaffenskraft und Kreativität auf dem seitdem unerreichten Niveau der Antike. Diese Nähe zur humanistischen Renaissancekunstschriftstellerei 83 regt auch dazu an, die von Scheurl in den Nürnberger Familiengeschichten ausgeführte Topik der biographischen Darstellung des Lebens und des Charakters von Patriziern im Hinblick auf antike Vorbilder zu untersuchen. 84 Argumente für eine solche bislang ausstehende Untersuchung des genealogischen Schreibprogramms bietet die letzte Widmung Scheurls im ersten Tucherbuch aus dem Jahr 1542. Dort hebt Scheurl seinen maßgeblich durch seine Mutter finanzierten Italienaufenthalt hervor, 85 auch um seine Vernetzung mit Vertretern der städtischen Elite zu dokumentieren. Vor allem aber erschien es Scheurl, wie beim Lob Dürers, auch bei seiner Selbstdarstellung angebracht, seine Kenntnis der italienischen Renaissancekultur zu betonen. Die Widmung, die in späteren Fassungen des Tucherbuchs beibehalten wurde, ist die ausführlichste und wohl auch die gehaltvollste Zueignung Scheurls in einer Familiengeschichte. 86 Seine Worte gleichen an manchen Stellen beinahe Wort für Wort Albertis programmatischer Einleitung zum ersten Buch von Della Famiglia. Scheurl schreibt nämlich an einer Stelle: [Es] ist kleglich zusehen/ wann Edle Alte woluerdiente Geschlecht absterben/ 81 Literaturhinweise zur Gattung außerhalb Italiens, einschließlich des Beginns im deutschsprachigen Raum bei M ARGARET D ALY D AVIS (Hg.): Johannes Butzbach, ‚De praeclaris picturae professoribus‘ (Von berühmten Malern, 1505) (Fontes. E-Quellen zur Kunst 1350-1750, Veröffentlichung 30), Heidelberg 2009, http: / / archiv.ub.uni-heidelberg.de/ artdok/ volltexte/ 2009/ 705/ [Zugriff am 5.April 2010], S. 37. 82 W AETZOLDT : Kunstliteratur (wie Anm. 79), S. 139. 83 Vgl. dazu die Beiträge in K URT W. F ORSTER / H UBERT L OCHER (Hgg.): Theorie der Praxis: Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999. 84 Für einen ähnlichen Ansatz vgl. etwa T.C. P RICE Z IMMERMANN : Paolo Giovio and the Rhetoric of Individuality, in: T HOMAS F. M AYER / D ANIEL W OOLF (Hgg.): The rhetorics of lifewriting in early modern Europe. Forms of Biography from Cassandra Fedele to Louis XIV, Ann Arbor 1995, S. 39-62. 85 Dies ist bereits thematisiert worden, allerdings ohne daraus Schlüsse auf mögliche humanistische Einflüsse zu ziehen, vgl. F RANZ VON S ODEN : Beiträge zur Geschichte der Reformation und der Sitten jener Zeit mit besonderem Hinblick auf Christoph Scheurl, Nürnberg 1855, S. 505. 86 Vgl. zu den anderen Familiengeschichten die insbesondere in der zeitlichen Zuordnung auf fehlerhafter Forschungsliteratur beruhende, aber als erste umfassende Darstellung der Gattung dennoch nützliche Darstellung in B ARBARA S CHMID : Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006. <?page no="109"?> C HRISTIAN K UHN 110 vnd wie man pflegt/ Schildt vnd Helm mitt den Todten begrebt. 87 Das Aussterben einer Familie geschieht durch göttlichen Willen, ohne dass dies ethisch negativ bewertet würde, ist sie doch woluerdient. Angesichts der blinden Macht des Schicksals wird das Weiterleben der Tucher eher als ein Zeichen ihrer Tüchtigkeit insinuiert. Was bei Alberti in dialogisch-analytischer Zergliederung zum Generationenkonzept gesagt wurde, drückt Scheurl in einer Reihung von markierten Bibelzitaten aus. Darunter findet sich eine Formel, die auf den Kern des Albertischen Familienmodells abzuzielen scheint. Demnach sollten ehrenvolle Männer gelobt werden, weil Ir Generation vnd Glori […] nit verleschen wird. 88 Generation wird hier grammatisch ähnlich wie etwa ‚Gesundheit‘ ehrenvollen Männern zugedacht. Dieser Sprachgebrauch zwingt zu genauer Beachtung des Kontextes dieser Äußerung, um ihre Semantik präzise auszuloten: Matthei. 24. der Gerecht würdt Plüen wie ein Palm […]. Darumb stehet geschrieben/ Syrach. 44. Wir solle Redliche Menner loben/ vnd vnsere Eltern in Ihrer geburt/ vnd das weitter die Gütter bleiben bey Irem Samen/ das ist ein hailige Erbschafft/ Ihre Enigklein vnd deren Samen stehet in Ihren Geschefften/ vnd Ihr Kinder werden von Irentwegen allemal bleiben/ Ir Generation vnd Glori wird nit verleschen/ Ir Leib sein im fridt begraben/ aber ire Namen werden Ewig leben Genesis 22. Ich wirdt dich segnen/ vnd deinen Samen manigkualtigen wie die Stern deß Himels/ vnd wie den Sandt am gestatt deß Meers/ dein Samen wirdt besitzen die Porten irer feindt. Deut: 4. Bewar die gebott vnd beuelch die Ich dir gebeutt/ darmit die vnd darnach deinen Kindern wol sey/ vnd das du lange Zeit auff Erden verharrest. So spricht Dauid Psalmo. 37. Ich bin Jünger gewessen vnd Elter worden/ vnd haben keinen Gerechten nie verlassen gesehen noch seinen Samen nach Brodt [betteln] gehen. Deutronom. 28. Gott würdt die mannigkualtigen alle Gütter/ die frucht deines Leibs/ vnd die Frücht deiner Thier vnd Pruerb: 17. Ein Cron der Alten/ sein ire Kindts Kinder/ vnd ein Glori der Sone sein ihre Vätter Dann die Benedeiung Gottes ist gleicherweis wie Wasser auß einem Fluß. Eccles: 39. […] Eccles: cap: 40. Die Reichtumb der Schalckhafften werden auß dorren wie ein Fluß[.] 89 Liest man die Zitatfolge auf einer rein gegenstandsbezogenen Ebene, so ist ihr Gegenstand die Familie. Zentrale Stellen besitzen über die historische Sprachstufe hinweg ‚authentischen‘ Zitatcharakter, so etwa Ihre Nachkommen haben für immer Bestand,/ ihr Ruhm wird niemals ausgelöscht (Sir. 44,13). Interpretativ soll Scheurls Text aber als eigenständige Produktion verstanden werden. Sein erster Blick richtet sich also auf die natürliche Prokreativität. Dennoch ist das Fortbestehen eines Geschlechts keine Handlung der Menschen allein, sondern erscheint als Folge der Treue zu Gott. Auf Grund dieser Treue werde Gott den Samen grenzenlos manikualtigen, wie auch den materiellen Reichtum und Erfolg gegen die [F]eindt sichern. Die 87 D IEFENBACHER / B EYERSTEDT (Hgg.): Tucherbuch (wie Anm. 73), fol. 14v. 88 Ebd., fol. 23r. 89 Ebd. <?page no="110"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 111 Menschen bedürften dieser Unterstützung, denn das Leben des Einzelnen und seiner Nachkommen sei immer gefährdet. Die Frömmigkeit und die Gerechtigkeit der Menschen erschienen daher als Wege, um nicht zu verarmen und nach Brodt gehen zu müssen. Den Schalckhaften wird verwehrt bleiben, dass ihre Familien fortbestehen und wachsen, denn diese Existenz der Familie bedarf der Einheit von Prokreation, Gerechtigkeit und gelingender Erziehung. [E]in hailige Erbschafft ist daher das für die Zukunft verpflichtende historische Wissen der Lebenden. Die Ehre (Glori), die Söhne den Vätern machen und die von den Redliche[n] Menner[n] auf die Nachkommen übergehen soll, ist eine durch die Erinnerung gestiftete, in der Gegenwart wirksame und die Zukunft bestimmende kulturelle Imagination, mithin ein hailige Erbschafft. Im historischen Begriff Generation, wie Scheurl ihn verwendet, sind verschiedene Dimensionen aufgehoben. Die prokreative Grundkomponente ist ohne die religiöse, soziale, geschichtskulturelle und geschichtspolitische Dimension nicht denkbar. Gottesverehrung, ethisches Verhalten, vererbende Weitergabe und familiäre Gemeinschaft wurden als eine Einheit dargestellt. Die Widmung wird in allen späteren Fassungen wohl deswegen beibehalten, weil sie die Programmatik für die Umgestaltung und für Ergänzungen bis hin zum Großen Tucherbuch in seiner letzten Fassung kennzeichnet. Für diesen Pergamentkodex wurde eigens eine Vorrede in Auftrag gegeben. 90 Diese ausführliche Vorrede ist nach den semantischen Bereichen des Generationsdiskurses - Schöpfung, vererbende Übertragung und Identität der sozialen Gruppe - gegliedert. 91 Die Inhalte dieser Vorrede, die einen seit 1542 relativ unveränderten genealogischen Teil einleitet, werden durch die aufwändige Gestaltung besonders herausgestellt. Wie das gesamte Große Tucherbuch ist auch die Vorrede in Nürnberger Schreibmeisterschrift mit reich verzierten Initialen und Auszeichnungsschrift auf die kostbaren großen Pergamentbögen geschrieben. 92 Diese Gestaltung, wie auch der geschichtstheologische Inhalt der Vorrede, übersteigen deutlich den Rahmen des in dieser Gattung Üblichen. Daher soll noch einmal der Blick auf die Widmung gerichtet werden. Gebraucht Scheurl das Wort Generation, im Sinne einer erwünschten Qualität familiären Weiterlebens, auch mit Bezug auf die soziale Struktur Nürnbergs? Es tritt bei Scheurl in einem Bibelzitat auf und ist möglicherweise aus einer zeitgenössischen Bibelübersetzung übernommen worden. Luthers nur 90 Vgl. K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 258-269. 91 Vgl. für eine eingehende Interpretation ebd., S. 379-390. 92 Vgl. zum Charakter der Nürnberger Schreibmeisterschrift O LIVER L INKE / C HRISTINE S AUER (Hgg.): Zierlich schreiben. Der Schreibmeister Johann Neudörffer d.Ä. und seine Nachfolger in Nürnberg (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, Bd. 25), Nürnberg 2007. <?page no="111"?> C HRISTIAN K UHN 112 zwei Jahre nach der Widmung im Jahr 1545 erschienene Bibelübersetzung stimmt jedoch nicht mit Scheurls Text überein. Dort heißt es bei Jesus Syrach XLIIII, 12: vnd jr Lob wird nicht vntergehen. 93 Die Sprachkomposition in der Widmung Scheurls von 1542 sollte daher nicht für zufällig gehalten werden. Denn Scheurl verknüpfte mit diesem Zitat große Ansprüche an die Sonderstellung des Tucherbuchs und daher auch der Familie Tucher. Er schildert die Beweggründe seines Schreibens vor dem Hintergrund der bereits für seine (teilweise patrizischen) Ohaimen die Pfintzing/ Zingel/ Füterer/ Löffelholtz/ Scheurl geschriebenen Familiengeschichten. Viele ehrbare Geschlechter der angesehenen Stadt besäßen eine Familiengeschichte, die den Gattungskonventionen von Geburt/ heyrat/ sterben vnd begrebnus folgte. Diese erbare[n] Geschlechter hätten allerdings im Medium ihrer eigenen Geschichtsschreibung eingestehen müssen, welcher gestalt dieselben auffkommen vnd widerumb abkommen vnd Zum theil gentzlich abgestorben sein. 94 Während einigen Familien offenbar nichts anderes übrig blieb, als das Aussterben der eigenen Familie dokumentarisch festzuhalten, war Scheurls Ziel als Verfasser des Tucherbuchs das genaue Gegenteil. Verknüpft man diese scheinbar auf ein blindes Schicksal bezogene Passage mit dem Lob der ehrbaren Männer, so wird die Distinktion der Tucher deutlich, deren Tugend das Geschlecht blühen ließ. Dieser Zusammenhang war offensichtlich Teil eines Schreibprogramms; entsprechende Episoden im Großen Tucherbuch wurden durch Indices und Paratexte besonders herausgestellt, beispielsweise der Umstand, dass das Geschlecht der Tucher schon dreimal nur noch auf einem einzigen Vertreter des Geschlechts gestanden, sich daraufhin aber wieder erfolgreich ‚gemannigfaltigt‘ habe. 95 Die Kategorien Generation und Glori drücken also einen Generationsdiskurs aus, der eine hybride, biblische, Jung-Alt-Beziehungen übergreifende und auf Vermittlung und Vererbung von Ehre abzielende Konstruktion darstellt. Dieser Diskurs wird in einer Sprache ausgedrückt, die christliche Normen, den Wechsel von Familiengenerationen, erinnerte Ehre, verpflichtendes Vermächtnis, Schöpfung und prokreative Zeugung in eine ununterbrochene Reihe setzen kann, weil diese untrennbar miteinander verschmolzen sind. 93 Für die Lutherbibel von 1545 vgl. M ARTIN L UTHER : Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 12, Weimar 1891, S. 269. 94 D IEFENBACHER / B EYERSTEDT (Hgg.): Tucherbuch (wie Anm. 73), fol. 23r. 95 Daraufhin hatte der erste quellenmäßig belegbare Tucher, Berthold Tucher (*1310), in hohem Alter noch in einem dem Aberglauben nahestehenden Münzorakel in der Kapelle in seinem Haus am Milchmarkt den göttlichen Beistand für eine späte Verheiratung erbeten, wodurch das Geschlecht vor dem Aussterben bewahrt worden sei. Auch andere Familien besaßen derartige Legenden, die die ‚Generation‘ des Geschlechts im historischen Beispiel belegten. <?page no="112"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 113 Auf diese Weise wird die Polysemie des Wortes Generation konzertiert abgerufen und in verschiedenen Ausdrücken des Wortfeldes Erbe und Übergang verdeutlicht. Scheurls Programmatik integriert also Albertis genealogisches Zusammenspiel von Schicksal und Tugend. Die nach seinem Tod entstandenen Fassungen des Tucherbuchs rezipieren dieses historiographische Wertsystem und reichern die Geschichtsschreibung um 1590 mit Interpretamenten aus dem konfessionalisierten Luthertum (darunter eine stereotype Nennung Luthers) 96 und weit in die Vergangenheit ausgreifenden Erzählkernen der städtischen Geschichtsschreibung Nürnbergs an. 97 6. Zusammenfassung und Ausblick Die ökonomische Literatur der Renaissance war Zeugnis eines Dialogs mit verschiedenen antiken Autoren. Diese renovatio veterum tritt in Della Famiglia in besonders vielschichtiger Form hervor, 98 so dass Zitate und Textpassagen eine untrennbare Einheit bilden. Weder diese komplexe Form der Antikenrezeption noch die dialogische Vermittlungsform, die Thesen in Argumenten und Gegenargumenten vorführt, verdunkeln jedoch die behandelten familiengeschichtlichen Fragen. Im Mittelpunkt stehen wichtigste geschichtsphilosophische Probleme, nämlich was die bestimmenden Faktoren menschlich-individueller, familiärer und gesellschaftlich-politischer Existenz seien. Albertis Text scheint sich an den Einzelnen und seine Alltagsprobleme zu richten, bezieht sich aber auch auf ihre Aufgaben im Rahmen der Familie in Vergangenheit und Zukunft. 99 Auf welche Weise Wohl, Ehre und Größe gesichert werden können, ist eine Frage, die jedoch nicht allein auf Familien bezogen ist. Damit richtet Alberti den Blick auf das politische Ganze, nämlich auf die Erhaltung der Freiheit der Stadt Florenz. 100 Della Famiglia, Albertis bedeutendste italienischsprachige Schrift, erfasst zentrale Diskurse des Renaissancehumanismus. Daher ist mit Blick auf ihren 96 Vgl. zur konfessionalisierten Perspektive C HRISTIAN K UHN : Totengedenken und Stiftungsmemoria. Familiäres Vermächtnis und Gedächtnisbildung der Nürnberger Tucher (1450-1550), in: B IRGIT S TUDT (Hg.): Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (14.-17. Jahrhundert) (Städteforschung, Reihe A, Bd. 69), Münster 2007, S. 121-134. 97 Vgl. dazu K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 440-480. 98 Vgl. eine weiterhin klassische Darstellung wie bei C LEMENS Z INTZEN : Grundlagen und Eigenarten des Florentiner Humanismus, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Akademie der Wissenschaften und Literatur 15 (1989), S. 3-45, hier S. 3f. 99 A LBERTI : Vom Hauswesen (wie Anm. 21), S. 6, 13. 100 Ebd., S. 12. <?page no="113"?> C HRISTIAN K UHN 114 Einfluss auf die historische Sinnbildung von deutschen Familiengeschichten des 16. Jahrhunderts nicht nur von einer direkten Rezeption dieser Schrift oder von einem kulturellen ‚Transfer‘ auszugehen. Um die Perspektiven einseitiger Rezeption und werk- oder gattungsimmanenter Analyse zu vermeiden, muss die diskursive Praxis des Humanismus in ihrer europäischen Verbreitung beachtet werden. 101 So kann historischer Sinn nicht lediglich als starre Größe festgestellt, sondern im Prozess der Sinnbildung nachvollzogen werden. Das geistes- und diskursgeschichtliche Generationskonzept erscheint geeignet, in spezifischen Kontexten die jeweilige Funktionalisierung der genealogischen Themen genauer auszuloten. Der vormoderne Generationsdiskurs, dessen dominanter Akkord in genealogischen Texten nach Beate Kellner „Ursprung und Kontinuität“ ist, wird bei Alberti auch im Spiegel seines Gegenteils dargestellt. In Della Famiglia problematisiert die Figur des Lionardo den genealogischen Generationsdiskurs in Florenz; die ironische Komponente der Dialoge ist bisher zu wenig berücksichtigt worden. Alberti könnte diese Ironie zu eigenen Zwecken eingesetzt haben, denn bei einer der zahlreichen Umarbeitungen fügt er ein Vergilzitat aus der zehnten Ekloge der Aeneis als Motto bei, die Worte Quid tum („Was macht es“). Mit diesen Worten hatte Pan die Gefährten beschrieben, die er sich wünschte. Dort heißt es weiter: Ein niederer Rang nimmt einem einnehmenden Freund nichts von seiner Anziehungskraft. 102 Möglicherweise rezipierte Alberti also den genealogischen Diskurs, historisierte ihn im Gegenspiel der beteiligten Figuren und schrieb sich selbst auf diese Weise in die Familie Alberti ein, der er sein Werk auch gewidmet hatte. Eine ähnliche Konstellation liegt bei Christoph Scheurl vor. Als Schreibmotivation stets präsent, aber als Erklärung nicht hinreichend ist sein Wille zum sozialen Aufstieg. Denn trotz der Verwandtschaft mit verschiedenen Patrizierfamilien war Scheurls eigener Stand nicht dem des Patriziats gleich. Der Weg zum bedeutendsten Familienhistoriker Nürnbergs war daher nicht nur der Professionalisierung der Familiengeschichtsschreibung geschuldet, sondern auch dem unbeirrbaren Willen zum Übersteigen einer sozialen Hürde. Thematisierte Scheurl also den Generationsdiskurs nicht allein, um dadurch seine Kenntnis des Renaissancehumanismus zu demonstrieren, sondern auch um sich selbst durch Historisierung des genealogischen Diskurses in die soziale Gruppe einzuschreiben? 101 Vgl. die Beiträge in J OHANNES H ELMRATH / U LRICH M UHLACK / G ERRIT W ALTHER (Hgg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002. 102 G RAFTON : Alberti (wie Anm. 3), S. 224f. <?page no="114"?> Albertis Della Famiglia und Christoph Scheurl 115 Unabhängig von den Interessen Scheurls bedient das Tucherbuch den Generationsdiskurs in affirmativer Weise. Die Erstfassung von 1542 wird sukzessive um weitere textliche und paratextliche Ausführungen sowie Abbildungen in einem reflektierten Bildprogramm ergänzt. 103 Die Terminologie des Tucherbuchs wird eingehend von der das Große Tucherbuch in Auftrag gebenden Familienstiftung reflektiert; 104 das Quellenwort Generation wird als eine konkrete genealogische Kategorie verwendet. Es bezeichnet - anders als in früheren Fassungen - einen männlichen Tucher, der auch Nachkommen hatte. Kinderlose Tucher dagegen erhalten diese Bezeichnung auch dann nicht, wenn sie so bedeutend waren wie der berühmte Baumeister Endres Tucher. Generation ist somit wie in der Widmung Scheurls eine Statusbezeichnung, der das Bildprogramm folgt, indem Vorfahren nur dann eine ganzseitige Abbildung erhalten, wenn sie eine der insgesamt 46 Generationen der Tucher darstellen. Diese historiographische Gestaltungsweise sollte nicht allein auf die Region beschränkt betrachtet werden, ließ sie sich doch in die Tradition renaissancehumanistischer Reflexionen familiärer Genealogie einordnen. 103 Vgl. dazu K UHN : Generation (wie Anm. 6), S. 351-364. 104 Vgl. ebd., S. 258-269. <?page no="116"?> 117 Britta Schneider Reich statt Augsburg? Fuggersche Generationenkonflikte vor Gericht Wo sich aber in sollicher tailung / / zwischen inen (wöllichs ich mich doch gar nit vorsich) ainich irrung oder spenn zuetrueg, so sollen sy zwen erbar menner und im fall der notturft den tritten als obman zue sollicher tailung erkiesen und sich derwegen ausserhalb rechtens unnd gericht fraintlich mitainander vertragen lassen. 1 So formulierte Anton Fugger 2 in seinem Testament vom März 1550 die seiner Vorstellung nach ideale außerrechtliche Konfliktbeilegung im Falle innerfamiliärer Auseinandersetzungen. 3 Auch in der Forschung wurde von verschiedenen Seiten betont, dass Handelsgesellschaften versuchten, die ordentliche Gerichtsbarkeit möglichst zu vermeiden. Gerade die Schlichtung von Streitigkeiten innerhalb von Familienhandelsgesellschaften sollte den Gerichten vorenthalten werden. 4 Die Gesellschaftsverträge, welche die Fugger Ende des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schlossen, 1 Testament Anton Fuggers vom 22. März 1550, zitiert nach M ARIA G RÄFIN VON P REYSING : Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, II. Edition der Testamente (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 34), Weißenhorn 1992, S. 128f. Bei der tailung handelt es sich um die Güterteilung des Jahres 1548, vgl. D IETMAR S CHIERSNER : In der Region zu Hause im Reich verankert. ‚Fuggerland‘ im Überblick, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg- Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 15-32, hier S. 16. 2 Anton Fugger (1493-1560) leitete von 1525 bis zu seinem Tod die Familienhandelsgesellschaft der Fugger. Vgl. M ARK H ÄBERLEIN : Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367- 1650), Stuttgart 2006, S. 69-96; H ERMANN K ELLENBENZ : Anton Fugger Persönlichkeit und Werk (Materialien zur Geschichte der Fugger, Bd. 4), Augsburg 2001. 3 Vgl. dazu etwa G ERD A LTHOFF : Recht nach Ansehen der Person. Zum Verhältnis rechtlicher und außerrechtlicher Verfahren der Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: A LBRECHT C ORDES / B ERND K ANNOWSKI (Hgg.): Rechtsbegriffe im Mittelalter (Rechtshistorische Reihe, Bd. 262), Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ Brüssel/ New York/ Oxford/ Wien 2002, S. 80-92. 4 Vgl. u.a. E LMAR L UTZ : Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften in der Zeit der Fugger, I. Darstellung (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 25), Tübingen 1976, S. 469-477; M AX J ANSEN : Jakob Fugger der Reiche. Quellen und Studien (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 3/ 1), 2. Aufl. Leipzig 1910, S. 31f.; K ATHARINA VON C IRIACY -W ANTRUP : Familien- und erbrechtliche Gestaltung von Unternehmen der Renaissance. Eine Untersuchung der Augsburger Handelsgesellschaften zur frühen Neuzeit (Augsburger Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 6), Berlin 2007, S. 315-319; S ILKE P ETTINGER : Vermögenserhaltung und Sicherung der Unternehmensfortführung durch Verfügungen von Todes wegen. Eine Studie der Frühen Augsburger Neuzeit (Augsburger Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 5), Berlin 2007, S. 238-240. <?page no="117"?> B RITTA S CHNEIDER 118 räumten den Administratoren weitestgehende Vorrechte gegenüber den Erben eines verstorbenen Gesellschafters ein, die die Generalrechnung der übrigen Gesellschafter akzeptieren mussten. Durch solche Vereinbarungen sollte verhindert werden, dass aufgrund von Erbstreitigkeiten die Bücher mit den Handelsinterna einer offiziellen Institution vorgelegt werden mussten. 5 Was Handels- und Familienangelegenheiten anging, bemühten sich die Fugger wesentlich stärker als beispielsweise die Welser um Geheimhaltung. 6 In der aktuellen Forschung finden sich jedoch Ansätze, die diese Meinung teilweise revidieren. So hat Siegrid Westphal darauf hingewiesen, dass in den Arbeiten zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich oft nur am Rande erwähnt werde, dass Erbstreitigkeiten trotz ausgebildeter Hausnormen häufig nur mit Hilfe der Reichsgerichte gelöst werden konnten. 7 Vor diesem Hintergrund zeigt der folgende Beitrag anhand eines Fallbeispiels, mit welchen Absichten und in welcher Form Mitglieder der Familie Fugger Gerichte nutzen, um innerfamiliäre Erb- und Besitzstreitigkeiten auszutragen. 1. Die Fugger in der Rechts- und Gerichtslandschaft des 16. Jahrhunderts Die Rechts- und Gerichtslandschaft des 16. Jahrhunderts war vielschichtig und geprägt von der Pluralität der Rechtsnormen sowie sich überlappender Zuständigkeiten. 8 Für die Zuständigkeit der Gerichte war vor allem der Stand 5 J ANSEN : Jakob Fugger (wie Anm. 4). 6 K ATARINA S IEH -B URENS : Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618 (Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg, Bd. 29), München 1986, S. 110. 7 S IEGRID W ESTPHAL : Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 43), Köln/ Weimar/ Wien 2002, S. 88; J ÜRGEN W EITZEL : Die Hausnormen deutscher Dynastien im Rahmen der Entwicklung von Recht und Gesetz, in: J OHANNES K UNISCH (Hg.): Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982, S. 35-48, hier S. 44. 8 Vgl. v.a. A NJA A MEND / A NETTE B AUMANN / S TEPHAN W ENDEHORST / S TEFFEN W UNDERLICH : Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne, in: D IES . (Hgg.): Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich (bibliothek altes Reich, Bd. 3), München 2008, S. 9-13, hier S. 10f.; A NJA A MEND / A NETTE B AUMANN / S TEPHAN W ENDEHORST / S IEGRID W ESTPHAL (Hgg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 17), Köln/ Weimar/ Wien 2007; P ETER O ESTMANN : Rechtsvielfalt vor Gericht, Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 18), Frankfurt a.M. 2002. Für die Reichsstadt Augsburg steht eine moderne Studie noch aus, die die vielfältigen Komponenten <?page no="118"?> Fuggersche Generationenkonflikte 119 des Beklagten entscheidend. 9 Als Burger zu Augspurg 10 waren die Fugger reichsmittelbar und der Jurisdiktion des Augsburger Stadtgerichts unterworfen. 11 Alle Bürger der Reichsstadt waren seit 1294 exemt von sämtlichen anderen Gerichten des Reichs. Die Appellationsinstanz war der Augsburger Rat und später das Reichskammergericht. Eine vollständige Befreiung von der Zuständigkeit des Reichskammergerichts konnte Augsburg trotz zahlreicher Appellationsprivilegien nie erreichen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts gelang der Reichsstadt nur eine Ausdehnung des Appellationsprivilegs auf 600 rheinische Gulden. Ab diesem Streitwert ging der Instanzenzug an das Reichskammergericht. 12 Da die Fugger aber das ganze 16. und 17. Jahrhundert hindurch gleichermaßen bürgerliche Kaufleute und Adelige waren, nahmen sie auch hier eine Stellung ein, die sich präzisen ständischen Kategorisierungen entzieht. 13 Seit 1511 kamen die Fugger in den Genuss kaiserlicher Standeserhebungen. 14 1530 wurden sie in den erblichen Reichsgrafenstand dieser Rechts- und Gerichtslandschaft rekonstruiert. Grundlegend ist bis heute E UGEN L IEDL : Gerichtsverfassung und Zivilprozess der freien Reichsstadt Augsburg (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, Bd. 12), Augsburg 1958. Deshalb werden in dieser Skizze nur die Gerichte erfasst, in deren Überlieferung Prozesse Fugger contra Fugger festgestellt werden konnten; C ARL A. H OFFMANN : Delinquenz und Strafverfolgung städtischer Oberschichten im Augsburg des 16. Jahrhunderts, in: M ARK H ÄBERLEIN / J OHANNES B URKHARDT (Hgg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses (Colloquia Augustana, Bd. 16), Berlin 2002, S. 347-381. 9 Vgl. W OLFGANG S ELLERT : Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge, Bd. 4), Amsterdam 1965, S. 1. Was die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reichshofrat und Reichskammergericht angeht, findet eine teilweise Neubewertung dieses Verhältnisses statt, die weg von einer rivalisierenden Konkurrenz und hin zu einer Kooperation der beiden höchsten Reichsgerichte führt, vgl. hierzu M ARKUS S EM : Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan (1519-1564), in: A NJA A MEND / A NETTE B AUMANN / S TEPHAN W ENDEHORST / S IEGRID W ESTPHAL (Hgg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 17), Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 27-39. 10 D ANA K OUTNÁ -K ARG : Die Ehre der Fugger. Zum Selbstverständnis einer Familie, in: J OHAN - NES B URKHARDT (Hg.): Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils (Colloquia Augustana, Bd. 3), Berlin 1996, S. 87-106, S. 89 (Zitat). 11 L IEDL : Gerichtsverfassung und Zivilprozess (wie Anm. 8), S. 56. 12 Ebd., S. 49f., 94, 137. 13 Vgl. hierzu zuletzt H ÄBERLEIN : Die Fugger (wie Anm. 2), S. 186f., 206. 14 Die Zugehörigkeit der Fugger zum schwäbischen Adel ist für die Zeit nach 1600 zwar unbestritten, aber über den Weg der Familie in die hochadelige Welt ist wenig bekannt, vgl. jüngst S ARAH H ADRY : Jakob Fugger (1459-1525) ein falscher Graf? Kirchberg-Weißenhorn als Ausgangsbasis für den Aufstieg einer Augsburger Kaufmannsfamilie in den Reichsadel, in: J O - HANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 33-51, hier S. 34, 45. <?page no="119"?> B RITTA S CHNEIDER 120 erhoben und waren damit unmittelbar dem Kaiser unterstellt. 15 Somit fielen die Fugger in die Zuständigkeit der Reichsgerichte. Wirft man dagegen einen Blick in die Testamente, so sollten sich die Fugger im Falle von Streitigkeiten innerhalb der Familie, wie eingangs zitiert, ausserhalb rechtens unnd gericht fraintlich mitainander vertragen lassen. 16 Welche Instanzen des Reichs oder der Reichsstadt Augsburg waren aber tatsächlich Foren für die gerichtliche Konfliktlösung in Fällen Fugger contra Fugger? 2. Konfliktlösungsstrategien Fugger contra Fugger Ungeachtet des reichsrechtlichen Status und der testamentarischen Verfügungen der Fugger hinsichtlich einer idealen Konfliktaustragung finden sich Prozesse Fugger contra Fugger in der archivalischen Überlieferung des Rats und des Stadtgerichts der Reichsstadt Augsburg, des Reichskammergerichts sowie des Reichshofrats. 17 Die Fugger von der Lilie waren zwischen 1497 15 Vgl. H ADRY : Jakob Fugger (wie Anm. 14); U LRICH G RAF F UGGER VON G LÖTT : Die Fugger und das Ende des Alten Reichs, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 311-322, hier S. 312; H ÄBERLEIN : Fugger (wie Anm. 2), S. 186; F RANZ K ARG : Ad fontes: „Die Fugger und das Reich“, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 323-336, hier S. 326. Nach Deininger mussten die Fugger, nachdem sie im Jahre 1538 unter die neuen Herrengeschlechter der Reichsstadt Augsburg aufgenommen worden waren, schwören, dass sie ihre von den Kaisern erhaltenen Privilegien nicht gegen die Stadt gebrauchen würden. Sie sollten der Ausübung dieser Privilegien, die nicht mit den bürgerlichen Pflichten vereinbar wären, entsagen. Vgl. H EINZ D EI - NINGER : Die Gütererwerbungen unter Anton Fugger (1526-1560), seine Privilegien und Standeserhöhungen, sowie Fideikommissursprung. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte, Diss. masch., München 1924, S. 276f. 16 Testament Anton Fuggers vom 22. März 1550, zitiert nach P REYSING : Die Fuggertestamente (wie Anm. 1), S. 128f. 17 Da für Reichskammergericht, Reichshofrat und etwaige Vorinstanzen sowie andere konkurrierende Gerichtsforen unterschiedliche Erschließungs- und Forschungsstände bestehen, kann eine umfassende und aussagekräftige quantitative Auswertung momentan nur für das Reichskammergericht durchgeführt werden. Vgl. hierzu u.a. W ESTPHAL : Kaiserliche Rechtsprechung (wie Anm. 7), S. 41. Für den Reichshofrat, das Stadtgericht und den Rat der Reichsstadt Augsburg habe ich das Ergebnis dieser quantitativen Auswertung noch nicht falsifizieren können. Denn auch hier finden sich vor 1562 keine Prozesse Fugger contra Fugger. Zwischen 1566 und 1797 wandten sich Familienangehörige in Sachen Fugger contra Fugger in mindestens 49 Fällen an den Reichshofrat, vgl. digitale und handschriftl. Archivbehelfe zum Reichshofrat im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Auch am Hofgericht zu Rottweil und am Landgericht Schwaben waren die Fugger in Prozesse involviert. Allerdings finden sich hier keine Prozesse zwischen Familienmitgliedern. Die hier vorgestellten Ergebnisse sind indessen noch keine abschließenden Erkenntnisse, sondern als „work in progress“ zu verstehen. Bisher wurden in folgenden Archiven Prozesse Fugger contra Fugger gefunden und ausgewertet: Bestände Reichskammergericht im <?page no="120"?> Fuggersche Generationenkonflikte 121 und 1805 allein am Reichskammergericht in mehr als 300 Prozesse involviert. Sieht man von einer Klage Wilhelm Rems 18 ab, der mit Walburga Fugger verheiratet war und 1501 das Erbe seiner Ehefrau einklagen wollte, sind zwischen 1497 und 1562, also in den ersten 65 Jahren Fuggerscher Prozesstätigkeit am Reichskammergericht, keine Prozesse überliefert, in denen sich Mitglieder der Familie gegenseitig verklagten. In der Phase zwischen 1562 und 1658 fanden dagegen 20 der insgesamt 25 Prozesse Fugger contra Fugger statt. Allerdings ist zwischen 1632 und 1658 kein einziger solcher Prozess überliefert. Diese Eckdaten wurden eingerahmt von zwei für die Entwicklung der Familienhandelsgesellschaft wichtigen Ereignissen, Anton Fuggers Tod 1560 und der Auflösung der Familienhandelsgesellschaft bis 1658. Damit fallen 80 Prozent der Fälle in einen Zeitraum von 69 Jahren. Nur vier weitere Prozesse fanden zwischen 1658 und dem Ende der Tätigkeit des Reichskammergerichts 1806 statt. 19 Den Fuggern wurde in der Forschung immer wieder ein ausgeprägter Sinn für den Zusammenhalt und die genealogische Kontinuität in Familie und Handelsgesellschaft zugesprochen, Olaf Mörke attestierte ihnen sogar „Familismus“. 20 Da in diesen vor Gericht ausgetragenen Auseinanderset- Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart; Rat Fuggerakten und Schuld-, Klag- und Appellationssachen im Stadtarchiv Augsburg; und Reichshofrat im Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien. Vgl. auch die Untersuchung von A NETTE B AUMANN : Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (1495-1806), in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 151-182. 18 Wilhelm Rem (1462-1529) war Augsburger Kaufmann und Chronist und mit Walburga Fugger (1457-1485), einer Tochter Jakob Fuggers (1398-1469), verheiratet. C ARLA K RAMER - S CHLETTE : Vier Augsburger Chronisten der Reformationszeit. Die Behandlung und Deutung der Zeitgeschichte bei Clemens Sender, Wilhelm Rem, Georg Preu und Paul Hektor Mair (Historische Studien, Bd. 421), Lübeck 1970, S. 12. Vgl. zu diesem Prozess Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (= BayHStA) RKG 5504. 19 Der Anstieg der Prozesse im Hause Fugger entspricht der allgemeinen Tendenz, nach der die Anzahl der Prozesse in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts stetig zunahm. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts fällt das Prozessaufkommen allerdings nicht gemäß dem reichsweiten Trend rapide ab, sondern erst im Zuge der Auflösung der Handelsgesellschaft in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Vgl. hierzu vor allem F ILIPPO R ANIERI : Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 17), Köln/ Wien 1985, S. 139; B AUMANN : Die Fugger als Kläger (wie Anm. 19), S. 158; A NETTE B AUMANN : Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 36), Wetzlar 2001, S. 133. 20 O LAF M ÖRKE : Die Fugger im 16. Jahrhundert. Städtische Elite oder Sonderstruktur? Ein Diskussionsbeitrag, in: Archiv für Reformationsgeschichte 74 (1983), S. 141-162, hier S. 158. In diesem Zusammenhang sei nur auf das Ehrenbuch der Fugger und auf die Tatsache verwiesen, dass in der Familienhandelsgesellschaft der Fugger das Erbrecht sowie die Leitungsfunktion <?page no="121"?> B RITTA S CHNEIDER 122 zungen Fugger contra Fugger vor allem Verfügungen in den Gesellschaftsverträgen und den Testamenten der alten Herrn Fugger, also Besitz- und Partizipationsansprüche zwischen und innerhalb der verschiedenen Linien zur Disposition standen, lassen sich diese als inter- und intragenerationelle Konflikte beschreiben. 21 Im nachstehenden Fallbeispiel wird eine Auseinandersetzung zwischen Brüdern bzw. Cousins analysiert. Richtete sich die Erbregelung im Hause Fugger im 15. Jahrhundert noch nach dem Augsburger Stadtrecht, so sind ab 1494 Gesellschaftsverträge, die die inneren Beziehungen der Familienhandelsgesellschaft regelten, und ab 1516 Testamente in schriftlicher Form überliefert. 22 Da es im Augsburg des 16. Jahrhunderts kein kodifiziertes Gesellschaftsrecht gab, bildeten diese von der Familie intern abgeschlossenen Verträge die rechtliche Grundlage der Handelsgesellschaft. 23 Bereits der quantitative Befund macht indessen deutlich, dass die Konfliktlösungsstrategien, mit deren Hilfe die Fugger ihre familiären bzw. geschäftlichen Angelegenheiten regelten, nach dem Tod Anton Fuggers eine neue Qualität erreichten. Gerichte wurden mehr und mehr als Entscheidungsinstitutionen für Auseinandersetzungen zwischen Familienmitgliedern respektive Gesellschaftern herangezogen. 3. Ein Fallbeispiel: Ulrich Fugger Die Handelsgesellschaft der Fugger war nach dem Tod des langjährigen Leiters Anton Fugger 1560 erstmals in eine Führungskrise geraten, in der Nachfolge und Struktur der Firma ebenso umstritten waren wie die jeweiligen Rechte und Pflichten der Familienmitglieder. Die Prozessserie Fugger ausschließlich auf die männliche Deszendenz weltlichen Stands beschränkt waren. Vgl. zuletzt H ÄBERLEIN : Fugger (wie Anm. 2), S. 38f. oder M ARK H ÄBERLEIN : Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana, Bd. 9), Berlin 1998, S. 346. 