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Ketzer im Dorf

Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg

0309
2011
978-3-8649-6226-4
978-3-8676-4255-2
UVK Verlag 
Päivi Räisänen

Warum ging Barbara Halt, Bäuerin und sechsfache Mutter aus dem Dorf Urbach, nicht in die Kirche? War sie eine gefährliche Täuferin, die als Ketzerin zu verfolgen war, oder nur ein eigensinniges Weib, dem die Predigten des örtlichen Pfarrers nicht zusagten? Am Beispiel des Herzogtums Württemberg im 16. und frühen 17. Jahrhundert geht die Studie den Täuferbildern, der obrigkeitlichen Täuferpolitik sowie den lokalen Formen des Umgangs mit Täufern nach und analysiert die Handlungs- und Legitimationsmuster der als Täufer verdächtigten. Im Fokus steht das Verfahren der Kirchenvisitation, welches Möglichkeiten zu vielfältigen Verhandlungen über die Grenzen des religiös und sozial Erlaubten eröffnete. Mit vorliegender Arbeit wurde die Autorin 2009 an der Universität Göttingen promoviert.

<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 21 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Hans-Jürgen Lüsebrink · Wilfried Nippel · Gabriela Signori Reinhard Wendt <?page no="2"?> Päivi Räisänen Ketzer im Dorf Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Oestreich-Stiftung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-226-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: In der Herrschaft Grüningen werden im Mai 1526 Täufer bei einer Versammlung im Wald gefangen genommen. Aus: Kopienband zur zürcherischen Kirchen- und Reformationsgeschichte (Heinrich Bullinger u.a.), von der Hand von Heinrich Thomann (1605-1606), Zürich, Zentralbibliothek, Ms B 316, Bl. 245v. © Zentralbibliothek Zürich Druck: Bookstation GmbH, Sipplingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1. Thema und Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1.1. Die Täufer in Württemberg zwischen Bekämpfung und Nachsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1.2. Die Fragestellung: Die Visitation als ‚ernstes Spiel‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.3. Definitionsansätze: Was ist ein ‚Täufer‘ bzw. eine ‚Täuferin‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2. Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.2.1. Täuferforschung: Die Erfolgsgeschichte des ‚Revisionismus‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.2.2. Konfessionalisierungs- und Policeyforschung: Vom Etatismus zum Wechselwirkungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.2.3. Visitationsforschung: Dominanz katholischer Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.2.4. Neue Forschungsfelder und aktuelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1.3. Quellen und Vorgehensweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.3.1. Quellenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.3.2. Quellenkritische und methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1.3.3. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Das ‚Setting‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1. Württemberg und das Amt Schorndorf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1.1. Reformfreudige Herzöge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1.2. Ländliche Lebensbedingungen im Schorndorfer Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.2. Die Täufer in Württemberg und im Schorndorfer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2.1. Die Anfänge des täuferischen Wirkens im württembergischen Raum und erste antitäuferische Mandate (1527-1534). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2.2. Die Verbreitung täuferischer Ideen nach 1534 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.2.3. Anhängerzahlen und soziale Verortung der Täufer und Täuferinnen. . . . . . . . . . . . . . 102 3. Obrigkeitliche Täuferbilder und die Täuferbekämpfung in Württemberg . . . . 111 3.1. Die Täuferordnungen und die Frage nach dem Wesen des Täufertums . . . . 111 3.1.1. Die Vorbereitung der Täuferordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.1.2. Grundzüge der württembergischen Täuferpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2. Bilder der Bedrohung: Täufer und Täuferinnen im Spiegel der Täuferordnungen, 1536-1584 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.2.1. Die Vorsteher als gefährliche Multiplikatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.2.2. Die Anhänger als Träger der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.2.3. Die Sympathisanten als Beschützer der Täufer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.2.4. Eigensinnige Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.2.5. Der Wandel der obrigkeitlichen Täuferbilder im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.3. Zielsetzungen der württembergischen Täuferpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.3.1. Eine imaginierte Widerrufszeremonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.3.2. Die Täufer als Negativfolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Die Visitatoren als Normanwender und Akteure der Täuferbekämpfung . . . . 161 4.1. Warum Visitieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.2. Praktische Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.2.1. Visitationstypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 <?page no="5"?> 6 4.2.2. Vorgesehener Verlauf der Visitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.3. Zusammensetzung und Aufgaben der Visitationskommission. . . . . . . . . . . . 173 4.3.1. Ein weltlich-kirchliches Gemeinschaftsprojekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.3.2. Die Rolle der Spezialsuperintendenten (Speziale) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.3.3. Die Rolle der Ober- und Untervögte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4.3.4. Anleitungen zum Amtmann-Sein: Die Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. Kräftefelder vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.1. Zwischen den Fronten: Die lokalen Kirchendiener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.1.1. Obrigkeitliche Idealbilder und Anforderungen an die Pfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.1.2. Legitimationsstrategien der Pfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.1.3. Erwartungen von Seiten der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.2. Pflichten und Eigeninteressen der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5.2.1. Die weltlichen Amtsträger der Gemeinde als Bekämpfer der Täufer . . . . . . . . . . . . . . 232 5.2.2. In eigener Sache: Die Täufer als argumentative Waffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5.2.3. Teilnahmepflicht der Bevölkerung am kirchlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6. Die als Täufer Vorgeladenen und ihre Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.1. Der Prozess des Täufer-Werdens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.1.1. Die Suche nach den Sektierern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.1.2. Erstes Zeichen: Der Rückzug aus dem kirchlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.1.3. Weitere Indizien: Verdächtige Aussagen, Verhaltensweisen und Kontakte . . . . . . . . 269 6.1.4. Freunde und Feinde der Täufer im Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 6.2. Strategien und Argumente der Verdächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.2.1. Die Vorgeladenen unter Zugzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.2.2. Abstreiten, Nicht-Wissen und ‚taktisches Vergessen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 6.2.3. Verharmlosen und Verschleiern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.2.4. Vage Versprechen und Nicht-Beachtung obrigkeitlicher Anweisungen . . . . . . . . . . . 306 6.2.5. Die Nutzung obrigkeitlich geschaffener Amtswege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 6.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 7. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 8. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 8.1. Täuferische Lehren laut der Täuferordnung von 1571 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 8.2. Fragenkatalog der Täuferordnung von 1536 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 8.3. Fragenkatalog der Täuferordnung von 1571 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 9. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Forschungsliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 <?page no="6"?> 7 Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich zu Beginn des Jahres 2009 an der Philosophischen Fakultät der Georg- August-Universität Göttingen eingereicht habe. Sie ist an vielen Orten und im Austausch mit vielen Freunden und Kollegen entstanden, denen ich hier meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Zu Anfang des Projektes haben mich u. a. Prof. Kaarlo Arffman, Prof. Sabine Holtz, PD Dr. Marion Kobelt-Groch, Prof. Erkki Kouri und Prof. Markku Peltonen entscheidend ermutigt, mich mit den württembergischen Täufern auseinanderzusetzen - einem Thema, das nicht nur aus finnischer Sicht zunächst etwas exotisch schien. Institutionell ist diese Arbeit in Göttingen entstanden, zuerst als Gast am Max-Planck-Institut für Geschichte und dann im Rahmen der International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“. Ich schätze mich glücklich, dass ich an der anregenden Atmosphäre am MPI noch teilhaben konnte. Ein nachdrückliches Dankeschön gebührt in Göttingen neben den DoktorandInnen der Research School insbesondere Prof. Thomas Kaufmann und Prof. Hartmut Lehmann für fachkundige Beratung und wohlwollende Unterstützung sowie Prof. Hans Medick, dessen Forschungskolloquien stets inspirierende, motivierende und menschlich schöne Begegnungen waren. Prof. Manfred Jakubowski-Tiessen danke ich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens und hilfreiche inhaltliche Hinweise. In einem ganz besonderen Maße habe ich meiner Doktormutter Prof. Rebekka Habermas zu danken, die mich immer ermuntert, unterstützt und produktiv herausgefordert hat. Ich verdanke ihr viele entscheidende Impulse zur Ausgestaltung und Schärfung meiner Argumentation. Noch drei Orte sind zu nennen, die von besonderer Bedeutung für mein Projekt waren. Die Mitarbeiter in den Stuttgarter Archiven haben meine Spurensuche nach den Täufern und ihren dörflichen Nachbarn tatkräftig und freundlich unterstützt. Während meines Aufenthalts an der University of California, Berkeley, habe ich die außerordentliche Gastfreundschaft insbesondere von Kathy und Prof. Thomas A. Brady, Jr., sowie Dr. Ellen Yutzy Glebe und Dr. Greta Kroeker genossen. Ich denke mit großer Freude an diese Monate zurück, in denen ich auch von unseren wissenschaftlichen Diskussionen in vielfältiger Weise profitiert habe. Schließlich möchte ich mich bei Prof. Irene Dingel und Prof. Heinz Duchhardt dafür bedanken, dass sie mir als Direktoren am Institut für Europäische Geschichte in Mainz eine intensive Schreibphase und regen Austausch mit den KollegInnen des Hauses ermöglichten. Vor allem in Mathilde Monge habe ich dort eine wichtige Gesprächspartnerin in Sachen Täufergeschichte gefunden. <?page no="7"?> 8 Mein Projekt ist von vielen Seiten finanziell gefördert worden. Einen aufrichtigen Dank schulde ich dem DAAD für ein Forschungskurzstipendium, dem Land Niedersachsen für ein Georg-Christoph-Lichtenberg-Stipendium sowie dem Institut für Europäische Geschichte in Mainz in Deutschland. In Finnland möchte ich mich bei der Emil Aaltonen-Stiftung, der Ella und Georg Ehrnrooth-Stiftung, der Finnischen Konkordia-Stiftung, der Finnischen Kulturstiftung sowie der Emil Öhmann-Stiftung für ihre Unterstützung bedanken. Schließlich verdanke ich der Oestreich-Stiftung einen großzügigen Druckkostenzuschuss, der die Veröffentlichung der Arbeit maßgeblich beförderte. Ich freue mich sehr, dass meine Studie in der Reihe „Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven“ aufgenommen wurde. Hierfür sei dem Herausgeberkollegium, insbesondere Prof. Gerd Schwerhoff, herzlich gedankt. Uta C. Preimesser vom UVK danke ich für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Last but not least gilt mein größter Dank meiner Familie und meinen Freunden nah und fern, die immer an mich geglaubt haben und mich das Leben jenseits der Dissertation nie aus den Augen haben verlieren lassen. Insbesondere Dr. Stefan Schröder hat mich mit großer Geduld und einer gehörigen Portion Humor und Bodenständigkeit begleitet sowie das Manuskript unermüdlich Korrektur gelesen. Für all das und vieles mehr bin ich sehr dankbar. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern Leena und Prof. Heikki Räisänen. Ohne ihre großzügige Unterstützung in allen Lebensbereichen wäre die Arbeit in dieser Form nie entstanden. Kiitos kaikesta. Helsinki, im November 2010 Päivi Räisänen <?page no="8"?> 9 1. Einleitung 1.1. Thema und Forschungsgegenstand 1.1.1. Die Täufer in Württemberg zwischen Bekämpfung und Nachsicht Der Schorndorfer Spezialis Johann Hützelin, der seinem Landesherrn über allerlei verdächtige Personen in seinem Amt Bericht erstatten sollte, wandte sich am 20. Juni 1616 an Herzog Johann Friedrich von Württemberg und bat um Rat in der Frage, was er mit einer 50jährigen Frau namens Barbara Halt aus Urbach tun solle, die schon seit längerer Zeit weder zum Gottesdienst noch zum Abendmahl gehe. 1 (Genau genommen seit über fünfzehn Jahren nicht, aber eine exakte Zeitangabe verschwieg der Spezialis in seinem Schreiben.) Bislang sei eine genauere Untersuchung ihrer Gesinnung aus Zeitmangel nicht durchgeführt worden, doch als der Spezialis sie endlich zu sich nach Schorndorf berufen und „auffdie widertäufferische Articul Examinirt“ hatte, sah er sich mit einem „halsstarrig weib“ konfrontiert, die zum Anlass eines langen Berichtes wurde. Als Grundlage für sein Schreiben nutzte er einen Bericht, den der vor Ort ansässige Urbacher Pfarrer verfasst hatte. 2 Darüber hinaus zeichnete der Spezialis seine Befragung der Barbara Halt in der Amtsstadt Schorndorf in groben Zügen nach. Detaillierte Beschreibungen von Vernehmungssituationen vermeintlicher Täufer und Täuferinnen sind selten in dieser Ausführlichkeit überliefert. Und selbst hier kann man nicht mehr als Konturen der Befragung erkennen. Immerhin lassen sich diejenigen Fragen annähernd rekonstruieren, auf die der Spezialis seinen Fürsten und die landesherrliche Regierung aufmerksam machen wollte. So habe er von Barbara Halt zunächst eine Begründung gefordert, weshalb sie die Predigten und Abendmahlsfeiern nicht besuchte. Darauf folgten Fragen nach der Stellung Barbaras zum Täufertum, zur Kindertaufe, Abendmahlslehre, Christologie und Rechtfertigung. Den Inhalt der weiteren in dem Examen gestellten Fragen nannte der Spezialis nicht, sondern wies nur auf die abweisenden Reaktionen der Verhörten hin. Diese trugen dazu bei, dass der Spezialis Barbara Halt 1 Der Bericht des Spezialis vom 20. Juni 1616 befindet sich im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (fortan: HStAS) A206/ 4417. Die württembergischen Täuferakten sind sehr unterschiedlich gekennzeichnet. Gelegentlich finden sich genaue zeitgenössische Angaben wie etwa Seitenbzw. Blätterzählungen oder Aktennummern; in solchen Fällen wird in dieser Arbeit auf diese hingewiesen. Fehlen solche Angaben in den Archivalien, wird neben der Büschelangabe das Datum des Schriftstückes angegeben, mit der sich die Akten wiederfinden und überprüfen lassen. Wenn ein Schriftstück dagegen nicht exakt zu datieren ist, wird darauf mit einem Kurztitel hingewiesen, der den Hauptinhalt der Akte wiedergibt (bspw. „Täuferordnung von 1536“). 2 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. <?page no="9"?> 10 in seinem Bericht als ‚halsstarrig‘ bezeichnete und sie dadurch in eine spezifische Kategorie von Täufertum einordnete, die in der württembergischen Täuferbekämpfung des späten 16. und frühen 17. Jarhunderts geläufig waren. Zu befürchten war in der Ansicht des Spezialis, dass weitere Urbacher von Barbara Halt „angesteckt oder verführt“ werden könnten. 3 Insgesamt gelang es dem Spezialis nur mit Mühe, aussagekräftige Antworten von Barbara Halt zu gewinnen. Auf die erste Frage, warum Barbara nicht zur evangelischen Predigt und zum Abendmahl komme, antwortete diese, „es were Jetzmals Ihr glegenheit nicht“. Dafür hätte sie andere „gute leith“, mit denen sie ihren Glauben praktizieren bzw. von denen sie in Glaubenssachen lernen könne. Wer diese ‚guten Leute‘ waren, wollte Barbara allerdings nicht anzeigen. Sie habe sich vor einem Jahr wiedertaufen lassen, da sie ihre Kindertaufe als „unkräfftig“ empfunden habe. Den Ort ihrer Taufe wollte sie ebensowenig preisgeben wie sie sich weiter zur Erwachsenentaufe äußern wollte. Im Abendmahl gab sie lediglich an, Brot und Wein zu empfangen, und erst auf weiteres Nachbohren des Spezialis bekannte sie, sie glaube, dass Christus im Abendmahl doch „zugegen“ wäre. Auf die theologisch elaborierte Frage des Kirchengelehrten, ob Christus nun in einer oder beiderlei „Naturen“ im Abendmahl gegenwärtig sei, habe die sechsfache Mutter „mitt stillschweigen Verantwurttet“. Auch in der Frage nach der Rechtfertigung habe Barbara Halt „lang Innghalten“. Schließlich habe sie gesagt, sie wüsste nur, „daß eins müßte fromb sein“. 4 Barbara Halt war wie vielen ihrer als Täufer verdächtigten Zeitgenossen nicht daran gelegen, sich gegenüber dem Spezialis explizit als Täuferin zu ‚outen‘. Statt dessen versuchte sie mit ihrem Vernehmer zu verhandeln, indem sie ihn bat, sie bei ihrer Gesinnung bleiben zu lassen. Zum einen, weil Barbara Halt „Ihr leben lang so einfeltig geweßen“ sei, zum anderen, weil sie ihre Auffassungen von Gott habe, der sie ihr „also ins hertz gegeben“ habe. Um ihren ungelehrten Worten ein wenig Autorität zu verleihen, habe sie auf zwei männliche Verwandte hingewiesen, die Ähnliches geglaubt hätten und fromme Menschen seien. 5 Das Gespräch mit dem Spezialis im Sommer 1616 hatte zunächst keine unmittelbaren Folgen für Barbara Halt. Einen Monat später erhielten Spezialis und Untervogt zu Schorndorf den Befehl, nochmal mit ihr in Schorndorf zu „verhandlen“. Zu diesem Zeitpunkt, im Juli 1616, war Barbara Halt bereits erneut festgenommen worden, als sie mit sechzehn anderen einer täuferischen Versammlung in einem Wald im Schorndorfer Amt beiwohnte. Wieder wurde dem Spezialis und Untervogt befohlen, die Festgenommenen auf ihre täuferischen Auffassungen hin zu überprüfen, einen schriftlichen Bericht über die Befragung nach Stuttgart zu schicken und vor weiteren Maßnahmen einen Bescheid des Konsistoriums - dem Gremium für kirchliche Streit- und Straffälle in Württemberg - abzuwarten. 3 HStAS A206/ 4417 (20. Juni 1616). 4 HStAS A206/ 4417 (20. Juni 1616). 5 HStAS A206/ 4417 (20. Juni 1616). <?page no="10"?> 11 Wie es zu den württembergischen Praktiken der Täuferbekämpfung gehörte, wurde bei der Einschätzung Barbara Halts nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einem täuferischen Netzwerk überprüft, sondern auch ihre nächsten Sympathisanten auf ihre Überzeugungen hin untersucht und in den offiziellen lutherischen Lehren unterrichtet. So gerieten mit Barbara Halt auch ihre Angehörigen und Glaubensgenossinnen in das Visier der Kirchenleitung. Diese stellten sich auf die Seiten ihrer Ehefrau, Mutter bzw. Glaubensschwester. Barbaras Mann Endris wollte den Obrigkeiten gegenüber keine Aussagen darüber treffen, „wo sein weib hingehe“. 6 Die sechs Kinder der Familie waren ihr Leben lang überwiegend vom Abendmahl ferngeblieben; ob sie getauft waren, ist nicht bekannt. 7 Ein Sohn namens Hans aber soll nach Mähren gezogen und wiedergetauft worden sein. 8 Der Urbacher Pfarrer nahm sich seinen im Rahmen der Täuferbekämpfung anbefohlenen Pflichten an, als er zu Beginn des Sommers 1620 die Kinder der Familie Halt in Glaubensfragen zu belehren versuchte. Hierbei kamen sie auch auf die Aktivitäten ihrer Mutter zu sprechen. Der Pfarrer äußerte den Verdacht, der älteste Sohn Michel müsse seine heterodoxen Abendmahlsauffassungen von seiner „armen verführten“ Mutter „gesogen“ haben. Der junge Mann ließ verlauten, seine Mutter „lehre sie nichts vnrechtts“. Daraufhin verwickelte der Pfarrer Michel Halt und die anderen im Examen Anwesenden in eine hitzige Debatte darüber, „[w]as sie dan fir den rechten glauben hielten“. 9 Neben ihren Brüdern setzte sich die gleichnamige Tochter Barbara Halts für ihre Mutter ein. Selbst wenn sie „nicht In die Kirchen gieng“, so ließe sich die Mutter „daheim aus der Bibel lesen“. Außerdem lehre sie ihre Kinder, „sÿe solten nicht schwehren, an gott glauben vnd den leuthen guts thun“. 10 Den Obrigkeiten wurden somit Frömmigkeitsformen präsentiert, gegen die sie zunächst nichts auszusetzen haben konnten, da sie sich - bis auf den nachlässigen Kirchgang - mit den lutherischen Idealen deckten. In der etwa zwanzig Jahre älteren Urbacher Schultheißin Genoveva Köblin fand Barbara Halt eine langjährige Mitstreiterin und Glaubensgenossin. Darüber hinaus soll sie bereits vor der Jahrhundertwende von Anna Marx, einer weiteren Frau aus den führenden Familien des Ortes, in Glaubensfragen gelehrt worden sein. 11 Dem Urbacher Pfarrer habe Barbara um 1598 erzählt, „In Kärtzen hab man sie also gelehrt vnd vnderricht“, d. h. die Verbreitung täuferischer Impulse habe in nachbarschaftlich-geselliger Runde stattgefunden, womöglich in einer abendlichen Spinnstube. Außerdem, so beteuerte Barbara Halt dem Pfarrer, sei- 6 HStAS A206/ 4417 (20. Juni 1616). 7 Außerdem gehörten Barbaras zwei Tanten Anna und Kathrina und ihr Onkel Jörg der täufernahen Familie Faut an, und wurden von den Obrigkeiten auch als Täufer gehandelt. Auch einer anderen Tante von Barbara, Agnes Reiser, wurden täuferische Sympathien unterstellt. Vgl. Clasen, Die Wiedertäufer, S. 189. 8 LKA A26/ 466 II, f. 175r. 9 HStAS A282/ 3094c, Nr. 25. 10 HStAS A282/ 3094a Nr. 26. 11 HStAS A282/ 3094c, f. 84r. <?page no="11"?> 12 en diese Art von Gespräche in Urbach keineswegs außergewöhnlich, sondern vielmehr „fast beÿ Iederman ein gmaine rede“. 12 So verbreitet täuferisches Gedankengut in Urbach gewesen sein mag, hatte sich Barbara in ihrem Heimatdorf auch Feinde gemacht. Dem Urbacher Pfarrer wurde bereits im Jahre 1597 ein anonymer Brief zugestellt, in dem angezeigt wurde, Barbara Halt sei nicht nur Anhängerin der „verführischen Trumppanna“ (ihre oben genannte Lehrerin Anna Marx), sondern erbitterte Gegnerin des Pfarrers, seiner Predigten und der lutherischen Kirche insgesamt. Nicht einmal zur Beerdigung ihres eigenen Kindes habe Barbara Halt das Gotteshaus betreten wollen, sondern sei direkt vom Kirchhof nach Hause gegangen. 13 Aus dem Beispiel wird deutlich, dass Barbara Halt nicht die einzige in Glaubenssachen ‚Halsstarrige‘ im Herzogtum Württemberg war. Die Akzeptanz der lutherischen Landeskirche auf dem Land scheint im Lichte dieses Fallbeispieles alles andere als gefestigt, auch wenn Württemberg im Jahre 1534 offiziell zum Luthertum übergegangen war und bis zum frühen 17. Jahrhundert eine durchorganisierte Kirchenverwaltung aufgebaut hatte. Der Fall Barbara Halt gewährt einen guten Einblick in die komplexen Beziehungen zwischen Landesherrschaft und Landeskirche, deren verwobene Maßnahmen zur Etablierung ihrer Position gemeinhin unter dem Begriff ‚Konfessionalisierung‘ subsumiert werden, sowie religiösem Dissidententum bzw. Nonkonformismus im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Zum einen weist das Beispiel auf die Bedeutung lokaler Netzwerke hin, die das Überleben nonkonformer Religiosität unter obrigkeitlichen Sanktionen überhaupt ermöglichten. Gleichzeitig werden aber auch innerdörfliche Konflikte sichtbar, in denen mit Glaubensfragen argumentiert wurde. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten im den lokalen Konflikten und Beziehungsgeflechten auch die führenden Familien des Dorfes, zu denen Barbara Halt enge Verbindungen hatte. Innerhalb dieser gesellschaftlichen „Kräftefelder“ 14 liefen die vielfältigen Verhandlungen über die Bedingungen der Annahme und Ablehnung der von Seiten der Landeskirche und Landesherrschaft angestrebten Konfessionalisierungsmaßnahmen ab. Besonders anschaulich lassen sich obrigkeitliche Interessen und Praktiken zur Bewältigung der als bedrohlich angesehenen Täufer und Täuferinnen als religiö- 12 HStAS A282/ 3094c, f. 85v. Zum Begriff ‚Kärtzen‘, vgl. QGT I, S. 694 (Anm. 3), in dem er als „abendliche Zusammenkunft, gewöhnlich in Spinnstuben“ definiert wird. Zur Bedeutung der Spinnstuben im ländlichen Milieu der frühen Neuzeit siehe z. B. Medick, Spinnstuben auf dem Dorf, S. 19-49. 13 HStAS A282/ 3094c, f. 84r. 14 Vgl. die bekannte Definition Alf Lüdtkes: „Die Figur des ‚Kräftefeldes‘, in dem Macht durchgesetzt, Herrschaft begründet oder bezweifelt wird, vermeidet eine einfache Zweipoligkeit. Den Herrschenden stehen zwar Beherrschte gegenüber - Herrschende konstituieren sich in der Definition und in der Verfügung über Beherrschte. Dennoch mögen sich die Herrschenden ihrerseits in Abhängigkeiten finden. Und auch die Beherrschten sind mehr als passive Adressaten der Regungen der Herrschenden. Vor allem zeigen sich Ungleichheiten und Widersprüche auch zwischen Herrschenden, ebenso wie zwischen Beherrschten.“ Lüdtke, Einleitung, S. 13. Siehe auch Füssel, Die Kunst der Schwachen, S. 17f. <?page no="12"?> 13 se, soziale und politische Dissidenten in der Art festmachen, wie die Visitatoren mit Barbara Halt umgingen. Die lutherischen Obrigkeiten sahen in den Täufern zwar weniger Ketzer, die mit der Todesstrafe geahndet werden sollten (so der katholische Standpunkt) als vielmehr Gotteslästerer und Aufrührer, „die das öffentliche Leben störten und dem göttlichen Auftrag zuwiderhandelten, die Welt in Ordnung zu halten“. 15 Diese Einschätzung des Phänomens sagt wenig über die tatsächliche Stärke oder Gefährlichkeit der Täufer aus, umso mehr aber über die Empfindlichkeiten der lutherischen Elite. Aus obrigkeitlicher Warte wurden diese Menschen im Zuge einer intensiven Visitationsaktivität und der damit verbundenen Administration mehreren Kategorien zugeordnet, von denen die Täufer als die bedrohlichste eingestuft waren. Daneben wurden vereinzelt auch Schwenckfelder, Epikurer und Spötter festgestellt, wobei sich diese Kategorien auch überlappen konnten. 16 Innerhalb der Täufer wurde weiterhin nach dem Grad der Gefährlichkeit differenziert. Wie die Begegnungen Barbara Halts mit den Obrigkeiten weiter verdeutlichen, trafen die Interessen der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten auf der einen, der Dissidenten unter der Bevölkerung auf der anderen in den Vernehmungen der ‚Suspekten‘ durch Vertreter der Landeskirche und Landesherrschaft aufeinander. Dies geschah ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts v. a. in den Kirchenvisitationen, die regelmäßig in den Gemeinden durchzuführen waren und auf einem beträchtlichem Maß an Bürokratie beruhten. Ereignisse, die - wie etwa Barbaras Examen in der Amtsstadt Schorndorf oder ihre Festnahme auf einer täuferischen Versammlung im Sommer 1616 - außerhalb der Visitation stattfanden, wurden immer auch in der Visitation selbst thematisiert. So kann man die Visitation im Zentrum des Geschehens verorten, selbst wenn es daneben wichtige ‚Nebenschauplätze‘ gab. Entscheidend ist hierbei, dass das Verfahren des Berichtens an die Kirchenleitung durch die in den Visitationen verantwortlichen Amtsträger und für die Visitationsakten festgelegten Bahnen verlief. Entsprechend geben die Akten nicht nur über die verdächtigten und vernommenen Personen Auskunft, sondern v. a. über die Verfahren und Praktiken des Visitierens und des darüber Berichtens, die alle spezifischen Spielregeln unterworfen waren. Die hier als Beispiel angeführte Begegnung Barbaras mit dem Schorndorfer Spezialis Hützelin im Sommer 1616 reiht sich in eine langjährige nonkonformistische bzw. täuferische ‚Karriere‘ Barbara Halts ein. Diese kann jedoch allenfalls in Schlaglichtern, d.h. in zeitlich begrenzten Phasen einer dichteren Quellenüberlieferung, gefasst werden, zwischen denen beträchtliche Lücken liegen können. Barbara Halt wurde in den Jahren 1598-99 erstmals im Alter von etwas über dreißig Jahren in der Spezialvisitation Urbachs aktenkundig. 17 Sie wurde von den Visitatoren in die Kategorie der in die Irre geführten, im Grunde unwissenden Täufer und Täuferinnen eingeordnet, die sich nach einer Belehrung aber hät- 15 Goertz, Skizze, S. 19. 16 Zu den Schwenckfeldern siehe Gritschke, „Via Media“; McLaughlin, Freedom of Spirit. 17 HStAS A282/ 3094c, S. 12. <?page no="13"?> 14 ten „berichten lassen“. 18 Daraufhin erfährt man über fünfzehn Jahre nichts über Barbara Halt, bis sie im Frühjahr 1616 wieder in den obrigkeitlichen Berichten auftaucht. 19 Nun wird u. a. festgehalten, dass sie um 1615 wiedergetauft worden ist. 20 Die letzten überlieferten Aufzeichnungen über Barbara Halt stammen aus dem Herbst 1620 und dem Jahre 1640. 21 Das protestantische Württemberg gehörte neben Hessen zu den Territorien des Reichs, die eine vergleichsweise milde Täuferpolitik praktizierten. Das bedeutet v. a., dass die auf Reichsebene vorgeschriebenen Todesstrafen hier nicht eingesetzt wurden. Als Strafen wurden in Württemberg in erster Linie Freiheitsstrafen und Landesverweise, seltener Leibes oder Geldstrafen eingesetzt. Hinterlassene Güter der Landesverwiesenen sollten beschlagnahmt und später teilweise konfisziert werden. Als spezifisch württembergische Strafe wurde die Ankettung besonders hartnäckiger Täuferinnen in ihren Häusern anbefohlen. 22 Ein Indiz dafür, dass der Fall Barbara Halt als schwerwiegend gehalten wurde, ist die Weiterleitung der über sie verfassten Berichte an den Oberrat. Dennoch sind in den Akten keine Hinweise auf Haftstrafen, einer Ankettung oder auf einem mit der Konfiszierung ihres Besitzes verbundenen Landesverweis zu finden. Allein ein Bußgeld ist ihr im Herbst 1616 für jede versäumte Predigt auferlegt worden, doch scheint dieses Geld zumindest anfangs nicht eingezogen worden sein. 23 In den Protokollen wird im Frühjahr 1618 darauf hingewiesen, dass man mit Barbara Halt alle vorgeschriebenen Schritte unternommen habe, um sie von ihrem Irrtum abzubringen und für die lutherische Kirche zu gewinnen. Die Kirchenleitung ließ der betagten Frau nun androhen, sie nach ihrem Tod „ohne Geleütt, Gsang vndt Leüchenpredigt“ zu beerdigen. 24 Allem Anschein nach ist Barbara Halt aber fest bei ihrer Überzeugung geblieben, denn im Jahre 1640 wurde dem Urbacher Pfarrer erneut auferlegt, Barbara möglichst noch auf ihrem Todbett zu bekehren oder ihr mit einem Begräbnis ohne Geläut und in ungeweihtem Boden zu drohen. 25 Barbara Halt lebte ihr Leben zwischen Bekämpfung und Nachsicht, sowohl von Seiten der Obrigkeiten als auch ihrer dörflichen Nachbarn. Seit ihre täuferischen Sympathien offenkundig geworden waren, stand sie unter Beobachtung durch ihre Nachbarn, den Gemeindepfarrer, durch die in regelmäßigen Abständen in die Gemeinde zurückkehrenden Visitatoren. Die Einschätzung ihrer Gefährlichkeit für die Gesellschaftsordnung basierte zum einen auf der Angst, von ihr könnten im Ort gefährliche täuferische Impulse ausgehen. Zum anderen aber befürchtete die Kirchenleitung, die in Urbach für alle sichtbare Lebensweise 18 HStAS A282/ 3094c, S. 22, 25. 19 LKA A26/ 466 II, f. 175r. 20 HStAS A206/ 4417 (16. Juli 1616). 21 HStAS A206/ 4417; LKA A3/ 1632-1922 (1640); LKA A26/ 466 II, f. 205v. 22 Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 106f. 23 LKA A26/ 466 II, f. 183; LKA A26/ 466 II, f. 203v. 24 LKA A26/ 466 II, f. 202r. 25 LKA A3/ 1632-1922 (1640). <?page no="14"?> 15 Barbara Halts und ihrer Glaubensgenossin Genoveva Köblin unterminiere die Etablierung der Landeskirche in Urbach. Die Sorge wurde von den weltlichen Obrigkeiten geteilt, stand doch an der Spitze der württembergischen Kirche der Landesherr selbst. So hieß es im Jahre 1619, das Fernbleiben der beiden Frauen von den lutherischen Predigten und Abendmahlsfeiern sei angesichts der Größe der Gemeinde „sehr Ergerlich“. Es war dies genau der Punkt, an dem die Weiterleitung der Berichte über Barbara Halt und Genoveva Köblin an den Oberrat beschlossen wurde. 26 Der Urbacher Pfarrer, den die Hartnäckigkeit der Frauen gegenüber seinen kirchlichen Vorgesetzten in Erklärungsnot brachte, lamentierte entsprechend die Schwere seines Amtes in dieser großen und teils widerspenstigen Gemeinde. Je mehr Mühe er bei der Belehrung und Bekehrung der Dissidenten anwende, desto mehr Gehör und offene Unterstützung erhielten die Täufer im Ort. So müsse er mit ansehen, wie „alles das, was ich vermittelst Göttlichen beÿstands beÿ grösserm theil dieser gemein, ausser den verstockhten widerteüffern, wie es sich bisanhero ansehen lassen, zuoerbawen getrauwtte, von dergleichen widerspenstigen widerumb verärgert vnd abgerissen würde.“ 27 Galt der Großteil der Gemeinde zwar als ausreichend konform, so stellte die Devianz der beiden betagten Frauen dennoch eine Bedrohung für die Akzeptanz der lutherischen Landeskirche und Landesherrschaft dar, gegen die vorzugehen war, allein, um ein Exempel zu statuieren. 1.1.2. Die Fragestellung: Die Visitation als ‚ernstes Spiel‘ Die vorliegende Untersuchung verfolgt eine doppelte Fragestellung. Erstens: Was ist unter der Visitation des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu verstehen? Welche Aufgaben hatte sie, um die ‚Konfessionalisierung‘ der Gesellschaft voranzutreiben? Wie nutzten die Zeitgenossen diese Instanz auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft? Die zweite Frage zielt auf die ‚Entstehung‘ der Täufer durch die Visitation. Wie wurden im Visitationsverfahren Täufer ‚gemacht‘? Wie lief der Zuschreibungsprozess ab und welche Akteure waren daran beteiligt? Betrachtet man die Täuferbewegung aus dieser Perspektive als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen mehreren Akteuren und Gruppen, ergibt sich ein facettenreiches Bild auf das Phänomen. 28 Die Täufer sind hier insbesondere als Diskussionsgegenstand bzw. Projektionsfläche interessant: So geht es in der 26 LKA A26/ 466 II, f. 205v. 27 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 28 Zum Begriffdes Aushandelns siehe Eibach, Versprochene Gleichheit, S. 516-526, 533. Eibach weist darauf hin, dass die Möglichkeiten zum Aushandeln stark vom Maß der sozialen und rechtlichen Integration sowie vom guten Leumund der Vorgeladenen abhängig waren. <?page no="15"?> 16 vorliegenden Arbeit weniger um die Rekonstruktion täuferischer Lebens- und Glaubenswelten. Es ist allerdings einzuräumen, dass es auch in Württemberg Täufer und Täuferinnen unabhängig davon gab, was die Obrigkeiten proklamierten. Es wird im Folgenden somit nicht davon ausgegangen, dass allein die obrigkeitliche Imagination die Täufer ‚geschaffen‘ hätte. Täuferische Ideen und Praktiken existierten auch jenseits der Visitation. In den eigenen Netzwerken wurden ihnen freilich andere Bedeutungen zugeschrieben als von Seiten der Obrigkeiten. 29 Statt dessen wird der Blick in dieser Arbeit auf die Dynamiken des dörflichen Zusammenlebens sowie die verwobenen weltlich-kirchlichen Verwaltungs- und Herrschaftspraktiken in einer Zeit im Umbruch gerichtet. Der Umgang mit einer verbotenen, und doch nicht bis ins Letzte verfolgten Gruppe wie der Täufer öffnet Einblicke in den lokalen Umgang mit dem offiziell Sanktionierten und die Grenzen der dörflichen wie obrigkeitlichen Duldung. Der Diskurs darüber, wer die Täufer waren und wie mit ihnen umgegangen werden sollte bzw. welche Spielräume ihnen in der Praxis gewährt werden konnten, verlief im Württemberg des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu großen Teilen im Rahmen der Visitationen ab bzw. kann nachträglich am ehesten durch die Analyse der Visitationsakten und -praktiken erfasst werden. Insgesamt sollen durch die Kontextualisierung der zeitgenössischen Umgangsformen mit den Täufern im Rahmen staatlicher und lokaler Praktiken und der sozialen Kräftefelder Zugänge entwickelt werden, sowohl die Täufer als auch das Visitationsverfahren aus einer kulturhistorischen Perspektive zu beschreiben. 30 Dafür ist es in einem ersten Schritt notwendig, die mit den Visitationen in Württemberg verbundenen Verfahren und Funktionen herauszuarbeiten. Die Visitation wird als ein auf Kontinuität ausgerichtetes System betrachtet, das für eine umfassende moralisch-religiöse Besserung der Gesellschaft angelegt war. Dies sollte durch die Feststellung und Behebung religiöser und moralischer Fehler und Mängel in der Gesellschaft und durch die Einsetzung obrigkeitlich definierter, konfessionell geprägter Normen erreicht werden. Legitimiert wurden die Maßnahmen mit der Pflicht der Obrigkeiten bzw. des Landesherrn, für weltliches und zeitliches Wohl der Untertanen 31 zu sorgen. Praktisch wurde der Blick auf kon- 29 Die Ausbreitung täuferischer Ideen im württembergischen Raum wird im Kapitel 2.2. näher behandelt. 30 Die Vorgehensweise ist vergleichbar mit den Prinzipien des ‚Doing Recht‘-Ansatzes, wie sie Rebekka Habermas vor kurzem formuliert hat. Vgl. Habermas, Diebe vor Gericht, S. 19-23; Dies., Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited, S. 39-41. 31 Der Begriff ‚Untertan‘ bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf die „Untertanen des vorkonstitutionellen Staates“, der vergleichbar wie der Begriffdes ‚gemeinen Mannes‘ seit dem Spätmittelalter v. a. die „Bauern auf dem Land und die Bürger in der Stadt“ umfasst. Anders als in anderen Regionen, wo eine „negative Auffüllung“ des Untertanenbegriffes seit dem 18. Jahrhundert dominiert hat, wurde dieser Peter Blickle zufolge in Württemberg dank einer starken kommunalen Tradition noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus positiv bewertet. Vgl. Blickle, Deutsche Untertanen, S. 13-15, 141f. <?page no="16"?> 17 krete Missstände v. a. in der Amtsführung der Kirchendiener als „Norm-“ oder „Programmanwender“ 32 , aber auch im kirchlichen Gemeindeleben gerichtet. Eine der den Kirchendienern auferlegten Aufgaben bestand im Anzeigen und in der Bekämpfung von religiösen Irrtümern. Unter diesen wurde den Täufern eine herausragende Rolle zugeschrieben, da ihre Lebensformen und Glaubensvorstellungen nicht nur das Gemeinwohl und die Gesellschaftsordnung gefährdeten, sondern insbesondere die Konsolidierung der Landeskirche erschwerten, solange ihre Gedanken Attraktivität für die Bevölkerung besaßen. Aus dieser Perspektive erscheint die Täuferbzw. Sektenbekämpfung als integraler Teil der landesherrlichen und landeskirchlichen Etablierungsbemühungen. Vor Ort waren die Pfarrer die wichtigsten Akteure der Täuferbekämpfung. Entsprechend legte die Kirchenleitung besonderen Wert auf die Qualität der Kirchendiener in Gemeinden, die vom Täufertum bedroht waren oder in denen Täufer bereits Fuß gefasst hatten. Diese Qualität wurde in den Visitationen wiederholt evaluiert. In drei Schritten sollten die Missstände beseitigt werden: Zunächst waren in den Gemeinden einbis zweimal im Jahr Visitationen durchzuführen, in denen die notwendigen Informationen erhoben wurden. Daraufhin wurden die Befunde im Synodus beratschlagt und die empfohlenen Maßnahmen vom Landesherrn bestätigt. Schließlich waren die Beschlüsse von den weltlichen und kirchlichen Amtmännern vor Ort auszuführen. Diese drei Schritte beschreiben gleichzeitig die Ebenen, in denen die an der Visitationspraxis beteiligten Personen oder Gruppen zusammentrafen. „Zwischen diesen Gruppen finden“, wie Achim Landwehr es formuliert hat, „die wesentlichen Interaktionen statt, wird mit den obrigkeitlichen Programmen umgegangen, wird mit den Normen ‚gespielt‘“. 33 Dieses Bild von der Visitation als Zusammenspiel unterschiedlicher Gruppen bzw. Kräftefelder soll in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und weiter entwickelt werden. Aus diesem Blickwinkel zeigt sich die Visitation nicht nur als obrigkeitliches Kontrollinstrument, sondern auch als Kommunikationsforum zwischen Normgebern, Normanwendern und Normempfängern. Es handelt sich in dem Sinne um ein ‚Spiel‘, dass das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure nach bestimmten Regeln ablief. Diese konnte man innerhalb des von der 32 Vgl. Landwehr, Policey vor Ort, S. 51, 61. 33 Landwehr, Policey vor Ort, S. 51f. Siehe auch Ders., Policey im Alltag, S. 24f., in Rückgriffauf Bourdieu: „Die Annahme ablehnend, daß jede Aktion ,von oben‘ automatisch ‚unten‘ zu einer Exekution führen muss, bezeichnet Bourdieu die Bürokratie gemäß seiner Terminologie als ein Feld, in dem das bürokratische Spiel gespielt wird - das Spiel mit der Regel. Dieses Spiel mag zwar mit vielen Vorgaben überfrachtet sein, jedoch haben die Akteure die Möglichkeit, mit einer Regel individuell umzugehen, sie streng oder weniger streng auszulegen, eine Ausnahme zu gewähren oder auf eine buchstabengetreue Umsetzung zu pochen. Wie dieses Spiel ausfällt, ist entscheidend davon abhängig, wieviel persönliche Macht und wieviel symbolisches Kapital ein Beamter im bürokratischen Feld erlangen kann. Und hierin sieht Bourdieu eine entscheidende Paradoxie der Bürokratie: daß sie im Prinzip auf Objektivität des Verwaltungshandelns aufbaut, dieses Verwaltungshandeln zugleich aber von Personen mit all ihren Stärken und Schwächen betrieben wird.“ Siehe auch Bourdieu, Rede und Antwort, insbes. S. 81-85. <?page no="17"?> 18 „Ernsthaftigkeit der Situation“ 34 bestimmten Rahmens einhalten oder brechen; doch so oder so strukturierten diese Regeln das Agieren, Auftreten und Argumentieren der Akteure. Insbesondere die meist aus der Defensive heraus agierenden und argumentierenden Vertreter der Bevölkerung, die des Täufertums verdächtigt wurden, nutzten die Möglichkeiten, die Regeln zu variieren, selektiv wahrzunehmen oder gar zu ignorieren. Dennoch - soweit sie in den Visitationen erschienen - akzeptierten sie dadurch die Legitimität dieser Instanz als ‚Spielfeld‘ und Kommunikationsforum. 35 Dies ist ein entscheidender Punkt: Das Spiel konnte nur auf der gruppenbzw. schichtenübergreifend geteilten Basis funktionieren, dass das gesellschaftliche Zusammenleben durch Regeln geordnet und dadurch die dafür notwendige soziale Stabilität hergestellt und erhalten werden muss. 36 Allerdings war dieses Spiel für alle Betroffenen eine mehr oder weniger ernste Angelegenheit. Den Visitatoren ging es dabei womöglich ‚nur‘ um die Ausführung ihrer Amtspflichten, für die als Sektierer bezichtigten dagegen stand im äußersten Falle ihre ganze Existenz auf dem Spiel. In den Täufer- und Visitationsordnungen wurden die Regeln und der Rahmen des Verfahrens festgelegt, innerhalb dessen sich die Figuren zu bewegen hatten. Gleichzeitig wurden hier Erwartungen bezüglich der von den Akteuren eingenommenen/ vertretenen Rollen festgehalten, nach denen sich diese entweder normativ verhalten sollten oder die den - meist negativen - Erwartungshaltungen bzw. Stereotypen 37 der Programmgeber entsprachen; bei den Täufern etwa, dass sie sich eigensinnig verhielten oder in die Irre geführte einfältige Menschen waren. Diese Erwartungen markierten zugleich die Spielräume, die sich den Teilnehmern eröffneten bzw. die wichtigsten Handlungsoptionen, die in den Aufzeichnungen zum Vorschein kommen. Der von der Kirchenleitung bzw. Landesherrschaft so festgelegte Rahmen konnte zwar in den Spielsituationen ‚gedehnt‘ werden, aber es durfte nicht ohne gravierende Konsequenzen zu einem krassen Übertritt kommen. Im Mittelpunkt der Analyse steht das östlich von Stuttgart gelegene Amt Schorndorf. War die ca. einen Tagesmarsch von der Hauptstadt Stuttgart entfernte Amtsstadt Schorndorf ein nicht unbedeutender Ort im Herzogtum, so war das umliegende Amt v. a. durch seine Armut gekennzeichnet. Das Amt Schorndorf war gleichzeitig eines der Gebiete im Herzogtum, in dem das Täufertum am stärksten Anhänger fand. Auch waren gerade dort täuferische Ideen besonders lange im Umlauf. Die Begrenzung auf ein Amt erlaubt eine mehr als bisher in die Tiefe gehende Arbeit mit dem umfangreichen Quellenmaterial und ist für eine 34 Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 25. 35 Vgl. Flüchter, Zölibat, S. 23: „Sobald die Gesetze wahrgenommen werden, wird die Obrigkeit als solches wahrgenommen; werden die Gesetze in die Interaktionen einbezogen, akzeptiert man damit die Gesetzgebungskompetenz der Herrschaft - auch wenn man das Gesetz selber ablehnt.“ Siehe auch Eibach, Versprochene Gleichheit, S. 524. 36 Vgl. Landwehr, Zwischen allen Stühlen, S. 106. 37 Zum Verständnis von Stereotyp als in Formel und Denkmuster gefasste kulturelle und kognitive Mittel der Lebensbewältigung siehe z. B. Roth, „Bilder in den Köpfen“, S. 23, 33f. <?page no="18"?> 19 genauere Ausarbeitung des historischen Kontextes geboten. Der zeitliche Fokus dieser Arbeit liegt auf der weniger erforschten späten Phase des Täufertums (ca. 1570 bis ca. 1620), die in eine Zeit der verstärkten Ausformung des württembergischen Verwaltungsapparats fällt und zugleich - womöglich bedingt durch die intensiveren Kategorisierungen und Festschreibungen der Dissidenten - die Zeit der größten Täuferzahlen in Württemberg war. 38 1.1.3. Definitionsansätze: Was ist ein ‚Täufer‘ bzw. eine ‚Täuferin‘? Die nähere Betrachtung der als Täufer gehandelten Menschen wirft die zentrale Frage auf, was eigentlich einen Täufer oder eine Täuferin im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert ausmachte. Dies war auch für die Obrigkeiten ein zentraler Punkt: Um die Täufer erfolgreich zu bekämpfen, musste man sich zunächst darauf einigen, wer als Täufer bzw. Täuferin angesehen werden sollte. Der später in Württemberg einflussreiche Reformator Johannes Brenz gab bereits im Jahre 1528 eine Definition der Täufer. Unter anderen zwiespältigen Irrungen der Zeit gäbe es die Gruppe der Wiedertäufer, „weliche aus mißverstand des heiligen tauffs, halten und leren, das man kein jung unmundig unverstanden kind tauffen solle, sey auch solcher tauffnicht nutz, derohalben lassen sie sich wider in yhrem alter tauffen, haben alß denn yhre guetter gemeyn, tragen kein schwert, wollen weltlicher oberkeit weder eyd noch gelubd thun, sagen auch, es mög kein christ der weltlichen oberkeit schwert fueren, und andere artickel, so aus unverstand der heiligen geschrifft gesogen seyn.“ 39 Salopp ausgedrückt handelte es sich beim Täufertum laut Brenz um eine Form von religiösem Unverstand, der aus falschem Biblizismus entstanden war und das eine Reihe von theologisch und sozial verwerflichen Haltungen zur Folge hatte. Als Charakteristika der Bewegung nannte Brenz neben der Erwachsenentaufe die aus einer buchstäblichen Schriftauslegung hergeleiteten Praktiken der Gütergemeinschaft, Verweigerung von Kriegsdienst und Eid sowie die Ablehnung, als Christ obrigkeitliche (weltliche) Ämter bekleiden zu können. Insgesamt waren dies durchaus gängige den Täufern zugeschriebene Eigenschaften. Die zitierte Schrift von Brenz, die zunächst als Stellungnahme zu den Täufern in Nürnberg und Ansbach verfasst wurde, gewann bald über ihren ursprünglichen Adressatenkreis hinaus an grundsätzlicher Bedeutung für den Umgang mit den Täufern in evangelischen Herrschaften. 40 38 Allerdings werden die Täuferordnungen bereits ab der ersten protestantischen Täuferordnung Württembergs aus dem Jahre 1536 berücksichtigt. 39 Brenz, Ob eine weltliche Obrigkeit, S. 1249. Zu Johannes Brenz’ Einstellung zu den Täufern siehe auch Brecht, Brenz, S. 176f.; Seebaß, An sint persequendi haeretici? . 40 Brecht, Brenz, S. 176f. <?page no="19"?> 20 Allerdings gab es unter den Zeitgenossen ebenso wenig eine allgemein gültige Definition der Täufer wie es ‚die Täufer‘ als einheitliche Gruppe oder Bewegung gab. 41 Man kann unter den evangelischen Obrigkeiten des 16. Jahrhunderts zwei vorherrschende Sichtweisen erkennen: Auf der einen Seite gab es „die mit dem repressiven Handeln der altkirchlichen Reichsstände übereinstimmenden Obrigkeiten“, auf der anderen die „Gruppe der in ihrem antitäuferischen Verhalten unsicheren oder auch großzügigeren Stände“. 42 Das Herzogtum Württemberg gehörte den Letzteren an. Die württembergischen Obrigkeiten hatten sich im Laufe von Jahrzehnten unermüdlicher Verhöre und akribischer Protokollarbeit ein durchaus differenziertes Bild von den Täufern und ihren Sympathisanten erarbeitet. In den württembergischen Täuferordnungen wurde zwischen Anführern, Hartnäckigen, in die Irre geführten ‚einfachen‘ Anhänger und Sympathisanten der Täufer unterschieden. 43 In den wenigen Quellen dagegen, in denen täuferische Selbstbezeichnungen vorkommen, werden vollkommen andere Begrifflichkeiten benutzt. Beispielsweise beschrieb der in seiner ehemaligen Heimat Württemberg aktive - und dort später eine lange Haftstrafe abbüßende - hutterische Missionar Paul Glock sich und seine Glaubensgenossen in seinen umfangreichen Sendbriefen schlicht als Mitglieder der auf Nächstenliebe etablierten, familienähnlichen christlichen Gemeinschaft: „euer bruder und glied Christi an seinem leib (welcher ir seit)“, „mein lieber brueder in Christo“, „vielgelibter bruder“ oder „ir vil geliebten schwestern“. 44 ‚Täufer‘ waren diese Menschen zunächst nur aus der gegnerischen Perspektive. 45 41 Auf evangelischer Seite war in den 1530er Jahren eine Bandbreite an Einstellungen Täufern gegenüber festzustellen, wie eine Umfrage des hessischen Landgrafen Philipp in Vorbereitung einer neuen Täuferordnung unter mehreren Bundesständen und Universitäten im Jahre 1536 belegt. Die größten Unterschiede betrafen allerdings nicht die Wahrnehmung der Täufer, sondern vielmehr den Umgang mit ihnen. Die Kategorien bezogen sich auf 1. die Tauffrage, 2. politische Kriterien wie bspw. die Ablehnung der Obrigkeit, des Kriegsdienstes und des Eides, 3. Christologie, 4. Polygamie oder das Verlassen der andersgläubigen Frau, 5. unlegitimiertes Predigen und heimliche Zusammenkünfte, 6. Ablehnung der weltlichen Obrigkeit (wie in Punkt 2) und schließlich 7. Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, insbesondere durch Rückkehr nach Landesverweis. Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 98-102. 42 Ebd., S. 90. 43 Ähnliche Schemata finden sich auch in Täuferordnungen anderer Herrschaften. Siehe z. B. Furner, Lay Casuistry, S. 452. Bereits im Speyerer Reichsabschied von 1529 wurde ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den täuferischen Vorstehern und ihren Anhängern gemacht. Bubenheimer, Heterodoxie, S. 318. 44 Diese Bezeichnungen finden sich in den Sendbriefen des Hutterers Paul Glock. Vgl. QGT I, S. 334, 338, 346. Ähnliche Selbstbezeichnungen benutzten die württembergischen Pietisten, die sich selbst „wahrhaft Fromme, Kinder Gottes oder Knechte Gottes“ nannten und sich untereinander mit ‚Bruder‘ oder ‚Schwester‘ anredeten. Vgl. Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 24. 45 Allerdings haben einige religiös heterodoxe Gruppen wie etwa die Pietisten und Quäker die von außen herangetragenen Spottnamen mit der Zeit angenommen und positiv umgedeutet. Vgl. Friedmann, Anabaptist, Sp. 113f.; Stayer, Introduction, S. xvii-xviii. Einen prägnanten Überblick der vielfältigen, stets bewertenden Begrifflichkeiten zur religiösen Devianz von Betroffenen, ihren Befürwortern und Gegnern hat jüngst auch Schlachta, Gefahr, S. 119-129, <?page no="20"?> 21 In der obrigkeitlichen Suche nach den Täufern stellte die Erwachsenentaufe das einfachste Feststellungskriterium dar, das den fundamentalen Bruch der Täufer mit den herkömmlichen religiösen, sozialen und politischen Normen und Ordnungsvorstellungen markierte. 46 In allen weiteren Punkten allerdings herrschte Unsicherheit über die Merkmale, an denen ein ‚Täufer‘ oder eine ‚Täuferin‘ mit Sicherheit zu erkennen war. Entsprechend spiegeln „die umfangreichen und das ganze Spektrum möglicher theologischer und politischer Devianzen abbildenden Fragenkataloge, die für die Verhöre verhafteter Täufer aufgestellt wurden“ die Unsicherheit der politischen und kirchlichen Obrigkeiten wider, „was außer der Glaubenstaufe zur täuferischen Lebens- und Weltanschauung gehörte“. 47 Auch in der Forschung hat es sich als schwierig erwiesen, einen allgemein gültigen Dogmenkanon für das Täufertum aufzustellen, da sich die täuferischen Gruppierungen oftmals in mehr Punkten unterschieden als sich einig waren. In der Oxford Encyclopedia of the Reformation werden die Täufer von James M. Stayer folgendermaßen definiert: „General characteristics among Anabaptists were social radicalism centering on a desire for restoration of the practices of the New Testament church and an expectation of the end of the world, commitment to individual holiness of conduct, and aversion to clerical, scholarly, mercantile, and governmental elites.“ 48 Diese Tendenzen waren bei den jeweiligen täuferischen Gruppen unterschiedlich gewichtet. Allerdings, so fährt Stayer fort, hatten die Differenzen in der Theologie im Täufertum einen kleineren Stellenwert als die religiösen Praktiken, die ebenfalls von den einzelnen Gruppen unterschiedlich gehandhabt wurden. 49 Die Befragung von Barbara Halt im Sommer 1616 berührte Punkte, die als typisch täuferisch angesehen wurden bzw. werden. Vermutlich hatte der befragende Spezialis Hützelin einen konkreten Fragenkatalog entweder auf Papier oder im Kopf, mit dem er Barbaras Einstellungen zu den zentralen „widertäufferische[n] Articul[n]“ überprüfte. So interessierte sich der Spezialis besonders für Barbara Halts Auffassungen vom Abendmahl, von der Rechtfertigung und der Christologie. Die Tauffrage rückte dagegen überraschenderweise in den Hintergrund. Es ist klar, dass der gelehrte Hützelin dabei in erster Linie von theologisch mehr oder weniger ausformulierten Dogmen ausging. Wie diese Lehren bei der dörflichen Bevölkerung rezipiert und verstanden wurden, entsprach allerdings nicht unbedingt den Vorstellungen der protestantischen Kirchengelehrten, wurden doch die Lehrstücke in der jeweiligen Lebenswelt und der von ihr geformten Vorkenntnisgeliefert. Wichtige Überlegungen zur methodischen Problematik des Täuferbegriffs auch bei Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 35-37. 46 Schlachta, Gefahr, S. 33; Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 91. 47 Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 91. 48 Stayer, The Anabaptists, S. 30. 49 Ebd., S. 30, 33. <?page no="21"?> 22 se und Einstellungen der Rezipienten eingegliedert. Im ländlichen Milieu kann man davon ausgehen, dass die Interpretation des Gehörten oder Gelesenen gemeinschaftlich geprägt war. Eine gewisse Verschiebung kann man auch zwischen den schriftlichen Lehrentwürfen der täuferischen Vordenker (wobei sich auch diese vorrangig auf praktische Aspekte der christlichen Lebensführung konzentrierten) und der Rezeption ihrer Ideen und ihren praktischen Umsetzungen unter den ‚einfachen‘ Anhängern wie Barbara Halt annehmen. 50 Was etwa die instruktiven täuferischen Auffassungen zum Abendmahl betrifft, lehnten viele der täuferischen Schriftführer die Realpräsenz Christi im Abendmahl ab - oft um einiges entschiedener als die vom Spezialis verunsicherte Dörflerin Barbara Halt - und sahen darin lediglich ein Mahl der Erinnerung an den Tod Christi. Über ein Gedächtnismahl hinaus war das Abendmahl theoretisch aber auch ein Zeichen der täuferischen Liebes- und Glaubensgemeinschaft. Im Abendmahl verpflichtete sich der Getaufte erneut zur Nachfolge Christi. Es sollte ihn neben den Tod Jesu an die Bereitschaft erinnern, vor dem Leiden nicht zurückzuschrecken und im Glauben standhaft zu bleiben. Als Mahl der brüderlichen Vereinigung mahnte es den Getauften zur bedingungslosen Nächstenliebe und sollte die Gemeinde von innen stützen. 51 Barbara Halt begründete ihre Abendmahlsverweigerung kurz mit der Ungültigkeit der Kindertaufe, einem Argument, das in den Berichten der lutherischen Kirchendiener über vermeintliche Täufer und Taufgesinnte wiederholt zu beobachten ist und in der obrigkeitlichen Praxis der Täuferbekämpfung als Merkmal für täuferische Sympathien eingesetzt werden konnte. Die Abenmahlsverweigerung und eine Nachlässigkeit beim Besuch der Predigten waren Praktiken, die Barbara Halt im Dorf nicht nur mit strikten Täufern verband. Auch ‚lutherische‘ Untertanen vermieden bei Zeiten das Abendmahl und den Kirchgang, etwa wenn sie mit ihrem Nachbarn zerstritten waren oder zur arbeitsintensiven Erntezeit. Die sonntäglichen Vesperpredigten waren im späten 16. Jahrhundert gemeinhin in den protestantischen Territorien schlecht besucht. 