21 Generation wird in diesem Zusammenhang im biologisch-genealogischen Wortsinn, also als vertikal-diachron strukturierendes Modell verstanden. Vgl. hierzu U LRIKE N AGENGAST / M AXI - MILIAN S CHUH : Natur vs. Kultur? Zu den Konzepten der Generationenforschung, in: H ARTWIN B RANDT / M AXIMILIAN S CHUH / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Familie Generation Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien, Bd. 2), Bamberg 2008, S. 11-29, hier S. 14; Vgl. zu einer möglichen Typologie von Generationenkonflikten F RANÇOIS H ÖPFLINGER : Generationenfrage Konzepte, theoretische Ansätze und Beobachtungen zu Generationenbeziehungen in späteren Lebensphasen, Lausanne 1999, S. 92-96; Zu Eigentumsübertragung als Generationenproblem O HAD P ARNES / U LRIKE V EDDER / S TEFAN W ILLER : Das Konzept der Generation (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1855), Frankfurt a.M. 2008, hier v.a. S. 97-108. 22 G EORG S IMNACHER : Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts. I. Darstellung (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 16), Tübingen 1960, hier v.a. S. 39, 102. 23 Vgl. L UTZ : Die rechtliche Struktur (wie Anm. 4), S. 469-477. <?page no="122"?> Fuggersche Generationenkonflikte 123 contra Fugger beginnt mit einem Rechtsstreit, den Ulrich Fugger, ein unverheirateter Sohn von Anton Fuggers 1535 verstorbenem Bruder Raymund, der als Außenseiter in der Familie galt und zeitlebens keine aktive Position in der Handelsgesellschaft inne hatte, gegen seinen Bruder Hans Jakob und seinen Cousin Marx Fugger, die zu diesem Zeitpunkt die Geschäfte leiteten, vor dem Reichskammergericht anstrengte. In Ulrich Fuggers Person, der eine umfangreiche humanistische und gelehrte Ausbildung genossen hatte, aber nie für eine Tätigkeit in der Familienhandelsgesellschaft ausgebildet worden war, spiegelte sich ein Wandel familiärer Interessen und Leitbilder wider. So zeugten unter anderem seine Investitionen in Bücher von der zunehmenden Hinwendung der reich gewordenen Kaufleute zu gelehrten und literarischen Interessen. 24 Die Vorgeschichte des Prozesses erhellt ein Bericht der Augsburger Bürgermeister Konrad Vöhlin und Heinrich Kron 25 an das Reichskammergericht: Auslöser für den Reichskammergerichtsprozess war demnach ein Kredit Christoph Rosenbuschs über 13.000 Gulden an Ulrich Fugger. Rosenbusch, der seinem Schuldner schon einige Male Zahlungsaufschub gewährt hatte, gestattete ihm eine letzte Frist bis 1. Mai 1562. Als Ulrich Fugger wegen dieser Angelegenheit fünf Tage später vor den Rat der Stadt Augsburg zitiert wurde, erschien er nicht persönlich, sondern schickte seinen Diener Leo Precheisen. Dieser zeigte sich im Namen seines Herrn geständig und gab an, Ulrich Fugger sei dieser Zeit, nit bei barem gelt, gedenke die Angelegenheit aber schnell zu erledigen. Da die Schulden auch bis zum 28. Mai nicht beglichen wurden, wandte sich Rosenbusch am Folgetag erneut an den Rat. 24 Ulrich Fugger (1526-1584) wird darüber hinaus in der Forschungsliteratur als kränklicher Bibliophiler, Mäzen und Protestant beschrieben. Zur Persönlichkeit Ulrich Fuggers vgl. v.a. E LMAR M ITTLER (Hg.): Bibliotheca Palatina, Textband, Heidelberg 1986, S. 368f.; P AUL L EHMANN : Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, Teil 1 (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 12), Tübingen 1956, S. 41-213; Marx (1529-1597) und Hans Jakob Fugger (1516-1575) leiteten von Anton Fuggers Tod 1560 bis 1563 gemeinsam die Familienhandelsgesellschaft. Dieser Prozess fand in der Fuggerforschung bereits gelegentliche Erwähnung, zuletzt bei B AU - MANN : Die Fugger als Kläger (wie Anm. 19), er wurde aber noch nicht anhand der Prozessakten aufgearbeitet. Zur Zuständigkeit des Reichskammergerichts vgl. B ETTINA D ICK : Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 10), Köln/ Wien 1981, S. 65-70; vgl. zu Ausbildung von Antons und Raymunds Söhnen sowie zu Karrieremustern und Lebensstilen der Fugger H ÄBERLEIN : Fugger (wie Anm. 2), S. 97f., 158f., 186f. 25 Konrad Vöhlin (~1524-1595) war von 1561 bis 1562, Heinrich Kron (? -1578) von 1561 bis 1574 Augsburger Bürgermeister. Vgl. S IEH -B URENS : Oligarchie, Konfession und Politik (wie Anm. 6), S. 345, 350. <?page no="123"?> B RITTA S CHNEIDER 124 Wieder erschien nur Precheisen und gelobte, von ain Mittag zum andern bezalung zuthun. 26 Am 30. Mai 1562 beorderte der Rat die beiden Bürgermeister persönlich zu Ulrich Fuggers Haus, um ihn zu ermahnen. Dieser aber habe sich ungehorsamlich erzaigt. 27 Am selben Tag berichtete der Augsburger Ratsdiener und Geschichtsschreiber Paul Hektor Mair 28 unter dem Titel Ulrich Fuggers bankrott in seinem Diarium: [E]s ist die gemain sag, dass dieser Herr Ulrich Fugger bei 2 mal hundert tausent fl schuldig sei. 29 Rosenbusch forderte erneut, dass Ulrich Fugger am 31. Mai persönlich im Rathaus erscheine. Aber er ist unangesehen dessen alles, abermaln außpliben, und Ulrich Fugger hatte wieder einen Vertreter gesandt, der eine Vollmacht vorlegte und seinen Herrn abermals entschuldigte. Rosenbusch beklagte noch einmal die ausstehende Zahlung und bat um execution 30 , also um richterliche Hilfe in Form einer Schuldhaft. 31 Ulrich Fugger hatte seinem Vertreter den Auftrag gegeben, Rosenbusch anzubieten, anstatt baren Geldes ihn auf seinen Heusern und gegenwurtige guetern zuversichern. Rosenbusch aber bestand darauf, dass Er durch den Herrn Fugger seiner schuld mitt gutem parem gelt wie er Ime dan auch geben und nit mit alt oder neuen heusern bezalt. Er wiederholte seine Bitte, gegen Ime nach der Statt geprauch zu procedieren und seinen Debitoren in Schuldhaft zu nehmen. Ulrich Fuggers Vertreter behauptete dagegen, es wer der Statt geprauch und herkommen, da ainer im gefenkhnus, mit heusern, oder anderm unterpfanden versicherung zuthuen, sie erbute, Dass man Ime wider ledig liesse. Die beiden Bürgermeister baten die Parteien, [n]achdem sie vormals nie in disem Ambt gewesen, und hievor solcher handel nie gehabt, auch nit wiß, waß gemeine Statt eigentlicher gebraucht were, ihr Anliegen am darauf folgenden 26 Stadtarchiv Augsburg (= StadtAA) Rat, Fuggerakten 1, Speyerisch Cammergerichtliche Process-Acta in Schuld= arrest= und Relaxationssachen Herrn Ulrichen Fuggers, 1562. 27 F RIEDRICH R OTH (Bearb.): Die Chroniken des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair 1517-1579 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, Bd. 32; Die Chroniken der Schwäbischen Städte, Bd. 7) Göttingen 1966 (Nachdruck der 1. Auflage von 1917), S. 161. 28 Paul Hektor Mair (~1517-1579). H ÄBERLEIN : Brüder, Freunde und Betrüger (wie Anm. 20), S. 215-218; B ENEDIKT M AUER : Sammeln und Lesen Drucken und Schreiben. Die vier Welten des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair, in: F RANZ M AULSHAGEN / B ENEDIKT M AUER (Hgg.): Medien und Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit (Documenta Augustana, Bd. 5), Augsburg 2000, S. 107-131. 29 R OTH (Bearb.): Die Chroniken des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair 1517-1579 (wie Anm. 27), S. 161. 30 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Speyerisch Cammergerichtliche Process-Acta in Schuld= arrest= und Relaxationssachen Herrn Ulrichen Fuggers, 1562. 31 Personalexekution in der Reichsstadt Augsburg, vgl. L IEDL : Gerichtsverfassung und Zivilprozess (wie Anm. 8), S. 106. <?page no="124"?> Fuggersche Generationenkonflikte 125 Dienstag vor dem Rat der Stadt Augsburg schriftlich vorzubringen. Rosenbusch insistierte weiter darauf, Ulrich Fugger unter Arrest zu stellen, weil er fürchtete, dieser könne sich bis zu diesem Termin aus der Stadt entfernen. Die Bürgermeister lehnten dieses Anliegen ab, mit dem Hinweis auf ihre eigene Unwissenheit und die Tatsache, dass Ulrich Fugger ain hierigen angeseßner Bürger sei. Anfang Juni 1562 wandte sich Ulrich Fugger in Form einer schriftlichen Supplikation an den Rat und argumentierte, daß Er und andere Herrn Fugger vom Rom ischen Kay ser befreyt seien, das sie oder Ire Erben, in Schulden oder dergleichen Bürgerlichen fellen, weder durch gebott oder verbott, noch mit einschaffung in gefenkhnus oder verpindung ainich aid pflichten angehalten werden sollen. 32 Darüber hinaus behauptete er, dass er sehr wohl solvendo sei. Der Rat entschied, dass er innerhalb von 14 Tagen seine Schulden bezahlen müsse, ansonsten würde man ihn in ain Stüblen auf dem Ratthaus verwahren und erst frei lassen, wenn die Schulden bezahlt waren. Ulrich Fugger musste schwören, seine Person und seinen Besitz in Augsburg zu belassen, bis die Angelegenheit geklärt war. 33 Da er auch diesen Zahlungstermin nicht einhielt, wandten sich am 14. Juli 1562 sein Bruder Hans Jakob und sein Cousin Marx Fugger mit einer Supplikation an den Rat. Sie baten darum, um meren schimpf und nachtaill, der auch das ganze Fuggersche Geschlecht treffen könne, zu verhüten 34 und Ulrichs seltzamen kopffs halber 35 Kuratoren zu verordnen. Am 16. Juli 1562 beschloss der Rat, dass vermög diser Statt Policeyordnung gegen seiner Person [Ulrich Fuggers], het gehandelt sollen und mögen werden und ordnete an, Ulrich Fugger, der wenig under zweimal hundert Tausent gulden schuldig und des taglichen Clagens und anrueffens wider Ime kain Aufhörens wer, 36 unter Kuratel zu stellen. Man ließ ihm die Option, selbs auß seiner Bruedern oder Vettern, zwen zu seinen Curatorn ernennen. 37 Ulrich Fugger bat den Rat um Bedenkzeit und ersuchte ihn, ein anderes Instrument als eine Vormundschaft, dero genug vorhanden, zu verordnen, weil er befürchtete, für den leut zu spott [zu] khommen. Da Ulrich Fugger in der Folgezeit nicht auf das Angebot, seine Vormünder selbst zu bestimmen, einging und sein un- 32 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Speyerisch Cammergerichtliche Process-Acta in Schuld= arrest= und Relaxationssachen Herrn Ulrichen Fuggers, 1562. 33 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Memorial, o.D. 34 StadtAA Ratsprotokolle 32, Supplication, 16.7.1562. 35 Ulrich Fugger war Epileptiker, vgl. M ITTLER (Hg.): Bibliotheca Palatina (wie Anm. 24), S. 368. 36 StadtAA Ratsprotokolle 32, Instruction, 16.7.1562. 37 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Speyerisch Cammergerichtliche Process-Acta in Schuld= arrest= und Relaxationssachen Herrn Ulrichen Fuggers; R OTH (Bearb.): Die Chroniken des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair (wie Anm. 27), S. 174. <?page no="125"?> B RITTA S CHNEIDER 126 ordendlich hausen, und verschwenden offenbar 38 war, verordnete die Augsburger Obrigkeit ihm Hans Jakob und Marx Fugger als Kuratoren. Ulrich Fugger sollte eine Obligation unterschreiben, in der er sein übelhausen gestehen und die Vormundschaft anerkennen sollte. Darüber hinaus sollte er seinen Vormündern seinen gesamten Besitz überschreiben, den Hausarrest akzeptieren, und lediglich einen jährlichen Unterhalt von 600 Gulden sowie das Wohnrecht auf Schloss Mickhausen behalten dürfen. 39 Damit hätten Ulrich Fuggers Bruder und Cousin eine weitgehende Verfügungsgewalt über dessen beträchtliches Erbe erhalten. Ulrich Fugger reagierte auf die Vormundschaft, indem er sich am 6. August 1562 über diese Obligation beschwerte und den Rat darum bat, diese Maßnahmen zu überdenken. 40 Zwei Tage später beschloss der Rat der Stadt Augsburg auf eine Supplikation 41 der Kuratoren Hans Jakob und Marx Fugger hin, dass Ulrich auf seiner bruder und vetter costen In seiner behausung verwart, also unter Arrest gestellt werde. 42 Marx und Hans Jakob Fugger berichteten in einer Bittschrift an den Rat, dass sie Ulrichs verschwenderische schulden auff [sich] nehmen würden. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass sie von kainer parschafft, ligender noch farender guetern der er so hoch anzeucht Ime gehörig, ainich gwiß wissen haben, dann allein von ainem kleinem hauptgut, so er in unserm handel ligen hat, darauff sich unsers erachtens seine Creditores nit werden weisen lassen. Sie wüssten lediglich von 5.000 bis 6.000 Gulden, die Ulrich Fugger noch in der Handelsgesellschaft liegen hatte. 43 Im September 1562 schließlich klagte Ulrich Fugger, der noch immer unter Arrest stand, gegen Marx und Hans Jakob Fugger sowie gegen die Reichsstadt Augsburg vor dem Reichskammergericht. 44 Am 2. September 1562 erging eine kaiserliche Ladung in Form eines Mandatum de relaxando an die Prozessparteien. Diesem Schreiben nach hatte Ulrich Fugger ungeverlich vor sechs Jahren an seine Brüder und Cousins die Bitte herangetragen, 38 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Speyerisch Cammergerichtliche Process-Acta in Schuld= arrest= und Relaxationssachen Herrn Ulrichen Fuggers, 1562. 39 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Copia einer Obligation so Herr Ulrich Fugger den geordneten Curatoren geben soll, 27.7.1562. 40 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Petition, 6.8.1562. 41 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Herrn Ulrich Fuggers geordneter Curatorn Begern, o.D. 42 StadtAA Ratsprotokolle 32, Ratsbeschluss vom 8.8.1562. 43 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Herrn Ulrich Fuggers geordnete Curatorn Begern, o.D. 44 BayHStA RKG 5525: Diese Prozessakte enthält neben dem Ladungsschreiben lediglich die Gewaltschreiben der Reichsstadt Augsburg und von Marx und Hans Jakob Fugger sowie ein Schreiben von Dr. Martin Reichardt an den Kammerrichter. Ulrich Fugger wurde von Dr. Martin Reichardt, Prokurator am Reichskammergericht, vertreten. Die Reichsstadt Augsburg konstituierte Dr. Alexander Reiffsteck als ihren Vertreter, Marx und Hans Jakob Fugger bevollmächtigten Dr. Johann Deschler. <?page no="126"?> Fuggersche Generationenkonflikte 127 ihn aus der Familienhandelsfirma auszulösen und ihm darüber hinaus eine Generalrechnung vorzulegen sowie einen Teil seiner Anteile auszubezahlen. Trotz mehrmaliger Anfragen hätten die beiden Administratoren ihm diese Bitte abgeschlagen und ihm sein aigenthumb […] vorenthalten. Deshalb hatte sich Ulrich Fugger zu seiner haußhaltung und hausstand reputation verschulden müssen. Seine Gläubiger vertröstete er mit der Behauptung, dass ihm die Handelsgesellschaft ain statliche summa schuldig war. Ulrich Fugger warf Hans Jakob und Marx Fugger sowie den beiden Augsburger Bürgermeistern vor, so das Ladungsschreiben, ihn one vorwissen und erkanthnuß des Rats unter Arrest gestellt zu haben. [A]uß zwang und betrawung unordenlichen gwalts habe [er] angeloben mussen, sich und sein Vermögen nicht aus der Stadt Augsburg zu entfernen. Dieses Verhalten verstoße, so Ulrich Fugger, sowohl gegen den alten stattbrauch und ublichen herkommen als auch gegen die fuggerischen Privilegien. Darüber hinaus sei er mehr als solvende, da sein Anteil an dem fuggerschen Kapital zweymal mehr, dann er in allem schuldig betrage. Er beschuldigte seine Verwandten, sich ihm gegenüber unbrüderlich verhalten und ihn durch Arrest und Kuratel in nachtail und verclainerung gebracht zu haben. Außerdem soll Marx Fugger ins Schloss Mickhausen eingebrochen sein und die thuren mit gewalt uff gebrochen, und aignen gefallen und mutwillen nach, alles und yede brieff, sigel, urkhunden, schrifften und register […] hinweg genommen haben. Ferner hätten Hans Jakob und Marx Fugger ihn zu einer Obligation gezwungen, der zufolge sie ihm gegenüber nicht zur Rechnungslegung verpflichtet waren. Dies sei aller menschlichen vernunfft und verstand zuwider. 45 Dennoch wurde er am 8. August 1562 von den beiden Augsburger Bürgermeistern unter Hausarrest gestellt und seither von vier Soldaten bewacht, so die Schilderung aus dem Mandat respektive dem Ladungsschreiben des Reichskammergerichts. Die Prozessparteien wurden schlussendlich auf den 5. Oktober 1562 vor das Reichskammergericht geladen. Am 12. September 1562 erfuhr der Rat der Stadt Augsburg von dieser Klage und konfrontierte Ulrich Fugger mit seinen Vorwürfen und dem Ladungsschreiben. 46 Ulrich gab zu, dass er selbst dieses Mandat initiiert hatte, und wiederholte seine Anschuldigungen. Die Behauptung allerdings, Marx Fugger sei gewaltsam in Schloss Mickhausen eingedrungen, hab er nie gedacht oder befohlen in seiner Clag fürzubringen. 47 45 BayHStA RKG 5525, Mandatum de relaxando, 2.9.1562. 46 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Kurzer und Summarischer vergrif, o.D. 47 StadtAA Rat, Fuggerakten 1, Herrn Ulrichs Antwurt auf des fürgehalten durch seiner Anwelde ausgebracht Mandatum de Relaxando, o.D. <?page no="127"?> B RITTA S CHNEIDER 128 Marx und Hans Jakob Fugger reagierten mit einer dilatorischen Einrede auf die Ladung. 48 Darin befanden die Beklagten, dass sie von Herrn gegenthail ganz unbefuegter unbillicher weiß vor disem hochloblichen Kay[serlichen] Cammergericht citirt worden seien und das Mandat nichtig sei. Da der Rat der Reichsstadt Augsburg als litis consorte mitverklagt war, sahen sie den Landvogt zu Augspurg als rechtmäßige gerichtliche Instanz an, nicht das Reichskammergericht. Sie baten den Kammerrichter, die Ladung zu cassieren und sie von diesem Prozess zu absoluieren. 49 Der Syndikus der Reichsstadt Augsburg hielt die Klage ebenfalls für nichtig und grundloß und verfolgte in seiner Einrede das Ziel, die Argumentation des Klägers im grund der wahrheit und recht umb[zu]stossen. 50 Augsburg erkannte das Reichskammergericht auch nicht als das rechtmäßige Gericht in dieser Angelegenheit an: die Stadt sei vom Kaiser davon befreit worden, in erster Instanz vor dem Reichskammergericht oder dem Hofgericht von einem ihrer Bürger verklagt zu werden. Auch hier wird der Landvogt als rechtmäßige erste Instanz für gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Reichsstadt Augsburg genannt. 51 Deshalb dürfe der Prozess nicht am Reichskammergericht anhängig gemacht werden. Obwohl man die Ladung für nicht gerechtfertigt hielt, fügte der Rat der Reichsstadt einen wahrhafftig bericht 52 bei, der beschrieb, warum man Ulrich Fugger Kuratoren verordnet hatte: Er habe vor allem in Augsburg große Schulden gemacht, die er trotz mehrmaliger Ermahnungen durch die Obrigkeit nicht bezahlte. Am 4. Juni 1562 habe sich schließlich sein Gläubiger Christoph Rosenbusch mit einer Beschwerde an den Rat gewandt. Daraufhin habe man Erkundigungen eingeholt und erfahren, dass Ulrich nicht nur Schulden in beachtlicher Höhe habe, sondern auch von seinem Erbe bereits mehr als 100.000 Gulden verschwendet hatte. Nach dem Stadtrecht hätte der Rat mit Ulrich Fugger mit der gefengkhnuß wie mit andern verpflichten ungehorsamen Mitburgern zu volfharen, und Ine so lanng darinn zubehalten, biß seine haab und guetter […] offentlich verkaufft. Aus guotter vätterlicher wolmainung hätte man sich aber dafür entschieden, ihm die Möglichkeit zu lassen, sich selbst unter Kuratel zu stellen. Da er sich aber geweigert hatte, hätte man ihm in plenu 48 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Exceptiones declinatoria fori, o.D. 49 Vgl. D IANA E GERMANN -K REBS : Die Fugger und die Reichslandvogtei in Schwaben ein Weg in kaiserliche Dienste, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.): Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 41), Augsburg 2008, S. 53-61. 50 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Exceptiones declinatoria fori, o.D. 51 Vgl. J OACHIM F ISCHER : Das kaiserliche Landgericht Schwaben in der Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 43 (1984), S. 237-286. 52 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Exceptiones declinatoria fori articulatae, mit angehengktem wahrhafftig bericht und in eventum litis contestation, o.D. <?page no="128"?> Fuggersche Generationenkonflikte 129 senatu, und eben nicht ohne das Wissen des Rats, wie gegenthayl unerfreundtlicher weyßs fürgibt, Marx und Hans Jakob Fugger von Amts wegen als Kuratoren verordnet und beiden Seiten die entsprechenden Eide abgenommen. Der Syndikus betonte, dass man durchaus auch andere und scherpffere mitl umb solliches verbrechen willen gegen dem Herrn gegenthail fürnemen hett khönnen und mögen. 53 Nachdem an nur drei Tagen im Oktober 1562 vor dem Reichskammergericht verhandelt worden war, wurde der Konflikt letztendlich durch eine kaiserliche Kommission gelöst. 54 Aus einem Schreiben von Achilles Pirmin Gasser 55 an Ulrich Fuggers Schwager, Joachim Graf von Ortenburg 56 , geht hervor, dass König Maximilian II. vier Kommissare eingesetzt hatte. Darüber hinaus wird aus Ortenburgs Korrespondenz deutlich, dass er versuchte, seine Kontakte unter anderem in die protestantische Kurpfalz zu nutzen, um seinen Schwager in dieser Angelegenheit zu unterstützen. 57 Für den 24. März 1563 war ein erster Termin für eine Einigung zwischen Ulrich Fugger und seinem Bruder sowie seinem Cousin angesetzt worden. 58 Dieser Vermittlungsversuch scheint erfolgreich gewesen zu sein, denn am 26. April 1563 schlossen Ulrich, Marx und Hans Jakob Fugger einen Vertrag. In diesem Vergleich wurde festgelegt, dass Arrest und Vormundschaft aufgehoben wurden und Ulrich auf freyen fueß gestellt werden sollte. Ulrich Fuggers Kuratoren waren dagegen verpflichtet, seine Schulden aus seinem Vermögen zu bezahlen und ihm darüber eine Rechnung auszustellen. Darüber hinaus mussten die Kuratoren Ulrich Fuggers Versorgung sicherstellen, bis das Verfahren abgeschlossen war. Allerdings durfte er sich in diesem Zeitraum nicht weiter verschulden. Sobald die Schulden bezahlt waren, mussten die Kuratoren im Beisein 53 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Exceptiones declinatoria fori articulatae, mit angehengktem wahrhafftig bericht und in eventum litis contestation, o.D. 54 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Designatio Prothocolli, 5.10.1562. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (= HHStAW) RHR, Commissiones 1, Commission zwischen den Fuggern, 17.11.1562; vgl. dazu auch: A LTHOFF : Recht nach Ansehen der Person (wie Anm. 3), S. 80-92. 55 Achilles Pirmin Gasser (1505-1577) war protestantischer Arzt, humanistischer Universalgelehrter sowie Geschichtsschreiber und stand sowohl mit Ulrich Fugger als auch mit Joachim Graf von Ortenburg in Kontakt. G ÜNTHER H ÄGELE : Achilles Pirmin Gasser, in: G ÜNTHER G RÜN - STEUDEL / G ÜNTHER H ÄGELE / R UDOLF F RANKENBERGER (Hgg.): Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl., Augsburg 1998, S. 430. 56 Joachim Graf von Ortenburg (1530-1600) war seit 1549 mit Ulrich Fuggers Schwester Ursula verheiratet und ebenfalls Protestant. R UDOLF E NDRES : Ortenburg, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 596f. 57 Schreiben von Wenzel Zuleger an Joachim von Ortenburg, 20.3.1563, in: W ALTER G OETZ / L EONHARD T HEOBALD (Bearb.): Beiträge zur Geschichte Herzog Albrechts V. und der sog. Adelsverschwörung 1563 (Briefe und Akten zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Baierns Fürstenhaus, Bd. 6), Leipzig 1913, Quelle 28. 58 Schreiben von Achilles Gasser an Joachim vom Ortenburg, 19.3.1563, in: G OETZ / T HEOBALD (Bearb.): Beiträge zur Geschichte Albrechts V. (wie Anm. 57), Quelle 27. <?page no="129"?> B RITTA S CHNEIDER 130 von Joachim Graf von Ortenburg eine Abrechnung vorlegen. Schließlich sollte mit erfolgreicher Durchführung dieses Vergleichs die Rechtfertigung am Cammergericht gefallen und aufgehoben sein. Aus den Ratsprotokollen wird ersichtlich, dass sich Ulrich Fugger durch die Commissari, mit seinen brüdern verglichen und vertragen hatte. Die Gläubiger seien alle gestilt und befridet, 59 und Ulrich Fugger habe eine Urphed gesiegelt und unterschrieben. 60 Auch Paul Hektor Mairs Diarium erwähnt die Freilassung Ulrichs und weiß vom Verkauf seiner Häuser, etlich hausrat sowie einer jährlichen Leibrente von 1.500 Gulden. 61 1564 übersiedelte Ulrich Fugger nach Heidelberg. 62 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Kontroverse um seine Person bereits von der ungleich komplexeren Auseinandersetzung zwischen Hans Jakob und Marx Fugger überschattet. 4. Schlussbemerkung Die Fugger nutzten vornehmlich ab 1562 auch Gerichte für die Klärung von Auseinandersetzungen um Familien- und Handelsinterna. Den Auftakt dieser Prozessserie bildete eine Klage Ulrich Fuggers vor dem Reichskammergericht. Ulrich Fugger entzog sich auf diese Weise den obrigkeitlichen Institutionen seiner Heimatstadt Augsburg und damit auch dem direkten Einfluss seiner Familie und der Gläubiger. Er erreichte so unter anderem die Aufhebung seines Arrests und einen für ihn vorteilhaften Vergleich. Die Beklagten, Hans Jakob und Marx Fugger sowie die Reichsstadt Augsburg, sahen das Reichskammergericht zunächst nicht als rechtmäßige Institution in Sachen Fugger contra Fugger an. Der Prozess verdeutlicht auch die Uneinigkeit der Beteiligten über den Gerichtsstand. Nicht zwangsläufig das Stadtgericht Augsburg oder die Reichsgerichte wurden von den Fuggern als Austragungsort genutzt, sondern sowohl die Gerichte der Reichsstadt Augsburg als auch das Reichskammergericht sowie der Reichshofrat sollten im weiteren Verlauf der Prozessserie Foren für die Klärung der innerfamiliären Konflikte werden. Diese Auseinandersetzung wurde schlussendlich nicht durch ein Urteil des 59 StadtAA Rat, Fuggerakten 2, Extract von Herrn Dr. Alexander Reiffstecks schreiben, 03.12.1562. 60 Bei einer Urfehde handelt es sich um einen in ein Friedensgelöbnis gekleideten Vergeltungsverzicht. Motiv der (Haft-)Urfehde ist die Vorstellung, der Haftentlassene werde sich rächen, sofern er nicht eidlich der Rache entsagt, vgl. dazu S TEFAN C HRISTIAN S AAR : Urfehde, in: A DALBERT E RLER / E KKEHARD K AUFMANN / D IETER W ERKMÜLLER (Hgg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, Berlin 1998, Sp. 562-570. 61 R OTH (Bearb.): Die Chroniken des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair (wie Anm. 27), S. 210. 62 M ITTLER (Hg.): Bibliotheca Palatina (wie Anm. 24), S. 368f. <?page no="130"?> Fuggersche Generationenkonflikte 131 Reichskammergerichts entschieden, sondern Kommissare erreichten in Augsburg einen Vergleich. Der Prozess zeigt exemplarisch, dass sich die Fugger ab 1562 neuer Strategien bedienten, um Konflikte innerhalb der Familie und der Handelsgesellschaft zu lösen. Die von der Forschung postulierte ausschließliche außergerichtliche Regelung von Auseinandersetzungen innerhalb von Familie und Handelsgesellschaft, kann für die Fugger für die Zeit nach 1562 nicht bestätigt werden. Die von Anton Fugger intendierte ideale Lösung ausserhalb rechtens unnd gericht fand somit bereits in der Generation seiner Söhne und Neffen keine Anwendung, sondern der Konfliktaustrag verlief zunehmend in institutionalisierten Bahnen. 63 Aus der Perspektive der Generationenthematik traten bei den Fuggern in diesem Konflikt genealogische hinter wirtschaftlichen Faktoren zurück. Wichtiger als der Ruf eines einzelnen, noch dazu unliebsamen Mitglieds der Familie war es darüber hinaus, schimpf und nachtaill für das ganze Fuggersche Geschlecht zu vermeiden. Ein Vermittler in einem der späteren Prozesse Fugger contra Fugger stellte am Rande eines Reichstags treffend fest: dann wann das Gelt hin, werd die Vetterschafft auch aus. 64 63 Testament Anton Fuggers vom 22. März 1550, zitiert nach P REYSING : Die Fuggertestamente (wie Anm. 1), S. 128f. 64 C HRISTL K ARNEHM (Bearb.): Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, Band II/ 1: 1566-1573, München 2003, S. 271. <?page no="132"?> 133 Mark Häberlein Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte im Spiegel einer patrizischen Familienkorrespondenz des frühen 17. Jahrhunderts 1. Friedrich Endorfer d.Ä.: Patrizisches Standesbewusstsein und finanzielle Grenzen In der Gesellschaftsordnung der Reichsstadt Augsburg nahm das Patriziat in der Frühen Neuzeit eine herausragende Stellung ein. Die Patrizier waren zum einen in sozialer Hinsicht der angesehenste Stand: So blieb der Zugang zur exklusiven Herrentrinkstube sowie das Tragen goldener Ketten in der Öffentlichkeit ihnen und den mit ihnen verschwägerten Familien vorbehalten. Seit der von Kaiser Karl V. im Jahr 1548 oktroyierten Änderung der Augsburger Stadtverfassung gab das Patriziat auch politisch den Ton an: 31 der 45 Sitze im politisch maßgeblichen Kleinen Rat wurden fortan von Patriziern besetzt, und der siebenköpfige Geheime Rat, der innerste Lenkungsausschuss der Reichsstadt, war ein exklusiv patrizisches Gremium. Da eine Vielzahl administrativer Ämter von Mitgliedern des Rates wahrgenommen wurde und diese Ämter seit 1548 besoldet waren, war eine Ratskarriere auch mit der Aussicht auf ein stetiges Einkommen verknüpft. Und obwohl sich eine Reihe von Patrizierfamilien seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem aktiven Handel zurückgezogen hatte, verfügten die meisten Angehörigen des Patriziats im frühen 17. Jahrhundert über beträchtliche Vermögen aus Grundbesitz und Kapitaleinkommen. Sozialen Status, politische Macht und ökonomischen Wohlstand zu sichern und zu mehren, war ein wesentliches Anliegen der reichsstädtischen Patrizierfamilien; eine standesgemäße Lebensführung, eine gute Ausbildung der Söhne und die Verheiratung der Nachkommen mit Angehörigen sozial ebenbürtiger Familien waren zentrale Strategien, um dieses Ziel zu erreichen. 1 1 Vgl. A LBRECHT R IEBER : Das Patriziat von Ulm, Augsburg, Ravensburg, Memmingen, Biberach, in: H ELLMUT R ÖSSLER (Hg.): Deutsches Patriziat 1430-1740. Büdinger Vorträge 1965 (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 3), Limburg an der Lahn 1968, S. 299-351; I NGRID B ÁTORI : Das Patriziat der deutschen Stadt. Zu den Forschungsergebnissen über das Patriziat besonders der süddeutschen Städte, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2 (1975), S. 1-30, bes. 15-21; O LAF M ÖR - <?page no="133"?> M ARK H ÄBERLEIN 134 Vor diesem Hintergrund verlief das Leben des 1566/ 67 geborenen evangelischen Patriziers Friedrich Endorfer d.Ä. bis zum 16. September 1628 wenig spektakulär. Endorfer absolvierte wahrscheinlich eine kaufmännische Ausbildung in Italien und war um 1590 für die Welser-Gesellschaft in Spanien tätig. 1598 heiratete er Regina Buroner, eine Tochter des reichen Fernhandelskaufmanns Hieronymus Buroner, die ihm bis 1614 zehn Kinder gebar. Nach der Hochzeit trat er in die Handelsgesellschaft seines Schwiegervaters ein, für die er in den folgenden Jahren wiederholt die Linzer und Bozener Märkte besuchte. 1602 kündigte er jedoch seine Mitarbeit und seine Kapitalbeteiligung in der Buroner-Gesellschaft auf und widmete sich fortan seiner Familie und seinen städtischen Ämtern. Bereits 1598 war er zum Richter am Stadtgericht und im folgenden Jahr zum Mitglied des Kleinen Rats gewählt worden. 1602 wurde er zum Kriegs- und Zeugherrn, 1608 zum Strafherrn und 1611 zum Steuerherrn gewählt. Außerdem vertrat er die Stadt als Gesandter auf den Regensburger Reichstagen von 1608 und 1613 sowie auf zahlreichen Kreis- und Münzprobationstagen. Daneben trat er immer wieder als Pfleger und Rechtsbeistand für Witwen und Waisenkinder aus seinem verwandtschaftlichen Umfeld auf. Nachdem seine erste Frau 1616 gestorben war, heiratete der Vater von fünf unmündigen Kindern, die das frühe Kindesalter überlebt hatten, 1618 in zweiter Ehe die Kaufmannswitwe Barbara Hopfer. 2 KE / K ATARINA S IEH : Gesellschaftliche Führungsgruppen, in: G UNTHER G OTTLIEB u.a. (Hgg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, 2 Stuttgart 1985, S. 301- 311; R UDOLF E NDRES : Adel und Patriziat in Oberdeutschland, in: W INFRIED S CHULZE (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 12), München 1988, S. 221-238; B ERND R OECK : Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 2 Bde. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 37), Göttingen 1989, Bd. 1, S. 232-237, 239-249, 341-348, 430-432; M ARK H ÄBERLEIN : Sozialer Wandel in den Augsburger Führungsschichten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: G ÜN - THER S CHULZ (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Büdinger Gespräche 2000-2001, München 2002, S. 73-96; H ARTMUT B OCK : Goldene Ketten und Wappenhelme. Zur Unterscheidung zwischen Patriziat und Adel in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 97 (2004), S. 59-120. 2 Dieser und die beiden folgenden Absätze basieren auf der Einleitung zu M ARK H ÄBERLEIN / H ANS -J ÖRG K ÜNAST / I RMGARD S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz der Augsburger Patrizierfamilie Endorfer 1620-1627. Briefe aus Italien und Frankreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Documenta Augustana, Bd. 21), Augsburg 2010, S. 9-61. Dort werden die Quellen zu Endorfers Biographie einzeln nachgewiesen. Vgl. außerdem W OLFGANG R EINHARD (Hg.): Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620, Berlin 1996, S. 106f. (Nr. 183); I RMGARD S CHWANKE : Briefe aus Lucca und Lyon nach Augsburg. Kaufmannsausbildung und Kulturtransfer im 17. Jahrhundert, in: D OROTHEA N OLDE / C LAUDIA O PITZ (Hgg.): Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 2008, S. 253- 271; M ARK H ÄBERLEIN : Commerce, formation et réseaux de compatriotes: la ville de Lyon vue <?page no="134"?> Patrizische Familienkorrespondenz 135 In den 1620er Jahren rückte die standesgemäße Ausbildung und Versorgung seiner Nachkommen in den Mittelpunkt von Friedrich Endorfers Aufmerksamkeit. Seinen ältesten Sohn Friedrich schickte er 1620 zur kaufmännischen Ausbildung nach Lucca und drei Jahre später nach Lyon, wo 1626 auch Friedrichs jüngerer Bruder Hans eine Lehre begann. Im Jahre 1625 heiratete seine Tochter Regina Adolph Zobel, einen jungen Mann aus einer der reichsten Augsburger Familien. Ein in vieler Hinsicht typischer, von der Übernahme öffentlicher Aufgaben und der Sorge um die Familie bestimmter patrizischer Lebenslauf also - bis zum 16. September 1628. An diesem Tag wurde Friedrich Endorfer unter dem Verdacht, in seiner Funktion als städtischer Steuerherr in großem Umfang Steuergelder unterschlagen zu haben, verhaftet und die in seiner Schreibstube aufbewahrten Unterlagen beschlagnahmt. Nachdem er, aus Rücksichtnahme auf seine Stellung als Patrizier und Ratsherr, zunächst einige Wochen auf dem Rathaus verwahrt wurde, ließ der Rat ihn Anfang Oktober in die Eisen legen, nachdem das gewaltige Ausmaß seiner Unterschlagung zutage getreten war: Zwischen 1611 und 1628 soll er fast 30.000 Gulden an städtischen Geldern veruntreut haben. Die Überprüfung seiner Unterlagen ergab, dass Endorfers Einnahmen aus städtischen Besoldungen, Vermietungen, kleineren Kapitalanlagen und gelegentlichen Kommissionstätigkeiten für die Nürnberger Firma Imhoff auch in „normalen“ Jahren nicht ausreichten, um den aufwendigen Lebensstil der Familie zu bezahlen. Noch weniger reichten sie hin, um größere Baumaßnahmen an seinem Haus oder den Kauf eines Gartengrundstücks im Jahre 1616 zu bezahlen. Und schon gar nicht war Endorfer in der Lage, die Kosten der Auslandslehre seiner Söhne und die Aussteuer für seine Tochter aus seinen regulären Einkünften zu bestreiten. 3 Die Achillesferse des gesamten Lebensentwurfs von Friedrich Endorfer d.Ä. lag in einer ungünstigen Vermögens- und Einkommenssituation: Sein Vater Stefan Endorfer hatte in den 1570er Jahren einen Großteil seines Vermögens beim Konkurs seines Schwagers, des Großkaufmanns Hans Paul Herwart, eingebüßt, 4 und das Restvermögen musste Friedrich Endorfer nach par des marchands de l’Allemagne du Sud au XVI ème et au début tu XVII ème siècle, in: J EAN - L OUIS G AULIN / S USANNE R AU (Hgg.): Lyon vu/ e d’ailleurs (1245-1800). Échanges, compétitions et perceptions, Lyon 2009, S. 141-159. 3 Zahlreiche Rechnungen zu Endorfers Einnahmen, Ausgaben und Vermögensverhältnissen finden sich in Stadtarchiv Augsburg, Stadtgericht, Schuld-, Klag-, Appellationssachen, Teil 2, Karton III-IV. 4 H ANS H ERWARTH VON B ITTENFELD : Fünf Herwarthische Urkunden, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 9 (1882), S. 117-157, hier S. 147-155; M ARK H ÄBERLEIN : Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana, Bd. 9), Berlin 1998, S. 308f. <?page no="135"?> M ARK H ÄBERLEIN 136 dem Tod des Vaters mit zwei Schwestern teilen. Durch den frühzeitigen Ausstieg aus der Firma seines Schwiegervaters hatte Endorfer zudem auf die Möglichkeit verzichtet, sein Kapital durch Handelsprofite substantiell zu vermehren. Anstatt seine Ausgaben den Gegebenheiten anzupassen, versuchte Endorfer jedoch, mit seinen reichen Verwandten und Standesgenossen mitzuhalten und seinen Nachkommen eine ihrem Stand entsprechende Lebensperspektive zu eröffnen. Dieses „Generationenprojekt“ scheiterte auf dramatische Weise: Friedrich Endorfer starb am 14. November 1628 in den Eisen und wurde vom Scharfrichter in einem Karren auf den äußeren Gottesacker gebracht und begraben - ein singulärer Fall der Diffamierung eines verstorbenen Patriziers durch einen Vertreter der unehrlichen Berufe. 5 Was diesen Fall für den Historiker besonders interessant macht, ist der Umstand, dass sich ein großer Teil der Papiere, die 1628 in Friedrich Endorfers Schreibstube konfisziert wurden, im Augsburger Stadtarchiv erhalten hat. Darunter befinden sich neben zahllosen Rechnungen und mehreren Dutzend Kalendern auch über 70 Briefe, die im Kontext der Auslandslehre von Friedrich Endorfers Söhnen entstanden. 6 Die meisten überlieferten Briefe verfasste der älteste Sohn Friedrich d.J., der 1620 als 16-jähriger nach Lucca ging und 1627 aus Lyon nach Augsburg zurückkehrte. Eine geringere Zahl an Briefen stammt von dessen jüngerem Bruder Hans bzw. dokumentiert die Korrespondenz zwischen dem Vater und den Lehrherren Francesco und Stefano Busdraghi in Lucca sowie Daniel Herwart und Hans Heinrich Grueber in Lyon. Auch wenn die Korrespondenz keineswegs vollständig überliefert ist - die städtischen Behörden hoben offenbar bevorzugt Schriftstücke auf, in denen finanzielle Fragen thematisiert wurden - handelt es sich um einen der ganz wenigen Augsburger Briefbestände, die den reichhaltigen Korrespondenzen Nürnberger Patrizierfamilien zur Seite gestellt werden können. Gemeinsam mit Hans-Jörg Künast und Irmgard Schwanke habe ich die Endorfer-Korrespondenz vor kurzem in einer Edition vorgelegt. An dieser Stelle möchte ich sie in einer textnahen Lektüre für die Generationenthematik fruchtbar machen. 5 Vgl. dazu die Chronik des Augsburger Kaufmanns Jakob Wagner, der mit einer Schwester Friedrich Endorfers d.Ä. verheiratet war: Stadtarchiv Augsburg, Chroniken, 27a, S. 67f. Zu den unehrlichen Berufen in der Reichsstadt Augsburg siehe K ATHY S TUART : Unehrliche Berufe. Status und Stigma in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 1, Bd. 36), Augsburg 2008. 6 Stadtarchiv Augsburg, Stadtgericht, Schuld-, Klag-, Appellationssachen, Teil 2, Karton IV. <?page no="136"?> Patrizische Familienkorrespondenz 137 2. Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte in der Endorfer-Korrespondenz Das Wort ‚Generation‘ selbst ist im Briefwechsel nicht nachzuweisen, doch finden sich zahlreiche Reflexionen über das angemessene Verhalten junger Menschen sowie über Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen bzw. Stiefvätern und Stiefsöhnen. Damit thematisiert die Korrespondenz sowohl die vertikal-diachrone Dimension des Generationsbegriffs, die Abstammungsverhältnisse und Beziehungen innerhalb von Familienverbänden in den Blick nimmt, als auch die horizontal-synchrone Dimension im Sinne einer „Bezeichnung für soziale Gruppierungen […], die aufgrund ihres Alterszusammenhangs eine imaginierte kollektive Identität ausbilden und sich dadurch von anderen Gruppierungen absetzen.“ 7 In Arbeiten zu den Korrespondenzen reichsstädtischer Patrizier- und Kaufmannsfamilien in Spätmittelalter und Früher Neuzeit wurde einerseits deren Quellenwert für die Rekonstruktion von innerfamiliären Beziehungen, Sozialisationsvorgängen, Migrationserfahrungen und Kommunikationsprozessen betont; 8 andererseits wurde vorgeschlagen, diese Briefwechsel als Produkte eines Erziehungsdiskurses zu lesen, die nicht primär der Mitteilung individueller Erfahrungen und Eindrücke dienten, sondern auf Erwartungshaltungen und Verhaltensnormen reagierten. 9 Diese beiden Aspekte innerfamiliärer Briefwechsel charakterisieren grundsätzlich auch die Endorfer-Korrespondenz. Friedrich Endorfer d.J. legte seinem Vater regelmäßig Rechenschaft über seine Fortschritte im Fremdsprachenlernen, in der Buchhaltung und im Schreiben kaufmännischer Briefe und Rechnungen ab, er betonte seinen Lerneifer, seinen Arbeitswillen und sein gutes Verhältnis zu seinen Lehr- 7 U LRIKE N AGENGAST / M AXIMILIAN S CHUH : Natur vs. Kultur? Zu den Konzepten der Generationenforschung, in: H ARTWIN B RANDT / M AXIMILIAN S CHUH / U LRIKE S IEWERT (Hgg.): Familie - Generation - Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne (Bamberger Historische Studien, Bd. 2), Bamberg 2008, S. 11-29 (Zitat S. 20). Vgl. auch U LRIKE J UREIT : Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 62-70, 78-85. 8 Vgl. M ATHIAS B EER : Das Verhältnis zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 77 (1990), S. 91-153; D ERS .: „Et sciatis nos fortiter studere“. Die Stellung des Jugendlichen in der Familie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: M ARTIN K INTZINGER u.a. (Hgg.): Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte, August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, Köln u.a. 1991, S. 385-407; D ERS .: Migration, Kommunikation und Jugend. Studenten und Kaufmannslehrlinge der Frühen Neuzeit in ihren Briefen, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 355-387; S TEPHEN O ZMENT : Flesh and Spirit: Private Life in Early Modern Germany, New York 1999. 9 C HRISTIAN K UHN : Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (Formen der Erinnerung, Bd. 45), Göttingen 2010. <?page no="137"?> M ARK H ÄBERLEIN 138 herren, und er versicherte pflichtgemäß, allen väterlichen Ermahnungen und Anweisungen Folge zu leisten. 10 Während er seinen eigenen Ausbildungsweg als geradlinig und erfolgreich beschrieb, dienten dem jungen Friedrich Endorfer die Erfahrungen anderer oberdeutscher Kaufmannssöhne in Lucca und Lyon primär als Kontrastfolie, um die eigenen Leistungen plastischer hervortreten zu lassen. Während er selbst angeblich durchweg gute Lernfortschritte machte, ihm alles leicht von der Hand ging und er das Vertrauen seiner Lehrherren genoss, erwies sich etwa Endorfers entfernter Cousin Jeremias Österreicher, der gemeinsam mit ihm eine Lehre im Lyoner Kontor Daniel Herwarts begonnen hatte, angeblich als begriffsstutzig, träge und wenig sprachbegabt. So behauptete der junge Endorfer im November 1623, kurz nach seiner Ankunft in Lyon: Der Ostereicher […] wirdt guete Zeit alhier zuebringen müessen, biß ein Intendement der franzesischen Sprach erlangt. Dann er biß dato im geringsten vast nichts versteth. Auch im Contor wegen seiner Jugendt vnd Vhngschickhlikheit wenig prestiern vnd allein zue Copierung der teudtschen brief gebraucht werden kahn. In einem Brief vom August 1624 gestand Friedrich Endorfer d.J. seinem Cousin zwar gewisse Lernerfolge zu, doch sei dieser nach wie vor ein schlechter schreiber vnd gahr vhngewiser schitz [Schütze, M.H.] im Rechnen. 11 Gegen Ende des Jahres 1625 charakterisierte Endorfer Jeremias Österreicher nicht nur abermals als in allen seinen affairs so schläfferig vnd faul, daß mich selbsten (obgleich khein Intreß bey habe) heimlichen verdriessen vnd bekhümmern dhuet, sondern gab auch Einblicke in ein von Missgunst und Intrigen geprägtes Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden jungen Augsburger Kaufmannslehrlingen: Ich hete biß dato vilmahlen wol vrsach ghapt, etliche Reden, so er gehn lassen, zuuerweisen. Ich hab mir aber, bessers fridts halber, noch immerthar abgebrochen vnd alles für ehen gehn lassen, weilen wol weiß, daß ihme die jhenige persohn, bey deren er mich gehrne heimlicher weiß in desgratia oder vhngunst bringen vnd desiderierte, daß mir selbe nicht so wol wolte, nicht glauben gibt vnd selbsten spirt, daß es allein […] auß lauterm Neidt […] gschieht. […]. Ich laß mich sonsten gegen ihme, wie gemelt, im geringsten nicht vermerckhen, sondern stelle mich, als 10 In einem Brief vom August 1624 schreibt er beispielsweise: Des Herrn Vattern trewhörzigen vnd wohlgemeinten warnungen vnd vermahnungen, etliche particolaria betreffendt, bedanckh ich [mich] auffs höchst. Vnd will sie, so gutt als sie von Ihme gemeint, auff vnd ahnnemmen vnd fleissig obseruiern vnnd in Acht nemmen, auch weder in einen noch dem andern wehge überschreiten. H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), S. 163 (Brief Nr. 22, Lyon, 1./ 11. August 1624). 11 Ebd., S. 138 (Brief Nr. 18, Lyon, 19. November 1623), 160 (Brief Nr. 22, Lyon, 1./ 11. August 1624). Siehe auch S. 186 (Brief Nr. 26, Lyon, 19./ 29. Dezember 1624). <?page no="138"?> Patrizische Familienkorrespondenz 139 wisse ich nicht, waß er hinderwerths vßgibt, obgleich […] alsbaldt hernach alles erfahre. 12 Als sich 1626 ein Spross der Augsburger Kaufmannsfamilie Hainhofer, 13 der zuvor zwei Jahre lang in Genf bey Italienern gewohnt hatte, in Lyon aufhielt, schrieb Friedrich Endorfer d.J. über ihn, er sei zwar ein artiger Jungling von gutem Esprit, aber nicht so auferzogen, daß er einem Herrn dienen khönte. Dan er ist vil zue delicat, halt auch vil auf sich selbsten. Zuedem ist er ein schlechter schreiber vnd gahr vhngwis im Rechnen. In einem weiteren Brief charakterisierte er Hainhofer als über die massen faul vnd sehr hochmietig. Er wundere sich sehr darüber, dass der junge Hainhofer an seine Verwandten nach Augsburg schreibe, das er wegen der vilfeltigen Labores weder tag noch Nacht keine Rueh vnd von jederman strapazziert werde, inmassen ich mit der wahrheit bekhennen khan, das ich ihne seider meiner widerkhonfft nicht ein brieff ein- oder abcopieren sehen, […] noch geringere geschöfft verricht hat. Sein gröste thon sein bißhero gewesen, spaziern zue gehen vnd biß vmb die 9 in 10 vhr im beth zue ligen. Als Hainhofer schließlich Lyon verließ, sei auch der Lehrherr erleichtert gewesen: Herr Herwarth ist recht froh, daß er gemeltes Einhofers ledig. Hat mir erst gestern Abendts vnder anderm gsagt, seine Vöter, die 2 Welser, vnd des Einhofers Vater solten sich inß hörz schämmen, daß sie ihme ein sollichen faulen vnd nichtwerten leckher zuegschikht vnd dan noch glauben machen, wie es ein so artiger vnd geschickhter Jung seie. 14 Auch als ein Mitglied der Nürnberger Kaufmannsfamilie Dilherr 15 seine Ausbildung bei Herwart in Lyon begann, wusste Endorfer zu berichten, der junge Dilherr sei dem Herrn Herwarth zuer handlung nicht ahnstendig vnd gahr zue delicat vfferzogen worden. Er ist sonsten schon ein Jungling von 18 in 19 Jahren, aber weit khindischer alß nicht mein lieber Bruder Hanß, so erst bey 15 Jahren hat. Über daß, so ist er ein sehr schlechter vnd heiloser schreiber vnd im Rechnen ganz nicht pratico vnd, so am ergsten ist, daß er auch ganz kheine Lust zue obermelten Tugenten hat. Vnd sein Lust allein 12 Ebd., S. 214f. (Brief Nr. 31, Lyon, 18./ 28. Dezember 1625). Vgl. auch S. 253f. (Brief Nr. 43, Lyon, 6. September 1626), 260 (Brief Nr. 45, Lyon, 10./ 20. September 1626). 13 Vgl. K ATARINA S IEH -B URENS : Hainhofer, in: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL u.a. (Hgg.): Augsburger Stadtlexikon, 2., völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Aufl. Augsburg 1998, S. 470f. 14 H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), S. 241 (Brief Nr. 41, Lyon, 13./ 23. August 1626), 252 (Brief Nr. 43, Lyon, 6. September 1626), 262 (Brief Nr. 45, Lyon, 10./ 20. September 1626). 15 Vgl. zu ihr L AMBERT F. P ETERS : Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Strukturkomponenten, Unternehmen und Unternehmer. Eine quantitative Analyse (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 112), Stuttgart 1994, S. 248-255, 497, 512, 562, 592. <?page no="139"?> M ARK H ÄBERLEIN 140 dahin stehet, spaziern zue gehn vnd zue reiten, bey wöllichen wohlusten er dan vferzögen worden. Vnd ihne p[er] consequent daß schreiben sehr hart ahnkhompt. Die gröste Kunst des jungen Mannes bestehe darin, den Junckher zu spielen und nichts darneben zue lernen. 16 Die Strategie, eigene Leistungen und Fähigkeiten mit den Defiziten von Alters- und Standesgenossen zu kontrastieren, stieß jedoch spätestens dann an ihre Grenzen, als der junge Friedrich Endorfer seinem Vater im Frühjahr 1627 ein Ausgabenkonto übersenden musste, das geradezu horrende Aufwendungen, insbesondere für Kleidung, dokumentierte. Friedrich versuchte sich einerseits damit zu entschuldigen, dass er viele Dinge gewissermaßen auf Vorrat gekauft habe; zum anderen bemühte er nun in eigener Sache den Topos jugendlicher Sorglosigkeit: Der Herr Vater wirdt aber befinden, daß […] nichts oder doch wehnig vhnnuzliches ahngewent vnd allein etliche sachen zum vohrrath khaufft, so nicht allzeit zu so guetem gelt zue bekh[ommen], vnd ich vhne daß waß von hantschueh vnd andern Verehrungen miteler Zeit hinauß bringen mueß. Es ist sonsten nicht zue zweiflen, daß bißweilen etwaß hete khönden erspart werden. Eß dhun aber junge Leut auf ein geringes, so doch miteler Zeit hoch hinein laufft, nicht allezeit Achtung geben. So sie doch entlichen reichen dhuet, wan sie firnemlichen erkhennen, daß der geschwister mehr vnd nicht alleß auf sie khan ahngewendt werden. 17 Die in den Briefen reflektierten Erfahrungen Friedrich Endorfers d.J. wie diejenigen seiner Alters- und Standesgenossen dokumentieren somit auch die Gefährdungen, denen die Generationenprojekte reichsstädtischer Patrizier- und Kaufmannsfamilien ausgesetzt waren. Dazu gehörten eine zu nachgiebige Erziehung, die Kindern und Jugendlichen ihren eigenen Willen ließ, statt sie mit strenger Hand zu formen, ebenso wie die Verlockungen, die ein Leben in einer europäischen Wirtschafts- und Kulturmetropole außerhalb des unmittelbaren väterlichen Kontroll- und Einflussbereiches mit sich brachte. Ein vielfältiges Angebot an Vergnügungen und Freizeitaktivitäten - Spaziergänge und Ausritte, aber auch Maskenfeste und Ballspiele, der Besuch von Komödien und die Darbietungen von Artisten boten willkommene Abwechslung vom monotonen Alltag im Handelskontor, und die Möglichkeit, auf den Namen des Vaters anschreiben zu lassen bzw. Wechsel zu ziehen, scheint das Bewusstsein für die damit verbundenen Kosten mitunter getrübt zu haben. Aber nicht nur jugendlicher Leichtsinn und Sorglosigkeit gefährdeten Erziehungsprojekte, auch Nachlässigkeit und Desinteresse auf Seiten der Eltern bzw. der Stiefeltern konnten bedenkliche Folgen haben. Friedrich Endorfer 16 H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), 318 (Brief Nr. 57, Lyon, 6./ 16. Mai 1627). 17 Ebd., S. 316 (Brief Nr. 57, Lyon, 6./ 16. Mai 1627). <?page no="140"?> Patrizische Familienkorrespondenz 141 d.J. reflektierte diese Problematik anhand seines Altersgenossen Christoph Zobel, dessen Vater, der Augsburger Kaufmann Hans Zobel, 1623 gestorben war. Seine Mutter heiratete im folgenden Jahr den vermögenden Kaufmann Georg Pfanzelt, einen Witwer mit mehreren Kindern. 18 1626 traf Christoph Zobel nach einer Reise durch England und Holland in Lyon ein und sah sich dort nach einer angemessenen Beschäftigung um. Es hat sich aber, so Endorfer, biß jezo kheine ahnstendige glegenheit für ihne presentiert, glaub auch nicht, daß noch gschehen werde, weilen er sich allein auf ein Jahr lang versprechen wolte, in der französischen Sprach wehnig erfahren, auch meines Enthalts in handelßsachen nicht pratico. Der in Lyon ansässige Kaufmann Hieronymus Fischer hatte Friedrich Endorfer d.J. berichtet, er habe von Christoph Zobel gehört, daß ihme sein jeziger Stieffvater, Herr Pfanzelt, vohr disen fl 300 für die Cost jehrlichen ahnbegehrt habe vnnd daß er dasselbe gelt vil lieber in der frembden oder außerhalbe alß zue Augspurg verzehren wölle. 19 Auch aus der Korrespondenz mit Verwandten gewann Friedrich Endorfer den Eindruck, dass sich Christoph Zobels Familie in Augsburg wenig um ihn kümmerte: dhon sich die seinige in costi wehnig seiner achten. An anderer Stelle schreibt er, Christoph Zobel sei freilich sein H[err] Vater s[elig] zue frue gstorben vnd zur handlung nicht, wie wohl häte sein sollen, ahngetriben worden. Zue derselben hat er gleichwolen niemahlen rechten Lust ghapt. Daß wirdt ihme aber ahnjezo vnd da es zue spat zweifelßohn gnuegsam reuchen, firnemlichen auch, dieweil er sieht, daß er zue nichten anderm alß in Kriegßwesen zue gebrauchen. Zue demselben erkhenne ich ihne auch nicht taugenlich, weilen er deß feurenß [Feierns, M.H.] vnd gueten Lebens, so er etlich Jahr hero ghapt, zue vast gewohnt vnnd, so daß ergste ist, ein zimlich schlechten curage hat. Sonsten ist er eine sehr guete persohn, mit dern wohl vßzuekhommen, aber dem wein sehr vnderworffen, so nun nicht ein geringes Laster. 20 Während sich für andere reichsstädtische Patrizier- und Kaufmannsfamilien nachweisen lässt, dass Stiefväter und Verwandte sich der ihnen anvertrauten Halbwaisen annahmen und sich anstelle der verstorbenen Väter intensiv um deren Ausbildung und materielle Versorgung kümmerten, 21 konnte Christoph Zobel offenbar nicht auf einen solchen verwandtschaftlichen Rückhalt zählen. 18 Vgl. die Einträge zu Hans Zobel und Georg Pfanzelt in R EINHARD (Hg.): Augsburger Eliten (wie Anm. 2), S. 1001f. (Nr. 1531), 620 (Nr. 936). 19 H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), S. 275 (Brief Nr. 48, Lyon, 19./ 29. November 1626). 20 Ebd., S. 289 (Brief Nr. 50, Lyon, 17./ 27. Dezember 1626), 346 (Brief Nr. 61, Lyon, 17./ 27. Juni 1627). 21 Vgl. die Fallstudie von Andrea K AMMEIER -N EBEL : Waisen, Witwen und Verwandte. Die Nürnberger Patrizierfamilie Behaim von Schwarzenbach im 16. Jahrhundert, in: M ARTIN <?page no="141"?> M ARK H ÄBERLEIN 142 War es im Falle Zobels der zu frühe Verlust des Vaters, der einen Kaufmannssohn seines Rückhalts und seiner Orientierung beraubte, so machte sich in der Wahrnehmung Friedrich Endorfers d.J. im Haushalt seines Lehrherrn Daniel Herwart der Tod der Mutter negativ bemerkbar. Daniel Herwart hatte 1599 die aus einer Rottweiler Familie stammende Anna Erndlin geheiratet. Aus dieser Ehe waren die 1607 bzw. 1609 geborenen Söhne Bartholomäus und Hans Heinrich - die später zu bedeutenden Finanziers des Kardinals Mazarin aufsteigen sollten - sowie mehrere Töchter hervorgegangen. Nach dem Tod Anna Erndlins hatte Daniel Herwart in den frühen 1620er Jahren in zweiter Ehe eine Frau aus der Genfer Familie Sève geheiratet, die damals wohl noch sehr jung war (während Friedrich Endorfers Aufenthalt in ihrem Haus entband sie jedenfalls mehrere Kinder). 22 Anders als die Kinder erster Ehe war Herwarts zweite Frau nicht der deutschen Sprache mächtig. Nach seiner Rückkehr von einer Englandreise bemerkte Friedrich Endorfer im August 1626, dass es ahnjezo bey vnß sovil Enderungen vnd Changement geben, auch vilmahlen so vhnordenlichen zuegeth, daß mich […] selbsten verwundert. Die beiden Herwart-Söhne, vnd sonderlichen der Jungste, so ein arger vnd spizfindiger Leckher, würden sich mit ihrer Stiefmutter schlecht vertragen und sie hinter ihrem Rücken verspotten, die Lehrjungen und das Dienstpersonal schikanieren und Unordnung in das Haus bringen, ohne dass ihr Vater dem Einhalt gebiete. 23 Das Zusammenleben zweier heranwach sender Söhne, einer frisch verheirateten älteren Schwester und einer jungen Stiefmutter unter einem Dach entwickelte sich zu einer ständigen Quelle von Konflikten, wie Friedrich Endorfer d.J. Anfang September 1626 erneut R HEINHEIMER (Hg.): Der Durchgang durch die Welt. Lebenslauf, Generationen und Identität in der Neuzeit (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 33), Neumünster 2001, S. 21-42. Kammeier-Nebel zufolge war man sich im reichsstädtischen Bürgertum „der Gefahr des frühen Todes nur allzu bewußt und begriff die Hilfe unter Verwandten als generationenübergreifenden Beistandspakt“ (S. 42). 22 Zu Daniel Herwart und seinen Söhnen Bartholomäus und Hans Heinrich vgl. H ANS H ER - WARTH VON B ITTENFELD : Die Brüder Bartholomäus und Johann Heinrich Herwarth, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 1 (1874), S. 183-206; G UILLAUME D EPPING : Un Banquier Protestant en France au XVIIe siècle: Barthélemy Herwarth, contrôleur général des finances (1607-1676), in: Revue Historique X (1879), S. 63-80; XI (1879), S. 285- 338; C LAUDE B ADALO -D ULONG : Banquier du Roi. Barthélemy Hervart, 1606-1676, Paris 1951; R OBERT M ANDROU : Bartholomäus Herwarth (1607-1676), in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, S. 721; C LAUDE D ULONG : Mazarin et l’argent. Banquiers et prête-noms, Paris 2002, S. 149-211; R EINHARD H ILDEBRANDT : Commercium - Confessio - Conubium. Augsburger Kaufleute in europäischen Städten 1560-1650, in: R OLF K IEßLING (Hg.): Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 10), Augsburg 2005, S. 9-28, bes. S. 12f., 17f. 23 H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), S. 241 (Brief Nr. 41, Lyon, 13./ 23. August 1626). <?page no="142"?> Patrizische Familienkorrespondenz 143 bemerkte: Es haben sich in S[umm]a die sachen seider meiner wider ahnkhonfft so verkhert, daß mich gleichsam verwund[ern] müessen. Dan der kleine Herwarth (so zwahr ein artiger Jungling, aber, wie gemelt, ein Erz leckher) will vast jedem goromandirn [wohl: herumkommandieren, M.H.] vnd sogahr seinen eltesten Bruder hernider stossen, gibt auch im geringsten nichts vmb seine Mueter noch Schwester. Endorfer zeigte sich erstaunt da rüber, dass Daniel Herwart dem Treiben seines jüngeren Sohnes nicht ener gischer Einhalt gebot. Die väterliche Autorität und Fürsorge war aus seiner Sicht für den Erhalt der häuslichen Ordnung unerlässlich, aber auch ein zu geringer Altersabstand zwischen Stiefmutter und Stiefkindern konnte sich als problematisch erweisen. 24 3. Die schöne Helena und ihre Freier: Ein Heiratsprojekt als Gegenstand intergenerationeller Diskurse Nicht weniger aufmerksam als das Verhalten seiner oberdeutschen Alters- und Standesgenossen in Lyon und den Konflikt im Hause Herwart verfolgte Friedrich Endorfer d.J. Entwicklungen innerhalb verwandter Augsburger Fa milien, über die ihn sein Vater auf dem Laufenden hielt. Ein solcher Konflikt, der hier abschließend thematisiert werden soll, ist sowohl deshalb bemerkens wert, weil gleich drei Generationen involviert waren, als auch deswegen, weil im Zentrum des Geschehens eine junge Frau stand. Friedrich Endorfer d.J. zeigt in seinen Briefen ein ausgeprägtes Interesse an Helena Zobel, der Tochter Martin (II) Zobels, eines der reichsten Männer Augsburgs, und Schwester seines Schwagers Adolph Zobel. 25 Die offenbar äußerst selbstbewusste junge Frau, der Endorfer aus Lyon gelegentlich Geschenke schickte, 26 hatte einen ganzen Schwarm von Verehrern, deren wechselhaftes Geschick der reichsstädtischen Oberschicht über Jahre hinweg Gesprächsstoff lieferte. Im August 1624 hatte Helena Zobel gerade zwei Verehrern den Laufpass gegeben, und Friedrich Endorfer bat seinen Vater um weitere Nachrichten: Waß es nun mit gedachtem S[ignor] Hans Jerg Ostereicher vnd Daniel Buroner wegen der J[ungfrau] H[elena] Z[obel fir ein Außschlag gwinnen vnd wehr sie doch (weilen es des Herrn Vattern 24 Ebd., S. 253 (Brief Nr. 43, Lyon, 6. September 1626); vgl. auch S. 281f. (Brief Nr. 48, Lyon, 19./ 29. November 1626). 25 Vgl. P ETER G EFFCKEN : Zobel, in: G RÜNSTEUDEL u.a. (Hgg.): Augsburger Stadtlexikon (wie Anm. 12), S. 946f. (mit weiterer Literatur). 26 H ÄBERLEIN / K ÜNAST / S CHWANKE (Hgg.): Korrespondenz (wie Anm. 2), S. 211 (Brief Nr. 30, Lyon, 20./ 30. November 1625), 218 (Brief Nr. 31, Lyon, 18./ 28. Dezember 1625). <?page no="143"?> M ARK H ÄBERLEIN 144 vermuten nach mit disen beeden vergebne muehe) zur Zeit bekhommen möchte, […] will ich seiner Zeit gehrn vnd mit verlangen vernemmen. 27 Im Sommer 1626 warben gleich drei Vertreter der Augsburger Elite um die Gunst der jungen Dame: Wie es mit der J[ungfrau] H[elena] Z[obel] ferner hergehn möchte, schrieb Friedrich Endorfer d.J. aus Lyon an seinen Vater, will ich seiner Zeit gehrne vernemmen, vnd will wohl glauben, sie thue den La[n]gemantel, den Buroner vnd Huober allen beim Narren seil herumb ziehen. Mich wundert aber, das ihr Schwester Stein[in]gerin content, das gedachter La[n]gemant[e]l neben den andern also ab vnd zue reiten oder das sie ihnen, wafern kheinen lust, nicht durch actiones oder sonsten dis cr[e]tamente abda[n]ckhen oder he[i]m[lic]her weis fortsch[ic]khen dhuet. Es ist aber schier zue glauben, weil sie die Armbandt so fr[ei] vnd librement ah[n]genomen, sie dhue den and[eren] n[ic]hts n[ac]hfragen, seie doch fro, das sie ihr also herumb vnd n[a]chleuffen, vmb ihrn lust vnd khurzwil zue suchen. 28 Diese Briefpassage lässt bereits erkennen, dass Helena Zobel sich auf einem schmalen Grat bewegte. Auf der einen Seite äußerte Endorfer seine Einschätzung, dass die junge Frau mehrere Freier am Narren seil führte, um ihre lust vnd khurzwil zu suchen, ohne dies zu explizit kritisieren oder als moralisch verwerflich zu brandmarken. Auf der anderen Seite deutete er an, dass Helena Zobel durch die Annahme von Geschenken die Grenze zu einem Heiratsversprechen möglicherweise bereits überschritten hatte. Das Eingreifen älterer Familienmitglieder - in diesem Fall der verheirateten älteren Schwester - und die „diskrete Abdankung“ der Freier erschienen ihm ratsamer als die Fortführung dieses Liebesreigens. In den folgenden Monaten galt offenbar der junge Patrizier Anton Langenmantel als Favorit für eine Heirat, doch im August 1626 gab es aufregende Neuigkeiten. Friedrich Endorfer d.J. berichtete seinem Vater, er habe erfahren, dass die buelschafft zwischen der J[ungfrau] H[elena] Z[obel] vnd dem Ant[on] Langemantel ganz in bronnen gefallen vnd ahnjezo sie wider mit H[errn] Veter Hans Jerg [Österreicher] im gschrey, die sag aber doch starckh, dz er des H[errn] Marx Conrad von Rechlingen Tochter nemmen werde. Er wolle zue des H[errn] Vatern glegenheit gehrne ahnhören, was für ein außschlag selbige sachen nemmen werden vnd auß waß vhrsach dem Langemantel abdankht worden oder ob er selbsten nachglassen. Es ist freilichen ein selzames Friquassé vnder einander, darauf nicht wol zue fuessen. 29 27 Ebd., S. 162 (Brief Nr. 22, Lyon, 1./ 11. August 1624). 28 Ebd., S. 238f. (Brief Nr. 39, Paris, 21. Juli 1626). 29 Ebd., S. 245f. (Brief Nr. 41, Lyon, 13./ 23. August 1626). <?page no="144"?> Patrizische Familienkorrespondenz 145 Nun schossen die Spekulationen ins Kraut, und Friedrich Endorfer d.J. musste sich gefallen lassen, von anderen jungen Augsburgern in Lyon selbst als möglicher Heiratskandidat ins Spiel gebracht zu werden. So habe ihn der junge Marx Rehlinger, Mitglied einer prominenten Augsburger Patrizierfamilie, vnder anderem discours gfragt, ob ich kheine particuliar Zeitungen vß Augspurg empfangen. [....] Sagt er mir, er habe von einer Junckh[frau] vß costi (ich vermeine, es seie von seiner Junckh[frau] Schwester) wahrhafte Aduis, das der Anthony Langemantel bey der Junckhf[rau] H[elena] Z[obel] durch den Korb gfallen vnd daß sie sich vernemmen lassen, sie wölle ahnjezo auf kheinen andern als vff mich warten. Weilen er, Rechlinger, aber ein zimlicher Spothvnd Lockhfogel, also hab ich ihme nicht glauben geben wöllen, mich auch gestelt, als wan ihne nicht verständte. Dan er hat durch disen discours vielleicht vermeint, etwas von mir heraußzuelockhen. Ich bin ihme aber vohrkhommen vnd habe den braten gschmäckht. 30 In den folgenden Wochen wurde Daniel Buroner erneut als Kandidat für eine Heirat mit der schönen Helena gehandelt. Friedrich Endorfer erkundigte sich, zue wehm sie sich entl[ic]hen erklären vnd declariern werde, weilen sonderl[ich]en die vohrgehapte bulschafft zwischen ihr vnd Ant[on] Langemantel gahr ein Endt vnd ihre befreindten vnd geschwistergot auch nicht gehrne sehen, wan sie sich mit gedachtem Veter Daniel Buroner einliesse, weilen firneml[ic]hen der alte H[err] Zobel s[elig] sich in seinen lebzeiten verlauten lassen, das zue den Buronerischen khein Lust habe. Vnnd ist freil[ic]hen, wie der Herr Vater ahndeut, ein selzammes Fricasse vnder einander vnd vil bösser, von weitem zuesehen, wo die sachen hinaus wöllen. Im Übrigen hatte Friedrich Endorfer Daniel Buroners Großmutter (die auch seine eigene Großmutter auf mütterlicher Seite war) im Verdacht, dieses Heiratsprojekt energisch voranzutreiben: Ich will sonsten glauben, die Ahnfrau werde ihrerseits nicht seumen vnd wa mögl[ic]hen an allen orthen vnd E[nden] schiren, damit sie, die J[ungfrau] H[elena] Z[obe]l dem Daniel Buroner zuetheil werde. 31 Die Heiratsangelegenheit hatte sich damit zu einem Projekt ausgeweitet, an dem Vertreter dreier Generationen beteiligt waren. Gegen Ende des Jahres 1626 zeichnete sich allerdings ab, dass der Liebesreigen für die Ehre der Helena Zobel bedrohlich wurde, da der verschmähte Anton Langenmantel und sein Bruder ihr mittlerweile übel nachredeten. Diese Entwicklung musste wiederum die Verwandtschaft der Helena Zobel auf den Plan rufen, um Angriffe auf die Ehre der jungen Frau - und damit auf die Familienehre der Zobel - abzuwehren: Es ist nicht zu zweiflen, daß ihr, 30 Ebd., S. 254 (Brief Nr. 43, Lyon, 6. September 1626). Vgl. auch S. 264 (Brief Nr. 45, Lyon, 10./ 20. September 1626). 31 Ebd., S. 269 (Brief Nr. 46, Lyon, 4. Oktober 1626). <?page no="145"?> M ARK H ÄBERLEIN 146 der J[ungfrau] H[elena] Z[obel], Schwöstern vnd Schwäger solliche sachen nicht vhngeandt werden bleiben lassen, firnemlichen weilen es (wie der H[err] Vater ahndeut) Reden vnd außgeben sein, welliche […] villeicht die Ehr und reputation berieren. Die Rolle, die seine Großmutter in dieser Angelegenheit spielte, betrachtete Endorfer weiterhin sehr kritisch: Die Ahnfrau dhete sonsten auch weit besser, daß sie ihren geschäfften vnd affaires abwartete, als den Leuten übel nachreden. Ich glaub aber, es seie ihr ahngeborn, weilen sie sich in allerhandt sachen zu mischen vnd flickhen begehrt. Waß es nun entlichen zwischen ihrem lieben Daniel vnd ehrngedachter Junckhf[rau] H[elena] Z[obel] für ein außschlag gwinnen wirdt, erwart ich zue seiner guten glegenheit ahnzuhoren. Wan sie, die J[ungfrau] H[elena] Z[obel], wissen solte, daß ihr die Buronerische so schömpf vnd spötlich nachreden, so wurde sie sich des Daniel zweifelsohn wehnig ahnnemmen. 32 Im März 1627 hielten sich zwei Mitglieder der Augsburger Elite, Andreas Thenn und Karl Rehlinger, in Lyon auf und wussten Friedrich Endorfer Näheres über die Heiratsangelegenheit zu berichten: Sie haben mir vnnder andern discours von des H[errn] Vöter Hanß Jerg vnd deß Daniel Buroners heurat auch erzehlt. Vnd halten aber nichts von deß D[aniel] Buroners mit der J[ungfrau] H[elena] Zöblen. […] Ich hab sonsten mit verwunderung von ihm, H[errn] Vöter Thenn ahngehört, wie sie, die J[ungfrau] H[elena] Z[obel], den Ant[on] Langemantel so artig beim seil herumb gfuert hat. Ist sich also nicht zuuerw[undern], wan er ihr deßwehgen übel will. Solle aber ihr doch nicht solliche schmachwort außstossen, welliche gleichsam einer J[ungfrau] Ehr vnd tugendt beruhren. 33 Im Mai deuteten dann aber alle Anzeichen auf eine baldige Vermählung hin: Friedrich Endorfer vernahm die Nachrichten über die bevorstehende Hochzeit allerdings nicht ohne geringe Verwunderung, […] weilen beiderseits so böse Reden gangen vnd die sachen erst khurzlichen in weitem feldt gstanden. Im folgenden Monat teilte Endorfer seinem Vater mit, sein Bruder Hans habe einen Brief von seiner Großmutter erhalten, in dem diese stolz über die bevorstehende Hochzeit ihres Enkels Daniel mit Helena Zobel berichte. Im Übrigen würde die Braut auch ihn, Friedrich Endorfer, mit verlangen zurück in Augsburg erwarten. Waß sie nun dardurch sagen will oder wehn sie vermeint, möchte ich wol wissen. Dises seindt sonsten nichts als pur lauter flateries vnd schmaichleeyen, deren ich nicht gewohnt vnd mir nicht ahngenehm sein. 34 32 Ebd., S. 288 (Brief Nr. 50, Lyon, 17./ 27. Dezember 1626). 33 Ebd., S. 301 (Brief Nr. 52, Lyon, 7. März 1627). 34 Ebd., S. 331 (Brief Nr. 58, Lyon, 20./ 30. Mai 1627), 352 (Brief Nr. 61, Lyon, 17./ 27. Juni 1627). <?page no="146"?> Patrizische Familienkorrespondenz 147 Im Juli 1627 griff Friedrich Endorfer d.J. das Thema ein letztes Mal auf. Er hatte von mehreren jungen Augsburgern von ihr, der jungen Buronern, solliche discours vnd propos erzählen hören, wölliche mich nicht wehnig estoniert vnd befrembdt. Dhue mich aber ihrer Ehr vnd Reputation halber darneben erfreuen, daß sie noch so wohl verheurat vnd ein so guten Ahnstandt gfunden. Es heist aber wohl dem französischen Sprichwort nach L’Argent fait tout, vnd desswegen wirdt sie auch wöllen Maister sein. 35 Mit der standesgemäßen Verheiratung der schönen Helena waren also deren zeitweilig gefährdete Ehr vnd Reputation gesichert - ein Resultat, zu dem nach Ansicht Friedrich Endorfers d.J. nicht zuletzt das Geld, also die reiche Mitgift, über die Helena Zobel verfügte, beigetragen hatte. Die historisch-anthropologische Familienforschung hat einerseits herausgearbeitet, dass Heiraten in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Oberschichten stets auch Allianzen zwischen Familienverbänden stifteten bzw. festigten. Sie hat andererseits deutlich gemacht, dass junge Männer und Frauen nicht bloße Objekte arrangierter Ehen waren, sondern den Prozess der Partnerwahl und Eheanbahnung selbst aktiv mitgestalteten. 36 Die Endorfer- Briefe bieten mit dem hier geschilderten Fall ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein solches Heiratsprojekt von einer großen Anzahl von Personen generationenübergreifend über einen längeren Zeitraum hinweg sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form verhandelt und kommentiert wurde. Darüber hinaus illustriert der Fall in besonderer Weise die Reichweite wie auch die Grenzen weiblicher Handlungsspielräume im Prozess der Eheanbahnung. Es war offenbar durchaus statthaft, dass eine junge Frau aus einer der führenden reichsstädtischen Familien zwischen mehreren Freiern wählte und sich dabei Zeit ließ. Problematisch wurde es allerdings, wenn sie dabei in den Ruf geriet, mit den Heiratskandidaten lediglich ein leichtfertiges Spiel zu treiben. In einer Gesellschaft, in der Heiratsprojekte stets Gegenstand fa- 35 Ebd., S. 359 (Brief Nr. 63, Lyon, 1./ 11. Juli 1627). 36 S TEPHEN O ZMENT : When Fathers Ruled: Family Life in Reformation Europe, Cambridge, Mass. 1983; L YNDAL R OPER : „Going to Church and Street“: Weddings in Reformation Augsburg, in: Past and Present 106 (1985), S. 62-101, bes. S. 71f., 81-93; M ATHIAS B EER : „Wenn ych eynen narren hett zu eynem Man, da fragen dye Freund nyt vyl danach.“ Private Briefe als Quelle für die Eheschließung bei den stadtbürgerlichen Familien des 15. und 16. Jahrhunderts, in: H ANS -J ÜRGEN B ACHORSKI (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Literatur - Imagination - Realität, Bd. 1), Trier 1991, S. 71- 94; D ERS : Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400- 1550) (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 44), Nürnberg 1990, S. 146f.; D ERS .: Ehealltag im späten Mittelalter. Eine Fallstudie zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen anhand privater Briefe, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 53 (1994), S. 101-123, bes. S. 121f.; H EIDE W UNDER : „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 80-88. <?page no="147"?> M ARK H ÄBERLEIN 148 milien- und generationenübergreifender Diskurse waren, gefährdete sie damit ihre Ehre und ihre Chancen auf eine standesgemäße Verbindung. 37 Daher lag es im höchsten Interesse der Verwandtschaft, dass Helena Zobel rasch in den Hafen der Ehe gesteuert wurde, nachdem die Brüder Langenmantel begonnen hatten, ihr übel nachzureden. 4. Schlussbemerkung Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass der briefliche Diskurs zwischen im Ausland weilenden Patriziersöhnen und ihren Vätern zwar in hohem Maße von Normen angemessenen Verhaltens und von bestimmten Erwartungshaltungen geprägt war, dass diese Normen und Erwartungen aber fortlaufend verletzt wurden. Die umschwärmte Kaufmannstochter Helena Zobel musste am Ende aufpassen, nicht in einem Strudel übler Gerüchte ihre Ehre zu verlieren. Friedrich Endorfer d.J., der jahrelang den gehorsamen, fleißigen und sparsamen Sohn gemimt hatte, stand am Ende als Verschwender dar, der Tausende von Gulden für teure französische Seidenkleidung ausgegeben hatte. Und Friedrich Endorfer d.Ä., der treu sorgende und wohlmeinende Familienvater, entpuppte sich schließlich als Betrüger in großem Stil, dessen kriminelle Unterschlagung städtischer Steuergelder seiner glänzenden städtischen Laufbahn ein unrühmliches Ende bereitete. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Norm und Normverletzung scheint mir der besondere Wert von Familienkorrespondenzen für die Generationenthematik zu liegen. 37 Zu den Zusammenhängen zwischen Ehre und Geschlecht vgl. M ARTIN D INGES : Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: S IBYLLE B ACKMANN u.a. (Hgg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana, Bd. 8), Berlin 1998, S. 123-147. <?page no="148"?