52 Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass vermeintlich ‚täuferische‘ Einstellungen und Handlungsmuster sich von denen der Dorfbevölkerung nicht unterscheiden mussten, auch wenn die vorgebrachte Argumentation von täuferischen Slogans geprägt sein konnte. Nicht alle von Stayer aufgeführten Charakteristika der täuferischen Gruppen des 16. Jahrhunderts finden sich in den württembergischen Quellen wieder. Beispielsweise lassen sich endzeitliche Erwartungen in den Aufschriften über Barbara Halt und der anderen Täufer und Taufgesinnten in Württemberg im späten 50 Goertz, Die ‚gemeinen Täufer‘, S. 290-293; Stayer, Täufer, S. 614f. 51 Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 156f. Die erste systematische Untersuchung der täuferischen Auffassungen vom Abendmahl hat Rempel, The Lord‘s Supper in Anabaptism, vorgelegt. 52 Vgl. Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk“, S. 54; Tolley, Pastors and Parishioners, S. 74-77. <?page no="22"?> 23 16. und frühen 17. Jahrhundert nicht beobachten. 53 Ebenso wenig geht aus den Quellen hervor, inwiefern Barbara Halt eine „restoration of the practices of the New Testament church” 54 anstrebte. Auch ihre Einstellung zu den Obrigkeiten lässt sich eher in ihren subversiven Handlungsmustern als in ihren Äußerungen erkennen. Am ehesten kann man Barbara Halt „commitment to individual holiness of conduct” 55 und eine gewisse Aversion insbesondere gegenüber der kirchlichen Eliten zuschreiben. Das Beispiel der Barbara Halt weist darauf hin, wie schwierig sich eine eindeutige Definition von ‚Täufer‘ auf lokaler bzw. ungelehrter Ebene gestaltet. Neben den standhaften Sektierern, die in der Forschung meist im Mittelpunkt stehen, ist ein breites Spektrum täufernaher Sympathisanten und der lutherischen Kirche gleichgültig bis feindselig gegenüber stehenden Nonkonformisten zu berücksichtigen. 56 Als erkennbares Merkmal für die religiösen Dissidenten bürgerte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts die Ablehnung der Kindertaufe ein. Diese Etikettierung tradiert sich bis heute auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Täufertum weiter. Ist in der Wissenschaft das Phänomen der ‚radikalen‘ Reformation bzw. des ‚linken Flügels‘ der Reformation heftig debattiert worden - ohne jedoch zu einer allgemein akzeptierten Definition oder einheitlichen Begrifflichkeit zu gelangen -, 57 so hat der Begriff ‚Täufer‘ weitaus weniger Aufmerksamkeit bekommen. 58 Die Definition eines Täufers bzw. einer Täuferin wird in der Forschung allgemein und oft nur implizit an der Erwachsenentaufe festgemacht. Vielfach werden die Täufer ex negativo dadurch definiert, wovon sie sich abgrenzten. 59 53 Ein Grund hierfür mag auch der Wandel in den täuferischen Idealen gewesen sein, vgl. Schlachta, Gefahr, S. 19. 54 Stayer, The Anabaptists, S. 30. 55 Ebd., S. 30. 56 Allerdings muss man bei der Auflockerung des Täuferkonzepts vermeiden, unter dem Begriffder ‚Sympathisanten‘ oder ‚Taufgesinnten‘ auch solche Dissidenten aufgrund ihrer negativen Haltung zur lutherischen Kirche zu subsumieren, die vielleicht gar keine besonderen Sympathien der Täufer gegenüber empfanden. Für eine differenzierte Berücksichtigung der täuferischen bzw. nonkonformistischen Einstellungen vor Ort hat jüngst auch Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 65-67, 75, 79, plädiert. 57 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 55-59. 58 Der deutsche Begriff ‚Täufer‘ beschreibt James M. Stayer zufolge die „Gruppen der Reformation, die mit der Kindertaufe brachen und statt dessen die Taufe als ein persönliches Bekenntnis des Glaubens als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde forderten“. Allerdings wurde der frühneuzeitliche Terminus ‚Wiedertäufer‘ im deutschen Sprachgebrauch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben, „weil er, wie auch seine lateinische Vorlage [lat. anabaptista, Anm. P.R.], polemisch gefüllt war und weil man dem Selbstverständnis der Täufer folgte, die die Säuglingstaufe nicht als Taufe anerkannten“. Im englischsprachigen Gebrauch ist der Begriff Anabaptist beibehalten worden, um eine Verwechslung mit den separatistischnonkonformistischen Baptists, d. h. den Baptisten, die ihren Ursprung im elisabethanischen England haben, zu vermeiden. Stayer, Täufer, S. 597. 59 Etwa Claus-Peter Clasen hat in seiner umfangreichen Sozialgeschichte der Täuferbewegung die Täufer dadurch beschrieben, was sie nicht waren. Hierbei misst er der sozialen Herkunft der <?page no="23"?> 24 Die Heterogenität der unterschiedlichen täuferischen Richtungen ist mittlerweile oft betont worden. So weist James M. Stayer darauf hin, dass seine offene Definition der Täufer als „groups organized around the baptism of mature believers and the major representatives of Christian nonconformity in opposition to the Roman church, the established Protestant churches, and temporal governments in the German-speaking Reformation“ 60 dennoch nicht alle als täuferisch geltende Gruppen ausreichend beschreibt, da einige von ihnen als Reaktion auf die blutigen Verfolgungen dazu übergingen, die Erwachsenentaufe abzulehnen. 61 Es scheint allerdings keine Alternative zu geben, mit der man den in die Forschung so fest eingebürgerten Begriffersetzen könnte, ohne mehr Verwirrung als Klarheit zu stiften. Einen Vorteil des Begriffes ‚Täufer‘ sieht Stayer darin begründet, „daß er weder auf einer Selbstbezeichnung der Gruppen beruht, die sich ‚Brüder in Christo‘ nannten, noch auf einer Fremdbezeichnung ihrer Gegner, die eben von ‚Wiedertäufern‘ sprachen“. Vielmehr entspreche er „dem Bestreben der Geschichtsschreibung des 20. Jh., parteilich geprägte Etikettierungen zu vermeiden“. 62 Hans-Jürgen Goertz hat bereits früh betont, dass die Taufe nicht zu einem „übergeordneten Wesensmerkmal des Täufertums“ gemacht werden sollte, schon daher nicht, weil in den unterschiedlichen Täufergruppierungen „die kirchliche Funktion genauso wie die theologische Begründung der Taufe […] ganz unterschiedlich bestimmt und vorgenommen“ wurden. Goertz schlägt stattdessen die enge Verbindung zwischen politischer Erfahrung und Bibellektüre bzw. theologischer Überlegungen als gemeinsamen Nenner für täuferische Bewegungen vor. Er weist darauf hin, dass sich die Taufe „in ein Gesamtkonzept nonkonformistischer Lebenshaltung oder Gemeindebildung“ und einem Ideal des Lebens in der strengen Nachfolge Christi einfügte. 63 Richtet man den Blick auf die lokale Ebene, verwischen sich die Grenzen zwischen mehr oder weniger standhaften Täufern, ihren Sympathisanten und Nachbarn. 64 Neben Misstrauen lässt sich in Württemberg ein bemerkenswertes Maß an Duldung und Unterstützung erkennen, die von den Zeitgenossen den als ‚Täufer‘ gebrandmarkten Personen gegenüber vorgebracht wurde. So wurde in Täufer eine große Bedeutung zu: Die Täufer seien weder ‚rein religiöse‘ Denker im Sinne der spätmittelalterlichen Mystiker noch humanistisch orientierte Intellektuelle gewesen. Die Täufer strebten laut Clasen eine neue Gesellschaftsform an; im Kern handelte es sich um eine Bewegung von „thousands of ordinary peasants and craftsmen“. Die Frage der Taufe als Grundlage der Definition spricht er in diesem Zusammenhang nicht an. Clasen, Anabaptism, S. xi. 60 Stayer, The Anabaptists, S. 30. 61 Ebd., S. 30. Siehe auch Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 158; Driedger, Obedient Heretics, S. 1f. 62 Ob eine solche ‚unparteiische‘ Begrifflichkeit jemals enwickelt werden kann, bleibe dahingestellt. Gleichzeitig deutet Stayer auf weitere Schwierigkeiten des Begriffes ‚Täufer‘ hin, die die zentrale Rolle der Taufe in der Bewegung und in dem Selbstverständnis auch heutiger freikirchlicher Gruppen in Frage stellt. Stayer, Täufer, S. 597. 63 Goertz, Die Täufer, S. 153. 64 Vgl. Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 66f., 75. <?page no="24"?> 25 Württemberg - wie auch in anderen Regionen - eine Kooperation mit den Stuttgarter Obrigkeiten oftmals abgelehnt. Täufer und Täuferinnen „wurden gewarnt und beschützt, wenn die obrigkeitlichen Büttel bzw. ‚Täuferjäger‘ nach ihnen suchten oder Geistliche sie zu sehr bedrängten. Sie wurden beherbergt, versorgt und bei der Flucht unterstützt“. 65 Auch Barbara Halt weigerte sich, dem Spezialis den Namen der Person zu nennen, der sie getauft hatte. Ähnlich handelten die anderen mit ihr auf der Versammlung im Wald im Juli 1616 Festgenommenen. 66 Somit lässt sich vermuten, dass die täuferischen Lebenswelten und mindestens ein Teil ihrer Handlungsformen in der dörflichen Heimat verankert waren. Das gängige Bild eines Täufers als einen leidenswilligen, standhaften Märtyrer, der die Sündhaftigkeit der ‚Welt‘ verachtet und sich von ihr abgekehrt hat, erscheint aus dieser Perspektive zumindest teilweise unzutreffend. Diese Prämisse der Absonderung hat John S. Oyer vor einigen Jahren grundsätzlich kritisiert: „Most scholars of the Anabaptists have found them steadfast to the point of martyrdom. Indeed, their emphasis on loyalty to God and the community of faith seems one of their most common identifying features. Anabaptists qua Anabaptists were steadfast, or they ceased to be Anabaptists and turned to some other religious option.” 67 Demnach hätte die Täuferforschung nur unter standfesten ‚Täufern‘ und ‚Nicht- Täufern‘ unterschieden. Dass die historische Wirklichkeit dagegen weitaus komplexer war, hat Oyer am Beispiel Württembergs skizziert. 68 In der Tat wirft das jahrzehntelange Überleben der Täufer in Württemberg ein neues Licht auf das Verhältnis von Täufertum und Obrigkeit - oder präziser: auf täuferische Handlungsspielräume im Rahmen von obrigkeitlichen Maßnahmen. In diesem Kontext müssen auch die ‚Verhandlungen‘ zwischen dem Schorndorfer Spezialis und Barbara Halt im Sommer 1616 gesehen werden. Es erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, zunächst von einer offenen Täuferdefinition auszugehen. Es handelt sich hierbei um ein obrigkeitliches Konstrukt, das je nach Situation unterschiedlich abgestuft, aber immer negativ besetzt, gefüllt werden konnte. ‚Täufer‘ ist ein Etikett, dessen Anwendungen und Entstehungsmechanismen es zunächst zu untersuchen gilt, bevor man - falls überhaupt - Aussagen über die ‚täuferischen‘ Motivationen der als solche gehandelten Personen treffen kann. An die Grenzen, an die die Erforschung der ‚religiösen Erfahrungen‘ speziell der ländlichen Bevölkerung stößt, hat jüngst Andreas Holzem erinnert: 65 Goertz, Täuferische Gemeinschaften, S. 619. Siehe auch Mattern, Leben im Abseits; Clasen, Wiedertäufer, S. 157; Furner, Repression and Survival, S. 423. 66 HStAS A206/ 4417 (16. Juli 1616). 67 Oyer, Nicodemites, S. 507f. 68 Ebd., S. 507-508, 512-513. Kürzlich hat auch Ellen Yutzy Glebe auf die Problematik eines reduktiven Täuferbegriffs aufmerksam gemacht: „How well-integrated in an ‚Anabaptist‘ network must individuals have been before we consider them to have been ‚Anabaptists‘? “ Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 65-69 (Zitat: S. 65). <?page no="25"?> 26 „Die ‚religiöse Erfahrung im engeren Sinne‘, die einfache Menschen auf dem Land machten, ist in aller Regel nicht unmittelbar zugänglich. Daher muß sich das Interesse auf die soziale Vermittlung konzentrieren.“ 69 Diese soziale Vermittlung erfolgte im Wesentlichen durch die Verbindungen der Menschen zur Familie, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft. Diese Beziehungen wiederum waren in lokale wie obrigkeitliche Herrschafts- und Machtverhältnisse eingebettet. 70 1.2. Forschungslage 1.2.1. Täuferforschung: Die Erfolgsgeschichte des ‚Revisionismus‘ Auf die Anfänge der wissenschaftlichen Täuferforschung, die in Deutschland im 19. Jahrhundert einsetzte, soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. 71 Feszuhalten gilt lediglich, dass die Täufer in vieler Hinsicht überwiegend aus der Perspektive der protestantischen Geschichtsschreibung beschrieben und als „Stiefkinder der Reformation“ 72 behandelt wurden. Die dieser Haltung zugrundeliegende master narrative betonte die staatsbildende Kraft des Protestantismus und suchte die Täufer als historisch destruktives oder bestenfalls wirkungsloses ‚Schwärmertum‘ zu diskreditieren. Erst Religionssoziologen wie Max Weber und insbesondere Ernst Troeltsch schrieben den Täufern in größerem Maße historische Bedeutung und sogar modernisierende Impulse zu. 73 Hans-Jürgen Goertz spricht in diesem Zusammenhang von der „Abkehr vom konfessionalistisch-polemischen Täuferbild“ und der Wendung hin zu einer „wissenschaftlichen Deutung“, die durch Troeltsch Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen wurde, als dieser als erster den Begriffder ‚Sekte‘ „soziologisch gefaßt 69 Holzem, Religiöse Erfahrung, S. 184. Speziell in Bezug auf täuferische bzw. als häretisch verfolgte Glaubensauffassungen siehe Ehrenpreis, Die Obrigkeit, S. 122; Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 596; Oyer, The Anabaptists in Esslingen, S. 261; Scharff, Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘, S. 153. 70 Wunder, Die bäuerliche Gemeinde, S. 78. 71 Siehe hierzu z. B. den Forschungsüberblick in Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 59-66, 75f. 72 Vgl. den Rückblick in der Einleitung der württembergischen Täuferquellenedition im Jahre 1930, mit der die Edition der Akten begründet wurde: „Die Täufer sind nicht nur Stiefkinder der Reformation, sondern auch der Forschung gewesen. Unser Wissen von ihrer Ideenwelt war dürftig, unsere Kenntnis der täuferischen Gemeinden und der Verbreitung der Bewegung überaus lückenhaft, beinahe dem Zufall ausgeliefert. Dementsprechend waren die Urteile über die Bedeutung von und den ideellen Gehalt unsicher und flach, zum Teil von Vorurteilen nicht weit entfernt.“ QGT I, S. v. 73 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 53f.; Troeltsch, Die Soziallehren; Weber, Die protestantische Ethik. Zu Troeltsch siehe auch Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 60f. <?page no="26"?> 27 und wertneutral“ sowie nicht mehr „in einem theologisch abfälligen Sinn“ gebrauchte. 74 „Der Fortschritt dieser Deutung bestand darin, daß das Täufertum als eigenständige Gestalt protestantischer Religiosität gewürdigt und von dem Odium einer schwärmerischen Perversion ursprünglicher Kirchlichkeit befreit wurde.“ 75 Neben solchen zunehmend unpolemischen Darstellungen existierten in der deutschsprachigen Täuferforschung des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere im Rahmen der ‚Lutherrenaissance‘ um Karl Holl, allerdings weiterhin negative Interpretationen, die sich nun zwar teilweise genauer mit den Täufern auseinandersetzten, sie aber dennoch nicht als „legitime Erscheinung reformatorischer Religiosität“ ansahen. Vielmehr wurden sie als „die mißratenen Söhne der Reformatoren“ abgetan. Wie Goertz jedoch festgestellt hat, hat sich diese Deutungstradition im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht in einem größeren Maße behaupten können. Vielmehr folgte in den nächsten Jahrzehnten eine Aufwertung der Täufer, vornehmlich aus den Reihen mennonitischer Forscher. 76 Ihr zentrales Anliegen war es, „die letzten Reste eines pejorativen Täuferbildes zu beseitigen und neue Kraft aus dem konfessionellen Ursprung für das Selbstverständnis der Nachfahren in der Gegenwart zu gewinnen“. 77 Eine herausragende Position in dieser Forschungsrichtung gewannen Harold S. Bender und seine Schüler. 78 Programmatisch wurde der Artikel Benders aus dem Jahre 1944, der den Titel „Anabaptist Vision“ trug. 79 Die Bender-Schule machte sich auf die Suche nach einem ‚wahren‘ Täufertum, um daraus Maßstäbe für eine normative Theologie der Gegenwart herzuleiten. Der historische Kontext war hierbei von zweitrangiger Bedeutung. 80 Von diesem Ziel geleitet wurde die Trennung der ‚eigentlichen‘ Täufer von den „irrenden Stiefbrüdern“ wie etwa den Sozialrevolutionären Thomas Müntzer, Andreas Karlstadt, Melchior Hoffman oder den Spiritualisten Hans Denck und Ludwig Hätzer vollgezogen. 81 Gleich- 74 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 75. 75 Ebd., S. 76. 76 Ebd., S. 76f. Einen gut lesbaren, kritischen Überblick in diese Forschungstradition bietet Deppermann, Melchior Hoffman, S. 9-12. 77 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 77. Das freikirchlich orientierte Forschungsengagement führte auch zur Gründung eigener Zeitschriften wie den Mennonitischen Geschichtsblättern in Deutschland, den Doopsgezinden Bijdragen in den Niederlanden und der Mennonite Quarterly Review in den USA. Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 54f.; Mattern, Leben im Abseits, S. 12. 78 Zur Kritik an der Bender-Schule siehe auch Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 54f. 79 Bender, The Anabaptist Vision. Zu nennen ist hier auch das großangelegte Projekt von George H. Williams, das Spektrum der ‚radikalen Reformation‘ ideenhistorisch zu typologisieren. Vgl. Williams, The Radical Reformation. 80 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 76-79; Deppermann, Melchior Hoffman, S. 10-12. 81 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 10. <?page no="27"?> 28 zeitig wurden moderne mennonitische Ideale und Selbstbilder - wie etwa die Ablehnung jeglicher Gewalt oder eine grundsätzliche religiöse Toleranz - auf die ‚guten‘ Täufer rückprojiziert. 82 Sozialrevolutionäre oder spiritualistische Personen des 16. Jahrhunderts dagegen wurden entweder „als unbedeutende Randfiguren oder als die zeitweilig gefährlichen Versucher, mit denen aber der Hauptstrom des Täufertums aus eigener Kraft fertig geworden war“, abgetan. 83 Die selektive Aufarbeitung der Täuferbewegungen führte zu einer Fragmentierung des Forschungsfeldes und einer hohen Anzahl an Ausnahmen bzw. Abweichungen vom täuferischen Idealmodell. 84 Täufer, die nicht in das Bendersche Modell passten, wurden an andere Forschungsrichtungen abgetreten oder schlichtweg ignoriert. 85 So wurde etwa der chiliastische Prophet Melchior Hoffman, dessen ambivalente Haltung zu den Täufern in Münster unbequem erschien, in den Hintergrund gedrängt und an seiner Stelle der besser geeignete Menno Simons „als der eigentliche Stifter des nordwesteuropäischen Täufertums“ hervorgehoben. 86 Der Umschwung innerhalb der Täuferforschung setzte in den frühen 1970er Jahren ein, als die Versuche, zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Täufern zu trennen, zunehmend hinterfragt wurden. Durch die „Abkehr von der normativ-typologischen Betrachtungsweise“ 87 war die Anabaptist Vision der Bender-Schule bis zur Mitte der 1970er Jahre zum allgemeinen „Prügelknaben der Forschung“ 88 geworden. An ihrer Stelle hatte die ‚revisionistische‘ Täuferforschung mit ihrer „Rückkehr zur historisch-kritischen Methode“ 89 die Leitung übernommen, womit gleichzeitig der letzte umfassende Paradigmenwechsel der Täuferforschung vollzogen wurde. 90 Man kann innerhalb der revisionistischen Forschung drei hauptsächliche Forschungsfelder erkennen, denen ab den frühen 1970er Jahren erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. 91 Erstens wurde den Beziehungen der Täufer zum 82 Ebd., S. 11f. 83 Ebd., S. 10. Siehe auch Packull, Hutterite Beginnings, S. 4. 84 Packull, Hutterite Beginnings, S. 4. 85 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 26; Packull, Hutterite Beginnings, S. 4. 86 Das Problem mit Hoffman lag darin, dass er einerseits als Mitverantwortlicher für die sozialrevolutionäre Aufbruchstimmung in Münster angesehen wurde, sich andererseits aber gegenüber seinen eigenen Anhängern vor der Anwendung von Gewalt abgeraten hatte. „So standen die Mennoniten vor dem Dilemma, sich weder mit Hoffman voll identifizieren, noch klar von ihm distanzieren zu können. Der Ausweg war das Vergessen.“ Deppermann, Melchior Hoffman, S. 26. 87 Ebd., S. 12. 88 Ebd., S. 11. 89 Ebd., S. 12. In ähnlicher Weise bezeichnete Hans-Jürgen Goertz die Entwicklung als Übergang von einem „idealisierte[n] Täufertum“ hin zu einem „revidierte[n] Täuferbild“. Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 76f. 90 Deppermann, Melchior Hofffman, S. 15-18; Packull, Hutterite Beginnings, S. 6f. 91 Vgl. Chudaska, Peter Riedemann, S. 18-20. Deppermann, Melchior Hofffman, S. 12-19, nennt als vierte Forschungtradition die marxistische Auseinandersetzung mit dem Täufertum. <?page no="28"?> 29 Bauernkrieg nachgegangen. In diesem Zusammenhang war auch die Frage von Bedeutung, inwiefern durch den Einfluss Thomas Müntzers mystisch-apokalyptisches Gedankengut in die theologischen Lehren der Täufer tradiert wurde. Zweitens wurden die historischen Wurzeln der Täufer differenziert herausgearbeitet. Drittens wurden mit sozialhistorischen Methoden Fragen wie die soziale Zugehörigkeit oder Organisationsformen der Täufer untersucht und konkrete Anhängerzahlen ermittelt. Zunehmend rückten die wechselseitigen Bezüge zwischen sozialen, politischen und religiösen Motiven der Täufer in den Blick, so dass viele der sozialhistorisch orientierten Täuferforscher einen integrativen Ansatz verfolgten, das Täufertum aus ihrem ‚Sitz im Leben‘ heraus zu erklären. 92 Es mangelt nicht an Bilanzen zur revisionistischen Täuferforschung. 93 Deshalb - und für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit naheliegend - soll im Folgenden v. a. die sozialhistorische Forschungsrichtung näher betrachtet werden, die ab den 1970er Jahren dem Beispiel der Reformationsforschung folgte und sich zunehmend zur Aufgabe machte, die Täuferbewegungen als Phänomen zu historisieren. Entsprechend wird Claus-Peter Clasens im Jahre 1972 erschienene umfangreiche Sozialgeschichte des Täufertums als einer der wichtigsten Meilensteine der ‚revisionistischen‘ Täuferforschung gehandelt, dem allerdings 1965 eine weniger bekannte, ebenfalls sozialhistorisch angelegte Untersuchung der Täufer in Württemberg und benachbarten Gebieten vorausgegangen war. 94 Neu war sowohl Clasens quantitativer Zugriffals auch die zeitliche Ausdehnung der Betrachtung bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. 95 Des Weiteren distanzierte sich Clasen deutlich von marxistisch und christlich geleiteten Interpretationen und lehnte deren monokausale Erklärungsmodelle ab. So ist sein Werk auch als „total reduction of both the Marxist and Mennonite metahistories of Anabaptism“ bezeichnet worden. 96 Die marxistische Täuferforschung teilte weitgehend die Sichtweise, die Täuferbewegungen des 16. Jahrhunderts seien ein „Sammelbecken der enttäuschten Volksmassen“ gewesen, „die sich weder mit den halben Erfolgen der gemäßigtbürgerlichen bzw. des radikal-bürgerlichen Flügels der Reformation (Witten- 92 Die Bestrebung, auch die Täuferbewegung zu historisieren und zu ‚ent-theologisieren‘ brachte die für viele freikirchliche Forscher als Problem empfundene Schwierigkeit mit sich, eine „brauchbare Vergangenheit“ („usable past“) für die Nachkommen der Täufer zu entwerfen: Eine ‚ent-theologisierte‘ Geschichte der Täufer konnte keine Normativität beanspruchen, wie dies viele Vertreter der Bender-Schule angestrebt hatten. Packull, Hutterite Beginnings, S. 5. 93 Siehe z. B. Chudaska, Peter Riedemann, S. 18-42; Deppermann, Melchior Hofffman, S. 12- 19; Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 52-62; Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 79-87; Packull, Hutterite Beginnings, S. 4-11; Stayer, The Anabaptists, S. 135-157; Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 26-31. 94 Clasen, Anabaptism; Ders., Wiedertäufer. 95 Einen weiteren Verdienst von Clasens Sozialgeschichte hat Hans-Jürgen Goertz darin gesehen, dass dieser die den Täufern entgegengebrachten Verfolgungsmaßnahmen genauer nachging als bis dahin getan worden war. Clasen konnte hierbei zeigen, dass es auch in Hinsicht auf die obrigkeitlichen Maßnahmen stärker zu differenzieren gelte. Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 80. 96 Stayer, The Significance of Anabaptism, S. 81. <?page no="29"?> 30 berger bzw. Zürcher Reformation) noch mit der Niederlage des Bauernkrieges abfinden wollten“. 97 Insgesamt wurden zumindest die frühen täuferischen Gruppen als „soziale Protestbewegung verarmter Handwerker“ dargestellt, „die unter die Räder des Frühkapitalismus geraten waren“. 98 Der apologetischen Forschung warf Clasen vor, den Täufern überproportional viel historische Bedeutung zuzumessen. Diese musste sich in der Tat seiner Kritik stellen und fortan auch stärker sozialhistorische Zusammenhänge berücksichtigen, selbst wenn man die Deutung Clasens innerlich als Werk eines „unsympathetic outsider who lacked religious sensitivities“ 99 abtun mochte. 100 Die von James M. Stayer in seiner Monographie Anabaptists and the Sword (1972) ausgeübte Kritik dagegen musste auch in konservativen Kreisen ernst genommen nehmen. 101 Mit seiner Studie hat Stayer wesentlich dazu beigetragen, dass „das gängige Täuferbild zerstört“ wurde. 102 In der auf umfangreichen Quellenrecherchen beruhenden Untersuchung der politischen Ethik im Täufertum beschrieb Stayer eine Fülle an täuferischen Einstellungen gegenüber der Anwendung von Gewalt, die von der Ablehnung jeder körperlichen Gewalt bis hin zu gewaltgesättigten apokalyptischen Kreuzzugsvisionen reichten. Es erschien nunmehr unmöglich, am Konzept eines einheitlichen, pazifistisch gesinnten Täufertums festzuhalten. Außerdem zeigte Stayers Studie eindrücklich die Verwobenheit religiöser und sozialer bzw. politischer Motive bei den Täufern. 103 Unter anderem mit dieser Arbeit Stayers begann sich in der Täuferforschung die Tendenz sichtbar zu werden, „die isolierende Betrachtung des Täufertums aufzuweichen und es im gesamten reformatorischen Kontext zu 97 Entsprechend richtete sich das Interesse marxistischer Forscher auf die revolutionär eingestellten Täufer wie etwa Hans Hut oder die Münsteraner. Diese haben das „im Volk schlummernde Aufstandpotential“ durch den Rückgriffauf chiliastische Traditionen des Mittelalters (Waldenser, Taboriten) aufs Neue entfacht. Deppermann, Melchior Hoffman, S. 18f. Zur marxistischen Täuferforschung siehe z. B. Brendler, Das Täuferreich zu Münster 1534/ 35; Steinmetz (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg; Zschäbitz, Die Stellung der Täuferbewegung; Ders., Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung. Für einen Überblick der marxistischen Täuferforschung siehe Deppermann, Melchior Hoffman, S. 18-19; Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 31-36. 98 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 19. 99 Packull, Hutterite Beginnings, S. 7. 100 Allerdings übersah Clasen, dass seine eigene anti-ideologische Einstellung nicht weniger subjektiv ist als die marxistisch oder christlich geleiteten Deutungen. Sein „personal conservatism“ verleitete ihn zur Interpretation, die Täuferbewegung habe gesellschaftlich keine tiefgehenden Veränderungen bewirken können und sei im Ganzen marginal geblieben. Vgl. Elton, Anabaptism, S. 856. Die beträchtliche Kritik, die Clasens statistischen Erhebungen entgegengebracht wurde, wird unten im Kap. 2.2.3. behandelt. 101 Stayer, Anabaptists and the Sword. Stayer unternahm in dieser Studie auch den Versuch, die Täufer aufgrund ihren Einstellungen zur Gewalt neu zu typologisieren. Diese Typologisierung musste er wegen letztlich hinderlichem Schematismus auf in der revidierten zweiten Auflage 1976 der Arbeit jedoch wieder aufgeben. Vgl. Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 81. 102 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 81. 103 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 16; Packull, Hutterite Beginnings, S. 7. <?page no="30"?> 31 erfassen“. 104 Weitere Studien trugen dazu bei, das Phänomen immer weiter auszudifferenzieren. 105 Insgesamt wurde ab Mitte der 1970er Jahre zunehmend das Bild eines äußerst heterogenen Täufertums entworfen, in das neben zwinglischem und lutherischem u. a. auch mystisches, apokalyptisches, scholastisches und erasmisches Gedankengut einfloß. Auch Gedanken von Müntzer und Karlstadt wirkten hier fort. 106 Berühmt ist der programmatische Aufsatz „From Monogenesis to Polygenesis: The Historical Discussion of Anabaptist Origins“ geworden, den James M. Stayer, Klaus Deppermann und Werner Packull in der Mennonite Quarterly Review im Jahre 1975 veröffentlichten. Statt die Wurzeln der Täufer wie bisher üblich ausschließlich auf die Schweizer Täufer zurückzuführen, gruppierten die Autoren die Täufer in drei Strömungen schweizerischen, oberdeutsch-österreichischen und norddeutsch-niederländischen Ursprungs. 107 Die Polygenesis-Theorie ist der Grundstein der revisionistischen Täuferforschung, dessen zentrale Aussage weitgehend - wenn auch mittlerweile mit einigen Abschwächungen - anerkannt wird. 108 Abschließend ist auf das umfangreiche Werk von Hans-Jürgen Goertz als einen der bedeutendsten Revisionisten hinzuweisen. Goertz hat immer wieder den Antiklerikalismus als treibende Kraft der täuferischen Bewegungen und die Nähe der Täufer zum ‚gemeinen Mann‘ betont. 109 Insbesondere die Anfänge der Täu- 104 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 81. Dass die die Heterogenität und ‚Polygenese‘ der Täuferbewegung betonende Forschungsrichtung nicht ohne Kritik blieb, verdeutlicht bereits die Titelwahl des Sammelbandes Goertz, Umstrittenes Täufertum, aus dem Jahre 1975. 105 Die lange vernachlässigten Beziehungen zwischen Täufertum und Bauernkrieg wurden erstmals von James M. Stayer und Hans-Jürgen Goertz in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren näher untersucht. Beide konnten bis dahin weitgehend abgestrittenen Zusammenhänge zwischen Täufern und aufständischen Bauern nachweisen. Stayer konnte außerdem zeigen, dass ursprünglich auch die Schweizer Täufer eine Praxis der Gütergemeinschaft anstrebten, sie aber nicht verwirklichen konnten. Unter dem Einfluss Thomas Müntzers bereiteten die Täufer in Süddeutschland und Österreich den gedanklichen Boden für eine rigorose Gütergemeinschaft vor, die später bei den hutterischen Brüderhöfen in Mähren in die Tat umgesetzt wurde, ein Unterfangen, das von Stayer als radikalstes soziales Experiment der Zeit charakterisiert wurde. Aus dieser Perspektive musste selbst die Täuferherrschaft von Münster als legitime Form des Täufertums erscheinen. Schließlich belebten sozialhistorische Ansätze auch die Erforschung der Täuferherrschaft in Münster und der niederländischen Täufer. Deppermann, Melchior Hoffman, Goertz, Aufständische Bauern, Ders., Religiöse Bewegungen, S. 83-85; Klötzer, Die Täuferherrschaft von Münster; Packull, Hutterite Beginnings, S. 10f.; Stayer, The German Peasants‘ War. 106 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 81f., 85; Packull, Mysticism; Seebaß, Müntzers Erbe. 107 Stayer & Packull & Deppermann, From Monogenesis to Polygenesis; Stayer, The Anabaptists, S. 32. Werner O. Packulls Studie zu den täuferischen Gütergemeinschaften (1995) trug weiter dazu bei, die Unterschiede zwischen den täuferischen Gruppen herunterzubrechen, da sowohl die Schweizer als auch die oberdeutsch-österreichischen und die mährischen Täufer in ihren Überlegungen zur Organisation des Gemeindelebens auf die gleichen neutestamentlichen Vorbilder zurückgriffen. Allerdings waren es nur die Hutterer in Mähren, die das ‚Modell Jerusalem‘ beibehalten und institutionalisieren konnten. Vgl. Packull, Hutterite Beginnings. 108 Siehe z. B. Snyder, Swiss Anabaptism: The Beginnings, S. 47f. 109 In Anlehnung an Peter Blickles Konzept der Gemeindereformation hat Goertz die Entstehung <?page no="31"?> 32 fer sieht er im engen Zusammenhang „mit der historisch höchst bedeutsamen Anstrengung des ‚gemeinen Mannes‘, seine eigene Vorstellung von einem besseren Leben durchzusetzen“. 110 Es war gerade dieses Streben nach der ‚Besserung des Lebens‘, den die Täufer trotz theologischer Differenzen gruppenübergreifend teilten. Dieses Streben speiste sich aus einer „antiklerikalen Grundhaltung“, die sich laut Goertz auch in den vielfältigen theologischen Lehren der Täufer widerspiegelt. Gleichzeitig war es aber gerade der Antiklerikalismus, der die Täufer mit anderen Akteuren der Reformation verband. 111 Goertz hat für die Nutzung und Weiterentwicklung des Antiklerikalismus als zukunftsträchtiges Deutungskonzept der Forschung plädiert, mit dem die verschiedenen Aspekte des Täufertums zusammengebracht werden können: „Im Konzept des Antiklerikalismus verbinden sich religiöse mit politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen, in diesem Konzept wird auch der Zusammenhang des Täufertums mit anderen reformatorischen Bewegungen und seine Verknüpfung mit mittelalterlichen Traditionen im Auge behalten. Dieses Konzept bietet sich geradezu an, die vielfältigen Aspekte der revisionistischen Täuferforschung miteinander in Beziehung zu setzen.“ 112 Darüber hinaus hat Goertz die Notwendigkeit betont, den täuferischen Lebensformen und der Rezeption täuferischer Lehren durch die Täufer und Täuferinnen „im zweiten Glied“ 113 nachzugehen. Die womöglich deutlich von den Gedanken der Vorsteher abweichenden Vorstellungen der ‚gemeinen‘ Täufer und Täuferinnen seien als ebenso legitime Erscheinungsformen des Täufertums anzuerkennen wie die ersteren. 114 und Wirkungsmacht der reformatorischen Bewegungen folgendermaßen beschrieben: „Reformatorisches Potential baut sich ‚von unten‘ auf und wird v. a. zur Bewegung des ‚gemeinen Mannes‘, die sich gegen die Herrschaft in der Stadt und auf dem Lande richtet, um reformatorische Erneuerungsprozesse einzuleiten. Im Hinblick auf die Obrigkeiten, die ihren Auftrag darin sahen, für Ruhe und Ordnung in ihrem Herrschaftsgebiet zu sorgen, stellte eine solche Bewegung eine Bedrohung dar, sie untergrub die geltende Rechtsordnung und erwies sich darin als radikal.“ Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 64. Vgl. Blickle, Gemeindereformation. 110 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 81. 111 „Der Antiklerikalismus, in seiner latenten oder manifesten Form, war der ‚Sitz im Leben‘ aller reformatorischen Bewegungen, er wurde in den einzelnen Bewegungen jedoch auf unterschiedliche Weise verarbeitet.“ Die Täuferbewegung aber sei es gewesen, die als eine zunehmend von Laien getragene Bewegung in einem besonderen Maße dazu tendierte, den „frommen Laien“ als Gegenbild des negativ dargestellten Klerikers zu stilisieren. Ebd., S. 86f. 112 Ebd., S. 87. In seinem Buch Die Täufer: Geschichte und Deutung (1980/ 1988) hat Goertz bereits den Versuch unternommen, das Täufertum aus einer sozialhistorischer Perspektive zu betrachten und den vielfältigen Prozessen nachzugehen, warum und wie bestimmte Vorstellungen von den Täufern aufgenommen wurden. Zum umfangreichen weiteren Werk von Goertz siehe z. B. Ders., Antiklerikalismus und Reformation; Ders., Das schwierige Erbe; Ders., Pfaffenhaß. 113 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 88. 114 Goertz, Die ‚gemeinen Täufer‘, S. 292f.; Ders., Religiöse Bewegungen, S. 89. <?page no="32"?> 33 1.2.2. Konfessionalisierungs- und Policeyforschung: Vom Etatismus zum Wechselwirkungsmodell Das Paradigma der Konfessionalisierung wurde in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren insbesondere von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard unabhängig voneinander entwickelt, dem jedoch Vorarbeiten u. a. Ernst Walter Zeedens zur Konfessionsbildung und Gerhard Oestreichs Konzept der Sozialdisziplinierung vorausgingen. 115 Seitdem ist die Konfessionalisierung häufig eng mit der Sozialdisziplinierung verknüpft und als Teil derselben verstanden worden, „so daß die Verbindung zweier Wissenschaftsparadigmen vollzogen zu sein scheint“. 116 Um mit der vielzitierten Definition Heinz Schillings aus dem Jahre 1988 einen wichtigen Bezugspunkt der Debatte in Erinnerung zu rufen, verstand dieser Konfessionalisierung als „gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte, und zwar in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenläufiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates und mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft [...]“. 117 Schillings Perspektive auf die drei Großkonfessionen im Reich ist hier der einer vergleichenden Strukturgeschichte. 118 Historischer Wandel wird durch das Zusammentreffen abstrakter Kräfte erzeugt, etwa durch die „von Trient und Genf her ins Reich einbrechende theologisch-religiöse Dynamik“ und die „säkulare Dynamik des frühmodernen Staates“. 119 Innerhalb dieses Zusammenpralls von Dynamiken erwies sich laut Schilling die Konfessionalisierung - ebenfalls eine weitgehend anonyme historische Gewalt - als „Katalysator des gesellschaftlichen Wandels“. 120 Das Durchsetzungsvermögen der obrigkeitlichen Konfessionalisierungsmaßnahmen bleibt unhinterfragt. 121 Die Folgen einer derart erfolgrei- 115 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 62f.; Schulze, Konfessionalisierung als Paradigma, S. 17f.; Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staats; Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit; Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 639-641; Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff ‚Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit‘; Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen; Ders., Grundlagen und Wege. Jüngst auch Reinhard, Konfessionalisierung. 116 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 95. 117 Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich, S. 6. Sein Konfessionalisierungskonzept hat Schilling erstmals formuliert in: Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Etwas linearer hatte Wolfgang Reinhard die Konfessionalisierung als „eine mit beachtlicher Regelmäßigkeit durchlaufende Frühphase moderner europäischer Staatsbildung“ beschrieben. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? , S. 257. 118 Schilling, Konfessionalisierung, S. 7. 119 Ebd., S. 11. 120 Ebd., S. 13. 121 Ähnlich ist die Deutung Wolfgang Reinhards angelegt. Wie Schilling betont auch Reinhard die enge Verzahnung der Konfessionalisierung mit dem Entstehen des frühmodernen Territorial- <?page no="33"?> 34 chen Konfessionalisierung werden im Hinblick auf die neuzeitliche Entwicklung Deutschlands zusammengefasst. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern habe sich die Konfessionalisierung im Reich insgesamt disziplinierend und sozial sowie politisch integrierend ausgewirkt. Den größten Gewinn habe der territoriale Fürstenstaat in seiner frühabsolutistischen Form erreicht und zwar unabhängig von der Konfession. 122 Gleichzeitig habe die Konfessionalisierung die „religiöse, politische und gesellschaftliche Opposition“ innerhalb der Territorien wie auch auf Reichsebene verschärft. Sie führte also zur internen Verfestigung der jeweiligen Konfessionsblöcke und zu einer interkonfessionellen Polarisierung. So gesehen setzte die Konfessionalisierung im Reich sowohl integrative als auch konfliktförderne Impulse frei. 123 Das Konfessionalisierungsparadigma von Schilling und Reinhard hat von Anfang an Kritik hervorgerufen. 124 Noch weit in die 1990er Jahre hinein wurde beklagt, die deutsche Reformations- und Konfessionalisierungsforschung sei etatistisch verengt, konfessionell gefärbt und in erster Linie an ideen- oder strukturgeschichtlichen Fragen interessiert. 125 Zudem wurde - analog zum Interesse der Täuferforschung an den ersten Jahrzehnten täuferischen Wirkens - bemängelt, dass der Prozess der Konfessionalisierung weitaus weniger erforscht sei als die Reformation. 126 Als „besonders trostlos“ bezeichnete Heinrich Richard Schmidt im Jahre 1992 die Situation in Bezug auf die „Konfessionalisierung der Laien“. 127 An dieser Stelle soll weniger auf die am zeitlich parallelen Ablauf der Konfessionalisierung innerhalb der Großkirchen geäußerte Kritik oder auf die Debatten um die „konfessionelle Wahrheitsfrage und die ‚Propria‘ der Konfessionen“ einstaates. Er richtet seine Studie mit der leitenden Fragestellung ‚wie entstehen Kirchen? ‘ entsprechend aber stärker auf die „methodische Herstellung“ der Konfessionskirchen aus, mit denen konfessionelle Großgruppen geschaffen werden sollten. Der Erfolg dieser Maßnahmen wird stillschweigend vorausgesetzt. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? , insbes. S. 263-268. 122 Schilling, Konfessionalisierung, S. 38. 123 Ebd., S. 38-40. 124 Die Debatte kann hier nicht in aller Ausführlichkeit nachgezeichnet werden. Wichtige Impulse für die Diskussion lieferten drei Tagungsbände, die sich jeweils einen der drei Großkonfessionen widmeten: Reinhard & Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung; Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung; Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung. Weiterführend siehe z. B. den Forschungsüberblick bei Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 62-79; Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 20-37, und Schmidt, Konfessionalisierung, S. 116-122. 125 Karant-Nunn, The Reformation of Ritual, S. 1; Schmidt, Konfessionalisierung, insbes. S. 119f. Zur Forschungsgeschichte siehe mit jeweils weiterführenden Literaturhinweisen Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter; Greyerz & al. (Hg.), Interkonfessionalität; Schulze, Konfessionalisierung als Paradigma; Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese. 126 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 55f. 127 Schmidt räumt ein, dass dies auch in vieler Hinsicht an den Schwierigkeiten der Quellenüberlieferung liegen mag. Weiter hält er fest, dass Fragen nach der Religiosität der Laien in erster Linie im Rahmen der Kirchenvisitationen nachgegangen worden ist. Schmidt, Konfessionalisierung, S. 61-67 (Zitat: S. 61). <?page no="34"?> 35 gegangen werden. 128 Wichtiger erscheint für die vorliegende Studie der gegen Schilling und Reinhard erhobene Vorwurf einer verengenden, wenn nicht sogar grundlegend irreführenden, etatistisch-obrigkeitlichen Perspektive. Diese Kritik wendet sich gegen die Grundannahme Schillings und Reinhards, dass „die Konfessionalisierung vom Staat in Gang gesetzt oder wesentlich mitbestimmt wurde und dass sie sich deshalb als ein Prozess erwies, der von oben nach unten lief“. 129 Insbesondere Heinrich Richard Schmidt hat sich gegen das etatistische Erklärungsmodell im Allgemeinen und gegen die Bewertung der Sittenzucht als allein obrigkeitliches Anliegen im Besonderen gewandt, wie sie v. a. durch Reinhard in der Verkoppelung von Konfessionalisierung mit Sozialdisziplinierung vorgenommen wurde. Schmidt dagegen argumentiert, dass die etatistische Deutung auf einer inkorrekten Auffassung von frühmoderner Gesellschaft basiert. Er gibt darüber hinaus zu bedenken, dass es auch Konfessionalisierung in „nichtfürstlichen Territorien“ gab und macht somit plausibel, dass die enge Verknüpfung von Territorialstaat und sozialdisziplinierender Konfessionalisierung nicht haltbar ist: „Weil der Staat gar nicht überall mit der Konfessionalisierung verbunden war, kann diese nicht als essentiell ‚staatlich‘ definiert werden. Das etatistische Element ist ein Akzidenz, kein Essentiale, kein Strukturmerkmal - wo es überhaupt zur Konfessionalisierung dazukommt. Damit ist die Verengung, die das Konfessionalisierungs-Paradigma durch seine Zwangsvereinigung mit Oestreichs ‚Sozialdisziplinierung‘ erfuhr, ein Irrweg.“ 130 Es helfe nicht, den Blick auf den Staat von ‚oben‘ nach ‚unten‘ zu verlegen, denn damit löse man die dominante Rolle des Staates nicht auf. Schmidt fordert statt dessen, die Gemeinde als „Fundament der Gesellschaft“ in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken. 131 Nur wenn man die Konfessionalisierung „von der Lebensbewältigung der einfachen Leute her betrachtet“, könne man erkennen, „wie stark die Gesellschaft ‚eingebettet‘, lokal orientiert, d.h. kommunalistisch geprägt 128 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 67. 129 Ebd., S. 68. Siehe auch Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 26f. 130 Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 660. Schmidts These wird durch die Arbeiten Andrea Chudaskas und Astrid von Schlachtas bestätigt, die die bewusste Ausformierung der eigenen Konfession auf die hutterischen Täufer bezogen haben. Chudaska, Peter Riedemann; Schlachta, Hutterische Konfession. 131 Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 681. In diese Richtung weist auch Achim Landwehrs Beobachtung, „Ansprüche obrigkeitlicher Normen ihrer faktischen Nichteinhaltung gegenüber zu stellen, durchbricht nicht wirklich die in der Geschichtswissenschaft vielfach bemängelte ‚Sicht von oben‘. Vielmehr werden dadurch herrschaftliche Kategorien nur mit einem anderen Vorzeichen versehen. Herrschaftliche Kategorien bleiben es aber nichtsdestotrotz, da danach gefragt wird, inwieweit die obrigkeitlichen Ansprüche eingehalten wurden, nicht jedoch, wie die Adressaten mit den Normen umgingen.“ Landwehr, Policey vor Ort, S. 49. <?page no="35"?> 36 war“. 132 Auf dieser Ebene haben auch verallgemeinernde makrohistorische Überlegungen anzusetzen. 133 Die Forschung hat sich im Bereich der Verwaltungsgeschichte und der historischen Kriminalitätsforschung in den letzten Jahren kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwiefern die in den Policeyordnungen aufgeführten Normen in der Praxis um- oder gar durchgesetzt worden sind. 134 Jüngst hat Achim Landwehr den herkömmlichen Begriffder Normdurchsetzung, der von einer binären Gesellschaftsstruktur ausgeht, kritisiert und darauf hingewiesen, dass an einer Herrschaftsbeziehung immer eine Mehrzahl von Akteuren in einem reziproken Prozess beteiligt ist. Außerdem sei eine erfolgreiche Durchsetzung der Normen mit historischen Methoden gar nicht messbar. Vielmehr solle man laut Landwehr von ‚Normimplementierung‘ oder genauer: von „in bestimmte politische, gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Verhältnisse“ eingesetzte Normen sprechen. Landwehrs Ansatz öffnet den Blick dafür, dass eine Norm nach ihrer Implementierung „zu einem Bestandteil im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander“ wird und Handlungen auslöst, „die das Feld der Herrschaft immer wieder neu strukturieren“. 135 Vergleichbare Positionen sind von anderen Wissenschaftlern vertreten worden. 136 Jürgen Schlumbohm hat sogar darauf hingewiesen, dass es den frühneuzeitlichen Obrigkeiten in erster Linie nicht darum ging, die erlassenen Gesetze als solche durchzusetzen: „In gewisser Weise hatte offenbar das Erlassen und - zunehmend - Publizieren von Gesetzen seinen Sinn in sich selbst.“ 137 Ebenso wenig sei wiederholtes Erlassen von Ordnungen ein Indiz dafür, dass attestierte Mängel nicht behoben werden konnten. Vielmehr sieht Schlumbohm das Erlassen von Gesetzen und Ordnungen als „wesentliches Feld der Selbstdarstellung“ der Obrigkeiten im frühneuzeitlichen Staat an. 138 Es sollte also durch die frühneuzeitlichen Ordnungen und Normen Obrigkeit v. a. repräsentiert werden. Das bedeutete zum einen, dass sich die Obrigkeit „als Obrigkeit [zeigte], und zwar gegenüber den eigenen Untertanen wie nach außen gegenüber anderen 132 Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 681f. 133 Weiterführende Überlegungen zur Vereinbarkeit der makro- und mikrohistorischen Ebenen finden sich bei Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 34-37, der die Debatte um die Konfessionalisierung als „eine Spielart der Auseinandersetzung zwischen Gesellschaftsgeschichte und Historischer Anthropologie“ deutet (Zitat: S. 36). 134 Zur Definition der frühneuzeitlichen Policey sowohl als einem „angestrebten Ordnungszustand“ als auch die „dazugehörige herrschaftliche Tätigkeit“ siehe Simon, ‚Gute Policey‘, S. 111f. Zu aktuellen Perspektiven der Kriminalitätsgeschichte mit weiterführenden Literaturhinweisen siehe z. B. den Sammelband Habermas & Schwerhoff (Hg.), Verbrechen im Blick. 135 Landwehr, ‚Normdurchsetzung‘, S. 151-157 (Zitat: S. 157). 136 Siehe z. B. Dinges, Normsetzung als Praxis? ; Holenstein, Die Umstände der Normen; Holenstein & Al. (Hg.), Policey in lokalen Räumen; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 347-378; Sabean, Das zweischneidige Schwert; Schlumbohm, Gesetze; Wegert, Popular Culture. 137 Schlumbohm, Gesetze, S. 659. 138 Ebd., S. 661. <?page no="36"?> 37 Herrschaften“. 139 Zum zweiten erwies sich die Obrigkeit dadurch „als gute Obrigkeit“, indem sie verkündete, dass „sie durch Ge- und Verbote die rechte Ordnung proklamierte“.“ 140 Somit war der symbolische Aspekt beim Erlassen von Ordnungen „ebenso wichtig, manchmal wichtiger, als die Absicht, tatsächliches Verhalten zu ändern“. 141 Schlumbohms These weist somit auf die Multifunktionalität frühmoderner Policey hin; entsprechend vielseitig sollten obrigkeitliche Verordnungen gelesen und gedeutet werden. Inzwischen sind Arbeiten erschienen, die sich zunehmend differenziert mit der Konfessionalisierung auseinandersetzen. Viele davon sind der Reichweite der obrigkeitlich geforderten Sittenzucht und damit zusammenhängend den Tendenzen zur Selbstdisziplinierung der Gemeinden insbesondere in lutherischen und reformierten Gebieten nachgegangen. 142 Die intensivierte Auseinandersetzung mit der Konfessionalisierung hat mittlerweile sogar zur Feststellung geführt, die Konfessionalisierungsforschung sei „zu einem Generalthema der Frühneuzeitforschung avanciert“. 143 Ein wichtiger Grund hierfür liegt in den aus den im weitesten Sinne kulturgeschichtlich orientierten Studien gewonnenen Impulsen, die den ‚Blick von oben‘ gründlicher Kritik unterzogen und die Komplexität der Konfessionalisierung(en) als historischen Wechselwirkungsprozess gezeigt haben. 144 Dennoch kann von keinem allgemeinen Paradigmenwechsel zugunsten kulturhistorischer Deutungen die Rede sein. Vielmehr stehen heute strukturgeschichtlich und kulturhistorisch ausgerichtete Untersuchungen nebeneinander; dieser Umstand schlägt sich auch in den teils offensiven und teils apologetischen Stellungnahmen der Forscher nieder. Tatsächlich scheint „die Diskussion um die Konfessionalisierung in das Zentrum der Debatte um die ‚neue Kulturgeschichte‘“ zu führen. 145 Gerade hier verbirgt sich auch das enorme Potential der derzeitigen pluralistischen Konfessionalisierungsforschung. Es öffnen sich auf diesem Gebiet vielfältige Möglichkeiten, das „methodisch[e] Rüstzeug zu überprüfen“ 146 139 Ebd., S. 660. 140 Ebd., S. 660. 141 Ebd., S. 660. 142 Siehe z. B. Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung, S. 37-40; Schmidt, Dorf und Religion; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin. Für weitere empirische Ausdifferenzierungen des Konfessionalisierungsparadigmas siehe die vielfältigen Beiträge in den Sammelbänden Greyerz & al., Interkonfessionalität, sowie zuletzt Kaufmann & Schubert & Greyerz (Hg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. 143 Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 4. 144 Siehe z. B. Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion; Flüchter, Zölibat; Holzem, Religion und Lebensformen; Schmidt, Dorf und Religion; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin. Speziell zu Württemberg siehe Tolley, Pastors and Parishioners; Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung. 145 Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 36. 146 Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 5. Dies trifft in besonderm Maße auf die als „‚Gretchenfrage’ für die Konfessionalisierungsforschung“ bezeichnete ‚Konfessionalisierung der Laien‘ zu. Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 29. Zuerst ist das Bild von Schmidt, Konfessionalisierung, S. 61, benutzt worden. <?page no="37"?> 38 und neue Konzepte auszuarbeiten, die die vielfältige Frühneuzeitforschung der letzten Jahre und Jahrzehnte in einem multiperspektivischen Bild der Epoche integrieren können. Eine nähere Betrachtung ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz Antje Flüchters zu der symbolischen Dimension der Herrschaft wert, wie sie in den frühneuzeitlichen Visitationen zu beobachten ist. In Anlehnung an Schlumbohm hat Antje Flüchter eine kulturalistische Perspektive auf die Erforschung politischer Herrschaft eingefordert, die „obrigkeitliches Handeln als symbolisches Handeln versteht“, um frühmoderne Staats- und Konfessionsbildung tiefergehend zu erfassen als es die bisherige Konfessionalisierungsforschung getan hat. 147 Bisher seien Flüchter zufolge auf dem von Reinhard und Schilling eingeschlagenen Weg in erster Linie sozialgeschichtliche Aspekte des Konfessionalisierungsprozesses beleuchtet worden, die durch die konzeptionelle Verknüpfung von Staatsbildung und Konfessionalisierung den Aufstieg des frühmodernen Staates erklärt haben wollen. Es ist jedoch laut Flüchter inzwischen mehrfach gezeigt worden, dass „die nach dem Modell der Konfessionalisierung angestrebte konfessionelle Homogenität der Untertanen oder gar ihre umfassende soziale Disziplinierung nicht erreicht worden ist“. Bisher habe die Konfessionalisierungsforschung außerdem kaum nach „einem symbolischen, repräsentativen oder performativen Mehrgewinn“ gefragt, „den die Konfessionalisierung den Landesherren geboten haben mag“. 148 Flüchter zufolge bietet es sich in diesem Zusammenhang an, die Ansätze einer kulturalistisch orientierten Policeyforschung für die Interpretation der Konfessionalisierung fruchtbar zu machen. Sie konstatiert, dass der entstehende Staat sich durch den aktiv vorangetriebenen Prozess der Konfessionalisierung „sichtbar“ gemacht und diesen geschickt für die eigenen Zwecke eingesetzt hat: „Durch ihr Engagement in der Kirchenpolitik konnten sich die Landesherren eine neue Bühne aneignen, auf der sie sich inszenieren und repräsentieren konnten, eine Bühne, die über das Feld der ‚guten Policey‘ hinausging und die Qualität der ‚guten Herrschaft‘ transzendierte. Daher ist symbolisches Handeln auch im Rahmen des Konfessionalisierungsprozesses ein Konstituens jeder - gerade auch der politischen - Ordnung. Nimmt man diese Dimension des Konfessionalisierungsprozeß [sic] nicht ernst, kann seine Bedeutung für den entstehenden Staat nicht ganz erfaßt werden.“ 149 Im Unterschied zu Heinrich Richard Schmidt, der die Bedeutung der Gemeinden und des frühneuzeitlichen Kommunalismus als Kern der Gesellschaft betont, möchte Flüchter den Staat und die staatlichen Akteure weiterhin in einer zentralen Rolle sehen. Ihr Handlungsradius soll jedoch um den des symbolischen Agierens erweitert werden. 147 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 225. 148 Ebd., S. 231-233. 149 Ebd., S. 251. <?page no="38"?> 39 Gleichzeitig plädiert sie für eine schärfere konzeptionelle Trennung der Begriffe ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘, die ihres Erachtens „gerade im Rahmen neuerer Ansätze immer mehr ausgeweitet und geradezu ubiquitär verwendet“ werden und so „zwangsläufig an Trennschärfe“ verlieren. Ohne in die Positionen der „alten Politikgeschichte“ zurückfallen zu wollen, definiert sie politische Macht und Herrschaft als „diejenigen Handlungen einer Instanz, die den Anspruch auf Steuerung gegenüber einem Kollektiv erhebt, also darauf, in gesellschaftlich relevanten Fragen Entscheidungen zu treffen und regulierend einzugreifen“. 150 Dabei soll zwar nicht von einer „Einbahnstraße des Befehlens und Gehorchens“ ausgegangen und einseitig nach der Durchsetzung obrigkeitlicher Normen gefragt werden. Vielmehr möchte Flüchter obrigkeitliches Handeln stärker in den „größeren Zusammenhang des symbolischen Handelns und einer performativen Politik“ einordnen. Diese Faktoren sieht sie für die frühneuzeitliche Gesellschaft als notwendige Voraussetzung der abstrakten Größen ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ an, damit diese überhaupt „als ‚wirklich‘ akzeptiert und wahrgenommen wurden“. Untertanen werden in Flüchters Modell also nicht gänzlich ausgeblendet, jedoch weitgehend in die Rolle von Rezipienten - oder: Zuschauern - des in Szene gesetzten obrigkeitlichen Handelns reduziert. „Nur visualisiert“, schreibt Flüchter, konnten obrigkeitliche Anliegen in der Gesellschaft vermittelt und „in die Deutungszusammenhänge der Zeitgenossen integriert“ werden. 151 Hiermit hat Flüchter zweifellos den Blick auf eine wichtige, vielfach vernachlässigte Dimension von Herrschaft gelenkt. Recht zu geben ist ihrem Verständnis von Symbolen als „etwas, das strukturiert ist und selber strukturiert“. 152 Wie Flüchter betont, müssen sich Symbole gegen konkurrierende Deutungsmuster durchsetzen, um Realität konstituieren zu können; es handelt sich also um kulturell verankerte „Kämpfe um die Definitionsmacht“. 153 Diese können sich etwa in der Ausformung und im Erlassen von Gesetzen manifestieren. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang die aus der Politikwissenschaft hergeleitete Unterscheidung zwischen instrumentellen und symbolischen Gesetzen. Während erstere konkrete Sachverhalte nachdrücklich durchzusetzen versuchen, verfolgen letztere gesellschaftlich integrative Ziele wie etwa die Verstärkung von sozialen Werten, die Stärkung des Vertrauens der Untertanen in den Staat oder gesellschaftliche Konfliktregulierung. 154 Flüchter selbst geht von einer „Doppelnatur“ frühmoderner Gesetzgebung aus, so dass zu den instrumentellen Zwecken der Gesetze ein symbolischer „Mehrwert“ hinzukommt, der erst durch eine interpretative Forschungsleistung sichtbar gemacht werden kann. 155 Konfessionalisierung wird in diesem Rahmen als eine nicht zuletzt mit symbolischen Mitteln verfolgte 150 Ebd., S. 227. 151 Ebd., S. 228. 152 Ebd., S. 230. Siehe auch Habermas, Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited, S. 33f., 40. 153 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 230f. 154 Ebd., S. 229. 155 Ebd., S. 230. <?page no="39"?> 40 „herrschaftliche Strategie“ gedeutet, durch das die politischen Ziele und Herrschaftsbestrebungen der Landesherren im 16. Jahrhundert „religiös aufgeladen und legitimiert“ wurden. 156 Landesherrliche Ordnungen sind dabei - symbolisch wie instrumentell - als „Orientierungsangebote“ zu verstehen, 157 die jedoch, um Gehör zu finden, visuell inszeniert werden mussten, wie dies etwa in den landesherrlichen Visitationen geschah. 158 So lobenswert die Erweiterung von dem Deutungsmuster obrigkeitlichen Handelns ist, so bedenklich bleibt die enge Perspektive auf Macht und Herrschaft, will man mit Flüchters Modell gesamtgesellschaftliche Phänomene erfassen. Flüchter postuliert bewusst einen Blickwechsel innerhalb der kulturhistorischen Forschung von den unteren Ebenen der Gesellschaft hin zu deren Spitze: „Mit der kulturgeschichtlichen Perspektive wurde bisher vor allem Geschichte ‚von unten‘ betrieben, doch spricht nichts dagegen, ähnlich mit dem Bereich des Politischen Verfahren, also dem Bereich, in dem Herrschaft und Macht angesiedelt wird.“ 159 Es muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass Herrschaft und Macht keineswegs ausschließlich im Umkreis der politischen Elite gefunden werden können, wie Flüchter hier anzudeuten scheint. 160 Entgegen Flüchters eng gefasster Definition von Macht und Herrschaft scheint vielmehr ein integrativer Ansatz geboten, der sowohl die vielfältigen Strategien der Obrigkeiten berücksichtigt als auch deren Resonanz im Laufe des Kommunikationsprozesses ‚nach unten‘ in den Blick nimmt und gegebenenfalls zurück nach ‚oben‘, da Konfessionalisierung, Sozialdisziplinierung und Verstaatlichung Heinrich Richard Schmidt zufolge doch zu großen Teilen gerade durch die Nachfrage aus der Bevölkerung getragen und ermöglicht wurden. 161 So plädiert Schmidt für ein ausgewogenes Wechselwirkungsmodell in der Deutung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: „Durch die Nachfrage nach Regulierung schuf sich die Gesellschaft den modernen Staat. Die Konfessionalisierungsforschung verfolgt nur dann ein echtes Wechselwirkungsmodell, wenn sie den im Diensthandeln an der Gesellschaft sich herausbildenden 156 Ebd., S. 235. 157 Ebd., S. 237. 158 Ebd., S. 244. 159 Ebd., S. 226f. 160 Vgl. z. B. Eibach, Versprochene Gleichheit, S. 511f., demzufolge alle Teilnehmer an (rechtlichen) Aushandlungsprozessen mit Macht ausgestattet waren, selbst wenn diese Macht sehr unterschiedlich gewichtet sein konnte. 161 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 100, 103; Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 666: „Man kann in Umkehrung der Verhältnisbestimmung, die die Sozialdisziplinierungsthese vornimmt, sagen: Die Untertanen schaffen und gestalten den Staat. Sie tun dies durch Vertreter in Landtagen [...], durch Eingaben und Suppliken [...] und durch gewaltsame und gerichtliche Aktionen [...]; schließlich sind sie es, die durch die Anrufung und Information von Amtsträgern und Gerichten Verwaltungshandeln in Gang setzen [...].“ Siehe auch Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 678-682. <?page no="40"?> 41 Staat als eine Seite betrachtet, aber nicht als die ursprüngliche, vorhandene und die Gesellschaft wie einen Gegenstand umwälzende Instanz. Der Staat stand dort, wo er erfolgreich in die Gemeinden hineinwirkte, in enger Verzahnung mit den Bedürfnissen und den kommunalen Selbstregulierungsorganen der Untertanen.“ 162 Weder Staat noch Untertanen dürfen im Modell fehlen. 163 Es wird am Beispiel der württembergischen Täufer und ihrer Bekämpfung zu überprüfen sein, inwieweit sich die unterschiedlichen Perspektiven Flüchters und Schmidts zu einer Gesamtdeutung zusammenbringen lassen. Grundsätzlich wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Obrigkeiten zwar die Normen und Rahmenbedingungen (auch durch symbolisches Handeln) vorgaben, den Prozess auf lokaler Ebene aber nur bedingt kontrollieren konnten. So müssen die beiden Parteien komplementär zueinander verstanden werden, d. h. weder der Staat noch die Untertanen konnten den Prozess in Alleingang steuern oder sind von diesem wegzudenken. Mehr noch: Ein bipolares Erklärungsmodell Staat vs. Untertanen ist reduktionistisch und muss durch eine Reihe von Zwischeninstanzen bzw. Mittelsmänner ergänzt werden. Somit kann der Prozess der Konfessionalisierung - so hilfreich er als idealtypisches Interpretament auch sein mag - nur an spezifischen historischen Beispielen erfasst und dingfest gemacht werden. 164 1.2.3. Visitationsforschung: Dominanz katholischer Zugänge Obwohl der Quellenwert der Visitationsakten in der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung schon lange anerkannt worden ist, wurden sie zunächst überwiegend in lokalhistorischen Studien herangezogen. Eine systematische editoriale und geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Kirchenvisitationsakten setzte erst in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren unter der Leitung Hansgeorg Molitors und Ernst Walter Zeedens ein. 165 Ein Ziel des in 162 Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 680. 163 Selbst Heinz Schilling hat mittlerweile eine mögliche Überbewertung des Staates im Konfessionalisierungsparadigma eingeräumt, ohne jedoch sein Konzept der obrigkeitlichen Konfessionalisierung zugunsten einer „Volks- oder Gemeindekonfessionalisierung“ aufzugeben. Diesem Gesinnungswandel Schillings hat Heinrich Richard Schmidt vorgeworfen, sie habe den Etatismus als Deutungsahmen letztlich nicht aufgegeben, sondern versuche vielmehr rückwirkend an der Legende zu stricken, das Konfessionalisierungsparadigma sei von Anfang an ein flexibles Modell gewesen, in dem sich auch antietatistische Impulse problemlos integrieren lassen. Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 29; Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 643, 645f. 164 Siehe dazu z. B. Dixon, Die religiöse Transformation, S. 27-30; Schmidt, Konfessionalisierung, insbes. S. 116-122. 165 Konersmann, Kirchenvisitation, S. 603; Lang, Die Bedeutung der Kirchenvisitation, S. 211; Ders., Die Erforschung, S. 185f. Für einen Überblick der Forschungsgeschichte siehe Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, insbes. S. 15-33. Das Visitationswesen im südwestdeutschen Raum ist insbesondere von Helga Schnabel-Schüle bearbeitet worden. Siehe z. B. Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation; Dies., Kirchenvisitationen und Landesvisitationen. <?page no="41"?> 42 Tübingen angesiedelten Projektes war es, die „Formen und Methoden der Durchkonfessionalisierung“ 166 aus europäisch-vergleichender Perspektive zu erfassen. 167 Eine ausdifferenzierte Typologisierung der Visitationen sowie der im Zuge der Visitationen entstandenen Akten und ihrer Inhalte wurde von Peter Thaddäus Lang in den 1980er Jahren erarbeitet. 168 Lang unterschied bezüglich den Ausführungsarten der Visitationen (Mittelpunktvisitation, Visitationsreise, Einzelvisitation sowie Mischformen), den Entstehungszeitpunkt der Akten (vor, während und nach der Visitation) sowie nach inhaltlichen Gesichtspunkten der Protokolle. 169 Im letzteren Punkt wurde nach französischem Vorbild, wenn auch weniger detailliert, ein Katalog von 23 Themengebieten aufgestellt und die Häufigkeit dieser Punkte in den Visitationen statistisch dargestellt. 170 Diese lassen sich den von Lang einige Jahre zuvor anhand nachtridentinischer katholischer Visitationsakten erstellten sieben Themenfeldern zuordnen, die sich jeweils mit den Bereichen Geistlichkeit, Hilfspersonal, Gemeinde, sonstige Einrichtungen, Bauzustand und Ausstattung der Kirche sowie der Nebengebäude und zuletzt mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen beschäftigen. 171 Es ging der Visitationsforschung dieser Zeit somit zunächst darum, die teilweise weit zerstreuten Quellenbestände überhaupt zu erschließen, die Inhalte der Visitationen zu beschreiben und ein Bild von den Interessenschwerpunkten der Visitatoren bzw. der jeweiligen Kirchenleitung zu gewinnen. Hierbei wurde im Wesentlichen die Anschauung vertreten, die Akten ließen Einblicke in die tatsächlichen historischen Verhältnisse zu. Entsprechend hoch war der Stellenwert, der den Quellen eingeräumt wurde. So schrieben Ernst Walter Zeeden und Peter Thaddäus Lang im Jahre 1984: „An den Visitationen läßt sich ablesen, wie es mit den kirchlichen Zuständen bestellt war und in welchen Bereichen Reformen für notwendig erachtet wurden. Die Akten lassen erkennen, ob die Aufgabe mit Ernsthaftigkeit ergriffen oder eher nachlässig behandelt wurde. Sie geben Auskunft über die Mittel und Wege, deren man sich bediente. Änderungen der praktizierten Verfahren können auf einen Wandel der Zielvorstellungen hinweisen. Schließlich, jedoch nicht zuletzt, weisen sie auf, was alles jenseits von 166 Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung. Zit. nach: Konersmann, Kirchenvisitation, S. 604. 167 Siehe hierzu auch den vergleichend angelegten Sammelband Zeeden & Lang (Hg.), Kirche und Visitation. 168 Lang, Die Bedeutung der Kirchenvisitation, S. 207-212, Ders., „Ein grobes, unbändiges Volk“. Zu nennen sind auch die Untersuchungen von Bernard Vogler. Siehe z. B. Vogler, Le clergé protestant rhénan. 169 Lang, Die Kirchenvisitationsakten; Ders., Visitationsakten. 170 Die Forschergruppe um Dominique Julia und Marc Venard hatte bei der Konzeption der französischen Visitationsrepertorien einen Themenkatalog von mehreren hundert Punkten zusammengestellt. Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 137. Einen deutschsprachigen Überblick in die französische Forschung mit der Auflistung der Katalogpunkte gibt Venard, Die französischen Visitationsberichte. 171 Lang, Reform im Wandel, S. 133-137. <?page no="42"?> 43 Kirche, Glaube und Religion im engeren Sinn von den Überprüfungen mitbetroffen wurde, welche Bereiche im Raum des Profanen, im Bereich von Recht und Wirtschaft, von Politik und Gesellschaft, von Bildung, Erziehung und Kultur dabei berührt oder in stärkere Mitleidenschaft gezogen wurden.“ 172 Darüber hinaus wurde den Visitationen eine bedeutende Rolle und grundsätzlicher Erfolg im Ausbau der Konfessionskirchen und des frühmodernen Staates zugeschrieben, selbst wenn der Prozess nicht überall gleichzeitig einsetzte und nicht ohne Rückschläge verlief. 173 So habe die „im Zuge der Konfessionsbildung erfolgende Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Visitationstätigkeit, trotz aller ihr anhaftender Unvollkommenheiten, Bedeutendes erzielt“. 174 Nämlich: „Die Kirchen aller Glaubensrichtungen sind (bei größter Variationsbreite nach Ort, Zeit und Konfession) tatsächlich reformiert und in ihrer reformierten Gestalt gefestigt worden. Sie haben je auf ihre Weise die Geschichte der Länder und ihres Glaubens bis in die Tiefe hinein geprägt.“ 175 Über die Visitationsforschung der 1970er und 1980er Jahre hat Peter Thaddäus Lang im Jahre 1997 eine kritische Bilanz gezogen. Im Rückblick ließen sich mehrere Mängel in der deutschen Auseinandersetzung mit dem Thema erkennen: Nicht nur hätten eine unglückliche Konzeption und praktische Schwierigkeiten das Editions- und Erfassungsprojekt deutlich erschwert und verschleppt. 176 Im Rahmen des groß angelegten Projektes erschienen schließlich nur einzelne Untersuchungen, wobei diese durchaus in der Lage waren, weitere Forschungen und Editionsprojekte anzuregen. Allerdings ließe deren wissenschaftliche Qualität Lang zufolge in den meisten Fällen zu wünschen übrig. 177 Darüber hinaus kritisiert Lang einige inhaltliche Punkte. So sei bislang eine fast ausschließliche Konzentration auf katholische Visitationen festzustellen, die zum einen auf der ursprünglich aus spezifisch katholischen Zusammenhängen entwickelten Fragestellung des Tübinger Projektes nach den Auswirkungen des Konzils von Trient auf die kirchliche Reform zurückzuführen sei, zum anderen auf die gewählten, dezidiert katholischen Publikationsorgane. 178 Zwar hätte auch die protestantische Kirchengeschichte von den Visitationsakten v. a. als „Beispielsammlungen“ durchaus Gebrauch gemacht, doch seien tiefergehende the- 172 Zeeden & Lang, Einführung, S. 10. 173 Ebd., S. 11-16. 174 Ebd., S. 16. 175 Ebd., S. 16. 176 Lang, Die Erforschung, S. 185f. 177 Ebd., S. 187-190, 192f. Positiv hervorgehoben werden v. a. folgende Titel: Becker, Konfessionalisierung in Kurköln; Gössi & Bannwart (Hg.), Die Protokolle der bischöflichen Visitationen; Tropper (Hg.), Die Berichte der Pastoralvisitationen. 178 Lang, Die Erforschung, S. 190. <?page no="43"?> 44 matische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ausgeblieben. 179 Ähnlich urteilte Frank Konersmann drei Jahre später im Jahre 2000: Studien zu den protestantischen Visitationspraktiken seien weiterhin „auffallend rar“; ein Zustand, den Susan R. Boettcher noch 2008 bestätigte. 180 In Gegensatz zu deutschen Historikern haben vornehmlich angelsächsische Forscher erste thematische Auseinandersetzungen mit den protestantischen Visitationen und Visitationsprotokollen gewagt. 181 Sofern man in Deutschland auf inhaltliche Aspekte der Visitationen eingegangen ist, ist der Akzent bislang stark auf die Kontrollfunktionen der frühneuzeitlichen Visitationen gesetzt worden. So hat Peter Thaddäus Lang in den 1980er Jahren die Visitation als ein äußerst wirksames Kontrollinstrument bezeichnet, das entscheidend zu Macht und Ansehen der Obrigkeit beitrug. Visitationen wurden daher im 16. Jahrhundert besonders dort eingesetzt, wo Herrschaft angefochten oder sonst unbefestigt war. 182 In der Visitation manifestierte sich Lang zufolge der ganze Territorialstaat, da man Hoheitsrechte dort habe, „wo man visitiert“. 183 Zuletzt hat sich Sebastian Schmidt der Funktion der Visitation „als Instrument der Sittenzucht für den modernen Staatsbildungsprozeß“ angenommen. 184 Jüngst hat Achim Landwehr mit den württembergischen Visitationsakten ein protestantisches Gebiet ins Visier genommen. Er hat diese als Teil seiner umfangreichen und differenzierten Studie zur frühneuzeitlichen Normimplementierung untersucht und die Visitationen somit als wichtiges Instrument der zeitgenössischen Policey herausgestellt; 185 eine integrative Position, hinter die in zukünftiger Forschung nicht mehr gefallen werden sollte. Insgesamt weist Landwehrs Studie auf die enge Verzahnung der weltlichen und kirchlichen Herrschaft in der frühen Neuzeit hin. 186 In diesem Zusammenhang deutet Landwehr die Visitationen bis zu dem Punkt als effektive Kontrollmittel der Zentralverwaltung, wie diese Kontrolle von den lokalen Amtsträgern und der Bevölkerung zugelassen wurde. 187 Sie waren demnach in einem „stark eingeschränkten Sinn effektiv“. 188 Zudem plädiert er für eine differenzierte Behandlung der weltlichen und kirchlichen Amts- 179 Ebd., S. 191 (Anm. 28). Ähnliches hält Müller, Die Konfessionalisierung in der Grafschaft Oldenburg, S. 261 (Anm. 13), fest. Müllers Beitrag zeichnet zwar den Visitationsvorgang nach, kommt aber kaum über eine deskriptive Nutzung der Quellen hinaus und unterlässt es, die Tragweite der benutzten Konzepte ‚Konfessionalisierung‘ bzw. ‚Sozialdisziplinierung‘ zu hinterfragen. 180 Boettcher, Social Impact, S. 335; Konersmann, Kirchenvisitation, S. 606. 181 Lang, Die Erforschung, S. 191 (Anm. 28), verweist hier auf Tolley, Pastors and Parishioners. 182 Lang, Die Bedeutung der Kirchenvisitation, S. 209f. 183 Ebd., S. 210. 184 Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 4. 185 Landwehr, Policey im Alltag, insbes. S. 98-140. Siehe auch Ders., Norm, Normalität, Anomalie; Ders., ‚Normdurchsetzung‘, S. 146-162; Ders., Policey vor Ort; Ders., Zwischen allen Stühlen. 186 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 140. 187 Ebd., S. 139. 188 Ebd., S. 140. <?page no="44"?> 45 träger „als Objekt[e] der Visitation“, denn die Visitationen geben seiner Ansicht nach in erster Linie Aufschluß über die Vergehen der Kirchendiener. 189 Gleichzeitig weist er auf die Möglichkeiten der lokalen Amtsträger und Bevölkerung hin, die Visitationen für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, etwa um „unliebsame Amtsträger, gegen die keine andere Handhabe zu finden war, aus dem Ort und von ihrem Posten entfernen zu lassen“. 190 Wichtig ist des Weiteren die Erkenntnis Landwehrs, dass man nicht nur zwischen den in den Visitationen überprüften weltlichen und kirchlichen Amtsträgern zu differenzieren habe, sondern auch den vorgeladenen Gemeindemitgliedern. So besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den Personen, die „aufgrund eines tatsächlichen Fehlverhaltens oder Ungenügens“ angezeigt wurden und denjenigen, die „Opfer eines Konflikts“ wurden, das in der Visitation ausgetragen wurde. 191 In letzter Zeit sind jedoch auch die kommunikativen Aspekte der Visitationen in den Blick der Forschung geraten. 192 Darüber hinaus sind erste Arbeiten veröffentlicht worden, die nach Praktiken der Herrschaftsrepräsentation in den Visitationen fragen. 193 Somit lässt sich eine Tendenz erahnen, die Visitationen zunehmend aus einer kulturhistorischen Perspektive zu analysieren. Es ergibt sich aus diesen Arbeiten grob das folgende Bild: In den Visitationen kontrolliert die Obrigkeit die Rezeption der von ihr formulierten Normen und stößt gleichzeitig auf die teilweise beträchtlich von diesen divergierenden Haltungen der lokalen Amtsträger und der Bevölkerung. Diese erkennt die Brauchbarkeit der Visitation als Kommunikationsforum, um dorfinterne Konflikte durch eine obrigkeitlich Instanz auszutragen. 194 Einen Schritt weiter ist Bruce Tolley gegangen, der am Beispiel Württembergs auf die Doppelnatur der protestantischen Landeskirchen in Deutschland hingewiesen hat, die unter den Fürsten als oberste Bischöfe der Landeskirche sowohl geistliche Institutionen als auch politische Einheiten waren. Diesen Dualismus beobachtet Tolley auch in der Visitation: „[T]he visitor could both encourage and exhort a repentant sinner to good works, or he could 189 Ebd., S. 140. 190 Ebd., S. 140. 191 Ebd., S. 140. 192 Den kommunikativen Aspekt hat bislang insbesondere Helga Schnabel-Schüle betont. Sie bemängelt, dass die Visitationen in der Forschung in erster Linie „im Hinblick auf ihre institutionellen und intentionalen Aspekte“, aber nicht „auf ihre reale Funktionalität“, untersucht worden sind. Diese soll in den „Kontroll- und Disziplinierungsfunktionen“ der Visitationen gelegen haben, die sich am ehesten durch eine kommunikative Perspektive untersuchen lassen. Auch der obrigkeitlichen Informationserhebung im Zusammenhang mit den Visitationen sei bislang nicht systematisch nachgegangen worden. Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 176, 179. 193 Siehe neben dem programmatischen Aufsatz Flüchter, Konfessionalisierung, z. B. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation; Menne, Herrschaftsstil und Glaubenspraxis. 194 Vgl. Konersmann, Kirchenvisitation; Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, insbes. S. 245-259, Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 173-186. Die starke Konzentration auf die Kontrollfunktionen der Visitationen hat jüngst Flüchter, Konfessionalisierung, S. 244-247, kritisiert. <?page no="45"?> 46 recommend imprisonment for a recalcitrant reprobate.“ 195 Beide Maßnahmen, Belehrung sowie Bestrafung, dienten der übergeordneten Aufgabe der Visitation, eine bessere Gesellschaft zu bauen. 1.2.4. Neue Forschungsfelder und aktuelle Perspektiven Sowohl in Bezug auf die Erforschung der Konfessionalisierungsprozesse, des Visitationswesens als auch der täuferischen Gruppen dürften in Zukunft kulturgeschichtliche Herangehensweisen an Bedeutung gewinnen. In der Konfessionalisierungsforschung sind hier bereits erste größere Studien veröffentlicht worden, was womöglich an den besonders intensiv geführten Debatten um die etatistischen bzw. kommunalistischen Aspekte der Konfessionalisierung sowie ihre Durchsetzungskraft gelegen haben mag. Doch auch im Bereich der Visitations- und Täuferforschung sind Ansätze zu erkennen, die mit kulturhistorischen Methoden und Fragestellungen neues Licht auf die zu untersuchenden Gegenstände werfen. Gerade in der Täuferforschung, die mit ideologisch aufgeladenen Begriffen operiert und in einer langen Tradition von religiös motivierter Historiographie steht, scheint so ein ‚ethnologisierender‘ bzw. kulturhistorischer Zugriffdringend notwendig. Jüngst hat Anselm Schubert zudem auf die Notwendigkeit hingewiesen, den weitgehend essentialistischen und somit ahistorischen Religionsbegriffder Täuferforschung zu revidieren bzw. zu historisieren. 196 Ein kulturhistorischer Zugang bedeutet auch in dieser Studie v. a. eine Historisierung und eine soziale Kontextualisierung des Phänomens ‚Täufer‘. Seit ihrer Etablierung ist an der Erfolgsgeschichte der revisionistischen Täuferforschung gestrickt worden, die mit ihrer Betonung der Diversität der Täuferbewegungen und der sozialhistorischen Erklärungsmodelle die konfessionell eingeengte, ideenhistorisch orientierte frühere Forschung abgelöst hat. Diese Errungenschaften der ‚Revisionisten‘ sind unbestreitbar. Was Klaus Deppermann im Jahre 1979 der idealistisch geprägten Täuferforschung vorwarf, ist mittlerweile zu großen Teilen eingelöst worden, nämlich: Eine differenzierte Auffassung vom Täufertum in all ihren Facetten, die Erforschung der „genetischen Zusammenhänge“ 197 der reformatorischen Bewegungen in den 1520er Jahren sowie die Ablehnung der Rekonstruktion einer für die Gegenwart theologisch ‚brauchbaren‘ Geschichtsdeutung. 198 195 Tolley, Pastors and Parishioners, S. 116f. 196 Es geht Schubert hierbei vor allem um die Analyse „der Formen, in denen sich Religion historisch äußert“. Vgl. Schubert, Täuferforschung, S. 402-404; Ders., Täufertum und Kabbalah, S. 26-31 (Zitat: S. 29). Zu kulturhistorischen Ansätzen in der neuesten Täuferforschung insbesondere in Bezug auf politische Kommunikation siehe auch Schlachta, Grenzüberschreitend, S. 52f. 197 Deppermann, Melchior Hoffman, S. 11. 198 Was weiterhin eine Herausforderung bleibt, ist die von Deppermann festgestellte Gefahr, dass „Endformen historischer Prozesse in die für mehrere Möglichkeiten noch offenen Anfänge hineinprojiziert“ werden. Insbesondere die Inhalte des Schleitheimer Bekenntnisses aus dem Jahre <?page no="46"?> 47 Dennoch scheinen sich langsam neue Wege anzubahnen, die sozialhistorische bzw. ‚revisionistische‘ Dominanz der Täuferforschung der letzten dreißig Jahre zu relativieren bzw. um neue Interpretationsansätze zu ergänzen. Methodisch sind hier zwei nahezu gegensätzliche Vorgehensweisen zu erkennen, die sich zum einen auf kulturhistorische Impulse, zum anderen auf eine verstärkte Betonung der theologischen Inhalte zurückführen lassen. 199 Der bislang schärfste Angriffgegen die „selbstbewussten Einschätzungen der revisionistischen Forschung“ 200 ist von der Theologin Andrea Strübind ausgegangen. Mit ihrer Untersuchung zu den Anfängen der Täuferbewegung in der Schweiz stempelt Strübind das insbesondere auf dem Konzept der Gemeindereformation Peter Blickles aufbauende sozialhistorische Erklärungsmodell als reduktionistisch ab, das ihres Erachtens die religiöse Dimension der Täuferbewegung zu kurz kommen lässt. 201 Mit ihrer als „historische Theologie“ 202 ausgerichteten Studie will Strübind beweisen, dass „mit der revisionistischen Täuferforschung mitnichten eine Phase höherer Wissenschaftlichkeit begonnen, sondern lediglich die Vorstellung der ‚Helden‘ gewechselt“ habe. 203 Sie fragt sogar, ob mit der vermeintlich objektiveren sozialhistorischen Deutung des Täufertums nicht vielmehr „ein zunächst weniger theoriebewußter, positivistischer Ansatz fortgesetzt wird“. 204 Selbst die marxistische Forschung hätte ihre ideologischen Prämissen offener dargelegt. 205 Besonders kri- 1527 oder die pazifistischen Einstellungen der Mennoniten um 1540 sind Deppermann zufolge häufig über ihren eigentlichen historischen Wirkungskreis hinaus übertragen worden. Ebd., S. 11f. 199 Vgl. Schubert, Täuferforschung, S. 399. 200 Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 18. Siehe auch Buckwalter, Rezension; Grochowina, Rezension. Grochowina merkt zu Recht an, dass die „alleinige Konzentration auf die religiöse Dimension reformatorischer Bewegungen nur dann hilfreich ist, wenn dadurch die Argumente der verschiedenen Positionen geschärft und Quellen neu gelesen werden”. Wie die Rezensentin des Weiteren feststellt, haben zahlreiche - und zwar ausgerechnet von Strübind scharf kritisierte ‚revisionistische‘ - Arbeiten bereits „auf die Vermischung religiöser und sozialer Aspekte im frühen 16. Jahrhundert hingewiesen”. Siehe zur Strübind-Debatte auch Stayer, A New Paradigm, sowie als Antwort darauf Strübind, A New Paradigm. 201 Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 14-16. 202 Ebd., S. 18. Die theologischen Prämissen ihrer Arbeit und ihre persönliche Identität als in der täuferischen Tradition stehende Baptistin legt Strübind durchaus offen dar. So sei die „Distanz zum Gegenstand der Kirchengeschichte [...] für den Kirchenhistoriker unmöglich, da er selbst zur Kirche Jesu gehört“. Vielmehr habe er als Theologe und Mitglied der christlichen Glaubensgemeinschaft „selber Teil an der Auslegungsgeschichte des Christuszeugnisses, wie es in der Heiligen Schrift überliefert ist“. Ebd., S. 55f., 75-77 (Zitat: S. 75). 203 Ebd., S. 18. 204 Ebd., S. 31. Als Ziel der von ihr kritisierten Sozialgeschichte sieht Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 51, an, „die Methodik, Begrifflichkeit und Theorie der Soziologie für die historische Forschung nutzbar zu machen“. Welche ‚Theorie der Soziologie‘ damit gemeint sein soll, bleibt allerdings unklar. Insgesamt erscheint es bei den Ausführungen Strübinds fraglich, inwiefern die Autorin auf dem aktuellen Stand der Geschichtswissenschaften ist (zitiert werden überwiegend Schriften aus den 1980er Jahren), in der die Sozialgeschichte zunehmend durch die kulturalistische Wende herausgefordert wird. 205 Ebd., S. 31. <?page no="47"?> 48 tisiert Strübind den von ihr beobachteten Anspruch auf die „universale Geltung der Sozialgeschichte“ sowie die Vernachlässigung individueller Handlungen und Motivationen zugunsten einer strukturellen Analyse. 206 Strübind misst den seit nunmehr zwanzig Jahren entwickelten kulturalistischen Zugängen keine nennenswerte Bedeutung zu, sondern lehnt „die Flut ‚mikrohistorischer‘ Untersuchungen“ als wenig gewinnbringend ab, weil durch diese Arbeiten ihrer Ansicht nach „eine übergreifende Geschichtsdarstellung sowie eine verantwortliche Quellenkritik erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden“. 207 Dies ist ein beträchtlicher Nachteil der Studie, da Strübind ihrer Neudeutung des Zürcher Täufertums die edierten Täuferakten zugrunde legt, die u. a. aus Verhörprotokollen bestehen. Die kritische methodische Diskussion um diesen Quellentypus, die in den letzten Jahren gerade von Seiten kulturgeschichtlich orientierter Forscher und Forscherinnen erfolgt ist, wird von Strübind nicht zur Kenntnis genommen. 208 Somit hätte sie die von ihr als „nichtintentional[e] Zeugnisse“ 209 verstandenen Quellen als keineswegs unmittelbare oder gar ‚objektive‘ Aufzeichnungen über die historischen Gegebenheiten lesen, sondern die methodischen Schwierigkeiten dieser Textsorte angemessen berücksichtigen können. Trotz unterschiedlicher Deutungsrahmen ist in der neuesten Täuferforschung das Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung rezeptionshistorischer Prozesse mehrmals geäußert worden. 210 Es ist weiterhin unklar, auf welche Art und Weise täuferisches Gedankengut auf lokaler Ebene bzw. von den ‚gemeinen‘ Täufern und Täuferinnen aufgenommen, modifiziert und weitertradiert wurden. 211 Alltagsgeschichtliche Fragen sind insgesamt bislang nur wenig bearbeitet worden. Die Dissertation Ralf Klötzers aus dem Jahre 1992, die sich mit der Täuferherrschaft von Münster beschäftigt, bietet hier erste Ansätze. 212 Marion Kobelt-Groch brachte Anfang der 1990er Jahre täuferische Frauen als „aufsässige Töchter Gottes“ und ernst zu nehmende historische Akteurinnen in die Täufer- 206 Ebd., S. 52. Gleichzeitig kritisiert sie den Verzicht der revisionistischen Arbeiten auf die „quantifizierenden und statistischen Methoden der Sozialwissenschaften“. Ebd., S. 16. 207 Ebd., S. 53. 208 Dies bemängeln auch Buckwalter, Rezension, und Grochowina, Rezension. Nur am Rande erfahren alltags- und mentalitätshistorische Ansätze bei Strübind eine Erwähnung, da in ihrer Studie „nicht der Ort für eine angemessene Würdigung der neueren geschichtstheoretischen Ansätze“ sei (Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 53, Anm. 20). Über die Erträge mikrohistorischer Forschung äußert sie sich insgesamt skeptisch. Ebd., S. 53. 209 Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 15. 210 So z. B. Goertz, Die ‚gemeinen Täufer‘; Ders., Religiöse Bewegungen, S. 88; Mattern, Leben im Abseits, S. 21; Packull, In Search of the Common Man, S. 52; Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 44f. 211 Erste Überlegungen zum Thema haben festgehalten, dass die Rezeption in der von einer mündlichen Kommunikation geprägten Kultur stattfand und dass die täuferischen Lehrinhalte in einer vereinfachten Form rezipiert worden sind. Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 88f.; Snyder, Biblical Text; Ders., Orality. 212 Klötzer, Täuferherrschaft von Münster, S. 191-196. <?page no="48"?> 49 forschung. 213 Marlies Mattern beschrieb in ihrer 1998 veröffentlichten Dissertation die Lebenswelten täuferischer Männer und Frauen im gesellschaftlichen Abseits bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Bezeichnend dafür, wie sehr Mattern in ihrer Studie Neuland betrat, ist, dass sie sich lediglich auf eine „quellenorientiert deskriptive“ 214 Behandlung ihres Themas beschränken konnte, ohne dafür theoretisch oder konzeptionell weit auszuholen. 215 Insgesamt bleibt Matterns Einschätzung weitgehend bestehen: Die Täuferforschung hat sich trotz der Fülle an Veröffentlichungen bislang kaum der Aufgabe angenommen, „das Täufertum aus der Perspektive der handelnden Menschen - v. a. derjenigen, die sich nicht theologisch exponierten - zu betrachten“. 216 Vielversprechend sind in diesem Bereich die neuesten Ansätze, welche die täuferischen Netzwerke, Kommunikationszusammenhänge oder die spezifisch täuferischen Ehe-, Sexualitäts- und Körperauffassungen und Praktiken in den Blick nehmen. 217 Ein weiteres Forschungsfeld, das seit den 1990er Jahren erschlossen wird, fragt nach den Beziehungen zwischen den Täufern und der Gesamtgesellschaft in der Zeit nach der Reformation. 218 Neu ist hierbei nicht nur der zeitliche Schwerpunkt, der innerhalb der Täuferforschung bislang überwiegend auf die Frühphase gelegt worden ist. 219 Außerdem rücken neuartige Themen in den Vordergrund. Zum einen ist der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Integration der Täufer bzw. Mennoniten ab dem 17. Jahrhundert nachgegangen worden, die sich kaum mit der vermeintlichen Absonderung der ‚idealisiert-ursprünglichen‘ 213 Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes; Dies., Frauen gegen Geistliche; Dies., Frauen in Ketten. 214 Mattern, Leben im Abseits, S. 13f. 215 Dennoch sind die Stärken von Matterns Arbeit zu betonen, insbesondere, dass sie den Blick auf ‚einfache‘ Täufer als eigenständige Akteure der Geschichte gerichtet hat, stets um Differenzierungen bemüht ist und auf die zahlreichen Brüche hinweist, die der Übertritt zum Täufertum für den Alltag des Einzelnen bedeuten konnte. So gehörten zum Täufersein z. B. von den Zeitgenossen abweichende Zeit- und Raumerfahrungen, da die täuferischen Zusammenkünfte hauptsächlich nachts und in abgelegenen Orten abgehalten werden mussten. Ebd., S. 41-44, 151-155. 216 Ebd., S. 13. Auch Hans-Jürgen Goertz hat jüngst für die Anwendung kulturgeschichtlicher Konzepte in der Täuferforschung plädiert. Goertz, Die Radikalität reformatorischer Bewegungen. Erste Annäherungen an eine Mentalitätsgeschichte der Täufer bot Elsa Bernhofer-Pippert bereits im Jahre 1967 - allerdings ohne sie direkt als solche zu benennen und der Überzeugung verpflichtet, das Täufertum sei die bessere Variante des Protestantismus. Vgl. Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen. 217 Siehe z. B. Klötzer, Herrschaft und Kommunikation; Leu, Täuferische Netzwerke; Monge, Überleben durch Vernetzung; Reinholdt, „durch fleischliche vormyschunge geheilligett“. Siehe auch die weiteren Beiträge im Band Schubert & Schlachta & Driedger (Hg.), Grenzen des Täufertums, sowie Schlachta, „Als ob man uns von engeln gottes saget“. 218 Stayer, The Significance of Anabaptism, S. 85. Siehe auch den Forschungsüberblick in Driedger, Anabaptists and the Early Modern State, S. 508-512. 219 Dieser Umstand wird in zahlreichen Überblicken und Einleitungen neuerer Arbeiten erwähnt. Siehe z. B. Driedger, Anabaptism, S. 49f.; Ders., Obedient Heretics, S. 2f.; Hofer, Popular Resistance, S. 124; Schlachta, Hutterische Konfession, S. 10. <?page no="49"?> 50 Täufer in Einklang bringen lässt. 220 Astrid von Schlachta etwa hat eine aktive Partizipation der Täufer in der politischen Kommunikation des 17. und 18. Jahrhunderts nachgewiesen. Sie hat verstärkt dafür plädiert, Religion in der Frühen Neuzeit nicht nur theologisch zu interpretieren, sondern auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Diskurse und Ordnungsvorstellungen zu untersuchen, welche in der religiösen Heterodoxie vor allem das Aufruhrpotential hervorhoben. 221 Genau zu berücksichtigen bleibt jeweils der historische bzw. regionale Kontext, denn die Möglichkeiten zur Inklusion täuferischer Lebensentwürfe waren äußerst unterschiedlich. So seien „pauschale Aussagen über die Situation der Täufer“ auch noch im 17. und 18. Jahrhundert nicht möglich. 222 Obwohl viele täuferische Gruppen des 17. und 18. Jahrhunderts eigene Bekenntnisschriften ausgearbeitet hatten und somit eine etablierte religiöse Gemeinschaft geworden waren, zogen sie sich nicht auf diese gruppeninternen Normen und passives, „märtyrerhaftes Warten“ zurück. Insgesamt entwirft von Schlachta ein Bild der Täufer als politisch aktiv und in den zeitgenössischen Strukturen und Debatten (selbst-)bewusst agierende Menschen; eine Deutung, mit der sie sich somit sowohl von den traditionellen apologetischen Interpretationen des Täufertums aus als auch von neuesten Versuchen abgrenzt, die Täufer auf ein rein religiöses Phänomen zu reduzieren. 223 Aus dieser Perspektive erscheinen die Täufer bzw. Mennoniten nicht so sehr als Außenseiter der frühneuzeitlichen Gesellschaft, sondern vielmehr als geduldete ‚Sondergruppen‘. 224 Wie Astrid von Schlachta in ihrer Studie deutlich gemacht hat, muss es zunächst darum gehen, die allgemeinen Rahmenbedingungen der Existenz - die sich teilweise schnell ändernden Dynamiken von Inklusion und Exklusion - herauszuarbeiten, um die Täufer die religiös und politisch devianten Untertanen überhaupt sichtbar machen zu können. Erst danach können sie sinnvoll in allgemeinere Kontexte und Entwicklungen der frühen Neuzeit eingeordnet werden, von denen gerade die Täufer in der älteren Forschung oftmals losgelöst betrachtet worden sind. 225 Ähnliche Ziele hat Michael Driedger verfolgt, der die Mennoniten in Hamburg und Altona als „obedient heretics“ und ihr Zusammenleben sowie ihre polemischen Auseinandersetzungen mit den Lutheranern vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung untersucht hat. Zum einen stellt er fest, dass konfessi- 220 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 61. Siehe hierzu z. B. Konersmann, Duldung, Privilegierung, Assimiliation und Säkularisation; Häberlein & Schmölz-Häberlein, Die Ansiedlung von Täufern am Oberrhein; Kriedte, Taufgesinnte und großes Kapital. Aus dezidiert mennonitischer Perspektive zum Thema siehe Lichdi, Die Täufer/ Mennoniten im Kraichgau. 221 Schlachta, Grenzüberschreitend, S. 61. Ausführlicher Dies., Gefahr. 222 Schlachta, Gefahr, S. 412f. 223 Schlachta, Gefahr, S. 416. 224 Zum Konzept der Sondergruppen, der auch die Täufer berücksichtigt, siehe den Sammelband Holenstein & Ullmann (Hg.), Nachbarn. 225 Schlachta, Gefahr, S. 40. <?page no="50"?> 51 onelle Identitäten in öffentlichen Kontroversen „most fixed, clearest and most significant“ waren. Andererseits bedeutet dies gleichzeitig, dass konfessionelle Identitäten in weniger konfliktgeladenen Situationen abgeschwächt bzw. flexibler wahrgenommen wurden. 226 Zum anderen lässt sich, wie bereits die Studie Driedgers zeigt, ein zunehmendes Interesse der Forschung an den Möglichkeiten und Mechanismen des Überlebens religiöser Dissidenten bzw. Nonkonformisten in der vermeintlich ‚konfessionalisierten‘ Gesellschaft der Nachreformationszeit erkennen. Thomas Kaufmann hat jüngst die Bedeutung dieses Themas betont, der nicht nur für die Täufersondern auch für die Konfessionalisierungsforschung eine zentrale Rolle spielt: „Die Bearbeitung des Zusammenhangs von Konfessionalisierung und religiösem ‚Dissentertum‘ berührt ein Zentralproblem des Konfessionalisierungskonzepts und seines Erklärungsanspruchs.“ 227 Auch Michael Driedger sieht die Auseinandersetzung mit den späteren Täufergenerationen aus mehreren Gründen als weiterführend und dringend notwendig an. Erstens weist er auf den Wandel in den täuferischen Kreisen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts; auch bei den Täufern sind in dieser Zeit konfessionsbildende Bestrebungen zu beobachten. Zweitens macht er auf die Befunde seiner Studie zu den Mennoniten in Hamburg und Altona aufmerksam, dass die Bedeutung der - zunächst vielfach aus wirtschaftlichen Interessen geduldeten - religiösen Minderheiten in der „official Lutheran imagination“ eine Rolle spielten, die weit über ihre tatsächliche (zahlenmäßige) Stärke hinausging. Drittens und als wichtigsten Punkt hebt Driedger die Bedeutung der Täufer für die europäische Geschichte im Allgemeinen hervor, insbesondere aber für die Erforschung der Konfessionalisierungsvorgänge oder der gesellschaftlichen Minderheiten. Er regt zu vergleichenden Studien insbesondere im Bereich der Konfessionalisierung bzw. der konfessionellen Kulturen sowie radikaler Religiosität bzw. Ent-Radikalisierung von Religion an. Hierbei könnten Driedger zufolge Vergleiche insbesondere zwischen täuferischen und jüdischen Religionsgemeinschaften lohnenswert sein. 228 Es lassen sich unter den bisherigen Beiträgen einige inhaltliche Schwerpunkte feststellen. 229 So sind zum einen die konfessionsbildenden Tendenzen innerhalb täuferischer Gemeinden - insbesondere der Hutterer - ab dem späten 16. Jahrhundert untersucht worden. 230 Zum anderen ist der Frage nachgegangen worden, 226 Driedger, Obedient Heretics, S. 173. Obwohl er die Existenz fester konfessioneller Identitäten relativiert, betont Driedger, dass Religion und Glauben dennoch keineswegs bedeutungslose Größen im Leben der Zeitgenossen waren. „The concept of flexible standards of identity points only to the periodically diminishing importance of strictly defined confessional religious standards. […] As a hypothesis, we can say that for a good part of their lives Mennonite congregational members, and other kinds of believers too, simply went about their lives without measuring themselves against strict confessional standards.” Ebd., S. 177. 227 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 181. 228 Driedger, Expanding Our Historiographical Vision, S. 415; Ders., Intensification of Religious Commitment, S. 273-278; Ders., Obedient Heretics, S. 2f. 229 Zur aktuellen Forschungslage siehe Driedger, Anabaptists and the Early Modern State, S. 511, mit weiterführenden Literaturhinweisen. 230 Vgl. Chudaska, Peter Riedemann; Schlachta, Hutterische Konfession. <?page no="51"?> 52 auf welche Weise die Täufer als ‚Negativfolie‘ der Konstruktion von konfessionellen Identitäten ihrer Gegner gedient haben. Hier ist insbesondere ein Aufsatz Thomas Kaufmanns zu nennen, in dem er das lutherische ‚Schwärmer‘-Konzept als wesentliches Mittel zur Etablierung der eigenen konfessionellen Identität analysiert hat. Kaufmann zufolge war der diskursive Kampf der Lutheraner gegen die Schwärmer bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts immer mehr zu einem „identitätsstiftenden Integrationsinstrument“ geworden. Die Abgrenzung von den Schwärmern verteidigte „Luthers theologisches Kernanliegen der unbedingten Verbindung von Wort und Geist“ in einer Zeit, in der sich die Gesamtsituation religions- und konfessionskulturell stetig pluralisierte. Die inflationäre Anwendung des Schwärmereibegriffs deutet laut Kaufmann auf sowohl „ein wachsendes Integrations- und Regulationsbedürfnis“ als auch einen „fortschreitenden Integrationsverlust der lutherischen Orthodoxie“ hin. 231 Das ‚Schwärmertum‘ in seinen vielen Facetten begleitete das „konfessionelle Luthertum der Frühen Neuzeit“ bzw. ist sogar als „Element lutherischer Konfessionskultur selbst“ anzusehen. 232 Des Weiteren sind in einigen Arbeiten anhand von Widerstand aus täuferischen Reihen die Grenzen der Sozialdisziplinierungs- und Zentralisierungsbestrebungen der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten markiert worden. Roland E. Hofer etwa hat die Beziehungen zwischen Täufern und Obrigkeit in Schleitheim ab dem späten 16. Jahrhundert untersucht. Er stellt fest, dass die Täufer als soziale und religiöse Nonkonformisten ein zentrales Anliegen für die frühneuzeitlichen Obrigkeiten waren. Das Überleben der Dissidenten sei möglich gewesen, weil den Obrigkeiten effektive Mittel zur Herrschaftsintensivierung fehlten und die Täufer weitgehend auf die Unterstützung bzw. Duldung von Seiten der Dorfbewohner zählen konnten. Hofer zufolge waren es die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen die Täufer, die in der Schleitheimer Bevölkerung grundsätzlichen Widerstand hervorriefen. Gleichzeitig habe gerade die Unterstützung der Täufer durch die lokale Bevölkerung den Obrigkeiten immer wieder vor Augen geführt, dass ihre Macht noch keineswegs gefestigt war. Auf diese Weise zeige das Beispiel der Täufer, wie lokale Interessen mit obrigkeitlichen Versuchen der Herrschaftsintensivierung in Konflikt geraten konnten. 233 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Hans-Peter Jecker in seiner Studie zu den Täufern in Basel, der die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Täufer‘ als Ausdruck eines all- 231 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 194. 232 Ein geschlossenes System allerdings war die Orthodoxie „allenfalls in der Sicht einzelner Protagonisten“ (und später in der Perspektive pietistischer und aufklärerischer Kritiker der Orthodoxie). Kaufmann, Nahe Fremde, S. 239. 233 Hofer, Popular Resistance, S. 138f. Zu diesem Schluss kommt auch Leu, Täuferische Netzwerke, S. 184f. Einführend zur Widerstandsforschung siehe z. B. Häberlein (Hg.), Devianz; Schmidt & Holenstein & Würgler (Hg.), Gemeinde, Reformation und Widerstand; Schulze (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse; Ders., Bäuerlicher Widerstand. <?page no="52"?> 53 gemeinen „Ringen[s] um gesamtgesellschaftliche Konzepte“ im ‚konfessionellen Zeitalter‘ ansieht. 234 Speziell für Württemberg hat Ulrich Bubenheimer in einem 1993 veröffentlichten Aufsatz den Versuch unternommen, die Täufer und Schwenckfelder ab dem späten 16. Jahrhundert statt als Ketzer als „Kryptoheterodoxe“ bzw. „Kryptodissidenten“ zu betrachten, d. h. als eine in den Untergrund gedrängte, von den offiziellen Normen abweichende Form von Religiosität. Aus dieser Perspektive hinterfragt Bubenheimer das homogene Bild einer lutherischen ‚Orthodoxie‘ oder ‚Konfession‘ im 17. Jahrhundert. 235 Er stellt bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine vielfältig schattierte, aber „starke Tendenz zu einer quasi pietistischen Frömmigkeit und Lebensführung“ in Württemberg fest. 236 „Da die strenge lutherische Orthodoxie diese Entwicklung zu unterbinden und Anpassung an die orthodoxe Kirchlichkeit mit obrigkeitlichem Druck zu erzwingen suchte, entwickelte sich neben den angepaßten Formen der Religionsausübung eine religiöse Unterströmung, je nach den äußeren Umständen und dem Grad des staatkirchlichen Drucks mehr oder weniger im Geheimen bzw. in der nur partiell kontrollierbaren Privatheit der Familien sowie der Haus- und Freundeskreise.“ 237 Die konkreten Überlebensstrategien der Täufer als religiöse Dissidenten in einer repressiven Konfessionsgesellschaft hat Mark Furner am Beispiel Emmentals im Kanton Bern näher untersucht. Ausgehend von einer Analyse der mit den Täufern verknüpften zeitgenössischen Ängsten und den Mitteln der obrigkeitlichen Unterdrückung ist er der Frage nachgegangen, wie sich das Täufertum im Emmental bis weit in das 18. Jahrhundert halten konnte. Wichtiger als das Festhalten an einzelnen Lehren erschien den dortigen Täufern die Sicherung ihrer Lebensgrundlagen; entsprechend variierte der Grad der täuferischen Kompromissbereitschaft je nach dem von oben ausgeübtem Druck. Furner betont die Notwendigkeit der Dissidenten, von den Obrigkeiten nicht als ‚Täufer‘ festgeschrieben zu werden. Aus dieser Perspektive lassen sich die Täufer - ähnlich wie bei Driedger - als ein tief in zeitgenössische Diskurse und Praktiken eingebettetes Phänomen betrachten. Es waren nicht nur Täufer, sondern frühneuzeitliche religiöse Minderheiten insgesamt, die angesichts einer „dominant culture of orthodoxy“ zum schwierigen Balanceakt zwischen Kompromissen in ideologisch zweitrangigen Fragen und dem Ausleben der eigenen Glaubensprinzipien gezwungen waren. 238 Es wird in künftigen Untersuchungen zur späteren Phase des Täufertums nicht nur von Bedeutung sein, innertäuferische Konfessionalisierungstendenzen zu analysieren. Stärker berücksichtigt werden sollten auch die Täuferbilder 234 Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 608. 235 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 308. Siehe auch Oyer, Nicodemites, S. 507f., 512f. 236 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 339. 237 Ebd., S. 339. 238 Furner, Lay Casuistry, S. 430, 439, 458, 470; Ders., Repression and Survival, S. 58, 428-430. <?page no="53"?> 54 der ‚konfessionalisierenden‘ weltlichen und kirchlichen Eliten. So haben Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann vor kurzem „die Frage nach dem Bild der Täufer bei den weltlichen Obrigkeiten in den Jahrzehnten im Anschluss an die Reformationsepoche“ als bestehende Forschungslücke benannt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, das „Verhalten der Obrigkeiten [...] auf ihre Motivation hin zu untersuchen“. 239 „Das gewandelte Selbstverständnis vieler täuferischer Gruppen, aber auch ihre anhaltende Attraktivität war den Behörden bewusst. Die Verfolgungsintensität war jedoch in verschiedenen Landesherrschaften sehr unterschiedlich. Sie reichte von konsequenten Nachforschungen und harten Maßnahmen bis zur lachser Aufsicht, Durchzugserlaubnis und faktischer Duldung.“ 240 Die Täufer stellten eine symbolische wie ‚reale‘ Bedrohung für die konfessionellen Großkirchen als identitätsstiftendes Feindbild bzw. negativ aufgeladene Projektionsfläche dar. Umgekehrt entwickelten die Täufer in Auseinandersetzung mit den obrigkeitlichen Verfolgungsmaßnahmen ein reiches martyrologisches Erbe, das die Anzahl der verhängten Todesstrafen weit überstieg. 241 Entsprechend eröffnet eine differenzierte Erforschung der Beziehungen zwischen Täufertum und Konfessionalisierung neue Perspektiven weit über die Täufer- oder Konfessionalisierungsforschung hinaus. 242 1.3. Quellen und Vorgehensweisen 1.3.1. Quellenkorpus Die vorliegende Untersuchung basiert in erster Linie auf den Akten des Kirchenrates 243 und den Visitations- und Synodusakten im weitesten Sinne (inklusive den vor und nach den Visitationen verfassten Schriftstücken). Der Hauptteil besteht aus den im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart aufbewahrten Synodusprotokollen, die im 16. Jahrhundert für den Zeitraum 1581-1590 erhalten sind. Es 239 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 61. Ähnliche Forschungsaufgaben hat jüngst auch Astrid von Schlachta formuliert und bereits ein u. a. an der Sprechakttheorie Quentin Skinners orientiertes Modell zur Analyse der „Matrix aus Normen und Sprechakten, Konflikten und möglichen Lösungen sowie der Rezeption sprachlicher Aktion“ vorgeschlagen. Vgl. Schlachta, Grenzüberschreitend, S. 50 (Zitat), 55f. 240 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 61. 241 Stayer, The Significance of Anabaptism, S. 82, 88. Die täuferischen Märtyrerkulte sind in letzter Zeit in das Interesse kulturhistorisch orientierter Forscher gerückt. Siehe z. B. Burschel, „Marterlieder“; Ders., Sterben und Unsterblichkeit; Gregory, Anabaptist Martyrdom; Ders., Salvation at Stake. 242 Vgl. Brady, New Studies, S. 442; Haude, In the Shadow, S. 5-7, 150-153; Roth, Future Directions, S. 407-409; Schlachta, Grenzüberschreitend, S. 50. 243 HStAS A63 Religions- und Kirchensachen; HStAS A282 Kirchenrat, verschlossene Registratur. <?page no="54"?> 55 handelt sich hierbei um die für die Tagungen des Synodus angefertigten Auszüge bzw. Zusammenfassungen aus den ausführlicheren Visitationsprotokollen. 244 Für die Erstellung dieser Auszüge waren die Generalsuperintendenten zuständig, die als Grundlage die ihnen zugeschickten ausführlicheren Visitationsprotokolle benutzten. Diese wiederum waren von den in den Visitationen anwesenden Spezialsuperintendenten verfasst worden. 245 Generell kann man davon ausgehen, dass in den Synodusprotokollen die als wesentlich befundenen Inhalte der Visitationsprotokolle wiedergegeben sind. 246 Solche ausführlicheren Visitationsprotokolle sind in Württemberg für das 16. Jahrhundert nicht überliefert. Für den Zeitraum 1601-1811 liegen jährliche Berichte vor, für das frühe 17. Jahrhundert allerdings nur die Jahrgänge 1601-1603, 1605 und 1621. Zu den württembergischen Visitationsakten im weitesten Sinne gehören weiter die sogenannten Sektarierbücher, welche die religiösen Dissidenten betreffende Auszüge aus den Synodusprotokollen enthalten und eigens für die Zwecke der Sektenbekämpfung zusammengestellt wurden. 247 Von diesen Sektarierbüchern sind zwei Bände überliefert, die die Jahre 1573-1578 und 1608-1620 umfassen. 248 In Anbetracht dessen, dass das Fehlen „jegliche[r] Akten“ für die Visitationstätigkeiten der 1560-70er Jahre bemängelt worden ist, 249 stellen die Sektarierbücher eine bislang weitgehend vernachlässigte bzw. übersehene Quellengruppe in diesem Bereich dar. Obwohl der Fokus auf einem sehr spezifischen Gebiet der Visitation liegt, ergänzt dieser Bestand die Überlieferung der Visitations- und Synodusprotokolle zeitlich wie auch inhaltlich, was insbesondere für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von enormer Bedeutung ist. 250 Die Visitationsakten dienten der landesherrlichen Verwaltung, für die eine extensive Informationserhebung und deren schriftliche Fixierung notwendig war. Gleichzeitig wurden die in den Visitationen gemachten Befunde einem langen Verschriftlichungs-, Editions- und Verkürzungsprozess unterzogen. Nach den Visitationen wurden aus dem unterwegs gesammelten umfangreichen Material 244 Insofern müssste man hier, würde man Langs Begrifflichkeiten folgen, genaugenommen von Synodusberichten sprechen. Der Einfachheit halber wird in der vorliegenden Arbeit jedoch den vom Landeskirchlichen Archiv benutzten Rubriken folgend von Synodusprotokollen die Rede sein. Des Weiteren sind für die Arbeit die Sitzungsprotokolle des Kirchenrats (LKA A3) für das 17. Jahrhundert gesichtet worden, in denen die behandelten Sachen und ggf. die dazu getroffenen Entscheidungen festgehalten wurden. Einträge zu Täufern sind hier allerdings äußerst selten. Zum großen Teil geht es im Bestand um Besetzungen von Pfarreien, Anbringen der Pfarrer bzw. Pfarrerswitwen in eigener Sache sowie Prüfungen von Stipendiaten. 245 Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 73. 246 Landwehr, Policey im Alltag, S. 107-109; Strauss, Luther’s House of Learning, S. 257. 247 LKA A1/ 1581-1590 Synodus-Protokolle; LKA A26 Allgemeine Kirchenakten. 248 LKA A26/ 466 I (1573-1578) und LKA A26/ 466 II (1608-1620). 249 Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 75. 250 Ein synchroner Vergleich zwischen den Quellengruppen, indem etwa nach Kürzungen und Editionsprinzipien im Laufe des Protokollierens in den zeitnah entstandenen unterschiedlichen Aktentypen nachgegangen werden könnte, muss dagegen aufgrund der Überlieferungssituation ausbleiben. <?page no="55"?> 56 Kopien bzw. Zusammenfassungen erstellt. In einem ersten Arbeitsschritt wurden die Informationen von den provisorischen Heftchen (Kladden) eines Amtes zu einem ersten Entwurf formuliert. Dieser Enwurf wurde revidiert und mit einem einleitenden Schreiben ergänzt, der die am häufigsten befundenen Arten von Mängeln des Amtes auflistete (meist mit der Überschrift „Generalia“ gekennzeichnet). In einem nächsten Schritt wurde auf der Grundlage dieses Dokuments eine Reinschrift erstellt, die an die Kanzlei des Fürsten gesendet wurde. 251 Durch die Vor- und Nachbereitung der Visitationen kam eine Reihe an Akten zustande, die Peter Thaddäus Lang ihrem Entstehungszeitpunkt entsprechend in drei Kategorien gruppiert hat. Die erste Gruppe besteht aus den Akten, die in der Vorbereitung einer Visitation entstanden sind, wie z. B. Traktate, Gesetze, Erlasse über die Durchführung, Instruktionen für die Visitatoren, Interrogatorien (Fragenkataloge) und Visitationsbefehle. Bei der zweiten Quellensorte handelt es sich um die „im unmittelbaren Zusammenhang“ einer Visitation entstandenen Akten (Protokolle und Berichte, die von den Visitatoren für übergeordnete Behörden angefertigt wurden). Als dritten Typus führt Lang die im Anschluß an eine Visitation verfassten Akten (Rechnungen, Zusammenfassungen und statistische Erhebungen sowie Rügen, Urteile und Rezesse) an, mit denen die Beseitigung der befundenen Mängel bewerkstelligt werden sollte. 252 Außerdem entstanden im Visitationsprozess zahlreiche Beiakten wie Kirchenrechnungen, Einkommens- und Abgabenverzeichnisse, Inventarien der Kirchenausstattung sowie gelegentlich Korrespondenz zwischen dem Veranlasser der Visitation und anderen geistlichen oder weltlichen Herrschaftsträgern und Institutionen. Darüber hinaus sind sind den Visitationsberichten im Herzogtum Württemberg - anders als in den meisten anderen Regionen - Namenslisten über Andersgläubige und religiöse Dissidenten nahezu regelmäßig verzeichnet. 253 Lang unterscheidet begrifflich zwischen Protokoll und Bericht: Der Erstere bezieht sich auf die im Verlauf einer Visitation entstandenen Aufzeichnungen, während mit dem zweiten die mit zeitlichem Abstand erfolgten Überarbeitungen des Materials gemeint sind. 254 Etwas anders hat Gerald Strauss die Akten definiert, der als Protokoll das von der landesherrlichen Kanzlei offiziell abgesegnete Endprodukt der revidierten Aufzeichnungen bezeichnet. Ein Protokoll im Sinne von Strauss „refers to the complete, ostensibly verbatim, record of the visitation in a given administrative district, prefaced by a resume of general conditions“. 255 251 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 257. 252 Lang, Die Kirchenvisitationsakten, S. 135. Obwohl insbesondere die frühen Visitationsberichte „formal oft recht uneinheitlich“ sein können, da sich die Visitatoren nicht streng an die vorgegebenen Interrogatorien hielten, gilt für Lang der zweite Typus von Visitationsakten als die ergiebigste Quellengruppe. Lang, Die Kirchenvisitationsakten, S. 136f. Zum hohen Formalisierungsgrad württembergischer Visitationsakten ab dem späten 16. Jahrhundert siehe Schnabel- Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 75. 253 Lang, Die Kirchenvisitationsakten, S. 135f. 254 Ebd., S. 136 (Anm. 6). 255 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 257. <?page no="56"?> 57 Im Unterschied zu Strauss und in Anlehnung an David W. Sabean wird das Protokoll in der vorliegenden Arbeit jedoch in erster Linie als „Sitzungsbericht“ verstanden, das keine wortgetreue Wiedergabe der Visitationssituation anstrebte, selbst wenn die Akten teilweise diesen Eindruck erwecken mögen. Es handelt sich vielmehr um Schriftstücke, in denen der Protokollant in knapper Form das Wesentliche der Situation - vorgetragene Argumente, Anschuldigungen, Antworten sowie Handlungen - festzuhalten versuchte. 256 Wichtigste Adressaten der Protokolle, die erheblichen Einfluss auf die Schreibsituation hatten, waren die Vorgesetzten des Protokollanten. Insgesamt ist ein Protokoll als „negotiated document“ anzusehen, in dessen Entstehungsprozess die gegensätzlichen Kräfte zwischen dem Schreiber und den in verschiedene Richtungen ziehenden anderen Akteuren bzw. den „embedded disjunctions of clamoring voices, strategical alliances, conflicting claims, and rival causalities” mitwirkten. 257 Im späten 16. Jahrhundert folgten die Synodus- und Visitationsprotokolle in ihrem Aufbau einem weitgehend einheitlichem Schema. 258 Sie beginnen mit der Orts- und Datumsangabe, gefolgt von Name, Alter und Dienstzeit der jeweiligen Pfarrer und Schulmeister, gegebenenfalls der Diakone und Subdiakone. 259 Gelegentlich wird in den Synodusprotokollen nur der Name des örtlichen Pfarrers genannt. Darauf wird auf die Lebens- und Amtsführung der Amtsträger eingegangen. Wenn keine besonderen Beschwerden vorliegen, bleiben die Vermerke in den Synodusprotokollen knapp. Als letzter Punkt werden in den Visitations- und Synodusprotokollen, oft unter der Rubrik „Sectarii“, die im Ort bekannten Dissidenten aufgeführt. Der auffälligste Unterschied zwischen den beiden Quellentypen betrifft die Beschreibungen der Pfarrer und der lokalen Ehrbarkeit. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die Synodusprotokolle darauf ausgerichtet waren, die Zustände in einer Gemeinde möglichst prägnant zu bestimmen. So werden die Vertreter der Ehrbarkeit nur in den Fällen benannt, wenn sie Auskunft über andere Personen im Ort geben oder ihre Amts- oder Lebensführung den Visitatoren Anlass zu Kritik gibt. Das Abhalten der Ruggerichte und die Rechnungsführung wird in den Visitationsprotokollen meist erwähnt, was auf die enge Verzahnung zwischen weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten in Würt- 256 Sabean, Soziale Distanzierungen, S. 222f. 257 Sabean, Peasant Voices, S. 69, 86 (Zitat), 88; Ders., Village Court Protocols, S. 6. 258 Am Visitationsverfahren änderte sich in der Frühen Neuzeit wenig. Inhaltlich hat Achim Landwehr allerdings die schrittweise Verdrängung der weltlich-politischen Aspekte in den Visitationsprotokollen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts festgestellt. Dennoch waren diese nie gänzlich marginalisiert. Landwehr, Policey im Alltag, S. 108. Peter Thaddäus Lang dagegen unterscheidet in den katholischen Visitationsakten zwischen zwei Phasen: Die erste, die vom „Abbau des Negativen“, d. h. der Behebung der festgestellten Mängel, geprägt war, dauerte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Darauf folgte eine Periode, in der der „Aufbau des Positiven“ im Vordergrund stand, etwa indem das Hilfspersonal und die Ausstattung der Kirchen stärker berücksichtigt wurden. Lang, Reform im Wandel, S. 145. 259 Für die Amtsstadt Schorndorf wurden darüber hinaus die zwei Provisoren und die beiden Schulmeister (lateinisch und deutsch) angeführt. Siehe z. B. LKA A1/ 1584 II, 82r. <?page no="57"?> 58 temberg hinweist. 260 In den Visitationsprotokollen wird zudem ausführlicher auf die Inhalte der Amtsausführung des Pfarrers eingegangen, indem etwa die Bibelstellen festgehalten werden, über die der Pfarrer zum Zeitpunkt der Visitation gepredigt hat. Darüber hinaus werden in den Visitationsprotokollen des frühen 17. Jahrhunderts im Unterschied zu den Synodusprotokollen die Kommunikanten- und Katechumenenzahlen der Gemeinden im Allgemeinen genannt. Obwohl der formale Aufbau der Akten vorgegeben war und eingehalten wurde, blieb dennoch inhaltlich Raum für Variationen. In Bezug auf die Täufer hat John S. Oyer darauf hingewiesen, dass sich der Wandel in der obrigkeitlichen Deutung der Täufer auch in den von diesen entworfenen Fragenkatalogen niederschlug. Dies führte mit der Zeit nicht, wie man vermuten könnte, zu einem erhöhten Schematismus in den Vernehmungen, sondern ließ den Befragten mehr Raum für Ausführungen aus ihrer eigenen Warte heraus. Somit sind ihre Antworten nicht ausschließlich als Reaktionen auf die obrigkeitlichen Fragen zu verstehen. 261 Auch in den württembergischen Akten gewinnt man den Eindruck, dass die Vernommenen teilweise recht ausführlich zur Sprache kommen - selbst wenn auch in diesen Fällen nicht mehr auszumachen ist, was nicht schriftlich festgehalten wurde. Einen zweiten zentralen Quellentypus machen in der vorliegenden Untersuchung die württembergischen Ordnungen und Erlasse aus. 262 Zum einen sind 260 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 109. Zu den Ruggerichten in Württemberg siehe auch Ders., „das ein nachbar“. 261 Oyer stellt zu den Fragebögen in der Vernehmung von Esslinger Täufern im Jahre 1544 fest: „The general Lutheran cast of the questions is clear, and to be expected. But a few questions were cast in much more Anabaptist terms […]. One notices, too, that the authorities were no longer fishing for revolutionary plans by asking about a common purse and a common form of greeting, presumably some password. Indeed, this set of questions gave each of these Anabaptists more latitude to declare on religious issues close to his or her heart than most interrogations permitted.” Oyer, The Anabaptists in Esslingen, S. 263. Auch Schedensack, Nachbarn im Konflikt, S. 55f., weist auf Fälle hin, in denen vor Gericht Vorgeladene ihre Geschichte relativ frei erzählen konnten. 262 Frühneuzeitliche Policeyordnungen und -gesetze sind von Karl Härter und Michael Stolleis ihrer Form und Funktion nach in vier Kategorien gruppiert worden, von denen im wesentlichen drei auf die in der Auseinandersetzung mit den Täufern entstandenen administrativen Akten in Württemberg zutreffen. Die erste Kategorie der Policey- und Landesordnungen streift die Täuferproblematik indirekt insofern, dass sie den Amtsträgern und Untertanen ein christliches Leben unter lutherischem Vorzeichen auferlegt. Doch wichtiger als der erste Typus sind für die württembergische ‚Täuferadministration‘ die Kategorien der Sonderordnungen wie bspw. Armen-, Forst- oder eben Täuferordnungen sowie die Verordnungen bzw. Reskripte. Sonderordnungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „einen größeren Bereich relativ umfassend regeln und formal/ äußerlich (mehrere Titel, Artikel oder Paragraphen) als Ordnungen zu erkennen sind“. Dieser Gruppe gehören die Täuferordnungen von 1534 und 1584 an. Die Ordnung von 1559 war zwar in die Große Kirchenordnung integriert, doch da diese in erster Linie als Bündel von zentralen württembergischen Ordnungen zum Kirchen- und Schulwesen im weitesten Sinne zu verstehen ist, kann man die in ihr enthaltene Täuferordnung als Sonderordnung ansehen. Außerdem war eine frühere Version der Täuferordnung von 1559 im gleichen Wortlaut bereits 1558 veröffentlicht worden (vgl. das Mandat Herzog Christophs vom 25. Juni 1558, HStAS A63/ 22). Härter & Stolleis, Einführung, S. 12. <?page no="58"?> 59 diejenigen Schriftstücke des 16. Jahrhunderts berücksichtigt worden, die das lutherische Kirchen- und Visitationswesen zu regeln und neu zu organisieren suchten. 263 Zum anderen sind die nachreformatorischen Täuferordnungen herangezogen worden, von denen die wichtigsten 1536 und 1559 erlassen wurden. Daneben existierten umfangreiche Entwürfe neuer Ordnungen, die 1571 und 1584 verfasst, aber nicht veröffentlicht wurden. 264 Als verwaltungsinterne Anweisungen kommt ihnen dennoch große Bedeutung zu. Als weitere Bestände sind hier die Täuferakten des Oberrates zu nennen, an den besonders schwerwiegende Fälle weitergeleitet wurden. 265 Darüber hinaus sind ausgewählte Akten der Ämterverwaltung dazugezogen worden, sofern sie für die Kontextualisierung der lokalen Gegebenheiten und Herrschaftspraktiken weiterführend waren. 266 Aus diesem Gesamtkorpus ergibt sich die zeitliche Eingrenzung dieser Studie, die mit der ersten protestantischen Täuferordnung Württembergs im Jahre 1536 einsetzt und den letzten Einträgen zu den Täufern im Schorndorfer Amt um 1620 endet. Die gedruckte Sammlung der württembergischen Täuferakten Gustav Bosserts, die die vom Verein für Reformationsgeschichte herausgegebene Editionsreihe der Täuferakten im Jahre 1930 einleitete, ist vergleichend konsultiert worden. 267 Sie bietet einen guten Einstieg in das Thema, hält aber mit ihren sprachlich modernisierten Regesten und aus unterschiedlichen Aktenstücken zusammengesetzten thematischen Einheiten den heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht stand. 268 Das grundlegende Problem der Edition besteht darin, dass durch meist unmarkiert bleibende Auslassungen und Raffungen der Akten inhaltliche Zusammenhänge hergestellt werden, die im ursprünglichen Aktenbestand nicht gegeben sind, aber die Interpretationen des Lesers stark steuern. An anderen Stellen wiederum ist die zeitgenössische Logik der Akten aufgebrochen worden. 269 263 Diese sind vor kurzem als Druckedition in der von Emil Sehling initiierten Reihe „Die württembergischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts“ zugänglich gemacht worden, vgl. Arend, Kirchenordnungen. 264 HStAS A63/ 4; HStAS A63/ 42. 265 HStAS A206/ 4417. 266 HStAS A206/ 4466. 267 QGT I. Lediglich die Quellenbeispiele aus der katholischen Zeit vor 1534, wie etwa die Urgicht des Zuberhans aus dem Jahre 1528 (vgl. unten Kap. 2.3.), sowie einzelne, von Bossert jeweils in ursprünglichem Wortlaut wiedergegebene Verordnungen werden in der vorliegenden Studie aus der gedruckten Edition zitiert. Bei der Transkription der Auszüge aus den Täuferordnungen im Anhang der Arbeit ist die Edition Bosserts ebenfalls als Hilfestellung benutzt worden; für den interessierten Leser sind an dieser Stelle auch die Textstellen im QGT I angegeben. Insgesamt sind die wortgenauen Wiedergaben sind in der Quellenedition Bosserts mit abweichender Schrifttype deutlich gekennzeichnet. 268 Die Editionsprinzipien wurden später in der Editionsreihe als „kentaurisches Mißgebilde, eine willkürliche Mischung aus Bestandteilen der originalen Überlieferung und unserer modernen Rechtschreibung“ aufgegeben. Vgl. Krebs, Vorwort, S. xv. 269 So sind bspw. bei den Akten zur Spezialvisitation in Urbach 1598/ 99 die im Original mit den Buchstaben A-G gekennzeichneten Beilagen des Visitationsberichts, falls überhaupt wiedergegeben, in der Druckedition nicht als solche erkennbar (vgl. QGT I, S. 705-752, mit HStAS A282/ 3094c). <?page no="59"?> 60 Es nicht davon auszugehen, dass aus den umfangreichen Aktenbeständen alles aufgenommen worden ist. 270 Nicht zuletzt ist die Edition Bosserts ihrem Horizont entsprechend nur auf die Quellen zugeschnitten, die sich explizit mit den Täufern bzw. den Schwenckfeldern in Württemberg auseinandersetzen. Über die materiellen, sozialen und politischen Bedingungen des dörflichen Alltags, in dem sich täuferisches Leben und Handeln im Allgemeinen abspielte, ist in der Sammlung nur bedingt etwas zu erfahren. Auch die jeweiligen Gemeindepfarrer werden nur in ihrer Beziehung zum Täufertum erfasst. Indem in der vorliegenden Arbeit die Synodus- und Visitationsprotokolle stärker berücksichtigt werden, lassen sich Einblicke in das Gemeindeleben der Dörfer gewinnen, selbst wenn sich diese vornehmlich auf bestimmte im Brennpunkt des obrigkeitlichen Interesses liegende Sachverhalte und v. a. Mängel in den Pfarreien beschränken. Es zeigt sich jedoch bereits an kleinen Stichproben in den Protokollen ein breiteres Spektrum des kirchlichen Zusammenlebens und innerdörflicher Spannungen als die nur auf die Täufer zugespitzten Quellen vermitteln können. 271 1.3.2. Quellenkritische und methodische Überlegungen Die Täuferforschung, sofern sie sich nicht allein mit den theologischen Schriften der täuferischen Wortführer befasst, ist in hohem Maße auf die obrigkeitliche Überlieferung angewiesen. Ähnlich ist es mit der Konfessionalisierungs- und der Visitationsforschung bestellt. Die Problematik der obrigkeitlich ‚gefilterten‘ Quellen, insbesondere der Verhörprotokolle, in denen die als Täufer Verdächtigten vor den Obrigkeiten unter enormen Druck, womöglich unter Folter und angesichts einer drohenden Todesstrafe Aussagen über ihre Glaubens- und Lebenseinstellungen, Glaubensgenossen und ‚sektiererische‘ Aktivitäten treffen mussten, ist in der Täuferforschung bekannt. 272 Dennoch werden die methodischen Herausforderungen der genutzten Quellen selten tiefergehend thematisiert. Vielmehr wird ihre Nutzbarkeit allgemein akzeptiert - allein, weil sonst „jede Täuferforschung auf[hört]“. 273 270 Etwa das eingangs zitierte Schreiben des Schorndorfer Spezialis vom 20. Juni 1616 über Barbara Halt ist in der Edition nicht enthalten. Ein konsequentes Verfahren bei den Auslassungen ist allerdings nicht auszumachen. 271 Zu den gedruckten, insbesondere in der nordamerikanischen Täuferorschung „quasi kanonischen“ Editionen der Täuferakten siehe auch jüngst die kritischen Überlegungen von Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 72, und Schubert, Täuferforschung, S. 404 (Zitat). 272 Siehe z. B. Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 4f.; Clasen, Anabaptism, S. xiii-xvii; Oyer, The Anabaptists in Esslingen, S. 254, 261, 270. 273 So die Einschätzung von Eberhard Teufel. Zit. nach: Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 5. Elsa Bernhofer-Pippert, die ihrer Studie Verhörprotokolle der Täufer im oberdeutschen Raum zugrunde legte, hält fest: „Von maßgeblicher Seite ist mehrfach zu größter Vorsicht bei der Benutzung dieser Akten geraten worden. Sie ist in der Tat erforderlich. Sehr rasch jedoch zeigt sich, daß im großen und ganzen beide Parteien als glaubwürdig gelten können. Die wenigen Ausnahmen - ob unwahre Äußerungen der Täufer oder unzutreffende Aufzeichnungen der <?page no="60"?> 61 Um das methodische Instrumentarium der Täuferforschung bezüglich der obrigkeitlichen Überlieferung zu schärfen, erscheint es sinnvoll, in Zukunft stärker die Erkenntnisse neuerer Arbeiten über ähnliche Quellen zu berücksichtigen (bspw. mittelalterliche Häresien, Hexenverfolgungen oder Prozesse der Kriminalisierung). Hiermit lässt sich der Blick sowohl für die Grenzen als auch die Chancen dieser Quellentypen sensibilisieren. Darüber hinaus erlaubt es die Entwicklung neuer Fragestellungen, handelt es sich doch um grundsätzliche Schwierigkeiten, mit der sich die gesamte Frühneuzeitforschung auseinandersetzen muss, wenn sie Themen jenseits der Elite bearbeiten will. 274 Es ist in den letzten Jahren immer wieder betont worden, dass der obrigkeitliche Blick keinen ‚objektiven‘ Zugang zu den Lebenswelten der Laien eröffnet. Viele dieser Verzerrungen werden deutlich, wenn man den administrativen Entstehungsprozess der Akten näher betrachtet. Gerald Strauss hat in seiner - bereits 1978 veröffentlichten, nach wie vor für die Visitationsforschung zentralen - Studie mehrere Kategorien entwickelt, um die Zuverlässigkeit der Informationen zu beschreiben, die Historiker über die religiösen und moralischen Verhältnisse vor Ort gewinnen können. Diese Kategorien erstrecken sich vom Prozess des Datensammelns und der Verschriftlichung der Informationen in der Verhörsituation über die Praxis der Textbearbeitung, der die Protokolle im Prozess von der Notiz zur Reinschrift unterzogen wurden, den performativen Aspekten einer Visitation, der vermeintlichen Tendenz der Verhörenden, Mängel aufdecken zu wollen und diese zu übertreiben bis hin zu den Einstellungen der Verhörten, möglichst wenig von sich preiszugeben. 275 Es kann somit grob zwischen den Schwierigkeiten unterschieden werden, die einerseits aus den jeweiligen Praktiken der Visitatoren bzw. Protokollanten resultierten, andererseits durch zeitliche und materielle Faktoren im Verlauf des administrativen Verfahrens verursacht wurden. Obrigkeiten - sind durch Vergleiche schnell und sicher herauszufinden. Die Glaubwürdigkeit der Verhörsakten darf also nicht schlechthin angezweifelt werden.“ Ebd., S. 4f. Ähnlich lautet das Urteil Claus-Peter Clasens: „Officials who wanted to suppress the Anabaptist movement first had to find out what its aims were and who belonged to it; hence the documents are of a strongly factual nature. “ Clasen, Anabaptism, S. xiv. Eine relativ große Zuverlässigkeit misst den Täuferverhörprotokollen auch Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 78-80, bei. 274 Ehrenpreis & Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, S. 61. Ähnlich stellt Schwerhoff, Die Inquisition, S. 9, einen Vergleich zwischen den Verfolgungs- und Verhörspraktiken zwischen „inquisitorischer Ketzerverfolgung und derjenigen anderer weltlicher oder kirchlicher Gerichte“ als lohnenswertes Unterfangen heraus. Stellvertretend für diese Forschungsrichtungen soll hier lediglich auf die folgenden Titel mit jeweils weiterführender Literatur hingewiesen werden: Cameron, Waldenses; Davis, Fiction in the Archives; Esders & Scharff, Eid und Wahrheitssuche; Labouvie, Verbotene Künste; Dies., Zauberei und Hexenwerk; Modestin, Ketzer in der Stadt; Moore, Persecuting Society; Pegg, The Corruption of Angels; Roper, Witch Craze; Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch; Ders., Köln im Kreuzverhör; Waite, Eradicating the Devil’s Minions; Ders., Heresy. 275 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 257-267. Zu den Zeitebenen und Verzerrungen in den Verhörprotokollen siehe auch Behringer, Gegenreformation als Generationenkonflikt, S. 283. <?page no="61"?> 62 Die Akten wurden durch Akteure geschaffen, die obrigkeitliche Amtsträger waren und so in einem spezifischen Verhältnis zu den Herrschaftspraktiken und Machtverhältnissen standen, innerhalb derer sie die Akten produzierten. Dementsprechend war nicht nur das Verhalten der Verhörten von strategischen Anliegen geprägt, sondern auch das der Verhörer. Sie waren aber auch Menschen, die innerhalb des vorgegebenen Rahmens Dinge unterschiedlich wahrnehmen, bewerten und in Worte fassen konnten. 276 Ein und derselbe Visitator konnte seine Beobachtungen in den einzelnen Gemeinden auch unterschiedlich gewichten. „So kann es sein, daß ein Visitator vom Ort A nur über Glaubensabweichungen berichtet, während ihm der anstößige Lebenswandel des Pfarrers von B eine lange Klage entlockt, wohingegen er in C nichts anderes wahrnimmt als das wohlgebaute Gotteshaus mit seinem prächtigen Altar.“ 277 Gerald Strauss hat die Vertrauenswürdigkeit der Visitatoren grundsätzlich angezweifelt, die sich seiner Ansicht nach im Sammeln von Information kaum um eine Unterscheidung zwischen Gerüchten und Fakten bemühten. 278 Individuell gelagert war auch das Engagement oder Können der Visitatoren in ihrem Amt. Obwohl die Beschreibungen eigentlich dem vorformulierten Schema hätten folgen sollen, hielten sich die Visitatoren nicht immer streng an die Vorgaben. Dies führt Peter Thaddäus Lang auf die Neuartigkeit des gesamten Visitationsverfahrens im 16. Jahrhundert zurück: „Die mit der Visitation befaßten kirchlichen Verwaltungseinrichtungen hatten deshalb noch wenig Erfahrung im Gebrauch dieses Kontrollinstruments“ und hatten es entsprechend „vielfach noch nicht gelernt, sich streng an die Interrogatorien zu halten“. 279 Möglicherweise ließen manche Visitatoren besonders in den ersten Jahren der nachreformatorischen Visitationstätigkeit sogar einen „nicht unbeträchtliche[n] Teil der zur Visitation vorgesehenen Orte [...] einfach links liegen“. 280 Insgesamt ist davon auszugehen, dass insbesondere die als zufriedenstellend geachteten Befunde im Verlauf des administrativen Verfahrens stärker zusammengefasst wurden. 281 Letztlich blei- 276 Vgl. Davis, Fiction in the Archives, S. 5f.; Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 64. Wie unterschiedlich die Protokolle einer Sitzung durch verschiedene Schreiber ausfallen konnten, zeigen die von Ralf Klötzer edierten Verhörprotokolle der Täuferführer von Münster. Klötzer, Die Verhöre der Täuferführer von Münster. 277 Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 136. Siehe auch Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 333-339. Weit weniger Spielräume zur eigenständigen Beobachtung schreibt Scharff, Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘, S. 150, den Inquisitoren in mittelalterlichen Ketzerverfahren zu, die eng an den vorgegebenen Handbüchern beurteilt haben sollen. 278 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 254. In besonderem Maße vermischten sich Gerüchte und ‚Fakten‘ in den negativ gefärbten Beschreibungen zeitgenössischer Theologen über die Täufer. Vgl. Clasen, Anabaptism, S. xv. 279 Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 133, 136. 280 Ebd., S. 136f. 281 Vgl. Braun, Die bayerischen Teile, S. 39. <?page no="62"?> 63 ben die Visitationsprotokolle sowohl hinsichtlich der Auswahlkriterien und dem Wahrheitsgehalt der festgehaltenen Informationen unüberprüfbar. 282 Die obrigkeitliche Auswahl der überlieferten Informationen ist demnach immer selektiv. Festgehalten wurden nur Zusammenhänge, die vom Interesse für die jeweiligen Instanzen und einzelne Amtsträger waren. Hierin liegt etwa die Tendenz vieler Visitations- und Synodusprotokolle begründet, in erster Linie Mängel und und besonders Aufsehen erregende Einzelfälle zu verzeichnen, gegen die Maßnahmen ergriffen werden mussten. 283 Dies betrifft Lang zufolge insbesondere im Anschluss an eine Visitation entstandenen Beiakten der Visitationen wie etwa Urteile oder Rezesse, mit denen die Gegenmaßnahmen eingeleitet werden sollten. Diese bezeichnet Lang als „‚chroniques scandaleuses‘ im wahrsten Sinne des Wortes“. In einem neutraleren Tonfall wurden dagegen die im Zuge der Vorbereitung verfassten Akten wie etwa Visitationsinstruktionen oder -befehle gehalten. 284 Achim Landwehr zufolge fanden am Ehesten schwerwiegende Einzelfälle Aufnahme in die Visitationsprotokolle, die in dem von ihm untersuchten württembergischen Amt Leonberg v. a. die nachlässige Teilnahme an den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern betrafen. Entsprechend äußert er sich weitgehend negativ zur Möglichkeit, in den Visitationsakten „über das Anekdotische hinaus“ etwas über die alltäglichen Lebensformen der Bevölkerung erfahren zu können. 285 Die obrigkeitliche Perspektive dominiert aber nicht nur die Auswahl der festgehaltenen Informationen, sondern auch die in den Texten benutzten Begrifflichkeiten und Deutungsmuster. Es sollte vermieden werden, diese vorschnell zu übernehmen. Doch insbesondere in der Täuferforschung bedient man sich weitgehend der obrigkeitlichen Kategorien, etwa wenn als ‚Täufer‘ all die Personen angesehen werden, die dies auch in den Augen der in den Bekämpfungsprozess eingebundenen Obrigkeiten des 16. Jahrhunderts waren. 286 Die unreflektierte Übernahme zeitgenössischer Begrifflichkeiten und Denkschemata aus 282 Ebd., S. 40; Landwehr, Policey im Alltag, S. 109. 283 Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 136; Molitor, Die Generalvisitation von 1569/ 70, S. 33. 284 Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 135f. 285 Landwehr, Policey im Alltag, S. 108f. Siehe auch Braun, Die bayerischen Teile, S. 42. Obwohl die Vorbehalte Landwehrs ernst genommen werden müssen, stellt sich an dieser Stelle doch die Frage, inwiefern seine Sichtweise von den Leonberger Protokollen geleitet wird, in denen Fragen nach der religiösen Konformität der Bevölkerung offensichtlich weniger brisant waren als etwa im Amt Schorndorf. So hat z. B. David Sabean in seinen Studien zu württembergischen Herrschafts- und Widerstandsformen die Visitations- und Synodusprotokollen auf überzeugende - und durchaus quellenkritische - Art und Weise genutzt, um eben auch die lokalen Verhältnisse und Einstellungen zu beleuchten. Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert. 286 Beispielsweise die Arbeiten Claus-Peter Clasens beruhen auf dieser Prämisse. Er lobt die Gründlichkeit der Obrigkeiten insbesondere in Augsburg und Württemberg, möglichst viele Täufer namentlich festgehalten zu haben. Er erkennt zwar das Problem der Dunkelziffer für andere Regionen an, fragt aber nicht danach, wie die Kriterien eines Täufers in den jeweiligen Herrschaften festgelegt worden sind und der Etikettierungsprozess abgelaufen ist. Vgl. Clasen, Anabaptism, S. xvii. <?page no="63"?> 64 den Visitationsakten kann dazu führen, dass den obrigkeitlichen Kategorien eine überhöhte Bedeutung zugeschrieben wird. Fraglich bleibt jedoch, inwiefern diese Kategorien jenseits der obrigkeitlichen Instanzen wie von den Normgebern intendiert aufgenommen wurden. Dies hat Frank Fätkenheuer jüngst im Hinblick auf das Konzept ‚Konfession‘ besonders betont: „Während diese Quellengattung die Aufmerksamkeit auf das normengerechte religiöskonfessionelle Verhalten der Pfarrkinder und Geistlichen lenkt, könnte es sein, dass dieser Bereich außerhalb der jeweiligen Kirchenvisitation keinerlei Bedeutung für die einzelnen Menschen hatte.“ 287 Es lasse sich anhand der Visitationsprotokolle somit kaum etwas über die Rolle der Religion im Alltag der Bevölkerung sagen. 288 Es ist Fätkenheuer zufolge ein „grundsätzliches Dilemma der Konfessionalisierungsforschung“, dass man durch die obrigkeitlich geprägte Überlieferung dazu neigt, „das vorgefundene Material schnell zu kategorisieren und Abstufungen konfessionellen Bewusstseins zu suchen“. 289 Doch nicht nur die alltägliche Bedeutung der Religion, sondern auch Bereiche des dörflichen Lebens, von denen die Visitatoren nichts erfahren konnten oder sollten, werden in den Visitationsprotokollen ausgeblendet. Hierzu zählten bspw. die Konflikte, „die die Gemeinde und der Pfarrer ohne Wissen bzw. Einflussnahme der Obrigkeit regeln wollten“. 290 Insgesamt sind die Schwierigkeiten bei der Interpretation von obrigkeitlichadministrativen Akten wie Visitations- oder Gerichtsprotokollen ernst zu nehmen. Gleichzeitig dürfen sie nicht überhöht werden, gilt es doch für alle Quellengattungen, die Texte mit kritischer Distanz zu lesen und zu interpretieren. 291 Die Parteilichkeit der Überlieferung ist ein grundsätzliches Problem nicht nur der Visitationsakten, sondern aller Quellen. Erfolgversprechend ist der Versuch, ebendiese spezifisch ‚verzerrten‘ Begrifflichkeiten und Deutungsmuster zum Forschungsgegenstand zu erheben. So hat auch Landwehr seine Skepsis gegenüber dem Quellenwert der Visitationsprotokolle an anderer Stelle positiver als Chance ausgedrückt: Die Fragen nach der Teilnahme an den kirchlichen Zeremonien seien „einer der selteneren Anlässe“, in denen Untertanen überhaupt in das Blickfeld der Visitatoren rückten. 292 Es sind zwar nur Schlaglichter, die man auf die Bevölkerung werfen kann, aber dies trifft auch auf alle anderen Akteure zu, über welche die Visitatoren Aussagen treffen. 287 Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 40. 288 Wie Fätkenheuer weiter feststellt, geben selbst „die Erfolgsmeldungen über die Zahlen der Gottesdienst- und Abendmahlbesuche“ kaum Auskunft über „die Bedeutung derselben im Alltag“. Ebd., S. 40. 289 Ebd., S. 40. 290 Ebd., S. 354. 291 Vgl. Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 64f. 292 Landwehr, Policey im Alltag, S. 101. <?page no="64"?> 65 Entscheidend ist es, die dörflichen Lebenswelten fest in die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse zu verankern und sich über den Entstehungskontext der Quellen im Rahmen dieser komplexen Machtbeziehungen bewusst zu sein. 293 Wie Ralf-Peter Fuchs und Winfried Schulze im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Zeugenverhörprotokollen betont haben, müssen bei der Analyse der Quellen Zugänge aus dem jeweiligen Kontext heraus entwickelt werden. Nur so können die „spezifischen Konfliktgegenstände und -bedingungen, die den Befragungen zugrunde lagen“, angemessen berücksichtigt werden. 294 In diese Richtung weist auch das Plädoyer Landwehrs, den Blick statt auf die Adressaten der obrigkeitlichen Maßnahmen auf die Obrigkeiten selbst und auf die durch die herrschenden Machtverhältnisse asymmetrisch strukturierten Begegnungen zwischen Normgebern, Normanwendern und Normadressaten zu richten: „Stattdessen lassen sich Aussagen erwarten, die über die Beziehung zwischen der Obrigkeit auf der einen und der Geistlichkeit und den Amtleuten auf der anderen Seite Aufschluß geben. Es gab eine bestimmte Art und Weise, wie die Programmanwender sich in den Visitationen zu präsentieren versuchten, die wiederum Rückschlüsse auf die Zustände in der lokalen Gesellschaft zuläßt.“ 295 Aufschlussreich ist weiter die von Natalie Zemon Davis bereits in den 1980er Jahren vorgestellte Methode, frühneuzeitliche Supplikationen an den Herrscher als Erzählungen zu lesen. Betont werden hierbei die narrativen und strategischen Aspekte der Texte. Aus diesem Blickwinkel eröffnen sich Zugänge zu den zeitgenössischen Rollenvorstellungen und gesellschaftlichen Werten, die das Erzählen maßgeblich beeinflussten. Denn um erfolgreich vor Gericht argumentieren zu können, mussten die Vorgeladenen die Obrigkeiten von ihrer Unschuld überzeugen. Es musste eine Geschichte präsentiert werden, die sich gegenüber alternativen Erzählmustern durchsetzen konnte. Hierbei war es wichtiger, Sachverhalte und Ereignisse plausibel zu interpretieren und in Szene zu setzen als diese nur deskriptiv wiederzugeben. Gleichzeitig war es strategisch sinnvoll, die Authentizität bzw. Glaubwürdigkeit des Erzählten durch eine möglichst konkrete Benennung von Personen, Plätzen, Handlungen und Gesten zu untermauern und Brüche in der Interpretation herunterzuspielen. 296 Nun hat Davis mit den an den französischen König gerichteten Gnadengesuchen eine spezifische Quellengruppe bearbeitet. Diese Quellen hat sie explizit 293 Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 12. Siehe auch die weiteren Untersuchungen Sabeans, z. B. Sabean, Peasant Voices; Ders., Soziale Distanzierungen; Ders., Village Court Protocols. 294 Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 13. Siehe auch Simon-Muscheid & Simon, Zur Lektüre von Gerichtstexten, S. 20f. 295 Landwehr, Policey im Alltag, S. 109. 296 Davis, Fiction in the Archives, S. 15, 37, 45-47. Siehe auch Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit; Roper, Witch Craze, S. 52; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 104f.; Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 653-655; Simon-Muscheid & Simon, Zur Lektüre von Gerichtstexten. <?page no="65"?> 66 von Gerichtsakten abgegrenzt, in denen weniger vollständige narrative Strukturen zu erkennen sind. 297 Auf die Verhörprotokolle übertragen lassen sich weniger die erzähltechnischen Mittel untersuchen, die Taktiken bzw. Strategien der Verhörten dagegen schon. 298 Die Visitation kann als spezifische Art von Verhör angesehen werden, in der die Methoden und Möglichkeiten der Informationserhebung, Druckmittel und Bestrafung trotz offensichtlicher Parallelen etwas anders gelagert waren als etwa in einem weltlichen Strafprozess. Ähnlich wie in den Supplikationen wurden die Aussagen der Vorgeladenen vor Gericht und in den Visitationen vom Anliegen gesteuert, „die eigene Rolle bei verbotenen Tätigkeiten zu negieren oder wenigstens zu minimieren, sich und andere vor drohender Strafverfolgung zu schützen und mögliche Gegner in Verruf zu bringen“. 299 Obwohl die Verhörten bemüht waren, möglichst wenig Informationen preiszugeben, lassen sich in den Protokollen Hinweise auf „gesellschaftlich vermittelte Werthaltungen, Erfahrungen, Wissensbruchstücke“ finden. Dies haben Ralf-Peter Fuchs und Winfried Schulze als „soziales Wissen“ bezeichnet, das den „Wissensvorrat des lebensweltlichen Denkens“ umfasst. Mit diesen - durchaus auch inkohärenten - Selbstverständlichkeiten bzw. Alltagswahrheiten sollte das alltägliche Leben durch Berechenbarkeit und Gewohnheit geordnet werden. 300 297 Zeugen etwa wurden gezielt zu den Ereignissen befragt und konnten weniger frei berichten, so dass ihre Erzählungen oftmals Anfang und Ende der Geschichte vermissen lassen. Angeklagte dagegen richteten ihre Ansprachen auf den Richter, was die Art und Weise ihres Erzählens strukturierte. Die Handlungen wurden in Einzelfragen aufgebrochen, die im Prozess der Verschriftlichung vom Schreiber künstlich wieder in eine kohärente Narrative zusammengefasst wurden. Davis, Fiction in the Archives, S. 5f. 298 Zur Unterscheidung zwischen Strategien und Taktiken siehe z. B. Füssel, Die Kunst der Schwachen, S. 18-24. In Anlehnung an Michel de Certeau deutet Füssel Strategien als gezielte und von einem institutionellen Ort aus koordinierte Handlungsformen. Taktiken dagegen werden als weniger autonome Handlungen verstanden, die sich in einem „stets vorgegebenen Handlungsrahmen“ vollziehen, „dessen Strukturprinzipien von einer fremden Gewalt organisiert sind“. Im Fall der vermeintlichen Täufer und Täuferinnen im Schorndorfer Amt ist es kaum möglich, eindeutige Grenzen zwischen Strategien und Taktiken zu ziehen bzw. stellt sich die Frage, inwiefern der durch die Obrigkeiten vorgegebene Rahmen tatsächlich so effektiv organisiert war, dass die Vorgeladenen als schwächere Partei ausschließlich auf aus aktueller Notwendigkeit entstandene „‚Taktiken‘ der Aneignung“ hätten zurückgreifen können. Dieser Schwierigkeit ist sich auch Füssel bewusst, der später nach der konkreten Reichweite obrigkeitlicher Strategien fragt. In der vorliegenden Arbeit wird mit dem Begriff ‚Strategie‘ an die offenere Definition Bourdieus angeknüpft, der Strategien als Produkt eines „Spiel-Sinns“ charakterisiert hat, d. h. „eines Sinns für ein historisch bestimmtes, besonderes soziales Spiel“. Dieser „Spiel- Sinn“ ist weder unfehlbar noch gleichmäßig unter den Akteuren verteilt. Bourdieu, Rede und Antwort, S. 83. 299 Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 63. Siehe auch Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 655. 300 Die Autoren folgern hieraus: „Das Individuum wird dadurch nicht nur als Rezeptor, sondern als Akteur in den Prozess einer ständigen sozialen Produktion von Wirklichkeit eingespannt [...].“ Insgesamt unterscheiden Fuchs und Schulze zwischen „Allgemeinwissen“, „Sonderwissen“ und deren Mischformen. Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 32-37. <?page no="66"?> 67 Das formalisierte Gerichtsverfahren kann gewissermaßen als Korrektiv angesehen werden. Das Gleiche gilt für das in den Vorschriften relativ genau geregelte württembergische Visitationsverfahren. Wie Gerd Schwerhoffherausgestellt hat, liefern insbesondere umfangreichere Prozesse und Prozessakten ein „multiperspektivisches Bild der Ereignisse und verringern die Gefahr, einer bestimmten, vielleicht sogar bewußt lancierten Version ‚auf den Leim‘ zu gehen“. 301 Bei der Auswertung der Gerichts- und Visitationsakten ist somit weniger nach den ‚harten Fakten‘ eines bestimmten Falles zu fragen, sondern vielmehr dem durch die Quellen vermittelten Alltagswissen, gesellschaftliche Werte und Normen, Handlungskonzeptionen sowie den Relevanzkriterien der Argumentation nachzugehen. Entscheidend ist dabei die Plausibilität der Argumentation für die Zeitgenossen. 302 Die Multiperspektivität der Protokolle hat auch David W. Sabean betont. Festzuhalten bleibt für die folgenden Kapitel: Visitationsprotokolle richten Diskurse neu aus, extrahieren Informationen und betten diese in neue Kontexte ein. 303 „Protocols were shaped by many forces, including the exigencies of story line, the hierarchical reportorial context, conspirational alliances, ambivalences of open and hidden conflict, and strategies of shaming, revenge, and aggrandizement. In turn, they imposed silences, channeled discourse, provided mechanisms for outsiders to dominate, and offer for the historian the possibility of studying the interrelationships between the circulation of written texts and local social discourse.” 304 So ist es Sabean zufolge die wichtigste Aufgabe, die dem Historiker bleibt, Dialogisches in einem Text zu wiederzuentdecken, der ein monologischer Bericht geworden ist. 305 Hierbei wird der Blick zum einen auf die Argumentationsweisen, Handlungsoptionen und das Auftreten der Akteure gerichtet, zum anderen der herrschaftliche Entstehungskontext der über diese Begegnungen berichtenden Schriftstücke einer vertieften Analyse unterzogen. 1.3.3. Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in sechs übergeordnete Kapitel gegliedert. Zu Beginn werden zunächst der sozial- und kirchenhistorische Kontext in Württemberg sowie die Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung im Schorndorfer Amt im 16. und frühen 17. Jahrhundert erläutert, um danach die württembergische Täufer- 301 Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 64f. 302 Ebd., S. 65f.; Simon-Muscheid & Simon, Zur Lektüre von Gerichtstexten, S. 18f. 303 Sabean, Peasant Voices, S. 88. Siehe auch Landwehr, Jenseits von Diskursen und Praktiken, S. 64f. 304 Sabean, Village Court Protocols, S. 23. Zum Wandlungsprozess von den in den Visitationen erhobenen ‚Informationen‘ hin zu anwendbarem ‚Wissen‘ siehe Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 287-290. 305 Sabean, Peasant Voices, S. 89. Ähnlich argumentiert Ginzburg, Der Inquisitor als Anthropologe. <?page no="67"?> 68 bewegung 306 in diesen Rahmen einzuordnen. Daraufhin werden die obrigkeitlichen Täuferbilder am Beispiel der protestantischen württembergischen Täuferordnungen von 1536 bis 1584 analysiert und das abgestufte Kategoriensystem täuferischer Devianz herausgearbeitet, das in den Visitationen angewandt werden sollte. Die Kapitel 4-6 widmen sich den verschiedenen Kräftefeldern, die in den Visitationen miteinander in Kontakt traten: Der Visitationskommission (Kapitel 4), der lokalen Kirchendiener (Kapitel 5), der Gemeinden und ihrer Vertreter (Kapitel 5) sowie zuletzt der als Täufer vorgeladenen Personen (Kapitel 6). Hierbei wird dem Verfahrensablauf einer Visitation gefolgt, wonach zunächst die lokalen Kirchendiener, danach die örtliche Ehrbarkeit sowie zuletzt die religiösen Dissidenten thematisiert werden sollten. Nachdem das Verfahren und die von den Normgebern festgelegten Ziele der Visitation beleuchtet worden sind, werden die Pflichten der einzelnen Akteure und Gruppen untersucht, mit denen die gesellschaftliche Besserung erreicht werden sollte. Aus diesen Anforderungen lassen sich die Notwendigkeiten der Legitimation und Strategien der positiven Selbstdarstellung herleiten, die einen zentralen Teil dieser Kapitel ausmachen. Hierbei soll der Blick von ‚oben‘ durch das Aufzeigen der den am Prozess beteiligten Akteuren zur Verfügung stehenden bzw. im Verlauf der Visitation eroberten Spielräume durchbrochen werden. Im Anhang der Arbeit finden sich ausgewählte Auszüge aus den Täuferordnungen. Aus der Täuferordnung von 1571 sind die dort aus lutherischer Perspektive verschriftlichten zentralen Lehren der Täufer festgehalten. Aus den Täuferordnungen von 1536 und 1571 sind die Fragenkataloge wiedergegeben, mit denen die religiösen und politischen Auffassungen der Verdächtigten abzufragen waren. 306 Allerdings ist diese Bezeichnung fast zu ‚hoch‘ gegriffen, denn es kann von keiner einheitlichen Bewegung mit einheitlichen Zielen bzw. Organisation gesprochen werden. Dennoch wird dieser Begriffdem des ‚Täufertums‘ vorgezogen, der ebenso untreffende statische Homogenität suggeriert, nicht zuletzt, weil die frühneuzeitlichen Normgeber den Täufern und Täuferinnen durchaus Ziele und Formen einer Bewegung zuschrieben. Zum Begriffder religiösen Bewegung siehe Goertz, Pfaffenhaß, S. 246-249; Ders., Religiöse Bewegungen, S. 3-5; Scribner, Popular Culture, S. 150. <?page no="68"?> 69 2. Das ‚Setting‘ 2.1. Württemberg und das Amt Schorndorf 2.1.1. Reformfreudige Herzöge Nach dem Übertritt zum Protestantismus bestand im Herzogtum Württemberg ein hoher Regelungsbedarf der Kirchenorganisation im weitesten Sinne, von der Festlegung der offiziellen Lehren und Liturgie auf der Basis der neuen Konfession, der Besetzung der Pfarreien mit evangelischen Kirchendienern, über die Organisation des Schulwesens und der Armenfürsorge bis hin zum Aufbau der „Kirchenstruktur im evangelischen Staat“. 1 In Württemberg wurde das evangelische Kirchenwesen in zwei Phasen unter Herzog Ulrich (1534-1550) und Herzog Christoph (1550-1568) neu organisiert und verfestigt bzw. nach dem Interim wieder aufgebaut. Insgesamt war der Ausbau der evangelischen Landeskirche ein langer Prozess: Zum einen hatten die württembergischen Herzöge „bereits lange vor Einführung der Reformation ein landesherrliches Kirchenregiment aus[geübt], indem sie einen Großteil der Patronatsrechte über geistliche Benefizien in ihren Händen hielten“. 2 Zum anderen vergingen mehr als zwei Jahrzehnte, bis im Herzogtum nach der ersten reformatorischen Predigt im Jahre 1534 „eine ausgefeilte kirchliche Verfassung und Verwaltung“ aufgebaut worden war. 3 Die kirchliche Neuordnung Württembergs unter Herzog Ulrich steht im Zusammenhang mit einer umfassenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gesetzgebungstätigkeit direkt nach Amtsantritt des neuen Landesherrn. Es handelt sich also nicht um eine ausschließlich auf den kirchlichen Bereich bezogene Tendenz innerhalb der Verwaltungsgeschichte. 4 Die neuen Gesetze wurden in der Landesordnung von 1536 schriftlich festgehalten, die Achim Landwehr zufolge im Rückblick als „Beginn einer Entwicklung“ angesehen werden kann, „in der durch den Erlaß von Policeyordnungen das Territorium strukturiert und konsolidiert wurde“. 5 Viele der Bestimmungen betrafen kirchliche Angelegenheiten, was „einerseits den christlich-protestantischen Charakter des Staatswesens, andererseits die wie selbstverständlich praktizierte Beteiligung und Mitwirkung des Staa- 1 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 14. Vgl. Willoweit, Das landesherrliche Kirchenregiment, S. 365. 2 Arend, Kirchenordnungen, S. 18. Herzog Ulrich knüpfte mit seinen Reformen an die Maßnahmen seiner Vorgänger an, die seit Mitte des 15. Jahrhunderts „mit zunehmender Deutlichkeit“ eine „ausgeformte Kirchenherrschaft“ angestrebt hatten. Vgl. Mertens, Handbuch, S. 104. 3 Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 37. 4 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 15; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 24f. Siehe auch Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 232. 5 Landwehr, Württemberg, S. 556. <?page no="69"?> 70 tes im religiösen Bereich“ dokumentiert. 6 Mit der Überwachung der Sittenzucht etwa wurden in der Landesordnung nicht in erster Linie die geistlichen, sondern die weltlichen Obrigkeiten beauftragt. 7 Die erste Phase der kirchlichen Umgestaltung nach reformatorischen Prinzipien wurde unter Herzog Ulrich zügig eingeleitet. Die Verantwortlichen mussten in kurzer Zeit maßgebliche Änderungen in der Kirchenorganisation herbeiführen, ohne einheitliche Vorstellungen davon zu haben, wie die neue Kirche im Detail aussehen sollte. Spannungen ergaben sich insbesondere zwischen den zwei Lesarten der Reformation, die in Württemberg zunächst Seite an Seite existierten, d.h. zwischen den lutherisch bzw. den zwinglisch orientierten Auffassungen der neuen Kirche. 8 Dass die Bestimmungen der protestantischen Landeskirche in Württemberg von Anfang an ein Produkt von Verhandlungen waren, zeigt auch die Tatsache, dass die Reformation zunächst regional unterschiedlich eingeleitet wurde: Für die kirchlichen Belange im nördlichen Teil des Herzogtums „unter der Steig“ wurde der lutherische Theologe Erhard Schnepf zuständig gemacht, im südlichen Teil „ob der Steig“ dagegen hatte der zwinglisch geprägte Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer sein Amtsgebiet. 9 Durch den Anschluss Württembergs an die Wittenberger Konkordie im Jahre 1536 sowie durch die Anbindung der Kirchenordnung an die Confessio Augustana von 1530 konnte das anfänglich ambivalente theologische Profil des Herzogtums nunmehr eindeutig dem Luthertum zugeordnet werden. 10 Selbst wenn sich langfristig die lutherische Form der Reformation gegen Tendenzen der oberdeutschen Theologie durchsetzte, kann man mit Recht behaupten, dass die Reformation sich in Württemberg „innerhalb eines überaus komplizierten Kräftespiels [vollzog] und selbst Teil desselben [war].“ 11 Neben der Landesordnung wurde im Jahre 1536 nach einem langen Ringen um ihre Gestalt eine Kirchenordnung erlassen, in der die Bibel als verbindliche Richtschnur für die Lehre festgelegt wurde und praktische Fragen zur Gestaltung 6 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 232. 7 Ebd., S. 232, 260. 8 Ebd., S. 223; Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 35. 9 Die Kirchenordnung von 1536 entstand unter dem Einfluss von Schnepf und Blarer sowie dem später dazugezogenen Reformator der Reichsstadt Schwäbisch Hall, Johannes Brenz. Aus Rücksicht auf die Anhänger Zwinglis und der oberdeutschen Theologie führte man in Württemberg nicht Luthers, sondern den von Johannes Brenz für Schwäbisch Hall verfassten Katechismus ein. Die lutherischen Lehrinhalte wurden in der oberdeutsch geprägten Form präsentiert, was für den Gottesdienst v. a. den Rückgriffauf die spätmittelalterlichen städtischen Predigtgottesdienste bedeutete. Arend, Kirchenordnungen, S. 19, 26; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 232f.; Ehmer & Al. (Hg.), Gott und Welt, S. 79, 81f.; Mertens, Handbuch, S. 102. 10 Ambrosius Blarer verweigerte allerdings seine Unterschrift der Schmalkaldischen Artikel Luthers und wurde im Jahre 1538 seines Amtes enthoben. Arend, Kirchenordnungen, S. 26-28. 11 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 203. Siehe auch Mertens, Handbuch, S. 103. <?page no="70"?> 71 des Gottesdienstes geklärt wurden. 12 Noch vor der Herausgabe der Landes- und der Kirchenordnung war im Sommer 1535 eine Visitationsordnung ergangen, die im folgenden Jahr durch eine Visitationsinstruktion ergänzt wurde. 13 Am Beispiel dieser Visitationsordnung zeigt sich, dass die neue Kirchenstruktur weitgehend aus aktuellen Belangen heraus entwickelt wurde: Die Ordnung wurde von Johannes Brenz ausgearbeitet und war zunächst als Grundlage für eine einmalige Überprüfung bzw. Visitation der Ämter Württembergs gedacht. 14 Doch schuf sie die Basis der regelmäßigen Visitationen im Herzogtum und kann im Rückblick als Beginn einer protestantischen Kirchenverwaltung in Württemberg angesehen werden. Kurz vor der Einführung des Interims wurde 1547 eine Visitationsordnung erlassen, in der die Vorgaben für das Visitationswesen weiter ausgebaut und in ihrer Struktur deutlicher umrissen wurden. 15 War in der Visitationsordnung von 1536 noch eine lediglich ad hoc einberufene Kommission vorgesehen gewesen, wurde mit der Visitationsordnung von 1547 eine Instanz eingerichtet, die sich allmählich zu einer selbständigen kirchlichen Zentralbehörde entwickelte. Auch das Verfahren der Visitation wurde in dieser Ordnung festgelegt. Des Weiteren wurde in der Visitationsordnung von 1547 die Einteilung des Herzogtums in 23 Verwaltungseinheiten (Dekanate) sowie die Einrichtung von Synoden vorgeschrieben. Der Dekan als Vorsitzender seines Amtsbezirkes hatte Aufsicht über die Geistlichen in seinem Gebiet zu führen und zweimal jährlich in Anwesenheit der obersten Kirchenleitung, d. h. der beiden Superattendenten, eine Synode abzuhalten. Trotz des 1548 eingeführten Interims werden den Synodal- und Visitationsordnungen von 1547 eine wichtige Rolle bei der Festigung der württembergischen Landeskirche zugemessen, da sie die zukünftigen Strukturen festgelegt haben. 16 Die hier kurz umrissenen Ordnungen markieren gewissermaßen den Abschluss der Neuorganisation der Kirchenleitung und -verwaltung unter Herzog Ulrich, einer Entwicklung, die „von der vollständigen Abhängigkeit der Kirche von der weltlichen Gewalt bis zur Herausbildung eines Freiraums für das kirchliche Handeln“ 17 verlief. 18 Die evangelische Landeskirche in Württemberg konnte 12 Arend, Kirchenordnungen, S. 26f.; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 223-225. 13 Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 27f., 136-142. 14 Ebd., S. 27f. 15 Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 149-156; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 264. 16 Die praktische Gestaltung der Synoden dagegen wurde in der Synodalordnung von 1547 festgelegt. Arend, Kirchenordnungen, S. 31f.; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 264f., 317. 17 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 266. 18 Zusätzlich zu den bisher aufgeführten Ordnungen erließ Herzog Ulrich während seiner 16jährigen Amtszeit eine Reihe einzelner Mandate, um den Status der neuen Lehre in seinem Lande weiter zu festigen, vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 28. Diese können im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher berücksichtigt werden. <?page no="71"?> 72 sich unter Herzog Ulrich wichtige Handlungsfreiräume innerhalb ihres Kompetenzfeldes sichern, die unter Ulrichs Sohn und Nachfolger Herzog Christoph weiter konsolidiert wurden. So sehen Martin Brecht und Hermann Ehmer den entscheidenden Unterschied zwischen der Kirchenorganisation unter Herzog Ulrich und Herzog Christoph gerade in der „wesentlich straffer von oben nach unten“ durchgeführten Organisation der christophinischen Kirche. 19 Insgesamt hatte Herzog Ulrich seine politische Stellung mit Hilfe der Reformation deutlich erhöhen und seine Macht gegenüber der württembergischen Ehrbarkeit 20 erweitern können. Dem frisch gekürten Landesherren war viel daran gelegen, seine Herrschaft in Württemberg möglichst schnell und effektiv zu konsolidieren. 21 Dies erzielte er durch „günstige Koalitionen“ sowohl nach innen „durch Umschichtungen innerhalb der Ehrbarkeit, durch den Aufbau eines neuen Pfarrerstandes und überhaupt durch die Förderung neuer Bildungseliten“ als auch nach außen „durch die Pflege der Fürstensolidarität und der konfessionellen Solidarität“. 22 Unter den Programmpunkt ‚konfessionelle Solidarität‘ oder ‚konfessionelle Glaubwürdigkeit‘ fiel auch die Sekten- und Täuferbekämpfung. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass bei der Prüfung der Pfarrer auch die von ihnen zu führenden Tauf-, Ehe- und Totenbücher zu kontrollieren waren. 23 Die Taufbücher waren Martin Brecht und Hermann Ehmer zufolge in erster Linie eingeführt worden, um effektiver gegen die Täufer vorgehen zu können. 24 Dies ist ein konkreter Hinweis darauf, dass die Täufer- und Sektenbekämpfung einen festen Bestandteil der württembergischen Kirchenverwaltung darstellte. Im Rahmen der Visitation deutet darauf auch die Aufgabe der Generalsuperintendenten hin, die Abendmahlspraxis im Lande zu überwachen. Das vorgeschriebene Verfahren, niemanden ohne vorherige Anmeldung und Befragung durch den Pfarrer zum Abendmahl zuzulassen, war Brecht und Ehmer zufolge u. a. „wegen der 19 Ebd., S. 266. 20 Damit sind hier insbesondere die wohlhabenden städtischen Führungsschichten gemeint. Vgl. Blickle, Landschaften im Alten Reich, S. 90. 21 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 323-235; Mertens, Handbuch, S. 100f. 22 Mertens, Handbuch, S. 100. 23 Die Anlegung der Taufbücher im gesamten Herzogtum wurde in der Großen Kirchenordnung von 1559 enthaltenen Visitationsordnung der Superintendenten den Generalsuperintendenten als Aufgabe erteilt: „Wir verordnen und wöllen auch, das unsere General Superintendenten jeder in seinem Gezirck bey allen Pfarkirchen dise verordnung thon sollen, das bey jeder ein sonder Buch, [...] wann und so offt ein Kind zum Tauffgebracht, desselbigen Kinds, auch seines Vatters, Mutter sampt Gevatter Namen, darzu den Tag und Jar, in dem jedes Kind getaufft, in selbig Buch ordenlich und underschidlich alles, mit der Ordnung und ursachen, die wir inen hieneben sonders hierüber gegeben, einzuschreiben, wölches Buch alle zeit bey der Kirchen verwart, behalten und pleiben soll, etc.“ Hier erfolgt allerdings keine explizite Nennung der Täufer als Grund für diese Maßnahme. Arend, Kirchenordnungen, S. 394. 24 Eine untergeordnete Rolle mag die Möglichkeit gespielt haben, durch die Einträge in den Kirchenbüchern bei Bedarf das vorgeschriebene Mindestalter für Eheschließungen nachweisen zu können. Vgl. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 320. <?page no="72"?> 73 außerkirchlichen Kritiker aus den Reihen der Täufer und Schwenckfelder nötig“, selbst wenn es vorrangig darum ging, die Abendmahlsgemeinde rein zu erhalten. 25 Doch die Reinheit der religiösen Gemeinschaft zu erhalten, hieß aus obrigkeitlicher Perspektive gleichzeitig, religiöse Dissidenten wie etwa Gotteslästerer, grobe Sünder oder eben Täufer und andere ‚Sektierer‘ aus dieser auszuschließen. Im Gegensatz zu den „abrupten“ 26 Erneuerungen unter Herzog Ulrich verlief die zweite Phase der kirchlichen Neuorganisation Württembergs unter seinem Sohn Herzog Christoph schrittweise. In den ersten Jahren nach seinem Amtsantritt im Jahre 1550 stand Herzog Christoph vor der schwierigen Aufgabe, die fürstliche Regierung und württembergische Landeskirche nach dem Interim wieder aufzubauen und zu konsolidieren. Grundsätzlich war der „Aufbau der württembergischen Landeskirche [...] der weltlichen Administration nachgebildet“. 27 Unter Herzog Christoph gewann der Oberrat weiter an Bedeutung und wurde mit der Beratung und Entscheidung der laufenden Regierungsgeschäfte beauftragt. Der Herzog behielt sich zwar Bereiche wie etwa Religions- oder Rechtssachen, Besetzungen von Kanzlei- und Amtsstellen und Änderungen der publizierten Ordnungen und den Erlass neuer Ordnungen zur freien Entscheidung vor, doch forderte er in diesen Angelegenheiten Gutachten statt wie bisher von den Hofräten nun von den Kanzleibzw. Oberräten ein. 28 So wurde die Verwaltung zunehmend über die Kanzlei abgewickelt bzw. in der Kanzlei gebündelt, da die Räte ihre Gutachten dort einreichen mussten. Gleichzeitig wurden die Organisation und die Tätigkeitsfelder des Oberrates ausgebaut, der v. a. über gerichtliche Kompetenzen verfügte. 29 Obwohl der Oberrat in erster Linie über rechtliche Fragen entschied, hatte er auch über die einkommenden Berichte der anderen Zentralbehörden wie etwa des Synodus zu beraten und die Berichte weiter an den Landesherren zu leiten. 30 Der Oberrat hatte als weltliche Behörde eine zentrale Rolle auch in der 25 Als zweites Beispiel ließe sich die Rolle des Katechismusunterrichtes in den Gemeinden nennen, der ebenfalls zum Verantwortungsgebiet der Generalsuperintendenten gehörte. Ebd., S. 321f. 26 Ebd., S. 223. 27 Ehmer & al., Gott und Welt, S. 85; Landwehr, Württemberg, S. 560, 565 (Zitat); Mertens, Handbuch, S. 113. 28 Ebd., S. 560, Wintterlin, Behördenorganisation, S. 25f. 29 Marcus, Politics of Power, S. 63f.; Mertens, Handbuch, S. 113; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 28f. Zum Aufbau und zu den Aufgaben des Oberrates genauer siehe Landwehr, Württemberg, S. 560f., 566f.; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 28f. 30 Es war insbesondere der Landhofmeister, der in vielen der obersten Behörden eingebunden war und somit eine personelle Verknüpfung zwischen diesen herstellte. Ihm hatte Herzog Christoph „zu Anfang auch die Oberaufsicht über des Kirchenwesen insgesamt übertragen“. Zunächst war das Konsistorium dem Landhofmeister untergeordnet, der „in den Sitzungen der geistlichen Abteilung [des Kirchenrats, Anm. P.R.] anwohnen und die wichtigeren Fälle von sich aus entscheiden oder an den Herzog bringen konnte“. Betrafen die Beschlüsse des Synodus allgemeine Belange des Kirchenwesens, waren sie zunächst beim Landhofmeister im Oberrat, einem Gremium ohne theologisch bewanderte Mitglieder, einzureichen und einer erneuten Beratung zu unterziehen. Erst danach wurden die Synodalbeschlüsse dem Herzog vorgelegt. Auch im Synodus war der Landhofmeister vertreten: „Man kann wohl sagen, der Propst war Vorsitzender <?page no="73"?