> 149 Pia Claudia Doering Der gesellschaftliche Aufstieg des Corneilleschen Helden im Kontext des Generationenkonflikts (L’illusion comique - Le menteur - Le Cid) 1. Einleitung Im Frankreich des 17. Jahrhunderts sind gesellschaftliches Rollenspiel und Bühnenspiel in einzigartiger Weise enggeführt und miteinander verwoben. In einer auf permanenter Selbst- und Fremdbeobachtung beruhenden Gesellschaft ist soziales Handeln immer bereits Inszenierung. 1 Das Theater seinerseits ist durch Dialog und Konflikthandlung in der Lage, Werte und gesellschaftliche Entwicklungen zu diskutieren. Generationenkonflikte sind seit der Antike wesentlicher Bestandteil des Dramas, 2 in der Komödie wirken sie in der Regel handlungskonstituierend: Der verliebte Sohn oder die verliebte Tochter kämpft gegen den väterlichen Widerstand für die Realisierung ihrer Liebe. Die sich daraus ergebende Handlungsabfolge - Etablierung des Widerstands, seine Überwindung und schließlich die glückliche Verbindung der Liebenden - wird insbesondere durch den Konflikt variiert, dessen Auslöser ein Stereotyp wie die Strenge oder der Geiz des Vaters, oder aber konträre politische und philosophische Positionen sein können. 3 Im zweiten Fall dient der Generationenkonflikt als Instrument, um gesellschaftspolitische Fragestellungen in der Perspektive des Wandels auf der Bühne zu verhandeln. 1 Der Zwang zum gesellschaftlichen Rollenspiel erreichte unter Ludwig XIV. einen Höhepunkt. P ETER B URKE : Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993, S. 16, bezeichnet dessen Herrschaft als „Theater-Staat“. Dass sich die Zeitgenossen Ludwigs XIV. der Inszenierung in Versailles durchaus bewusst waren, belegt B URKE anhand von Begriffen wie „comédie“ und „scène“, die sie zur Beschreibung des höfischen Zeremoniells wählen. 2 Verwiesen sei auf T HOMAS B AIER : Generationenkonflikte auf der Bühne. Perspektiven im antiken und mittelalterlichen Drama, Tübingen 2007. 3 B ARBARA S HERBERG : Das Vater-Sohn-Verhältnis in der griechischen und römischen Komödie, Tübingen 1995, hier S. 12, zeigt an den Wolken, Wespen und Schmausbrüdern des Aristophanes, dass hier nicht der zwischenmenschliche Aspekt des Vater-Sohn-Konflikts von Bedeutung ist, „sondern allein das kritische Thema, das durch diesen verdeutlicht wird. Dies ist in den Wolken und den Schmausbrüdern die Kritik an der Sophistik und in den Wespen die Kritik an den Volksgerichten als Werkzeugen in den Händen der Demagogen.“ <?page no="149"?> P IA C LAUDIA D OERING 150 Pierre Corneille inszeniert die Veränderung sozialer Tugenden über Konflikte zwischen Angehörigen zweier Generationen, deren Differenz in einem veränderten gesellschaftlichen und geographischen Standpunkt zur Anschauung kommt. Erfolg und Aufstieg der jungen Helden Corneilles liegen, so die hier vertretene These, in der Überwindung des väterlichen Wertesystems, einer aristokratischen oder bürgerlichen Standesethik, begründet. Die Jungen setzen dabei Dissimulationsstrategien ein, die im Sinne der Konfliktvermeidung die Aufrechterhaltung der alten Ordnung rhetorisch und symbolisch vortäuschen. Der Ort des gesellschaftlichen Wandels ist die Stadt, die als öffentlicher Raum gegenüber der als rückständig betrachteten Provinz eine zivilisatorische Vorreiterrolle einnimmt. Im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen die Komödien L’illusion comique (1635) und Le menteur (1643): In L’illusion comique tritt die Generationendifferenz in der unterschiedlichen Bewertung des in Paris situierten modernen Theaters durch Vater und Sohn zutage; in Le menteur entzündet sich der Generationenkonflikt an der Frage, welche Verhaltensweisen im Paris der Gegenwart zum gesellschaftlichen Erfolg führen. Der Analyse beider Werke sind einführende Bemerkungen zur gesellschaftlichen und städtebaulichen Entwicklung im mondänen Paris der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie zur Theaterreform des Kardinals Richelieu, auf die Corneille Bezug nimmt, vorangestellt. Die für die Komödien getroffenen Aussagen zum Verhältnis der Generationen im gesellschaftlichen Wandel werden abschließend an der Tragikomödie Le Cid (1637) nachgewiesen, in der politisch sanktionierte Dissimulatio an die Stelle tradierter Standesethik tritt und der Protagonistin letztlich die Heirat mit dem Mörder ihres Vaters ermöglicht. 2. Urbanité und urbanisme im Paris der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Als Abwehrreaktion gegen eine Verrohung der Sitten und Umgangsformen während der Religionskriege und beeinflusst durch die Rezeption von Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano bildet sich zu Beginn des Grand Siècle das Ideal des honnête homme heraus. Es beinhaltet eine moralische und eine mondäne Sinnschicht und ist wie der Begriff der honnêteté im Laufe des 17. Jahrhunderts Veränderungen und Vereinnahmungsversuchen unterworfen. 4 Als Tugendideal umfasst es insbesondere aristokratische 4 Einen Einblick in die Vielschichtigkeit des honnête homme-Begriffs gibt der von L OUISE G ODARD DE D ONVILLE verfasste Artikel „honnête homme“ in F RANÇOIS B LUCHE (Hg.): Dictionnaire du Grand Siècle, Paris 2005, S. 728f. <?page no="150"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 151 Tugenden wie Tapferkeit und Ehrenhaftigkeit. In seinem gesellschaftlichen Verhalten weiß der honnête homme um seinen Rang in der sozialen Hierarchie und verhält sich ihm gemäß; er ist höflich, universell gebildet und kein Pedant; im geselligen Umgang, dem commerce du monde, geschult, liegt sein größtes Talent in der Beherrschung einer weltläufigen Konversation. Für die an der Gesellschaft orientierte Seite der honnêteté beleben Autoren der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, darunter insbesondere Chapelain, Balzac und Voiture, den Begriff der urbanité wieder, in dem einerseits die Umgangsformen von la cour et la ville gegenüber der Provinz zum zivilisatorischen Leitbild erhoben werden und andererseits gesellschaftliches Verhalten eine Ästhetisierung erfährt, wie die Definition der urbanité in Antoine Furetières 1690 erschienenem Dictionnaire universel belegt: Civilité, politesse, courtoisie qu’on trouve parmy les gens du beau monde. L’urbanité consiste aussi aux jeux & passetemps, & à entretenir joyeusement une compagnie sans offenser personne. C’est un terme que Balzac a mis en vogue. Les Romains appelloient urbanité, certaine sorte d’agréement, & un genre de politesse qui étoit particulier à certains Auteurs. 5 In seiner Dissertation de la Conversation des Romains findet Balzac eine Begriffsbestimmung, die urbanité als Verhaltensideal nicht nur über Konversationsinhalte, sondern auch über die Körpersprache, Mimik, Gestik und Stimmlage bestimmt: [L’urbanité] exprime un certain air du grand Monde, & une couleur, & une teinture de la Cour qui ne marquent pas seulement les paroles & les opinions, mais aussi le ton de la voix & les mouvements du corps. 6 Die Erfüllung eines gesellschaftlichen Ideals gelingt folglich über vollkommenes, Geist und Körper umfassendes Rollenspiel. Die Parallelität von gesellschaftlichem Verhalten und Theaterspiel 7 ist, wie der Begriff der 5 A NTOINE F URETIERE : Dictionnaire universel, Slatkine Reprints, Genf 1970, 3 Bde., Bd. 3, s.v. „urbanité“. 6 G UEZ DE B ALZAC : Œuvres, Slatkine Reprints, Genf 1971, 2 Bde., Bd. 2, S. 434. 7 Das gesellschaftliche Rollenspiel des honnête homme ist zunächst nicht mit dem Laster der Hypokrisie in Verbindung zu bringen, wie G ODARD DE D ONVILLE : Honnête homme (wie Anm. 4), S. 728, herausstellt: „L’honnête homme, lui, est conscient de jouer en public ce que les moralistes appellent un ‚personnage‘. Nulle hypocrisie dans cette dissociation entre le moi profond et son comportement: on ne naît pas honnête homme, c’est-à-dire homme éminemment sociable; on le devient à force d’en jouer le personnage. Loin d’étouffer la personnalité individuelle, ce moi social doit développer le goût de la vie et du naturel, car rien de contraint, rien d’artificiel ne peut plaire, ne peut avoir de ,l’agrément‘. Équilibre délicat, qui exige autant de finesse que de bon sens, et dont la réussite se manifeste dans la douceur, dans l’urbanité des rapports, et jusque dans l’élégance des moindres gestes: ainsi l’art couronne-t-il la nature.“ <?page no="151"?> P IA C LAUDIA D OERING 152 urbanité belegt, untrennbar mit der Stadt Paris als dem Sitz der kulturtragenden Schichten, la cour et la ville, verbunden. Dem sozialen Inszenierungswunsch von Adel und aufstrebendem Bürgertum kommt ein urbanistisches Programm von bisher unbekanntem Ausmaß 8 entgegen, das sich maßgeblich dem Gestaltungswillen Heinrichs IV. verdankt 9 und das die nach den Religionskriegen wiedergewonnene Souveränität des französischen Monarchen unterstreichen soll. Kennzeichen der königlichen Baupolitik ist, dass sie sich nicht mehr nur auf einzelne Bauwerke richtet, sondern Gesamtanlagen, d.h. das Zusammenspiel von Straßen, Plätzen und Monumenten, in den Blick nimmt. 10 Der Louvre wird über Flügelbauten mit den unter Katharina von Medici angelegten Tuilerien verbunden; es entstehen u.a. der Pont Neuf und die Place Dauphine auf der Île de la Cité. Am Beispiel der Place Royale, der heutigen Place des Vosges, im Marais, die neben dem Jardin des Tuileries zu den wichtigsten Repräsentationsorten des mondänen Paris gehört und die den Hauptschauplatz von Corneilles Komödie Le menteur bildet, lässt sich die aufkommende Konkurrenz zwischen offizieller Baupolitik und adliger Selbstdarstellung sowie die besondere Situation des Amtsadels verdeutlichen: In der Planung Heinrichs IV., wie sie aus einem Edikt vom Juli 1605 hervorgeht, hat der Platz, dessen Name im Sinne der monarchischen Repräsentation unterstreicht, wem die städtebauliche Modernisierung zu verdanken ist, dreierlei Funktionen: 11 Er soll Turnier- und Festplatz sein, den Pariser Bürgern unter dem Aspekt des Gemeinwohls als Promenadenplatz und vor allem den bürgerlichen Unternehmern der Seidenmanufakturen, die der König ein Jahr zuvor an der nördlichen Seite des Platzes angesiedelt hatte, als Wohn- und Verkaufsplatz dienen. Um die wirtschaftliche Nutzung des Platzes zu verwirklichen, schenkt der König dem von ihm protegierten Amtsadel, mit dessen Hilfe er 8 Bisherigen Städtebaumaßnahmen stand nicht nur die politische Situation des von Bürgerkriegen erschütterten Frankreich entgegen, sondern auch ein von theologischer Seite geschürter Vorbehalt gegenüber der Großstadt als Ort moralischer Dekadenz; dazu J EAN M EYER : Frankreich im Zeitalter des Absolutismus (1515-1789), aus dem Französischen übersetzt von Friedel Weinert, Stuttgart 1990, S. 109-111. 9 D IETRICH E RBEN stellt in seiner den französisch-italienischen Kunstbeziehungen gewidmeten Studie Paris und Rom, Berlin 2004, S. 27, sowohl die Zielstrebigkeit als auch den nationalen Charakter der Bauvorhaben Heinrichs IV. heraus: „Die Hinzuziehung ausschließlich einheimischer Architekten und Künstler sowie die maßgebliche Rolle, die der König selbst als Ideengeber bei den Planungen spielte, scheinen geradezu programmatische Anliegen gewesen zu sein. Nach den jahrzehntelangen innenpolitischen Wirren konnten sie den Nachweis für nationalen Integrationswillen wie auch für die königliche Selbstbestimmung erbringen.“ 10 Siehe A NDREAS K ÖSTLER : Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus, München 2003, S. 13. 11 Die Ausführungen zur Place Royale folgen weitgehend K ÖSTLER : Place Royale (wie Anm. 10), S. 45-65. <?page no="152"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 153 den Staat sanieren und modernisieren will, Grundstücke, auf denen Häuser nach strengen Vorgaben gebaut 12 und anschließend an die Handwerker aus der Seidenindustrie vermietet werden sollen. Der vom König forcierten Multifunktionalität eines Wohn-, Arbeits- und Festplatzes stellen sich jedoch ausgerechnet die Unternehmer und die Vertreter der Noblesse de Robe entgegen: Sie haben das Prestige des Platzes erkannt, wollen den Wohnzulasten des Arbeitsraumes vergrößern und orientieren sich in ihrem ausgeprägten Wunsch nach Repräsentation paradoxerweise an dem vom König in seiner Macht beschränkten Schwertadel. Die Aufhebung der Bestimmung der Hausgröße durch die Pavillonbreite lässt die Häuser sodann auch für den Schwertadel attraktiv werden. Noch zu Lebzeiten Heinrichs IV. setzt eine Aristokratisierung des Platzes ein, die seiner ursprünglichen Bestimmung zuwiderläuft. Um 1635 ist die Parkanlage zur Flaniermeile der mondänen Pariser Gesellschaft geworden; das Zentrum des Platzes, das bei seiner offiziellen Einweihung anlässlich der Doppelverlobung der französischen und spanischen Thronfolgerpaare 1612 Schauplatz eines carrousel 13 war, wird nun zur gesellschaftlichen Bühne des Adels. Richelieu will den Platz jedoch keineswegs für die monarchische Repräsentation aufgeben und einer eher hoffernen Aristokratie überlassen. Er lässt 1639 ein Reiterdenkmal aufstellen, das aber - und dies ist bezeichnend für die Veränderung des Platzes wie für die gesellschaftliche Entwicklung - nicht Heinrich IV. als Erbauer des Platzes ehrt, sondern dessen Sohn und gegenwärtigen Herrscher Ludwig XIII. Parallel zu der Konkurrenzsituation zwischen Adel und König setzt unter der Herrschaft Ludwigs XIII. die Blütezeit des Theaters ein. Nach dem Ende der Valois-Herrschaft war der französische Hof mit der Sanierung des von Religions- und Bürgerkriegen erschütterten Landes beschäftigt und vernachlässigte die Förderung des Theaters. Die politische Ablösung des Theaters vom Hof hatte zur Folge, dass die Unterhaltungsfunktion stärker in 12 Die baulichen Vorgaben sehen eine regelmäßige Abfolge vierjochiger, dreigeschossiger Pavillons vor, deren Mitte auf der Südseite durch ein erhöhtes, dem König gewidmetes Gebäude betont wird. Sowohl die Beschränkung der Größe der im „brique et pierre“, d.h. im Wechsel von Ziegel- und Hausteinpartien ausgeführten Pavillons als auch die offenen Arkaden, die als Zugang und Verkaufsraum für die Läden im Untergeschoss gedacht sind, weisen die Architektur als eine bürgerliche aus. 13 Die carrousels des 17. Jahrhunderts verändern sich mit der Wandlung des Ritters zum Höfling von mittelalterlichen Turnieren zu einer höfischen Unterhaltungsform, die als Bestandteil des höfischen Festes der Inszenierung des Königs dient. Eines der berühmtesten carrousels veranstaltet Ludwig XIV. anlässlich der Geburt des Dauphin im Juni 1662 auf dem Platz zwischen Louvre und Tuilerien, um den Beginn seiner Alleinregierung öffentlich zu feiern. Der König wählt die Verkleidung eines römischen Kaisers, und auf seinem Schild steht unter dem Zeichen der Sonne die Devise Ut vidi vici. So führt er die Mannschaft der Römer an, die in einer Art Reiterballett über die als Perser, Türken, Inder und Indianer verkleideten Gegner siegt. <?page no="153"?> P IA C LAUDIA D OERING 154 den Vordergrund trat, da die Autoren nicht mehr für eine humanistisch gebildete Elite, sondern für ein breites Publikum schrieben. 14 Richelieu erkennt das politische Potenzial des Theaters, das er institutionell wie inhaltlich reformieren will, um es erneut in den Dienst der Monarchie zu stellen. Die Wanderbühnen, die unter Heinrich IV. ein reges, aber schwer zu kontrollierendes Theaterleben in der Provinz ermöglichten, werden durch zwei feste öffentliche Bühnen in Paris, das Hôtel de Bourgogne und das Théâtre du Marais, abgelöst. Richelieu integriert dem Palais Cardinal einen Saal für Aufführungen vor dem Hof und ausländischen Gesandten, den er 1637 zu einem prächtigen Theater mit mehr als 1.400 Plätzen, zwei Balkonen und italienischer Kulissentechnik umbauen lässt. Er beschäftigt Autoren, die theoretische Schriften ebenso wie Bühnenstücke von metatheatralischem Gehalt zur Verteidigung des Theaters verfassen, und gründet 1635 die Société des cinq auteurs, der zeitweilig auch Pierre Corneille angehört und die Stücke nach einem vom Kardinal selbst entworfenen Plot schreiben soll. Die 1635 gegründete Académie Française wird zur Überwachung der Einhaltung jener poetologischen Normen aufgefordert, die im 20. Jahrhundert von René Bray unter dem Begriff der doctrine classique zusammengefasst werden und die einerseits Voraussetzung für die Schaffung einer der französischen Nation würdigen Dichtung sein und andererseits das Geschmacksurteil des Zuschauers lenken sollen. 15 3. Das Theater im Zentrum des Generationenkonflikts: L’illusion comique Pierre Corneilles 1635 verfasste Komödie L’illusion comique scheint, oberflächlich betrachtet, als Apologie des Theaters mit dem Ziel verfasst, Richelieus Kulturpolitik zu unterstützen. Bei näherem Hinsehen erweist sie sich als eine tiefgründige Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel, der in Generationenkonflikten anschaulich wird, und gerade dadurch als selbstbewusstes und keineswegs politisch konformes Plädoyer des Theaterdichters für die Reflexionsmöglichkeiten seiner Kunst. 14 Zur Entwicklung der frühbarocken Bühne (1590-1624), ihren Autoren und Inhalten siehe K LAUS H EITMANN : Das französische Theater des 16. und 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1977, insbesondere S. 8-10. 15 Siehe die Ausführungen zur Institutionalisierung der klassischen Doktrin in P ETER B ÜRGER : Zum Funktionswandel der dramatischen Literatur in der Epoche des entstehenden Absolutismus [1], in: P ETER B ROCKMEIER / H ERMANN H. W ETZEL (Hgg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1981, 3 Bde., Bd. 1, S. 77-114. <?page no="154"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 155 L’illusion comique spiegelt geänderte soziale Bedingungen, in denen sich die junge wie die alte Generation situieren muss, mithilfe zweier Spiel-im- Spiel-Konstruktionen auf drei Ebenen. Auf der ersten Ebene sucht der Vater Pridamant den Magier Alcandre auf, der, wie Marc Fumaroli überzeugend nachweist, die Funktion eines Dramaturgen und Rhetors innehat, 16 um das Schicksal seines verlorenen Sohnes Clindor in Erfahrung zu bringen. Auf der zweiten Ebene lässt der Magier seine Grotte zum Zuschauerraum werden und führt mithilfe von Phantomen dem zwischen Hoffen und Bangen schwankenden Vater die vergangenen Abenteuer Clindors vor. Auf der dritten Ebene muss Pridamant mitansehen, wie sein Sohn in Folge einer Liebesintrige getötet wird, vermag er doch zunächst - ebenso wenig wie der reale Theaterbesucher - nicht zu erkennen, dass es sich bei dem Geschehen lediglich um ein Bühnenstück handelt, da Clindor in Paris den Beruf des Schauspielers ergriffen hat. Das Thema des Generationenkonflikts ist handlungskonstituierendes Element der ersten Ebene. Die Flucht des von väterlicher Strenge aus dem Haus getriebenen Sohnes hat eine lange, erfolglose Suche des Vaters zur Folge, die schließlich in der Grotte des Magiers in der Touraine endet: Pridamant 21 Ce fils, ce cher objet de mes inquiétudes, Qu’ont éloigné de moi des traitements trop rudes, Et que depuis dix ans je cherche en tant de lieux, A caché pour jamais sa présence à mes yeux. 25 Sous ombre qu’il prenait un peu trop de licence Contre ses libertés je roidis ma puissance, Je croyais le dompter à force de punir, Et ma sévérité ne fit que le bannir. Mon âme vit l’erreur dont elle était séduite, 30 Je l’outrageais présent, et je pleurai sa fuite: Et l’amour paternel me fit bientôt sentir D’une injuste rigueur un juste repentir. 17 Im Bewusstsein eines juste repentir (V. 32) gesteht der Vater, seinem Sohn in der Vergangenheit mit unerbittlicher Strenge und Härte begegnet zu sein. Der Freiheit des Sohnes habe er väterliche Macht (puissance, V. 26) und Bestrafung entgegengestellt. Das eigentliche Unrecht des Vaters liegt nicht in der strengen Erziehung an sich, sondern darin, dass sie ohne Legitimation erfolgte, diente ihm der vermeintlich ausschweifende Lebenswandel des 16 Siehe M ARC F UMAROLI : Rhétorique et dramaturgie dans L’Illusion comique de Corneille, in: XVII e siècle 80-81 (1968), S. 107-132. 17 Diese und alle weiteren Verse Corneilles sind nach der von George Couton herausgegebenen Werkausgabe P IERRE C ORNEILLE : Œuvres complètes, Paris 1980-1987, 3 Bde., zitiert. <?page no="155"?> P IA C LAUDIA D OERING 156 Sohnes doch als Vorwand (sous ombre, V. 25) für die Ausübung väterlicher Autorität. Entgegen der traditionellen Komödienstruktur beginnt Corneilles Stück mit der Einsicht des Vaters in sein Fehlverhalten. Auf der zweiten Ebene des Stücks, die in einer von dem Magier Alcandre heraufbeschworenen Binnenkomödie auf Clindors Leben nach Verlassen des Elternhauses zurückblickt, findet dagegen der komödientypische Generationenkonflikt statt, der die Fehler Pridamants in typisierter Form reflektiert. Nach einem wechselvollen Vagabundenleben in Paris tritt Clindor in den Dienst Matamores, eines Aufschneiders im Stile von Plautus’ miles gloriosus. Nur scheinbar in dessen Namen macht er der jungen Isabelle den Hof, die Clindors Werben schließlich erliegt und die Heiratspläne ihres Vaters Géronte durchkreuzt. Die Reaktion des bürgerlichen Géronte entspricht zur Gänze dem starrsinnigen, auf den eigenen materiellen Vorteil bedachten Typus des Komödienvaters, der das (Liebes-)Glück seiner Kinder durchkreuzt, und kann gerade in der Stereotypie eine erzieherische Wirkung auf den Vater und Zuschauer Pridamant entfalten. 18 Mit der Figur des vom Vater bestimmten Heiratskandidaten Adraste, der dem Schwertadel angehört, kommt ein Vertreter der jungen Generation hinzu, der sich, als Isabelle sein beharrliches Liebeswerben hochmütig zurückweist, auf die Autorität des potentiellen Schwiegervaters beruft und damit, im Unterschied zu Clindor und Isabelle, aus Kalkül das Normensystem der Vätergeneration adaptiert: Adraste 395 Un père l’autorise, et mon feu maltraité Enfin aura recours à son autorité. […] 399 J’espère voir pourtant avant la fin du jour Ce que peut son vouloir au défaut de l’amour. 18 M ARIE -J OSEPHINE W HITAKER : L’illusion comique ou l’école des pères, in: Revue d’Histoire littéraire de la France 85 (1985), S. 785-798, stellt die textimmanente Bedeutung der Klischeehaftigkeit der Figur heraus: „L’absence totale d’originalité du personnage-cliché, son manque d’intérêt intrinsèque sont évidents: à moins d’illustrer quelque vérité cachée, le rôle se justifie à peine. Géronte ou le vieillard coléreux, bas, égoïste et cupide n’a rien à nous apprendre sur les pères de comédie que nous sachions déjà par Plaute ou par Térence; mais il a tout à enseigner à Pridamant sur lui-même. Conçu pour lui et vu à travers ses yeux, il retrouve sa raison d’être. Si Corneille, si soucieux d’ ,invention‘, n’a pas fui, mais plutôt recherché le stéréotype - il y a là, dans le discours de Géronte comme un effet de rengaine voulu - c’est pour d’excellentes raisons. Un portrait plus individualisé de Géronte eût moins bien généralisé l’image du père-tyran. Plus elle sera banale, fatigante à entendre et ennuyeuse, et plus elle humiliera celui qui y reconnaît ses propres comportements.“ <?page no="156"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 157 Adraste scheitert: Nicht nur seine Taktik, sich der väterlichen Autorität zu bedienen, bleibt wirkungslos; auch im Kampf, in dem sich der Chevalier traditionell der Liebe der Dame als würdig erweisen kann, verliert er und erliegt den Verletzungen, die Clindor ihm zufügt. Die alte Generation, die eine über das bloße Lebensalter legitimierte, scheinbar uneingeschränkte Macht ausüben will, wird von einem Vertreter der jungen Generation, mit dem zu konkurrieren - anders als mit dem Vater selbst - durchaus möglich ist, bezwungen. Corneilles Komödie nimmt jedoch nicht nur die Demontage von unter neuen Gesellschaftsbedingungen nicht mehr wirksamen Verhaltensweisen vor, sondern zeigt zudem positiv auf, welches Vorgehen sich als Erfolg versprechend erweist. Auf allen Ebenen des Stückes erscheint die Gegenwart als die Epoche des gesellschaftlichen Scheins und Rollenspiels, in der sich die drei Vertreter der jungen Generation situieren müssen. Auf der dritten Ebene, in der Binnentragödie, wird die Scheinhaftigkeit besonders deutlich: Der von Clindor gespielte Théagène bezahlt seinen Versuch, aus der Dissimulatio zur Aufrichtigkeit zurückzukehren, mit dem Leben, und dessen aufrichtige, von Isabelle verkörperte Ehefrau Hippolyte sieht sich als Opfer eines lange geplanten Komplotts. Isabelle setzt hier eine Rolle fort, die auf der zweiten Ebene der Illusion comique bereits angelegt ist. Anders als der Konflikt mit dem Vater zunächst suggeriert, bildet sie nicht den exakten weiblichen Gegenpart zu Clindor. Dessen Verstellungskünsten hält sie Aufrichtigkeit, Stolz und Edelmut entgegen, verzagt jedoch allzu leicht und ist im tatsächlichen Handeln auf den praktischen, anpassungsfähigen und zur Dissimulation bereiten Geist ihrer Zofe Lyse angewiesen. 19 Der der alten Ordnung verhaftete Adraste muss eingestehen, dass es seinem rangniederen Widersacher Clindor weitaus besser gelingt, sich als honnête homme zu geben, als ihm selbst: Adraste 519 Que vous êtes heureux, et quel malheur me suit! Ma maîtresse vous souffre, et l’ingrate me fuit! Quelque goût qu’elle prenne en votre compagnie, Sitôt que j’ai paru, mon abord l’a bannie. 525 […] votre humeur est trop bonne, Et votre esprit trop beau pour ennuyer personne! 19 F UMAROLI : Rhétorique et dramaturgie (wie Anm. 16), S. 129, stellt die zwei Seiten im Verhalten Isabelles, in der er den Typus der Corneilleschen Heldin erkennt, heraus: „Son aristocratie native semble la vouer à se séparer tôt ou tard de son père et du milieu platement bourgeois dont elle est issue. Lorsque son père s’oppose à son amour, elle n’hésite pas. En dépit des reproches, elle n’obéira qu’à ce que son cœur lui dicte. Ce tempérament entier a les défauts de ses qualités: dans une situation qui semble sans issue (Clindor emprisonné et condamné à mort) Isabelle est trop vite tentée d’adopter le masque tragique.“ <?page no="157"?> P IA C LAUDIA D OERING 158 Clindor erweist sich als derjenige Charakter, der sich den sozialen Erwartungen am besten anzupassen versteht. Sein Verhalten entspricht der mondänen Sinnschicht des honnête homme: Er hat Esprit, ist geübt in Unterhaltung und Galanterie. Ein Portrait, das er aus dem Stegreif von Lyse entwirft (V. 773- 780), würde der Salonkonversation alle Ehre machen. Der mondänen Seite der honnêteté fehlt jedoch das tugendhafte Komplement: Geschickt manipuliert Clindor seinen Herrn Matamore; er macht Isabelle ihres Vermögens, Lyse ihrer Schönheit wegen den Hof und endet schließlich, zum Tode verurteilt, im Gefängnis. Erst das Theater vermag Clindor zu einem moralischen Aufstieg zu verhelfen und seine natürlichen Fähigkeiten - das Vergnügen an Spiel und Sprache - tugendhaft zu nutzen. Denn in einer Gegenbewegung zur Gesellschaft, die zunehmend über die Produktion von Schein funktioniert, entwickelt sich das Theater zur Bühne vollkommener honnêteté, wie Alcandre dem mit der Berufswahl seines Sohnes unzufriedenen Pridamant in einer berühmten Verteidigung des Theaters vor Augen führt: Alcandre 1781 Cessez de vous en plaindre: à présent le Théâtre Est en un point si haut qu’un chacun l’idolâtre, Et ce que votre temps voyait avec mépris 1784 Est aujourd’hui l’amour de tous les bons esprits. In der Theaterapologie wird die Generationendifferenz noch einmal akzentuiert: Während Clindors Hang zu Rollenspiel und Dissimulatio im Schauspielerberuf eine tugendhafte Ausrichtung erfährt, steht der Vater dem Theater ablehnend gegenüber; die Enthüllung, dass sein Sohn Schauspieler geworden ist, erschüttert ihn ebenso sehr wie dessen - auf der Bühne vorgetäuschter - Tod. Die Vorbehalte Pridamants gegenüber dem Theater beweisen, dass er sich dessen Vermögen, gesellschaftliches Verhalten zu reflektieren und zu kritisieren, nicht bewusst ist, obgleich seinem eigenen Fehlverhalten als Vater soeben mittels einer theatralen Inszenierung der Spiegel vorgehalten wurde. Zwar scheint der Konflikt zwischen Vater und Sohn über die Bewertung des Schauspielerberufs am Ende des Stückes beigelegt: Pridamant gibt seine skeptische Haltung gegenüber dem Theater auf, beschließt, die Provinz zu verlassen und seinen Sohn in Paris aufzusuchen. Eine ironische Bemerkung Alcandres lässt jedoch Zweifel an der Lernfähigkeit der alten Generation aufkommen. Alcandre gibt Pridamant abschließend den Rat N’en croyez que vos yeux (V. 1816). Vordergründig fordert der Magier Pridamant auf, die Vorurteile gegenüber der Schauspielkunst aufzugeben und sich in Paris von Clindors Talent zu überzeugen. Auf einer hintergründigen Ebene persifliert Alcandre die Haltung Pridamants, der wie sein Ebenbild <?page no="158"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 159 Géronte wenig Bereitschaft gezeigt hat, die eigene Position zu überdenken. Die Maxime, dem Augenschein zu trauen, ist in einer Gesellschaft, in der der Schein nicht mit dem Sein übereinstimmt, wenig Erfolg versprechend. Corneille verschränkt die Verachtung des Schauspiels, die in Alcandres Rede der alten Generation zugewiesen wird (Et ce que votre temps voyait avec mépris, V. 1783), und gesellschaftliches Scheitern ineinander; das Theater - und mit ihm die Autoren und Darsteller - hingegen verdankt den Aufschwung zu einem zeitgemäßen Medium der Fähigkeit, soziale Verhaltensstrategien zu erfassen, sich zu eigen zu machen und zugleich kritisch zu reflektieren. 4. Die Lüge als Strategie des gesellschaftlichen Aufstiegs: Le menteur Dorante, Hauptfigur in Corneilles Komödie Le menteur, die an das Stück La verdad sospechosa (1634) des spanischen Dichters Juan Ruiz de Alarcón angelehnt ist, 20 weist deutliche Parallelen zu Clindor auf. Auch Dorante ist galant, anpassungsfähig und redegewandt, insbesondere wenn es um die Inszenierung seiner Lügen geht; 21 zugleich fehlt es ihm, dem Lügner, an jenen Tugenden, über die der honnête homme einem traditionellen Verständnis nach ebenso verfügen sollte wie über die mondänen Eigenschaften. Der Ort, vor dessen Hintergrund sich die Handlung entwickelt und an dessen Regeln sich der Generationenkonflikt entzündet, ist hier nicht mehr das in Paris situierte Theater, sondern die Stadt Paris selbst. Der erste Akt spielt in den Tuilerien, die folgenden auf der Place Royale, jenem Platz also, der entgegen seiner anfänglichen Bestimmung zum Treffpunkt der mondänen Gesellschaft geworden ist. Dorantes Plan, an gesellschaftlichem Prestige zu gewinnen und galante Abenteuer zu erleben, ist vom ersten Vers an untrennbar mit der Stadt Paris verbunden: 20 Wie aus der Épître und dem Vorwort Au lecteur hervorgeht, hält Corneille Lope de Vega für den Autor der spanischen Vorlage. Nach Georges Couton ist die falsche Zuordnung einer von Corneille konsultierten Werkausgabe Lope de Vegas geschuldet, die auch das Stück Alarcóns enthielt; siehe C ORNEILLE : Œuvres complètes (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 1218. 21 J EAN S ERROY : La sincérité du menteur, in: Travaux de littérature 7 (1994), S. 125-134, hier S. 129, sieht in den Lügengebäuden Dorantes Ähnlichkeit mit einer Stück-im-Stück-Konstruktion und weist so auf eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen L’illusion comique und Le menteur hin: „On reconnaît, au passage, dans cet art de donner vie à des leurres, l’essence même du théâtre, et en Dorante une variation subtile, jouée par Corneille lui-même, du théâtre dans le théâtre.“ <?page no="159"?> P IA C LAUDIA D OERING 160 Dorante 1 À la fin j’ai quitté la robe pour l’épée, L’attente où j’ai vécu n’a point été trompée, Mon père a consenti que je suive mon choix, Et j’ai fait banqueroute à ce fatras de Lois. 5 Mais puisque nous voici dedans les Thuilleries, Le pays du beau monde, et des galanteries, Dis-moi, me trouves-tu bien fait en Cavalier? Ne vois-tu rien en moi qui sente l’écolier? Dorante gehört wie wohl auch Clindor 22 dem Amtsadel an. Er hat in Poitiers Jura studiert, will nun aber die Robe gegen das Schwert tauschen - dies nicht nur verstanden als ein Berufswechsel, sondern vor allem als gesellschaftlicher Aufstieg. Er verkörpert die - bereits im Kontext der Umwidmung der Place Royale gezeigte - paradoxe Situation des Amtsadels, der sich, obgleich vom König bevorzugt und mit entscheidenden Verwaltungsaufgaben betraut, nicht auf die eigenen Stärken besinnt, sondern den alten Adel zu imitieren sucht. 23 Allerdings richtet sich Dorantes Ehrgeiz keineswegs darauf, im Krieg Ruhm zu erwerben; vielmehr will er sich als Cavalier Zugang zur mondänen Pariser Gesellschaft verschaffen. Stärker noch als in der Illusion comique ist der Beginn von Le menteur durch das Einvernehmen von Vater und Sohn gekennzeichnet: Dorantes Vater, der wie derjenige Isabelles Géronte heißt, stimmt der Entscheidung des Sohnes zu, den eigenen Stand und die Provinz zu verlassen. Charakteristisch für Dorantes Aufstiegsstreben ist eine Anpassungsleistung, die sich jedoch nicht an den tatsächlichen Gegebenheiten, sondern an Vorstellungen und Bildern ausrichtet. In Poitiers hat Dorante ein Bild von Paris und der dortigen guten Gesellschaft entworfen, der er eine zivilisatorische und kulturelle Vorreiterrolle zuweist und der er sich nun mithilfe seines Dieners Cliton, der stets in der Hauptstadt gelebt hat, einfügen will: 22 Zu der Schwierigkeit, den gesellschaftlichen Stand Clindors sicher zu bestimmen, siehe F UMAROLI : Rhétorique et dramaturgie (wie Anm. 16), S. 117. 23 Ebenso ordnet R ICHARD E. G OODKIN : Changing Classes, Changing Characters: Noblesse d’épée and noblesse de robe in Corneille’s Le Menteur, in: Papers of French Seventeenth-Century Literature XXIX, 57 (2002), S. 419-428, hier S. 419, Dorante diesem gesellschaftspolitischen Paradox ein: „Le Menteur is not simply about a young provincial nobleman coming to Paris to become a soldier; rather, this young man embodies a very important social conflict in the seventeenth century, the conflict between the noblesse de robe, the more recently ennobled administrative class of aristocrats, and the noblesse d’épée, the old feudal aristocracy. In a period that continues to see the power of the old aristocracy diminish while that of the robe nobility is on the rise, it is nonetheless - and paradoxically - the case that the upward mobility of the more ambitious of the noblesse de robe still depends on a ‘lie’ similar to the ones Dorante tells upon his arrival in Paris: they, too, find it socially advantageous to present themselves in one way or another as nobles d’épée.“ <?page no="160"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 161 Dorante 60 Mais Paris après tout est bien loin de Poitiers. Le climat différent veut une autre méthode, Ce qu’on admire ailleurs est ici hors de mode, La diverse façon de parler et d’agir Donne aux nouveaux venus souvent de quoi rougir. 65 Chez les Provinciaux on prend ce qu’on rencontre, Et là, faute de mieux, un sot passe à la montre; Mais il faut à Paris bien d’autres qualités, On ne s’éblouit point de ces fausses clartés; Et tant d’honnêtes gens, que l’on y voit ensemble 70 Font qu’on est mal reçu, si l’on ne leur ressemble. Dorantes Erfolgskonzept liegt nicht etwa darin, sich das Wertesystem des alten Adels zu eigen zu machen und über Verdienste gesellschaftlich aufzusteigen. Seine Methode besteht darin, den sich kontinuierlich wandelnden Zeitgeschmack sowie die urbanité der Pariser Gesellschaft, die sich in Sprechen und Handeln von der als rückständig verachteten Provinz (hors de mode, V. 63) abgrenzt, zu erfassen und nachzuahmen. Einen ironischen Seitenhieb auf die Verfahren der Meinungsbildung in der Hauptstadt fügt Corneille mit folgender Variante ein, die in den Fassungen von 1644 bis 1656 an die Stelle der Verse 63 und 64 tritt: J’en voyais là beaucoup passer pour gens d’esprit, Et faire encore état de Chimène et du Cid, Estimer de tous deux la vertu sans seconde, Qui passeraient ici pour gens de l’autre monde, Et se feraient siffler si dans un entretien Ils étaient si grossiers que d’en dire du bien. Corneille spielt auf die Rezeptionsgeschichte seiner Tragikomödie Le Cid (1637) an, zu deren Beurteilung Richelieu die zuvor gegründete Académie Française eingeschaltet hatte und der - insbesondere in Hinblick auf den Schluss, die in Aussicht gestellte Heirat zwischen Chimène und Don Rodrigue, dem Mörder ihres Vaters - Amoralität vorgeworfen wurde. 