> 74 Sektenbekämpfung, da besonders schwerwiegende Fälle an ihn weiterzureichen waren. Es ist ersichtlich, wie eng weltliche und geistliche Gewalt in der württembergischen Verwaltung verwoben waren. Gleichwohl waren die kirchlichen Amtsträger und Institutionen den weltlichen untergeordnet. So durfte etwa die geistliche Abteilung des Kirchenrates sich nicht mit „rein weltlichen“ Angelegenheiten befassen. 31 Die kirchlichen Reformen leitete Herzog Christoph mit einer wichtigen Personalentscheidung ein, indem er 1553 den bereits mit dem Herzogtum vertrauten Johannes Brenz zum Propst der Stuttgarter Stiftskirche und herzoglichen Rat berief. So wurde Brenz zum führenden Geistlichen im Lande gemacht, der in den obersten Kirchenbehörden verantwortlich mitwirkte. 32 Brenz spielte auch in der Ausformung der württembergischen Täuferpolitik eine bedeutende Rolle. Insbesondere seine ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe in Glaubensfragen prägte den Umgang der württembergischen Obrigkeiten mit den Täufern maßgeblich. 33 Oberste Priorität hatte für Brenz die Wahrung der göttlichen Ordnung sowie der Gehorsam gegenüber den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten. 34 Die endgültige Form der Kirchenleitung wurde formell in der Visitations- und der Kanzleiordnung aus dem Jahre 1553 festgehalten. 35 Die Kirchengewalt lag in den Händen des Herzogs, solange dieser lutherischer Konfession war. 36 Das mit der landeskirchlichen Gesetzgebung und Verwaltung beauftragte Kirchenregiment dagegen setzte sich aus dem Herzog, dem Synodus und dem Kirchenrat 37 zusammen. Der Kirchenrat war in eine weltliche und eine kirchliche Abteilung und erstes der theologischen Mitglieder, der Landhofmeister das erste weltliche Mitglied des Synodus.“ Lempp, Der württembergische Synodus, S. 37, 41. Zur Entwicklung des Landhofmeisteramtes seit Anfang des 15. Jahrhunderts siehe Wintterlin, Behördenorganisation, S. 14f. 31 Lempp, Der württembergische Synodus, 45. S. Sabine Holtz hat aufgrund ihrer Analyse von gedruckten Predigten der Tübinger Theologen im ‚Zeitalter der Orthodoxie‘ jedoch darauf hingewiesen, dass „die Kirche keineswegs kritiklos Partei für den Staat ergriff“, obwohl sie ihr im Großen und Ganzen loyal blieb. Holtz, Vom Umgang mit der Obrigkeit, S. 136; Dies., Theologie und Alltag. 32 Brecht, Brenz, S. 172. Zu den Aufgaben des Stiftspropstes, der u. a. Vorsitzender des Synodus war und gemeinsam mit dem Landhofmeister die Oberaufsicht über den Kirchenrat hatte siehe Lempp, Der württembergische Synodus, S. 41-45. 33 Vgl. hierzu näher Kap. 3.1. 34 Brenz vertrat eine „patriarchalisch-monarchistische Obrigkeitsauffassung, zu der abgeleitet auch der Respekt vor dem (kaiserlichen) römischen Recht gehört“. Aus seiner politischen Ethik ergab sich für Brenz die Konsequenz, dass selbst einer unrecht handelnden Obrigkeit zu gehorchen war. Lediglich passiver Widerstand sei in den Fällen erlaubt, in denen die Obrigkeit gegen Gottes Willen handelte. Brecht, Brenz, S. 177f. Siehe auch Seebaß, An sint persequendi haeretici? . 35 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 318. 36 Auf das ius reformandi verzichtete Herzog Christoph im Landtagsabschied von 1565 für sich und seine Nachfolger. Lempp, Der württembergische Synodus, S. 45-50; Schmidt, Konfessionalisierung, S. 19. 37 Die Bezeichnung ‚Kirchenrat‘ wurde mit der Großen Kirchenordnung 1559 für die oberste kirchliche Aufsichtsbehörde Württembergs eingeführt, die das gesamte Kirchen- und Schulwesen im Herzogtum zu überwachen hatte. Als selbständige Institution wurde der Kirchenrat bereits in der Kanzleiordnung von 1553 gegründet. Landwehr, Württemberg, S. 561. <?page no="74"?> 75 bzw. Bank eingeteilt, die der Effizienz der Verwaltung halber strikt voneinander getrennt wurden. 38 Die übergeordnete Aufgabe dieser Instanzen war es, für die „Voraussetzungen für Ordnung und Rechtssicherheit in der Kirche“ zu sorgen. Dabei war der Synodus für die Gesetzgebung zuständig, der Kirchenrat dagegen für die Verwaltung. So entschied der Synodus über die wichtigen und grundsätzlichen Fragen innerhalb der Kirche, während der Kirchenrat in erster Linie für die laufenden Geschäfte zuständig war. Beide waren sie jedoch dem Herzog als Landesherrn und obersten Bischof der Landeskirche untergeordnet. 39 Die allgemeine Aufgabe der geistlichen Abteilung des Kirchenrats - des Konsistoriums - war es, die „Wahrung der evangelischen Konfession im Lande“ zu überwachen. 40 Konkreter war das Konsistorium für alle Angelegenheiten zuständig, die die Kirchenordnung und Kirchendiener betrafen; es hatte u. a. die Anstellung und Prüfung der Kirchen- und Schuldiener sowie die Erörterung und Beilegung von bei den Visitationen zutage getretenen Konflikt- und Straffällen zur Aufgabe. 41 So war das Konsistorium nicht nur für die Ausbildung der württembergischen Theologen an den Klosterschulen und der Universität Tübingen zuständig, die sie zu visitieren und dessen Prüfungen sie zu überwachen hatte, sondern sie hatte auch die Kirchenvisitationen durchzuführen und die Befunde zu bearbeiten. 42 Der Synodus gewann zunehmend an Bedeutung und die gesamte Kirchenleitung wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts grundlegend neu organisiert. Besonders hervorzuheben ist die Schaffung der Ämter der General- und Spezialsuperintendenten, wodurch in Württemberg ein Bindeglied zwischen der obersten Kirchenleitung mit Sitz in Stuttgart und der niederen Kirchenverwaltung ge- 38 Die weltliche Bank des Kirchenrats war seinerseits mit den laufenden Geschäften der zentralen Kirchenverwaltung beauftragt, die nicht vom Konsistorium erledigt wurden. Sie setzte sich aus dem Kirchenratsdirektor und vier politischen Räten zusammen. Bei Bedarf waren der Kirchenratsadvokat oder der Landhofmeister zu Rate zu ziehen; besonders schwierige Fällen waren an den Oberrat weiterzureichen. Im Unterschied zum Konsistorium hatte kein Theologe, sondern ein Jurist, den Vorsitz der weltlichen Abteilung des Kirchenrates inne. Folglich fielen der weltlichen Bank des Kirchenrates die finanziellen, rechtlichen und policeylichen Aufgaben der Landeskirche zu. Neben anderen Tätigkeiten wie etwa der Überwachung der geistlichen Gerichte, der Armenfürsorge und der Regelung von Personal- und Lehrfragen an der Universität Tübingen hatte sie v. a. für die Verwaltung der Kirchengüter zu sorgen. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 318f.; Lempp, Der württembergische Synodus, S. 45; Marcus, Politics of Power, S. 65. 39 Die Oberaufsicht über den Kirchenrat hatten der Propst zu Stuttgart und der Landhofmeister gemeinsam inne, die in besonders schwerwiegenden Fällen im Kirchenrat konkret zu Rate gezogen werden konnten. Weitere Mitglieder des Kirchenratskollegiums waren der Kirchenratsdirektor, drei geistliche und vier weltliche Räte sowie der Kirchenratsadvokat. Lempp, Der württembergische Synodus, S. 44-46. 40 Im Grunde oblag der geistlichen Abteilung des Kirchenrates auch der Ausbau des Schulwesens. Wunder, Der schwäbische Kreis, S. 626. Zu den Reformen im Schulwesen siehe auch Marcus, Politics of Power, S. 66f. 41 Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 42. 42 Wunder, Der schwäbische Kreis, S. 626. <?page no="75"?> 76 schaffen wurde. 43 Innerhalb des Synodus formten die Generalsuperintendenten den Kern. 44 Diese waren gleichzeitig Vorsteher der Spezialsuperintendenten, die ihrerseits das religiöse und sittliche Leben der Geistlichen eines oder mehrerer Amtsbezirke zu überwachen und die Beschwerden an den Synodus weiterzuleiten hatten. 45 Die Organisation und Aufgaben des Synodus wurden in der Großen Kirchenordnung von 1559 fixiert. Als „höchste kirchliche Aufsichts- und Verwaltungsbehörde“ in Württemberg wurde der Synodus zweimal jährlich im Juni und im November zu mehrtägigen Sitzungen einberufen. 46 Dort wurden die von den Generalsuperintendenten zu verfassenden Visitationsberichte besprochen und Vorschläge für die Behebung der in den Pfarreien befundenen Missstände entworfen. Die Aufgaben des Synodus bestanden weiterhin in der Vorbereitung der allgemeinen kirchlichen Gesetze, in der Überprüfung der Rechnungen und Aufsicht über die Stiftungen der Geistlichen Witwenkasse, in der Verteilung der Gratialien, im Kirchengesangswesen sowie in der Besoldung der Lehrer. Die Beschlüsse des Synodus sollten nach der Tagung „dem Oberrat zur erneuten Überlegung vorgelegt“ werden. Anschließend hatten der Landhofmeister und der Kirchenratsdirektor die Synodusbeschlüsse beim Herzog einzureichen. 47 43 Das Land wurde dafür statt den früheren zwei Hauptverwaltungseinheiten ob und unter der Steig in die vier Generalate Maulbronn, Bebenhausen, Adelberg und Denkendorf eingeteilt, denen jeweils ein Generalsuperintendent (Generalis) als oberster Kirchenbeamte zugeordnet wurde. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 317f.; Landwehr, Württemberg, S. 566. 44 Das Gremium setzte sich aus dem Stuttgarter Propst, dem Landhofmeister, drei geistlichen Kirchenräten, den vier Generalsuperintendenten und einer unspezifizierten Anzahl von weiteren Kirchenräten zusammen, die besonders zum Synodus zugeteilt waren. Vorsitzender war der Direktor bzw. der Präsident des Kirchenrates, später des Konsistoriums. Doch hat das Gremium meist in kleinerer Besetzung getagt, wobei die Generalsuperintendenten immer vertreten waren. Der Schwerpunkt der Arbeit der Generalsuperintenden im Synodus lag zum einen im Vortragen ihrer Visitationsberichte und zum anderen und - dieser Tätigkeit hat Christoph Kolb eine weitaus größere Bedeutung zugemessen - in der Mitberatung der Generalsuperintenden im Synodus „über alle wichtigen kirchlichen Fragen“. Die Generalsuperintenden waren gleichzeitig Beiräte des Konsistoriums. Insgesamt jedoch war das Amt des Generalsuperintenden nur ein Nebenamt und stets dem Konsistorium und somit dem Herzog untergeordnet. Kolb, Generalsuperintendenten, S. 56. 45 Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 41f. 46 Die große Kirchenordnung legte 1559 den 23. April (Georgii) und den 14. September (Crucis) als Tagungszeitpunkte fest. Spätestens ab 1565 jedoch wurde im Herbst erst Mitte November und im Frühjahr ab 1570 im Juni getagt. In der Kirchenordnung von 1582 wurde diese Praxis dann auch schriftlich „ungefähr auf Trinitatis und Martini“ fixiert. Lempp, Der württembergische Synodus, S. 37f., 42. 47 Wenn allerdings „der Geschäftsstand beim Oberrat, d. h. andere dringliche Geschäfte desselben es nicht zulassen, daß das ganze Oberratskollegium die Synodusbeschlüsse alsbald einer Überprüfung (vom staatlichen Standpunkt aus) unterzieht, so soll diese an Stelle des ganzen Kollegiums durch vier ein für allemal dazu bestimmte politische Oberräte erfolgen. Diese vier Räte treten dann an die Stelle des Gesamtkollegiums des Oberrats“. Lempp, Der württembergische Synodus, 42f. Siehe auch Kolb, Generalsuperintendenten, 69f. <?page no="76"?> 77 Herzog Christoph baute das dem Synodus untergeordnete Visitationswesen zum zentralen Instrument der Kirchenleitung aus. 48 In der stark konsistorial organisierten württembergischen Landeskirche wurde solch eine Instanz als notwendig erachtet, um dem obrigkeitlichen Wunsch nachzukommen, über die kirchliche Situation des Landes möglichst eingehend informiert zu sein und „die Kirche vor allen fremdgläubigen Einflüssen zu schützen”. Gleichzeitig führte die zentralisierte Organisation der Landeskirche dazu, dass „in Württemberg kein Raum für eine Selbstverwaltung der Gemeinden übrigblieb”. 49 So blieb den einzelnen Pfarrern und Gemeinden insbesondere in Fragen der Sittenzucht kaum Entscheidungsraum: Einem einzelnen Pfarrer war es nicht gestattet, Sünder aus seiner Gemeinde auszuschließen, da dieses Recht ausschließlich dem Synodus vorbehalten war. Der Pfarrer konnte den Abtrünnigen lediglich vom Abendmahl abmahnen und Bericht über ihn erstatten, zunächst dem Spezialsuperintendenten, dann den Generalsuperintendenten und als letzte Instanz dem Synodus. 50 Da der Synodus die einkommenden Visitationsberichte der Ämter zu bearbeiten hatte, waren Synodus und Visitation folglich eng kooperierende Instanzen in der Täufer- und Sektenbekämpfung. George H. Williams hat sogar darauf hingewiesen, dass der württembergische Synodus seine Entstehung gerade der Sektenbekämpfung des 16. Jahrhunderts verdanke. 51 Der Visitation kam im Laufe der 1550er Jahre eine immer größere Rolle zu, auch wenn die Zahl der jährlich vorgeschriebenen Visitationen in der Großen Kirchenordnung von 1559 von vier auf zwei reduziert wurde. 52 Neben der organisatorischen Umgestaltung (und teils als dessen schriftliche Vorgabe) ist unter Herzog Christophs Amtszeit noch die Große Kirchenordnung von 1559 zu nennen, auf die bereits mehrfach hingewiesen worden ist. Sie bündelte neben der Confessio Virtembergica von 1552, der Kirchenordnung von 1553 sowie dem Brenzschen Katechismus insgesamt 19 verschiedene, im Laufe der 1550er Jahre erlassene Einzelordnungen als verbindliches Ganzes. Die enge Verzahnung weltlicher und religiöser Belange und Kompetenzen in Württemberg zeigt sich auch hier: Wie bereits die Landesordnung Herzog Ulrichs aus dem Jahre 1536 Belange im kirchlichen bzw. religiösen Bereich zu regeln suchte, wur- 48 Mit der Visitation war unter Herzog Christoph die „regelmäßige Überprüfung der Kirche und ihrer Diener“ gemeint, wie sie in der Visitationsordnung von 1547 vorgeschrieben war. Wie bereits erwähnt, war die oberste kirchliche Behörde in Württemberg zunächst in den 1530er Jahren die Visitation, die im Jahre 1553 jedoch zum Kirchenrat umbenannt und zu einem offiziellen Gremium der Kirchenverwaltung gemacht wurde. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 318f.; Marcus, Politics of Power, S. 64. 49 Lempp, Der württembergische Synodus, S. 41. 50 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 367f. Zur Kirchenzucht in Württemberg siehe auch Brecht, Kirchenordnung und Kirchenzucht, S. 39-52. 51 Williams, The Radical Reformation, S. 1224. Diese These hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor Gustav Bossert d. J. vertreten siehe Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 21. Eine ähnliche Feststellung hat Furner, Repression and Survival, S. 53, in Bezug auf die Entwicklung der Verwaltung im frühneuzeitlichen Bern gemacht. 52 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 319f. <?page no="77"?> 78 den auch in der Großen Kirchenordnung nicht-kirchliche Angelegenheiten mit einbezogen. 53 Herzog Christoph und seinen umfassenden Reformen ist eine weitreichende Bedeutung für die Konsolidierung der evangelischen Landeskirche in Württemberg zugeschrieben worden. 54 Dies mag zum einen mit seinen persönlichen Überzeugungen und seinem religiösen Engagement als summus episcopus der Landeskirche erklärt werden, zum anderen aber durch seine geschickte Kooperation mit den engsten Vertrauten. Kenneth H. Marcus zufolge hat Herzog Christoph es stets verstanden, kompetente und loyale Beamten einzusetzen und diese mit einer großzügigen Besoldung an sich zu binden. So hat Herzog Christoph seine gesamte Amtszeit hindurch einen Stab enger Vertrauter - insbesondere den Landhofmeister, Kanzler, Vizekanzler und einen der gelehrten Räte - an seiner Seite gehalten. Dieser stellte zwar kein offizielles Gremium der Verwaltung dar, aber als Ratgeber konnten diese Personen dennoch an den Regierungsgeschäfte entscheidend mitwirken. 55 Auch der prägende Einfluss von Johannes Brenz auf die Entwicklung der württembergischen Landeskirche kann auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem Reformator und dem Landesherrn zurückgeführt werden. 56 Das Regime Herzog Ludwigs (1568-1593) ist als „eine Art Spätsommer“ in Württemberg bezeichnet worden, nachdem die umfangreichen kirchlichen und politischen Erneuerungen seiner Vorgänger abgeschlossen waren. 57 Herzog Ludwig hielt sich weitgehend an die Politik seines Vorgängers Christoph und die Ratschläge seiner Regierung. Unter seine Herrschaft fiel die konfessionelle Verfestigung des Protestantismus sowohl nach innen als auch nach außen, allerdings auch die „ersten Erfolge der Gegenreformation sowie die mit der Konkordienformel verfestigte Scheidung innerhalb der evangelischen Lagers in Lutheraner und Reformierte“. 58 Nach dem frühen Tod Ludwigs im Jahre 1593 kam mit seinem Nachfolger Herzog Friedrich (1593-1608) ein Fürst auf den Thron, der „dem reich- und religionspolitischen Sicherheitsdenken Herzog Christophs nicht mehr 53 So sind in dem Ordnungswerk beispielsweise weltliche Zensurbestimmungen sowie Richtlinien zur Ausbildung der weltlichen Beamten wie etwa der Ärzte oder der Stadtschreiber eingegliedert. Die ausführlichen Bestimmungen zum Schulwesen dagegen kann man in einem Übergangsbereich zwischen weltlicher und geistlicher Ordnung ansiedeln. Lempp, Der württembergische Synodus, S. 40; Mertens, Handbuch, S. 115-117. Zur Großen Kirchenordnung siehe auch Brecht, Kirchenordnung, S. 33. 54 So etwa Brecht, Kirchenordnung, S. 32, 51; Ehmer & al., Gott und Welt, S. 88; Lempp, Der württembergische Synodus, S. 51f.; Marcus, Politics of Power, S. 63; Mertens, Handbuch, S. 118. 55 Lempp, Der württembergische Synodus, S. 37; Marcus, Politics of Power, S. 63f.; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 26f. 56 Brecht, Brenz, S. 172; Brecht, Kirchenordnung, S. 32; Lempp, Der württembergische Synodus, S. 52. 57 Mertens, Handbuch, S. 120. Siehe auch Arend, Kirchenordnungen, S. 69; Lempp, Der württembergische Synodus, S. 53f.; Marcus, Politics of Power, S. 70-72. 58 Arend, Kirchenordnungen, S. 69. <?page no="78"?> 79 bedingungslos Priorität“ einräumte, sondern seine Energie auf die Abschaffung der österreichischen Afterlehenschaft Württembergs richtete. 59 2.1.2. Ländliche Lebensbedingungen im Schorndorfer Amt Matthäus Merian beschrieb die ca. 30 Kilometer östlich von Stuttgart gelegene Amts- und Festungsstadt Schorndorf im 17. Jahrhundert als die nach Stuttgart, Tübingen und Urach wichtigste Amtsstadt in Württemberg. 60 Die Stadt Schorndorf zählte in der Mitte des 16. Jahrhunderts ca. 4200 Einwohner. Da die württembergischen Amtsstädte in der Regel 2000-4000 Einwohner umfassten, gehörte sie somit zu den größeren unter ihnen. 61 Sie lag in der Mitte des Remstales, südlich der in Richtung Westen fließenden Rems. Südlich des Remstales lagen der Schurwald und die Ausläufer der schwäbischen Alb. Im Norden grenzte das Tal an die sogenannten Berglen, den Welzheimer Wald und die Höhen nördlich von der etwa 20 Kilometer östlich gelegenen Reichsstadt Schwäbisch Gmünd. Die Amtsdörfer befanden sich entweder direkt im Remstal oder teilweise an den Seitenbächern des Flusses, teilweise in den höher gelegenen Waldgebieten. Der Weinbau machte einen großen Teil der landwirtschaftlichen Produktion in der Region aus. 62 Schorndorf und die umliegenden Amtsdörfer gehörten zu denjenigen Gebieten im Herzogtum, „die sich durch ihre geographische Mittellage und ihre Nähe zum politischen Zentrum auszeichneten“. 63 Im Gegensatz zu der Stadt Schorndorf war das umliegende Amt v. a. durch seine Armut gekennzeichnet. Die soziale Schichtung der württembergischen bzw. der Schorndorfer Bevölkerung kann grob an den Statistiken nachvollzogen werden, die Claus-Peter Clasen auf der Basis von württembergischen Steuerlisten erstellt hat. 64 Insgesamt lagen die Verhältnisse Amt Schorndorf deutlich unter dem Durchschnitt. 65 Clasen zufolge 59 Mertens, Handbuch, S. 121f. 60 Merian, Topographia Sveviae, S. 170. 61 Beschreibung des Oberamtes Schorndorf, S. 85; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 24; Zehender, Geschichte des Remstales, S. 2. Insgesamt gehörte Württemberg im 16. Jahrhundert mit ca. 50 Personen pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Gegenden in Europa. Landwehr, Württemberg, S. 559. 62 Beschreibung des Oberamts Schorndorf, S. 3; Holenstein, Bauern, S. 2; Zehender, Geschichte des Remstales, S. 2. 63 Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung, S. 13. 64 Clasen betont jedoch die regionalen Unterschiede. Die zahlenmäßig größte Gruppe der ländlichen Bevölkerung in Württemberg bildeten die Tagelöhner und kleinen Handwerker, deren Stärke Clasen auf 29 % bis hin zu 44 % der Bevölkerung schätzt. Zählt man das Gesinde dazu, kommt man sogar auf 42-57 %. Als zweitgrößte Gruppe folgten die „krisenanfälligen Kleinbauern“, die Clasen zufolge 19-26 % der ländlichen Bevölkerung Württembergs ausmachten. Insgesamt stellt er fest, dass 65-83 % mit einem Vermögen unter 150 Gulden auskommen musste. Clasen, Wiedertäufer, S. 209. 65 Hier schätzt Clasen, dass ganze 83 % zu der untersten Vermögenskategorie der Tagelöhner und kleinen Handwerker zugehörte. Dies bedeutete: „Weit mehr als drei Viertel der Bevölkerung des Amtes Schorndorf konnte durch den Ausfall der Weinernte in schwerste wirtschaftliche Not <?page no="79"?> 80 lebten in der Schorndorfer Umgebung im Remstal im 16. Jahrhundert infolge der beim Weinbau benötigten hohen Zahl an Arbeitskräften „eine zahlenmäßig sehr starke Schicht von Knechten und Mägden“, aber auch überproportional viele Tagelöhner. 66 Die „begüterte Mittelschicht“ teilt Clasen in die aus mittelgroßen Hofbauern mit einem Vermögen im Wert von 151-300 Gulden und die wohlhabenden mit einem Vermögen im Wert von 301-500 Gulden. Diese beiden Gruppen waren als Mitglieder der Gemeindeversammlung auch sozial besser gestellt und machten ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Zu den reichen Bauern zählt Clasen die weniger als 5 % der Bevölkerung, die über einen Besitz von über 500 Gulden und einem Grundbesitz von ca. 15-20 Morgen verfügten. 67 Die dörfliche Ehrbarkeit stammte in der Regel aus den Reihen der wohlhabenden Bauern und der reichen Hofbesitzer, deren Familien „selbstverständlich [...] weitgehend miteinander verschwägert“ waren. 68 Allgemeine Rahmenbedingungen für die dörflichen Lebenswelten und somit auch das täuferische Überleben im Dorf für das späte 16. Jahrhundert sind unter den Stichwörtern „Zentralisierung“ oder auch „Herrschaftsverdichtung“ 69 zusammengefasst worden. 70 Im Rahmen der territorialstaatlichen Zentralisierung kam es Achim Landwehr zufolge durch die zunehmende Normimplementierung und die umfassenden policeylichen Vorschriften zur „Produktion einer normativen Struktur“ 71 , die langfristig die Basis schuf, „so etwas wie Disziplinierung zugeworfen werden.“ Ebd., S. 209. 66 Clasen schätzt die Zahl der Tagelöhner im Schorndorfer Amt auf etwa ein Fünftel, während er ihre Zahl im restlichen Württemberg auf 13-23 % veranschlagt. Ein weiteres Fünftel der Bevölkerung im Remstal siedelt Clasen in der Gruppe derjenigen Tagelöhner an, die zwischen 21 und 50 Gulden besaßen. „Im Remstal fand sich also eine sehr große Zahl verarmter und wurzelloser Existenzen, die allein von der Tagelöhnerarbeit lebten. Fiel der tägliche Verdienst infolge erfrorener oder verregneter Weinernte aus, so nahm das Elend hier ein entsprechend katastrophales Ausmaß an.“ Diese Menschen waren auf Nebenerwerbe etwa als Fuhrleute oder Holzhacker angewiesen. Ebd., S. 205-207. 67 Zahlenmäßig machten die mittelgroßen Bauern eine eher kleine Gruppe aus (laut Clasen 14- 26 % der Gesamtbevölkerung). Ebd., S. 204, 208f. 68 Ebd., S. 209. 69 Vgl. Hofer, Popular Resistance, S. 123f. 70 Das Konzept der Lebenswelten ist von Rudolf Vierhaus als „die - mehr oder weniger deutlich - wahrgenommene Wirklichkeit“ definiert worden, „in der soziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklichkeit produzieren“. „Lebenswelt ist gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte, symbolisch gedeutete Wirklichkeit. Sie ist nicht statisch, sondern dem Wandel durch äußere Einwirkungen und innere Entwicklung unterworfen.“ Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 13f. Siehe auch Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion; Haag & Holtz & Zimmermann, Ländliche Frömmigkeit; Holzem, Religion und Lebensformen; Münch, Lebensformen. 71 Damit ist die „Erzeugung und Zusammenführung struktureller normativer Elemente“ gemeint, „die darauf ausgerichtet sind, den gleichen Zielen zu dienen“. Policeyordnungen stellen „die einzelnen Elemente dieser Strukturen“ dar, die der grundlegenden Zielsetzung dienen, „‚gute Policey‘ herzustellen und den ‚gemeinen Nutzen‘ zu fördern“. Landwehr, Policey im Alltag, S. 324. <?page no="80"?> 81 mindest theoretisch zu ermöglichen“. 72 Im Zuge dieser Entwicklung gerieten die ländlichen Gemeinden im späten 16. Jahrhundert zunehmend unter Druck. Heide Wunder hat den Wandel als Übergang von einer Herrschaft mit den Bauern hin zu einer Herrschaft über die Bauern charakterisiert. Die Veränderung bzw. Verengung der herkömmlichen Lebensbedingungen vollzog sich auch in Lebensbereichen jenseits der politischen Teilnahmemöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung. So war das 16. Jahrhundert von einem starken Bevölkerungszuwachs geprägt, der in Württemberg bis ca. 1580 andauerte. 73 Hinzu kamen die Bürden der ‚kleinen Eiszeit‘ sowie von Teuerung, Inflation und Seuchen. In Württemberg war darüber hinaus die Steuerbelastung der Untertanen insbesondere im späten 16. Jahrhundert größer als zumindest in den benachbarten Herrschaften. 74 Da in Württemberg des Weiteren generell mit der geltenden erbrechtlichen Form der Realteilung der Druck auf die ländliche Bevölkerung weiter intensiviert wurde, kann man von einer „Überlastung der bäuerlichen Gemeinden“ 75 im späten 16. Jahrhundert sprechen. 76 Eine maßgebliche Bedeutung für die Lebensweisen und die Handlungsspielräume der Bevölkerung hatten außerdem die jeweilige Herrschaftsform und die wirtschaftlichen Bedingungen. In Südwestdeutschland waren die Herrschaftsverhältnisse besonders zersplittert. Daher war hier die Entwicklung der Gemeinden sehr unterschiedlich. Obwohl sich in Württemberg David W. Sabean zufolge keine „ausgeprägte Stadt-Land-Dichotomie“ herausbildete, „konzentrierten sich die administrativen, religiösen und ökonomischen Eliten des Amtsbezirks auf die Kleinstädte“. 77 Der Adel war in Württemberg im 16. Jahrhundert unbedeutend, 72 Ebd., S. 324-326. 73 Verstärkt wurde der natürliche demographische Wandel durch die obrigkeitliche Politik der ‚Peuplierung‘, die auf vermehrte Einnahmen durch eine steigende Zahl von abgabenpflichtigen Untertanen zielte. Der Bevölkerungswachstum hörte aufgrund einer Reihe von Missernten und Seuchen um 1580 auf oder verlangsamte sich zumindest deutlich. Obwohl man laut Heide Wunder kein grundsätzliches Ausscheiden der Bauern aus dem politischen Leben Südwestdeutschlands nach 1525 feststellen kann, wurden bäuerliche Lebensformen im Zuge der frühneuzeitlichen Verrechtlichung der Gesellschaft gewissermaßen überholt. Teilweise drängten sich die Bauern selber ins gesamtgesellschaftliche Abseits. In einer Zeit der zunehmenden Durchsetzungskraft des römischen Rechts verharrten sie in ihrer politischen Argumentation auf dem alten Recht. Dadurch „koppelte sich die bäuerliche Gesellschaft rechtlich aber von der neuen gesellschaftlichen Entwicklung ab“, eine Tendenz, die sich auch in anderen Lebensbereichen vollzog. Holenstein & Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘, S. 20; Landwehr, Württemberg, S. 559; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 16, 18; Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 80-92, 97, 112f., 151. 74 Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 15. Zur ‚kleinen Eiszeit‘ siehe z. B. Lehmann, Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der ‚Kleinen Eiszeit‘; Behringer & Lehmann & Pfister (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der ‚Kleinen Eiszeit‘. 75 Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 113. 76 Einleitend und mit weiterführender Literatur zum Erbrecht siehe Holenstein, Bauern, S. 9-13. Zu Württemberg siehe Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 17. 77 Handwerkliches Gewerbe konzentrierte sich im württembergischen Raum v. a. in den Reichsstädten Esslingen, Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Hall, Heibronn und Weil der Stadt. Ins- <?page no="81"?> 82 wenn nicht sogar inexistent, nachdem sich zahlreiche Adlige den Reichsritterstatus erworben hatten. 78 So lag der Landbesitz im Herzogtum hauptsächlich in den Händen des Landesherrn oder einer Institution wie etwa einer Universität oder Stiftung. Nur wenig Land war im privaten Besitz der Bauern, von denen die meisten bereits im 16. Jahrhundert über ein Erblehen verfügten. 79 Ob Erblehen oder privates Grundstück, alles Land wurde besteuert; die Einnahmen flossen direkt in die Staatskasse. 80 Inwiefern sich die in vielen Lebensbereichen zunehmende Bedrängnis der ländlichen Bevölkerung auf die gelebte Frömmigkeit auswirkte, ist nicht eindeutig zu klären, wenn man nicht monokausal von einem wirtschaftlichen Überbau der Gesellschaft ausgehen will, der kulturelle Prozesse determinierte. Festgehalten werden soll in diesem Zusammenhang v. a. die Erkenntnis, dass eine starke Umbruchsphase innerhalb der ländlichen Gesellschaft zeitlich mit der Ausbreitung täuferischer Ideen und Praktiken in Württemberg zusammenfiel. Ob Täufer oder Nicht-Täufer, die Bewohner des Schorndorfer Amtes dieser Zeit mussten sich in vielerlei Hinsicht mit sich wandelnden Rahmenbedingungen ihrer Lebenszusammenhänge auseinandersetzen. Es leuchtet ein, dass diese Entwicklungen negative Auswirkungen auf die innere Dynamik der lokalen Gemeinschaften haben konnten. 81 So hat Thomas Robisheaux für den südwestdeutschen Raum noch lange nach dem Bauernkrieg beobachtet, dass die demographischen und wirtschaftlichen Veränderungen nicht nur die Dorfgemeinden polarisierten, sondern auch die spätmittelalterlichen Strukturen von Ordnung und Stabilität gravierend untergruben. 82 Innerhalb der lokalen Gemeinschaft ist die Tendenz beobachtet worden, dass obrigkeitliche Instruktionen von der dörflichen Oberschicht dazu genutzt werden konnten, die im späten 16. Jahrhundert ohnehin wachsenden sozialen und ökonomischen Differenzen im Ort zu verstärken bzw. festzulegesamt ist das frühneuzeitliche Württemberg von David W. Sabean als „Land kleinbäuerlicher Produzenten“ bezeichnet worden, selbst wenn in einigen Gebieten bereits protoindustrielle Tätigkeiten entwickelt wurden. Clasen, Wiedertäufer, S. 131; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 14-23; Zehender, Geschichte des Remstales, S. 2. 78 Landwehr, Policey im Alltag, S. 43; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 16. 79 Allerdings soll in der Amtsstadt Schorndorf der größte Teil des Landes schon während des Mittelalters im Besitz der Bürger gewesen sein, so dass „namentlich der Landesherrschaft [...] verhältnismäßig nicht viele grundherrliche Rechte“ zustanden. Beschreibung des Oberamts Schorndorf, S. 100. 80 Von einer Vielzahl unterschiedlicher Steuern, die der Bauernschaft aufgebürdet wurden, machten die Zehnten, die „Zins“ und „Gülte“ insgesamt rund ein Drittel aus. Diese Abgaben wurden hauptsächlich in Naturalien verrichtet. Dazu kamen Geldsteuern, die im Verhältnis zu den Steuern in Naturalien einer größeren Fluktuation unterlagen. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 15. 81 Insgesamt war für den südwestdeutschen Raum eine lange andauernde und „hoh[e] Unruhedichte“ charakteristisch, „was den Raum als eine Region mit ausgeprägter kommunalistischer Tradition erscheinen läßt”. Vgl. Häberlein, Einleitung, S. 10f. 82 Robisheaux, Rural Society, S. 69. Siehe auch Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 96. <?page no="82"?> 83 gen. 83 Wenn man so will, nahm das Konfliktpotential zwischen den einzelnen Kräftefeldern oder Interessenverbänden innerhalb der Gemeinschaft deutlich zu. Gleichzeitig wurden die obrigkeitlich eingesetzten Normen zu einem wichtigen Gesprächsgegenstand und Bezugspunkt vor Ort. 84 Ein wesentliches Merkmal der Dorfgemeinschaft war ihre Funktion als Mechanismus der Konfliktregelung, war sie doch ein aus der alltäglichen Notwendigkeit entstandener Verband, um die Regeln des bäuerlichen Zusammenlebens und -arbeitens festzulegen und zu überwachen. 85 Es waren v. a. der Zugang zu den Ressourcen und die Organisation der landwirtschaftlichen Arbeit, die die Beziehungen zwischen den Angehörigen der Gemeinschaft zueinander strukturierten und Personen, die an diesen Bereichen nicht teilhatten, aus einem wesentlichen, wenn nicht sogar dem wichtigsten, dörflichen Zusammenhang ausgrenzten. Entsprechend kreisten die dörflichen Konflikte vielfach um die gemeindlichen Ressourcen bzw. ihre Knappheit. Konnte man nicht auf informellem Wege zu einer Lösung der dörflichen Konflikte gelangen, waren die kommunalen Gremien befugt, Übertritte der Normen zu bestrafen, um innerhalb der Gemeinde den notwendigen gemeinen Nutzen und nachbarschaftliche Harmonie zu bewahren. 86 Dörfliche Streitfälle konnten formell „durch ein abgestuftes Verfahren der Konfliktkanalisierung und -lösung“ behoben werden, das neben einer horizontalen Kontrolle und einer informellen Konfliktregelung durch die Nachbarschaft auch „die Pflicht der Amtsträger und vielfach aller Dorfbewohner zum Friedegebot bei Beleidigungen und Tätlichkeiten“ umfasste. Als letzte Möglichkeit, die Probleme vor Ort zu regeln, blieb schließlich die formelle Austragung des Konfliktes vor der lokalen Gerichtsbarkeit. 87 Dort wurden v. a. „Klagen wegen Beleidigungen, Diebstahl von Nahrungsmitteln und Verletzungen von Grenz- und Nutzungsrechten durch andere Dorfleute“ erhoben, die „auf Wahrung und Sicherung von Besitz, Eigentum und materiellen Interessen sowie die Aufrechterhaltung der sozialen Reputation der eigenen Person und Familie“ zielten. 88 Dieses Bedürfnis zur Regelung gemeinschaflichen Lebens und zur Wahrung des Gemeinwohls wurde oben wie unten anerkannt; 89 in welchem Maße sich die staatliche Gewalt in dörfliche Angelegenheiten jedoch einmischen sollte, war eine ganz andere Frage. 83 Landwehr, Policey im Alltag, S. 327. 84 Wie insbesondere Achim Landwehr dargelegt hat, schufen die implementierten Normen neue Handlungsmöglichkeiten: Die Policeyvorschriften konnten zwar befolgt werden, aber häufiger wurde die Option genutzt, sie nicht einzuhalten, zu umgehen oder für eigene Zwecke einzusetzen. Landwehr, Policey im Alltag, S. 324-326. 85 Vgl. Holenstein, Bauern, S. 15f.; Münch, Kirchenzucht und Nachbarschaft, S. 244f. 86 Holenstein, Bauern, S. 20; Holenstein & Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘, S. 19; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 18, Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 21f. 87 Holenstein, Bauern, S. 16. 88 Ebd., S. 25f. 89 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 317. Siehe auch Janssen, ‚Gute Ordnung‘ als Element der Kirchenpolitik, S. 43. <?page no="83"?> 84 2.2. Die Täufer in Württemberg und im Schorndorfer Raum 2.2.1. Die Anfänge des täuferischen Wirkens im württembergischen Raum und erste antitäuferische Mandate (1527-1534) Die Täuferbewegung hatte einen ihrer Ursprünge in den reformatorischen Kreisen Zürichs in den frühen 1520er Jahren, wo Ulrich Zwingli einen kirchenkritischen und reformorientierten Schülerkreis aus Klerikern, Gelehrten und Handwerkern um sich geschart hatte. Einige dieser Gefolgsleute wurden „später als Täufer bekannt“. 90 Eine besondere Rolle kam den humanistisch gebildeten Laien Konrad Grebel (1498-1526) und Felix Mantz (1498-1527) zu. 91 Sie gehörten Zwinglis Umkreis bereits während der ersten antiklerikalen Aktionen in Zürich im Frühjahr 1522 an, deren Bandbreite von der Fastenbrechung über Predigtstörungen bis hin zu Bilderstürmen reichte. Zunächst begrüßte Zwingli die Aktivitäten seiner Freunde, doch im Laufe der Jahre Zeit stellte er sich zunehmend auf die Seite des Stadtrates und gegen die Landgemeinden, die weiterhin auf radikale Antiklerikalität setzten und u. a. den Kirchenzehnten anfochten. Gerade im Konflikt um den Zehnten zeigte sich Konrad Grebel von Zwingli enttäuscht, der in dieser Frage die den weltlichen Obrigkeiten die Befugnis zugesprochen hatte. Zu einem endgültigen Bruch zwischen Zwingli und seinen radikalen Schülern kam es im Oktober 1523 im Zuge einer Disputation in Zürich, auf der die Letzteren die biblische Grundlage von Messe und Bildverehrung in Frage stellten. 92 Statt diese Erkenntnis in die Praxis umzusetzen, überließ Zwingli zur Empörung seiner radikalen Anhänger, die die Entscheidungsgewalt den einzelnen Gemeinden überlassen wollten, die Entscheidung dem Zürcher Rat. Wenig später wurde von Seiten der Landgemeinden der Anspruch erhoben, die Kindertaufe sei nicht in der Bibel belegt und somit abzulehnen, ein Anspruch, der von Konrad Grebel und seinem Umkreis schnell aufgegriffen wurde. 93 Daraufhin kam es im Januar 1525 zu einer vom Rat angeordneten weiteren Disputation mit Zwingli zum Thema der Tauffrage, die nach heftigem Meinungsaustausch zwischen den Parteien zur endgültigen Abspaltung Grebels und seiner Anhänger führte: 90 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 15. Das frühe Täufertum ist in den letzten Jahren heiß debattiert worden. Siehe z. B. Snyder, Biblical Text; Ders., The Birth and Evolution of Swiss Anabaptism; Ders., The Evolution of Swiss Anabaptism to 1530; Ders., Swiss Anabaptism; Ders., Zollikon Anabaptists, sowie in kritischer Auseinandersetzung mit der revisionistischen Forschung Strübind, Eifriger als Zwingli. 91 Zu Grebel siehe z. B. Goertz, Konrad Grebel. 92 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 19; Snyder, Biblical Text, S. 174-177; Ders. Swiss Anabaptism, S. 48-54; Stayer, Die Anfänge des schweizerischen Täufertums, S. 26. 93 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 15-19; Snyder, Swiss Anabaptism, S. 62-64. <?page no="84"?> 85 „Die Radikalen fühlten sich schließlich in die Enge getrieben und vollzogen mit der ersten Wiedertaufe am 21. Januar 1525 […] den Bruch mit der Zürcher Reformation. Aus den Radikalen wurden Täufer, in der Stadt genauso wie auf dem Lande. Hier war es ein kleiner, leidenswilliger Kreis und dort vorerst noch eine militante Massenbewegung. Der Rat ließ weitere Disputationen einberufen und ging allmählich dazu über, rechtlich gegen die Täufer einzuschreiten. Am 6. März 1526 erließ er das erste Mandat, das die Todesstrafe auf Wiedertaufe verfügte.“ 94 Diese ehemaligen Anhänger Zwinglis verstanden sich - das ist zu unterstreichen - als „Verfechter einer wahren Reformation gegenüber Zwingli und dem Zürcher Rat“. 95 So war James M. Stayer zufolge der tragende reformatorische Gedanke dieser Gruppe „die Restitution einer Kirche, wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben wurde. Die Taufe schloß die Bekehrung ein - eine Absage an das frühere sündhafte Leben - sowie die Verpflichtung, nach Act 2 das Eigentum mit bedürftigen Glaubensgenossen zu teilen.“ 96 Die religiösen Auffassungen waren jedoch von Anfang an unzertrennlich mit den daraus gezogenen sozialen Folgerungen verflochten. Als weltabgewandt können die frühen Täufer keineswegs angesehen werden, wie bereits die Verwicklung der Radikalen in den Reformationsgeschehnissen Zürichs zeigt. 97 Die frühe Täufergemeinde in Zürich hatte einen großen Einfluss auf den südwestdeutschen Raum, da er eines der täuferischen Missionsgebiete darstellte und die hochmobilen Täufer zudem ständig die südwestdeutschen Verkehrswege, Reichsstraßen und Flüsse benutzten. So sickerte reformatorisches Gedankengut bereits während der österreichischen Herrschaft in den württembergischen Raum ein. Zu den ersten täuferischen Predigern im Gebiet zählte der sich in Horb - damals Teil der vorderösterreichischen Herrschaft Hohenberg - niedergelassene ehemalige Prior Michael Sattler, der in Zürich und Straßburg täuferische Bekanntschaften gemacht und sich zum Täufertum bekehrt hatte. Während seiner kurzen Karriere stieg er zu einem der prominentesten täuferischen Anführer auf. Zusammen mit Wilhelm Reublin bekehrte Sattler zu Beginn des Jahres 1527 ungefähr siebzig Menschen in Horb und Rottenburg. Bereits im Februar 1527 wurde Sattler jedoch von den Amtleuten der Herrschaft Hohenberg in Horb verhaftet und nach einem kurzen Prozess im Mai 1527 mit einigen anderen Täufern hingerichtet. 98 94 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 20. 95 Stayer, Täufer, S. 599. Vgl. Goertz, Pfaffenhaß, S. 203. 96 Stayer, Täufer, S. 599. Ähnlich vor kurzem Snyder, The Evolution, S. 148, 165f. 97 Vgl. Goertz, Skizze, S. 21f.; Snyder, The Evolution, S. 165. Siehe auch Glebe, The Use of Problematic Case Studies, S. 79, und Schubert, Täuferforschung, S. 403. 98 Clasen, Wiedertäufer, S. 1-3. <?page no="85"?> 86 Aus Horb, Rottenburg und Augsburg gelangten täuferische Ideen bald in die mit dem Herzogtum Württemberg benachbart gelegene Reichsstadt Esslingen. Wahrscheinlich war es Reublin, der dort in den Jahren 1526 und 1527 als erster Täuferprediger mehrere Anhänger um sich sammelte. 99 So soll es in Esslingen bis zum Jahresende 1527 eine „große Täufergemeinde mit Vorstehern und Säckelmeistern“ 100 gegeben haben, auch wenn sie nie die Größe der Täufergemeinden etwa von Straßburg oder Augsburg erreichte. Die Täufer fassten jedoch zunächst in den Weilern und Höfen rund um die Reichsstadt Fuß. Da täuferische Versammlungen in erster Linie außerhalb der Stadt stattfanden, war die Esslinger Täufergemeinde nicht an die Stadtgrenzen gebunden. 101 Vielmehr rekrutierte die Täufergemeinde in Esslingen Anhänger aus dem umliegenden württembergischen Gebiet, insbesondere aus dem Stuttgarter und Göppinger Raum sowie dem Remstal. Gleichzeitig erreichten das Herzogtum weitere täuferische Impulse aus Heilbronn und aus der Pfalz. 102 Bemerkenswert dabei ist - was bereits die Anfänge der Zürcher Täuferbewegung nahe legen -, dass täuferische, zwinglische und lutherische Ideen weitgehend parallel verbreitet wurden. Einerseits bedeutete dies, dass die umherwandernden Prediger ein überregionales Netz von Anhängern und Unterstützern aufbauen konnten und dies angesichts der einsetzenden Verfolgungen von Seiten der Stadtmagistrate oder Landesherren auch mussten, das Gleichgesinnte über größere Distanzen hinweg verband. 103 Andererseits konnten in einzelnen Orten heftige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen reformatorischen Gruppierungen entbrennen. So wurde sowohl in Esslingen als auch in Heilbronn vor der Einführung der Reformation bitter um die religiöse Vormacht in der Stadt gerungen. In diesem Kampf konnten sich die Täufer teilweise bereits in den 1520ern als scharfe Luther-Kritiker profilieren und in der religiös aufgeladenen Stimmung Gehör für ihre Predigten finden. 104 Etwa in Esslingen waren vor der Einführung der Reformation im Jahre 1531 nicht nur die Protestanten untereinander zerstritten, auch „Anhänger Zwinglis und Luthers feindeten sich heftig an, und beide wiederum wurden von denen angegriffen, denen die Reformation nicht weit genug gegangen war, die neben einer kirchlich-theologischen Veränderung auch eine Änderung der Lebensverhältnisse erwartet hatten. Für sie war Luther auf dem Weg, eine neue Papstkirche aufzubauen. Die Wiedertäufer gehörten durchweg zu dieser Gruppe.“ 105 99 Clasen, Wiedertäufer, S. 6; Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 198. Zu den Täufern in Augsburg siehe auch Simon, Täufer aus Schwaben, und Schubert, Täufertum und Kabbalah, S. 44-54. 100 Clasen, Wiedertäufer, S. 7. 101 Ebd., S. 7f.; Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 253. 102 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 125-127; Clasen, Wiedertäufer, S. 6f., 26; Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 253. 103 Clasen, Wiedertäufer, S. 9. 104 Ebd., S. 19; Landwehr, Wiedertäufer, S. 136. 105 Landwehr, Wiedertäufer, S. 136. <?page no="86"?> 87 Kurzum: Die Täufer traten „alsbald fast überall auf, wo die Reformation Fuß gefaßt hatte“. 106 In Württemberg waren es in manchen Dörfern des Herzogtums gerade täuferische - nicht etwa lutherische oder zwinglische - Prediger, die als Erste evangelische Ideen verbreiteten. An diesen Orten schlossen sich die mit den religiösen Umständen bzw. der katholischen Kirche Unzufriedenen somit zunächst v. a. den Täufern an. 107 Trotz heftiger Auseinandersetzungen unter den Anhängern Zwinglis, Luthers und den verschiedenen Täuferpredigern wurden sie von Seiten der katholischen Machthaber als zusammenhängendes Phänomen gedeutet. Darauf weisen die ersten antitäuferischen Mandate in Württemberg hin, in denen die verschiedenen reformatorischen Gruppen zu einer Strömung gebündelt wurden. Entsprechend berichtete der österreichische Statthalter Württembergs im Februar 1528 an König Ferdinand über Täufer und Lutheraner gleichermaßen; im August 1532 erließ die Regierung in Stuttgart ein Ausschreiben wegen der lutherischen, zwinglischen und anderen ‚verführerischen‘ Sekten. 108 Daher sei ein Beispiel aus der frühen Täuferbewegung bzw. -verfolgung in Württemberg unter katholischer Herrschaft näher vorgestellt, da es die Herausbildung der obrigkeitlichen Täuferbilder bereits unter der katholischen Herrschaft veranschaulicht. Das Protokoll des am 27. März 1528 in Stuttgart als Täufer verhörten Hans Zuber hält zunächst die neue Taufe Zubers fest: „Zuberhans von Heginsperg hat frei ledig on alle peinliche frag bekennet, das er am wihenechttag nechstverschinen von Felixen schuhmacher von Eßlingen in des Feigenbutzen haus im Hainbach niderkniend widergetauft worden sei, der mit beden henden wasser aus ainer schussel genomen, ime uf das haupt gegossen in namen des vaters, des sons und des hl. gaists. Item das er volgends drei creuzer in den gemainen seckel geben, die neme Fölix an.“ 109 Der Akt der Erwachsenentaufe, hier ungewöhnlich detailliert beschrieben, wurde für die Obrigkeiten bald zu einem namensgebenden Kennzeichen für die Täufer. Sie wurde mit einer „grundsätzliche[n] Dissidenz“ in Verbindung gebracht, „deren Ziel die Zerstörung der bestehenden Einrichtungen und Lebensformen 106 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 122f. 107 Clasen, Wiedertäufer, S. 32f. 108 QGT I, S. 4, 28f. 109 Die Urgicht des Zuberhans vom 27. März 1528 ist bei Bossert im originalen Wortlaut wiedergegeben, vgl. QGT I, S. 914-916, hier: S. 914. Die Urgicht oder Urfehde „was a document issued on the release of a person from custody, by which he swore that he accepted the treatment accorded him, accepted any penalty imposed, and would not seek further redress, either within the law or outside it“. Scribner, Police and Territorial State, S. 109. Ausführlicher zum Thema Blauert, Das Urfehdewesen, der ähnlich wie Scribner die Funktion der Urfehde in der gesellschaftlichen Friedenssicherung sieht. Siehe auch Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 29-31. <?page no="87"?> 88 war“. 110 Auch die Versuche einiger Täufergruppen, Gütergemeinschaften oder auch nur einen „gemainen seckel“ zu etablieren, galten als traditionswidrig und somit bedrohlich. Die Bedeutung des „gemainen seckels“ soll Zuber damit erklärt haben, „das alle ding gemain sein, und welcher mer hab, der soll mit dem andern teiln“. 111 Auf die Frage nach einem täuferischen Erkennungszeichen hin habe Zuber bekannt, Täufer würden die Grußformel „der frid gottes sei mit dir“ verwenden, um Gleichgesinnte zu erkennen. Würde der oder die Begrüßte mit „amen, er sei mit dir auch“ antworten, handele es sich um einen Glaubensbruder oder eine Glaubensschwester. 112 John S. Oyer hat darauf hingewiesen, dass die Obrigkeiten in den Verhören der frühen Esslinger Täufer gezielt nach diesen beiden Punkten, dem gemeinen Säckel und dem täuferischen Erkennungsgruß, gefragt haben sollen: „These two otherwise innocent religious acts were viewed by the authorities as part and parcel of a sinister plot by lower class people to seize political control.“ 113 Sie wurden zum Merkmal eines Täufers erhoben und in der Identifikation der Sektierer benutzt, bis sie durch andere ersetzt oder aufgegeben wurden. In Esslingen soll in den 1530er Jahren die Suche nach diesen spezifischen Erkennungszeichen nachgelassen haben. 114 In Heilbronn dagegen wurde die den Täufern zugeschriebene Praxis der Eidverweigerung „zu einem besonders auffälligen Kennzeichen der Täufer“, die „andere täuferische Merkmale in den Hintergrund“ drängte. 115 Es wird hieraus deutlich, dass die Suchraster dem jeweiligen Stand des Wissens und den aktuellen Bedürfnissen und Interessen der Obrigkeiten angepasst wurden, so dass eine gewisse Variation in den Erkennungsmustern der Täufer gegeben war, selbst wenn vieles unverändert über Jahrzehnte hinweg weitertradiert wurde. Was als ‚kleinster gemeinsamer Nenner‘ stets erhalten blieb, war das Kriterium der Wiederbzw. Erwachsenentaufe. 116 Das Protokoll über Hans Zuber berichtet weiter von einer Versammlung, in der nachts ungefähr 25 Leute im Haus der Witwe Katharina Kneplin in Hegensberg bei Esslingen zusammengekommen sein sollen. 117 Der bereits genannte Schuhmacher und Vorsteher Felix Pfudler habe den Versammelten 110 Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 90. 111 QGT I, S. 915. Zu den täuferischen Konzeptionen und Experimenten der Gütergemeinschaft siehe z. B. Packull, Hutterite Beginnings; Scribner, Konkrete Utopien; Stayer, The German Peasants‘ War. 112 QGT I, S. 914. 113 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 215. 114 Ebd., S. 288f. 115 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 109. 116 Vgl. Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 91. 117 Zu Katharina Kneplin siehe auch ihre Urfehde vom 25. August 1528, QGT I, S. 11. Zu Hans Zuber, Felix Pfudler und der Esslinger Täufergemeinde in den 1520er Jahren siehe Clasen, Wiedertäufer, S. 7f., 74-76; Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 196-211. Zu den von Zuber aufgedeckten Aufruhrplänen siehe Oyer, Anabaptists in Esslingen, 223-226. Clasen, Wiedertäufer, S. 75, deutet in Rückgriffauf Täuferakten vom 27. und 28. März 1528 im Esslinger Stadtarchiv an, dass Hans Zuber gerne selber gepredigt hätte, dieses ihm aber von Seiten der Gemeindevor- <?page no="88"?> 89 „vom widertauf gepredigt; dann der pfaffen oder kindertauf sei nichts und von got nit eingesetzt und das sacrament sei auch nichts anderst dann ain gedechtnus des, das der her ain nachtmal geben, wie er dann selbs gesagt hab: so oft ir das tun, so tuns in meiner gedechtnus“. 118 Weiter soll Pfudler gegen die Ohrenbeichte und den Heiligenkult gewettert haben; statt dessen solle der Mensch in der Not „allain got anrufen“. 119 Insgesamt waren das Themen, die John S. Oyer mit dem Etikett „a normal Anabaptist message“ versehen hat. 120 Die Kindertaufe wurde verworfen, da sie nicht in der heiligen Schrift zu finden bzw. nicht von Gott eingesetzt war. Auch die Auffassung vom Abendmahl als Gedächtnismahl wurde mit den Worten Jesu legitimiert, so dass hier die in der Forschung bereits mehrfach herausgestellte zentrale Rolle der Bibel und deren buchstäblicher Auslegung unter den Täufern erkennbar wird. 121 Über ein Gedächtnismahl hinaus war das Abendmahl bei den Täufern ein Zeichen der engen Zusammengehörigkeit der Glaubensgemeinschaft, die wie in diesem Falle nur nachts in einem Privathaus zusammenkommen konnte. 122 Die von Zeitgenossen wie auch in der Täuferforschung als typisch täuferisch gehandelten Elemente wie die Gläubigentaufe, die Gütergemeinschaft, die Wehrlosigkeit, die Absonderung, der Bann oder die Eidverweigerung waren jedoch vornehmlich „Lebensordnungen und erst in zweiter Linie Lehrpunkte“. 123 Entscheidend war ein Leben in der Nachfolge Christi. 124 Die im Haus der Witwe Kneplin Versammelten, einige von ihnen bereits getauft, seien sich nach der Aussage Hans Zubers über die Ausführungen Felix Pfudlers einig gewesen. Im Verhör gestand Hans Zuber sogar, dass es konkrete Pläne für die Umsetzung täuferischer Visionen - notfalls unter Anwendung von Gewalt - um Ostern 1528 zusammen mit Glaubensgenossen aus Augsburg und Zürich gegeben habe: steher untersagt worden sei. Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 226, wiederum bezeichnet Zuber als „a foolish, entirely irresponsible man“, der kaum Gehör unter seinen Glaubensgenossen finden konnte. 118 QGT I, S. 914f. 119 Ebd., S. 915. 120 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 224. 121 Siehe z. B. Goertz, Zwischen Biblizismus und Spiritualismus; Stayer, Anabaptists, S. 30, 32-33. 122 Stayer, Anabaptists, S. 32, skizziert in aller Kürze die unterschiedlichen Gewichtungen der Taufe bei den Anhängern der Schweizer Brüder, Hans Huts und Melchior Hoffmans: „Adult baptism was for the Swiss Anabaptists a ceremony handed down from Christ and the apostles, to be literally observed. For Hut’s followers it was the sign of the covenant of the apocalyptic elect, protecting them from the wrath of Christ returning in judgement. Hoffman suspended believers’ baptism in 1531 when it led to the persecution of his followers, and although it was resumed by the Münster Anabaptists and the Mennonites it was abandoned by the Batenburgers and Joris’s followers.“ 123 Stayer, Täufer, S. 615. 124 Stayer, Anabaptists, S. 30. Siehe auch oben, Kap. 1.3. <?page no="89"?> 90 „Item alle die, so vorgemelte nacht biainander gewest, haben sich veraint, ungevarlich umb Ostern schierst zusamenzuziehen uf Reutlingen zu; do werden die widerteufer von Ougsburg und die Schweizer von Zurch auch zusamenkomen ungevarlich uf 700 stark und durch das land hinwegziehn, all oberkeit, menich und pfaffen, die wider ir mainung sein, tod schlagen und die kirchen und closter abton; und wer nit ir mainung, den welten sie darzu zwingen.“ 125 Wenige Jahre nach den blutigen Ereignissen des Bauernkrieges (insbesondere im Remstal hatte sich eine Tradition von politischer Unruhe gebildet) 126 mussten diese Vorhaben bei der Obrigkeit einen Schrecken einjagen. Enstprechend sprach die Stuttgarter Regierung in einem Bericht vom 6. April 1528 über die Ausbreitung der Täuferbewegung von „groußen schäden und plutvergießen, die darus volgen und komen möchten“. 127 Es ist bekannt, dass Zuber, der im Verhör gefoltert und später hingerichtet worden ist, seine Aussagen zum bevorstehenden Aufstand nicht revidiert hat. 128 Der Säckelmeister und Vorsteher der Esslinger Täufer Hans Feigenbutz, in dessen Haus Zuber getauft wurde, hatte tatsächlich am Bauernkrieg teilgenommen. Ab Ende 1527 fungierte er als kommunikative Schnittstelle für die Täufer der Region, indem er Glaubensflüchtlingen Hilfe gewährte und als Briefbote innerhalb der täuferischen Netzwerke im schwäbischen und bayerischen Raum tätig war. 129 Völlig aus der Luft gegriffen war die von den Obrigkeiten vorgenommene Verknüpfung von Täufertum und bäuerischem Aufstand in den 1520er Jahren also nicht. Auch in der Forschung wird inzwischen - nach anfänglicher Leugnung aller gewalttätiger Tendenzen im Täufertum - eine Interdependenz zwischen einigen täuferischen Gruppierungen und aufständischen Bauern postuliert. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang wohl von Hans-Jürgen Goertz propagiert worden, der die Entstehung der Täuferbewegung im Bauernkriegsmilieu in aller Deutlichkeit herausgestellt hat, so dass „zwischen den Aufständischen und den Täufern [...] in einigen Gebieten zunächst kaum zu unterscheiden gewesen“ sei. 130 Nach dem Schock des Bauernkriegs avancierte zehn Jahre später die Täuf- 125 QGT I, S. 915. 126 Clasen, Wiedertäufer, S. 26. 127 QGT I, S. 6. Vgl. Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 226: „The 1525 Peasants‘ War was green in their [the government‘s, Anm. P.R.] memories.“ 128 Clasen glaubt nicht, dass die Folter Einfluß auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Hans Zuber gehabt hat, da der zeitgleich, aber unabhängig von Zuber in Heilbronn verhörte Hans Pfau ähnliches gestanden habe. Clasen, Wiedertäufer, S. 75. 129 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 218-220, 235; Stayer, German Peasants‘ War, S. 76. 130 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 83. Siehe auch Ders., Aufständische Bauern, S. 99-112; Hui, Vom Bauernaufstand zur Täuferbewegung; Seebaß, Täufertum und Bauernkrieg in Franken; Stayer, Peasants‘ War. In der marxistischen Forschungstradition hatte Zschäbitz, Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung, bereits früher eine Interpretation dieser Art vorgelegt. Strübind, Eifriger als Zwingli, S. 79-119, 577, dagegen hat in kritischer Auseinandersetzung mit dem in der Täuferforschung weithin akzeptierten Konzept der Gemeindereformation von Peter Blickle den engen Zusammenhang von Bauernkrieg und Täufertum für die Zürcher Täufer <?page no="90"?