24 Während man sich in der Provinz noch unvoreingenommen lobend über den Cid äußert, ist das ästhetische Urteil in Paris der Zensur der herrschenden, im Falle des Cid der politisch gesteuerten Meinung unterworfen. Mit dem Ziel des gesellschaftlichen Aufstiegs und unter Verzicht auf jegliche eigene kritische Reflexion übernimmt Dorante das vorgegebene Geschmacksurteil. 24 Der komplexe Verlauf der Querelle du Cid lässt sich anhand der umfangreich kommentierten Textausgabe von M ARC C IVARDI (Hg.): La querelle du Cid (1637-1638), Paris 2004, nachvollziehen; die weitreichende kulturpolitische Bedeutung des Eingriffs der Académie Française in Fragen der Literatur stellt B ÜRGER : Zum Funktionswandel der dramatischen Literatur (wie Anm. 15), heraus. <?page no="161"?> P IA C LAUDIA D OERING 162 Ebenso unkritisch steht er den in Paris geltenden Verhaltensformen gegenüber und weist die fausses clartés (V. 68) der Provinz, Paris hingegen die honnêteté zu. Sein Diener Cliton setzt einer solchen Idealisierung der Stadt die Warnung entgegen, sich nicht vom Schein trügen zu lassen, auch in Paris werde man häufig, wie andernorts in Frankreich, das Opfer von Täuschungen: Cliton 71 Connaissez mieux Paris, puisque vous en parlez. Paris est un grand lieu plein de marchands mêlés, L’effet n’y répond pas toujours à l’apparence, 74 On s’y laisse duper autant qu’en lieu de France. Ohne diese Warnung explizit zu kommentieren, wird ihr Dorante, indem er sich selbst der Täuschung bedient, von Beginn an ohne jegliche Anstrengung gerecht. Mit dem Ziel, in der Pariser Gesellschaft zu reüssieren, erfindet er sich neu. Die Lügengebäude, die er entwirft, rekonstruieren jene ruhmreiche, durch militärische Erfolge gekrönte Vergangenheit, an der es der Noblesse de robe fehlt; sie beschreiben wort- und bildreich galante Abenteuer, wie ein angeblich zu Ehren einer jungen Frau veranstaltetes Fest auf reich geschmückten Booten auf der Seine; und sie dienen der Vermeidung einer vom Vater vorgesehenen Eheschließung. Eine der ausgefeiltesten Lügen dem Vater Géronte gegenüber entwickelt Dorante vor der Kulisse der Place Royale, die als lieu de mémoire gelten kann. Das Prestige dieses Platzes als Ort adeliger Repräsentation ist so bedeutsam, dass er nicht über das Bühnenbild gezeigt, sondern allein über die Sprache evoziert wird. 25 An der Place Royale angekommen, bestaunt Dorante die schönen Gebäude, und Géronte durchquert in Worten die Stadt von den Tuilerien im Westen, vorbei am Préaux-Clercs, einem der beliebtesten Baugelände der Pariser Oberschicht seit etwa 1632, vorbei am Palais Cardinal bis zum Standpunkt an der Place Royale im Marais: Dorante 552 Paris semble à mes yeux un pays de Romans, J’y croyais ce matin voir une Île enchantée; Je la laissai déserte, et la trouve habitée. 555 Quelque Amphion nouveau, sans l’aide des maçons, En superbes Palais a changé ses buissons. 25 Zu Corneilles Verfahren, Orte über die Bühnensprache und nicht über das Bühnenbild entstehen zu lassen, siehe M ARIE -F RANCE W AGNER : L’éblouissement de Paris: promenades urbaines et urbanité dans les comédies de Corneille, in: Papers of French Seventeenth-Century Literature XXV, 48 (1998), S. 129-144. <?page no="162"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 163 Géronte Paris voit tous les jours de ces Métamorphoses. Dans tout le Pré-aux-Clercs tu verras mêmes choses, Et l’Univers entier ne peut rien voir d’égal 560 Aux superbes dehors du Palais Cardinal. In der Architektur - und nicht in der Begegnung mit Vertretern des Schwertadels - findet Dorante seine Vorstellung von Paris als dem pays du beau monde, et des galanteries (V. 6) bestätigt; die Stadt erscheint ihm als ein verzauberter Ort aus der Literatur, dem Roman, und von seinem Diener als un grand maître à faire des Romans (V. 354) charakterisiert, passt er in der auf den imaginären Stadtrundgang folgenden Lügentirade Vorstellungskraft und sprachlichen Ausdruck dem Ort an. Die von Géronte geforderte Heirat zerstört jene Harmonie zwischen Vater und Sohn, die in der gemeinsamen Bewunderung der Stadt Paris noch herrschte. Um der Hochzeit mit Clarice zu entgehen, stellt Dorante sich anders als Isabelle in der Illusion comique der Autorität des Vaters nicht entgegen, sondern versucht, den Konflikt mithilfe einer Lüge zu vermeiden: Er erfindet eine abenteuerliche, tempo- und detailreiche Ereigniskette, die auf sein falsches Geständnis, in Poitiers aus einer Notsituation heraus bereits heimlich geheiratet zu haben, hinführt und diese Hochzeit zugleich legitimiert. Der Vater lässt sich täuschen, verzeiht die übereilte Heirat und entdeckt den Betrug erst, als er sich bei Philiste, einem ehemaligen Kommilitonen Dorantes, nach der Familie seiner vermeintlichen Schwiegertochter erkundigt. Er wirft dem Sohn daraufhin mangelnde Tugendhaftigkeit vor, die jedoch Grundvoraussetzung sei, um sich gentilhomme zu nennen. Zugleich muss er beschämt eingestehen, auf die Lüge des Sohnes hereingefallen zu sein: Géronte 1537 De quel front cependant faut-il que je confesse Que ton effronterie a surpris ma vieillesse, Qu’un homme de mon âge a cru légèrement 1540 Ce qu’un homme du tien débite impudemment? Tu me fais donc servir de fable et de risée, Passer pour esprit faible, et pour cervelle usée! Die Generationendifferenz wird antithetisch in den parallel aufgebauten Versen 1539 und 1540 sowie in der figura etymologica front und effronterie herausgestellt: Der Vater wirft dem Sohn lasterhaftes, schamloses Verhalten vor und muss zugleich die eigene Leichtgläubigkeit eingestehen, von einer offensichtlich erfundenen Geschichte getäuscht worden zu sein und so den Erfolg der Lüge erst ermöglicht zu haben. Die Unfähigkeit, Schein und Sein zu unterscheiden, sowie eine aller Anpassung entgegenstehende inflexibilité, <?page no="163"?> P IA C LAUDIA D OERING 164 die Dorante dem Vater an anderer Stelle (V. 589) vorwirft, führen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu Machtverlust und zur Bloßstellung als esprit faible. Dorante hingegen ist den Vertretern seiner Generation in der Pariser Gesellschaft durchaus gewachsen, wenn nicht gar überlegen. Schon seine erste Begegnung mit Clarice beweist, dass er die Regeln der Galanterie und der Konversation, wie sie in den Salons gepflegt wird, beherrscht: Clarice, faisant un faux pas, et comme se laissant choir. 105 Ay. Dorante Ce malheur me rend un favorable office, Puisqu’il me donne lieu de ce petit service, Et c’est pour moi, Madame, un bonheur souverain Que cette occasion de vous donner la main. Clarice L’occasion ici fort peu vous favorise, 110 Et ce faible bonheur ne vaut pas qu’on le prise. Dorante Il est vrai, je le dois tout entier au hasard, Mes soins, ni vos désirs n’y prennent point de part, Et sa douceur mêlée avec cette amertume Ne me rend pas le Sort plus doux que de coutume, 115 Puisqu’enfin ce bonheur que j’ai si fort prisé À mon peu de mérite eût été refusé. Die besondere façon des gesellschaftlichen Verhaltens, die Dorante bei seiner Ankunft in Paris konstatiert, liegt in der Unaufrichtigkeit und Dissimulatio: Scheinbar unabsichtlich führt Clarice das Zusammentreffen durch einen faux pas herbei, und die sich anschließende Rede, die in Wort- und Gedankenspielen um die Begriffe malheur, bonheur, occasion, hasard und Sort kreist, dient der Affirmation des Scheins. Dass Dorante die Spielregeln, die Clarice vorgibt, durchschaut, beweist die Ambivalenz in Vers 112: Dorante deckt einerseits die tatsächlichen Beweggründe, die soins und désirs, die zu der Unterhaltung geführt haben, auf, indem er sie benennt, und verdeckt sie andererseits, indem er ihre Wirkung zugunsten des hasard negiert. Dank der Beherrschung rhetorischer Strategien ist Dorante auch dem höherrangigen Alcippe, der Entsprechung des Adraste in der Illusion comique und einer Karikatur des phantasielosen Schwertadligen, der mit Worten geizt und der <?page no="164"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 165 Sprache das Duell vorzieht, 26 überlegen. Wie Géronte ist Alcippe nicht in der Lage, die Lügensignale in der Rede des Dorante zu erkennen, so dass er das erfundene Bootsfest für wahr und Dorante für einen Rivalen in Liebesdingen hält. Im Unterschied zu der spanischen Vorlage wird Corneilles Held nicht für seine Lügen bestraft. Zwar ist er durch eine Namensvertauschung Opfer einer selbstverschuldeten Täuschung geworden: In den Tuilerien verliebt er sich in Clarice, von der er fälschlicherweise annimmt, sie heiße Lucrèce. Bei der vom Vater ausgewählten Ehefrau handelt es sich also um diejenige, für die sich auch der Sohn interessiert. Noch bevor Dorante das Missverständnis bemerkt und wie der Held der spanischen Version in Verzweiflung darüber geraten kann, nun die falsche Frau heiraten zu müssen, zweifelt Dorante an seiner Wahl und entdeckt seine Gefühle für diejenige, die er aufgrund seiner Lügen zu heiraten gezwungen ist. 27 Der Erfolg in der Pariser Gesellschaft gibt der von Dorante gewählten Methode Recht. Das Gleichgewicht von Tugendhaftigkeit und urbanité, verstanden als die Fähigkeit des weltgewandten Auftretens und der angenehmen Konversation, die traditionell im Ideal des honnête homme zusammenkommen, ist zugunsten der urbanité verschoben; an die Stelle der Tugendhaftigkeit sind Anpassungsfähigkeit und Kalkül getreten. Die auf Verstellung und Lüge beruhenden Taktiken der Corneilleschen Helden sind noch nicht von jener Lasterhaftigkeit gekennzeichnet wie die Hypokrisie eines Dom Juan oder eines Tartuffe; sie erscheinen verzeihlich, weil die Scheinhaftigkeit mittels der Ästhetisierung in einer Theateraufführung oder einer in Übertreibung und romanhafter Ausschmückung durchsichtigen Lüge erkennbar ist. Zugleich reflektieren sie jedoch eine gesellschaftliche Entwicklung, an deren Ende die Hypokriten Molièrescher Provenienz zu verorten sind. Dass das vorgestellte Generationenverhältnis, demzufolge die Überlegenheit der Jungen auf der Methode der Anpassungsfähigkeit und Dissimulatio beruht, nicht ausschließlich für Künstlerfiguren wie Clindor und Dorante und nicht nur in der Gattung der Komödie, in der Täuschungen und Verwechslungen traditionell wichtige Elemente bilden, gilt, sondern grundlegend für 26 G OODKIN : Changing Classes, Changing Characters (wie Anm. 23), S. 424, charakterisiert Alcippe als „caricature of the kind of ill-mannered, poorly spoken, violent nobleman“. 27 Im Examen von 1660 legitimiert C ORNEILLE : Œuvres complètes (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 8, das von ihm gewählte Ende, das von der spanischen Vorlage abweicht und gegen die Einheit der Handlung verstößt, mit dem Geschmack des französischen Publikums: L’Auteur espagnol lui [à Dorante; P.C.D.] donne ainsi le change pour punition de ses menteries, et le réduit à épouser par force cette Lucrèce qu’il n’aime point. […] Pour moi, j’ai trouvé cette manière de finir un peu dure, et cru qu’un mariage moins violenté serait plus au goût de notre auditoire. <?page no="165"?> P IA C LAUDIA D OERING 166 das Verständnis der Corneilleschen Helden ist, sei abschließend an der Tragikomödie Le Cid gezeigt. 5. Dissimulatio als staatlich sanktioniertes Prinzip: Le Cid Die erste Szene des Cid setzt, wie diejenigen der vorgestellten Komödien, mit einem scheinbar harmonischen Verhältnis der Generationen ein: Don Gomès stimmt der Hochzeit seiner Tochter Chimène und des jungen Don Rodrigue zu und offenbart in der von Chimènes Gouvernante Elvire wiedergegebenen Rede zugleich das Generationenverständnis des Schwertadels: Elvire 15 Don Rodrigue surtout n’a trait en son visage Qui d’un homme de cœur ne soit la haute image, Et sort d’une maison si féconde en guerriers Qu’ils y prennent naissance au milieu des lauriers. La valeur de son père, en son temps sans pareille, 20 Tant qu’a duré sa force a passé pour merveille, Ses rides sur son front ont gravé ses exploits, Et nous disent encor ce qu’il fut autrefois: Je me promets du fils ce que j’ai vu du père, Et ma fille en un mot peut l’aimer et me plaire. Die Ahnen des Don Rodrigue haben sich durch Heldentaten ausgezeichnet; ihr auf den Ruhmerwerb ausgerichtetes Wirken - und nicht ihre innere Tugend - spiegelt sich auf dem Antlitz des Vaters und ist auf die Züge des Sohnes projiziert, 28 der zum Hoffnungsträger der sozialen Gruppe der Schwertadeligen wird. Da die Ehre des Einzelnen wie der Gemeinschaft auf Tatkraft, auf der Fähigkeit zur Ausübung physischer Gewalt, beruht, ist die Noblesse d’Épée zur Aufrechterhaltung ihrer gloire in besonderer Weise auf die junge Generation angewiesen; sie ist abhängig davon, dass die Söhne das Wertesystem der Väter akzeptieren, in der Linie tradieren und die Zukunft der Gemeinschaft garantieren. 28 In einer für das Verständnis von Tugendkonzeptionen im Theater Corneilles grundlegenden Studie weist A NDREAS K ABLITZ : Corneilles theatrum gloriae. Paradoxien der Ehre und tragische Kasuistik (Le Cid - Horace - Cinna), in: J OACHIM K ÜPPER / F RIEDRICH W OLFZETTEL (Hgg.): Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt, München 2000, S. 491-552, hier Anm. 15, darauf hin, dass sich eine solche Physiognomik der Ehre grundsätzlich von der neuplatonischen Auffassung des Gesichts als Spiegel der Seele unterscheidet, da sie „weit mehr auf ein Archiv vergangener Taten als auf die Lesbarkeit der Seele“ ausgerichtet ist und „einem Konzept der Ehre, das stets äußeres Wirken und nicht innere Eigenschaften honoriert, [korrespondiert]“. <?page no="166"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 167 Eine Frage der Zukunftssicherung ist es auch, die den zentralen Konflikt des Stückes auslöst: Der König sucht einen Prinzenerzieher und wirft damit die Frage auf, wer geeignet sei, die künftige Herrschergeneration auszubilden. Während es in der ersten Szene des ersten Aktes noch so aussieht, als sei Don Gomès, der Vater Chimènes, zweifelsfrei für das Amt auserwählt, fällt die Entscheidung des Königs auf den älteren Don Diègue, den Vater des Don Rodrigue. Den Konkurrenten gemeinsam ist ein Wertesystem, das auf der Sichtbarkeit von Kriegsruhm basiert; differente Positionen nehmen sie in der Bewertung des Monarchen und dessen Stellung in der Gesellschaft ein: Don Diègue 148 Cette marque d’honneur qu’il [le Roi; P.C.D.] met dans ma famille Montre à tous qu’il est juste, et fait connaître assez Qu’il sait récompenser les services passés. Le Comte 151 Pour grands que soient les Rois, ils sont ce que nous sommes: Ils peuvent se tromper comme les autres hommes, Et ce choix sert de preuve à tous les Courtisans Qu’ils savent mal payer les services présents. Don Diègue sieht in seiner Wahl zum Prinzenerzieher ein sichtbares Zeichen seiner Ehre, das nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Familie, d.h. sowohl die vorausgegangenen als auch die künftigen Generationen auszeichnet, und stimmt darin mit dem Ehrbegriff des Comte, wie er in Szene I.1 erkennbar ist, überein. Das Konfliktpotential zwischen beiden Vertretern des Schwertadels zeigt sich in den parallel aufgebauten Versen 150 und 154: Don Diègue erkennt in der Belohnung für vergangene Taten das Wirken einer Gerechtigkeit, die den König über den Adel erhebt. Don Gomès hingegen verwehrt dem König eine herausgehobene Stellung, indem er maximenhaft von den Königen im Allgemeinen spricht und sie der Gesellschaft ohne Distinktion einordnet, da sie auch der Täuschung unterliegen können, so dass er von ihnen keine Belohnung, sondern Bezahlung für gegenwärtige Dienste fordert. 29 Aus der Differenz von récompenser und payer resultiert eine unter- 29 H ELEN L. H ARRISON : Payer or Récompenser: Royal gratitude in Le Cid, in: The French Review 72 (1998), S. 238-249, hier S. 239, stellt die Autonomie eines Königs, der belohnt, der Unfreiheit desjenigen gegenüber, der zu bezahlen gezwungen ist: „The verb used by Don Diègue for the monarch’s action is ‚recompenser‘, which means, etymologically, to reestablish a balance, to weigh one thing with another (Warburg, recompensare). Finding an appropriate recompense thus entails exercising judgement. The giver rather than the receiver decides in this context what the reward should be. […] Rather than seeing the political structure in terms of kings and subjects, the current champion of Castille [Don Gomès; P.C.D.] posits kings who need the goodwill of their vassals. In saying that kings ,savent mal payer les services présents‘, the Comte makes his sovereign little more than the employer of mercenary troops.“ <?page no="167"?> P IA C LAUDIA D OERING 168 schiedliche Bewertung von Vergangenheit und Gegenwart: Während die Belohnung als Ergebnis freier königlicher Gerechtigkeit in zeitlicher Distanz zu der erbrachten Leistung erfolgt, wird die Bezahlung umgehend eingefordert. Dass der König den älteren Don Diègue zum Prinzenerzieher macht, weist jedoch nicht auf eine rückwärts gewandte, vergangenen Heroismus feiernde Politik hin, sondern belegt, dass sich der absolute Monarch nicht in eine seine Autonomie und Macht unterwandernde Handelsbeziehung mit der Noblesse d’Épée begibt. Er entscheidet sich mit Don Diègue für jenen Vertreter des Schwertadels, der anders als der machtbewusste Comte keine herrschaftsgefährdende Position gegenüber der absoluten Monarchie einnimmt. Der Streit zwischen Don Diègue und Don Gomès in Szene I.3 gipfelt darin, dass der beleidigte Comte gegen die entscheidende gesellschaftliche Verhaltensregel der Affektbeherrschung bzw. der Dissimulatio des Affekts verstößt und seinen Gegner ohrfeigt. Don Diègue antwortet auf die offene Provokation, indem er sein Schwert als Aufforderung zum Duell zieht; doch der Graf steigert die Kränkung noch, indem er ihn aufgrund des hohen Alters für nicht satisfaktionsfähig erklärt. Um seine Ehre dennoch zu verteidigen, variiert Don Diègue das aus Szene I.1 bekannte Generationenmodell: Während dort die Gesichtszüge des Vaters auf jene des Sohnes projiziert dessen gruppenkonformen Ehrbegriff garantieren sollen, fordert hier der Vater den Sohn auf, dieses Versprechen einzulösen, ihn im Duell zu vertreten und die altersbedingte physische Schwäche auszugleichen. 30 Der Reaktion aller Vertreter der jungen Generation auf den Konflikt zwischen den Vätern ist gemeinsam, dass Handeln am eigenen Nutzen ausgerichtet wird - die Verben délibérer (V. 892) und discourir (V. 977) sowie das Bild der Waage (V. 349; 896) charakterisieren die inneren Entscheidungsprozesse -, nach außen hin jedoch eine Orientierung an der adligen Standesethik vorgetäuscht wird. Don Rodrigue wägt im genre délibératif der Stanzen in Szene I.6 zwischen seinen Handlungsalternativen ab. Da er die Liebe Chimènes verlöre, auch wenn er sich nicht im Sinne der Standesehre zu einem Duell mit ihrem Vater entschlösse, entscheidet er sich für die Einhaltung der Standesregeln: Allons mon bras, sauvons du moins l’honneur,/ Puisqu’après tout il faut perdre Chimène (V. 341-342). Dem Comte gegenüber gibt er seine Entscheidung jedoch als niemals in Zweifel gezogenes Prinzip der Familienehre aus: Connais-tu bien don Diègue? / […] Cette ardeur que dans les yeux je porte,/ Sais-tu que c’est son sang? (V. 400; 403- 404). Mit der Entschlossenheit, die sich zuvor auf den Gesichtszügen und 30 Zu den Konstruktionen einer durch Abstammung ermöglichten Repräsentation, wie sie bspw. in dem häufig wiederkehrenden Begriff des sang als Verdinglichung der adligen Herkunft hervortritt, siehe K ABLITZ : Corneilles theatrum gloriae (wie Anm. 28), S. 506-508. <?page no="168"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 169 hier in den Augen zeigt, sowie über die Metonymie des Blutes, in der sich die Zusammengehörigkeit innerhalb des Adelsgeschlechts verdinglicht, bestätigt Don Rodrigue nach außen hin das von den Vätern vorgegebene Generationenmodell. Noch deutlicher differenziert Chimène je nach Situation die Position zu ihrem Geliebten, der im Duell zum Mörder ihres Vaters geworden ist: Im öffentlichen Raum, d.h. im Gespräch mit dem König, der Infantin und Don Sanche, einem Rivalen des Don Rodrigue, entsprechen ihre Aussagen der aristokratischen Standesethik: Sie will Rache für den Tod des Vaters üben und kämpft für die Bestrafung Don Rodrigues. Im Privaten hingegen, im Gespräch mit ihrer Gouvernanten Elvire und mit Don Rodrigue selbst, gesteht sie ihre ungebrochene Liebe und erklärt ihre Rachepläne zu einem von den Standesregeln auferlegten Zwang: La moitié de ma vie a mis l’autre au tombeau,/ Et m’oblige à venger, après ce coup funeste,/ Celle que je n’ai plus sur celle qui me reste (V. 810-812; Hervorhebung P.C.D.). 31 Der Infantin gegenüber beschreibt Chimène die Ausweglosigkeit ihrer Situation, Après mon père mort, je n’ai point à choisir (V. 1208), die jedoch nur ihr öffentliches Verhalten betrifft. Tatsächlich bedient sie sich, um den eigenen Interessen, d.h. der Verwirklichung des Liebesaffekts, gerecht zu werden und zugleich die von den Vätern etablierte Werteordnung äußerlich aufrecht zu erhalten, strategischen Kalküls: Sie betraut den König und nicht Don Sanche mit der Bestrafung Don Rodrigues, weiß sie doch, dass das politische Interesse des Monarchen an dem zur Landesverteidigung gebrauchten jungen Krieger zu einem milderen, das Leben verschonenden Urteil führen wird als die von dem Rivalen betriebene Selbstjustiz im Duell. Das mit dem König vereinbarte Turnier, in dem Don Rodrigue und Don Sanche gegeneinander antreten und der Sieger mit der Hand Chimènes belohnt wird, folgt eben dieser Strategie: Chimène setzt auf die Unerfahrenheit des Don Sanche im Kampf, 32 der zum Werkzeug einer nur vorgetäuschten Standesethik wird, und 31 Corneille bestätigt im Avertissement zu Le Cid, in C ORNEILLE : Œuvres complètes (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 694, unter Rückbezug auf eine spanische Quelle Guilhem de Castros diese Zweiteilung im Handeln Chimènes, legitimiert sie aber, um den gesellschaftskritischen Gehalt dissimulatorischen Verhaltens zu verschleiern, vordergründig rein poetologisch mit dem Hinweis auf die aristotelische Empfehlung eines zumindest gleichmäßig ungleichmäßig gestalteten Charakters: C’est, si je ne me trompe, comme agit Chimène dans mon ouvrage en présence du Roi et de l’Infante. Je dis en présence du Roi et de l’Infante, parce que quand elle est seule, ou avec sa confidente, ou avec son amant, c’est une autre chose. Ses mœurs sont inégalement égales, pour parler en termes de notre Aristote, et changeant suivant les circonstances des lieux, des personnes, des temps et des occasions, en conservant toujours le même principe. 32 Léonor, die Vertraute der Infantin, durchschaut die Strategie Chimènes: Car Chimène aisément montre par sa conduite Que la haine aujourd’hui ne fait pas sa poursuite: Elle obtient un combat, et pour son combattant <?page no="169"?> P IA C LAUDIA D OERING 170 stärkt zudem den Kampfgeist Don Rodrigues, indem sie ihn auffordert, sie vor der Heirat mit dem Rivalen zu bewahren: Chimène 1559 Si jamais je t’aimai, cher Rodrigue, en revanche, Défends-toi maintenant pour m’ôter à don Sanche; Combats pour m’affranchir d’une condition 1562 Qui me livre à l’objet de mon aversion. Die Evokation ihrer Liebe vor dem verhängnisvollen Duell mit dem Vater, die Apostrophe cher Rodrigue sowie das Eingeständnis der Abscheu vor Don Sanche kommen einem impliziten Liebesgeständnis gleich und weisen auf Chimènes Absicht hin, die Ehre ihrer Familie wiederherzustellen, ohne den Geliebten zu opfern. Unter dem Schein, dem von der Standesethik oktroyierten devoir gerecht zu werden, verfolgt Chimène die Realisierung der von der Ratio nicht domestizierten Passio. Dass das Handeln der Vertreter der jungen Generation im Cid grundsätzlich auf die strategische Verwirklichung der Affekte unter gleichzeitiger Dissimulation der etablierten Standesethik ausgerichtet ist, belegt über die Protagonisten hinaus nicht nur Don Sanche, der das Prinzip aristokratischer Selbstjustiz in der Hoffnung verteidigt, sein Rivale um die Gunst Chimènes unterliege im Duell, sondern insbesondere die Figur der Infantin Doña Urraque. In der Querelle du Cid wird Corneille die Episode um die Infantin zum Vorwurf gemacht, da sie dem aristotelischen Prinzip der Einheit der Handlung widerspricht. In paradigmatischer Hinsicht jedoch lässt sie jene Handlungs- und Legitimationsmuster im Konflikt zwischen amour und devoir anschaulich werden, die auch das Verhalten der Hauptfiguren kennzeichnen. Die Infantin liebt Don Rodrigue, ist sich aber bewusst, dass ihre Liebe nicht standesgemäß ist. Da sie den Konflikt zwischen gloire und amour nicht mithilfe der Ratio im Sinne der Standesethik aufzulösen vermag, bedient sie sich dissimulatorischer Strategien, die gleich einer „Schwundstufe der tradierten Ethik“ 33 an deren Stelle treten. Die Infantin hat die Liebe C’est le premier offert qu’elle accepte à l’instant: Elle ne choisit point de ces mains généreuses Que tant d’exploits fameux rendent si glorieuses. Don Sanche lui suffit, c’est la première fois Que ce jeune Seigneur endosse le harnois. (V. 1623-1630) 33 K ABLITZ : Corneilles theatrum gloriae (wie Anm. 28), S. 502. Kablitz folgert aus dem Verhalten der Infantin zudem auf die sich wandelnde Bedeutung der Ratio: Sie gewinnt „nicht mehr um ihres ontologischen Vorrangs willen Macht über die Gefühle der Menschen, sondern wird zum strategischen Potential, das zur anderweitigen Kontrolle des Affekts durch Sozialprestige eingesetzt wird“ (ebd., S. 502). <?page no="170"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 171 zwischen Chimène und Don Rodrigue herbeigeführt, 34 um Letzteren für sich unerreichbar zu machen. Als er siegreich aus dem Kampf gegen die Mauren hervorgeht und von den feindlichen Königen mit dem Titel des Cid geehrt wird, erscheint der Standesunterschied weniger groß, und die Liebe fällt in den Bereich des Möglichen. Ihre Strategie richtet sich nun darauf, Chimène von deren öffentlich bekundeten Racheplänen ebenso wie von einer Rückkehr zu dem ehemaligen Geliebten abzuhalten, und sie bedient sich dabei ihrer politischen Stellung als Tochter des Königs: L’Infante 1185 Ce qui fut juste alors ne l’est plus aujourd’hui. Rodrigue maintenant est notre unique appui, L’espérance et l’amour d’un peuple qui l’adore, Le soutien de Castille, et la terreur du More, Ses faits nous ont rendu ce qu’ils nous ont ôté, 1190 Et ton père en lui seul se voit ressuscité; Et si tu veux enfin qu’en deux mots je m’explique, Tu poursuis en sa mort la ruine publique. […] 1197 Ce n’est pas qu’après tout tu doives épouser Celui qu’un père mort t’obligeait d’accuser, Je te voudrais moi-même en arracher l’envie; 1200 Ôte-lui ton amour, mais laisse-nous sa vie. Dass die Rede der Infantin von einem verborgenen Interesse geleitet ist, zeigt sich in den heterogenen Argumentationsmustern, die sie verwendet: Am Beginn steht das machiavellistisch anmutende Argument, demzufolge sich Gerechtigkeit an der Staatsraison orientiert. Don Rodrigue ist dank seiner im Kampf mit den Mauren bewiesenen Tapferkeit unentbehrlich für den Staat geworden; ihn nun dem Einzelinteresse eines Adelsgeschlechtes, das durch Chimène repräsentiert wird, zu opfern, wäre demnach ungerecht. Innerhalb der politischen Argumentation greift die Königstochter sodann - in gewagter Form - auf das auf Repräsentation beruhende Generationenmodell des Schwertadels zurück, indem sie behauptet, Chimènes Vater Don Gomès sei in Don Rodrigue wiederauferstanden. Das tertium comparationis, das die Wiederauferstehungsmetaphorik rechtfertigt, liegt in der Tapferkeit beider Männer begründet, die sie ihrer irdischen Feindschaft zum Trotz auf höherer Ebene verbindet. Wenn Don Rodrigue lebender Vertreter des Grafen ist, folgt daraus - und dies ist das Fazit der Rede der Infantin -, dass Chimène sowohl 34 Die Infantin offenbart ihre Rolle als Liebesstifterin im Vokabular des amour courtois; die Liebe ist jedoch nicht das Ergebnis göttlichen Willens, sondern einer höfischen Intrige: je l’[Chimène; P.C.D.] ai presque forcée/ À recevoir les traits dont son âme est blessée./ Elle aime don Rodrigue, et le tient de ma main,/ Et par moi don Rodrigue a vaincu son dédain (V. 59-62). <?page no="171"?> P IA C LAUDIA D OERING 172 ihre Rachepläne als auch ihre Liebe aufgeben muss. Chimène lässt sich von der Rede der Infantin nicht überzeugen und beharrt nach außen auf der von der Standesethik auferlegten Pflicht, den Vater zu rächen. In der Rede beider Frauen findet der Rückgriff auf tradierte moralische und politische Konzepte jedoch nur rhetorisch statt, um ihr eigentliches Interesse an der Realisierung der Passio zu verschleiern. Die Rede der Infantin kündigt bereits an, worauf sich das in der jüngeren Generation allgemein geltende Prinzip der Dissimulatio stützen kann: Auch die Entscheidungen des Monarchen beruhen auf Nützlichkeitserwägungen, die unter der äußeren Aufrechterhaltung der tradierten Werteordnung verborgen werden. Nach der von Chimène eingeforderten Verurteilung Don Rodrigues verlangt der König Bedenkzeit und Beratung: L’affaire est d’importance, et, bien considérée,/ Mérite en plein conseil d’être délibérée (V. 743-744). Aus seiner Sicht spricht für die Verurteilung, dass Don Rodrigue mit dem Duell dem Ethos des Schwertadels gemäß Selbstjustiz geübt und dabei einen Mann getötet hat, der dem König als Feldherr diente. Dagegen jedoch lässt sich anführen, dass es sich bei dem Opfer um einen Aufständischen handelte, der gegen die Entscheidungen des Königs rebellierte und nicht bereit war, sich dessen Macht unterzuordnen. Die Entscheidung zwischen beiden Seiten fällt, als Don Rodrigue sich im Kampf gegen die Mauren als überaus nützlich für den Staat erweist und somit nicht nur, wie in dem von der Infantin vorgestellten Repräsentationsmodell, an die Stelle des Comte tritt, sondern in seiner Unterordnung unter die königliche Befehlsgewalt jenen in seinem Wert für den absoluten Monarchen noch übertrifft. Da der König aber den Schwertadel nicht gegen sich aufbringen will, kann er Chimènes Rachepläne nicht gänzlich ausschlagen, wenngleich sie zu einem importun devoir (V. 1341) werden. Er stimmt schließlich dem bereits erwähnten Turnier zu und ist ebenso wie Chimène von den ausgezeichneten Chancen auf einen Sieg Don Rodrigues überzeugt, die er zusätzlich fördert. 35 Der Tod des Comte bleibt am Ende ungesühnt, seine Tochter stimmt schließlich gar der Eheschließung mit seinem Mörder zu. Don Gomès wird noch post mortem aus einer auf Dissimulatio beruhenden Gesellschaftsordnung ausgeschlossen, da er nicht in der Lage war, seine eigenen Interessen und den in letzter Konsequenz gegen den absoluten Monarchen gerichteten Affekt zu verbergen. 35 Parallel zu Chimène, die Don Rodrigue durch ihr angedeutetes Liebesgeständnis zu Kampfgeist ermuntert, sorgt der König für glückliche Rahmenbedingungen: Er besteht darauf, dass der junge Kriegsheld genügend Zeit zum Ausruhen nach der Schlacht gegen die Mauren hat und nur gegen einen und zudem besonders schwachen Gegner antreten muss. <?page no="172"?> Aufstieg des Corneilleschen Helden 173 6. Fazit In den Dramen Corneilles entzünden sich Generationenkonflikte nicht an den Personen inhärenten Eigenschaften, sondern an gesellschaftlichen Faktoren. Dies wird insbesondere im Vergleich mit dem traditionellen dreisätzigen Komödienverlauf deutlich: Während hier der Generationenkonflikt nicht selten von Beginn an besteht, herrscht in den untersuchten Werken Corneilles zu Beginn Konsens zwischen der alten und der jungen Generation. Gestört wird die Harmonie durch gesellschaftspolitische Themen oder Wertekonflikte im sozialen Kontext. In allen drei Stücken sind die Väter die Verlierer. Sie scheitern an ihrer Inkompetenz, die neuen gesellschaftlichen Spielregeln zu durchschauen: Pridamant und Géronte können Schein und Sein, Lüge und Wahrheit nicht voneinander unterscheiden; Don Gomès ist in einer Gesellschaft, in der Affektkontrolle von existentieller Bedeutung ist, nicht in der Lage, ausgerechnet jenen Affekt zu beherrschen, der sich in letzter Konsequenz gegen den absoluten Monarchen wendet. Dissimulatio zeigt sich als das Prinzip, das den gesellschaftlichen Erfolg der jungen Protagonisten garantiert. Im Verhaltensideal des honnête homme treten dissimulatorische Strategien an die Stelle der Tugenden und verbinden sich mit mondänen Qualitäten. So ist die Dissimulation dort besonders erfolgreich, wo sie sich mit der Fähigkeit zur Kommunikation verbindet: Die Verlierer der jungen Generation, Adraste, Alcippe und Don Sanche, handeln in gewisser Weise ebenso kalkuliert wie ihre erfolgreichen Gegenspieler; im commerce du monde scheitern sie jedoch, weil es ihnen an kommunikativer Kompetenz fehlt. Eine Differenz zwischen den drei Werken lässt sich in der Bewertung der Dissimulatio feststellen. In chronologischer Betrachtung nach den Entstehungszeitpunkten ergibt sich das folgende Bild: In L’illusion comique von 1635 wird Dissimulatio bereits als gesellschaftlich wirksames Prinzip erkannt, bedarf aber - zumindest scheinbar - noch der Überführung in ein der Gesellschaft nützliches Handeln. Indem Clindor den Schauspielberuf ergreift, stellt er sein Talent zur Täuschung in den Dienst der Gemeinschaft. In den folgenden Stücken lässt sich eine solche Umwandlung der Dissimulatio in einen positiven Wert nicht mehr beobachten; stattdessen greift Corneille auf poetische Mittel zurück, um die gesellschaftskritische Erkenntnis, dass Täuschung an die Stelle von Tugend getreten ist, in ihrer Brisanz zu mildern: In Le Cid (1637) wird Dissimulatio als Phänomen der höfischen Gesellschaft gezeigt, das vom Monarchen sanktioniert ist und dessen Missachtung, wie im Falle des Comte, zum Tode führen kann. Das gesellschafts- und herrschafts- <?page no="173"?> P IA C LAUDIA D OERING 174 kritische Potential wird jedoch durch die Verlegung des Handlungsortes, der sich nicht in Paris, sondern im fernen Sevilla befindet, und die Berufung auf die Imitatio der von Guilhem de Castro verfassten spanischen Vorlage Las Mocedades del Cid gedämpft. In Le menteur (1643) ist der Schutzmechanismus eines fernen Schauplatzes aufgehoben, die Fähigkeit zur Dissimulatio ist Voraussetzung für den gesellschaftlichen Erfolg im mondänen Paris, das als Bühne gesellschaftlichen Schauspiels deutlich hervortritt. Die kritische Beleuchtung der Pariser Gesellschaft des 17. Jahrhunderts wird jedoch auch hier durch Rückgriff auf den überzeitlichen Typus des Lügners und eine erneute Imitatiobehauptung zurückgenommen. <?page no="174"?> 175 Corinna Flügge Adapting Arndt Die Rezeption von Johann Arndts Büchern vom wahren Christentum als Indiz für den religiösen Generationenwechsel im städtischen England der Restaurationszeit Die Restauration war eine wichtige und konstituierende Epoche in der Geschichte und nicht zuletzt in der Kirchengeschichte Englands. Nachdem Oliver Cromwells Sohn Richard das Commonwealth of England (1649- 1659), das das Resultat des englischen Bürgerkrieges (1642-1648) gewesen war, nicht hatte aufrecht erhalten können, wurde das englische Königtum durch die Krönung Karls II. im Jahr 1660 wieder eingeführt. Man bemühte sich, die gesellschaftliche Ordnung, die sich in Folge des Bürgerkrieges und der republikanischen Periode verändert hatte, wieder herzustellen. Ziel war jedoch nicht eine Neuordnung des englischen Staates. Vielmehr sollte der Zustand, der vor dem Krieg geherrscht hatte, restituiert werden, und zwar sowohl in Bezug auf die politische als auch auf die theologische Ordnung. So wurden neben der Monarchie die angestammte Organisation der Kirche und auch die Zensur wieder eingeführt. Diese Rekonstruktion der Situation vor dem Bürgerkrieg verfolgte ein bestimmtes Ziel: Both sides wanted to hush up the revolutionary decades, to pretend that they had been an „interregnum,“ that Charles II had succeeded his father on 30 January 1649, and that since no Parliamentary legislation between 1641 and 1660 was valid, those years never existed. 1 Trotz aller Bemühungen gelang eine Rückkehr zu den Zuständen von 1640 jedoch nicht. Grund hierfür war die Kluft zwischen der Kriegsgeneration und der nachfolgenden. 2 Die jüngere Generation, sowohl der Royalisten als auch der Parlamentarier, stand den Kompensationsmechanismen ihrer Väter kritisch gegenüber. Sie war durch die Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges geprägt worden und nahm die Gesellschaft und die politischen Bestre- 1 C HRISTOPHER H ILL : Revolution, Restoration, and Literature, in: W ILLIAM P. S HAW (Hg.): Praise Disjoined. Changing Patterns of Salvation in 17th-Century English Literature (Seventeenth-Century Texts and Studies, Bd. 2), New York u.a. 1991, S. 35. 2 Vgl. D ERS .: A Nation of Change and Novelty. Radical Politics, Religion and Literature in Seventeenth-Century England, London 1990, S. 223. <?page no="175"?> C ORINNA F LÜGGE 176 bungen des Königs und des Parlaments anders als ihre Vorfahren wahr. Augenfällig wird dieser neue Blickwinkel zum Beispiel in der Komödie der Restaurationszeit, die sowohl die bürgerlichen Puritaner als auch die adligen Royalisten lächerlich machte. 3 Neben dem sozialen Wandel fand aber auch ein religiöser statt. Es entstand eine neue religiöse Elite innerhalb der Church of England, die den Individualismus und Utilitarismus betonte und in diesem Rahmen puritanische Elemente und Ideen rezipierte. 4 Die calvinistische Satisfaktionslehre, die bis 1640 ein zentraler Punkt der Theologie der Church of England gewesen war, wurde nun in intellektuellen Kreisen durchaus diskutiert. Einige anglikanische Gruppen tendierten zu der These, dass der Mensch im Rechtfertigungsprozess mit Gott kooperieren müsse. 5 Diese synergistische Lehre steht im absoluten Gegensatz zur calvinistischen Lehre einer Rechtfertigung sola fide. Ein Indiz für die stillschweigende Übernahme puritanischer Ideen in die anglikanische Theologie stellt die Rezeption von Johann Arndts Büchern vom wahren Christentum dar. Johann Arndt (1555-1621) war einer der bedeutendsten Erbauungsschriftsteller seiner Zeit. Er nimmt eine Sonderstellung in der lutherischen Orthodoxie ein, weil er die theologischen Traditionen seines Umfeldes mit spiritualistischem und paracelsistischem Gedankengut vermischte. 6 Seine bekanntesten Werke sind die zunächst vier, später sechs Bücher vom wahren Christentum (im Folgenden BWC) und das Paradiesgärtlein. Die BWC bestehen in ihrer ursprünglichen Konzeption aus dem Liber scripturae, dem Liber vitae, dem Liber conscientiae und dem Liber naturae. Arndt teilte in ihnen die Gesamtheit seines theologischen Entwurfs mit, wobei er jedoch die Bücher trotz ihrer unterschiedlichen Themen durch den Hauptgedanken des wahren Christentums, das in einer dem Glauben entsprechenden Lebensform bestehe, verknüpfte. Das Paradiesgärtlein, der Form nach ein Gebetbuch, bildet den Praxisteil zu den BWC. Arndts Werke wurden sowohl im Luthertum als auch im Pietismus rezipiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Es existieren zwei englische Übersetzungen der BWC. Die erste wurde zu Beginn des Bürgerkrieges für einen puritanischen Leserkreis gedruckt. Die zweite entstand nach der Restauration und ist eine anglikanische Adaption 3 Vgl. D ERS .: Revolution, Restoration, and Literature (wie Anm. 1), S. 18-20. 4 Vgl. ebd., S. 35. 5 Vgl. z.B. ebd., S. 23; J OHN R. H. M OORMAN : A History of the Church in England, London 2 1967, S. 256f.; S USAN D ORAN / C HRISTOPHER D URSTON : Princes, Pastors, and People. The Church and Religion in England, 1500-1700, London u.a. 2 2003, S. 33. 6 Vgl. H ANS S CHNEIDER : Arndt, Johann, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Tübingen 4 1998, Sp. 788f. <?page no="176"?> Adapting Arndt 177 des Textes. 7 Im Folgenden sollen die Rezeptionsvorgänge der beiden Versionen verglichen und auf Indizien bezüglich eines religions- und frömmigkeitsbezogenen Generationenwechsels in der Restaurationszeit überprüft werden. Die Differenzierung zwischen der Vorkriegsgeneration der anglikanischen Christen und der Generation der Restaurationszeit lässt sich vor allem daran erkennen, welche Rolle dem Menschen im Rahmen der Rechtfertigungslehre zugewiesen wurde. Vertrat die anglikanische Kirche seit ihren Anfängen eine Lehre von der Rechtfertigung sola fide, also allein durch Glauben 8 und nicht durch erworbene Verdienste, so kann zur Zeit der Restauration ein zu dieser Position konträrer Ansatz bei einigen Vertretern der Church of England beobachtet werden. Die Rechtfertigung war nicht länger die imputatio einer iustitia aliena, sondern stand im Zusammenhang mit einer christlichen Lebensführung. 9 Damit entwickelten anglikanische Theologen eine Position, die in Bezug auf ethische Belange der puritanischen These nahe stand, welche sie selbst noch vor dem Bürgerkrieg kritisiert hatten. 10 Auch die Puritaner vertraten die Lehre einer Rechtfertigung sola fide. Sie legten jedoch, im Gegensatz zu den anglikanischen Theologen vor 1640, einen größeren Schwerpunkt auf die Resultate, die die Rechtfertigung im Leben des Gläubigen hervorrufen sollte. Dieser Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und christlichem Leben, der unter dem Begriff Heiligung behandelt wird, entsteht dadurch, dass im gerechtfertigten Menschen der Heilige Geist gute Werke evoziert. Der Mensch ist im puritanischen Ansatz innerhalb dieses Vorgangs jedoch nicht nur Empfangender, sondern er wirkt in synergistischer Weise mit, indem er gewissermaßen den Nährboden für die Arbeit des Heiligen Geistes bereitet. 11 7 Zunächst müssen hier die Begriffe „anglikanisch“ und „puritanisch“ definiert werden. Als anglikanisch können diejenigen Gläubigen bezeichnet werden, die der Staatskirche angehörten. Es handelt sich hier also nicht um eine dogmatische Differenzierung, denn die anglikanische Kirche versammelte verschiedene theologische Fraktionen, sondern das Adjektiv „anglikanisch“ beschreibt lediglich eine Gruppenzugehörigkeit. Die Puritaner hingegen grenzten sich theologisch, aber auch in ihrem Lebenswandel von anderen religiösen Gruppen ab. Puritanismus ist eine Spielart des Calvinismus. Vgl. G ORDON M URSELL : English Spirituality, London 2001, S. 356. 8 Vgl. ebd., S. 305f. 9 Vgl. A LISTER E. M C G RATH : Iustitia Dei. A History of the Christian Doctrine of Justification, Cambridge 2005, S. 297. 10 Vgl. hierzu z.B. die Darstellung der Puritaner im zeitgenössischen Theater. Siehe P ATRICK C OLLINSON : Puritanismus I, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin/ New York 1997, S. 19. 11 Vgl. M URSELL : English Spirituality (wie Anm. 7), S. 361. <?page no="177"?> C ORINNA F LÜGGE 178 1. Die Rezeption von Johann Arndts Werken im städtischen Kontext Englands Die Werke Johann Arndts lagen im England des 18. Jahrhunderts in einer breit rezipierten englischen Übersetzung vor. Sie waren im Rahmen der Kontakte des Hallenser Pietismus mit den sogenannten Anglican Voluntary Societies entstanden, die nach dem englischen Bürgerkrieg gegründet worden waren. Innerhalb der Pietismusforschung beschäftigen sich sowohl deutsche als auch englische Wissenschaftler mit diesem Phänomen. 12 Die erste englische Arndtübersetzung aus dem 17. Jahrhundert fand im Vergleich dazu weniger Beachtung. Das mag daran liegen, dass sie lediglich das erste Buch der BWC umfasste und ihr keine Übersetzung der letzten drei Bücher folgte. Vorlage für beide Übersetzungen war die lateinische Übersetzung der BWC, die Melchior Breler, der dem linken kirchenkritischen Flügel des Pietismus angehörte, zugeschrieben wird. 13 Ihr Druck wurde 1623 von der theologischen Fakultät der Universität Jena abgelehnt, weil die Textfassung eine solche Art im reden gebraucht / die nicht allzeit auf den gemeinen Strassen bleibet / sondern sich nach den Phrasibus Tauleri alter deutschen Theologiae Thomae de Kempis lencket vnd accomodiret / vnd demnach offtmals bevorab im dritten Buch zimlich hart vnnd seltzam lautet. 14 12 Vgl. D ANIEL L. B RUNNER : Halle Pietists in England. Anthony William Boehm and the Society for Promoting Christian Knowledge, Göttingen 1993; A RNO S AMES : Anton Wilhelm Böhme (1673-1722). Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines halleschen Pietisten (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 26), Göttingen 1989. 13 Vgl. J OHANN A RNDT / M ELCHIOR B RELER (Üb.): DE VERO CHRISTIANISMO IV. sive: De beatificâ & salutari resipiscentiâ, cordiali compunctione & planctu super peccato pariter justificante fide: quin & verorum Christianorum vitâ verè Christianâ. AVTHORE JOANNE ARNDIO Ducatus Lunaeburgici quondam Superintendente Generalissimo, Frankfurt a.M. 1658. 14 [M ELCHIOR B RELER : ] Warhafftiger / Glaubwürdiger vnd gründlicher Bericht von den vier Büchern vom Wahren Christenthumb Herrn Johannis Arndten / auß den gefundenen brieflichen Vrkunden zusammen getragen. Darauß Sonnenklar zu beweisen ist / dass gedachte Bücher vom Wahren Christenthumb mit der Papisten / Calvinisten / Schwenckfeldts / Weigelij / Enthusiasten / vnd dergleichen Schwärmern Jrrthumen / zur vngebür bezüchtiget vnd außgeruffen werden. Nebenst Herrn Johann Arndten kurtzen Bedencken vber V. Weigelij Dialogum de Christianismo. Entgegen gesatzt. Den hin vnd wieder außgesprengeten / gedachter Bücher / vnwarhafften Beschüldigungen / falschen Auflagen vnnd Verdacht / Jnsonderheit aber dem vntheologischen Bedencken D. Lucae Osiandri Professorn zu Tübingen. Vnd GOtt zu Ehren / zu Offenbarung der Warheit / zur Nachrichtung vieler tausend Christen an den tag gegeben [...], Lüneburg 1625 (HAB Wolfenbüttel G 412.8° Helmst., VD17 3: 604138Y), S. 103. Siehe hierzu auch J OHANN A NSELM S TEIGER : Johann Arndts „Wahres Christentum“, Lukas Osianders Kritik und Heinrich Varenius’ Arndt-Apologie, in: H ANS O TTE / H ANS S CHNEIDER (Hgg.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 40), Göttingen 2007, S. 263-291 besonders S. 289-291. <?page no="178"?> Adapting Arndt 179 Trotz dieser Universitätszensur wurde die Übersetzung 1626 gedruckt und fand bereits im selben Jahr in England Verbreitung. Sie wurde nicht nur im protestantischen Kontext geschätzt, sondern auch überkonfessionell, zum Beispiel von den spanischen Jesuiten, rezipiert. 15 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Johann Arndts Schriften in ihren englischen Fassungen schwerpunktmäßig im städtischen Bildungsbürgertum gelesen wurden und das nicht nur deshalb, weil sich im frühneuzeitlichen England bis zum Beginn des Bürgerkrieges fast der gesamte englische Buchdruck und Buchhandel in London abspielte. 16 Die Übersetzer oder Initiatoren der Schriften sind im städtischen Kontext verortet, wie unten aus der Beschreibung ihrer Viten deutlich wird. Abgesehen vom Druck und der Übersetzung der Werke ist jedoch auch der Kreis ihrer Leser in der gebildeten städtischen Mittelschicht anzusiedeln. Ian Green, der sich in „Print and Protestantism“ mit den verschiedenen Leserkreisen theologischer Druckerzeugnisse auseinandersetzt, benennt die Mittelschicht 17 als den größten Leserkreis der Frühen Neuzeit in England. Er unterscheidet zwischen der gebildeten und ungebildeten Mittelschicht, wobei zu ersterer das städtische Bildungsbürgertum gezählt wird. Eben jenes ist nach Greens Ausführungen die zahlenmäßig stärkste Lesergruppe für längere theologische Abhandlungen in englischer Sprache, wie die BWC sie darstellen. 18 Es kann also davon ausgegangen werden, dass diese Übersetzungen hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich für einen religiösen Generationenwechsel im städtischen Bildungsbürgertum aussagekräftig sind. 15 Vgl. M ARTIN B RECHT : Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: D ERS . (Hg.): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, S. 146-150. 16 London erwarb durch die Organisation der Drucker, Buchhändler und Buchbinder in der Stationers’ Company eine Monopolstellung in Produktion und Vertrieb englischer Druckerzeugnisse. Daneben sind im 16. und frühen 17. Jahrhundert lediglich noch die Drucker der beiden Universitäten Oxford und Cambridge im Bezug auf ihren Beitrag zum englischen Buchdruck erwähnenswert. Erst im 18. Jahrhundert wurden in anderen Städten Druckerpressen in Betrieb genommen. Zu einer detaillierten Abhandlung über die Stationers’ Company siehe C YPRIAN B LAGDEN : The Stationers’ Company. A History, 1403-1959, Stanford 1977. 17 Er versteht darunter alle diejenigen, die unabhängig von der landbesitzenden Elite ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienten. Vgl. I AN G REEN : Print and Protestantism in early modern England, Oxford 2000, S. 34. 18 Ebd., S. 34-39; S. 575-583. <?page no="179"?> C ORINNA F LÜGGE 180 2. Die erste englische Übersetzung der Bücher vom wahren Christentum und ihr puritanischer Leserkreis Der Übersetzer der ersten englischen Version der BWC, die im Jahr 1646 zum ersten und möglicherweise einzigen Mal gedruckt wurde, 19 nannte sich Radulphus Castrensis Antimachivalensis. Bisher ist es nicht gelungen, dieses Pseudonym aufzulösen. Die wenigen Informationen, die über den pseudonymen Übersetzer und seine theologische Position zu erhalten sind, stammen deshalb aus dem Vorwort seiner Ausgabe der BWC. Der Übersetzer war demnach kein Geistlicher, sondern ein Laie von niederem Adel. Radulphus scheint zur Zeit der Übersetzung schon in fortgeschrittenem Alter gewesen zu sein, denn er verweist auf seine bereits sechzig Jahre währende Bekanntschaft mit dem Widmungsempfänger 20 sowie auf seine aged, trembling and halfe-forgotten faculty 21 der lateinischen Sprache. Der theologische Standpunkt des Radulphus stellt sich vor allem im Vorwort To the Corteous Reader 22 dar. Dort bewertet er das Verhalten der Würdenträger der Church of England als Verrat an den Zielen der Reformation. Der Prunk und Reichtum der englischen Bischöfe beweise die Arroganz des Klerus und ihre heimliche Rückkehr zu römischen Praktiken. 23 Hier wird deutlich, dass Radulphus die durch Erzbischof William Laud bis zu seinem Tod 1644 durchgeführten Reformmaßnahmen der englischen Kirche ablehnte und in die Gruppe der Puritaner oder eine ihrer radikalen Splittergruppen einzuordnen ist. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe erklärt auch, warum das Buch unter einen Pseudonym veröffentlicht werden musste, denn Radul- 19 Dafür, dass tatsächlich nur eine einzige Auflage dieses Werkes existiert, sprechen auch die Angaben in Böhmes Ausgabe von Brelers lateinischer Übersetzung der BWC. Böhme listet dort in seinem Vorwort alle ihm bekannten Auflagen und Übersetzungen von Arndts Werk auf, um den Erfolg desselben zu belegen. Von der hier genannten englischen Übersetzung der BWC ist ihm jedoch nur die Fassung von 1648 bekannt. Vgl. J OHANN A RNDT / A NTON W ILHELM B ÖHME (Hg.): DE Vero Christianismo LIBRI QUATUOR: Ob praestantiam suam olim latine redditi; nunc autem revisi ac emendati, cura & studio Anotonii Wilhelmi Boemi. Accedit huic Editioni NOVA PRAEFATIO DE Vita & Scriptis Arndtianis. TOMUS I, London 1708, S. xxix. 20 Vgl. J OHANN A RNDT / R ADULPHUS C ASTRENSIS A NTIMACHIVALENSIS (Üb.): Mr. JOHN ARNDT (that famous German Divine) His Book of Scripture. DECLARING That every Child of GOD ought and must 1. Daily die to the old Adam, but to Christ live daily. 2. And be renewed to the Image of God day by day. 3. And in the New-birth live the life of the New Creature. Translated out of the Latine Copie, By Radulphus Castrensis Antimachivalensis, London 1646, fol. A 4v. 21 Vgl. ebd., fol. A 5r. 22 Vgl. ebd., fol. A 6r-a 3v. 23 Vgl. ebd., fol. A 1ra 1v. <?page no="180"?> Adapting Arndt 181 phus hatte durch seinen theologischen Standpunkt bereits sein politisches Amt verloren. 24 Obwohl die Herkunft des Übersetzers im Dunkeln bleibt, liegt es doch nahe, ihn als Angehörigen der städtischen Elite zu sehen. Dafür spricht sowohl seine Bildung als auch sein Amt als Friedensrichter. Zudem muss er Kontakte zum Londoner Buchhandel gehabt haben, andernfalls hätte Radulphus ein derartig kritisches Werk nicht drucken lassen können. Dass sich die BWC generell als Lektüre für puritanische Kreise anboten, ist leicht nachvollziehbar, da in der puritanischen Spiritualität, soweit man von einer solchen als einem einheitlichen Phänomen sprechen kann, ebenso wie in Arndts BWC das Ähnlichwerden des Gläubigen mit Christus betont wurde, 25 woraus sich ethische Konsequenzen für eine christliche Lebensführung ableiteten. 26 Will man Radulphus’ Motivation zur Übersetzung der BWC ergründen, so ist es hilfreich, seine Zusammenfassung von Arndts Werk zu betrachten, die sich grundlegend von der von Arndt selbst in seinem Vorwort verfassten unterscheidet. 27 Radulphus interpretiert Arndts Werk als eine Kampfschrift gegen die falschen Christen, seien es Altgläubige oder Protestanten, die in ihrem Zeremoniell den Pomp der römischen Kirche imitierten und unter dem Einfluss des Antichristen stünden: This is that wich the reverend man of God teaches, how to overcome the great Antichrist so much detested, and of few known, even our selves; and endeavoureth how to beat down his 24 Radulphus erwähnt, dass er Guardian of Peace, also Friedensrichter gewesen sei, dieses Amt aber nicht mehr ausübe. Vgl. ebd., fol. A 8r. 25 Vgl. M URSELL : English Spirituality (wie Anm. 7), S. 361. 26 Das Konzept von der Nachfolge oder imitatio Christi basiert auf den Neutestamentlichen Rufen zur Nachfolge z.B. Mt 1,16-20 parr.; Mt 2, 13f. parr. Hier fordert Christus den Gläubigen auf, ihm in Demut und Gehorsam nachzufolgen. In Bezug auf die christliche Ethik heißt Nachfolge, „sich im Glauben an Jesus Christus in ein Leben berufen zu lassen, das das Lebenszeugnis Jesu Christi weiterträgt, indem es seiner ethischen Verkündigung folgt, seinem Leben und Leiden gleichgestaltet ist und in der im Glauben erfahrenen Gemeinschaft mit ihm seine Form gewinnt.“ H ANS G. U LRICH : Nachfolge Christi III. Ethisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 4 2003, Sp. 9. 27 Es sei hier angemerkt, dass sich die Vorreden der einzelnen Fassungen der BWC, die zu Arndts Lebzeiten erschienen, stark unterscheiden. In der Vorrede der Erstausgabe von 1605 grenzt sich Arndt deutlich von der lutherischen Position zur Rechtfertigung ab, revidiert dieses jedoch in den folgenden Versionen der Präfatio, in denen z.B. durch seine Bezugnahme auf die lutherischen Bekenntnisschriften deutlich wird, dass er sich bemühte, seine Position mit den lutherischen Lehren stärker in Einklang zu bringen. Den folgenden Ausführungen liegt die Fassung des Vorworts der ersten Gesamtausgabe von 1610 zugrunde, da sie über den Umweg der lateinischen Übersetzung Brelers den Prätext von Radulphus’ Version bildet. <?page no="181"?> C ORINNA F LÜGGE 182 works and in the room thereof to plant the true vine and word of God, by the true knowledge of God, the chief and soveraign good. 28 Die Wortwahl in diesen Abschnitten ist stark polemisch. So bezeichnete Radulphus das wahre Christentum als durch die englische Staatskirche „mit Geifer und Schleim“ beschmutzt 29 und verglich die Bischöfe Schottlands und Englands, imitating and going about to renue unto us again the demeanore of the Roman Clergie, mit einem Schwarm Heuschrecken und einem Rudel Wölfe, die über das Land hergefallen seien, um die wahren Gläubigen zu vertilgen. 30 Radulphus klagte dabei nicht nur allgemein die Würdenträger der anglikanischen Kirche an, sondern wandte sich spezifisch gegen einzelne Personen, besonders den zu diesem Zeitpunkt bereits hingerichteten Erzbischof Laud: Who so doubteth of this, may have further satisfaction if he read the illaudible practise of our last Archbishop of Canterbury, together with his brother of York. 31 Kurz, Radulphus’ Vorwort lässt die BWC wie eine puritanische, antianglikanische Kampfschrift erscheinen. Vergleicht man dieses Resümee des ersten Buches der BWC mit Arndts eigener Zusammenfassung, die er im Vorwort zum ersten Buch formuliert, so fällt auf, dass Arndt andere Schwerpunkte setzte als Radulphus. Auch er führte den Unterschied zwischen wahrem und falschem Christentum aus, jedoch bezog sich seine Beschreibung mehr auf das Individuum und dessen Selbsterkenntnis als auf die Kritik an bestimmten Gruppen und deren Religionsausübung. Die BWC sollten zeigen, dass das Christsein immer in der imitatio Christi resultieren müsse, die sich durch lebendigen tätigen Glauben, Demut und eine abnegatio sui et mundi manifestiere. 32 Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, stellte Arndt sein gesamtes theologisches System dar, einschließlich seiner Schöpfungs- und Satisfaktionslehre. Sein Werk kann deshalb nicht allein als kirchenkritische Schrift bewertet werden. Die oben ausgeführte theologische Positionierung und Schwerpunktsetzung des Radulphus spiegelt sich nicht nur in Vorwort und Widmung wider, sondern bedingt auch das Ergebnis seiner Übersetzung. Auffällig ist, dass lediglich das erste der vier Bücher übersetzt wurde. Es scheint, dass Radulphus kein Interesse an Arndts theologischem Gesamtentwurf hatte, sondern das erste Buch als Medium zur Kommunikation kirchenkritischer 28 A RNDT / R ADULPHUS C ASTRENSIS A NTIMACHIVALENSIS (Üb.): Book of Scripture (wie Anm. 20), fol. A 2v. 29 Ebd., fol. A 2v. 30 Ebd., fol. A 1v. 31 Ebd., fol. A 1r. 32 Vgl. J OHANN A RNDT / J OHANN A NSELM S TEIGER (Hg.): Vier Bücher Vom wahren Christentumb / Die erste Gesamtausgabe (1610) Buch 1 (Philipp Jakob Speners Schriften Sonderreihe V.1), Hildesheim u.a. 2007, fol. B 2v- B 3v. <?page no="182"?> Adapting Arndt 183 Inhalte nutzen wollte. Er machte sich hierbei Arndts Schwerpunktsetzung auf die Kohärenz von Leben und Glauben dienstbar. Zudem ließ Radulphus das Arndtsche Vorwort des Buchs aus, weil es seinen Intentionen widersprach, da Arndt sich in diesem Textteil nicht polemisch äußerte oder sich gegen die lutherischen Lehren abgrenzte, sondern bestrebt war, die Übereinstimmung seines Werks mit den lutherischen Bekenntnisschriften zu betonen und alle synergistischen Tendenzen, die die Urfassung des ersten Buches der BWC enthielt, zu widerrufen. 33 Eine solche Versöhnung mit der institutionalisierten Kirche konnte Radulphus im Rahmen seiner kirchenkritischen Intention natürlich keineswegs an den Beginn seiner Übersetzung stellen. Auch sein Umgang mit den im Text enthaltenen Bibelstellen macht Radulphus’ Ablehnung der Staatskirche offensichtlich. Breler hatte in seiner lateinischen Übersetzung die von Arndt zitierten deutschen Bibelverse durch die entsprechenden Verse aus der Vulgata ersetzt. Anstatt diese in der englischen Fassung wiederum gegen die entsprechenden Passagen aus der 1604- 1611 entstandenen, autorisierten Bibelübersetzung „King James Version“ auszutauschen, übersetzte Radulphus lediglich die lateinischen Verse ins Englische. Der Sinn von Arndts Werk wurde im Rahmen des Übersetzungsprozesses kaum verändert. 34 Es liegt vielmehr im Vergleich zur zweiten englischen Fassung, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, eine relativ genaue Übersetzung vor. Interessanterweise sind auch in den Kapiteln, die sich mit dem wahren Gottesdienst und der christlichen Lebensführung befassen, 35 keine signifikanten Eingriffe in den Text Arndts zu beobachten. Radulphus verschärfte also auch in Themenkreisen, auf die er besonderen Wert legte, seine Fassung gegenüber dem Prätext nicht, obwohl das polemische Vorwort dies hatte vermuten lassen. Anhand des Preface können auch Aussagen über den intendierten Leserkreis des Buches gemacht werden. Darin wird nahe gelegt, dass keine überkonfessionelle oder gar allgemeine Leserschaft in dieser Übersetzung angesprochen werden sollte. Vielmehr findet hier eine starke Abgrenzung gegenüber denjenigen Gläubigen statt, die nicht zur angesprochenen Lesergruppe gehörten. Die geringe Anzahl der auffindbaren Drucke belegt weiterhin, dass mit dem Werk kein allgemeiner Leserkreis erreicht wurde. 33 Vgl. ebd., fol. B 3r- B 3v. 34 Über dieses Werk können aufgrund der großen Textmenge nur allgemeine Aussagen gemacht werden, die an ausgewählten Textstellen belegt werden, da eine vollständiger Vergleich aus Zeitgründen nicht durchgeführt werden konnte. 35 Vgl. hier die Kapitel 11 und 21 von Radulphus Übersetzung: A RNDT / R ADULPHUS C ASTRENSIS A NTIMACHIVALENSIS (Üb.): Book of Scripture (wie Anm. 20), S. 78-91, S. 178- 192. <?page no="183"?> C ORINNA F LÜGGE 184 Überdies enthält Radulphus’ Vorrede Hinweise, mit deren Hilfe man auf den Bildungsstand der Rezipientengruppe schließen kann. Radulphus setzt sich hier mit einer Gestalt aus der englischen Geschichte gleich und rekurriert auch weiterhin in seinen Schilderungen der Situation der Church of England zu seinen Lebzeiten auf das kirchen- und allgemeinhistorische Wissen seiner Leser. Somit wendet er sich an ein gebildetes Publikum. An der Textgestaltung innerhalb des Druckes lässt sich zudem erkennen, dass auch der Verleger bestrebt war, diese Ausgabe der BWC für einen gebildeten Leserkreis ansprechend zu gestalten. Dafür nutzte er Marginalien, um dem Textkorpus ein regelrechtes Verweissystem an die Seite zu stellen, zum Beispiel die Lebensdaten der Personen, die Radulphus in seinem Vorwort erwähnte, und Erklärungen zu Radulphus’ Argumenten. Die erste englische Fassung der BWC wurde bei Matthew Simmons gedruckt, was nahe legt, dass es sich beim Leserkreis um die Independents oder Congregationalists genannte Teilgruppe der Puritaner handelte, denn Simmons druckte hauptsächlich für diese Gruppierung. 36 Die Gruppe scheint sich aufgrund ihrer religiösen Ansichten als bedroht wahrgenommen zu haben, denn sowohl der Übersetzer als auch der Herausgeber geben ihre Namen nicht an, sondern benutzen Pseudonyme. 37 Ein weiterer Beleg dafür, dass zumindest Radulphus seine Leser als Verfolgte sieht, findet sich in seinem Vorwort. Dort formuliert er: The name of this book is instead an Ivybush to all good Christians, and better wine then is within it, cannot be had, even that wine for which wee contend with so much losse of British bloud, and we the laymen do stand up for with hazard of our lives and fortunes. 38 Er beschreibt Arndts Werk als den Weinkeller, 39 in dem der wahre Wein, nämlich Christus, ausgeschenkt wird, der teuer mit dem Blut der als Leser angesprochenen Gruppe erkauft ist. Hier wird also deutlich, dass Radulphus sich und seine Mitstreiter als Kämpfer für den rechten Glauben versteht, die ihr Leben für ihre Religion einsetzen. Zusammenfassend kann demnach festgestellt werden, dass das 36 Vgl. BBA I 1002,155 37 Der Herausgeber nennt sich Simon Castrensis Machivelenum. Vgl. A RNDT / R ADULPHUS C ASTRENSIS A NTIMACHIVALENSIS (Üb.): Book of Scripture (wie Anm. 20), fol. A 4v. Nicht nur der Drucker, sondern auch der Herausgeber Humphrey Blunden ist für seine Involvierung in puritanische Schriften bekannt. Er ließ auch vielfach politische Pamphlete drucken. Vgl. BBA I 120,266. 38 A RNDT / R ADULPHUS C ASTRENSIS A NTIMACHIVALENSIS (Üb.): Book of Scripture (wie Anm. 20), fol. A 4r. 39 Der Efeuzweig steht im Englischen der frühen Neuzeit für die Weinschenke, weil er benutzt wurde, um eine solche auszuweisen. Vgl. hier J OHN A NDREW S IMPSON , Oxford English Dictionary, Bd. 8, Oxford 1989, S. 154. <?page no="184"?> Adapting Arndt 185 Werk für eine abgeschlossene, gebildete puritanische Leserschaft gedruckt wurde. Eine solche Gruppe ist am ehesten im städtischen Kontext anzusiedeln. 3. Die englischen Übersetzungen von Arndts Werken im frühen 18. Jahrhundert als Projekt Anton Wilhelm Böhmes im Rahmen der Anglican Voluntary Societies Die Rezeption der zweiten englischen Übersetzung wurde von dem deutschen Pietisten Anton Wilhelm Böhme initiiert. Er wurde 1673 als Sohn eines Pastors in Östorff bei Pyrmont geboren. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1679 lebte er in einem Pastorenhaushalt in Lemgo und besuchte dort das Gymnasium, danach die Stadtschule in Hameln. 1693 wurde er an der Universität Halle immatrikuliert, wo er Theologie studierte und mit August Hermann Francke und dem Hallenser Pietismus in Kontakt kam. 1697 wurde er Hauslehrer beim Grafen Waldeck. Sein Dienstherr entließ ihn jedoch bald aus dieser Stellung, da er sich kritisch über den Lebenswandel der dort ansässigen Geistlichen äußerte. Böhme kehrte nach Halle zurück und war ab 1700 in den Franckeschen Anstalten als Inspektor tätig. 1701 erhielt Böhme nach Franckes Fürsprache eine Stelle als Hauslehrer für die Kinder der deutschen Familien in London. Auf seiner Reise dorthin lernte er in Rotterdam Heinrich Wilhelm Ludolf, den ehemaligen Sekretär des lutherischen Prinzen Georg von Dänemark, Prinzgemahl der englischen Königin, kennen. Böhme erlernte die englische Sprache mit Hilfe zweier deutscher Studenten und eröffnete 1702 die deutsche Schule in London. Durch die Kontakte Ludolfs wurde Böhme in die wohlhabende Gesellschaft Londons eingeführt und lernte 1705 den Prinzgemahl Georg von Dänemark kennen. Böhme wurde sein Hofprediger und behielt diese Stelle auch nach dessen Tode 1708. Unter Georg I. wurde er als Hofprediger an der königlichen deutschen Hofkapelle zu St. James bestätigt. Böhme blieb auch unter Georg I. bei Hofe einflussreich. Er starb am 27. Mai 1722. Das literarische Lebenswerk Anton Wilhelm Böhmes schließt neben zahlreichen Erbauungsschriften in deutscher und englischer Sprache eine Abhandlung über die Kirchengeschichte Englands ein. Er war außerdem Herausgeber und möglicherweise auch Übersetzer zahlreicher Schriften August Hermann Franckes. 40 40 Für weitere Details zu Böhmes Biographie sowie einen Abriss der Forschungsgeschichte siehe S AMES : Anton Wilhelm Böhme (1673-1722) (wie Anm. 12). <?page no="185"?> C ORINNA F LÜGGE 186 Böhmes Aufenthalt in England und seine Herausgabe von Übersetzungen deutscher pietistischer Schriften ist begründet durch die Verbindung zwischen dem Hallenser Pietismus und der Society for Promoting Christian Knowledge (im Folgenden SPCK). Die Anglican Voluntary Societies und als eine ihrer wichtigsten Vertreterinnen die SPCK entstanden am Ende des 17. Jahrhunderts als Gruppierungen, die sich um eine Abgrenzung von Katholiken und Puritanern bemühten, um die englische Staatskirche in Gemeinschaft und Einheit des Gottesdienstes zu stärken und zu verbinden und damit die Reformation der Church of England fortzuführen. Ihr Ziel war es, eine religiöse und moralische Reform in Gang zu setzen, zu deren Hauptaspekten Gehorsam, Moral, rechter (anglikanischer) Gottesdienst und der rechte Gebrauch der Sakramente zählten. Diese Reform sollte einen Gegenpol zu den mystischen und spirituellen Strömungen der Nonkonformisten und zur Lehre der Rechtfertigung sola fide bilden. 41 Die Verbindung zwischen Halle und England war bereits kurz nach der Gründung der SPCK geschlossen worden und zwar durch den oben erwähnten Heinrich Wilhelm Ludolf. Er verfolgte den Traum einer „panconfessional, inward Christianity“, 42 die er bei Francke in Halle gefunden zu haben glaubte und in seinem Einflussbereich zu vermitteln suchte. Aus diesem Grund stellte Ludolf 1699 den Kontakt zwischen der SPCK und Francke her. Francke und Ludolf wurden korrespondierende Mitglieder der Gesellschaft. 43 Als Francke Böhme nach England schickte, wollte er damit seinen Einfluss in der SPCK stärken. Böhme war also Botschafter des Hallenser Pietismus. 44 Inwieweit er jedoch den deutschen Pietismus in England vermitteln konnte, ist unklar. Sicher ist, dass er mit der Herausgabe der Übersetzungen der Schriften Arndts und Franckes einen Versuch dazu unternahm. Aus diesem Grund hatte Böhme großes Interesse daran, Arndts BWC und das Paradiesgärtlein in englischen Übersetzungen drucken zu lassen. Gerade im Rahmen einer Strömung, die die Rechtfertigung sola fide ablehnte oder kritisch betrachtete, boten sich die BWC als Lektüre an, weil in Arndts Schrift die Rechtfertigung allein aus dem Glauben zugunsten der Heiligung und des tätigen Glaubens in den Hintergrund gerät. Da die BWC in England jedoch wenig bekannt waren, obgleich die Übersetzung des Radulphus Cas- 41 Vgl. B RUNNER : Halle Pietists in England (wie Anm. 12), S. 15-24. Eine detailliertere Schilderung über die SPCK findet sich in: W.O. B. A LLEN / E. M C C LURE : Two Hundred Years. The History of the Society for Promoting Christian Knowledge, 1698-1898, London 1898; W. K. L. C LARKE : A History of the Society for Promoting Christian Knowledge, London 1959. 42 B RUNNER : Halle Pietists in England (wie Anm. 12), S. 43. 43 Vgl. ebd., S. 45. 44 Vgl. S AMES : Anton Wilhelm Böhme (wie Anm. 12), S. 109. <?page no="186"?> Adapting Arndt 187 trensis Machivalensis bereits erschienen war, gab Böhme zunächst 1708 eine Neufassung der lateinischen Übersetzung Brelers heraus, die in England gedruckt wurde, damit sie in den gelehrten Kreisen gelesen werden sollte und jemand eine englische Fassung verlangen würde. 45 Als dieser Fall eintrat, ließ Böhme zunächst nur einige wenige Kapitel aus dem ersten Buch der BWC ins Englische übersetzen, um die Reaktionen darauf zu prüfen. 1712 wurde der erste Band 46 vollständig übersetzt und gedruckt. Böhme sorgte auch für die Distribution des Werks sowohl in den englischen Kolonien in Amerika und Indien als auch in Großbritannien selbst. So wurden lateinische Ausgaben der BWC innerhalb der Bildungsprogramme der SPCK nach Wales geschickt. 47 Nicht nur Böhme, auch andere Mitglieder der SPCK beförderten die Verbreitung der BWC. Heinrich Wilhelm Ludolf ließ zum Beispiel bei seiner Beerdigung an alle Gäste den ersten Teil des Werkes verteilen. 48 1714 wurde der zweite Band der BWC in englischer Sprache gedruckt. Die Übersetzung des Paradiesgärtleins im Jahr 1716 vervollständigte dann die von Böhme intendierte Ausgabe der Werke Johann Arndts. 49 Die Entstehung und primäre Rezeption der Werke Arndts in englischer Sprache vollzog sich im 18. Jahrhundert - wie auch schon im 17. Jahrhundert - im städtischen Kontext. Böhme, der der zweiten englischen Fassung der BWC eine ausführliche Vorrede voranstellte und die Leser damit zu einer spezifischen Interpretation dieses Werkes anleitete, bewegte sich ebenso wie Ludolf in der gehobenen Londoner Gesellschaft. Auch die Mitglieder der SPCK waren zunächst Teil der gebildeten Stadtbevölkerung. Sie finanzierten und erwarben die im Auftrag der SPCK gedruckten Werke, die erst in einem weiteren Schritt mittels Bibliotheken auch an die Landbevölkerung verteilt wurden. Aus diesem Grund lassen Böhmes Vorwort und die Konzeption der Übersetzung auf einen religiösen Wechsel der Generationen in der gebildeten Londoner Bevölkerung schließen. 45 Vgl. A NTON W ILHELM B ÖHME : Anton Wilhelm Böhmens ... Sämtliche Erbauliche Schriften: Anfänglich eintzeln, nunmehr aber zusammen, Theils in Teutscher, theils in Englischer Sprache; aus welcher sie mit Fleiss in Teutsche übersetzet worden ans Licht gestellet / und mit einer Vorrede von dem Leben des Verfassers begleitet von Johann Jacob Rambach Dritter und letzter Theil, welche ... noch nie im Druck gesehen worden / Jetzo gesammelt u. mit e. Vorr. begleitet Von einem Nieder-Sächsischen Theologo, Altona 1733, S. 498. 46 Die Unterteilung des Textes stimmt nicht mit Arndts Aufteilung in vier Bücher überein. Vielmehr lässt Böhme den ersten Band in der Mitte des zweiten Buches enden, der zweite Band enthält den Rest des Textes. 47 Vgl. B RUNNER : Halle Pietists in England (wie Anm. 12), S. 143. 48 Vgl. B ÖHME : Sämtliche Erbauliche Schriften Teil 3 (wie Anm. 45), S. 504. 49 Vgl. ebd., S. 505. <?page no="187"?> C ORINNA F LÜGGE 188 Bei der genauen Analyse des Rezeptionsvorgangs der von Böhme herausgegebenen englischen Übersetzung der BWC stellt sich nun die Frage nach ihrer Vorlage. Da diese englische Textfassung jedoch eine freie Paraphrase und keine wortgetreue Übersetzung von Arndts Werk ist, fällt es schwer, eine genaue Aussage zu ihrem Prätext zu machen. Immerhin finden sich einige Hinweise, die auf Brelers lateinische Version hindeuten. 50 Somit basieren beide englischen Ausgaben der BWC auf derselben Vorlage. Aus diesem Grund liegt das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Textversionen in den Vorreden, in denen sich Böhme und Radulphus an ihre Leser wendeten. Böhmes Vorwort enthält eine kurze Zusammenfassung von Arndts Thesen, hergeleitet aus Böhmes Interpretation der nachreformatorischen Kirchengeschichte. Er betont, dass der aktive, tätige Glaube ein zentrales Element des Protestantismus bilde. Luther habe selbige These zu Beginn der Reformation vertreten, sei aber später von dieser Kernlehre abgewichen. 