> 91 erherrschaft in Münster schnell zum Inbegriffdessen, was von einem sektiererischen Regime zu erwarten war: Vielweiberei, Gütergemeinschaft, Mord und Todschlag. 131 „Dieses Reich der Täufer blieb als abstoßendes Beispiel für eine Schreckensherrschaft in Erinnerung und ist zum Anlaß genommen worden, die Verfolgung der Täufer überall im Reich zu intensivieren.“ 132 Es zeigt sich an dieser Stelle, wie nachhaltig die sich schnell verbreitenden täuferischen Stereotypen die Obrigkeiten prägten. Obwohl die württembergische Täuferbewegung im Laufe der Zeit immer mehr quietistische Züge annahm und nach den Anfangsjahren keine gewaltsamen Umsturzspläne in den Täuferverhören oder Visitationen ausgemacht werden konnten (selbst Zubers Gruppe schien letzlich nur wenige Anhänger gewonnen zu haben) 133 , lebten die Bilder von den alles niedermetzelnden Ketzerhorden in der obrigkeitlichen Imagination weiter. 134 Nach einer Beteiligung am Bauernkrieg oder an aufrührerischen Umsturzplänen wurden die als Täufer verhörten Personen noch weit in das späte 16. Jahrhundert hinein befragt, wohingegen andere Kennzeichen aus der frühen Epoche - wie bereits erwähnt, etwa der gemeine Säckel und der geheime Täufergruß - im Laufe der Jahre in den Hintergrund rückten. Gleichzeitig mit den ersten Täuferverhören wurden die ersten antitäuferischen Schriften in Württemberg erlassen, wahrscheinlich bereits 1527, spätestens aber im Januar 1528. 135 Die Anweisungen der Habsburger, wie die Regierung in jüngst in Frage gestellt. 131 Zu Münster und dem norddeutsch-niederländischen Täufertum einführend z. B. Stayer, Täufer, S. 607-613. Ausführlicher u. a. Dülmen, Reformation als Revolution; Haude, In the Shadow; Kirchhoff, Die Täufer in Münster 1534/ 35; Klötzer, Herrschaft und Kommunikation; Ders. Hoffnungen auf eine andere Wirklichkeit, S. 153-169; Ders., Die Täuferherrschaft von Münster; Waite, David Joris; Visser, Mennonites and Doopsgezinden. 132 Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 32. 133 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 226. 134 So wundert es nicht, dass der in Stuttgart geführte und viel Aufsehen erregende Prozess gegen den selbsternannten König und Propheten Augustin Bader im Jahre 1530 einen stark politischen Charakter hatte. Wie Hans Zuber und Felix Pfudler schien auch Bader die Ängste der Obrigkeit zu bestätigen und beeinflusste somit die Herausbildung und Befestigung von obrigkeitlichen Feindbildern und Täufer-Stereotypen. Die chiliastischen Prophezeiungen des aus Augsburg stammenden Webers und Kürschners kündigten an, die Menschheit stehe an der Schwelle des Tausendjährigen Reiches. Mit den Königsinsignien Krone, Zepter und Schwert ausgestattet verkündete Bader seiner Gefolgschaft, sein neugeborener Sohn sei der Messias und er dessen Stellvertreter. Mit der Enthauptung Augustin Baders in Stuttgart am 30. März 1530 durch sein eigenes ‚Königsschwert‘ sollte allen radikalen Wanderpredigern im Herzogtum ein unmissverständliches Zeichen gesetzt werden, wie streng die Obrigkeit mit Aufrührern umzugehen gedachte. Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 17; Clasen, Wiedertäufer, 114- 117; QGT I, S. 975. Zur Stereotypenbildung im Zuge der Reformation siehe auch Schwerhoff, Inquisition, S. 122. Zu Bader siehe inzwischen instruktiv Schubert, Täufertum und Kabbalah. 135 Clasen, Wiedertäufer, S. 26. <?page no="91"?> 92 Württemberg mit den Täufern umzugehen hatte, waren eindeutig. Diese Personen sollten nicht nur als Ketzer, sondern als politische Aufrührer geahndet werden, wie in dem ausführlichen Befehl König Ferdinands vom 26. Januar 1528 vorgeschrieben wurde. 136 Dementsprechend sollte die Regierung „eine weltliche Inquisition“ 137 beauftragen, die Täufer aufzuspüren. Die Vorsteher seien mit dem Tod zu bestrafen, ihre Anhänger, sofern sie ihren Glauben nicht widerrufen wollten, sollten nach sechs Wochen Haft wohl ebenfalls hingerichtet werden. Waren die Anhänger dagegen zum Widerruf bereit, seien sie exemplarischen Haftstrafen von mindestens drei bis sechs Wochen zu unterziehen. 138 Anfang 1528 fielen im Herzogtum Württemberg die ersten Täufer und Täuferinnen in die Hände der Obrigkeit. 139 Bis zum Jahre 1534, als das Herzogtum nach dem erneuten Amtsantritt Herzog Ulrichs ins protestantische Lager überging, wurden insgesamt 28 Täufer und Täuferinnen in Stuttgart und in den württembergischen Ämtern Stuttgart, Cannstatt, Waiblingen und Schorndorf gefasst. Vermutlich sind vor der Reformation mehrere Täufer in Württemberg hingerichtet worden. Doch entgegen den Vorgaben des Schwäbischen Bundes vom Februar 1528 wurden widerrufende Anhänger der Täufer in Württemberg wohl nicht mit dem Tode bestraft. Insgesamt blieb die „Haltung der österreichischen Regierung in Stuttgart gegenüber den Täufern [...] etwas zwiespältig“. Einerseits wurden die Täufer als religiöse Bewegung wahrgenommen, worauf laut Claus- Peter Clasen die Missachtung der Todesstrafe für Anhänger hinweist. Andererseits „haben die häufigen Gerüchte über revolutionäre Pläne der Wiedertäufer das Mißtrauen der Regierung wachgehalten“. 140 Entscheidend ist, dass die Obrigkeit Täufer gesucht und diese dann auch gefunden hat. Mit den ersten Täuferordnungen und -mandaten begann die Festlegung der Kriterien, woran man diese neue Art von Ketzern erkennen könne und inwiefern sie die Grenzen des Akzeptierten übertraten. Prägend waren hier die ersten Erfahrungen, die man mit Gruppen und Personen gemacht hatte, die (unter anderem) die lange Praxis der Kindertaufe und weitere zentrale Punkte der christlichen kirchlichen Tradition in Frage stellten. Es wurde ein Zuschreibungsprozess in Gang gesetzt, der den Umgang mit den Täufern lange bestimmt hat. Am Beispiel der Täufer und ihrer Verfolgung zeigt sich äußerst deutlich, wie Außenseiter von der Gesellschaft geschaffen werden. Gesellschaftliche Gruppen - hier: die katholischen Statthalter in Württemberg - stellen Regeln auf, „deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert“. 141 Diese Regeln werden „auf bestimmte Menschen“ - hier: die Täufer - angewandt, „die sie zu Außenseitern abstempeln“. 142 So muss das ‚als Täufer marginalisiert Werden‘ stets als „Inter- 136 QGT I, S. 1-4. 137 Clasen, Wiedertäufer, S. 28. 138 QGT I, S. 2f. 139 Clasen, Wiedertäufer, S. 26. 140 Ebd., S. 26-28. 141 Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 77. 142 Ebd., S. 77. <?page no="92"?> 93 aktions- und Zuschreibungsprozeß zwischen Akteuren und Instanzen“ 143 aufgefasst werden. Gleichzeitig formten die aufgrund ihrer vermeintlichen Ketzerei Ausgegrenzten ihrerseits die zeitgenössischen Diskurse und Umgangsformen mit religiöser Devianz. 144 In der vorliegenden Arbeit liegt das Augenmerk somit weniger auf dem ‚tatsächlichen Täufer-Sein‘ im Sinne der Rekonstruktion der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder der Vollziehung einer Erwachsenentaufe. Von Interesse ist vielmehr der Prozess, wie Täufer als solche definiert wurden und wie dieses ‚Etikett‘ in verschiedenen Situationen angewandt werden konnte. 145 Dieser Zugang bedeutet aber nicht, dass es keine täuferischen Ideen, Netzwerke und Gemeinschaften jenseits der obrigkeitlichen Imagination gegeben hätte. Die Täufer wurden nicht frei von ihren Gegnern erfunden. Es gab eine ganze Reihe von Menschen und Gruppen, die nach religiösen und sozialen Optionen suchten, mit ihren Lösungsversuchen jedoch gegen die gängigen Normen, Werte und Ordnungsvorstellungen stießen. Entsprechend wurden diese Impulse von vielen Zeitgenossen als ernsthafte Bedrohung interpretiert: Nachdem obrigkeitlich eine - zumindest ungefähre - Matrix des Täufer-Seins festgelegt worden war, wurde die Sensibilität der Zeitgenossen für diese als ‚typisch täuferisch‘ verstandenen Haltungen oder Praktiken erhöht. Die obrigkeitliche Konzentration auf ganz bestimmte Aspekte des Täufer-Seins konnte wiederum dazu führen, dass die als vermeintliche Häretiker Vernommenen gerade in diesen Punkten Stellung beziehen mussten und dadurch eben diese Differenzen verstärkt ausgeprägt bzw. in den obrigkeitlichen Schriften festgehalten wurden. 146 Den Täufern haftete von Beginn an das Stigma von Aufruhr (weltlicher Vorwurf ) und Ketzerei (religiöser Vorwurf ) an. Als zentrale Merkmale, die die Täufer aus obrigkeitlicher Perspektive immer wieder als potentiell aufrührerisch erscheinen ließen, dienten die von einigen Täufergruppen geäußerten kritischen Positionen zum Eid, zur Obrigkeit und deren Christlichkeit sowie zum Kriegsdienst. 147 Aus dem Nichts wurden die obrigkeitlichen Feindbilder auch unter katholischer Herrschaft freilich nicht geschaffen. Die Abstemplung und Verfolgung der Täufer wurzelte in der mittelalterlichen Tradition der Ketzerverfolgung, die im Codex Justinianus juristisch fixiert war und in den Reichsmandaten des 16. Jahrhunderts, die auf diese zurückgriffen, erneuert wurde. Im Codex Justinianus war die Todesstrafe für die Häresien der Wiedertaufe und des Antitrinitarismus vorgeschrieben. 148 Die Todesstrafe für Täufer wurde im Reichsabschied von Speyer im 143 Ebd., S. 77. 144 Vgl. Habermas, Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited, S. 41. 145 Zur kriminalsoziologischen Etikettierungstheorie siehe Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 77. 146 Vgl. Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 351f.; Schlachta, Grenzüberschreitend, S. 61. 147 Schlachta, Gefahr, S. 409. 148 Friedmann, Anabaptist, Sp. 113, Goertz, Geschichte und Deutung, S. 122; Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 95. Zu den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konnotationen des Ketzerbegriffs und den unterschiedlichen Stellungnahmen zum Vorgehen gegen diese jüngst auch <?page no="93"?> 94 August 1527 rechtlich festgelegt und im Januar 1528 in einem Edikt Kaiser Karls V. bestätigt. Zum Reichsgesetz wurde das kaiserliche Mandat auf dem nächsten Reichstag in Speyer am 23. April 1529 mit Zustimmung aller Reichsstände erhoben und somit für alle Territorien verbindlich gemacht. Von nun an waren die Obrigkeiten in den einzelnen Territorien und Städten „nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, gegen die Täufer von Amts wegen einzuschreiten“. 149 Dem Speyerer Abschied waren eine Reihe städtischer und territorialer Mandate vorgegangen. Von diesen sei neben den ersten in der Schweiz erlassenen Mandaten auf diejenigen auf habsburgischem Territorium hingewiesen, die ja auch in Württemberg Gehör beanspruchten. 150 Im Zürcher Mandat vom 7. März 1526 „waren erstmals in einem amtlichen Text die Täufer als besondere Gruppe namhaft gemacht und kriminalisiert worden“. 151 Insgesamt formten die beiden im Jahre 1526 erlassenen Zürcher Mandate die Rechtsgrundlage für das Todesurteil des Schweizer Täuferführers Felix Mantz, durch dessen Ertränkung 1527 sich der Stadtrat wohl „vor allem eine abschreckende Wirkung“ erhoffte. 152 In einem gemeinsamen Abschied der Städte Zürich, Bern und St. Gallen im selben Jahre dagegen wurde eine Akzentverschiebung vorgenommen, indem die Todesstrafe nicht auf die Wiedertaufe an sich, sondern das „allgemeine ‚aufrührerische Wesen‘ des Täufertums“ 153 bezogen wurde. In Österreich, wo die Täuferbewegung Horst W. Schraepler zufolge „sehr viel spektakulärer als die übrigen reformatorischen Bewegungen“ zutage getreten war, wurden unter Ferdinand I. die ersten antitäuferischen Mandate im Laufe des Jahres 1527 erlassen. 154 Sowohl die österreichischen Mandate als auch viele Mandate deutscher Fürsten und Magistraten der Reichsstädte im Verlauf des Jahres 1527 nahmen den „Bauernkrieg als Bezugspunkt“. 155 „So tritt allmählich neben den Ketzervorwurf auch der Vorwurf Schlachta, Gefahr, S. 119-123. 149 Der Schmalkaldische Bund kritisierte im Sommer 1531 allerdings, das Reichsmandat von 1529 sei voreilig gewesen, indem er die Unmöglichkeit herausstellte, ein allgemeines Gesetz gegen eine so heterogene Gruppe wie die Täufer zu erlassen. Der Beschluß des einflußreichen Bundes erleichterte es den Mitgliedern, sich gegen die kaiserliche Gesetzgebung zu stellen. Dennoch war es insbesondere für die Reichsstädte ein mit Risiken behaftetes Unterfangen. Brecht, Brenz, S. 177; Schraepler, Rechtliche Behandlung, S. 21. Siehe auch Clasen, Anabaptism, S. 385f. 150 Die habsburgischen Mandate hatten in Württemberg bis 1534 Gültigkeit. Goertz, Geschichte und Deutung, S. 122; Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 94. 151 Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 92. 152 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 123. 153 Schraepler, Rechtliche Behandlung, S. 19. 154 Die Prinzipien der Ketzerverfolgung unter Ferdinand, wie sie in seinem ersten antilutherischen und antitäuferischen Mandat vom August 1527 vorgelegt wurden, begründeten das harte Vorgehen gegen die Täufer mit deren Verletzung des Wormser Edikts von 1521: Jeder Verstoß gegen die zwölf christlichen Glaubensartikel und die sieben Sakramente fiel unter die reichsgesetzliche Ketzerstrafe und sollte mit dem Feuertod geahndet werden. Bei weniger schwerwiegenden Delikten wie Priesterehe oder „Verwerfung der Fürbitten der Heiligen“ sollten Gefängnisstrafen und Landesverweisungen ausreichende Strafmittel sein. Ebd., S. 19f. 155 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 124f.; Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 93f. <?page no="94"?> 95 des Aufruhrs.“ 156 Allerdings wurden Ketzerei und Aufruhr zumindest im Mandat Ferdinands vom August 1527 noch nicht inhaltlich gleichgestellt, sondern standen vielmehr in einem kausalen Zusammenhang: Ketzerei kann in Aufruhr münden. 157 Festzuhalten gilt für das Speyerer Mandat, dass in ihr die „Wiedertaufe als deutliches Erkennungszeichen“ festgeschrieben wurde, um sie daraufhin „für Verfolgung und Rechtssprechung nutzbar zu machen“. 158 Gleichzeitig wurde die Todesstrafe für die Wiedertaufe vorgeschrieben. Unmissverständlich heißt es im Mandat, „das alle und jede widertaufer und widergetauften mann und weibspersonen verstendigs alters von natürlichem leben zum tode mit dem feuer, schwerd oder dergleichen nach gelegenheit der personen, one vorgeend der geistlichen richter inquisicion, gericht und gepracht werden.“ 159 Der Kern des Mandats kann dahingehend zusammengefasst werden, dass auf dem Reichstag eine grundsätzliche „Strafwürdigkeit aller Täufer postuliert“ wurde. Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, musste vor der Verurteilung und dem Strafvollzug kein geistliches Gerichtsverfahren durchgeführt werden. Eine Begnadigung sollten nur Personen erfahren, die ihren täuferischen Glauben widerriefen, Reue zeigten und nicht rückfällig wurden. Dies galt jedoch nicht für die täuferischen Vorsteher, die selbst bei Widerruf nicht begnadigt werden sollten. 160 Hatte es in den ersten antitäuferischen Mandaten vor dem Reichstag noch drei hauptsächliche Argumentationweisen gegen die Täufer gegeben (erstens: Verstoß gegen bürgerliche Gesetze, zweitens: Aufruhr oder drittens: Ketzerei und Aufruhr zusammen), wurde im Speyerer Abschied der Vorwurf von Aufruhr und Ketzerei als essentieller Vorwurf gegen die Täufer erhoben. Von der ketzerischen Wiedertaufe ginge, so die Begründung, „Unfriede und Uneinigkeit im Reich“ hervor. Dabei wurde Hans-Jürgen Goertz zufolge der Akzent v. a. aus „pragmatischen Gründen“ auf die Wiedertaufe gelegt, um durch einen derart eindeutigen Strafbestand Verzögerungen in der Verurteilung und Bestrafung der Täufer zu verhindern. Durch die Berufung auf den Codex Justinianus war es zum einen nicht vonnöten, ein gänzlich neues Reichsgesetz zu schaffen. Zum anderen konnte man sich in die Tradition christlicher Ketzergesetzgebung stellen. 161 Auf territorialer Ebene beeinflusste die jeweilige Obrigkeit den Lauf des Zuschreibungsprozesses, indem es die durch Vorschriften die offiziellen Rahmenbedingungen für eine Verfolgung oder Duldung der Abgestempelten festlegte. 156 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 125. 157 Ebd., S. 124f. 158 Ebd., S. 122. 159 Mandat gegen die Wiedertäufer (23. April 1529), in: Deutsche Reichstagsakten, S. 1326. 160 Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 96. Für eine knappe Zusammenfassung des Mandats siehe Goertz, Geschichte und Deutung, S. 122f. 161 Goertz, Geschichte und Deutung, S. 122f.; Schraepler, Rechtliche Behandlung, S. 16-18. <?page no="95"?> 96 2.2.2. Die Verbreitung täuferischer Ideen nach 1534 Lagen die südwestdeutschen Zentren täuferischen Wirkens in den 1520er Jahren noch in Horb, Rottenburg, Esslingen, Schwäbisch Gmünd und Heilbronn, verlagerten sie sich ab den 1530er Jahren in das Remstal und in die Ämter Maulbronn, Göppingen und Kirchheim. Esslingen und Heilbronn blieben aber weiterhin wichtige Zufluchtsorte und Treffpunkte für Täufer aus dem Umland, insbesondere aus dem Herzogtum Württemberg. 162 Im Raum der Hohenloher Ebene, der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald dagegen sind so gut wie keine Täufer überliefert, so dass täuferische Ideen und Praktiken ihre stärkste Verbreitung in den mittleren Gebieten des schwäbischen Unterlandes gefunden haben. Insgesamt war das Täufertum in Württemberg von Anfang an eine dezidiert dörfliche Bewegung. 163 Wie die bereits genannten Beispiele von Esslingen und Heilbronn nahegelegt haben, gab es schon vor der Reformation verschiedene Formen evangelischer Religiosität in und um Württemberg. Hatten sich die Anhänger der reformatorischen Bewegung mancherorts zunächst den Täufern angeschlossen, änderte sich die Lage mit der Einführung der Reformation in Württemberg insofern, als nun die neue Kirche auch von den Täufern angeforderte Neuerungen in einer von den Obrigkeiten gesegneten Form versprach. 164 Zu den verschiedenen täuferischen Richtungen, die im württembergischen Raum vor und nach der Reformation vertreten waren, soll in diesem Zusammenhang nur ein kurzer Überblick gegeben werden. Die meisten Täufer scheinen in Württemberg entweder den Schweizer Brüdern 165 oder - insbesondere im späten 16. Jahrhundert - den Hutterern nahe gestanden zu haben. Die Hauptunterschiede dieser Richtungen lagen in der Dogmatik (etwa in der Trinitätslehre, Christologie und Rechtfertigungslehre), in den Einstellungen zur Obrigkeit und in Fragen der Ethik. Der Einfluss der Schweizer Brüder lässt sich zum Teil mit der Ausstrahlung der Esslinger Täufergemeinde erklären, die sich vornehmlich zu dieser Richtung bekannte. Auch Hans Huts Gedanken vom nahenden Weltende sind in der frühen Phase in Württemberg gepredigt und aufgenommen worden. Die Mitglieder der sogenannten Philippischen Brüder, die Mitte der 1530er Jahre aus Mähren vertrieben wurden, scheinen sich in Württemberg allmählich in den Gruppen oder Netzwerken der Schweizer Brüder angeschlossen zu haben. 166 Insgesamt räumt Clasen den Schweizer Täuferpredigern Wilhelm Reublin und Michael Sattler neben den Philippischen Vorstehern die größte Bedeutung in den ersten Jahren der Täu- 162 Clasen, Wiedertäufer, S. 31; Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 258. 163 Clasen, Wiedertäufer, S. 33, 49. 164 Ebd., S. 32f. 165 Hiermit ist nicht die geographische Herkunft der Anhänger gemeint, sondern die Zugehörigkeit zu der in Zürich entstandenen Täufergruppe. 166 Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 16; Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 4-8; Clasen, Wiedertäufer, S. 63. <?page no="96"?> 97 ferbewegung in Württemberg ein, betont aber, dass die Unterschiede zwischen Gruppen in dieser Zeit nicht zu stark gemacht werden sollten. Diese wurden erst in den 1530er und 1540er Jahren deutlicher. 167 Neben den Täufern traten in den 1530er und 1540er Jahren Anhänger des Spiritualisten Kaspar von Schwenckfeld (1489-1561) in Erscheinung, die von einigen Adligen protegiert wurden und gelegentlich als „Alternative zum Täufertum für die Gebildeten“ 168 bezeichnet worden sind. 169 Gemeinsam war den Gruppen „eine strenge, als Nachfolge Christi interpretierte Ethik“, doch konnte Schwenckfeld seine Anhänger in erster Linie in bürgerlichen und adligen Kreisen rekrutieren, was Claus-Peter Clasen damit erklärt hat, dass das „Bildungsniveau der Weinbauern“, die sich in Württemberg statt dessen dem Täufertum zuwandten, „für Schwenckfelds spiritualistische Religiosität zu niedrig“ gewesen sei. 170 Dennoch billigt Clasen dem Wirken Schwenckfelds einige Bedeutung in eben dem Raum zu, in dem auch die Täufer ihre größte Anhängerschaft fanden: „Vielleicht hat Schwenckfeld mehr als alle revolutionäre Tradition der Remstäler dazu beigetragen, in diesem Raume die kirchliche Autorität zu lockern und den religiösen Individualismus anzuregen.“ 171 Die Schwenckfelder sind in den Quellen noch schwieriger zu belegen als die Täufer, da sie aufgrund ihrer Ablehnung jeder Form von sichtbarer, organisierter Kirche in ihrer Umgebung weniger aufgefallen sind als (zumindest die offen missionierenden) Täufer. Wie die Täufer waren die Schwenckfelder im süddeutschen Raum in informelle Netzwerke der Bekanntschaft und Unterstützung organisiert und praktizierten ihren Glauben hauptsächlich in kleinen privaten Kreisen. 172 Es scheint, dass die Anhänger Schwenckfelds nach anfänglicher Unterstützung in den Stuttgarter Hofkreisen - insbesondere in der Familie des Erbmarschalls Hans Konrad Thumb von Neuburg (gest. 1555) bis zu dessen Entlassung im Jahre 1544 - v. a. auf den Gütern Thumb von Neuburgs in Stetten im Remstal, im bürgerlichen Milieu Ulms und auf den Ländereien der reichsunmittelbaren Freiherren von Freyberg westlich von Ulm zu finden waren. 173 Insgesamt waren die Grenzen zwischen Täufern und Schwenckfeldern fließend; insbesondere nach dem Fall der Täuferherrschaft in Münster 1534 boten die Schwenckfel- 167 Clasen, Wiedertäufer, S. 63f. 168 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 312. 169 Zu Schwenckfelds Wirken im süddeutschen Raum siehe z. B. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 236-241; Gritschke, „Via Media“; McLaughlin, Freedom of Spirit, S. 199-231, insbes. S. 212-217. 170 Clasen, Wiedertäufer, S. 31. Siehe auch Bubenheimer, Heterodoxie, S. 312. 171 Clasen, Wiedertäufer, S. 31. 172 Gritschke, „Via Media”, S. 225; McLaughlin, Freedom of Spirit, S. 226, 230. In Schwenckfelds Heimatgegend Schlesien dagegen spricht R. Emmet McLaughlin von einer „mass movement comprising whole communities from peasants to ruling princes“. Vgl. ebd., S. 199. 173 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 312f.; Clasen, Wiedertäufer, S. 30f. <?page no="97"?> 98 der R. Emmet McLaughlin zufolge religiösen Nonkonformisten eine Alternative ohne sozialrevolutionäres Stigma. 174 Außerdem waren in Württemberg „Einflüsse des schweizerisch-zwinglischen Reformationstypus“ aufgrund der Nähe zur oberdeutschen Theologie bemerkenswert. 175 Selbst Herzog Ulrich, der im Jahre 1519 vom Schwäbischen Bund wegen Mordes an seinem Stallmeister Hans von Hutten aus dem Herzogtum vertrieben worden war, sympathisierte vor seinem erneuten Machtantritt mit der Schweizer Reformation. Seine Gemahlin Sabina pflegte eine enge geistliche Beziehung mit dem Dettinger Pfarrer Bartholomäus Hagen, dem im Jahre 1559 kalvinistische Auffassungen vom Abendmahl unterstellt wurden. 176 Mit der Einführung der Reformation ab 1534 setzte sich das Luthertum schrittweise gegen zwinglisierende Tendenzen durch. 177 Täuferische Lehren dagegen wurden von den württembergischen Obrigkeiten, die nun über die Definitionsgewalt der offiziellen Religion verfügten, von Anfang an abgelehnt. Die äußere Entwicklung der Täuferbewegung wurde neben anderen Faktoren von Ereignissen und Konstellationen in der Landes- und Reichspolitik beeinflusst. Die Reformation wurde in Württemberg gleich nach der Restitution Herzog Ulrichs eingeführt. Wie bereits erwähnt, hatte sich Ulrich in seinem Asyl der Reformation zugewandt und konnte, als sich die Lage zwischen den Alt- und Neugläubigen im Reich zu einer militärischen Auseinandersetzung zu eskalieren drohte, mit Hilfe des protestantischen Landgrafen Philipp von Hessen sein Land nach dem Sieg über österreichische Soldaten und Truppen des Schwäbischen Bundes bei Lauffen am Neckar im Mai 1534 zurückerobern. Ferdinand von Habsburg, inzwischen König von Böhmen, schloß mit Ulrich im böhmischen Kaaden einen Friedensvertrag, der Ulrich auch offiziell sein Land wieder zurück erstattete. 178 Der Kaadener Vertrag erlaubte Ulrich die Einführung der Reformation in Württemberg; dabei hatte er die Zustimmung von einem großen Teil der bereits evangelisch gesinnten Bevölkerung. 179 Gleichzeitig verpflichtete sich Ulrich im Kaadener Vertrag, gegen alle ‚Sekten‘ vorzugehen. 180 Die religiösen Verhältnisse im Reich spitzten sich nach dem Augsburger Reichstag von 1530, einem „zeitlich befristeten Religionsfrieden“ 181 zwischen Kaiser und Protestanten, deutlich zu. Mehrere offizielle Religionsgespräche zwischen den Parteien scheiterten in den 1540er Jahren. Schließlich kam es 1546 zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den kaiserlichen Truppen und dem Schmalkaldischen Bund der Protestanten, nachdem die über den hessischen Landgrafen und den sächsichen Kurfürsten verhängte Reichsacht einen 174 McLaughlin, Freedom of Spirit, S. 228. 175 Ehmer & al., Gott und Welt, S. 76f. 176 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 19, 204, 369-371. 177 Vgl. oben Kap. 2.1. 178 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 203. 179 Arend, Kirchenordnungen, S. 19. 180 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 318f.; Mertens, Handbuch, S. 104. 181 Schorn-Schütte, Die Reformation, S. 84. <?page no="98"?> 99 offiziellen Anlass dafür geboten hatte. 182 Im Jahre 1546 marschierten kaiserliche Kriegstruppen auch in Württemberg ein. Im Januar 1547 war Herzog Ulrich gezwungen, dem Heilbronner Vertrag zu unterzeichnen, der sowohl Kriegskontributionen an den Kaiser wie auch den Austritt Württembergs aus dem Schwäbischen Bund vorschrieb. Nach seinem Sieg im Schmalkaldischen Krieg schrieb der Kaiser den evangelischen Reichständen auf dem Augsburger Reichstag im Mai 1548 das Interim vor. 183 Für Württemberg bedeutete das eine erzwungene engere Anbindung an den katholischen Kaiser und eine weitgehende Restitution der vorreformatorischen Verhältnisse. 184 In der Amtsstadt Schorndorf wurden spanische Besatzungstruppen stationiert, die diejenigen evangelischen Pfarrers des Remstales, die noch über eine Stelle verfügten, so drangsaliert haben sollen, dass diese in Stuttgart Zuflucht suchen mussten. Generell begegnete man dem Interim in Württemberg „mit hinhaltendem passiven Widerstand“, was insbesondere aufgrund der deutlichen Ablehnung der Wiedereinführung des katholischen Kultes durch die Bevölkerung möglich war. 185 Für die Täufer in Württemberg brachte die Bedrängnis der Lutheraner zwar einen Nachlass im Verfolgungsdruck, aber gleichzeitig ein für ihre Lehren weniger aufgeschlossenes Publikum mit sich. In dieser Situation überrascht es nicht, dass die Täufer kaum neue Anhänger gewinnen konnten. Nur an den Orten, an denen die seelsorgerische Betreuung aufgrund von Personalmangel Engpässe erlebte oder in denen die Täufer bereits vor 1547 viele Anhänger gehabt hatten, konnten sie auch während des Interims vermehrt Gehör finden. 186 Bei Herzog Christophs Amtsantritt im Jahre 1550 - noch während des Interims - war Württemberg „in einer misslichen Lage, die neben einer großen Schuldenlast, einer schlecht organisierten Landesverwaltung und der Besetzung durch die kaiserlichen Truppen auch durch die ungelöste Religionsfrage geprägt war“. 187 Der Augsburger Religionsfriede von 1555 bedeutete schließlich „für das lutherische, doch nach wie vor von Österreich lehnbare Württemberg ein Opti- 182 Ebd., S. 85. 183 Arend, Kirchenordnungen, S. 32. Schmidt, Konfessionalisierung, S. 3, beschreibt das Interim als „Sondergesetz gegen die Protestanten“, der diesen zwar die eigene Abendmahlslehre und das Heiraten der Priesterschaft gestattete, ansonsten aber „die katholische Lehre und Hierarchie für die Evangelischen verbindlich“ machte. Zum Interim im südwestdeutschen Raum siehe Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 293-304. Generell siehe Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim. 184 Arend, Kirchenordnungen, S. 32; Ehmer & al., Gott und Welt, S. 85. 185 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 297. 186 Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 21; Clasen, Wiedertäufer, S. 32f. 187 Des Weiteren drohte den württembergischen Herzögen durch den von König Ferdinand zunächst gegen Herzog Ulrich und später gegen seinen Sohn Christoph angestrebten Felonieprozess der Verlust ihrer Herrschaft. Herzog Christoph konnte durch eine Annäherung an die kaiserliche Politik die Entscheidung bezüglich des Felonieverfahrens so weit hinauszögern, dass es für die Habsburger nicht mehr von Interesse war. Arend, Kirchenordnungen, S. 39; Mertens, Handbuch, S. 111-113; Marcus, Politics of Power, S. 67-70. <?page no="99"?> 100 mum an rechtlicher Sicherung im politischen und kirchenpolitischen Handeln nach außen und nach innen“. 188 Das Hauptanliegen der württembergischen Politik unter Herzog Christoph bestand in der Einigung der evangelischen Stände im Reich in dreifacher Hinsicht: „im Bekenntnis zur Augsburger Konfession, in der kirchlichen Ordnung und in der Reichspolitik“. 189 Binnen weniger Jahrzehnte avancierte das Herzogtum zu einem protestantischen Musterstaat, dessen Kirchenorganisation anderen protestantischen Territorien als Vorbild diente. 190 Gleichzeitig mit dem Ausbau des Staats- und Kirchenwesens jedoch stieg die Anzahl zumindest der aktenkundig gewordenen Täufer und Täuferinnen in Württemberg seit Mitte der 1560er Jahre und insbesondere in den 1570er und 1580er Jahren stark an. 191 Wie bereits erwähnt, hatte die Zersplitterung der württembergischen Täuferbewegung in verschiedene Gruppen Claus-Peter Clasen zufolge in den 1530er und 1540er Jahren eingesetzt. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts unterscheidet er unter den württembergischen Täufern zwischen Schweizer Brüdern, Hutterern, Mennoniten sowie kleineren Einzelgruppen. 192 Im Schorndorfer Amt waren sowohl Schweizer Brüder als auch Hutterer „stark vertreten“, 193 wobei die Höhepunkte ihrer Popularität zeitlich auseinander fallen: Die Schweizer Brüder konnten im Schorndorfer Amt v. a. vom Ende der 1520er Jahre bis in die 1560er ihre Wirkung entfalten, während die Hutterer seit den 1570er Jahren dank ihrer intensiven Missionsarbeit vermehrt Anhänger gewannen. Clasen vermutet sogar, dass die Hutterer bevorzugt gerade in den Gebieten predigten, in denen die Schweizer Brüder bereits Anhänger gefunden hatten. 194 So gesehen wäre das Schorndorfer Amt gegen Mitte und Ende des 16. Jahrhunderts ein missionarisches Kampffeld zweier rivalisierender Täufergruppen gewesen. Die zunehmenden Aktivitäten täuferischer Prediger im Territorium haben sicherlich ihrerseits zum gesteigerten Interesse der Obrigkeiten an den Täufern im späten 16. Jahrhundert beigetragen, was sich beispielsweise in den Entwürfen zu neuen Täuferordnungen von 1571 und 1584 sowie der wiederholten Einschärfung der Richtlinien bei den Normanwendern und Normempfängern niederschlug. Was die inneren religiösen Verhältnisse in Württemberg angeht, zeigt sich das Herzogtum zu Beginn des 17. Jahrhunderts - zumindest auf dem ersten Blick - als ein „weitgehend einheitlicher Block lutherischer reiner Lehre und Ordnung auf dem Boden des Augsburger Bekenntnisses und der Großen Württembergischen Kirchenordnung“, in dem es weniger Raum gab für religiösen Pluralismus als noch in der Reformationszeit. Um 1600 ging in den überlieferten Akten 188 Mertens, Handbuch, S. 113. 189 Ebd., S. 118. 190 Brecht, Brenz, S. 179; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 407; Mertens, Handbuch, S. 119; Schmidt, Konfessionalisierung, S. 15-19. 191 Clasen, Wiedertäufer, S. 36. 192 Ebd., S. 65. 193 Ebd., S. 65. 194 Ebd., S. 66-68. <?page no="100"?> 101 zumindest die Zahl derjenigen deutlich zurück, die „sich offen zum Täufertum oder anderen Sekten bekannten“. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts schien die Täuferbewegung erloschen zu sein. 195 Insbesondere in der früheren Forschung ist der Beginn des Dreißigjährigen Krieges als Endpunkt der württembergischen Täuferbewegung postuliert worden. 196 Es ist jedoch fraglich, inwiefern das Verschwinden der Täufer aus den obrigkeitlichen Akten die Schlußfolgerung erlaubt, die Bewegung wäre gänzlich ausgestorben. Darauf hat die Fallstudie Ulrich Bubenheimers zum religiös devianten Tübinger Buchhändler Eberhard Wild aufmerksam gemacht. Laut Bubenheimer könne man die Bekämpfung religiöser Dissidenten in Württemberg zwar „religionsstatistisch unter dem Blickwinkel des äußeren Bekenntnisstandes betrachtet“ als „langfristig erfolgreich“ einstufen. 197 „Ob die Menschen allerdings, die sich den kirchlichen Konventionen anpaßten, wirklich die verordnete ‚reine Lehre‘ aufgenommen hatten, ist eine andere Frage.“ 198 Es ist vielmehr zu bedenken, dass „religiöse Devianz im Lauf der Zeit zunehmend stärker in den Untergrund oder in die Privatheit abgedrängt“ werden konnte. 199 So muss auch die Täuferbewegung in Württemberg nicht um 1618 erloschen sein, zumal es zahlreiche Quellenbelege für ein zumindest partielles Weiterleben täuferischer Ideen und Praktiken gibt. 200 Dennoch wird die Quellenlage zu Beginn des 17. Jahrhunderts deutlich spärlicher, so dass eine flächendeckende Analyse für das Herzogtum Württemberg nach 1620 schwierig erscheint. 201 195 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 314. 196 So etwa Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 19; Bossert, Einleitung, S. xi; Clasen, Wiedertäufer, S. 49. 197 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 308. 198 Ebd., S. 308. 199 Ebd., S. 308. 200 Ulrich Bubenheimer hat darauf hingewiesen, dass bei den von Gustav Bossert gedruckten Akten Belege über täuferische Aktivitäten bis 1649 überliefert sind, d. h. länger als bei Clasen, der Nachweise bis zum Jahr 1622 bringt. Ebd., S. 312. Ähnliche Befunde bringt John S. Oyer für Esslingen hervor. Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 304. 201 Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart befinden sich einzelne Akten aus dem frühen 18. Jahrhundert, in denen aufsässige Untertanen noch immer als ‚Wiedertäufer‘ bezeichnet werden oder in denen von den Versammlungen der Pietisten und Täufern die Rede ist. Siehe z. B. die Akten über pietistische und täuferische Konventikel aus den Jahren 1703/ 1715 im Bestand HStAS A63/ 117 wie auch die Akten betreffend die wegen Wiedertäuferei peinlich prozessierte Marianne Serva aus Dürrmenz aus dem Jahre 1708 im Bestand HStAS A209/ 1783. Weiter ist im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart im Bestand LKA A26/ 468 (Allgemeine Kirchenakten) ein Aktenbüschel aus der Zeit 1661-1810 überliefert, das die Überschrift „Täufer“ trägt. Die Akten stammen überwiegend aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert, präsentieren lediglich Einzelfälle und sind nicht besonders umfangreich. Es scheint sich um Personen zu handeln, die vergleichsweise lose an ihre jeweiligen Wohnorte gebunden waren, wenn sie nicht sogar als „Ausländer“ bezeichnet werden. Erwähnenswert scheint hier lediglich das Aktenbündel aus dem Jahre 1661, das „Berichte über die Juden, Wiedertäufer und Wigelianer in den an die Ämter Brackenheim, Lauffen, Güglingen angrenzenden Gebiete“ enthält, nicht zuletzt, weil die Zusammenführung dieser Gruppen für die Denkmuster der württembergischen Obrigkeiten im späten 17. Jahrhundert interessant erscheint. In Bezug auf obrigkeitliche Denkweisen und <?page no="101"?> 102 2.2.3. Anhängerzahlen und soziale Verortung der Täufer und Täuferinnen Dass Täufer und andere Sektierer bekämpft werden mussten, darüber herrschte sowohl bei den altals auch neugläubigen Obrigkeiten im 16. Jahrhundert Einigkeit. Doch wie ‚real‘ war die Gefahr durch die Täufer und worin lag sie begründet? Claus-Peter Clasen hat in mühevoller Kleinarbeit versucht, die zahlenmäßige Stärke der Täufer in Württemberg zu berechnen. Sein Fazit lautet, dass in den „meisten Gebieten Württembergs [...] im Laufe von 100 Jahren, zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, irgendwann einmal Täufer aktenkundig geworden“ sind. 202 Insgesamt hat Clasen im Zeitraum 1527-1618 in diesem Gebiet rund 1650 Täufer und 426 des Täufertums Verdächtigte aufgespürt. 203 Allein im Herzogtum Württemberg sollen es 1302 Täufer gewesen sein, mit einem deutlichen zeitlichen Höhepunkt zunächst von 1527 bis 1530 und erneut in den 1570er und 1580er Jahren. 204 Anhand der von ihm erhobenen Zahlen misst Clasen den Täufern keine große Bedeutung zu: „Selbst wenn die Zahl der Wiedertäufer an 2000 herangereicht haben sollte, wären in jeweils zehn Jahren auf das ganze menschenreiche schwäbische Unterland höchstens 200 Wiedertäufer gekommen. In den detaillierten Listen des Kirchenrates für das Jahr 1570 werden nur 129 Täufer genannt. Aber was sind schon 129 Wiedertäufer im Verhältnis zu einer Bevölkerung von 400 000 bis 450 000 Menschen? “ 205 Clasen stellt weiter fest, dass das Täufertum in und um Württemberg zwar „dünn gesät“, aber dafür „weit gestreut“ war. Er hat in den knapp hundert Jahren zwischen 1527 und 1618 in 254 Dörfern und 34 Städten und Marktflecken Täufer gezählt, die sich zumindest zeitweise dort aufhielten. Das bedeutet, dass die Täuobrigkeitlichen Sprachgebrauch könnte weiter das Verhörprotokoll der vermeintlichen Täuferin Juliana Christiana Kurtz aus dem Jahre 1699 von Interesse sein (LKA A26/ 468, Nr. 23). Darüber hinaus wären die Akten im Bestand A26/ 468 darauf hin zu überprüfen, inwiefern auch im späten 17. Jahrhundert besonders herrschaftliche Randzonen geeignetes Überlebensgebiet für dissentierendes Verhalten sein konnten. 202 Clasen, Wiedertäufer, S. 49. 203 Insgesamt hat Clasen für den Zeitraum 1525-1618 im Gebiet der Schweiz, Süd- und Mitteldeutschland sowie Österreich 11 175 Täufer gezählt, schätzt die Gesamtzahl aber auf 30 000 Personen ein. Clasen, Anabaptism, S. 26-27. Zu den statistischen Erhebungen siehe auch Clasen, Anabaptist Leaders, S. 122-164; Ders., The Anabaptists in South and Central Germany. 204 Clasen, Wiedertäufer, S. 49f. 205 Ebd., S. 49. An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass der sogenannte Täuferkalender aus dem Jahre 1571, aus dem Clasen die 129 Täufernamen entnommen hat, eine singuläre Quelle ist und somit kaum ausreichend für so weitgehende Verallgemeinerungen. Keineswegs handelt es sich um „detaillierte Listen“ im Plural - im Hauptstaatsarchiv Stuttgart ist nur ein Aktenstück dieser Art überliefert. Siehe HStAS A63/ 42 (4. Dezember 1570). <?page no="102"?> 103 fer in ca. 20-25 % der Dörfer und Städte im württembergischen Raum zumindest einzelne Anhänger gewonnen haben sollen. 206 Im Amt Schorndorf hat Clasen insgesamt 380 Täufer und Täuferinnen sowie 81 des Täufertums verdächtigte Personen gefunden. Das entspräche bei den von Clasen angegebenen Zahlen ca. 23 % der Täufer bzw. 19 % der als Täufer verdächtigten Personen im gesamten württembergischen Raum. Im Schorndorfer Flecken Urbach sind über eine Zeitspanne von über hundert Jahren (1536-1644) ungefähr 130 Namen von Personen bekannt, die von den Obrigkeiten als Täufer oder als solche Verdächtigte gehandelt wurden. Den Berechnungen Claus-Peter Clasens zufolge waren in Urbach im Jahre 1598 ganze 9 % der Dorfbewohner täuferisch; diese Quote gilt als höchste im ganzen Herzogtum. 207 Die weiteren täuferreichen Ämter in Württemberg - Göppingen, Kirchheim und Maulbronn - liefern bei Clasen folgende Befunde: 118 Täufer und 78 Verdächtigte im Amt Göppingen, 74 Täufer und 6 Verdächtigte im Amt Kirchheim sowie 126 Täufer und 125 Verdächtigte im Amt Maulbronn. Damit läge das Amt Schorndorf in der Anzahl von Täufern (380) gegenüber den Ämtern Maulbronn (126) und Göppingen (118) weit vorne. Allerdings hat Clasen in vielen Dörfern der Ämter Göppingen, Kirchheim und Maulbronn keine genauen Zahlen erheben können, sondern gibt lediglich an, dass dort eine unbekannte Anzahl Täufer gefasst wurden. 208 So ist die Grundlage für die Statistiken schwach und die statistischen Erhebungen lassen nur vage Spekulationen zu. Man kann aufgrund von Clasens Erhebungen höchstens grobe Tendenzen der Täuferverteilung im Herzogtum skizzieren. Zutreffend ist sicherlich, dass das Amt Schorndorf als ein Ballungsgebiet des württembergischen Täufertums insbesondere im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert anzusehen ist. Wo sind nun die die Anhänger der Täufer in Württemberg bzw. speziell im Schorndorfer Amt sozial zu verorten? Insgesamt hält Clasen fest: „Die Mehrheit der Täufer gehörte zu der Mittelschicht der selbständigen kleineren und größeren Bauern. Das Täufertum beschränkte sich nicht auf eine einzige Schicht, sondern erfaßte in den ohnehin kleinen Dorfgemeinschaften alle Kreise, von der Magd bis zum Schultheißen, vom Ochsenknecht bis zum reichen Hofbesitzer. Die soziale Zusammensetzung der Täufergemeinden spiegelt im großen und ganzen die Sozialstruktur der württembergischen Dörfer wieder.“ 209 Die Täufer in Württemberg sind in erster Linie im ländlichen Milieu zu verorten; im Adel oder unter wohlhabenden Bürgern dagegen fanden sie dagegen nur 206 Clasen, Wiedertäufer, S. 50f. 207 Urbach umfasste einer Steuerliste aus dem Jahre 1544 nach 1500 Einwohner, 1598/ 99 haben die Visitatoren im Rahmen einer ausgiebigen Spezialvisitation 368 Familien gezählt. Ebd., S. 161. 208 Ebd., S. 199f. 209 Ebd., S. 139. <?page no="103"?> 104 wenige Anhänger. 210 In den frühesten Täufergemeinden in der Schweiz bis 1528 waren einige der prominentesten Mitglieder Intellektuelle, die das Täufertum vornehmlich mitgestalteten. In Württemberg kamen die wichtigsten Träger stattdessen bereits den 1520er Jahren aus den „nicht-intellektuellen Schichten“; sie waren in anderen Worten überwiegend Handwerker, Bauern und Weinbergbesitzer. 211 Selbst wenn die württembergische Ehrbarkeit insgesamt „von der Täuferbewegung nicht unberührt“ 212 blieb, rekrutierten sich die meisten Täufer in Württemberg Clasen zufolge zunächst aus der bäuerlichen Mittelschicht, wobei später der Anteil ärmerer Bevölkerungsgruppen (Knechte, Mägde, Hirten, Tagelöhner, Handwerksgesellen) im Laufe des 16. Jahrhunderts deutlich anstieg. Insgesamt verlagerte sich die Täuferbewegung im württembergischen Raum zunehmend auf das Land, so dass die Täufer zu Beginn des 17. Jahrhunderts nur noch in den Dörfern Anhänger hatten. 213 In den ersten Jahren bis ca. 1530 wurde die Täuferbewegung in Württemberg laut Clasen zu drei Vierteln von Handwerkern getragen. 214 Den Anteil der Handwerker unter den württembergischen Täufern siedelt Clasen insgesamt bei ca. 11 % an, vermutet aber, dass die Zahl insgesamt höher gelegen haben muss, da ein Großteil der Täufer in den nahe gelegenen Reichsstädten vermutlich Handwerker gewesen ist. Die täuferischen Handwerker scheinen oftmals Weber gewesen zu sein. 215 Was die Vermögensverteilung innerhalb der täuferischen Hand- 210 Auch die Gelehrten und Tübinger Studenten „blieben dem Täufertum völlig fremd“. Somit unterscheide sich das Täufertum in Württemberg von den Katharern, Humiliaten und Waldensern des 12. Jahrhunderts, die „zumindest in ihrer Frühzeit eine starke Anziehung auf reiche Kaufleute, Adlige und v. a. den niederen Klerus ausgeübt haben sollen“. Auch vom späteren württembergischen Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts trennt Clasen die Täufer soziologisch ab, da der Pietismus bevorzugt Anhänger aus gelehrten Kreisen gezogen haben soll. Ebd., S. 144f. Inwieweit Clasens Einschätzung des Pietismus zutreffend ist, kann an dieser Stelle nicht besprochen werden. Zur aktuellen Forschung zum württembergischen Pietismus siehe z. B. Fritz, Radikaler Pietismus in Württemberg; Gleixner, Pietismus und Bürgertum. 211 Clasen, Wiedertäufer, S. 145. 212 Ebd., S. 125. In Schorndorf sympathisierten ab Mitte der 1530er Jahre „vielleicht einige Mitglieder der Oberschicht“ mit den Täufern; in den 1540er Jahren neigte eine der führenden Familien der Stadt (Walch) zum Täufertum. Johannes Walch, Diakon in Nürtingen und Schwiegersohn des Stuttgarter Hofkapellmeisters Ludwig Daser, wurde 1582 wegen seiner täuferischen Auffassungen festgenommen und floh nach Mähren. Später diente er als Hauslehrer der adligen Familie von Landsberg im Elsaß und publizierte u. a. alchemistische Schriften. Des Weiteren ist aus der Amtsstadt Schorndorf Anna Heutlin, Frau des Rotgerbers Hans Heutlin, als Täuferin bekannt. Sie verließ Schorndorf im Jahre 1571. Ebd., S. 126-128. Zu Anna und Hans Heutlin siehe auch HStAS A282/ 3094b. 213 Clasen, Wiedertäufer, S. 140f. 214 Ebd., S. 141. 215 Im Amt Schorndorf wurde sowohl Tuchals auch Zeugmacherei betrieben und entsprechend hat Clasen hier einen großen Anteil der täuferischen Weber festgestellt. Allerdings weist er darauf hin, dass es sich hier um ein Gebiet handelte, in dem es ohnehin viele Täufer gab. In den eigentlichen Zentren der württembergischen Tuch- und Zeugmacherei im Nagoldtal und der oberen Gäu gab es dagegen kaum Täufer. Des Weiteren gab es unter den württembergischen Schneidern, Schuhmachern, Gerbern, Zimmerleuten, Schreinern, Müllern und Küfern mehrere <?page no="104"?> 105 werker angeht, machten die größte einzelne Gruppe die Meister mit einem kleinen oder mittleren Vermögen an. Insgesamt spiegelt die auch soziökonomische Stellung der täuferischen Handwerker in Württemberg die Situation der Handwerker im Herzogtum im Allgemeinen wider. 216 Nach 1530 machten Weingärtner und Bauern „in steigendem Maße die Mehrheit“ der Täufer und Täuferinnen in Württemberg aus. 217 Brachte dies nun auch eine Verschlechterung der sozialen Herkunft der Täufer und Täuferinnen in Württemberg mit sich? Die bäuerliche Bevölkerung lebte in Württemberg im 16. Jahrhundert überwiegend unter schwierigen materiellen Bedingungen. So kamen auch viele Täufer insbesondere in den Ämtern Maulbronn und Schorndorf ab den 1570er Jahren zunehmend aus armen Verhältnissen; oftmals waren sie Tagelöhner (ca. 39 %), seltener kleine selbständige Bauern (ca. 20 %). Doch auch die Täufer, die zu der wohlhabenden Mittelschicht der württembergischen Bauern gezählt werden können (knapp 33 %), kamen im späten 16. Jarhundert überwiegend aus diesen beiden Ämtern. Unter den reichsten Bauern allerdings hat Clasen nur wenige Täufer ausmachen können (ca. 4 %). 218 Da sich die dörfliche Ehrbarkeit aus den Reihen der wohlhabenden Bauernfamilien rekrutierte, betont Clasen, dass die die Täufer bei den führenden bäuerlichen Familien durchaus ein offenes Ohr finden konnten. Folgt man Clasens Berechnungen, so „ist das Täufertum in 96 Familien der dörflichen Oberschicht in 59 Dörfern eingedrungen“. 219 Dörfliche Amtsträger scheinen verhältnismäßig selten den Täufern angehört zu haben, doch umso mehr Gehör fanden diese im direkten familialen Umkreis der Amtspersonen. 220 Insbesondere scheint dies für das Schorndorfer Amt zuzutreffen, denn Clasen nennt Beispiele vornehmlich aus diesem Raum. 221 Insgesamt hält Clasen es für „abwegig“, vom württembergischen Täufertum in erster Linie als „Bewegung der unteren bäuerlichen Schichten“ zu sprechen. Ein Wandel setzte erst in den 1570er Jahren ein, doch bis in die 1590er Jahre sieht Clasen die „kleinere und wohlhabende Mittelschicht“ der bäuerlichen Bevölkerung weiterhin als tragende Kraft der württembergischen Täuferbewegung an. Um 1600 war jedoch der Umbruch - die Verlagerung der Täuferbewegung zunehmend in das Milieu der Mittellosen - insbesondere im Schorndorfer Amt deutlich geworden. 222 Anhänger der Täufer. Bekannt für seine täuferischen Sympathien war insbesondere die Familie der Glashüttenmeister Greiner aus Walkersbach. Ebd., S. 131f. 216 Ebd., S. 132f. Hierfür hat Clasen die Besitzverhältnisse von 57 der 121 von ihm als täuferisch angesehenen württembergischen Handwerker ausgewertet. 217 Vgl. ebd., S. 141. 218 Innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung Württembergs hat Clasen die sozialen Verhältnisse von 430 Täufern im Zeitraum vom Bauernkrieg bis zum Dreißigjährigem Krieg ermitteln können. Ebd., S. 136-138. 219 Ebd., S. 138. 220 Clasen zählt vier Schultheiße, neun Richter und zwei Ratsleute aus dem ländlichen Württemberg zu den Täufern. Ebd., S. 138. 221 Ebd., S. 138. 222 „Während vor 1570 nur rund 20 % der Wiedertäufer aus der Schicht der Tagelöhner stammten, <?page no="105"?> 106 Die quantitative Einordnung allein allerdings erscheint nicht ausreichend, um die Bedeutung der Täufer und ihre Bezüge zur lokalen Gemeinschaft zu erklären. Weiterführend für ein komplexes Verständnis der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft im Allgemeinen und der Täufer im Besonderen sind die Erkenntnisse der neueren Forschung zu gesellschaftlichen Minderheiten bzw. Rand- oder Sondergruppen. 223 Dieser Zugang eignet sich allein deshalb, weil man Sondergruppen nie losgelöst von dem ‚Mainstream‘ der Gemeinschaft betrachten kann. 224 Dabei wird von einer zumindest partiellen Eingebundenheit dieser Gruppen in ihre lokale Gemeinschaft ausgegangen. Wie André Holenstein und Sabine Ullmann betont haben, war es im Unterschied zu den Konzepten der ‚Randgruppen‘ oder ‚Außenseiter‘ für die Stellung der Sondergruppen 225 charakteristisch, dass die ihnen angehörigen Personen „in den Gemeinden, in denen sie lebten, keineswegs immer fremd oder am Rand [waren], sie waren nicht in jedem Fall in der Minderheit, und sie zählten auch nicht zwingend zur Unterschicht. Vielmehr waren sie ihren Nachbarn vielfach vertraut, bildeten mitunter in quantitativer Hinsicht die Mehrheit der Dorfbevölkerung oder zählten in sozioökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten.“ 226 Diese relativ weit gefasste Begriffsdefinition zielt darauf, ein „möglichst breite[s] Spektru[m] von Personenkreisen“ zu erfassen, „die sich durch ihr ‚Anderssein‘ [...] von der übrigen Dorfgemeinde unterschieden oder abhoben“. 227 Diese Andersartigkeit musste nicht mit einer „Minderung“ der sozialen Stellung innerhalb der Gemeinschaft einhergehen. Entscheidend ist es, frühneuzeitliche Sondergruppen als „nicht an sich feststehende Größen“ zu verstehen. Vielmehr entstanden diese so waren es um 1600 mehr als 60 %.“ Damit sind für Clasen die Thesen der marxistischen Täuferforschung widerlegt: „Es kann keine Rede davon sein, daß sich das Täufertum in Württemberg aus einer Bewegung der unteren Schichten in eine fromme Sekte wohlhabender Bauern wandelte.“ Ebd., S. S. 139, 141f. 223 Siehe hierzu z. B. Graus, Randgruppen; Häberlein & Zürn, Minderheiten; Hergemöller (Hg.), Randgruppen; Holenstein & Ullmann, Nachbarn; Roeck, Außenseiter. 224 Für die vorliegende Arbeit kommen als relevante Sondergruppen - die auch aus Einzelpersonen bestehen können - zunächst die Pfarrer mit ihren Gehilfen, die dörfliche Ehrbarkeit sowie zuletzt die religiösen oder moralischen Abweichler in Frage. Über Vertreter nicht-christlicher Religionen allerdings, bspw. Juden, erfährt man in den Visitationsprotokollen zumindest im Schorndorfer Amt im betreffenden Zeitraum nichts. Auch Kriminalfälle, die nicht vor der Visitation, sondern in weltlichen Gerichten behandelt wurden, müssen aus der hier gewählten Perspektive außen vor bleiben. 225 Der Begriffder Sondergruppe „legt sich nicht auf ein zentrales qualitatives Kriterium der Gruppenbildung fest [...], sondern benennt allein die Tatsache, daß in einer bestimmten Hinsicht von der Existenz zweier unterschiedlicher Gruppen die Rede sein kann, wobei der Status der sog. Sondergruppe durch die Zuschreibung vorhandener oder fehlender Attribute aus der Sicht der dominierenden Gruppe definiert wird“. Holenstein & Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘“, S. 16. 226 Ebd., S. 16f. 227 Ebd., S. 16f. <?page no="106"?> 107 „durch Zuschreibungen in der Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen [...], die letzlich auch darüber entschieden, unter welchen Bedingungen eine lokale Koexistenz geduldet, formell zugelassen oder etwa infolge ökonomischer Wechselbeziehungen notwendig wurde“. 228 Es ist dieser Zusammenhang, in denen auch die Täufer als religiöse Sondergruppe mit ihrer dörflichen Umwelt in Beziehung zu setzen sind. Aus dieser Perspektive kommen Fragen auf, die erst langsam in das Blickfeld der Täuferforschung rücken. Zu Recht ist der ausschließlich statistische Zugang Clasens von Beginn an in die Kritik geraten. 229 Insbesondere aus kulturalistischer Perspektive erscheint sie unzulänglich. Nicht nur ist es geradezu unmöglich, aufgrund der hohen Dunkelziffer die zahlenmäßige Stärke der Täuferbewegung abzuschätzen. Viele Täufer konnten sich den obrigkeitlichen Maßnahmen erfolgreich entziehen. 230 In der Erforschung der Täufer in Württemberg muss man die quellenbedingten Schwierigkeiten in der Erhebung von Täuferstatistiken ernst nehmen, die John S. Oyer im Zusammenhang mit der Esslinger Täufergemeinde beschrieben hat: „Some Anabaptists were never caught or tried, government authorities did not bother to keep records of some who were caught and tried, the trial records of others have never been examined, and the trial records of still others have been lost. One finds a large number of Anabaptists named by others, despite their penchant for secrecy about membership. For such Anabaptists the researcher has usually only a name, perhaps a place of origin, and probably the place of last residence.“ 231 So muss man also im Herzogtum Württemberg, wo Täuferquellen in großen Mengen vorhanden sind und man zunächst den Eindruck gewinnen könnte, dass 228 Ebd., S. 28. Auch Scribner, Außenseiter, S. 42, betont die Interaktion der Akteure im Zuschreibungsprozess: „Außenseiter-Werden ist keine zugeschriebene Kondition, die man annimmt wie einen übergeworfenen Schleier. Vielmehr ist es das Resultat einer Interaktion, entstanden aus strukturell zwingenden Bedingungen und einem sich im Laufe der Zeit wandelnden Leben, also einer Dialektik von Definition und Selbst-Definition.“ Scribner hat auf die Komplexität der Prozesse aufmerksam gemacht, in denen Außenseiter oder Sondergruppen ‚hergestellt‘ wurden. Festzuhalten ist insbesondere die Tatsache, dass diese „genau so oft intern, von der Dorfgemeinde, als von außen, durch die Obrigkeit, geschaffen worden“ sind, so dass weder der Staat noch die Landeskirche „eine Monopolstellung bei der Festlegung von Normen oder bei der Definition abweichenden Verhaltens“ hatten. Ebd., S. 38. 229 Zur Kritik Clasens in der Täuferforschung siehe z. B. Goertz, Religiöse Bewegungen, S. 79 - 81; Packull, Hutterite Beginnings, S. 6f.; Stayer, Anabaptists, S. 143f. Darüber hinaus hat Schlachta, Hutterische Konfession, S. 10, auf die „dürftigen“ Quellenhinweise in Clasens Sozialgeschichte hingewiesen, „die ein wissenschaftliches Arbeiten mit Clasens Studie erschweren“. Diese Einschätzung lässt sich in vieler Hinsicht auch auf Clasen, Wiedertäufer, übertragen. 230 Stayer, Täufer, S. 613. Ähnliches hält die Gesamtdarstellung von Greyerz, Religion und Kultur, S. 245, fest. 231 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 254. <?page no="107"?> 108 über die Täufer niemals „summarisch entschieden“ 232 worden sei, davon ausgehen, dass längst nicht alle Täufer aktenkundig geworden bzw. es geblieben sind. Dafür bieten sich mehrere Erklärungen an. Zum einen war die historische Anonymität vieler Täufer durch die notwendige Ausübung und Verbreitung der täuferischen Ideen im Geheimen bzw. innerhalb von Netzwerken, die auf persönlicher Bekanntschaft basierten, bedingt. Für eine größere Stadt wie Esslingen mag zutreffen, dass sich die Täufer nicht einmal alle untereinander gekannt haben. Nicht nur wurde der Glauben in kleinen Gruppen von vier bis zehn Personen praktiziert - d. h. in einem „Kult im Untergrund“ 233 -, so dass man in einer Stadt von 9000 Einwohnern nie alle Gleichgesinnten zu Gesicht bekam. Zum anderen war der Fluss der täuferischen Glaubensflüchtlingen in Esslingen bemerkenswert, so dass niemand die genaue Anzahl der Täufer in der Stadt wissen konnte. 234 In Württemberg war das Täufertum zwar in Dörfern angesiedelt, die selbstverständlich kleiner als die Reichsstadt Esslingen waren, doch scheint es auf dem Lande keine großen täuferischen Einzelgemeinden gegeben zu haben. 235 Vielmehr können die württembergischen Täufer als „weitmaschiges, dezentrales Netzwerk“ beschrieben werden. 236 Täufer und Taufgesinnte mussten oft lange Strecken zurücklegen, um eine täuferische Predigt zu besuchen, nicht selten gerade im Umkreis von Esslingen. Dort haben sich auch unbekannte Glaubensbrüder und -schwestern getroffen, die ggf. von Weitem angereist kamen. Alleine an den überlieferten Nennungen von vermeintlich täuferischen Personen kann man die Bedeutung der Täufer nicht ausmachen. Darüber hinaus läßt die quantifizierenden Methode Clasens die Frage nach der Definition eines Täufers bzw. einer Täuferin außer Acht, was beachtliche Konsequenzen im Hinblick auf die Analyse und Deutung der Täufer hat. Übernimmt man unhinterfragt die obrigkeitlichen Begrifflichkeiten und Etikettierungen, kommt man über deren Perspektive kaum hinaus und übersieht die Mechanismen, mit welchen solche Begrifflichkeiten überhaupt zustande kamen, weitertradiert und ggf. variiert wurden. In diesem Zusammenhang sei auf Robert W. Scribners Rekonstruktion der Verbreitung des gegen die Täufer erhobenen Kommunismusvorwurfes hingewiesen. 237 Es soll Zwingli gewesen sein, der in der Disputation in Zürich im November 1525 als einer der ersten den öffentlichen Vorwurf seinen radikalen Anhängern gegenüber gemacht haben soll. Dieser Vorwurf entwickelte sich bald zu „einer stereotypen Anklage“, die kurz darauf in den städtischen Erlassen Zürichs, Berns und St. Gallens aufgegriffen wurde. Im ähnlichen Wortlaut warnten die Mandate Ferdinands I. vom August 1527 und April 1528 davor, dass der gemeine Mann unter dem Deckmantel christlicher 232 Clasen, Wiedertäufer, S. 48. 233 Goertz, Skizze, S. 20. 234 Oyer, Anabaptists in Esslingen, S. 254. 235 Vgl. Clasen, Wiedertäufer, S. 28, 33, 36-42. 236 Leu, Täuferische Netzwerke, S. 169. 237 Scribner, Konkrete Utopien, S. 224-264. <?page no="108"?> 109 Freiheit dazu verführt werden würde, alle Dinge gemein zu halten und sich gegen die Obrigkeiten zu wenden. Auf dieser Basis wurden verdächtigten Täufern in Österreich Begnadigung und Straferlass abgesprochen. 238 Doch damit war es nicht getan: Zum Vorwurf der Gütergemeinschaft wurde schon bald der der Vielweiberei hinzugefügt, ein weiteres Gerücht, das wohl von Zwingli in die Welt gesetzt worden ist. „Solche Behauptungen wurden bald ‚historisch beurkundet‘, etwa indem der Winterthurer Kanoniker Laurenz Boßhart sie bei einer Beschreibung der Täufer in seiner vor Juli 1532 geschriebenen Chronik wiedergab: ‚sind alle din[g] gmein, ouch ire wyber‘. [...] Die berüchtigten Ereignisse von Münster im Jahre 1535 und die Vielweiberei des Johann von Leiden verhalfen zweifellos diesem Vorwurf zu größerem Umlauf, so daß er zu einer allgemein verbreiteten und leicht verwendbaren Verunglimpfung wurde.“ 239 Eine Erklärung für die Langlebigkeit dieser Stereotypen sucht Scribner in der Vermischung von tatsächlichen täuferischen Praktiken mit ihrer Wahrnehmung und verzerrten Weitertradierung durch ihre Widersacher. Man glaubte, was man glauben wollte. „Daß sich dieses Vorurteil trotz stichhaltiger Gegenbeweise solange hielt, hatte vielleicht einen zweifachen Grund. Erstens verlieh die Praxis der Täufer, nichtgläubige Ehefrauen zu verstoßen und neue Ehen mit Gleichgesinnten einzugehen, dem Vorwurf der täuferischen Promiskuität eine gewisse Glaubwürdigkeit. Zweitens - und dies ist von größerer Bedeutung - gab es etliche Täufer, die für die Gütergemeinschaft eintraten und sie in irgendeiner Form auch praktizierten, so daß es plausibel wirkte, den Vorwurf des gemeinschaftlichen Besitzes der Frauen hinzuzufügen. Die Ereignisse in Münster dienten dazu, ein schon vorhandenes Vorurteil zu verfestigen und dieses zunehmend auf die Frage der Vielweiberei zu konzentrieren. Namhafte täuferische Anführer [...] mußten ständig dem Vorwurf entgegentreten, daß ihre Anhänger Vielweiberei praktizierten.“ 240 Diese Mechanismen der Stereotypenbildung und -tradierung und überhaupt die Bedeutung der Täufer als die bedrohlichen, religiös Anderen für die Zeitgenossen können durch einen quantitativen Blick auf die Täufer nicht erfasst werden. Letztendlich nimmt der rein statistische Zugang die obrigkeitlichen Akteure und ihre Vorstellungen nicht ernst. Wenn man die Täufer aufgrund der statistisch erhobenen Anhängerzahlen als unbedeutenden gesellschaftlichen Faktor interpretiert, verkennt man die Ängste, welche die Täufer bei den Obrigkeiten schürten: 238 Ebd., S. 226f. 239 Ebd., S. 228. 240 Ebd., S. 235. <?page no="109"?> 110 „Ob sich die geistlichen und weltlichen Autoritäten dieses Jahrhunderts aber von bloßer Phantasterei so stark beunruhigen ließen, daß sie zu den drakonischsten Mitteln greifen mußten, um diese Bewegung zu vernichten, ist fraglich. Das hieße ja, auch ihnen den Blick für die Realität abzusprechen.“ 241 Insbesondere vor dem Hintergrund des Bauernkrieges und der Täuferherrschaft in Münster 1534/ 35 wurden die alternativen Gesellschaftsentwürfe der Täufer auf obrigkeitlicher Seite als reale Gefahr gedeutet. 242 Deshalb sollte die von den Täufern ausgehende Bedrohung nach Möglichkeit bereits im Keim erstickt werden, so dass sich die Ereignisse von 1525 bzw. 1535 nicht wiederholen konnten. So war es auch in Württemberg in erster Linie die von den lutherischen Obrigkeiten wahrgenommene Bedrohung durch die Täufer, die ihre Einstellungen zu den Täufern bestimmte. Selbst wenn die Täuferzahlen im Laufe des 16. Jahrhunderts zurückgingen und damit die akute Gefahr einer Aufruhr abzunehmen schien, blieb es stets ein obrigkeitliches Anliegen, das gesellschaftliche Umsturzpotential einzudämmen. Dass und inwiefern sich die Art der Bedrohung im Laufe des 16. Jahrhunderts wandelte, die aus der Sicht der württembergischen Obrigkeiten von den Täufern für die Gesellschaft ausging, wird in den folgenden Kapiteln gezeigt. 241 Goertz, Pfaffenhaß, S. 210f. 242 Siehe hierzu ausführlicher Haude, In the Shadow, S. 17-38, 150. Dass diese obrigkeitlichen Deutungsmuster bis in das 18. Jahrhundert immer wieder in neuen Konstellationen aktiviert und angewandt werden konnten, hat jüngst Astrid von Schlachta gezeigt. Vgl. Schlachta, Gefahr, S. 115-117, 410. <?page no="110"?> 111 3. Obrigkeitliche Täuferbilder und die Täuferbekämpfung in Württemberg 3.1. Die Täuferordnungen und die Frage nach dem Wesen des Täufertums 3.1.1. Die Vorbereitung der Täuferordnungen Es war in den obrigkeitlichen Täufermandaten üblich, zwischen den Vorstehern und Anhängern der Bewegung zu unterscheiden. Etwa im Speyerer Reichsabschied von 1529 wurde zwischen den Vorstehern sowie den standfesten und den widerrufswilligen Anhängern getrennt. 1 Diese Kategorien finden sich auch in den württembergischen Täuferordnungen wieder, doch wurden die Vorstellungen der unterschiedlichen Täufertypen im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend verfeinert und ausdifferenziert. Die in den Täuferkategorien vorgenommenen Modifikationen sind im Zusammenhang mit einem grundsätzlichen Wandel in der obrigkeitlichen Einschätzung der von den Täufern ausgehenden Gefahr zu sehen, auf die abschließend in diesem Kapitel eingegangen wird. Nachdem die Entstehungszusammenhänge und die charakteristischen Züge der Täuferordnungen, der Täuferpolitik sowie der Strafbestimmungen in Württemberg herausgearbeitet sind, werden in diesem Kapitel die in den württembergischen Täuferordnungen des 16. Jahrhunderts aufgestellten Täuferbilder und -kategorien systematisch dargestellt und analysiert. Die offiziellen Richtlinien für die nachreformatorische Täuferbekämpfung in Württemberg wurden in mehreren Täuferordnungen festgelegt, die durch Mandate und Reskripte 2 mit konkreten Befehlen und näheren Ausführungsbestimmungen ergänzt wurden. Den Entstehungsprozess der Täuferordnungen kann man meistens zu dem Punkt zurückverfolgen, an dem der Landesherr zur Vorbereitung Gutachten von den Tübinger Theologen und Juristen einforderte. 3 Daraufhin wurden die Vorschläge im Kirchenrat besprochen, bevor ein auf der Grundlage des Sitzungsprotokolls verfasstes Bedenken, eine Rohfassung der neuen Ordnung, dem Herzog präsentiert wurde. Dieser konnte Korrekturen im 1 Vgl. Bubenheimer, Heterodoxie, S. 318. 2 Der Begriff Reskript bezieht sich hier in Anlehnung an Karl Härter und Michael Stolleis auf „einen schriftlichen Bescheid einer Oberbehörde an eine nachgeordnete Behörde oder Person“. Härter & Stolleis, Einführung, S. 13. 3 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 318, 323. In Bezug auf die Täuferordnung von 1536 siehe auch Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 11-13; Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 82f. <?page no="111"?> 112 Konzept vornehmen bzw. vornehmen lassen oder die Schrift mit seinem „placet“ ohne weitere Änderungen absegnen. Das mehrstufige Verfahren zeigt, dass die Inhalte der Täuferordnungen sowie die angemessenen Maßnahmen auch unter den Normgebern ausgehandelt werden mussten. Allgemeiner Konsens bestand zwar darin, dass insbesondere hartnäckige Täufer und Vorsteher bestraft werden mussten, doch Diskussionsbedarf ergab sich in den Fragen, wer diesen Kategorien zugehörte und wie die konkreten Maßnahmen auszusehen hatten. So musste in Stuttgart immer wieder nach dem Wesen des Täufertums und dem Ausmaß der Bedrohung gefragt werden. Die Ergebnisse dieser Überlegungen flossen in die Kategorien und Bestimmungen der jeweiligen Täuferordnungen ein. Anders als zu den früheren württembergischen Täuferordnungen, ist zu der von 1571 ein Protokoll der vorausgehenden Beratungen erhalten, die vom 28. Dezember 1570 bis zum 2. Januar 1571 in Stuttgart stattfanden. 4 Das Protokoll gewährt einen seltenen Einblick in den Prozess des Aushandelns und rückt die Täuferordnung als schriftliches Endprodukt dieser Aushandlungen in ein neues Licht. Sie kann nicht als Manifest dessen gesehen werden, was in den beteiligten Zentralbehörden in Stuttgart über die Täufer und Täuferinnen gedacht wurde, sondern stellt vielmehr einen Kompromiss, sozusagen den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ der obrigkeitsinternen Verständigungen über die Täuferbewegung dar. Das überlieferte Protokoll weist deutlich auf die unterschiedlichen Positionen der Anwesenden hin und hält die zentralen Streit- oder Verhandlungspunkte fest, die in der Diskussion im Mittelpunkt standen. Insbesondere die Problematik der Ehescheidung, des angemessenen Umgangs mit den Kindern täuferischer Eltern sowie der Güterkonfiskationen und -verwaltung beschäftigten die Anwesenden, da es in diesen Gebieten im Gegensatz zu den bereits früh geregelten Abgrenzungen von den theologischen Lehren und den die Obrigkeit betreffenden Auffassungen der Täufer noch keine allgemein gültigen und erprobten Richtlinien gab. Dass die Überlieferung der Besprechung notwendigerweise durch die Perspektive des Protokollanten, den Tübinger Rechtsgelehrten Nikolaus Varnbüler geschieht, verringert den Wert dieses Einblickes nicht. Varnbüler hat zwar neben den Wortmeldungen der Anwesenden gelegentlich persönliche Meinungen am Zeilenrand notiert, doch diese durch Zusätze wie bspw. „videtur mihi“ 5 als solche kenntlich gemacht. Das Protokoll ist insgesamt bemüht, in der Diskussion vertretene Thesen und geäußerte Meinungen den jeweiligen Personen zuzuordnen. Es ist einleuchtend, dass nicht alle Einzelheiten wie einzelne Wortmeldungen, Zwischenrufe oder Gegenthesen der Besprechungen festgehalten sind, sondern der Protokollant den Gang der Diskussion zusammengefasst und die Argumente festgehalten hat, die für das im Laufe der Sitzungen erarbeitete Ergebnisse bedeutend waren. 6 Dass die einzelnen Themenbereiche - im Protokoll jeweils durch 4 HStAS A282/ 3084 Nr. 4. Schriftliche Gutachten von Theologen und Juristen sind dagegen auch zu anderen Ordnungen überliefert. 5 HStAS A282/ 3084 Nr. 4, f. 1v. 6 Vgl. Sabean, Soziale Distanzierungen, S. 222f. <?page no="112"?> 113 Zwischenüberschriften markiert - in ihrem für das Resultat wesentlichem Inhalt zusammengefasst festgehalten sind, zeigt der Umstand, dass abschließend sogar die Besprechung dessen, wer den Entwurf der neuen Ordnung verfassen sollte, von Varnbüler aufgezeichnet worden ist. 7 Es lassen sich somit die Konturen der Diskussion ausarbeiten, selbst wenn der genaue Wortlaut einzelner Äußerungen nicht mehr verifizierbar ist. Es drängt sich der Eindruck auf, die Gelehrten hätten in der geschlossenen Runde freier über die Täufer geredet als die an den formalen Vorgaben der Gattung orientierten württembergischen Ordnungen vermuten lassen. Nicht nur werden im Protokoll von 1570/ 71 abwertendere Begrifflichkeiten in Bezug auf die Täufer und Täuferinnen benutzt als in der späteren Ordnung. So bezeichnete der Hofprediger Wilhelm Bidembach einen Täufer als einen „hereticus ex Christiano factus, qui est Erger denn ain haid“. 8 Die Abkehr vom Christentum, wie er sie im Falle des Übertritts zum Täufertum gegeben sah, stellte somit für Bidembach ein weitaus schlimmeres Vergehen als das vom Christentum nichts wissende Heidentum dar. Der Abt von Adelberg seinerseits konnte Täufer als „grewlich“ 9 beschimpfen, ihre nächtlichen Versammlungen als „ain abscheulich ding“ 10 beschreiben und die Brandmarkung landesverwiesener Täufer und Täuferinnen „mitt ainem gebrennten hirschhorn“ 11 fordern, ohne dass davon mehr als das Verbot täuferischer Konventikel in die spätere Ordnung aufgenommen wurde. 12 In der Besprechung wurde des Weiteren Verunsicherung im Hinblick auf die zentrale Frage ausgedrückt, was die Täufer eigentlich ausmachte und warum der Kampf gegen sie bislang erfolglos geblieben war. Es war der Abt von Adelberg, der das zentrale Problem ansprach, mit dem sich die Anwesenden auseinander setzen mussten: Die neue Ordnung habe „In Specie von widertheuffern zuhandlen“ - doch „welche darfür zuhalten“? Er unternahm sogleich selber einen Definitionsversuch. Es gäbe zwar eine Vielzahl von unterschiedlichen Täufergruppen, betonte der Abt, doch zentral sei ihre Ablehnung der Kindertaufe. 13 Folglich seien Personen als Täufer zu betrachten, die „Ire khinder nitt theuffen lassen vnd also widertheuffen“. 14 Als weitere Merkmale wies der Abt auf die politischen, religiösen und kirchlichen Auffassungen der Täufer hin, die bereits in früheren Täufer- 7 Man einigte sich darauf, dass der Konsistorialsekretär Lorenz Schmidlin, d. Ä., den Entwurf in der Kanzlei arbeitend verfassen sollte, wo er den Hofprediger Bidembach und den Kirchenratsdirektor Kaspar Wild jederzeit „an der hannd“ hätte. HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 1r, 9v. 8 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 5r. 9 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 1r, 2v. 10 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 6v. 11 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 5r. 12 Vgl. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 59v-62r. 13 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 2r-2v. 14 Hofprediger Bidembach seinerseits betonte, dass sich die Definition eines Täufers oder einer Täuferin bereits aus ihrem Namen herleiten lasse und dass die Bewegung die gesamte gesellschaftliche Ordnung durcheinander bringe: „das zaigt der Nam selbs ahn, quia vel zweimal theufft oder wider den kindertheuffseien [...]. darnach so Turbiert Ir lehr Ecclesiam, politicam & oeconomicam“. HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 2r-2v. <?page no="113"?> 114 ordnungen fixiert worden waren. Den Bemerkungen des Abtes wurde allgemein zugestimmt. Die Beschreibung eines Täufers bzw. einer Täuferin findet sich in sehr ähnlicher Form in dem Entwurf der Täuferordnung von 1571 wieder. Dort hieß es, dass es unter den Täufern „mancherlei Dogmata“ gebe und diese sich in Glaubensfragen alles andere als einig, „sonder in vil Secten vnnd Bruderschafften zertheilt“ seien. Man könne aber getrost sagen, „das sie daher widerteuffer haisen, weil sie aintweder wider vnnd zum andern mal getaufft, oder wider den Kindertauffseien und daruon nichts halten vnnd Ire kinder nit wöllen tauffen lassen“. 15 So ergab sich als zentrales Kriterium bzw. „Merckhzeichen“ eines Täufers oder einer Täuferin die Ablehnung der Kindertaufe, eine Haltung, die unterschiedlich stark eingenommen werden und von der totalen Verwerfung der Kindertaufe bis hin zur Einstellung reichen konnte, diese sei lediglich unnötig und unnützlich. Dabei spielte es zunächst keine Rolle, ob die als Täufer verdächtigten Personen jeweils „selbs widergetaufft oder nitt“ waren. 16 Vielmehr stellte die Stellung zur Taufe den Ausgangspunkt dar, von dem aus sich eine sektiererische oder gar aufrührerische Haltung entwickeln und entfalten konnte. Denn wer es bereits in der Tauffrage nicht richtig hielte, raisonnierten die Kirchenräte, „der würt gewißlich in anndern mehr Puncten vnnd Articuln auch nit syncerus vnnd richtig sein“. 17 Wie das Beispiel der vorbereitenden Sitzungen zur Täuferordnung von 1571 zeigt, wurden in den Vorbereitungsprozess einer neuen Täuferordnung immer mehrere - weltliche wie kirchliche - Instanzen eingebunden, die ihr spezifisches (Vor-)Wissen einbringen sollten. Gleichzeitig waren sie am Erzeugen von neuem Wissen über die Täufer und Täuferinnen beteiligt, indem sie den Blick auf die aus ihrer jeweiligen Perspektive relevanten Fragen leiteten. 18 Sie konnten dadurch neue Themen auf die Agenda setzen oder bislang am Rande behandelte Fragen näher zum Mittelpunkt rücken lassen. Ihrem Expertenstatus entsprechend überließen bspw. die im Jahre 1570 befragten Tübinger Juristen Nikolaus Varnbüler und Kilian Vogler die Definition der täuferischen Lehren den Theologen und beschäftigten sich stattdessen ausgiebig mit der Frage, wie mit täuferischen Verlassenschaften umzugehen sei. Auch wollten Varnbüler und Vogler zur Frage, ob die Kinder täuferischer Eltern getauft werden sollen, mit dem Hinweis auf den theologischen Charakter dieses Problems nicht verbindlich Stellung nehmen (selbst wenn Varnbüler als seine persönliche Meinung festgehalten hat, dass er dies befürworte). Auf die Frage, ob die Kinder täuferischer Eltern weiter bei diesen wohnen dürften, sahen sich die Juristen dagegen sehr wohl befugt zu antworten. 19 15 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 3v-4r. Siehe hierzu auch den transkribierten Auszug der Ordnung von 1571 im Anhang der Arbeit. 16 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4r. 17 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4r. 18 Vgl. Sabean, Village Court Protocols, S. 22. 19 HStAS A282/ 3084 Nr. 2. <?page no="114"?> 115 In der Besprechung der neuen Täuferordnung wurde eine ähnliche Zuweisung der Kompetenzen von Seiten der Theologen vorgenommen, als der Hofprediger Wilhelm Bidembach in Bezug auf die täuferischen Güterkonfiskationen klarstellte: „de bonis sollen die Juristen Reden.“ Darüber hinaus wollte er sich nicht zu Strafmaßnahmen äußern, die den einfachen Täufern und Täuferinnen gelten sollten, sondern wies auch diese Aufgabe den Juristen zu. In einigen Punkten überlappten sich die Zuständigkeiten der weltlichen und kirchlichen Ratgeber jedoch. Etwa bei der Erörterung der Ehescheidung zwischen täuferischen und lutherischen Ehepartnern wollte der Jurist Vogler die Theologen ausdrücklich in die Diskussion mit einbeziehen. 20 Bevor eine neue Ordnung in Kraft treten konnte, musste sie vom Landesherrn abgesegnet werden. Auch wenn dies oftmals eine reine Formalität sein konnte, zeigten die Herzöge reges Interesse an manchen Fragen und ließen sich auf intensive Diskussionen mit ihren Räten ein. Gegebenenfalls konnte der Landesherr die Gutachten der juristischen oder theologischen Experten übergehen, wie dies Herzog Ulrich im Vorfeld der Täuferordnung von 1536 tat, als er trotz des befürwortenden Gutachtens der Tübinger Juristen es ablehnte, die Todesstrafe einzuführen. 21 Es war aber für die herzoglichen Räte auch keine Unmöglichkeit, den Herrscher von seinem Standpunkt abzubringen. Dies war etwa bei den Verhandlungen um eine neue Täuferordnung gegen Ende der 1550er Jahre der Fall, in denen Herzog Christoph auf ein neues, schärfer formuliertes Mandat gegen die Sektierer drängte, die Räte - allen voran Johannes Brenz - dieses Vorhaben aber nach langem Ringen schließlich verhindern konnten. Hätte Christoph seinen Willen durchsetzen können und wäre das Mandat im ursprünglichen Wortlaut publiziert worden, hätte dies durch die Einführung der Todesstrafe vermutlich „eine völlige Änderung der früheren württembergischen Täufergesetzgebung“ bedeutet. 22 Die Räte hatten den von Herzog Christoph anvisierten Richtungswechsel mit der Begründung abgewehrt, es genüge, wenn die im Sommer 1554 erlassenen Bestimmungen strikt eingehalten würden. 23 Als weiteres, zeitlich paralleles Beispiel für den Verhandlungscharakter der württembergischen Täuferordnungen kann der Umgang mit dem Wormser Bedenken von 1557 herangezogen werden, das aus dem Versuch entstanden war, die protestantische Täuferbekämpfung im Reich auf eine Linie zu bringen. Aus Württemberg beteiligten sich die Theologen Johannes Brenz und Jakob Andreä am Wormser Religionsgespräch. Selbst wenn die schärfste Formulierung - die Befürwortung der Todesstrafe für Täufer - in der württembergischen Abschrift gestrichen wurde, so ist der Einfluss des Wormser Bedenkens in der nächsten 20 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 5v, 6v, 8v. 21 Clasen, Wiedertäufer, S. 34. 22 Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 86. 23 Letztendlich kam es zu einem Entwurf einer gegen Täufer, Schwenckfelder und anderer Sektierer gerichteten Ordnung, die im Februar 1557 vom Herzog unterzeichnet wurde, die die Todesstrafe zwar nicht mehr erwähnte, ansonsten aber die Bestimmungen von 1554 übernahm. Bubenheimer, Heterodoxie, S. 320-322; Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 85-87. <?page no="115"?> 116 württembergischen Täuferordnung von 1558 bzw. 1559 sichtbar. 24 Gleichzeitig spiegelt der Umgang mit dem Wormser Bedenken die Ambivalenz der obrigkeitlichen Positionen gegenüber den Täufern in Württemberg wider: Einerseits musste man neben den Bestimmungen auf Reichsebene auch die Freunde im protestantischen Lager berücksichtigen, andererseits war man nicht gewillt, die im Glauben Irrenden Täufer mit der Todesstrafe zu ahnden. Die führenden Theologen des Landes waren sich in dieser Frage uneinig. 25 Insbesondere lassen sich Meinungsverschiedenheiten in der Täuferbekämpung und -bestrafung zwischen dem ‚Hardliner‘ Jakob Andreä und dem die Todesstrafe in Glaubensfragen konsequent ablehnenden Johannes Brenz festmachen. In den Worten Gustav Bosserts: „Andreä schob und Brenz bremste.“ 26 Die in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele haben verdeutlicht, dass die Entstehung der Täuferordnungen bereits auf der Ebene der Normgeber eine Sache des Verhandelns war. Daraus folgt, dass aus den schriftlichen Endprodukten keine Rückschlüsse auf eine einheitliche Meinung innerhalb der Stuttgarter Behörden (oder der Tübinger Universität, an der mehrere der herangezogenen Gutachter eine Professur innehatten) gezogen werden können. Durch das „placet“ des Herzogs hat das jeweils Niedergeschriebene und Veröffentlichte nichtsdestotrotz einen zumindest offiziell verbindlichen Charakter erhalten. Dadurch war mit der Entstehung einer Täuferordnung gleichzeitig der Prozess der obrigkeitlichen Meinungsfindung abgeschlossen: In der publizierten Ordnung ist von den geführten Verhandlungen nichts mehr zu sehen, sondern die Normgeber präsentieren sich als einheitliche Front. Gleichzeitig standen die offiziellen Spielregeln der an der Sektenbekämpfung Beteiligten im Umgang mit den Täufern und Täuferinnen fest. Im weiteren Verlauf des Zuschreibungs- und Bekämpfungsprozesses der Täufer markierten diese obrigkeitsintern vereinbarten Richtlinien die Spielräume, innerhalb derer sich die Akteure zu bewegen hatten sowie die Erwartungen an das Verhalten bzw. die typischen Eigenschaften der Akteure insbesondere der verschiedenen Täuferkategorien zugeordneten Personen. 3.1.2. Grundzüge der württembergischen Täuferpolitik Der Umgang mit den Täufern und die gegen sie gerichteten Strafbestimmungen unterlagen zeitlichen und regionalen Variationen. Horst Schraepler hat darauf hingewiesen, dass die Schärfe der vorgeschriebenen Strafen „in erster Linie von 24 Statt der ursprünglichen Formulierung, dass Täuferanführer, die nicht widerrufen wollen, „verurteilt und mit dem swerdt getodt werden“ sollen, steht in der württembergischen Fassung, sie sollen „als Aufrührer und Gotteslästerer nach der jüngsten Reichsordnung verurteilt werden“. HStAS A63/ 16 (5. November 1557), f. 8v. Ob die Todesstrafe von Brenz oder dem Herzog persönlich gestrichen wurde, ist heute allerdings nicht mehr nachvollziehbar. Bossert & Bender, Württemberg, S. 993. Zu Johannes Brenz’ Einstellung zu den Täufern siehe Brecht, Brenz, S. 176f.; Estes, Christian Magistrate, S. 123-141; Seebaß, An sint persequendi haeretici? . 25 Vgl. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 43. 26 Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 25. <?page no="116"?> 117 der jeweiligen Grundhaltung des Landesherren oder Stadtobrigkeiten gegenüber der Täuferbewegung“ abhängig war. Sie schwankte zu verschiedenen Zeiten, so dass bspw. direkt nach dem Bauernkrieg (1525) oder dem Täuferreich in Münster (1534/ 35) auch die Verfolgungs- und Strafmaßnahmen gegen die Täufer härter waren. Ulrich Bubenheimer und Claus-Peter Clasen haben für Württemberg eine im Laufe des 16. Jahrhunderts trotz einiger Schwankungen insgesamt abnehmende Härte der Strafmaßnahmen festgestellt. 27 Allgemein lassen sich in der protestantischen Täuferpolitik Württembergs zwei grundlegende Tendenzen ausmachen: Zum ersten wurde die Todesstrafe trotz mehrmaliger Debatten nicht eingeführt. Zum anderen sollten die ‚verführten‘ Mitglieder der Täuferbewegung in erster Linie durch Belehrung zurück für die lutherische Kirche gewonnen werden. 28 Je nach Bedarf sollten jedoch auch harte Strafen eingesetzt werden. Das Spektrum der Sanktionen streckte sich in Württemberg von einer Ermahnung durch den Spezialis hin zum Landesverweis und Konfiskation der Güter. 29 Die Einteilung der Täufer und anderer religiöser Dissidenten in unterschiedliche Kategorien zog ein gestaffeltes System an vorgeschriebenen Strafen mit sich. Es machte für die Behandlung des Einzelnen demnach durchaus einen Unterschied, ob man zu den in die Irre geführten Anhängern oder den weitaus härter zu strafenden Vorstehern gezählt wurde. Auch wurden bei der Bestrafung die täuferische Vorgeschichte und frühere Verhandlungen bzw. Strafen berücksichtigt sowie eine Möglichkeit zur Begnadigung eingeräumt. 30 Im Folgenden soll ein kurzer Überblick der württembergischen Täuferpolitik und der für Täufer in vorgesehenen Gegenmaßnahmen gegeben werden, weil sich daraus die Ernsthaftigkeit der Visitationssituation herleiten lässt - das, was die als Täufer und Täuferinnen Verdächtigten zu befürchten hatten, sollten sie ihre Vernehmer nicht von ihrer Ungefährlichkeit überzeugen. 31 Selbst wenn sie mit 27 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 316f., 324; Clasen, Anabaptism, S. 365; Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 54. Auch Schraepler betont den Wandel im württembergischen Strafvollzug: Wurde die Landesverweisung zwar anfangs als das am besten geeignete Bekämpfungs- und Strafmittel gegen die Täufer angesehen und eingesetzt, so musste sie im Laufe des 16. Jahrhunderts zugunsten der Gefängnisstrafen in den Hintergrund treten. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 58. 28 Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 2; Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 91f. 29 Schraepler weist auf wiederholte Meinungsverschiedenheiten unter den Normgebern bezüglich der besten Bestrafungsform der Täufer in Württemberg hin (Gefängnisstrafe vs. Landesverweis), die sich bereits in einem theologischen Gutachten zu der Täuferordnung von 1536 zeigen. Stärker durchsetzen konnte sich letztlich die von den Theologen bevorzugte Gefängnisstrafe. So wurde auch in fast allen Täufergesetzen der Folgezeit mit dem Gefängnis gedroht. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 52. 30 Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 53. Zum Recht der Begnadigung innerhalb der Täuferbekämpfung siehe ebd., S. 82-86. Allgemeiner zur frühneuzeitlichen „Ökonomie der Gnade“ siehe Rublack, Herrschaftspraxis, S. 361. 31 Für eine ausführlichere Abhandlung der gegen die Täufer im mittel- und süddeutschen Raum gerichteten Strafen siehe Clasen, Anabaptism, S. 358-394; Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 30-82. <?page no="117"?> 118 keiner Todesstrafe zu rechnen hatten, so konnten die vorgeschriebenen Strafen doch beträchtliche negative Auswirkungen auf ihre Lebensbedingungen haben und sogar die Existenz der eigenen Familie gefährden. Indem das den einzelnen Täufertypen zugeschriebene Wesen zur Grundlage für ihre Bestrafung gemacht wurde, hatten die Vorstellungen der Normgeber teilweise handfeste Konsequenzen für die Betroffenen. An diesem Punkt wird deutlich, wie schwer es ist, will man eindeutig zwischen den Ebenen von Diskurs und Praxis trennen. 32 Deswegen soll unten näher auf die in den Täuferordnungen vorgesehenen Strafbestimmungen eingegangen werden. Die obrigkeitliche Debatte um die Todesstrafe wiederum ist aufschlußreich für ihre ambivalente Wahrnehmung der Täufer und der unterschiedlichen Auffassungen von den angemessenen Vorgehensweisen gegen die ‚Täufergefahr‘. Als Strafen wurden in Württemberg vor allem Freiheitsstrafen 33 und Landesverweise, seltener Leibes- oder Geldstrafen vorgesehen und eingesetzt. Hinterlassene Güter der Landesverwiesenen wurden beschlagnahmt und später teilweise konfisziert. 34 Weitere Maßnahmen gegen die Täufer bildeten die in den Täuferordnungen vorgeschriebenen Versammlungsverbote, Beherbergungsverbote und die Anzeigepflicht von täuferischen bzw. anderen sektierischen Personen. 35 Wiederholte Bücherverbote untersagten als häretisch definierte Literatur, die aus dem Verkehr gezogen werden sollte. 36 Hierbei wurde die Bedrohung solcher Tex- 32 Siehe zu diesem Punkt auch Landwehr, Jenseits von Diskursen und Praktiken, insbes. S. 57-59. 33 Schraepler unterscheidet zwischen vier Arten von Freiheitsstrafen, zunächst dreierlei Gefängnisstrafen (bewusst anachronistisch in moderner Terminologie: Untersuchungshaft, Beugehaft und Strafhaft) und als Sonderfall die Verschickung auf die Galeeren im Mittelmeerraum. Er weist außerdem darauf hin, dass Haftstrafen in der frühen Neuzeit zeitlich (bis auf Württemberg, wo zunächst acht, dann vierzehn Tage Haft vorgesehen waren) nicht festgelegt waren. So konnte auch „manche Untersuchungshaft weit länger als heute dauern“. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 50. Zu den Galeerenstrafen, die bis dahin „vornehmlich gegen Landstreicher und besonders schwere Verbrecher“ verhängt worden waren und in der Schweiz und in Österreich auch gegen Täufer eingesetzt wurden siehe ebd., S. 55. 34 Der Landesverweis war keine neue Strafe für religiöse Dissidenten: Seit der vierten Lateransynode (1215) waren weltliche Obrigkeiten verpflichtet, alle von den römisch-katholischen Lehren Abgewichenen aus ihrer Herrschaft zu zu vertreiben. Grundsätzlich wurde der Landesverweis als Strafmittel gegen Täufer jedoch im Speyerer Reichsmandat von 1529 verboten. So blieben Landesverweisungen der Täufer in römisch-katholischen Territorien zunächst selten; als Hauptstrafe wurde dort vielmehr die Todesstrafe eingesetzt. In protestantischen Ländern und der zwinglischen Eidgenossenschaft dagegen nahm die Landesverweisungen immer mehr an Bedeutung zu und wurde als das „für die Obrigkeiten bequemste Mittel“ insbesondere für ‚gemeine‘ Täufer und Täuferinnen eingesetzt. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 56. Zur komplexen Thematik der täuferischen Güterkonfiskationen in Württemberg siehe ebd., S. 60-67; Teufel, Die Beschlagnahme. 35 Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 106f. 36 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 326-337. Das Verbreiten sektischer Bücher, insbesondere Schriften der Täufer und Schwenckfelder, wurde in Württemberg entweder in den Artikeln der Täuferordnungen oder in speziellen Bücherverboten verboten. Diese wurden in den Jahren 1532, 1533, 1544, 1564 und 1593 erlassen. An dieser Stelle sei zur ersten Orientierung lediglich auf die gedruckten Akten verwiesen: Erlass der Regierung gegen alle Sekten, 20. August 1532, <?page no="118"?> 119 te v. a. für die Ungelehrten betont: Im Jahre 1564 etwa wurde der Erlass des Bücherverbots damit begründet, dass die Verbreitung „schwermerischer Buecher“ gravierende Folgen haben würde, insbesondere wenn sie „dem gemeinen Mann underm schein zugelaßner und bewerter Schriften auffgedrungen und eingeschleicht werden“. 37 Bereits vor seinem Amtsantritt erließ Herzog Ulrich am 12. Juni 1534 einen Haftbefehl gegen Täufer und verpflichtete sich darüber hinaus im Kaadener Vertrag am 29. Juni 1534 dazu, gegen alte und neue Sekten vorzugehen. 38 Nach einer ersten Täuferordnung vom Juni 1535 wurde unter Herzog Ulrichs Herrschaft im Jahre 1536 die zweite erlassen, die grundlegend für die folgenden Jahrzehnte der Täuferbekämpfung in Württemberg wurde. Der in diesen Ordnungen formulierte Verfahrensablauf von Verhaftung, Freiheitstrafe sowie Entlassung auf einen Widerruf und einer Urfehde hin prägte den künftigen Umgang mit den Täufern. In diesem Zusammenhang wurde die Belehrung der Täufer und Täuferinnen durch Theologen in das Verfahren integriert und die Bekämpfung der Sekten als fester Bestandteil in die Visitationen aufgenommen. 39 Die Täufer sollten von den „geschicktesten und gelertesten predicanten“ des Landes unterrichtet werden, um „sollich leut vß Irem Irtumb zuerledigen vnnd zu vnnßeren rechten Christenlichen glauben wider zubringen“. 40 Ziel der Belehrung war also die Wiedereingliederung der Büßenden in die lutherische Kirchengemeinschaft. Darüber QGT I, S. 28f.; Ausschreiben König Ferdinands, dass kein Buch der neuen Sekten feilgehalten werden solle, 12. November 1533, QGT I, S. 33f. und Reyscher, Kirchengesetze, S. 33; Kurze sumarien der schwenckfäldischen biechlen, in die canzlei gen Stuttgarten vom vogt zu Cantstatt, 5. Juni 1544, QGT I, S. 91-94; Verbot sektischer Bücher, 16. Januar 1564, QGT I, S. 236-239; Verbot sektischer Bücher, 20. November 1593, QGT I, S. 669-670 und Reyscher, Kirchengesetze, S. 296f. 37 Die Kontrolle über die im Lande kursierende Literatur wurde der Universität Tübingen sowie den Superintendenten und Amtleuten des Herzogtums übertragen. Gefundene „Schwermer- Buecher“ sollten dem Büchermandat vom 16. Januar 1564 zufolge konfisziert und mit einem Bericht versehen der herzoglichen Kanzlei überschickt werden. Arend, Kirchenordnungen, S. 442f. Das Bücherverbot vom 15. Januar 1593 war ähnlich konzipiert. Allerdings wurden nun - in einer Zeit verschärfter konfessioneller Gegensätze im Reich - auch junge Ministeriale und Theologiestudenten als potentielle Leser der gefährlichen Texte ausgemacht. Neben die als ketzerisch deklarierten Schriften der Täufer, Schwenckfelder und Sakramentarier traten zudem die „schmachunnd lesterschrifften unnd famoß Libell der Jesuiten unnd iresgleichen“. Ebd., S. 468f. 38 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 318f.; Mertens, Handbuch, S. 104. Zum Täuferabschnitt im Kaadener Vertrag vom 29. Juni 1534 siehe den entsprechenden Auszug in QGT I, S. 11*: „Art. 7: Doch sollen in allweg die sacramentirer, widertäufer, auch alle andere neue unchristenliche secten, die hinfürter angericht werden möchten, hierinnen ausgeschlossen sein und durch die könig. mait., churfürsten, fürsten und stend eintrechtiglich gewört und in ihren landen nit geduldet noch gelitten werden“. 39 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 319; HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 40 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). Auch in einem Gutachten der herzoglichen Räte wird im Jahre 1544 großer Wert auf die Belehrung der Täufer gelegt, selbst wenn „sie dabei auch nicht an einen durchschlagenden Erfolg solcher Belehrungen zu glauben scheinen“. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 31. <?page no="119"?> 120 hinaus wurde bereits 1536 die Todesstrafe abgelehnt und der Landesverweis vorgeschrieben, der mit der Konfiskation der Güter des Verwiesenen durchgeführt werden sollte. 41 Der Einsatz von Folter war in der Ordnung von 1536 in Fällen von „Verdacht auf Ungehorsam gegen die Obrigkeit“ vorgesehen. 42 Die Anfänge der württembergischen Täuferpolitik unter protestantischem Vorzeichen liegen somit in den 1530er Jahren. Herzog Ulrichs Nachfolger und Sohn Herzog Christoph drängte nachdrücklich auf ein aktives Vorgehen gegen die Täufer und andere Sektierer. Er korrigierte Synodusberichte und -gutachten eigenhändig und befürwortete die Einführung der Todesstrafe für Täufer. Gleichzeitig war ihm an einem differenzierten Umgang mit den Dissidenten je nach dem Grad ihres Vergehens gelegen. 43 Im Jahre 1553 traf Herzog Christoph eine bedeutende personale Entscheidung, indem er den bereits seit den 1530er Jahren mit dem württembergischen Hof vertrauten Johannes Brenz nach Stuttgart berief. 44 Durch seine Position als Stiftspropst und herzoglicher Rat, sein enges Vertrauensverhältnis zum Herzog und sein offensichtliches Geschick als Vermittler zwischen unterschiedlichen Positionen konnte Brenz die Täuferbekämpfung und -bestrafung in Württemberg maßgeblich beeinflussen. Entscheidend war dabei seine Deutung der Täuferbewegung als in erster Linie religiöses - nicht politischaufrührerisches - Phänomen. 45 Dies hatte weitreichende Folgen für den Umgang mit den Täufern im Herzogtum, denn konsequent lehnte Brenz die „Bestrafung des falschen Glaubens der Täufer durch das weltliche Schwert ab und ließ allenfalls den Ausschluß aus der bürgerlichen Gemeinschaft zu“. 46 Diese Position einzunehmen war für Brenz keineswegs selbstverständlich, setzte er sich damit doch in Opposition mit den geltenden Reichsgesetzen. Auf dem Reichstag von Speyer im Jahre 1529 war mit dem Rückgriffauf den Codex Justinianus die Todesstrafe für die Täufer verhängt worden. Auch in Württemberg war dieser Standpunkt nicht unangefochten, hätte doch selbst der Landesherr strengeres Vorgehen bevorzugt. Die Juristen plädierten mit dem Hinweis auf die Gesetzgebung gemeinhin für eine schärfere Beurteilung der Sektierer. 47 Unter den Theologen konnte 41 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 319; Clasen, Wiedertäufer, S. 34; HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 42 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 319. 43 Ebd., S. 320; Clasen, Wiedertäufer, S. 42; Estes, Christian Magistrate, S. 136. 44 Brecht, Brenz, S. 172; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 85, 306. Zu den kirchlichen Gremien siehe Lempp, Der württembergische Synodus, S. 43f. 45 Auch Claus-Peter Clasen hat den dezidiert religiösen Charakter der Täuferbewegung in Württemberg betont. Clasen, Wiedertäufer, S. 29f., 34; Ders., The Sociology of Swabian Anabaptism, S. 152. 46 Brecht, Brenz, S. 177. 47 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 319; Clasen, Anabaptism, S. 384f.; Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 43, 84; Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 95. Im Allgemeinen waren die Gegner der Todesstrafe für die Täufer wie Brenz überzeugte Lutheraner in verantwortungsvollen Positionen. Ein Grund mag darin gelegen haben, dass es für Juristen qua ihres Amtes insgesamt schwieriger als für Theologen war, gegen die Reichsgesetze zu argumentieren. Als Beispiele für Rechtsgelehrte, die gegen eine Hinrichtung der Täufer argumentierten, nennt Claus-Peter Cla- <?page no="120"?> 121 man im protestantischen Lager ab 1530 Luther und Melanchthon als Autoritäten heranziehen, die eine Todesstrafe für Täufer befürworteten. 48 Im Endeffekt fiel der von Brenz propagierte nachsichtige Umgang mit den religiösen Dissidenten in Württemberg auf fruchtbaren Boden, weil hier bereits vor seinem Amtsantritt ähnliche Standpunkte Zustimmung gefunden hatten. 49 Auch das enge Vertrauensverhältnis zwischen Brenz und Herzog Christoph sowie ihre übereinstimmenden Auffassungen von Obrigkeit werden von Bedeutung gewesen sein. 50 Selbst wenn Brenz stets die Meinung vertrat, man solle in Glaubensfragen Irrende nicht mit dem Tode bestrafen, führte dies aus seiner Perspektive keineswegs zur Duldung oder gar Toleranz von religiösen Dissidenten. 51 Vielmehr stand für Brenz stets fest, dass die Obrigkeit eine göttliche Ordnung sei. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit, der Obrigkeit unter allen Umständen zu gehorchen. So sehr Brenz „bei grundsätzlicher Anerkennung des römischen Rechts auf eine humane Praktizierung des Strafrechts z. B. hinsichtlich der Folter und der Todesstrafe“ drängen mochte, blieb seine „Wertschätzung von law and order und die Angst vor dem Chaos im Gemeinwesen“ unüberwindbar. 52 Am 25. Juni 1558 erließ Herzog Christoph ein gedrucktes, gegen alle „irrigen, eigensinnigen Secten und Opinionen, sonderlichen aber der Widerteüffer, Sacramentierer, Schwenckfelder, und was dergleichen mehr seien“ gerichtetes Mandat, das durch die Aufnahme in die Große Kirchenordnung von 1559 zur maßgeblichen Verordnung der Folgezeit wurde. 53 Aus Christophs Feder stammen sen Johann von Schwarzenberg aus Bamberg und Ludwig Hierter aus Speyer. Hierter etwa vertrat die Ansicht, dass das Gesetz nur den „civil [...] and not physical death” der Täufer verlangte, was er als Verbannung auslegte. Clasen, Anabaptism, S. 384f. 48 Neben Luther befürworteten unter den prominenten protestantischen Theologen Ambrosius Blarer und Urbanus Rhegius die Todesstrafe für Täufer, ohne diese jedoch in ihren Regionen (Württemberg bzw. Braunschweig-Lüneburg) durchsetzen zu können. Brecht, Brenz, S. 177; Clasen, Anabaptism, S. 381f. 49 Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 84, 96. 50 So sieht Gottfried Seebaß ein gemeinsames Interesse von Brenz und Herzog Christoph an der Beseitigung der außerkirchlichen religiösen Bewegungen im Herzogtum, das in einer ähnlichen Auffassung vom Staat und von der christlichen Obrigkeit begründet lag. Zu dieser Erkenntnis gelangt Seebaß aufgrund der Durchsicht der früheren württembergischen Täuferordnungen, wobei ein indirekter Einfluss von Brenzens Gutachten von 1528, das im Druck eine weite Verbreitung fand, nicht auszuschließen ist. Darüber hinaus hatte ja bereits Herzog Ulrich Brenz als Ratgeber in den württembergischen Reformationsprozess einbezogen. Festzuhalten bleibt, dass Brenz zwar nicht der einzige prägende, dennoch aber ein überaus wichtiger Akteur und Vordenker der württembergischen Sekten- und Täuferbekämpfung war, dessen „Einfluß auf die Bestrafung der Täufer, mindestens in Süddeutschland nicht gering zu veranschlagen“ ist. Ebd., S. 84, 96. 51 Zur oftmals postulierten religiösen Toleranz von Johannes Brenz, die dieser aber ähnlich wie Luther nach persönlicher Auseinandersetzung mit den Täufern aufgegeben habe, nimmt Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 96-99, kritisch Stellung. Zu den (begrenzten) Möglichkeiten von religiöser Toleranz im 16. Jahrhundert siehe z. B. Scribner, Preconditions of Tolerance. 52 Brecht, Brenz, S. 178f. 53 HStAS A63/ 22 (25. Juni 1558); Bossert & Bender, Württemberg, S. 992; Bubenheimer, Heterodoxie, S. 321. Das Neue an dem Mandat von 1558 bestand Claus-Peter Clasen zufolge in der <?page no="121"?> 122 weiter der Entwurf einer Ordnung gegen Täufer und Schwenckfelder aus dem Jahre 1559 sowie ein weiterer, ausführlicher Ordnungsentwurf gegen Täufer und andere Sekten, der jedoch nur als Auszug einer ‚Manuduktion‘ (Handreichung) überliefert ist. 54 Der Wunsch des Herzogs war, darin nähere Ausführungsbestimmungen zum Mandat von 1558 zu geben. Die Manuduktion ist eine nähere Betrachtung wert, zeigt sie doch die grundsätzliche Bemühung Herzog Christophs nach Differenzierung und Bestrafung nach dem Grad des ‚Verwirkens‘. Er unterschied hier nicht nur hinsichtlich der einzelnen Typen von Täufern, sondern auch zwischen den Täufern, Schwenckfeldern und Sakramentierern. 55 Auf sein früheres Mandat rückblickend schrieb der Herzog: „Dieweÿl aber Inn vnnserem mandat dreÿerleÿ blasphemia vnnd Secten sein begriffen, Nemlich die widerteuffer, Schwenckfelder vnnd Sacramentierer, vnnd auch sie Inn Iren Secten und Blasphemien vngleich, wie dann varia genera blasphemiarum, auch dagegen varia genera supplitiorum seÿen, damit dann niemand über sein verschulden gestrafft, sonnder vnderschid Jedes verwürckhen nach gehalten, auch disen blasphemien vnnd Secten vnnderschidlich vnd ernstlich begegnet vnnd vnnserm Mandat dester mehr pariert werde. So wöllen vnnd bevelhen wir derenhalben volgende vnnterschidliche gradus zuhalten vnnd zu gebrauchen.“ 56 Essentiell ist hier das Postulat des Landesherrn, es solle „niemand über sein verschulden gestraft“ werden. Ein stufenweises Strafsystem kann auch in anderen Bereichen der württembergischen Strafjustiz beobachtet werden, so dass die Täuferbestrafung in dieser Hinsicht mit der zeitgenössischen Policeygesetzgebung und den gängigen Strafpraktiken überein stimmte. 57 Hierbei ist die vorbeugende bewussten Unterscheidung zwischen „Täufern, die bloß von Glaubenseifer bewegt werden, und solchen, die revolutionäre Absichten haben“. So sei es den württembergischen Räten im Jahre 1558 im Gegensatz zu 1536 klar gewesen, dass man die Täufer „nicht einfach mit den Revolutionären in Münster gleichsetzen“ konnte. Clasen, Wiedertäufer, S. 42f. Diese Ansicht darf bezweifelt werden, zumal eine Unterscheidung in aufrührerische und Täufer und Täuferinnen ohne revolutionäre Vorhaben bereits in der Täuferordnung von 1536 vorlag. 54 HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559); HStAS A63/ 22 (Manuduktion, nach 25. Juli 1558). Ulrich Bubenheimer weist darauf hin, dass die Manuduktion selbst nicht erhalten zu sein scheint. Außerdem ist der Auszug aus der Manuduktion strenger formuliert als der Enwurf einer Täuferordnung aus dem folgenden Jahr 1559. Bubenheimer zufolge dürfte dies „die Meinungsverschiedenheiten am Hof wiederspiegeln“. Bubenheimer, Heterodoxie, S. 322 (Anm. 84). 55 HStAS A63/ 22 (Manuduktion, nach 25. Juli 1558), f. 3r. 56 HStAS A63/ 22 (Manuduktion, nach 25. Juli 1558), f. 3r-3v. Zur zeitgenössischen Verknüpfung von Täufertum und Blasphemie siehe auch Haude, In the Shadow, S. 21f.; Schwerhoff, Zungen wie Schwerter, S. 89-91. 57 Vgl. Dinges, Normsetzung als Praxis? , S. 49; Holenstein, Umstände der Normen, S. 40; Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 55f. Die württembergische Täuferpolitik im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert lässt sich auch mit der praktischen Orientierung in zeitgenössischen Gutachten der Tübinger Juristen vergleichen, wie sie Helga Schnabel-Schüle herausgearbeitet hat: Statt grundsätzlicher rechtsphilosophischer Überlegungen wurden „fallbezogene, <?page no="122"?> 123 Rolle der Bestrafung nicht zu unterschätzen. Oft wurde von den Vertretern der Obrigkeit am Rande eines Protokolles oder amtlichen Schreibens vermerkt, man solle den Dissidenten - und ihren Nachbarn - den Ernst ihres Vergehens vor Augen führen, um eine weitere Ausbreitung täuferischer Gedanken zu verhindern. 58 Diese Praxis kann als durchaus zeittypisch gelten: Wie Jürgen Schlumbohm betont hat, war es nicht das erste Anliegen frühneuzeitlicher Gesetzgebung, die streng formulierten Gesetze in voller Härte umzusetzen, sondern vielmehr das Ideal einer guten Obrigkeit zur Schau zu stellen. 59 Weder die Manuduktion noch Herzog Christophs Entwurf zu einer Täuferordnung aus dem Jahre 1559 wurden publiziert. Der Auszug aus der Manuduktion wurde jedoch im Konsistorium und Oberrat intern etwa bei den Beratungen um eine neue Täuferordnung zur Jahreswende 1570/ 71 herangezogen. 60 Die zentrale Richtlinie war dabei, dem Landesherrn über alle Fälle zu berichten und Anweisungen für das weitere Vorgehen einzuholen, in denen die des Täufertums bezichtigten Personen sich nicht von ihren Auffassungen distanzierten. Es war dem Herzog und seinen Räten auf der Ebene der Normgeber viel daran gelegen, die Fäden der Täuferbekämpfung stets in der Hand zu behalten. 61 Zum einen ging es darum, die offiziellen Regeln der Täuferbekämpfung zu überprüfen und ggf. zu ändern, zum anderen, über die einzelnen Schritte und Maßnahmen im Vorgehen gegen die religiösen Dissidenten berichtet zu sein, um ggf. in das Spiel eingreifen zu können und es im eigenen Sinne lenken zu versuchen. Wenige Jahre nach dem Tod Herzog Christophs wurde unter der Vormundsregierung des minderjährigen Herzog Ludwigs (1568-1593) die Diskussion um eine neue Täuferordnung eingeleitet. Als konkreter Anlass wurde das verstärkte Gefühl der Regierung genannt, dass „die schedlich widerteüfferisch sect ain zeit her in vnserm Fürstenthumb beschwerlich einreissen will“. 62 Insgesamt wurde der Umgangston der Stuttgarter Obrigkeiten mit den religiösen Dissidenten nun deutlich härter. Die Einführung der Todesstrafe für Täufer wurde ernsthaft diskutiert und die Benutzung von Folter wurde in den Vorschriften beibehalten bzw. ausgeweitet. 63 Das Motto dieser Zeit verdichtet sich in der Aufforderung „nuhr hartt mitt dem schelmengesindlen“, wie kaum leserlich von der Hand des Herzogs oder eines seiner Räte an den Rand eines Synodusprotokolls aus dem auf den Täter und sein soziales und familiäres Umfeld Rücksicht nehmende Erörterungen über die Kriterien der Strafzumessung für den jeweils zu entscheidenden Fall angestellt“. Schnabel- Schüle, Überwachen und Strafen, S. 124. 58 Vgl. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 53. 59 Vgl. Schlumbohm, Gesetze, S. 659-661. Siehe auch oben Kap. 1.2.2. 60 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 1v. Siehe auch Bubenheimer, Heterodoxie, S. 321f. 61 Vgl. Bubenheimer, Heterodoxie, S. 320-322. 62 HStAS A282/ 3084, Nr. 1. 63 Es ging um die peinliche Befragung der Teilnehmer verbotener Versammlungen, die Auskünfte verweigerten. In der Ordnung von 1571 wurde ihre Bestrafung nicht explizit festgelegt, doch eine spätere Randbemerkung spezifizierte, dass hiermit die Folter gemeint sei. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 61v. Siehe auch HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 9r. <?page no="123"?> 124 Jahre 1590 geschrieben steht. 64 Doch auch die gemäßigte Linie wirkte weiter. So blieb es trotz harter Worte bei den bisherigen Bestimmungen zumindest denjenigen Täufern und Täuferinnen gegenüber, bei denen keine aufrührerischen Motive festgestellt werden konnten. 65 Diese Täuferordnung vom 16. Januar 1571 wurde nie veröffentlicht, sondern war als Bedenken von der Regierung als interne Orientierungshilfe bzw. „Nachrichtung vnnd Information“ gedacht, der „die vngleicheit der felle, Jedesmall nach gelegenheit aller handt befundener vmbstende“ berücksichtigen sollte, so dass „die straffdenselben gemeß geringert oder gescherfft werden kann“. 66 Mit dem Bedenken sollte gesichert werden, dass „man künfftig in fürfallenden Casibus ain anlaittung habe vnnd man sich Jederzeitt nach gelegenheitt der vmbstend dest beß in die sachen zu schickhen, zu iudiciren vnnd bescheid zugeben wisse“. 67 Das Bemühen um eine differenziertere Kategorisierung und entsprechende Bestrafung, die bereits unter Herzog Christoph zu sehen war und die ein hohes Maß an Bürokratie notwendig machte, wurde unter Herzog Ludwig beibehalten. Unter anderem wurde in der Ordnung bzw. dem Bedenken von 1571 die Verwaltung der täuferischen Güter im Detail geregelt, die eherechtliche Frage geklärt, ob der Übertritt zum Täufertum ein Scheidungsgrund sei, sowie Strafmaßnahmen für die in der Täuferbekämpfung nachlässige Amtmänner festgelegt. 68 Frühere Ordnungen hatten sich auf „Sectarios In gemein“ gerichtet, zu denen hier neben den Täufern die Schwenckfelder, Zwinglianer und „Papisten“ gezählt wurden. Bei diesen Gruppen sollte es bei den gehabten Richtlinien bleiben. Hinsichtlich der Täufer jedoch wurde nun Bedarf für neue Richtlinien und Maßnahmen eingeräumt. 69 In der Täuferordnung vom 28. Januar 1584, die im Wesentlichen eine Ergänzung und Überarbeitung der Ordnung aus dem Jahre 1571 darstellte, wurde von den württembergischen Theologen schließlich aufgrund der nicht zurückgehenden Täuferzahlen erneut ein härteres Vorgehen gegen die Täufer gefordert. Das sollte durch den Einsatz der Folter gegen Aussagen verweigernde Täufer, verschärfte Haftbedingungen und einzelne Hinrichtungen 70 erzielt werden, die 64 LKA A1/ 1590, f. 90r. 65 Insbesondere der Hofprediger Lukas Osiander d. Ä. lehnte Folter und Todesstrafe als Mittel ab. Bossert & Bender, Württemberg, S. 993; Bubenheimer, Heterodoxie, S. 324; Clasen, Wiedertäufer, S. 45. 66 HStAS A282/ 3084 Nr. 3. Dass es sich um ein unveröffentlichtes Konzept handelt, zeigt die Betitelung des Schreibens mit ‚Bedenken‘ sowie die direkte Anrede des Landesherren, an den das Schreiben gerichtet war. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571). 67 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 63v. 68 Zu dieser Ordnung siehe auch die transkribierten Auszüge im Anhang der Arbeit. 69 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 1v. 70 Diese Strafe war für die gefährlichsten und hartnäckigsten Fälle vorgesehen, die nicht widerrufs- <?page no="124"?> 125 der Bevölkerung ein abschreckendes Exempel statuieren sollten. 71 Betont wurde hierbei die Einhaltung nicht nur der göttlichen Gesetze, sondern auch der „weltlichen Rechten vnnd Reichs Constitutionibus“. 72 Dementsprechend wurde die Verweigerung der Vorsteher, über ihre Tätigkeiten auszusagen, sowie die von ihnen durchgeführten verbotenen Zusammenkünfte als Verstöße gegen die Reichsgesetze und landesherrlichen Ordnungen ausgelegt. 73 Sie sollten „für Recht gestelt vnnd ordenlich beklagtt“ und nachdem die Gerichte nunmehr „ein Legem vnd wegweisung hetten, Daran es bißher gemanglet“, auch „zweifelsohne“ den Vorschriften der Täuferbekämpfung gemäß verurteilt werden. 74 Neue Täuferordnungen ergingen unter den Herzögen Friedrich (1593-1608) und Johann Friedrich (1608-1628) nicht mehr. Doch in einigen Ausschreibungen mahnten sie zur Einhaltung der früheren Vorschriften. So schrieb Herzog Friedrich am 6. Juli 1600 vor, die früheren Bestimmungen der Täuferordnungen, „wie Sie ÿetzo In Irem Buchstablichen Inhalltt gestellt“ weiterhin „ohngeendert“ zu befolgen. 75 Ein die Visitation der Speziale betreffendes General-Reskript im August 1597 sollte die Amtleute zu einem effektiveren Vorgehen gegen Sektierier, Segensprecher und dergleichen ermahnen. 76 Ein Dekret des Herzogs vom 29. Dezember 1602 erinnerte die Amtleute mit einem Hinweis auf den zu nachsichtigen Umgang mit den Täufern außerdem erneut daran, besser Acht auf die Täufer zu geben und sie, nachdem zweimal mit ihnen im Konsistorium verhandelt worden war, aus dem Herzogtum auszuweisen. 77 Wie Horst W. Schraepler betont hat, können die Bekämpfungsmethoden der Täufer jedoch im Grunde erst verstanden werden, wenn man auch das Recht der Begnadigung in Betracht zieht, das in den Reichsgesetzen gegen die Täufer vorgesehen war. 78 Begnadigung bedeutete in diesem Zusammenhang nicht Strafwilligen und aufwicklerischen Vorsteher, die nach einem Gerichtsprozess „am leben gestrafft“ werden sollten. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), f. 12v. 71 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 324; HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), insbes. f. 2r-14v. Auch in den in Worms 1557 formulierten Richtlinien wurde den abschreckenden Exempeln eine bedeutende Rolle in der Täuferbekämpfung zugewiesen. Es sei festgenommenen Täufern „nützlich Erstlich von den groben artikeln vntterweisung vnnd erinnerung zu thun, das der gefangen wiß, daß ehr zu gleich irrig vnd vffrührisch seÿ vnnd also ÿhm ein schrecken eingetriben werde, sunst sind sie Erstlich drotzig vnnd hart vnnd meinen sie leiden vnschuldiglich“. HStAS A63/ 16 (5. November 1557), f. 7r. 72 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), f. 12v. 73 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), f. 3r-6r. 74 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), f. 6r. 75 HStAS A282/ 3084, Nr. 16. 76 HStAS A63/ 72 (6. August 1597). Siehe auch Reyscher, Kirchengesetze, S. 300. 77 HStAS A282/ 3084 Nr. 17. 