51 Um die Reformation konsequent zu vollenden, sei es deshalb nötig, zu einem tätigen Glauben zurückzukehren, der in guten Werken sichtbar werden müsse. Mit diesen Ausführungen wandte sich Böhme an diejenigen englischen Protestanten, die bestrebt waren, die englische Reformation wieder aufzunehmen, da sie diese noch nicht für vollendet hielten. Es fehlte aus ihrer Sicht eine Sichtbarwerdung der Reformation im Leben der Menschen. Auch Böhme grenzt sich, genau wie Radulphus, in seinem Vorwort polemisch gegenüber den falschen Christen ab. Diese gehörten aber nicht zwangsläufig einer bestimmten Konfession an, vielmehr disqualifiziere sie ihr falscher Glaube, 52 der sich in ihrer EXTERNAL FORMALITY 53 manifes- 50 Siehe z.B. J OHANN A RNDT / A NTON W ILHELM B ÖHME (Hg.): OF True Christianity FOUR BOOKS. Wherin is contained the WHOLE OECONOMY OF GOD towards MAN; And the WHOLE DUTY OF MAN towards GOD: Written Originally in the HIGH-DUTCH, By the Most Reverend JOHN ARNDT [...] Now Done into English. PART I. London 1712, S. 58 im siebten Kapitel der englischen Übersetzung, wo der Text lautet: Hence the same most just God suffers them to follow Satan, by their taking the Life of the Devil upon them, full of all abominable Wickedness, that they might live after his Example and with him execute all the Works of Darkness; because they have resolved in their Minds, not to walk in the Light. Böhmes Fassung bietet am Ende dieser Passage die Formulierung: Ratio est, quia in luce ambulare nolunt, in tenebrase prolabuntur eo graviores (siehe A RNDT / B ÖHME (Hg.): DE Vero Christianismo (wie Anm. 19), S. 40) wohingegen Breler schreibt: hinc idem justissimus Deus permittit, ut Satanam sequantur, assumentes vitam diabolicam, plenam & abominabilem omni genere nequitiae, mendacii & immisericordiae, ad perpetrandum opera tenebrarum, quia semel in animum induxerunt nolle in luce ambulare, siehe A RNDT / B RELER (Üb.): DE VERO CHRISTIANISMO IV. (wie Anm. 13), S. 40. 51 Vgl. A RNDT / B ÖHME (Hg.): OF True Christianity FOUR BOOKS (wie Anm. 50), S. XXX. 52 Vgl. ebd., S. xxii, wo Böhme den falschen Glauben folgendermaßen beschreibt: Faith, as it is now in Vogue, signifieth no more than a firm adhering to a certain Sect and Denomination of People, and a violent maintaining of such particular Tenets as have been received and approved <?page no="188"?> Adapting Arndt 189 tiere. Auch die wahre Kirche und damit der Leserkreis, den Böhme anspricht, ist dementsprechend scattered through all such Parties, Sects and Confessions, as have preserved JESUS CHRIST as the Author of Life, and the vital Principle of Religion. 54 Dass sich Böhme nicht an eine bestimmte Konfession wandte, wird auch dadurch deutlich, dass bei der Übersetzung von Arndts Vorwort die Verweise auf die lutherischen Bekenntnisschriften ausgelassen wurden. 55 So vermied es Böhme, sich auf Schriften zu berufen, die für andere Konfessionen als Grundlage der Rechtgläubigkeit nicht in Frage kamen. Der zweite Übersetzer veränderte seine Fassung im Vergleich zum Prätext stärker als Radulphus, weil er seine Version an ausgewählten Stellen um große Passagen erweiterte, die die Ideen seiner Vorlage nicht lediglich explizierten, sondern verschärften. Solche Einfügungen sind jedoch nicht in allen Kapiteln enthalten, sondern nur in Abschnitten, die sich mit der sanctificatio, dem tätigen Glauben und der abnegatio sui et mundi beschäftigen. Diese Vorgehensweise lässt darauf schließen, dass der Übersetzer ein besonderes Interesse an den praktischen Konsequenzen des Glaubens im Leben eines Christen hatte. In der zweiten Edition des ersten Bandes erschienen diese Kapitel in einer anderen Fassung. Böhme hatte diesen Band später korrigiert, um ein dem Prätext stärker entsprechendes Textkorpus zu gewährleisten. Vergleicht man nun beide Fassungen, fällt jedoch auf, dass im Rahmen dieser Korrektur die Hinzufügungen des Übersetzers nicht vollständig, sondern nur in Teilen entfernt wurden. Es scheint, dass Böhme nur dann Textpassagen tilgte, wenn diese ihn stilistisch störten. Die inhaltliche Verschärfung des Werkes behält er bei. of by that Party. All the Ingredients of such a Faith, are nothing but humane Education, Custom, Tradition, Persuasion, Conversation. 53 Ebd., S. xviii. 54 Ebd., S. xxxviii. 55 Vgl. ebd., S. liv; A RNDT / S TEIGER (Hg.): Vier Bücher Vom wahren Christenthumb (wie Anm. 32), fol. B 3r fol. B 3v sowie A RNDT / B RELER (Üb.): De Vero Christianismo IV (wie Anm. 13), fol. * 6v. <?page no="189"?> C ORINNA F LÜGGE 190 4. Thesen Abschließend sei der Argumentationsgang noch einmal in der Form von Thesen zusammengefasst. In der Restaurationszeit am Ende des 17. Jahrhunderts wurden die theologischen und organisatorischen Verhältnisse der englischen Kirche, die vor Cromwells Umstrukturierung bestanden hatten, wiederhergestellt. Trotzdem lässt sich beobachten, dass sich die Lehren der anglikanischen Kirche vor dem Bürgerkrieg und in der Restaurationszeit in dogmatischen Kernpunkten unterscheiden. So hatten anglikanische Christen nach dem Bürgerkrieg stillschweigend puritanische Ideen in ihr Frömmigkeitsleben übernommen. Diese Ansichten widersprachen denen der Church of England vor der republikanischen Periode. Die Rezeption puritanischer Elemente durch anglikanische Christen wird besonders am Beispiel der Rechtfertigungslehre deutlich. Die vor dem Bürgerkrieg von der Church of England vertretene Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben wurde zunehmend durch eine Lehre ersetzt, die die Notwendigkeit eines aktiven Glaubens unterstrich, der sich in Taten manifestieren müsse. Zusätzlich wurden in der Restaurationszeit anglikanische Reform- und Restaurationsbewegungen gegründet, die sog. Anglican Voluntary Societies, deren Mitglieder die Stellung der anglikanischen Kirche in England gegenüber anderen religiösen Gruppen stärken wollten. Zu diesem Zweck griffen sie jedoch nicht auf traditionell anglikanische Lehren zurück, sondern betonten stattdessen utilitaristische Aspekte, die auf puritanische Einflüsse zurückgeführt werden können. Diese Veränderungen in der anglikanischen Position können als Indizien für einen durch den Bürgerkrieg evozierten Wechsel der Generationen in der Restaurationszeit gewertet werden, wie er auch im sozialen Bereich zu beobachten ist. Die Rezeption der Bücher vom wahren Christentum Johann Arndts in puritanischen und anglikanischen Kreisen illustriert, wie unterschiedlich die Kriegs- und Nachkriegsgeneration dieselbe Schrift interpretierten, auf welche Weise sich also die anglikanischen Christen der Restaurationszeit von ihrer Vätergeneration abgrenzten. Es fanden zwei Übersetzungen der BWC ins Englische statt. Die erste wurde für einen puritanischen Leserkreis zur Zeit des Bürgerkrieges, die zweite zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Anglican Voluntary Societies für anglikanische Leser angefertigt. Aus dem Vorwort des puritanischen Übersetzers der ersten englischen Fassung der BWC geht hervor, dass der Text als antianglikanische Kampfschrift intendiert war. Der Verfasser greift die Vertreter der Church of Eng- <?page no="190"?> Adapting Arndt 191 land als Verräter an der christlichen Sache an, da ihr Glaube in ihrer Lebensweise nicht sichtbar werde. In der anglikanischen Adaption der BWC verstärkte der Übersetzer die schon von Arndt betonte Bedeutung guter Werke im Erlösungsprozess und vertiefte Arndts Ausführungen zur imitatio Christi. Er hob hervor, dass er die Kohärenz von Leben und Glauben für unverzichtbar hielt, und vertrat somit eine These, die der des Übersetzers der puritanischen Fassung ähnelte. Die thematischen Übereinstimmungen zwischen der zur Zeit des Bürgerkrieges publizierten puritanischen Fassung der BWC und der späteren anglikanischen Version deuten darauf hin, dass die Leser dieses Werkes sich in ihrem Verständnis der Rechtfertigungslehre der puritanischen Position annäherten und damit gleichzeitig von den vorangehenden Generationen anglikanischer Christen abgrenzten. Die Initiatoren und Rezipienten der anglikanischen Fassung der BWC stammten primär aus der gebildeten Londoner Gesellschaft. Deshalb ist zu vermuten, dass der Wechsel der Generationen im religiösen und frömmigkeitlichen Bereich von dort ausging. <?page no="192"?> 193 Gesa Ingendahl Witwenhaushalte in der frühneuzeitlichen Stadt: (k)ein Generationenprojekt 1 1. Witwen im Generationendiskurs Stadtbürgerliche Witwen der Frühen Neuzeit im Kontext von Generationenbeziehungen zu betrachten, eröffnet einen faszinierenden Blick auf kulturelle und soziale Zwischen-Räume im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Ordnungskategorien ‚Witwenstand‘ und ‚Generation‘. Es lädt dazu ein, frühneuzeitliche Witwen im intergenerationellen Beziehungsgeflecht zu präsentieren und dessen Deutungskonzept in vormodernen Gesellschaftsformationen zu diskutieren. 2 ‚Generation‘ wird hier im Hinblick auf die diachrone Dimension des Begriffs gebraucht, in welcher der Horizont durch Abstammung und Herkunft, Tradition und Erbe gesteckt ist. ‚Generation‘ führt hinein in das familial-genealogische Deutungsmuster, das sozial im Eltern-Kind-Verhältnis mit Erben und Vererben sowie kulturell in der Selbst- und Fremdverortung, in der Identifikation mit der Herkunft und in der Wertschätzung von familialer Kontinuität verankert ist. 3 Diese „Genealogie als Denkform“ 4 ist aus Mittelalter und Früher Neuzeit bekannt im definierten Kontext adeliger und biblisch-mythischer Herkunftserzählungen und Identitätsstiftung. Auch die Besitzweitergabe, dingliches Substrat von Kontinuität, wurde in den kodifizierten Erbrechten der Territorien des Alten Reichs zuerst in genealogischen Abstammungslinien geregelt, während Seitenverwandte und Ehegatten erst an zweiter Stelle berücksichtigt wurden. 5 1 Der vorliegende Aufsatz wurde im Jahr 2009 in englischer Sprache veröffentlicht. G ESA I N - GENDAHL : Widows as Successors in Workshop, Office, and House: A Study of Early Modern Ravensburg, in: F INN -E INAR E LIASSEN / K ATALIN S ZENDE (Hgg.): Generations in Towns: Succession and success in pre-industrial urban societies, Newcastle-upon-Tyne 2009, S. 76-99. 2 Zu den wechselnden Deutungskonzepten von Generation in Wissenschaft und Alltagsgebrauch umfassend O HAD P ARNES / U LRIKE V EDDER / S TEFAN W ILLER : Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. 3 U LRIKE J UREIT : Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 30f. 4 So der Titel eines Buches, K ILIAN H ECK et al. (Hgg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 2000. 5 Chronologisch wie in der Anordnung der Gesetzesartikel bilden die kodifizierten Erbrechte diese Priorität ab; unter einem solchen, eher kulturgeschichtlich fokussierten Blick fand neuerdings auch die wissenschaftliche Erforschung von Erbrechten Anschluss an die Diskussionen um <?page no="193"?> G ESA I NGENDAHL 194 Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, in welcher Art und Weise diese Denkform das Zusammenleben und die Besitz-Übergabe in stadtbürgerlichen Witwenhaushalten bestimmte. Begriffsgeschichtlich vollzog sich, folgt man der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, um 1800 ein tiefgreifender Wandel der Bedeutungsebenen von ‚Generation‘. 6 Nicht nur trat neben der Bedeutung im intergenerationellen Nacheinander nun dominant die intragenerationelle Zeitgenossenschaft in den Vordergrund. Auch intergenerationell wandelten sich seine Zuordnungen und verknüpften sich in neuer Weise mit der Individuierung der Subjekte. Weigel rekonstruierte das Wort als einen diskursiven Schauplatz zur symbolischen Neuordnung von bürgerlichen Verwandtschaftsverhältnissen und Umgang mit dem Erbe an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In ihm wurde das Narrativ von Kontinuität und Tradition durch Abstammung neu verhandelt. ‚Generation‘ wurde zur „herausragende[n] Agentur für die subjektive und kulturelle Spannung zwischen synchroner Zugehörigkeit und der Verortung der Subjekte in der zeitlichen Abfolge der Genealogie.“ 7 Aus diesen Beobachtungen lässt sich umgekehrt vermuten, dass in den Jahrhunderten der Frühen Neuzeit die kulturellen Parameter von Kontinuität und Erbe in stadtbürgerlichen Familienhaushalten noch in anderer Bedeutung ausbuchstabiert wurden, als wir es heute gewohnt sind - und anders auch, als es in dieser Zeit in adeligen und patrizischen Verwandtschaftszusammenhängen der Fall war. Mit dieser Beobachtung lässt sich an einen hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand der historischen Familienforschung anknüpfen. Insbesondere Michael Mitterauer, Hans Medick und David W. Sabean haben untersucht, wie und ob der mittelalterliche und frühneuzeitliche Haushalt verwandtschaftlich-generationell organisiert war: 8 Bestimmten generationelle, durch Abstammung und Erbe erzeugte Bindungen die Lebens- und Arbeitsformen eines Haushalts? Oder generierten die sozialen und wirtschaftlichen Funktionen das Zusammenwirken von Personen in einer Haushaltsgemeinschaft - ohne dass diese notwendig auch miteinander verwandt sein das Generationenkonzept, vgl. S TEFAN B RAKENSIEK et al. (Hgg.): Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500-1800, Berlin 2006. 6 S IGRID W EIGEL : Zur Dialektik von Geschlecht und Generation um 1800. Stifters „Narrenburg“ als Schauplatz von Umbrüchen im genealogischen Denken, in: D IES . et al. (Hgg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 109-124. 7 W EIGEL : Dialektik (wie Anm. 6), S. 119f. 8 M ICHAEL M ITTERAUER : Familie und Arbeitsorganisation in städtischen Gesellschaften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: D ERS .: Familie und Arbeitsteilung, Wien/ Köln/ Weimar 1992, S. 256-300, hier S. 260; H ANS M EDICK / D AVID W. S ABEAN (Hgg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 75), Göttingen 1984. <?page no="194"?> Witwenhaushalte 195 mussten? Und weiter: Gab es überhaupt ein an Abstammung orientiertes Bedürfnis nach Kontinuität, und wie wurden seine Linien in der Zeitlichkeit konstruiert? Der Witwenstatus stellte in diesem Gefüge den institutionalisierten Umgang mit Bruch und Diskontinuität im ehelichen Haushaltskontinuum bereit. 9 An ihm lässt sich daher fokussiert untersuchen, wie versucht wurde, dem Haushalt Stabilität über den Tod des Hausvaters und Eheherrn hinaus zu verleihen. Wurden verwitwete Mütter als Überbleibsel imaginiert, die einer hochgeschätzten Vater-Sohn-Abfolge und Besitzweitergabe in männlicher Linie im Weg standen? Oder wurden Witwen konstitutiv in die Bemühungen um Kontinuität eingebunden? Orientiert an ländlichen Lebensweisen nahm man für das Gebiet des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ lange an, dass auch in der Stadt Verwandtschaft und Haushalt in eins fielen, dass also die Arbeit familienbetrieblich organisiert war und die Kontinuität über eine genealogisch gedachte Abfolge der Generationen hinweg bewahrt blieb. Mittlerweile werden jedoch die verwandtschaftlichen Bindungen in städtischen Haushalten als sehr flexibel bewertet. Michael Mitterauer fasste die Ergebnisse vor einigen Jahren so zusammen: In städtischen Haushalten waren seit dem Mittelalter „Familie und Betrieb als Einheit der Arbeitsorganisation nicht notwendig kongruent.“ 10 Stattdessen war eher die „Haushaltsfamilie“ anzutreffen, die „coresident domestic group“. 11 In ihr bildeten Menschen aufgrund ihrer Funktionen einen gemeinsamen Hausstand. Ob ihr Haushalt zusätzlich auch verwandtschaftlich-generationell strukturiert war, hing in starkem Maße von den jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ab. Ernährten sich die Haushalte durch Lohnarbeit und Dienstleistung, stellten zumeist die Individualverdienste der Männer und Frauen die Existenz sicher und nicht gemeinsame, familienbetrieblich organisierte Arbeitsformen. Auch in den zünftisch organisierten Gewerben waren verwandtschaftlich strukturierte Arbeitsformen selten. Meist arbeiteten dauerhaft nur Ehemann und Ehefrau in Produktion und Verkauf zusammen. Häufig trieb aber auch hier die Ehefrau mit eigenen Waren außerhalb der handwerklichen Produktion des Mannes Handel. Wenn die Söhne ihre Lehrzeit absolviert hatten, konnten sie nicht in der heimischen Werkstatt arbeiten. Sie mussten als Gesellen auf Wanderschaft gehen. Auch waren häufig die Werkstätten zu klein, um neben 9 Zu Gebrauchsweisen und Wandel des Witwenstands als kulturellem Ordnungsmuster G ESA I NGENDAHL : Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt a.M./ New York 2006, S. 321-327. 10 M ITTERAUER : Familie (wie Anm. 8), S. 299; ähnlich differenziert jetzt auch für ländliche Gebiete B RAKENSIEK u.a. (Hgg.): Generationengerechtigkeit (wie Anm. 5). 11 M ITTERAUER : Familie (wie Anm. 8), S. 261. <?page no="195"?> G ESA I NGENDAHL 196 dem Meister noch einen männlichen Erwachsenen zu ernähren. Deshalb wurden Meistersöhne zwar von den Zünften privilegiert, einen eigenen Betrieb zu eröffnen. Das musste jedoch keinesfalls der Betrieb des Vaters sein. Es lohnte sich auch kaum, auf die Werkstatt des Vaters zu warten, wenn die handwerklichen Produktionsmittel nur geringwertig waren. Diese Strukturen unterstützten, so Mitterauer, die neolokale Ansiedlung der Söhne. Einer Betriebskontinuität mithilfe der Generationenabfolge innerhalb einer Familie standen sie eher entgegen. Er folgert daraus, „die Berufskontinuität in der Generationenfolge und die Erblichkeit des Familienbetriebs sind strikt auseinanderzuhalten.“ 12 Generationenfolgen im Familienbetrieb waren stattdessen in Handwerkshaushalten mit kostenintensiven Produktionsmitteln wie in Schmieden und Bäckereien zu beobachten. Auch bei den weitläufigen Stadthäusern wohlhabender Patrizierfamilien lassen sich häufiger mehrere Hausparteien finden, die in enger Verwandtschaft, jedoch in getrennten Haushalten unter einem Dach lebten und im gemeinsamen Handelsgeschäft tätig waren. Ob ihr Zusammenleben jedoch als genealogische Linie wertgeschätzt wurde, ist fraglich, denn Schwiegersöhne waren hier ebenso willkommen wie Söhne. Auch Einheirat wahrte die Kontinuität des Hauses. So mahnt Josef Ehmer an, nicht nur „die Weitergabe von Hof und Werkstatt […] als Kristallisationspunkt familialer Generationenbeziehungen“ 13 zu sehen und daraus zu schließen, frühneuzeitliche Eltern-Kind-Verhältnisse seien instrumentell und lieblos gewesen. Neuere Fallstudien deuteten darauf hin, dass „neben und außerhalb ökonomischer Transaktionen“ auch das gleichzeitige ‚Dazwischen‘, die emotionalen Bindungen und das solidarische Verhalten zwischen den Generationen durchaus wesentlich waren, die sich im Spektrum von ‚autoritär‘ bis ‚egalitär‘ bewegen konnten. 14 Die neuen Forschungen in den Bereichen der Familien-, Sozial- und Rechtsgeschichte unterstützen so die Ergebnisse aus der Literaturgeschichte, wonach das genealogische Orientierungsmuster seit dem Mittelalter vor allem in adeligen Lebenszusammenhängen wertgeschätzt wurde und dort die in die Vergangenheit zurück reichenden familialen Abstammungsbezüge die Identitätsstiftung begründeten. In den nicht-adeligen Ständen in Land und Stadt gestalteten demgegenüber eher gleichzeitige, synchron hergestellte Verwandtschaftsbeziehungen die sozialen Verhältnisse. Das änderte sich erst im 12 Ebd. S. 283. 13 J OSEF E HMER : Ökonomische Transfers und emotionale Bindungen in den Generationenbeziehungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: M ARTIN K OHLI et al. (Hgg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 77-96, hier S. 77. 14 Ebd., S. 93. <?page no="196"?> Witwenhaushalte 197 19. Jahrhundert, als das neue, moderne Bürgertum ehemals adelige Distinktionsmittel für sich adaptierte, um sich vom alten, handwerklichen Bürgertum abzusetzen. 15 Nun erst wurde die genealogische Vater-Sohn-Folge als Teil der bürgerlichen Modernisierungsstrategie zum vorherrschenden Leitbild und prägte einen Generationendiskurs, der noch heute unser Denken bestimmt. 2. Rollenergänzung Unter diesen Prämissen verwundert es nicht, dass nicht-adelige Witwenschaft in der Frühen Neuzeit vom genealogischen Diskurs kaum berührt wurde. Verwitwete Mütter waren - außer im religiös-moralischen Diskurs, in dem die Verlassenheit der Witwen zum bildreichen Symbol für die Beziehung zwischen Gott und Mensch stilisiert wurde 16 - keine hinderlichen Überbleibsel. Stattdessen stellte der Witwenstand im Rahmen des Bemühens um Besitzkontinuität ein wichtiges Scharnier dar, mit dem das Konzept der synchronen „Rollenergänzung“ im Haushalt gelang. 17 Nicht selten wurden, wie im Folgenden gezeigt werden soll, darin erwachsenen Kindern die Arbeitsbereiche des Verstorbenen übertragen. Dadurch entstanden ebenfalls Generationenbeziehungen. Ihr Akzent lag jedoch weniger auf der zeitlichen Nachfolge als vielmehr auf der zufriedenstellenden Ausgestaltung eines gleichzeitigen Miteinanders. Mit dem Tod eines der Ehegatten galt in nord-, west- und mitteleuropäischen Territorien, in denen sich im Verlauf des Mittelalters gattenzentrierte Haushaltsformen und Erbgewohnheiten ausgebildet hatten, 18 die Lebens- und Wirtschaftseinheit Haus als aufgelöst. Den eingebrachten Besitz des Verstorbenen erbten die Kinder oder die Herkunftsfamilie des Verstorbenen und die Ehegatten. 19 Witwen wie Witwer blieben jedoch Haushalts- 15 E HMER : Ökonomische Transfers (wie Anm. 13), S. 90; W EIGEL : Dialektik (wie Anm. 6), S. 118; zum Diskurs in den Naturwissenschaften S ARA P AULSON E IGEN : A Mother's Love, a Father’s Line: Law, Medicine and the 18 th -Century Fictions of Patrilineal Genealogy, in: H ECK et al. (Hgg.): Genealogie als Denkform (wie Anm. 4), S. 87-107. 16 Zur Vielfalt der metaphorischen und topischen Erzählfelder, die die Witwe in männerzentrierten Kulturen begleiten, B ERNHARD J USSEN : Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur, Göttingen 2000, bes. S. 154-198; M ARJO B UITELAAR : Widows Worlds. Representations and Realities, in: J AN B REMMER / L OURENS VAN DEN B OSCH (Hgg.): Between Poverty and the Pyre. Moments in the History of Widowhood, London/ New York 1995, S. 1-18; für die Frühe Neuzeit I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 23-37. 17 M ICHAEL M ITTERAUER : Mittelalter, in: A NDREAS G ESTRICH / J AN -U WE K RAUSE / D ERS .: Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 160-363, hier S. 299. 18 Ebd., S. 224. 19 Das komplexe mittelalterliche und frühneuzeitliche Erbrecht in Europa kannte unzählige zeitlich und dinglich unterschiedliche Varianten der Besitzverteilung für Männer und für Frauen. <?page no="197"?> G ESA I NGENDAHL 198 vorstand, solange die Haushaltsmitglieder weiter in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebten. Sie waren die Stellvertretung des ehemaligen Ehepaars und konnten weiterhin den gesamten Besitz wirtschaftlich nutzen. In diesem Fall wurde der Anspruch der Erben zurückgestellt und in ein Verwaltungs- und Nutzungsrecht für die Verwitweten umgewandelt. 20 Die Vererbung von Besitz an die nächste Generation stellt sich in frühneuzeitlichen familialen Zusammenhängen als ein lang dauernder Prozess des Aushandelns von Besitzanrechten dar. 21 Jahre- und jahrzehntelange Anwartschaften, zeitgenössisch Verheißungen, bestimmten in Gebieten mit Freiteilbarkeit ebenso wie in solchen mit Anerbenrecht die schrittweise Übertragung des Besitzes aus dem Eigentum der Eltern und Stiefeltern in das der Kinder. 22 In diesem Prozess der Besitzanwartschaften hatten Witwe und Witwer die Schlüsselposition, solange sie die mit dem Tod abrupt beendete Lebens- und Wirtschafteinheit weiter aufrecht hielten. Ihre alleinige Vorstandschaft galt allerdings nur als ein Notbehelf. Mit dem und der Verstorbenen fehlte leiblich, wirtschaftlich und sozial eine Arbeitskraft, die das „Ehepaar als Arbeitspaar“ erst zum verlässlichen Garanten der gesellschaftlichen Ordnung gemacht hatte. 23 Zudem waren die Aufgaben und Funktionen des Ehepaars in allen gesellschaftlichen Ständen entlang der Geschlechtergrenzen verteilt. Das machte es schwer, zusätzlich noch die ungewohnten Aufgaben des oder der Verstorbenen auszufüllen. Auf diesen Mangel gab es in der Frühen Neuzeit lediglich eine vollgültige Option, die Rollenergänzung durch Wiederheirat. 24 Mit der Wiederheirat wurde die vakante Position in Haus und Familie wieder besetzt, und die Kontinuität der Hauswirtschaft war gewährleistet. Das Grundprinzip des Vererbens an Nachkommen oder Eltern und Seitenverwandte war jedoch überall gleich, ebenso wurden fast überall die Ehegatten, etwa über die Regelung des Kindsteils, am Erbe beteiligt, vgl. G ERHARD D ILCHER : Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht, in: U TE G ERHARD (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 55-72, hier S. 61f.; S ANDRA C AVALLO / L YNDAN W ARNER : Introduction, in: D IES . (Hgg.): Widowhood in Medieval and Early Modern Europe, London 1999, S. 3-23, hier S. 12-15; E RIKA U ITZ : Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, Göttingen 1988, S. 112, 116. 20 Auch dieses Grundprinzip des sogenannten Nießbrauchs war überall anzutreffen und wurde europaweit in unzähligen Variationen ausdifferenziert, vgl. Anm. 18. 21 D AVID W. S EBEAN : Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge/ New York 1990, S. 247; E HMER : Ökonomische Transfers (wie Anm. 13), S. 79-82. 22 S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 303-316. 23 H EIDE W UNDER : ‚Er ist die Sonn, sie ist der Mond‘. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 98. 24 B UITELAAR : Widows’ Worlds (wie Anm. 16), S. 13. <?page no="198"?> Witwenhaushalte 199 Verwitwete Männer heirateten tatsächlich meist bald wieder. 25 Witwen dagegen blieben - gewollt oder ungewollt - in den meisten Fällen unverheiratet. Nicht selten war es ein prekärer Zustand, denn sie waren als Frauen kulturell minderbewertet und dadurch strukturell benachteiligt. 26 Ihre vor herrschende Lebensweise war das fortgesetzte Leben und Wirtschaften in einem unvollständigen Haushalt. Witwen mussten sich im Außergewöhnli chen einrichten und den Notbehelf in einen lebensfähigen Dauerzustand umwandeln. Dazu standen ihnen in der frühneuzeitlichen Kultur verschie dene Behelfsoptionen zur Verfügung. Das gemeinsame Wirtschaften mit erwachsenen Söhnen oder Töchtern hatte hier einen hohen Stellenwert. Dies möchte ich im Folgenden anhand von Beobachtungen in den Archiven der kleinen süddeutschen Reichsstadt Ravensburg anschaulich machen. 3. Witwenhaushalte Bereits in der historischen Familienforschung wird, bei aller Absage an dominante genealogische Muster in der Haushalts- und Arbeitsorganisation, darauf hingewiesen, dass in städtischen Haushalten sicher ein „engerer Konnex“ zwischen verschiedenen Hausparteien bestand, wenn diese miteinander verwandt waren. 27 Auch waren Generationenbindungen in den Haushalten überall dort vorhanden, wo erwachsene Kinder ihre Eltern in deren Haushalt unterstützten, waren doch sie es, die in der Regel später einmal Haus und Betrieb als Gegenleistung für die Unterstützung erbten. 28 Die Studien zu Verwandtschaftsverhältnissen gehen daher davon aus, dass inter generationelle Beziehungen auch in der städtischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit bestanden. Sie wurden jedoch motiviert von Bedürfnissen nach Hilfe und Unterstützung und dienten nicht vorrangig dazu, eine Abstammungslinie fortzuführen. 29 25 W UNDER : Sonn (wie Anm. 23), S. 180; M AGRET P ELLING : Finding Widowers: Men without Women in English Towns before 1700, in: C AVALLO / W ARNER (Hgg.): Widowhood (wie Anm. 19), S. 37-54, hier S. 50. 26 H EIDE W UNDER : Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15.-17. Jahrhundert), in: C HRISTIANE E IFERT et al. (Hgg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1996, S. 122-155, hier S. 124. 27 M ITTERAUER : Familie (wie Anm. 8), S. 269. 28 M ITTERAUER : Mittelalter (wie Anm. 17), S. 298; A NDREAS G ESTRICH : Neuzeit, in: D ERS ./ K RAUSE / M ITTERAUER : Geschichte der Familie, S. 364-652, hier S. 443. 29 E HMER : Ökonomische Transfers (wie Anm. 13), S. 93. <?page no="199"?> G ESA I NGENDAHL 200 In diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden die Arbeitsorganisation und die Altersvorsorge in Witwenhaushalten. 30 Darin schwingt häufig die Annahme mit, die Zusammenarbeit zwischen Mutter und Kindern erfolge rein aus Fürsorglichkeit für die Mutter, die, weil sie verwitwet war, des Schutzes und der Solidarität der Nachkommen bedurfte. Wie jedoch nicht nur die Witwen in der Reichsstadt Ravensburg deutlich machen, war die ‚bedürftige Witwe‘ ein Topos in einer der ‚großen Erzählungen‘, mit denen androzentrische Gesellschaften sich der Überlegenheit des Mannes ver sicherten. 31 Auch wenn viele Witwen materiell arm waren, so waren sie, wie die Witwenforschung heute hervorhebt, doch alles andere als passive Empfängerinnen mildtätiger Fürsorge. 32 In den Quellen der Frühen Neuzeit treten Witwen vielmehr als aktive und selbstbewusste Haushaltsvorstände und Frauen hervor, die ihr Leben im Notbehelf konstruktiv gestalteten. Sie nutzten die stereotypen Zuschreibungen der ‚armen Witwe‘ als Strategie, um soviel Unterstützung wie möglich zu gewinnen. 33 Mit diesen Forschungsergebnissen wird auch der Blickwinkel auf Witwen im intergenerationellen Gefüge erweitert. Wie am Beispiel der Witwen von Ravensburg zu zeigen sein wird, ermöglichte ihnen die Position als Haushaltungsvorstand, Übereinkünfte mit ihren Söhnen und Töchtern auszuhandeln, die dauerhaft auf ihre eigenen Bedürfnisse zugeschnitten waren. 34 Ravensburg, unweit des Bodensees gelegen, hatte im 18. Jahrhundert rund 4.000 Einwohner und war geprägt von Handwerk und Handel. Groß- und Fernhandel, Kleinhandel und rund 70 verschiedene handwerkliche Gewerbe bestimmten die Arbeits- und Lebensweise der Bevölkerung. Von Witwen ge führte Handwerksbetriebe waren in der Stadt üblich. Seit Jahrhunderten war es selbstverständlich, dass Witwen den Betrieb des verstorbenen Meisters unbegrenzt fortführen konnten, solange sie einen Gesellen hatten, der die 30 M ARTIN D INGES : Stadtarmut in Bordeaux (1525-1675). Alltag, Politik und Mentalitäten, Bonn 1988, S. 119; M ICHAEL M ITTERAUER : Vorindustrielle Familienformen. Zur Funktionsentlastung des ‚ganzen Hauses‘ im 17. und 18. Jahrhundert, in: D ERS .: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1979, S. 35-97, hier S. 78f.; G ABRIELE H ESSE : Ganzes Haus und ‚Kernfamilie‘ - Zu Struktur und Strukturvarianz des Haushalts in einer präindustriellen Ackerbürgerstadt, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodenseeraums 102 (1984), S. 130- 139, hier S. 135. 31 C HARLES C ARLTON : The Widow’s Tale: Male Myths and Female Reality in 16 th and 17 th Century England, in: Albion 10 (1978), S. 118-129, hier S. 129; B UITELAAR : Widows’ Worlds (wie Anm. 16), S. 15. 32 C AVALLO / W ARNER : Introduction (wie Anm. 19), S. 23. 33 Ebd. S. 9. 34 Die folgenden Überlegungen basieren auf Recherchen für meine Forschungen zum kulturellen Stellenwert des Witwenstands in der Frühen Neuzeit. In der Hauptsache wertete ich dazu frühneuzeitliche Akten und Verträge aus dem Stadtarchiv Ravensburg aus, I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9). <?page no="200"?> Witwenhaushalte 201 Produktion übernahm. 35 In der ersten Bevölkerungszählung der Stadt aus dem Jahr 1789 waren Witwenbetriebe aus allen Handwerkssparten aufgeführt. 36 Witwen leiteten Papiermühlen, Schmieden und Knopfmacherwerkstätten, Metzgereien, Gerbereien, Schneidereien und Schlossereien. 37 Für die Produktion ihrer Waren hatten sie einen oder mehrere Gesellen eingestellt. Gut die Hälfte der Ravensburger Handwerkswitwen ließ die Waren aber von Söhnen oder Töchtern herstellen. Auch in den nicht-handwerklichen Haushalten wirtschaftete gut die Hälfte der Witwen mit ihren Kindern gemeinsam. In Großhandel und Taglohn, im Kleinhandel oder bei Spinnarbeiten lebten und arbeiteten erwachsene Kinder im Haushalt der verwitweten Mutter. Und schließlich hatten auch alte, gebrechliche Mütter ihren Haushalt nicht selten in dem Haus, in dem auch eines ihrer verheirateten Kinder wohnte. 38 Ihre Zusammenarbeit und die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens lassen sich oft nur mittelbar erschließen, da die wenigsten ihre Vereinbarungen schriftlich fixierten. Erst wenn das Vermögen bedeutend war oder die Vereinbarung ungewöhnlich, nutzten die Menschen im Verlauf der Frühen Neu zeit zunehmend die Schrift als „komplexes Werkzeug der menschlichen Er innerung“ 39 , wie der Entwicklungspsychologe Jens Brockmeier formuliert, und ließen das Schriftstück in der städtischen Kanzlei ausfertigen und dort auch aufbewahren. 40 35 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 151-160; zur Stellung von Frauen im Handwerk allgemein C HRISTINE W ERKSTETTER : Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert, Berlin 2001. 36 Stadtarchiv Ravensburg (= StARV) Bü 1049-1054, Häuser- und Seelenbeschrieb; zur Aussagekraft der Bevölkerungszählung für weibliche Erwerbsverhältnisse I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 95-107. 37 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 108. 38 Verwandtschaftliche Verhältnisse wurden in dieser ersten Bevölkerungszählung der Stadt nicht abgefragt. Der Befragung zugrunde lag lediglich das Modell der erweiterten Kernfamilie. Namensgleichheiten führten jedoch auf die verwandtschaftliche Spur, die in allen Fällen, in denen eine Überprüfung möglich war, verifiziert werden konnte. Danach lebte in der Stadt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung in Häusern, in denen die Hausparteien miteinander verwandt waren. Für Witwen spielten diese gemeinschaftlichen Wohnformen eine noch größere Rolle. Ihre Haushalte hatten nahezu zu einem Drittel einen verwandtschaftlichen Konnex mit einer anderen Hauspartei, überwiegend zu der Familie eines Sohns oder einer Tochter; daneben gab es noch nahe Nachbarschaften mit Geschwistern, unverheirateten Schwägern, dem Vater oder der Nichte. I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 128-131. 39 J ENS B ROCKMEIER : Literales Bewusstsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur, München 1998, S. 206. 40 G ERHARD D ILCHER : Die Rechtsgeschichte der Stadt, in: K ARL S. B ADER / D ERS .: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt - Bürger und Bauer im alten Europa, 2. Teil, Berlin/ Heidelberg/ New York 1999, S. 251-827. <?page no="201"?> G ESA I NGENDAHL 202 Für innerfamiliale Abkommen standen ihnen im Wesentlichen zwei juristische Formate der freiwilligen Gerichtsbarkeit zur Verfügung, Heiratsvertrag und Testament. Ein Heiratsvertrag wurde anlässlich der Heirat eines der Kinder verfasst. Neben der genauen Auflistung der Einbringen von Braut und Bräutigam beinhaltete er hauptsächlich die zukünftigen Erbschaften des Ehepaars, auf die sie Anwartschaften erhielten. 41 Damit antizipierte jeder Heiratsvertrag implizit einen Generationenwechsel. Doch explizit war es nicht der Wechsel, sondern die Kontinuität des Bestehenden, die vertraglich abgesichert wurde. Ein Testament wurde dagegen unabhängig von einer Heirat und damit der Gründung eines neuen Hausstands angefertigt. Dieses Schriftstück markiert das erwartete Ende eines bestehenden Haushalts. Sein Inhalt orientierte sich an bereits geleisteter Zusammenarbeit und belohnte oder tadelte vergangenes Zusammenleben. Ein Wechsel war hier nicht inhärent. Im Vergleich mit den gesetzlichen Normen überliefern Schriftstücke der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowohl die Ausnahme als auch die Regel. Sie geben damit Einblicke sowohl in die Praxis als auch in das zu ihrer Zeit Denkbare. 42 Aus dem Testament der Metzgerwitwe Katharina Breyerin geht hervor, dass es für Kinder durchaus lukrativ sein konnte, wenn sie über einen langen Zeitraum im Betrieb der Mutter arbeiteten. Vor seinen anderen Geschwistern vermachte die Mutter ihrem Sohn Jacob kurz vor ihrem Tod noch 200 Gul den extra, der vielen Geschäfte und Verdienste halber, in Förderung und Betreibung des Handwerks seit meines seel. Mannes Tod. 43 Breyerin hatte ihren Metzgerbetrieb insgesamt 24 Jahre mithilfe des Sohnes geführt. 44 Er wurde in den Akten als körperlich beeinträchtigt beschrieben, wohnte im Haus seiner Mutter und gründete erst lange nach ihrem Tod einen eigenen Hausstand. Neben Jacob war der Mutter, die mit 52 Jahren Witwe wurde, auch ihr zweitältester Sohn Tobias behilflich. Tobias war Metzgermeister in einem eigenen Betrieb. Wegen Jacobs Behinderung war es Tobias, der den Einkauf der Schlachttiere im Umland übernahm. Katharina Breyerin hatte offenbar während dieser 24 Jahre mit ihren Söhnen zu einer Übereinkunft gefunden, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Sie selbst blieb bis zu ihrem Tod selbständig und konnte mit beiden Söhnen gemeinsam so gut wirtschaften, dass sie ihnen nach ihrem Tod einen schul denfreien Betrieb und darüber hinaus einige hundert Gulden Kapital hinter - 41 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 258-266. 42 B ARBARA D IEFENDORF : Widowhood and Remarriage in Sixteenth-Century Paris, in: Journal of Familiy History 7 (1982), S. 379-395, hier S. 380. 43 StARV Bü 1513b, Testament 1798. 44 G ESA I NGENDAHL / D OROTHEE B REUCKER : Handwerkerin - Händlerin - Hebamme. Frauenarbeit im frühneuzeitlichen Ravensburg (Ravensburger Stadtgeschichte, Bd. 25), Ravensburg 1996, S. 4. <?page no="202"?> Witwenhaushalte 203 ließ. Der älteste Sohn Jacob konnte über viele Jahre bei der Mutter in einem gut funktionierenden Haushalt leben. Der jüngere Sohn Tobias hatte bei seiner Heirat eine kleine Immobilie aus dem Besitz der Mutter bekommen, die es ihm ermöglichte, einen eigenen Hausstand zu gründen. Das übrige Erbe blieb als Anwartschaft unter der geschickten Verwaltung der Mutter. Eigentum und Erbe, die Esther und Jack Goody als „relational idiom“, 45 als Beziehungsidiom, für die sozial- und kulturhistorische Forschung so fruchtbar erschlossen haben, stützten nicht nur im Fall der Katharina Breyerin und ihrer zwei Söhne das familiale Geflecht aus gegenseitiger Hilfe und Unterstützung. Die Anwartschaft auf eine zukünftige Weitergabe von Besitz war eine soziale und kulturelle Praxis des gegenseitigen Aufeinander- Angewiesenseins, die die frühneuzeitliche Gesellschaft wesentlich prägte. Die „Vermittlerqualität von Eigentum“, mit der David Sabean 1984 die anthropologischen Goodyschen Thesen für die Sozialgeschichte weiterent wickelte, strukturierte die Beziehungen zwischen den Generationen. Zeitlich ausgedehnt schuf der Besitz ein wechselseitiges Netz aus Ansprüchen, Rechten und Erwartungen. „Die Art und Weise des ‚Besitzens‘ von Eigen tum“, so Sabean, „bestimmt Ambitionen und damit die Ziele, auf welche diese gerichtet sind, und vermittelt jedem ein Gefühl entweder des Ange wiesenseins oder der Unabhängigkeit.“ 46 In diesem Beziehungsgeflecht waren es die Eltern, Väter wie Mütter, die bestimmten, wer was wann bekam. 47 Sie hatten als Haushaltsvorstände die aktuelle Verfügungsgewalt über das familiale Vermögen. Zwar waren sie verpflichtet, ihre Kinder daran teilhaben zu lassen. Doch zuvor waren sie berechtigt, solange wie möglich für ihr eigenes Auskommen zu sorgen. Den Zeitpunkt der Übergabe machten sie in aller Regel von ihren eigenen Bedürfnissen abhängig. 48 Die Kinder hatten im Gegenzug eine moralische Beistandspflicht, wenn sie den Besitz von den Eltern übernahmen. 49 45 E STHER G OODY : Contexts of Kinship. An Essay in the Family Sociology of the Gonja of Northern Ghana, Cambridge 1973, S. 3; J ACK G OODY : Inheritance, Property and Women: Some Comparative Considerations, in: D ERS ./ J OAN T HIRSK / E.P. T HOMPSON (Hgg.): Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe 1200-1800, Cambridge 1976, S. 10-36, hier S. 19. 46 D AVID W. S ABEAN : Junge Immen im leeren Korb: Beziehungen zwischen Schwägern in einem schwäbischen Dorf, in: M EDICK / D ERS . (Hgg.): Emotionen (wie Anm. 8), S. 231-250, hier S. 232. 47 S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 342-348. 48 M ITTERAUER : Vorindustrielle Familienformen (wie Anm. 39), S. 51; A LAIN C OLLOMP : Spannung, Konflikt und Bruch: Familienkonflikte und häusliche Gemeinschaften in der Haute Provence im 17. und 18. Jahrhundert, in: M EDICK / S ABEAN (Hgg.): Emotionen (wie Anm. 8), S. 199-230, hier S. 228; S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 341. 49 E HMER : Ökonomische Transfers (wie Anm. 13), S. 91. <?page no="203"?> G ESA I NGENDAHL 204 Auf dieser Grundlage strukturierten die Eltern ihre Besitzverfügungen. Die Metzgerwitwe Katharina Breyerin hatte sich durch die Heirat ihres Sohnes Tobias nicht davon abbringen lassen, den Metzgerbetrieb selbst weiterzuführen. Stattdessen hatte der Sohn einen eigenen Betrieb eröffnet. In der Zwischenzeit konnte es sich für ihn nur auszahlen, wenn er die Mutter aktiv unterstützte, denn umso substanzieller würde später seine Erbschaft sein. Diese Form der gegenseitigen Unterstützung auf der Basis von Erbanwartschaften ließ sich in Gebieten mit Freiteilbarkeit auch mit erwachsenen Töchtern aushandeln. Die Ravensburger Bevölkerungszählung von 1789 etwa weist Franziska Linderin als eine Uhrenmacherin aus, die mit vier erwachsenen Töchtern in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Wie das Testament der Uhrmacherin verkündet, hatte statt eines männlichen Gesellen ihre Tochter Eleonora den Betrieb aufrechterhalten: Da meine alteste Tochter Eleonora durch ihren unermüdlichen Fleiss in Fortführung der Uhrenmacher Profession während meines Witwenstandes das mehrste zu meinem Unterhalt bejgetragen hat, vermachte sie ihr nach ihrem Tod Wohnhaus und Werkzeug. 50 Die anderen Geschwister musste Eleonora ausbezahlen. In diesem Handwerksbetrieb hatte ausnahmsweise eine Tochter produktiv werden können, weil es in Ravensburg seinerzeit sonst nur noch den Sohn und Bruder Augustin Linder gab, der im Haus nebenan ebenfalls eine Uhrmacherwerkstatt unterhielt. 51 Auch hier hatte der Sohn einen eigenen Betrieb eröffnet und nicht den der verwitweten Mutter übernommen - mehr noch, er überließ seiner Schwester die handwerkliche Produktion, ohne das Handwerksgericht anzurufen. Dadurch konnte die Familie alle vorhandenen Ressourcen konstruktiv einsetzen, und zwei Parteien wurde zu einer gesicherten Existenz verholfen. Der ältesten Tochter blieb schließlich die Gewissheit, nach dem Tod der Mutter Haus und Werkzeug gewinnbringend in eine eigene Heirat investieren zu können, denn als ledige Frau würde sie einen selbständigen Betrieb nicht aufrechterhalten können. Bei materiell armen Haushalten außerhalb von Gewerben mit strikten Geschlechtergrenzen scheinen Mutter-Tochter-Haushalte, darauf deuten auch die Untersuchungen Josef Ehmers hin, sogar überwogen zu haben. 52 Zwar sind schriftliche Übereinkünfte hier äußerst rar, doch lassen sich Hinweise auf gemeinsame Mutter-Tochter-Haushalte in der Ravensburger Bevölkerungszählung durch obrigkeitliche Regelungen verdichten. Besonders unter den Lohnarbeiterinnen gab es etliche Haushalte, in denen Mütter und Töchter gemeinsam in Heimarbeit nähten, flickten oder spannen. Trotz der gemein- 50 StARV Bü 1512b, Testament 1788. 51 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 108. 52 E HMER : Ökonomische Transfers (wie Anm. 13), S. 93. <?page no="204"?> Witwenhaushalte 205 samen Anstrengung war ihr Verdienst meist zu gering, um sich davon ernähren zu können. Immer wieder mussten sie bei der städtischen Armendeputation um Unterstützung nachsuchen, um noch etwas Brennholz, Brot, Mehl, Schmalz, Äpfel und Rüben zum Lebensunterhalt zu bekommen. 53 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich jedoch die Armenpolitik der Stadt. 54 Nun stand nicht mehr ausschließlich die geringwertige Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Stattdessen wurde nun Almosenpolitik mit einer neuen Form geschlechtsspezifischer Sittlichkeitspolitik verknüpft. 55 Insbesondere Haushalte von Müttern mit erwachsenen Töchtern wurden verdächtigt, dem Müßiggang, der Prostitution oder der Bettelei nachzugehen. Sie mussten vor Gericht verantworten, warum ihre Töchter bei ihnen wohnten, anstatt an einen Dienst zu gehen, wie es hieß. Die verwitweten Mütter gaben an, sie seien bereits alt und gebrechlich und benötigten die Hilfe ihrer Töchter zum Holzklauben und anderer nöthiger Aushülfe. Andere sagten aus, die Töchter trügen mit Nähen oder Sticken zum Lebensunterhalt bei. Doch diese Erklärungen nutzten nichts. Die gemeinsamen Haushalte wurden aufgelöst und die Töchter aus der Stadt in ein auswärtiges Dienstverhältnis geschickt. Den bedürftigen Müttern wurde als Ausgleich das Almosen erhöht. Vorher waren sie in der Lage gewesen, sich in einer Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft mit Unterstützung der Töchter kümmerlich selbst zu ernähren und nur von Fall zu Fall um Almosen nachzusuchen. Jetzt waren sie allein und wurden existentiell von städtischer Wohlfahrt abhängig. 56 4. Teilhaberschaft und Altersvorsorge Witwen rechneten, soviel wird bis hierher deutlich, nach dem Tod des Ehemanns auf die gemeinsame Arbeit mit einem oder mehreren ihrer Kinder. Statt der genealogischen Linie scheint es jedoch vor allem die hausrechtliche Abhängigkeit der Kinder und die machtvolle Position der Mutter als Haushaltsvorstand gewesen zu sein, die ihre Zusammenarbeit förderte. Das Orientierungsmuster der Rollenergänzung unterstützte die Witwen darin, die Kontinuität des Haushalts aus der gegenwärtigen Besetzung heraus zu denken und keinen neuen Haushalt zu gründen. Die Nachfolge, die einer intergenerationellen Zusammenarbeit auch innewohnt, konnte in dieser Praxis weit zu- 53 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 126. 54 Ebd., S. 227. 55 M ERRY E. W IESNER : Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick, New Jersey 1986, S. 6. 56 StARV Bü 1720-1722, die Jahre 1780-1800. <?page no="205"?> G ESA I NGENDAHL 206 rücktreten. Das Fortleben des Haushalts wurde synchron gedacht, es war nicht primär in die Zukunft gerichtet. Wie unmittelbar auf die Bedürfnisse der Mutter hin eine solche Rollenergänzung ausgestaltet sein konnte, macht der Heiratsvertrag von Noah Schmid mit seiner Braut Anna Magdalena Huberin deutlich. 57 Die Mutter, die Metzgerwitwe Susanna Katharina Schmidin, hatte zum Zeitpunkt der Vertragsabfassung den Metzgerbetrieb bereits sechs Jahre lang mithilfe ihres Sohnes Noah geführt. Als dieser 1786 heiratete, stattete sie den Sohn mit Heiratsgut aus der Verlassenschaft des Vaters aus und ließ anschließend im vierten Artikel des Vertrages festschreiben: Es behält sich aber des Hochzeiters geliebte Mutter noch vor, die Metzgers-Profession, so lange es ihr gefällig, vor sich fortzutreiben und siehet sich dabey, daß ihr Sohn [...] sie ferner kräftigst dabey unterstüzen und ihr die gleich getreuen Dienste, die er ihr bisher in seinem ledigen Stande geleistet, fortan weiters willig und schuldig erweisen und ebenso auch die Hochzeiterin sich gegen Ihro der Schwieger-Mutter, wohlanständig und kindlich betragen werde. Dafür durfte das junge Hochzeitspaar im Haus der Mutter wohnen. Es wurde verköstigt und mit Kleidung und allem Notwendigen versorgt. Die Vereinbarung der Susanne Katharina Schmidin mit Sohn und Schwiegertochter repräsentiert gewissermaßen den einen Pol im Spektrum frühneuzeitlicher Weitergabeverhandlungen. Die Mutter fügte das neue Ehepaar in ihren Haushalt ein, um zusätzlich zur Arbeitskraft des Sohnes noch die der Schwiegertochter zu nutzen. Statt den Sohn mit wenig Heiratsgut in einen neuen Haushalt zu entlassen oder ihm die Heirat zu verwehren, wurde das Neue in das Bestehende integriert. Hinter der Fassade der wohl formulierten juristischen Diktion der Zeit war Schmidin unerbittlich. 58 Die Formel behält sich die geliebte Mutter vor erklärte deutlich, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht nur verhandelte, sondern auch durchsetzte. Noch nicht einmal ein genauer Zeitpunkt für die Übergabe wurde vereinbart, obwohl ein Übergabedatum dieses potentiell konflikthafte Zusammenleben zweier Haushaltsvorstände in einem Haushalt emotional hätte entschärfen können. Stattdessen wurde ein Vertrag geschlossen, mit dem das Einverständnis aller Beteiligten schriftlich augenfällig gemacht wurde und bei Uneinigkeit wieder in Erinnerung gebracht werden konnte. 57 StARV Bü 1503b, 13.1.1786. 58 Zur Interpretation frühneuzeitlicher Heiratsverträge als Quellen individuellen Handelns G ESA I NGENDAHL : ‚Eigen-Sinn‘ im ‚Fremd-Sinn‘. Ravensburger Witwen in städtischen Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts, in: D ANIELA H ACKE (Hg.): Frauen in der Stadt. Selbstzeugnisse des 16.-18. Jahrhunderts, Ostfildern 2004, S. 165-185, hier S. 166-169. <?page no="206"?> Witwenhaushalte 207 Die vertraglichen Regelungen dieses Schriftstücks heben hervor, dass die Mutter ihr betriebliches und hausrechtliches Vorhaben vorab reflektiert hatte und sich des Risikos bewusst war. Ihre Position als Haushaltsvorstand gestand ihr zu, solch ein einseitiges Abkommen zu verlangen. Doch um es tatsächlich mit Nachdruck durchsetzen zu können, musste es mithilfe des Vertrags juristisch öffentlich und einklagbar gemacht werden. Ähnlich kompromisslos im Ton diktierte einige Jahre später die Handelsfrau Anna Sabina Somin den Heiratsvertrag ihres Sohnes Ludwig nach ihren Bedürfnissen: 59 Die Frau Mutter, deren ihr Hauptzweck, warum sie ihrem Sohn schon zu heurathen gewilliget, dieser ist, sich ein ruhiges Leben und Erleichterung zu verschaffen, ließ den Sohn frühzeitig heiraten, weil sie zukünftig im Handelsgeschäft etwas kürzer treten wollte. Die verwitwete Pfarrersfrau und Angehörige einer bürgerlichen Honoratiorenfamilie hatte sich nach dem Tod des Ehemanns wieder auf die Traditionen ihrer Herkunftsfamilie besonnen und war in den Textilfernhandel eingestiegen. 14 Jahre später war dann die Zeit gekommen, sich allmählich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Doch noch blieb die Handlung [...] unter der Direction und unter dem Nahmen der Frau Mutter. Anders als die Metzgerwitwe nahm Somin das Ehepaar von Anfang an offiziell vertraglich als Teilhaber in das Geschäft auf. Auch bot das Haus der Familie genügend Platz, um zwei getrennte Haushalte unter einem gemeinsamen Dach einzurichten. Sämtliche Bedingungen für das Leben in einem Haus wurden detailliert festgelegt und die Verteilung der Kosten für Kleidungstücke oder die Cost des Bedienten geregelt. Auch hier wurden Witwenschaft und Wiederheirat der Schwiegertochter antizipiert, indem die Rechte der Frau Mutter gegen deren zukünftigen zweiten Ehemann verteidigt wurden. Somins rigorose Haltung wurde sicherlich durch ihr beträchtliches Vermögen noch gefördert, merkte sie doch im Vertrag extra an, dass sie ihren Sohn in gänzlicher Ermangelung eines vätterlichen Vermögens ausschließlich aus ihrem eigenen Vermögen ausstattete. Das ließ sie frei nach ihren eigenen Bedürfnissen schalten und walten. Gleichzeitig war sie in der Sache eindeutig auf einen intergenerationellen Ausgleich bedacht. Die Teilhaberschaft wurde zu ihren Bedingungen geführt, doch war es eine Teilhaberschaft und keine abhängige Position, die sie ihrem Sohn und dessen Braut bot. Kosten und Gewinne wurden streng anteilig behandelt. Und selbst die Wiederheirat der Schwiegertochter war als Ausgleich gestaltet, durfte die ver- 59 StARV Bü 1505a, 1799. <?page no="207"?> G ESA I NGENDAHL 208 witwete Tochter doch jemanden in das Geschäft hinein heiraten, wenn dieser auch der Frau Mutter genehm sein würde. 60 Die niedergelegte Vereinbarung von Anna Sabina Somin und ihrem Sohn lässt ein Verhältnis zwischen Senior- und Juniorchef assoziieren. Es ist ein Bemühen um Ausgleich unter der klaren Vorrangstellung der Älteren feststellbar. Dieses Bemühen setzte sich bei reichen wie bei armen Familien bis hinein in die tatsächlichen Übergabeverträge zwischen Müttern und ihren Kindern fort. So selten vollständige Besitzübergaben zu Lebzeiten der Eltern waren, 61 so sorgfältig wurden in solchen Fällen die Lebensbedingungen nach der Übergabe für beide Parteien austariert. Übergaben wurden erst dann vollzogen, wenn die Eltern bzw. Elternteile sich nicht mehr in der Lage fühlten, den Betrieb weiterhin allein zu leiten. 62 Wie David Sabean ausführt, weist die Sprache der Übergabedokumente darauf hin, dass das Problem der alten Eltern weniger darin lag, arbeitsunfähig zu sein, als vielmehr darin, den Betrieb nicht mehr selbst führen zu können. 63 Denn die gegenseitigen Verpflichtungen wurden nuanciert abgestuft und an die jeweiligen persönlichen Verhältnisse angepasst. So bot in Ravensburg etwa die Wollweberwitwe Agatha Ledergerberin bei der Übergabe an, weiterhin im Betrieb mitzuhelfen, doch nur unter dem Vorbehalt, mir mit Gewalt nichts aufbürden zu lassen. 64 Sie pochte also auf Freiwilligkeit. Die streitbare Witwe, die bei den Ravensburger Hungerunruhen von 1770/ 71 das Wort geführt hatte, war 54jährig verwitwet und hatte insgesamt vier Jahre gemeinsam mit einem ihrer Söhne das Wollweberhandwerk ausgeübt. Bei seiner Heirat übergab sie ihm Haus und Werkstatt. Ihr gemeinsames Wohnen in einem Haus führten sie fort. Doch sorgte Ledergerberin selbst für ihren Lebensunterhalt. Sie verkaufte Stoffe in einem eigenen Laden und handelte auf dem Wochenmarkt mit Obst. 65 Die Witwe Elisabeth Rökin, die mit Tochter und Schwiegersohn in einem kleinen Haus wohnte, lebte dagegen von Almosen. 66 Sie hatte im Alter von 60 Eine solche Tendenz zum intergenerationellen Ausgleich konstatiert auch Margreth Lanzinger in ihrer Studie zu Besitzregelungen im ländlichen Österreich, obwohl der rechtliche Rahmen dort grundsätzlich Anderes vorsah, M ARGARETH L ANZINGER : Generationengerechtigkeit mittels Vertrag. Besitz- und Vermögensregelungen zwischen Reziprozität und Unterordnung, Ausgleich und Begünstigung, in: B RAKENSIEK et al. (Hgg.): Generationengerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 241- 263, hier S. 261. 61 S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 340. 62 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 281. 63 S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 342. 64 StARV Bü 1504a, 1788. 65 D OROTHEE B REUCKER / G ESA I NGENDAHL : Blickwinkel. Leben und Arbeit von Frauen in Ravensburg. Ein historisches Lesebuch, Stuttgart/ Tübingen 1993, S. 13-27. 66 I NGENDAHL : Witwen (wie Anm. 9), S. 133f. <?page no="208"?> Witwenhaushalte 209 65 Jahren ihr Haus an den Schwiegersohn verkauft und im Kaufvertrag ihr lebenslängliches Wohnrecht wie es Ihr gefällig, in der vorderen oder hin teren Stube festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits so gebrechlich ge wesen, dass die Armenfürsorge ihr eine umfassende Versorgung mit Holz und Lebensmitteln zugestand. Diese Zuteilungen brachte sie wiederum zum gemeinsamen Nutzen in den Haushalt der Tochter mit ein. Selbst wer überhaupt nichts mehr besaß, konnte noch nach dem Prinzip des Ausgleichs handeln und sich damit das Alter erleichtern. So war es im Fall der Rosina Rheinhartin, die ihrer Tochter zu einer städtischen Heiratserlaubnis verhalf. 67 Die Heirat war dem Paar verwehrt worden, da es nahezu mittellos war. Erst als die Brautleute versicherten, sie würden für die gänzlich verschuldete Mutter sorgen, damit sie nicht der Armenfürsorge zur Last fiel, erhielten sie die obrigkeitliche Erlaubnis. Immerhin fünf Jahre lang wandte sich die Mutter danach nicht mehr an die Armenfürsorge. Als sie dann später doch für den gemeinsamen Haushalt um eine Holzzulage bat, wurde ihr die Bitte gewährt. Der zuständige Deputierte erkannte an, dass das Ehepaar die Witwe bereits vor etlichen Jahren ohne Vermögen bei sich aufgenommen hatte. 68 Wie die jeweiligen Hausparteien in der Praxis miteinander wohnten, kann nur vermutet werden. Dass sie in der Bevölkerungszählung als eigenständige Mietparteien aufgeführt waren, scheint allerdings auch vom Formular diktiert gewesen zu sein. Denn die Übergänge vom eigenständigen zum integrierten Haushalt waren fließend, wie die vorgestellten Beispiele deutlich machten, und wurden im Formular nicht eigens berücksichtigt. Aus dem Vertrag von Maria Ursula Geißlerin wird ersichtlich, wie ein solches integriertes Leben in einem Haushalt gestaltet sein konnte. Geißlerin war im Alter des Alleinseins müde geworden. Sie hatte ihrem Schwiegersohn ihr Kapital von 1.000 Gulden zu sehr günstigen Konditionen geliehen und darüber hinaus vereinbart, gegen Verrichtung der ihrem bereits ziemlich ho hen Alter und schwächlicher Gesundheit angemessenen Hausgeschäfte, Kost und Wohnung mit Ausschluss der Kleider unentgeltlich zu genießen. 69 Geißlerin bezahlte also gewissermaßen für die sichere Altersversorgung so wohl mit günstigen Kreditzinsen als auch mit der Zusicherung, sich aktiv an den Hausgeschäften zu beteiligen, soweit es ihr gebrechlicher Zustand zuließ. Ähnlich hatte auch die materiell sehr bedürftige Magdalena Wegmännin im Haushalt der Tochter für ihre Altersversorgung gesorgt. Sie hatte dem Schwiegersohn zum städtischen Amt des Torwächters verholfen, das vorher 67 Ebd., S. 134. 68 StARV Bü 1721 III/ 1789. 69 StARV Bü 1501, 1777. <?page no="209"?> G ESA I NGENDAHL 210 ihr Ehemann innegehabt hatte. Im Gegenzug vereinbarten sie, seine Schwiegermutter gegen deme, dass sie ihnen in aller Arbeit nach bester Möglichkeit an handen gehe, bis zu deren seeligen Ableben an seinen Tisch zu nehmen und nach Nothdurft zu unterhalten. Die Mithilfe der verwitweten Mütter war wichtig. Solange sie noch selbst für ihren Lebensunterhalt sorgten, trugen sie zum Lebensunterhalt der co resident domestic group ebenso bei, wie dies das Ehepaar, das dem Haushalt vorstand, mit seinen Individualverdiensten bewerkstelligte. Und wenn sie nur noch wenig mithelfen konnten, blieben sie doch vollwertiges Mitglied des Haushalts und konnten darauf rechnen, bis zu ihrem Tod akzeptiert und gepflegt zu werden. Das schloss nicht aus, dass es zu Auseinandersetzungen kam, dass der Umgang untereinander nicht mit dem nötigen Respekt gepflegt wurde oder dass verwitwete Mütter vergeblich auf eine Gegenleistung hofften. Auf sol che Schwierigkeiten lassen all die vorgestellten Verträge schließen, die ja nur deswegen als schriftliche Zeugnisse ins Archiv gelangten, weil eine münd liche Abmachung zu unsicher für das Vorhaben erschien. Man war sich der Sensibilität des gemeinsamen Wohnens bewusst, doch man wählte es, weil es eine anerkannte und oft die einzig mögliche Option in der frühneuzeitlichen Gesellschaft war. 5. Schlussbetrachtung Die vorgestellten Haushaltsgemeinschaften verwitweter Mütter mit ihren Kindern funktionierten insgesamt auf der Basis gegenseitigen Ausgleichs. Zwar würde ich nicht so weit gehen, ihre Gegenseitigkeit, wie Josef Ehmer dies vermutet, als egalitär zu bezeichnen. Denn über die Haushaltsvorstandschaft war das Verhältnis klar asymmetrisch-hierarchisch gewichtet. Im zeitlichen Verlauf waren es zuerst und so lange wie möglich die Mütter, welche die Struktur der Zusammenarbeit vorgaben. Sie hatten als Haushaltsvorstand die Macht, Besitzansprüche in bestimmte, ihnen genehme Leistungen seitens der Kinder umzuwandeln. Diese Leistungen gestalteten sie im Rahmen des Orientierungsmusters der Rollenergänzung, indem sie die erwachsenen Kinder nach ihren Fähigkeiten einbanden und durch ihre abhängige Mitarbeit die Arbeitskraft des verstorbenen Ehemanns ersetzten. Unterhalb dieser eindeutigen Hierarchie waren die meisten dann aber bestrebt, fairness 70 walten zu lassen und die gegenseitigen Ansprüche auszu- 70 Unter diesem Begriff resümiert auch Sabean seine Ergebnisse, vgl. S ABEAN : Property (wie Anm. 21), S. 255. <?page no="210"?> Witwenhaushalte 211 balancieren. Sie nutzten dazu das Erben und Vererben als eine kulturelle Praxis, die es ermöglichte, Besitzübertragung zeitlich zu strecken. Besitz, so klein er auch sein mochte, vermittelte dadurch gegenwärtige und zukünftige Inbesitznahme. Das ist auch ein Grund, warum verwitwete Mütter zumeist auf ihre erwachsenen Kinder setzten, um ihren Haushalt zu verstärken. In den Archiven sind durchaus auch Verträge unter Nicht-Verwandten überliefert, die eine Alterspflege gegen eine zukünftige Erbschaft vereinbarten. Doch lag es bei dieser Form der in die Zukunft verlegten Besitzübergabe nahe, sich mit solchen Anliegen zuerst an die eigenen Kinder zu wenden. Ihnen würde eines Tages ein Teil des familialen Besitzes zufallen - warum also dafür nicht zu Lebzeiten eine Gegenleistung verlangen? Ein faires Zusammenleben blieb das Leitmotiv auch dann, wenn die verwitweten Mütter mit dem Besitz auch die Vorstandschaft abgaben und sich in eine abhängige Position zu ihren Kindern brachten. Auch hier wurde versucht, eine wechselseitige Bezüglichkeit herzustellen. Die Leistungen der Mütter wurden vertraglich benannt oder in Verhandlungen explizit zum Ausdruck gebracht, ungeachtet dessen, wie klein oder wie wenig sie auch sein mochten. Die Haushalte verwitweter Mütter innerhalb des Ravensburger Stadtbür gertums vermögen die bisherigen Vorstellungen über das Verhältnis der Ge nerationen gegen Ende der Frühen Neuzeit weiter zu nuancieren. Statt dem Muster der linearen genealogischen Abstammung zu folgen, scheint ihr Ver hältnis reziprok gestaltet worden zu sein. Wie bereits die Studien von Sabean, Mitterauer und Ehmer nahelegten, weisen die generationellen Verbindungen in Ravensburg zuerst auf die Gegenwärtigkeit gegenseitigen Beistands hin. Damit wurden Zeitlichkeit und Nachfolge, die jedem Generationenverhältnis innewohnen, zwar nicht ausgehebelt, aber doch in ihrer Wertigkeit vermindert. Die Kontinuität des Haushalts wurde weniger über eine Verbindung der Vergangenheit mit der Zukunft hergestellt als vielmehr über die Ergänzung des Bestehenden. Rückt diese kulturelle Übereinkunft der gleichzeitigen Reziprozität in den Vordergrund der Betrachtung, zeugen die Vereinbarungen und Aushandlun gen, die die Witwen der Stadt mit ihren erwachsenen Kindern trafen, weniger von instrumenteller Lieblosigkeit. Stattdessen erlauben sie einen differen zierten Blick auf die sorgfältigen alltagsweltlichen Strategien, mit denen ver sucht wurde, die tatsächlich bestehenden Interessen und Abhängigkeiten ver träglich und solidarisch auszugestalten. <?page no="211"?> G ESA I NGENDAHL 212 Ein faires Zusammenleben blieb das Leitmotiv auch dann, wenn die verwitweten Mütter mit dem Besitz auch die Vorstandschaft abgaben und sich in eine abhängige Position zu ihren Kindern brachten. Auch hier wurde versucht, eine wechselseitige Bezüglichkeit herzustellen. Die Leistungen der Mütter wurden vertraglich benannt oder in Verhandlungen explizit zum Ausdruck gebracht, ungeachtet dessen, wie klein oder wie wenig sie auch sein mochten. Die Haushalte verwitweter Mütter innerhalb des Ravensburger Stadtbür gertums vermögen die bisherigen Vorstellungen über das Verhältnis der Ge nerationen gegen Ende der Frühen Neuzeit weiter zu nuancieren. Statt dem Muster der linearen genealogischen Abstammung zu folgen, scheint ihr Ver hältnis reziprok gestaltet worden zu sein. Wie bereits die Studien von Sabean, Mitterauer und Ehmer nahelegten, weisen die generationellen Verbindungen in Ravensburg zuerst auf die Gegenwärtigkeit gegenseitigen Beistands hin. Damit wurden Zeitlichkeit und Nachfolge, die jedem Generationenverhältnis innewohnen, zwar nicht ausgehebelt, aber doch in ihrer Wertigkeit vermindert. Die Kontinuität des Haushalts wurde weniger über eine Verbindung der Vergangenheit mit der Zukunft hergestellt als vielmehr über die Ergänzung des Bestehenden. Rückt diese kulturelle Übereinkunft der gleichzeitigen Reziprozität in den Vordergrund der Betrachtung, zeugen die Vereinbarungen und Aushandlun gen, die die Witwen der Stadt mit ihren erwachsenen Kindern trafen, weniger von instrumenteller Lieblosigkeit. Stattdessen erlauben sie einen differen zierten Blick auf die sorgfältigen alltagsweltlichen Strategien, mit denen ver sucht wurde, die tatsächlich bestehenden Interessen und Abhängigkeiten ver träglich und solidarisch auszugestalten. <?page no="212"?> 213 Autorenverzeichnis Dr. Pia Claudia Doering Westfälische Wilhelms-Universität Münster Romanisches Seminar Französische Abteilung Bispinghof 3A 48143 Münster pia.doering@uni-muenster.de Corinna Flügge Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften Fachbereich Evangelische Theologie Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte Sedanstraße 19 20146 Hamburg corinna.fluegge@uni-hamburg.de Prof. Dr. Mark Häberlein Otto-Friedrich Universität Bamberg Lehrstuhl für Neuere Geschichte Fischstr. 5-7 96045 Bamberg mark.haeberlein@uni-bamberg.de Dr. Gesa Ingendahl Universität Tübingen Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft Burgsteige 11 (Schloss) 72070 Tübingen gesa.ingendahl@uni-tuebingen.de Dr. Christian Kuhn Otto-Friedrich Universität Bamberg Lehrstuhl für Neuere Geschichte Fischstr. 5-7 96045 Bamberg christian.kuhn@uni-bamberg.de Dr. Heinrich Lang Otto-Friedrich Universität Bamberg Lehrstuhl für Neuere Geschichte Fischstr. 5-7 96045 Bamberg heinrich.lang@uni-bamberg.de PD Dr. Benjamin Scheller Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Geschichtswissenschaften Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte I Unter den Linden 6 10099 Berlin SchellerB@geschichte.hu-berlin.de Britta Schneider M.A. Otto-Friedrich Universität Bamberg DFG-Graduiertenkolleg „Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte in Antike und Mittelalter“ Fischstr. 5-7 96045 Bamberg britta.schneider@uni-bamberg.de Maximilian Schuh Westfälische Wilhelms-Universität Münster Exzellenzcluster 212 „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ Johannisstraße 1-4 48143 Münster maximilian.schuh@uni-muenster.de <?page no="214"?> Register 215 Personenregister Alarcón, Juan Ruiz de 159 Alberti (Familie) 95, 97, 99, 102,114 - Leon Battista 22, 93-115 - Lionardo 100f., 103, 114 - Lorenzo 99 Albrecht IV., der Weise (Herzog von Bayern-München) 75f., 91 Alexander der Große 19, 104 Amman, Jost 12 Angelico, Fra 66f. Antimachivalensis, Radulphus Castrensis (Pseudonym) 180-184, 186-189 Arndt, Johann 23, 175-191 Attendoli, Micheletto 53 Augustinus 98 Averlino, Antonio (Filarete) 44 Balzac, Guez de 151 Bartolommeo, Michelozzo di 43 Bernheim, Ernst 15 Bismarck, Otto von 13 Böhme, Anton Wilhelm 23, 185-189 Botticelli, Sandro 52 Bray, René 154 Breler, Melchior 178, 183, 187f. Breyer (Familie) - Jacob 202f - Katharina 202f. - Tobias 202f. Brockmeier, Jens 201 Bucer, Martin 18 Burckhardt, Jakob 100 Burnett, Amy Nelson 10, 18 Buroner (Familie) - Daniel 143, 145-147 - Hieronymus 134 - Regina 134 Busdraghi (Familie) - Francesco 136 - Stefano 136 Caffarecci, Giovanni 57 Castiglione, Baldassare 150 Castro, Guilhem de 174 Chapelain, Jean 151 Comte, Auguste 12 Corneille, Pierre 23, 150, 152, 154, 156f., 159, 165f., 173 Cortesi, Alessandro 51 Cranach, Lucas d.Ä. 109 Cromwell (Familie) - Oliver 175, 190 - Richard 175 Dasypodius, Petrus 105 Decier (Familie) 98 Della Stufa (Familie) 61 Del Palagio, Guido 50 Dilherr (Familie) 139 Dilthey, Wilhelm 12, 14 Druser (Familie) 98 Dürer, Albrecht 12, 108f. Ehmer, Josef 196, 204, 210f. Einsiedeln, Leonard 81 Eliassen, Finn-Einar 10f. Endorfer (Familie) - Friedrich d.Ä. 22, 133-136, 148 - Friedrich d.J. 22, 135-148 - Hans 135f., 146 - Regina 135 - Stefan 135 Erndlin, Anna 142 Erzberger, Heinrich 18 Eugen IV. (Papst) 31, 38 <?page no="215"?> Register 216 Fabier (Familie) 98 Federico I. (König von Neapel) 35 Ferdinand der Katholische (König von Spanien) 33 Ferrante I. (König von Neapel) 31f. Ficino, Marsilio 51 Fischer, Hieronymus 141 Foligno, Ser Gherardino da 57 Francke, August Hermann 185f. Freilinger, Hubert 89 Fugger (Familie) 15, 22, 117-131 - Anton 22, 117, 121-123, 131 - Hans Jakob 123, 125-130 - Marx 123, 125-130 - Raymund 123 - Ulrich 123-130 - Walburga 121 Fumaroli, Marc 155 Furetières, Antoine 151 Fütterer (Familie) 112 Gasser, Achilles Pirmin 129 Geißler, Maria Ursula 209 Georg I. (König von England) 185 Georg (Prinz von Dänemark) 185 Ginori (Familie) 61 Goody - Esther 202 - Jack 202 Gozzoli, Benozzo 54, 56 Gracchen (Familie) 98 Grebner, Gundula 10, 17 Green, Ian 179 Grueber, Hans Heinrich 136 Gutanus, Johannes 85 Hainhofer (Familie) 139 Hanskorn, Adam 82 Hay, Johannes 87 Heinrich IV. (König von Frankreich) 152-154 Heinrich XVI., der Reiche (Herzog von Bayern-Landshut) 75 Heller, Konrad 84 Herlihy, David 10 Herwart (Familie) 143 - Bartholomäus 142 - Daniel 136, 138f., 142f. - Hans Heinrich 142 - Hans Paul 135 Hopfer, Barbara 134 Huber, Anna Magdalena 206 Jastrow, Ignaz 15 Joachim (Graf von Ortenburg) 129f. Johanna I. (Königin von Neapel) 37 Johannes XXII. (Papst) 31 Johannes der Täufer 63 Karl der Große 19 Karl II. (König von England) 175 Karl V. (Kaiser) 133 Karl VIII. (König von Frankreich) 33 Kellner, Beate 19, 114 Klapisch-Zuber, Christiane 10 Kron, Heinrich 123 Künast, Hans-Jörg 136 Ladislaus I. (König von Neapel) 30 Langenmantel, Anton 144-146 Lapo, Pagno di 43 Laud, William (Erzbischof von Canterbury) 180, 182 Ledergerber, Agatha 208 Linder (Familie) - Augustin 204 - Eleonora 204 - Franziska 204 Löffelholz (Familie) 112 Lorenz, Ottokar 12-15 Ludolf, Heinrich Wilhelm 185-187 <?page no="216"?> Register 217 Ludwig VII., der Gebartete (Herzog von Bayern-Ingolstadt) 74 Ludwig VIII. (Herzog von Bayern- Ingolstadt) 74 Ludwig IX., der Reiche (Herzog von Bayern-Landshut) 75 Ludwig XIII. (König von Frankreich) 153 Luther, Martin 111, 113, 188 Machiavelli, Niccolò 48, 99 Mair, Paul Hektor 124, 130 Malaspina, Spinetta (Markgraf von Verrucola) 57 Malatesta, Sigismondo Pandolfo 56 Manfredi, Astorgio 55f. Mannheim, Karl 12, 16-18, 77-79, 92 Marceller (Familie) 98 Martelli (Familie) 61 - Niccolò 57 - Roberto 54 - Ugolino 57 Maximilian II., (Kaiser) 129 Mazarin, Jules (Kardinal) 142 Medici, Familie 21, 43-71 - Bernardo di Antonio (Bernardetto) 44 - Cosimo der Alte 44f., 48, 51-56, 60f., 63, 65-67 - Francesco 66 - Giovanni di Cosimo 44, 51, 53, 56 - Giovanni di Bicci 48, 61, 63 - Katharina von 152 - Lorenzo 48, 51, 53, 63 - Lorenzo (il Magnifico) 44f., 48, 51-53, 55, 58, 65 - Nicola di Vieri 57 - Orlando di Guccio 44 - Pierfrancesco 49, 66 - Piero di Cosimo (der Gichtbrüchige) 43-45, 48, 51, 53-55, 58, 65f. Medick, Hans 194 Melanchthon, Philipp 108 Mill, John Stuart 12 Mistretta, Petrus de 33f. Mitterauer, Michael 194-196, 211 Molière 165 Morelli, Giovanni 50f. Mörke, Olaf 121 Nagengast, Ulrike 17 Napoleon III. (französischer Kaiser) 13 Nauhaimer, Wenzeslaus 73 Neroni (Familie) 61 Nettoli, Bartolomeo 51 Nikolaus V. (Papst) 33f., 38 Oekolampad, Johannes 18 Österreicher (Familie) - Hans Jörg 143f., 146 - Jeremias 138 Paulus, Apostel 36 Petzenstein, Heinrich von 87 Peuchler, Alexander 88 Pfanzelt, Georg 141 Pfinzing (Familie) 12, 112 - Martin II. 12 Pfranger, Michael 84 Pius II. (Papst) 56, 75 Plautus, Titus Maccius 156 Pölnitz, Götz Freiherr von 15 Precheisen, Leo 123f. Primart, Stephan 88 Pucci (Familie) 61 Ranke, Leopold von 12-14 Rehlingen, Marx Conrad von 144 Rehlinger (Familie) - Karl 146 - Marx 145 Reinhart, Rosina 209 <?page no="217"?> Register 218 Rem, Wilhelm 121 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Herzog von (Kardinal) 150, 153f., 161 Rixner, Georg 107 Robert I. (König von Neapel) 30 Rök, Elisabeth 208 Rosenbusch, Christoph 123-125, 128 Rucellai, Giovanni 51 Sabean, David W. 194, 203, 208 Salviati, Averardo 64 Schabel, Wolfgang 84 Scheurl (Familie) 112 - Christoph 22, 93-115 Schmid (Familie) - Noah 206 - Susanna Katharina 20 . Schuh, Maximilian 17 Schulz, Andreas 17 Schwanke, Irmgard 136 Sève (Familie) 142 Sforza, Familie - Francesco (Herzog von Mailand) 56 - Galeazzo Maria 56 Simmons, Matthew 184 Som (Familie) - Anna Sabina 207f. - Ludwig 20 Sulzer, Simon 18 Szende, Katalin 10f. Tornabuoni (Familie) - Giovanni 65, 67 - Lucrezia 58 Trexler, Richard 51 Tucher (Familie) 96f., 107f., 110, 112, 115 - Anton 108 - Endres 115 - Helena 108 Vöhlin, Konrad 123 Voiture, Vincent 151 Wegmann, Magdalena 209 Weigel, Sigrid 104, 194 Welser (Familie) 118, 139 Westphal, Siegrid 118 Wilhelm I. (deutscher Kaiser) 13 Zingel (Familie) 112 Zobel (Familie) 145 - Adolph 135, 143 - Christoph 141f. - Hans 141 - Helena 143-148 - Martin (II) 143 Zwingli, Ulrich 18 6 7 <?page no="218"?> Register 219 Ortsregister Amerika 187 Apulien 25-27, 29, 37f., 40f. Augsburg 19, 22, 87, 106, 117, 119f., 122-128, 130f., 133, 135f., 138f., 141, 143f., 146 Basel 10, 18 Berlin 11 Bodensee 200 Bologna 10, 108 Bozen 134 Deutschland 93, 195 England 141f., 175-191 Europa 114 Faenza 55 Florenz 10, 21, 43-71, 95f., 98, 101f., 113f. - Palazzo Medici 56, 61 - San Lorenzo 61-63 - San Marco 66 - Santa Maria del Fiore 63 - Santissima Annunziata 43 - Via Larga 54 Frankfurt am Main 19, 106 Frankreich 77, 149, 162 Genf 139, 142 Genua 95 Halle 185f. Hameln 185 Heidelberg 130 Holland 141 Indien 187 Ingolstadt 21, 73-92 Italien 77, 93, 98, 109, 134 Jena 178 Kampanien 25 Lemgo 185 Linz 134 London 179, 181, 185, 187 Lucca 22, 135f., 138 Lyon 22, 135f., 138f., 141, 143-146 Mailand 56 Mickhausen (Schloss) 126f. Mugello 51 Neapel (Stadt) 31 Neapel (Königreich) 25-27, 29f., 33, 36f. Nürnberg 12, 19, 22, 93, 96, 106-109, 111, 113f., 135f., 139 Östorff 185 Padua 95 Paris 23, 150, 152-154, 159-164, 174 - Hôtel de Bourgogne 154 - Île de la Cité 152 - Louvre 152 - Marais 152, 162 - Palais Cardinal 154, 162 - Place Dauphine 152 - Place Royale (heute: Place des Vosges) 152, 160, 162 - Pont Neuf 152 - Préaux-Clercs 162 <?page no="219"?> Register 220 - Théâtre du Marais 154 - Tuilerien 152, 162, 165 Poitiers 160, 163 Pyrmont 185 Ravensburg 24, 134, 199-201, 203f., 208, 211 Regensburg 75 Rimini 56 Rotterdam 185 Rottweil 142 Schottland 182 Sedan 13 Seine 162 Sevilla 174 Sizilien (Königreich) 30 Spanien 26f., 32, 40f., 134 Süddeutschland 106 Süditalien 40f. Toskana 64 Trani 20f., 25-42 Venedig 40 Wales 187 Wittenberg 108f.