78 So findet sich in dem Reichstagsabschied von Speyer aus dem Jahre 1529 die Bestimmung, dass Personen, die ihren ‚Irrtum‘ - sei es von sich aus oder nach Belehrung und Ermahnung durch Kirchengelehrte - widerrufen, willig sind, Buße und Strafe anzunehmen und um Gnade bitten, „von ihrer Obrigkeit nach Gelegenheit ihres Verstandes, Jugend und allerlei Umstände begnadet werden mögen“. Auch im Augsburger Reichsabschied (1551) wurden die Grundprinzipien der Begnadigung beibehalten. Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 83. <?page no="125"?> 126 losigkeit, sondern vielmehr „eine mildere Bestrafung als die ursprünglich dem Gesetz nach vorgesehene“. 79 Die Unterzeichnung des Urfehdebriefes sollte die Aufrichtigkeit des abgelegten Widerrufs garantieren. Rechtlich gesehen stellte die Urfehde eine eidesstattliche Versicherung dar, sich in Zukunft von den Täufern zu distanzieren. Dadurch wurde „der Strafanspruch des Staates nicht hinfällig, sondern nur bedingt aufgeschoben“. Kam es zu einem Verstoß gegen eine in der Urfehdeverschreibung fixierte Verpflichtung, sollte daraufhin die verschobene Strafe „ohne alle Gnaden eintreten“. 80 In anderen Worten ermöglichte ein offizieller Widerruf den als Täufer oder Täuferinnen Verdächtigten beim ersten Mal ohne Strafen entlassen zu werden. Erst bei einer zweiten Festnahme hatten sie mit handfesten Strafen zu rechnen; ein Umstand, aus dem sich gewisse Spielräume herleiten ließen. Nach einem ersten Aktenkundig-Werden hieß es vor allem, nicht erneut wegen täuferischer Aktivitäten in die Hände der Obrigkeiten zu fallen. Insgesamt kann in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass die württembergische Täuferpolitik mit einem ausdifferenzierten Täufer- und Strafenkatalog operierte und dem allgemeinen policey- und strafrechtlichen Rahmen der Zeit entsprechend vorschrieb, die Strafen den jeweiligen Umständen der Fälle berücksichtigend härter oder milder ausfallen zu lassen. Diese Situationsbezogenheit ließ gleichzeitig Hintertüren für Verhandlungen offen, indem von den Betroffenen mit einer Erklärung der lindernden Umstände für Geduld und Straferlass appelliert werden konnte und die Plausibilität der Argumente von den verantwortlichen Instanzen und Amtsträgern in ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigt werden mussten. 79 Ebd., S. 83. 80 Begnadigungen konnten nicht nur von Haft- oder Geldstrafen, sondern auch von Güterkonfiskationen der Ausgewiesenen gewährt werden. Da Landesverwiesene jedoch nicht persönlich im Herzogtum anwesend waren, waren sie auf die Hilfe ihrer Angehörigen und Freunde angewiesen, die ihre Bitten beim Herzog anbringen mussten. Die Aufrichtigkeit des Widerrufs der Rückkehrenden sollte durch den Kirchenrat geprüft werden. Wenn dem Widerruf Glauben geschenkt wurde und die Gnade Ersuchenden weiterhin versprachen, sich gänzlich von den Täufern zu distanzieren, konnte ihnen die Vergünstigung gewährt werden, „ihren Widerruf nicht öffentlich, sondern nur vor Pfarrer, Amtleuten und Gerichten zu leisten“. Die Güter wurden dann mit der Auflage zurückgegeben, „weder Hab und Gut ohne obrigkeitliches Wissen und Erlaubnis zu verändern“. Diese Auflage war Schraepler zufolge allerdings in keinem württembergischen Mandat gesetzlich verankert. Ebd., S. 82-86. <?page no="126"?> 127 3.2. Bilder der Bedrohung: Täufer und Täuferinnen im Spiegel der Täuferordnungen, 1536-1584 3.2.1. Die Vorsteher als gefährliche Multiplikatoren Die von den Obrigkeiten am meisten gefürchtete Personengruppe innerhalb der täuferischen Bewegungen waren die Vorsteher. Als charismatische Anführer waren sie von zentraler Bedeutung nicht nur für die Täufer selber, sondern - sofern sie festgenommen werden konnten und im Verhör Aussagen machten - auch als Informanten für die Obrigkeiten. Bereits in der Täuferordnung von 1536 wurden die Täufervorsteher als gut vernetzte Multiplikatoren und deshalb als besonders gefährlich dargestellt, da sie gute Möglichkeiten hatten, Menschen für ihre Sache zu gewinnen. 81 Entsprechend sollten sie bei ihrer Festnahme eindringlich über ihre Kontakte und eventuelle Aufenthalte in Münster oder Mähren befragt werden. Außerdem sollten die Vorsteher genauer über die Lebensweisen und Lehrinhalte der Ihren Auskunft geben, unter anderem „was den secten, wölcher [der oder die Befragte, Anm. P. R.] sich anhengig bekent oder auch der andern furnomen wandel, wesen, leben, leer, glaub vnd Sect an den bestimpten oder andern orten seien, die den widertauffangenomen“. 82 Wert wurde in der Täuferordnung von 1536 somit nicht nur auf täuferische Lehrinhalte gelegt. Vielmehr ging es darum, sich neben den Lehren ein Bild über die mit diesen eng verknüpften lebensweltlichen Konzepten und Netzwerken der Täufer zu machen. Außerdem sollte für eine bessere Bekämpfung eine möglichst genaue Lokalisierung der Täufer in bestimmten Ortschaften des Herzogtums erzielt werden, über die gerade die Täuferprediger aufgrund ihrer Tätigkeit als Wanderprediger und Mittelsmänner den besten Überblick haben mussten. Auch nach einem gemeinsamen Erkennungs- oder „buntzaichen“ der Täufer war zu fragen, „dabeÿ sie ainander mögen erkennen“. 83 Dieser Punkt war wichtig, da Täufer an keinen äußeren Merkmalen (etwa Kleidung) eindeutig zu erkennen gewesen wären. Hätten die Obrigkeiten einen derart konkreten Anhaltspunkt zugespielt bekommen, hätten sich die Glaubensgenossen nicht mehr allein an einem äußerlichen täuferischen Erkennungszeichen untereinander erkannt, sondern es wäre auch den obrigkeitlichen Täuferfahndern wesentlich einfacher gefallen, Dissidenten als Täufer zu erkennen. Nur wenn man sich ein genaues 81 Vgl. Clasen, Wiedertäufer, S. 34. 82 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 83 Da die Vorsteher zweifellos „mit vilen, So seiner sect vnnd mit dem widertauffbefleckht, kuntschafft gehabt vnnd sie widerumb mit Ime, das er aigentliche anzaigung thue wer, wa dieselben personen so also mit Ime Inn sollicher seckt verwickelt geßessen, wie Ire namen heissen vnd wer sie sein, wa sie zusamen komen seien oder wöllen, und wie dickh, was sie auch an Jedem ort, so sie also zusamen komen sein, beratschlag[t], gehandelt vnnd geredt, wer vnnd wievil dabeÿ gewesen.“ HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). Siehe auch den Auszug aus der Täuferordnung von 1536 im Anhang. <?page no="127"?> 128 Bild über das Ausmaß der Bedrohung durch die Täufer machen konnte, war die Gefahr zu bekämpfen. In der Ordnung von 1536 ist die Kategorie der täuferischen Vorsteher in zwei Gruppen geteilt. Die erste Gruppe war die der „Redelsfierer oder leer“, denen aufrührerische Ziele unterstellt wurden. 84 Der zweiten gehörten diejenigen Vorsteher an, die zwar „vff Irem Irrthumb verharren vnnd nit widerruffen wolten“, aber bei denen keine Hinweise auf Aufruhrpläne gefunden werden konnten. 85 Als zentrales Merkmal eines Vorstehers lassen sich aus den Text die Kriterien der täuferischen Missionstätigkeit herausfiltern: predigen, lehren und Erwachsene taufen. Innerhalb der Kategorie der Vorsteher stellte im Jahre 1536 die Frage nach der aufrührerischen Motivation das Kriterium dar, nachdem die Vorsteher den beiden Untergruppen zugeordnet wurden. In der gegen Schwenckfelder, Täufer und ‚andere Sekten‘ gerichteten Verordnung aus dem Jahre 1557 wurden - vermutlich in Rückgriffauf die kurz davor auf dem Wormser Religionsgespräch formulierten gesamtprotestantischen Richtlinien - härtere Vorgehensweisen gegen die Vorsteher angemahnt. Das Wormser Bedenken schrieb zur Behandlung der Vorsteher vor, dass diejenigen Anführer, die widerrufen wollten, es nach dem „offentlich gericht“ tun konnten, worauf sie zur erneuten Unterweisung in Gefangenschaft gehalten werden sollten. Diejenigen, die partout nicht von ihren Auffassungen abweichen wollen, sollten als Aufrührer und Gotteslästerer nach der jüngsten Reichsordnung verurteilt werden. 86 In der württembergischen Verordnung von 1559 wurden als Anführer der Täuferbewegung Personen charakterisiert, die Vorsteher waren oder die Untertanen verführt bzw. sich der Obrigkeit gegenüber ungehorsam gezeigt hatten. Gleichzeitig wurde diesen Personen die Hauptschuld an der Ausbreitung der Bewegung zugeschrieben. 87 Entsprechend dem Wormser Bedenken wurden die Täufervorsteher hier eher als Aufrührer als in Glaubensfragen Irrende dargestellt. Die Vorsteher waren von den Amtleuten bei ihrer Festnahme unter der Bedrohung von Folter zu befragen, wann und wo, in wessen Beisein und wie oft sie ihre Zusammenkünfte gehalten hätten. Weiter sollte nach den Kontakten und Mittätern des Gefangenen gefragt werden. Sollten die Vorsteher Aussagen im Verhör verweigern, wurde den Amtleuten in der Verordnung geboten, die Befragung unter Anwendung von Folter fortzusetzen. Die konkreten Bestimmungen zum Umgang mit den Täufern wurden trotz dieser Verschärfung im Tonfall jedoch nahezu wörtlich aus der Täuferordnung von 1536 übernommen. 88 84 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 85 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 86 HStAS A63/ 16 (5. November 1557), f. 8v. 87 HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559). 88 Aus der Ordnung von 1536 wurden für das Verhör der als Täufer Verdächtigten die Forderung nach der Beschreibung der täuferischen Bezugsgruppe, die Überprüfung der Motive des Widerrufs derjenigen, die aus Mähren zurückkehrten, die Frage nach einem geheimen Erkennungszeichen der Täufer sowie die zunächst allgemeine und danach spezifisch auf Württemberg bezogene Frage nach täuferischen Aufruhr- und Mordplänen übernommen. Vgl. HStAS A63/ 4 <?page no="128"?> 129 Als zur Jahreswende 1570/ 71 im Stuttgarter Kirchenrat über eine neue Täuferordnung diskutiert wurde, vertraten die Räte hinsichtlich der Vorsteher verschiedene Meinungen. Der Abt von Adelberg identifizierte die Aufwickler als Personen, die meist aus dem Herzogtum ausgewiesen worden waren. Dem wurde entgegengehalten, „alle ufwickler seien in effectu lehrer, quia informant simplices, bis sies ufwicklen“. In dieser Deutung führte täuferisches Predigen und Lehren unweigerlich zum ‚Aufwickeln‘, zu Unruhen und Aufstand. Die im Kirchenrat beklagten Schwierigkeiten in der Abwehr täuferischer Missionsarbeit wurden darauf zurückgeführt, dass die Vorsteher „allweg ir sachen geschwind usrichten und bi nacht darvon ziehen in andere flecken“. Der Hofprediger Wilhelm Bidembach betonte dagegen, dass die zwei Typen von Vorstehern (‚Lehrer‘ vs. ‚Aufwickler‘) voneinander getrennt betrachtet und verurteilt werden sollten. Weiter sei zu differenzieren, wie lange und wie erfolgreich die predigenden Vorsteher bei ihrer Tätigkeit gewesen seien. 89 Die Frage der gebührenden Strafen löste weitere Meinungsverschiedenheiten aus, die von der Forderung Bidembachs, Täufervorsteher mit Ruten auszupeitschen, hin zur Erörterung der Todesstrafe reichten. Schließlich konnte man sich auf Gefängnisstrafen als wesentliches Strafmittel einigen. 90 Der Jurist Kilian Vogler wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen täuferischer Aktivitäten „dise casus nitt regulieren“ ließen. Vielmehr sollte verständigen Richtern genügend Entscheidungsfreiheit in den einzelnen Fällen gewährt werden. 91 In der auf die Beratungen folgenden Täuferordnung von 1571 wurden unter den Vorstehern je nach dem Grad ihrer Standhaftigkeit verschiedene Typen ausgemacht. Allerdings ging man bei den Vorstehern im Normalfall davon aus, dass sie nicht widerrufen wollten und somit das Kriterium der Halsstarrigkeit ein wesentliches Merkmal eines Vorstehers war. Die Trennung in Aufwickler und Vorsteher ohne revolutionäre Absichten wurde 1571 beibehalten. 92 Die Letzteren sollten, sofern sie sich von täuferischen Lehren und Aktivitäten distanzieren wollen, wie die „andern gemeinen widerteuffer“ behandelt werden. 93 In diesem Fall war es also möglich, von der Kategorie der Vorsteher in die der Anhänger gewissermaßen heruntergestuft zu werden; das heißt, dass der Übergang von einer Kategorie zur anderen möglich war. In der Verordnung von 1571 wurden wie bereits in derjenigen aus dem Jahr 1536 zwei zentrale Tätigkeitsfelder der Vorsteher hervorgehoben: Erstens das Predigen, das meist im Geheimen geschah, und zweitens das ‚Verführen‘ der Untertanen. Die Vorsteher wurden als Personen beschrieben, die „zum theil nit nur In winckheln Predigen und tauffen, sonnder auch darneben ainfelttige arme (Täuferordnung von 1536); HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559). 89 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 2v. 90 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 2v-3r. 91 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 3r. 92 HStAS A63/ 42, f. 30r. 93 HStAS A63/ 42, f. 30r. <?page no="129"?> 130 leuth aufzuwickhlen“ nicht unterließen. 94 Statt von konkreten Aufruhrplänen zu sprechen, wurde 1571 der Begriffdes Verführens benutzt. Damit war sowohl das Verführen durch ‚falsche‘ Lehren als das auch konkrete Wegführen der Untertanen aus ihren gewohnten Strukturen und Lebensbedingungen v. a. in die hutterischen Brüderhöfe in Mähren gemeint („ausser Iren ordenlichen herrschafften vnnd oberkheiten, auch von Iren Ehegemaheln oder die kinder von den Elttern an anndere frembde ort zufüern“). 95 So waren es insbesondere die Täufervorsteher, die „allen dreien statibus“ der Gesellschaft, „Ecclesiae, Politiae vnnd Oeconomiae schaden thun“. 96 Neben der Abweisung der täuferischen Lehren als schädlich und verführerisch wurde aus der Perspektive der lutherischen Landeskirche der Vorwurf gemacht, die täuferischen Vorsteher hätten sich das Predigtamt ohne Befugnis angemaßt. Im Zusammenhang mit seiner Examination sollte ein Vorsteher über die lutherischen Lehren unterrichtet und „seins irrtumbs, auch verderblichen und schedlichen, verfüerischen, von ime selbst angemaßten ambtz des winkelpredigens und ufwicklens“ überzeugt werden. 97 In der Täuferordnung von 1584 wurden die bereits etablierten zwei Kategorien von Vorstehern beibehalten, die sich in ihrer angenommenen Gefährlichkeit unterschieden. Als erstes wurden diejenigen Vorsteher genannt, die ‚einfältige‘ Leute ‚verführt‘ hätten und darüber hinaus alle Auskunft über ihre Tätigkeiten und Glaubensgenossen verweigerten oder nur über abwesende bzw. verstorbene Täufer aussagten, die „kheines weittern einsehens oder nachteils“ zu befürchten hatten. Da an der Erhebung von diesen Informationen für die Obrigkeiten „ein merckhlichs gelegenn“ war, sollten die Anzeigen von den festgenommenen Vorstehern „mit allerhannd vmbstendenn gebracht“ werden; zu diesen Umständen zählte auch die Anwendung von Folter. 98 Der zentrale Anklagepunkt sollte das Abhalten von in Reichsordnungen und Gesetzen verbotenen heimlichen Versammlungen sein, in denen „allerleÿ vnrechts, sonderlich was dem Amptt 94 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 7r. 95 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 7r-7v. 96 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 7v. Hierbei wurde auf die von Luther ummodellierte mittelalterliche Aufteilung der Gesellschaft in drei Stände zurückgegriffen. Nach der Reformation war mit dem status politicus nicht mehr allein der Adel gemeint, sondern „alle, die irgendwie am Regiment beteiligt sind“. Der status ecclesiasticus wiederum wurde auf alle diejenigen ausgedehnt „die mit der Unterweisung zu guten Christen“ zu tun hatten. Der status oeconomicus bezog sich auf das Haus als Familien- und Arbeitseinheit. In Luthers Umdeutung wurden die drei Stände so miteinander verflochten, dass nun „gewissermaßen jeder Mensch an jedem Stand teilhat“. Vgl. Blickle, Das Alte Europa, S. 170f. 97 Ein schriftlicher Bericht über die Befragung eines Solchen sollte zur Kanzlei überschickt werden. Der Bericht sollte eine Beschreibung der täuferischen Laufbahn und Aktivitäten eines Vorstehers sowie die Angabe seiner Kinderzahl beinhalten. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 13r. 98 Da es gerade auf die Weigerung der Denunziation war, die eine weitere Verbreitung des Täufertums ermöglichte, sollten die Vorsteher ab 1584 durch Folter zu Denunziationen bewegt werden können. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 1-3. <?page no="130"?> 131 der Oberkheitt zuwider vnnd zu Zerstörung der Policeÿ vnd gutten Regiments“ gepredigt würde. 99 In der Vorstehergruppe, die als weniger gefährlich angesehen wurde, lassen sich 1584 einige neue Züge beobachten. Als zentrales Merkmal wurde zwar wie bisher die Tätigkeit des Predigens genannt, aber das Taufen von Erwachsenen wurde hier als kategoriensstiftende Handlungsform explizit ausgeschlossen. 100 Beibehalten wurde das Kriterium, dass diese Vorsteher zwar Menschen ‚verführt‘, aber nicht „auffgewickhelt“ 101 hätten. Sie wurden als Menschen beschrieben, die „schreÿbens vnnd Lesens berichttet vnnd ein wenig schwetzen khünden“, jedoch mit ihrem ‚Schwätzen‘ keine aufrührerischen Ziele verfolgten. Sollten sie nach ihrer Freilassung mit dem Predigen fortfahren, sollten sie in die Kategorie der ‚halsstarrigen Vorsteher‘ aufrücken. 102 In der zweiten Kategorie der ‚aufwicklerischen‘ Vorsteher wurde nunmehr als notwendig erachtet, die Haftbedingungen dieser hartnäckigen Anführer im Herzogtum dermaßen zu schärfen, dass sie „selbs hinaus zubegern“ beginnen, oder wenn sie bereits des Landes verwiesen seien, „draussen zubleiben bewegt würtenn“. 103 Die langjährige Beschäftigung der württembergischen Obrigkeiten mit den Täufern hatte die Einsicht erbracht, dass lange Haftzeiten der Vorsteher schon deshalb geboten waren, weil sich diese nicht von einem Tag auf den nächsten bekehren ließen, sondern „[o]b man gleich täglich mit inen handlet vnnd sie darneben gar schlecht und schmal tractirt, halßstarrig vnnd streittig auff Irer maÿnung bleÿben“. 104 Ein wichtiges Merkmal eines täuferischen Vorstehers war also die Kraft und Ausdauer seiner Überzeugung. Weiter wurde in der Ordnung zu bedenken gegeben, dass diese Vorsteher „den leuthen nit nur am zeitlichen gutt, sonder an Irer Seell schaden gethon“ hätten. 105 Die Verfasser der Ordnung erinnerten den Fürsten an seine Pflicht, sich um das Seelenheil seiner Untertanen zu kümmern und Gottes Wort im Lande durch die Abwendung von Irrlehren rein zu erhalten. Sie versicherten ihm, dass die in Erwägung gezogene Anwendung von Tortur und Verhängung von Todesstrafen für Vorsteher in derart ernsten Fällen angebrachte Maßnahmen seien, die man „one verletzung des gewissens“ durchführen könne. 106 Es sei vielmehr 99 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 3-4. 100 So ist diese Kategorie in der Ordnung mit der Überschrift „Von denen Vorstehern, so allein gepredigt, aber niemand getaufft oder die leuth aufgewickhelt“ versehen. HStAS A63/ 42 (28 Januar 1584), S. 8. 101 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 8. 102 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 8. 103 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 12. 104 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 13. 105 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 13. 106 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 14. <?page no="131"?> 132 „verhoffenlich, wann nur ains oder zweÿ solche Ernstliche Exempla statuirt, es werden sich vil vermessene trutzige solche gesellen (die sich bißheer nichts besorgt, sonnder woll gewist, das man gegen Iren Leib vnnd leben streng zu handlen nit so käckh seÿe) daran spieglenn vnnd nit so leichtlich mehr herzu thon, Auch nit bald andere sich inen anhengig machen.“ 107 Mit den ‚trotzigen Gesellen‘ waren hier vermutlich die seit den 1570er Jahren verstärkt in Württemberg predigenden hutterischen Sendboten gemeint, die in der Regel zweimal jährlich auf Missionsreisen aus Mähren ins Herzogtum kamen. 108 Diesen wurde hier neben ihrer festen Glaubensüberzeugung ein gewisses Maß an Übermut zugeschrieben, da sie trotz angedrohter Strafen unbeirrt ihren Tätigkeiten nachgegangen seien und sich darauf verlassen hätten, diese würden an ihnen nicht vollstreckt werden. 3.2.2. Die Anhänger als Träger der Bewegung Diejenigen Täufer und Täuferinnen, die der Bewegung zwar angehörten, aber keine Prediger, Lehrer oder Vorsteher waren und keine Taufen vollzogen, wurden in den Ordnungen als ‚gemeine‘ Täufer bzw. Täuferinnen bezeichnet. Zahlenmäßig stellten sie die größte Gruppe dar, wurden jedoch in ihrer Gefährlichkeit nicht so hoch eingestuft wie die Vorsteher. Dennoch wurde gerade ihre Bekehrung bei der Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Täufertums als äußerst wichtig erachtet. Die Angehörigen der Kategorie der ‚gemeinen‘ Täufer und Täuferinnen beschreibt die Ordnung von 1536 als „ainfeltig[e]“ und „vnuerstendig[e]“ Leute. Dabei spielte es zunächst keine Rolle, ob sie „getaufft oder vngetaufft“ waren. Entscheidend war ihr Rezipientenstatus: ‚Gemeine‘ Täufer und Täuferinnen zeichneten sich 1536 vor allem dadurch aus, dass sie den Predigten der Vorsteher beiwohnten. 109 Sie konnten nach abgelegtem Widerruf und unterzeichneter Urfehde begnadigt werden, in der sie sich erstens von Täufern und täuferischen Praktiken wie „winckell predigern vnnd zusamen schlupffung“ distanzierten und versprachen, ihre Kinder taufen zu lassen. 110 Zweitens sollten sie sich zur Gehorsamkeit der Obrigkeit - und zwar nicht allein dem Landesherrn, sondern „auch vnsere[n] verordneten amptleuten“ - gegenüber verpflichten. Des Weiteren sollten sie fleißig die lutherischen Gottesdienste besuchen und nichts gegen den offiziellen Glauben „leren, Reden, noch sonsten nichts dem zuwider annemen“. Selbstverständlich sollte jede Unterstützung der Täufer, wie etwa ihre Beherbung, unterbleiben. Vielmehr sollten sie ehemalige Glaubensgenossen den obrigkeitlichen Amtsträgern anzeigen. So 107 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 14. 108 Vgl. Clasen, Wiedertäufer, S. 45, 66f. 109 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 110 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). <?page no="132"?> 133 „sollen sie furohin kaÿnen frembden predicanten, widerteuffer, winckel prediger, landstraiffern oder dergleichen mans oder weibs personen anhangen noch sie entziehen, heusern, höffen, herbergen noch ainichen fürschub 111 thon, sonnder so solliche leut mer zu Inen, einem oder mer, komens, die woll verwaren, behalten vnnd dieselbigen als bald bÿ Iren eiden Irer oberkait anzaigenn“. 112 Ähnlich wurde der Inhalt der Urfehde in der Verordnung von 1559 angelegt, nur dass hier den Männern als weitere Pflicht auferlegt wurde, ihre Ehefrauen genauer zu überwachen. 113 In der Besprechung der neuen Täuferordnung zur Jahreswende 1570/ 71 wurden schließlich die Handlungsformen näher beschrieben, an denen man die Anhänger der Täuferbewegung erkennen könne: „Die verdachten haben Ire signa, quia absentant se ab ecclesia, Item ex sermonibus, vertheidigen die widerteuffer etc. Item man kann Inen nimer mehr Recht thun etc. daruß schliessen sie Es sei nitt die Recht Kirch.“ 114 Erkennbare Zeichen eines Täufers oder einer Täuferin waren demnach neben dem nachlässigen Kirchgang und der Verteidigung der Täufer auch eine abwehrende Gesamthaltung der lutherischen Kirche gegenüber. Diese wurde auch offen zum Ausdruck gebracht, etwa durch die Verteidigung der Täufer oder ein störrisches Auftreten gegenüber den Vertretern der Obrigkeiten. Einen Anlass für Gegenmaßnahmen stellte bereits der Verdacht dar, Täufer oder Täuferin zu sein. 115 Wenn eine Person sich nach dem Durchlaufen der verschiedenen „gradus“ - hier werden insbesondere Belehrung und Bedenkzeit genannt - ihre Standpunkte nicht offen legte und die gegebenenfalls täuferischen Ansichten nicht widerrufen wollte, sollte sie „für ain widertheuffer gehallten werden“. 116 Bereits im Vorfeld der Täuferordnung von 1571 wurden weitere Maßnahmen und die angemessene Länge der gegebenenfalls gewährten Bedenkzeit diskutiert. 117 Dabei wurden die Täufer und Täuferinnen nach ihren jeweiligen Handlungsmustern verschiedenen Gruppen zugeordnet, so dass Kategorien wie die der „suspectis“, „pertinaces“ und „simplices“ (so der Jurist Kilian Vogler) oder der „gemeinen schl[i]chten 118 111 Im Original irrtümlich „fürstenthumb“. Vgl. QGT I, S. 58 (Anm. f ). 112 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 113 HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559). 114 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 4r. 115 „Hierumben wa ain Person De Baptismo Infantium suspect vnnd verdechtig befunden: hatt man vrsach vnnd aufzeigung gnug, gegen Ir der gebür nach zuhanndlen.“ HStAS A63/ 42 (16 Januar 1571), f. 4r. 116 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 4r. 117 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 4r-4v. 118 Gustav Bossert weist darauf hin, dass im Original ein Schreibfehler unterlaufen sein muss, so dass an dieser Stelle nicht etwa die Zuschreibung „schlecht“, sondern „schlicht“ gemeint sein muss. Vgl. QGT I, S. 283 (Anm. 2). <?page no="133"?> 134 widertheuffern“ und der „widerkhommne poenitentes“ (so der Kirchenratsdirektor Kaspar Wild) aufgestellt und benutzt wurden. 119 Die Zuordnung der einfachen Täufer und Täuferinnen in diese Gruppen erfolgte gemäß dem Grad ihrer Zurechnungsfähigkeit (die „simplices“), ihrer Verdächtigkeit (die „suspectis“) oder ihres Eigensinns (die „pertinaces“) bzw. ihrer Reumütigkeit (die „poenitentes“). Diese bereits in früheren Ordnungen benutzten Kategorien wurden von den Anwesenden als ausreichende konzeptuelle Mittel angesehen, um mit der Erkennung und der Bekämpfung der einfachen Täufer und Täuferinnen fortzufahren. Es wurde einstimmig dafür plädiert, die alten Ordnungen soweit wie möglich in Kraft zu halten, jedoch mit der Option, sie in Zukunft nach Bedarf zu verfeinern und zu verbessern. 120 Ein Absatz der Ordnung von 1571 ist denjenigen Anhängern gewidmet, die sich trotz ihres Landesverweises im Herzogtum aufhielten oder Württemberg gar nicht erst verließen - eine aus gegebenem Anlass entstandener Typus von Täufern und Täuferinnen („Es hatt sich auch bißher ettwan zugetragen vnnd will schier Jetzo vnnder den widerteuffern gemein werden“ 121 ). Einigen der Täufer und Täuferinnen wurde dabei eine äußerst selbstbewusste Haltung zugeschrieben, aus der heraus sie argumentierten, sie würden sich nur dort aufhalten, „wa sie Gott hinfüere und beglaitte“. Außerdem vermeldeten sie, „das man Inen (weil sie weder geraubt noch gestolen) das Lannd zuverbietten nit fug vnnd macht habe, Vnnd sie sich des selben zuversziehen nit schuldig, dann die erd vnd alles was darinn seie deß herrn“. 122 Im Gegenzug formulierten die Räte, dass ein landesverwiesener Täufer, der ohne Erlaubnis das Herzogtum betrat, inhaftiert werden sollen, „biß er selbs Ine wider hinziehen zu lassen begerte vnnd das Lannd zu meiden verspreche“. 123 Bei wiederholtem unbefugtem Aufenthalt im Herzogtum sollte man den Festgenommenen nicht mehr „der Religion halb, sonder von Wegen seines trutz, vngehorsambs vnd verachtung für recht zustellen, Peinlich zubeclagen vnnd waß erkhennt, an Ime zuvolstreckhen“. 124 Aus der Kategorie eines Täufers oder einer Täuferin konnte man also durchaus in das eines weltlichen Delinquenten (Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit) verschoben werden, der mit einem härterem Vorgehen zu rechnen hatte. Eine christliche Obrigkeit könne so einen „frävenlichen mutwilligen vngehorsam“ nicht dulden, insbesondere nicht, weil durch einen zu milden Umgang mit diesen Menschen „allerhand beschwerung vnnd vnrath“ erfolge. Dieser ‚Unrat‘ 119 HStAS A282/ 3084 Nr. 4, f. 4v. 120 HStAS A282/ 3084 Nr. 4, f. 5r. 121 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 35r. 122 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 35r. 123 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 35v. 124 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 36r. <?page no="134"?> 135 könne im schlimmsten Falle, sollten die ungehorsamen Untertanen „vberhannd nemen“, im Versuch bzw. in dem Wunsch der Ungehorsamen gipfeln, „den herrn und gehorsame undertonen selbs usser dem land zu treiben“. 125 Ähnlich sollte eine Kategorienverschiebung vorgenommen werden, wenn ein Anhänger nach seiner Ausweisung das Herzogtum wieder beträte und es sich herausstellte, dass er während seinem Exil „zu einem vorsteher gerathen“ sei und sich nicht von seinen täuferischen Ansichten abbringen lasse. Eine solche Person könne nicht mehr ausgewiesen werden, damit sie in fremden Herrschaften keinen Schaden anrichten könne. Er oder sie sei dann, wie es bereits bei den Täufervorstehern vorgeschrieben war, in Württemberg in Gefangenschaft zu halten. 126 Generell neigten die Kirchenräte um 1570 dazu, unter den Anhängern der Täufer „vil ainfeltige vnnd guthertzige leuth” zu sehen, „die von den anndern hälschleichern arglistig hinderfüert vnnd mit gleissendem schein In Irer ainfallt Irr gemacht werden“. 127 Auch 1584 wurden viele der Täuferanhänger als einfältige Leute dargestellt, die „gleichwol aus anderer verfürung vnnd ainem unzeittigen eÿfer ein streÿtt gefast vnd nit daruon abzuweÿsen, darneben aber nit trutzig, sonder ainfelltig seÿen, Vnnd ettwan gernn beÿ Weÿb vnnd Kindernn vnnd Irem Haußhalttungen bleÿbenn wölttenn“. Mit solchen Personen sei, sofern sie sich zum Predigtbesuch verpflichteten, „gedult zutragenn“. 128 Hier wurde der Glaubenseifer der einfachen Täufer und Täuferinnen anerkannt, soweit so etwas für eine lutherische Obrigkeit überhaupt möglich war. Gleichzeitig wurden - nach wie vor - die Vorsteher für den Schaden des Täufertums verantwortlich gemacht. Vielsagend ist die unterschiedliche Einschätzung der einfachen Täufer und Täuferinnen und der Täufervorsteher: Die Ersteren haben in ihrer „ainfallt ain streitt gefaßt“, die Letzteren aber seien „geschmitzt vnnd abgericht“. 129 Den ‚gemeinen‘ Anhängern gegenüber hieß es „billich ain Christlich mittleiden“ zu zeigen und keine Gelegenheit zur Belehrung und Bekehrung zu versäumen und sie nach erfolgtem Widerruf wieder als Mitglied der christlichen Gemeinschaft aufzunehmen. 130 Hier bot sich den Verfassern die Möglichkeit, sich als Obrigkeit zu zeigen, die den gutherzigen, in die Irre geführten Untertanen gegenüber christliche Liebe und Milde walten ließ und keinen das Seelenheil derselben gefährdenden Häresien im Territorium Raum ließ. 131 125 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 36r. 126 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 36v. 127 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 30v. 128 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 19. Zum obrigkeitlichen Bild von den Täufern als einfältige „common people“ siehe auch Haude, In the Shadow, S. 24, 27. 129 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 33v. 130 Entsprechend sollte mit den einfachen Täufern und Täuferinnen milder als mit den Vorstehern umgegangen werden. Auch die des Landes verwiesenen oder freiwillig ausgetretenen einfachen Täufer und Täuferinnen, die wiederkamen, „demüettig“ bekannten, dass sie „vnrecht“ gehandelt hatten und um Gnade baten, seien „aus Christlicher lieb [...] als ein mittglid vnnserer Kürchen aufzunemmen“. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 31r-32v. 131 Vgl. Willoweit, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 364. <?page no="135"?> 136 Wie bereits erwähnt, war in der Ordnung von 1584 für die Befragungen der Vorsteher die Nutzung der Folter vorgesehen, wenn diese Auskünfte verweigerten. Diese Regelung sollte in dieser Ordnung auch für „gemeine Widertauffer“ Gültigkeit bekommen, „die auch nit anzeigen wöllen, wo vnd an welchem ortt sie beÿ den Widertaufferischen versamblungen gewesenn, wer selbigen weitter beÿgewonet“. Allerdings sollte die Tortur gegen die Anhänger „ettwas miltter als gegen ainenn Rädlinsfüerer“ gebraucht werden. Doch nicht nur nach dem Grad des Täuferseins wurde unterschieden. Bemerkenswert ist in der Ordnung von 1584 auch der nach dem Ort bzw. der Öffentlichkeit der Glaubenspraktizierung vollzogene Unterscheidung. Diejenigen Täufer, die keinen (halb-)öffentlichen Konventikeln beigewohnt hatten, „sonnder ettwan priuatim verwÿsenn und Irr gemachtt wordenn“ waren, sollten von der Folter verschont werden. 132 Es wird hier deutlich, wie gefährlich die im Geheimen abgehaltenen und somit für die Obrigkeiten weitgehend unkontrollierbaren Versammlungen der Täufer eingeschätzt wurden. Weniger bedrohlich schien täuferische Frömmigkeit im häuslichen Kreis zu sein, zumindest solange sie diesen privaten Rahmen nicht verließ. Wie zu Beginn der 1570er Jahre, musste sich die Kirchenleitung auch in den 1580ern mit der Frage auseinandersetzen, wie diejenigen Täufer und Täuferinnen einzuschätzen waren, die zwar aus dem Herzogtum ausgewiesen worden waren, sich aber trotzdem dort aufhielten oder das Herzogtum gar nicht erst verließen. Die Ordnung von 1571 sah in solchen Fällen eine Turmstrafe und gegebenenfalls weitere Verhöre unter Einsetzung der Folter vor. Da diese Maßnahmen das Problem jedoch nicht behoben hatten, wurde ein gutes Jahrzehnt später vorgeschlagen, dass die nicht auswandern wollenden Täufer an die Landesgrenze gebracht werden sollten und dort nochmals ernstlich daran zu erinnern waren, „sich one begnadigt nit wider herein zubegeben“. 133 Bei weiterem unerlaubten Aufenthalt im Herzogtum sollte der Vorgang noch zweimal wiederholt werden. Beim dritten Mal jedoch waren die Täufer und Täuferinnen, die das Herzogtum „offentlich ongescheucht, mit Trutz“ betreten würden, wie die hartnäckigen Vorsteher behandelt werden und „an Leib vnd leben“ bestraft werden. 134 Wieder einmal galten denjenigen ‚gemeinen‘ Täufern und Täuferinnen, die in den Vernehmungen als verführt und demütig genug eingeschätzt wurden, mildere Regelungen: „Wo dann ein solcher ainfalttiger, der doch über allen vnderricht vnnd vermanung auffseinem streit beharrete vnnd darüber des Landts verwÿsen würde, Aber heimblicher stiller weÿß, ettwan seiner Weÿb vnd Kinder, Elttern oder Verwantten halb, für sich 132 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 6-7. 133 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 18. Die Täufer machten nicht als Einzige von dieser Praxis Gebrauch. Vielmehr war die unerlaubte Rückkehr von Landesverwiesenen in Württemberg im 16. Jahrhundert eine gängige Handlungsform. Vgl. Scribner, Mobility, S. 80. 134 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 18. <?page no="136"?> 137 selbs herein keme vnd doch keinen Trutz übete, gegen dem möchtte diesergestalt ettwas einsehens geschehen.“ 135 Ausschlaggebend schien zu sein, dass die Heimkehrenden sich ‚still‘ und ‚heimlich‘ verhielten und nicht etwa ‚öffentlich‘ und ‚trotzig‘. Das Einsehen bestand darin, dass diese Täufer nicht nur zwei, sondern viermal das genannte Urteil, das Land zu verlassen, verhängt bekamen. Eine Todesstrafe war demzufolge erst beim fünften unerlaubten Aufenthalt im Herzogtum vorgeschrieben. 136 3.2.3. Die Sympathisanten als Beschützer der Täufer Die dritte Hauptkategorie ist die der Sympathisanten und Unterstützer der Täufer, die in den Ordnungen meist ‚Receptatores‘ genannt wurden. Die Auseinandersetzung mit den Sympathisanten der Täufer gewann im Laufe der Jahrzehnte immer größere Bedeutung, als die Unterstützung der Täufer durch die Bevölkerung als Ursache für die nicht zurückgehenden Täuferzahlen erkannt wurde. An diesem Punkt wurden in anderen Worten Modifikationen bzw. Erweiterungen im obrigkeitlichen Kategoriensystem vorgenommen, die auf der konkreten Visitations- und Vernehmungstätigkeit der als Täufer verdächtigten Personen basierten. In der Ordnung von 1571 sahen die Kirchenräte viele der Schwierigkeiten der Täuferbekämpfung gerade in der Unterstützung der Täufer durch die Bevölkerung begründet: „dann da nit leuth gewesen, so die verwisne vnnd außgetrettne oder auch frembde fürraÿsende Sectarios vnnd widerteuffer beherbergt, aufenthaltten vnd Inen fürschub vnnd befürderung gethon, hette es an vilen orten mit solcher Sect nit dermassen einreissen vnnd vberhand nemmen khünden.“ 137 Obwohl von den missionierenden Vorstehern weiterhin Impulse ausgingen, hätten diese Tätigkeiten ohne das Wohlwollen der lokalen Bevölkerung kein Gehör finden und somit keine Wirkung entfalten können. In den Ordnungen von 1571 und 1584 wurde innerhalb dieser Kategorie zwischen vier Typen von Sympathisanten unterschieden, von denen drei mit den Täufern in einem verwandtschaftlichen Verhältnis standen und die vierte aus denjenigen Personen bestand, die zwar keine Blutsbande zu den Täufern hatten, diese aber aus anderen Gründen unterstützten. Zu den verwandten Sympathisanten zählten zunächst diejenigen, deren Ehepartner ausgetreten oder ausgewiesen waren sowie diejenigen, deren Eltern bzw. Kinder den Täufern angehörten. Dazu kamen als dritte Gruppe diejenigen, die entferntere Verwandte in ihren täuferischen Lebensweisen unterstützten. Die vierte Gruppe der nicht-verwandten 135 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 19-20. 136 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 20. 137 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 55v. <?page no="137"?> 138 Sympathisanten betraf unter anderem Lehnsleute, Amtmänner und benachbarte Herrschaften, die Täufer auf ihren Gebieten duldeten. 138 Die Ordnung von 1571 betonte nachdrücklich, dass es wichtig sei, die unterschiedlichen Motive der Sympathisanten zu berücksichtigen. Wenn sie den Täufern und Täuferinnen aufgrund von religiöser Gleichgesinnung Hilfe erteilten, machten sie sich selber als Täufer strafbar und sollten entsprechend als der Kategorie der ‚gemeinen‘ Täufer und Täuferinnen zugehörig behandelt werden. Anders verhielte es sich jedoch, wenn „ainer allein aus Mittleiden vnnd freundtschafft oder vnbedechtlich ainen vnderschlauffte“. Es wurde Verständnis dafür gezeigt, dass die nächsten Familienangehörigen der Täufer und Täuferinnen diese nicht denunzierten, schließlich wäre dieses „contra naturalem affectum“. 139 Entsprechend könne man „solcher Personen halb khein ernstliche straffdarauf setzten“. 140 In diesen Fällen hieß es, die jeweiligen Umstände genauer zu berücksichtigen. Es wurde sogar die Erlaubnis erteilt, die Unterstützung täuferischer Familienangehöriger ein bis zwei Mal hinzunehmen. 141 Insbesondere blieb von Fall zu Fall zu erwägen, inwiefern das täuferische Familienmitglied Schaden angerichtet hatte. Andere Verwandte und insbesondere nicht-verwandte Sympathisanten dagegen, „welche freundtschafft oder verwandtnüs halb khein entschuldigung oder vrsach haben“ 142 , wurden in weitaus härteren Worten beurteilt. Nachbarn seien, sobald sie von täuferischen Kreisen und Aktivitäten wüssten, solches aber nicht anzeigten, ebenfalls wie Sympathisanten zu behandeln. 143 Auch hier zeigen sich die Grenzen zwischen den Kategorien durchlässig. Es ist im Hinblick auf die Verhandlungssituation der Visitation bemerkenswert, dass man als Täufer bzw. Täuferin behandelt werden konnte, ohne die ihnen zugeschriebenen Glaubensauffassungen zu teilen. Es reichte für die als Sympathisanten vorgeladenen Nachbarn, Freunde und Familienangehörige der Täufer und Täuferinnen somit nicht aus, 138 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 55v-56r. Vgl. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 23-24. Was die Lehnsleute angeht, auf deren Eigentum sich Täufer und Täuferinnen aufhielten, hielten die Räte, dass den Lehnsleuten geschrieben werden soll, „solchen vnnderschlauffgentzlich abzuschaffen“. Als „Directus Dominus“ stehe das dem Landesherren zu, selbst wenn ein anderer das „Exercitium“ habe. Außerdem sei „in Iure communi verbotten vnnd versehen, das khein Lehenmann Haereticos vnderschlauffen, hausen vnd herbergen solle“. Die genannten Diener, d. h. die Amtmänner im Herzogtum, sollten ernstlich bestraft werden, und diejenigen, die in ihren Amtsbehausungen Täufer oder Täuferinnen untergebracht hätten, sollten „als vntauglich Irer Ämbter entsetzt werden“. Mit benachbarten Herrschaften müsse man versuchen, freundschaftlichen Kontakt aufzunehmen und Zusammenarbeit aufzubauen. Wenn allerdings „solch nachpurlich ersuchen nit stattfinden woltte, khündte man alßdann bei der Kaÿ. Maÿ. oder dem Schwäbischen Kraÿß, wie man zu rath wurde, anbringen thun“. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 58r-59r. 139 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 56r-56v. 140 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 56v. 141 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 57r. 142 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 57v. 143 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 57r-57v. Für ähnliche Versuche der Obrigkeiten in der Schweiz siehe Leu, Täuferische Netzwerke, S. 181-185. <?page no="138"?> 139 sich von den täuferischen Lehrartikeln zu distanzieren, sondern es war zudem notwendig, die Visitatoren von der eigenen Unschädlichkeit bzw. dem Gehorsam gegenüber den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten zu überzeugen. Die in der unveröffentlichten Ordnung von 1571 zu den „receptatorn“ der Täufer getroffenen Regelungen wurden 1584 ergänzt und bestätigt. Dieser Gruppe wurde eine wichtige Rolle zugemessen, da insbesondere die fremden Täuferprediger ohne Unterstützung aus der Bevölkerung „nicht leichtlich wider herein ins land kommen kunden“. So sollten die „receptatores“ strenger behandelt werden als zuvor, auch wenn die Bestimmungen von 1571 weitgehend in Kraft blieben. 144 Damals hieß es über die nächsten Verwandten, die den Täufern oftmals Unterschlupf boten: „Wann nun darüber von Ehegemechten, Elttern oder kindern ain simplex receptatio eruolgte, möchte mans, sonderlich da nit schaden geschehen, ain mal zwei hingehn lassen, doch abermals vermannen, das drittmal aber mit ainer Kleinen freuel vnnd das viertmal mit der fengnus straffen.“ 145 Ein gewisser Raum für Nachsicht war auch in der Ordnung von 1584 vorgesehen, solange es Familienbande waren, die den Täufern Loyalität entgegenbrachten. Ausschlaggebend war auch hier, dass kein Schaden für die Herrschaft entstanden war, d. h. das nicht offen gepredigt, getauft und missioniert wurde. Diese Regelung wurde 1584 durch die Bestimmung ergänzt, wie man mit den Unterstützern der Täufer verfahren sollte, „so nichts verwant seÿenn vnd Irer Receptation gar kheinen praetextum haben“. 146 So wurde dem Zusammenhalt von Familien von obrigkeitlicher Seite eine großere Bedeutung eingeräumt als den religiösen Irrtümern eines Einzelnen, solange diese nicht aktiv verbreitet wurden und größere Kreise ziehen konnten. 3.2.4. Eigensinnige Frauen Bereits in der Täuferordnung von 1536 waren Frauen als Akteurinnen genannt worden, die sich aktiv für die Verbreitung täuferischen Gedankenguts einsetzten. Wie Marion Kobelt-Groch herausgestellt hat, ist dies bemerkenswert, könne es doch keineswegs als selbstverständlich gelten, dass die württembergischen Gelehrten „sich über ‚widertauferische weiber‘ den Kopf zerbrachen“ 147 . Zwar ging die Ordnung in seiner Gesamtheit von dem männlichen Täufer als Normal- 144 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 23. 145 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 57r. 146 Die ersten zwei Male sollte die Beherbergung eines Täufers den Gastgeber jeweils fünfzehn Gulden Strafgeld kosten. Wenn das Geld wegen Armut nicht eingezogen werden konnte, sollte der Unterstützer eine entsprechende Gefängnisstrafe absitzen. Beim dritten Mal sei er vor Gericht anzuklagen und nach Ermessen des Richters zu behandeln. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 23. 147 Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 50. <?page no="139"?> 140 fall aus, doch Frauen wurden in die Kategorie der mobilen und gut vernetzten Anführer, die die Gefährlichkeit der Täuferbewegung ausmachten, explizit mit einbezogen, indem von „frembden predicanten, widerteuffer, winckel prediger, landtstraiffern oder dergleichen mans oder weibs personen“ die Rede ist. 148 Bereits eingangs schreibt die Ordnung aus, es sollen gleichermaßen verdächtige „frawen vnnd mans personen“ von den Amtmännern festgenommen werden. 149 In der Ordnung aus dem Jahre 1559 wurden die täuferischen Männer und Frauen ebenfalls zusammen genannt, die sich den Täufern aus ihrer Einfalt heraus angeschlossen hätten. Sollten sie sich nach vorgenommener Ermahnung und Belehrung nicht von ihren Auffassungen distanzieren, seien die Männer auf dem Boden eines Turms und die Frauen ihrerseits in einem Frauengefängnis zu inhaftieren. 150 Obwohl die vorgeschriebenen Haftstrafen eine Trennung zwischen weiblichen und männlichen Anhängern der Täufer vornahmen, wurde hinsichtlich der Motive, des Auftretens und der Handlungsweisen der Täufer und Täuferinnen nicht nach dem Geschlecht unterschieden. Der entscheidende Punkt für die Behandlung der Dissidenten war „einzig und allein die Gefährlichkeit der betreffenden Person“. 151 In der Täuferordnung von 1584 wurde für eigensinnige Täuferinnen schließlich eine eigene, geschlechterspezifische Kategorie eingeführt. Diese Erweiterung der bisherigen Kategorien wurde aus aktuellem Anlass heraus entwickelt, nachdem die Visitatoren und die Kirchenleitung über mehrere Jahre hinweg die Erfahrung gemacht hatten, „das Weibspersonen (deren Ehemenner gleichwoll nit Widerteufferisch, sonder in der Religion richttig) von andern verfüert vnd Irr gemacht wordenn vnnd sich auffordenliche gepflegtte Hanndlung vnd angekertten fleiß, weder durch die Superattendenten vnnd Ampttleutt, noch beÿ der Cantzleÿ, auch vngeacht Irer Ehemenner erinnerunng vnd flehentlichs bittenn nit abweÿsen lassen wöllenn, sonnder auff Irem Irthumb beharret“. 152 Die Frauen wurden hier als besonders empfänglich für die Verführung durch falsche Lehren beschrieben. 153 Diese „Irrige[n] vnd Halssterrige[n] Weÿber“ 154 148 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 149 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 150 HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559). 151 In der Praxis sind Frauen Kobelt-Groch zufolge teilweise nachsichtiger behandelt worden als Männer, schätzte man sie doch „von vornherein als weniger gefährlich“ ein, vgl. Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 50f. Zum strafrechtlichen Umgang insbesondere mit schwangeren Täuferinnen siehe Dies., Mouldered Away. 152 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 29. 153 Dies entspricht einem durchaus gängigen Frauenbild der Zeit, vgl. Haude, Gender Roles, S. 446; Rublack, Crimes of Women, S. 13; Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 661. 154 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 31. <?page no="140"?> 141 zeichneten darüber hinaus durch ihre feste Überzeugung und ihr aktives Engagement für das Täufertum aus. Geht man davon aus, dass die meisten in den Täuferakten auftauchenden Frauen „supporting rather than leading roles“ 155 spielten, muss angenommen werden, dass dies eine sehr spezifische Kategorie war, die für die schwierigsten weiblichen Fälle reserviert wurde. Diese Frauen wurden als alles andere als lediglich passive Rezipienten oder Sympathisanten täuferischer Lehren beschrieben, sondern trugen aktiv und zur Verbreitung täuferischer Gedanken bei. 156 An anderer Stelle wurden sie als Personen mit einem „vnzeittigen eÿfer“ charakterisiert, die „bißweÿlen wol schreyen“ könnten - in anderen Worten ihre Standpunkte vehement verteidigten, wie ‚unsinnig‘ diese aus der Perspektive der Kirchenleitung her auch sein mochten. 157 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die täuferischen Aktivitäten dieser Frauen gegen den Wunsch ihrer Ehemänner erfolgt sein sollen, die einen Ruf als rechtgläubige Lutheraner hatten. Somit verweigerten diese Frauen nicht nur - wie per definitionem alle Täufer - den Gehorsam gegenüber den jeweiligen Vertretern der Landeskirche und Landesherrschaft. Sie verstießen außerdem gegen die Pflicht einer christlichen Ehefrau, sich dem Willen des Ehemannes unterzuordnen, wodurch die patriarchal strukturierte Ordnung des protestantischen Haushaltsideals grundlegend bedroht war. 158 Demnach übertrat eine aktive und überzeugte Täuferin noch eine Norm mehr als ihr männlicher Glaubensgenosse. So ging es Marion Kobelt-Groch zufolge den Verfassern der Ordnung und Erfindern dieser neuen Kategorie vor allem darum, „das vermeintlich schwächere Geschlecht in seine Schranken zu verweisen und wirksam zu disziplinieren“. 159 An diesem Punkt wird deutlich, dass unter dem Deckmantel der Täuferbekämpfung nicht nur unmittelbar mit den Täufern als religiöses Phänomen in Zusammenhang stehende Debatten geführt werden konnten, sondern auch andere gesellschaftliche Ordnungen ausgehandelt wurden. 160 155 Haude, Gender Roles, S. 430. 156 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 32. Siehe auch Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 61. 157 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 31. 158 Vgl. Rublack, Crimes of Women, S. 8, 198; Roper, The Holy Household, S. 252; Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond “ , S. 88. Allerdings gehörte die Unterordnung der Ehefrau auch in die täuferischen Ehekonzepte, vgl. Haude, Gender Roles, S. 440, 451-455. 159 Diese These wird laut Kobelt-Groch durch die Tatsache gestützt, dass aus Württemberg keine Fälle überliefert sind, in denen täuferische Männer in Ketten gelegt worden sind. Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 52, 56. Ähnlich schätzt Haude, Gender Roles, S. 455f., die obrigkeitliche Wahrnehmung und Behandlung der Täuferinnen ein. 160 Die Negativgestalt einer täuferischen Frau konnte auch in anderen Textgattungen eingesetzt werden, wie Marion Kobelt-Groch am Beispiel eines Ehespiegels des württembergischen Pfarrers Thomas Birck aus dem Jahre 1598 gezeigt hat. Die Figur der Täuferin wurde im Ehespiegel als „literarisch und didaktisch volksnah geschmiedete Waffe im Kampf gegen die Täufer“ sowie als „Plädoyer für die lutherische Ehe“ genutzt. Der Ehespiegel soll in Cannstatt von der Gemeinde aufgeführt und begeistert aufgenommen worden sein. Kobelt-Groch, Geldgierig, gewalttätig und verlogen, S. 112. <?page no="141"?> 142 Dass für Frauen erst in den 1580er Jahren eine eigene Kategorie vorgesehen wurde, mag daran gelegen haben, dass man sie bislang zwar als Akteure registriert hatte, das Geschlecht aber an sich kein relevanter Faktor in der Konstruktion der Täuferbilder gewesen war. Im Laufe des 16. Jahrhundert wurden die Frauen wurden aufgrund der gemachten Erfahrungen - etwa dem wiederholten Bedarf, in den Visitationen mit täuferischen Frauen zu verhandeln - als gefährlicher oder ‚schädlicher‘ eingestuft als früher. 161 So skizzierte die Kirchenleitung im Jahre 1584 das Schreckensszenario, dass diese Frauen „ettwan beÿ nächtlicher weÿll haimblich an andere ortt wandlen vnnd vnnder den leutenn, sonnderlich andern Weÿbspersonen, dennocht auch schaden thun“. 162 Obwohl entsprechende Strafbestimmungen in den früheren Täuferordnungen fehlen, muss die Ankettung bereits vor der Täuferordnung von 1584 eingesetzt worden sein. Die Strafe war für Frauen entwickelt worden, die nach den geltenden Richtlinien aufgrund ihres Beharrens auf ihren täuferischen Auffassungen hätten aus dem Lande verwiesen werden müssen. Die Ausweisungen seien aber durch die Supplikationen der Ehemänner und angesichts der kleinen Kinder der Familien zu dieser Form von Hausarrest abgemildert worden. Es handelte sich somit um Fälle, in denen auf ein Bitten der Angehörigen hin ein Kompromiss zwischen den Parteien abgeschlossen worden war. Zentrales Anliegen war es bei dieser Maßnahme, die Kontakte der Frauen zu anderen Täufern oder potentiellen Konvertiten zu unterbinden. Als strafminderndes Argument waren die Schwierigkeiten in der Haushaltung und im Familienleben angeführt worden, die sich aus der Strafe ergäben und womöglich in ihrer Schädlichkeit für das Gemeinwohl die von der eigensinnigen Frau ausgehenden Gefahren überstiegen. 163 Im Jahre 1584 wurde die Wirksamkeit der Ankettungen bemängelt, da die betroffenen Frauen vielfach von ihren Ehemännern oder dem Gesinde aus den Ketten befreit worden waren. So wurden hier auch ein schärferes Vorgehen sowohl für die Frauen als auch ihre Männer und weitere Mitglieder des Haushaltes gefordert. Schuldig für diesen „betrug“ 164 wurden allerdings eher die täuferischen Frauen als die Männer oder das Gesinde gemacht, die von den Täuferinnen unter Druck gesetzt worden seien, sie zu befreien. Dennoch sollten auch die Mittäter die Ernsthaftigkeit der Lage zu spüren bekommen, weshalb in der Ordnung auch für sie volle Strafen angeordnet wurden. Den Ober- und Unteramtleuten wurde in diesem Zusammenhang eingeschärft, sich angesichts der vielfältigen Tricks 161 Haude, Gender Roles, S. 457f. 162 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 31-32. 163 „Als aber mit vielen grosse beschwerung, der Kleinen vnerzognen, Auch ettwa seugender Kinder halb fürgefallenn, Darumbenn auch durch die Ehemenner flehenlich vnd kläglich vmb einsehens angesucht worden, hatt man in solchen fällen ettwas miltterung gethan, Vnnd ein solch Weÿb dem Mann in sein Hauß an ein Kettin gegeben. Vnnd den Ampttleuttenn ernstlich befohlen, Inen keinen zugang zugestattenn Vnd daß solche Irrige Weÿber weder die Ieren, noch annder leutt zuverweÿsen vnnderstehn, gutt achtung zu gebenn.“ HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 29-30. 164 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 31. <?page no="142"?> 143 dieser trügerischen Frauen „nit blenden oder leichtlich abwenden zulassen“. Statt dessen sollten sie alle vier oder sechs Wochen unangemeldete Besuche in den Häusern der Täuferinnen abstatten, um sich ein verlässliches Bild von der Situation machen zu können. 165 Die Kategorie von den „Widertaufferischen Weÿbern“ 166 von 1584 weist in aller Deutlichkeit auf die Praxis der württembergischen Obrigkeiten hin, die Richtlinien zur Täuferbzw. Sektenbekämpfung nach Bedarf zu ändern. Sie zeigt auch, dass die familiären Umstände auf das Bitten der Angehörigen hin tatsächlich zu berücksichtigt wurden - und gleichzeitig, dass genau diese Berücksichtigung der jeweiligen Situation und die ggf. gewährte „miltterung“ 167 eine Möglichkeit für die Betroffenen eröffneten, über die Sanktionen und ihre Ausführung zu verhandeln. 3.2.5. Der Wandel der obrigkeitlichen Täuferbilder im 16. Jahrhundert Ein zentrales Kriterium, nach dem die Befunde der geführten Täuferverhöre sortiert wurden, bildete das bei den Befragten gefundene Maß an aufrührerischen Zielen und Motiven. Insbesondere bezüglich der täuferischen Vorsteher herrschte bei den Obrigkeiten Angst, sie könnten mit ihren - meistens im Geheimen abgehaltenen - Predigten die Bevölkerung zur offenen Aufruhr gegen das Regime aufstacheln. Die blutigen Ereignisse des Bauernkrieges von 1524/ 25 und des zehn Jahre später in Münster errichteten Täuferreiches waren bei der Verfassung der Täuferordnung von 1536 noch in frischer Erinnerung, so dass die Sorge um mögliche Revolutionspläne der Täufer groß war. Folglich überrascht es nicht, dass der Fragenkatalog von 1536 mit der Überprüfung der möglichen Beteiligung der Verhörten an der „peurischen vffrur“ 168 eingeleitet wurde. 169 In der obrigkeitlichen Angst vor Aufruhr manifestierte sich die als konkret wahrgenommene Gefahr der Täufer. Eng damit verknüpft war das obrigkeitliche Interesse an den täuferischen Lehren von der Christlichkeit der Obrigkeit. Dass die vermeintlichen Aufruhrpläne der Täufer noch weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Thema für die Obrigkeit darstellten, zeigt der 1571 formulierte Katalog, der ein Bündel an Fragen zu möglichen, apokalyptisch 165 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 30. 166 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 29. 167 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 31. 168 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 169 Außerdem standen aus Münster oder von den hutterischen Täufergemeinden in Mähren zurückkehrende Menschen unter Verdacht, das Motiv für ihre Rückkehr ins Herzogtum sei schlichtweg „bubereÿ“ und sie seien „allein darumb vßgeschickt [worden], das sie meterey Inn allen landen machen vnnd anrichten sollen“. HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). Münster spielte eine bedeutende Rolle auch in den obrigkeitlichen Fragerastern anderer Regionen. Siehe z. B. Haude, In the Shadow, S. 24f. <?page no="143"?> 144 motivierten Umsturzplänen der Täufer enthält. Im Verhör sollten dem Vorgeladenen folgende Fragen gestellt werden: „Item ob er hierunder seinen vffgebrachten discipuln versprochen, darvor dem Jüngsten tag ain eusserlich leiblich Reich Christi vfferden sein, darinn eittel hailigen vnnd frommen werden herschen, vnnd alle Gottlose König vnnd Fürsten mit gewallt austilckhen vnnd vnndertruckhen vnnd deshalb die vnnderthonen sollen der ordenlichen obrigkheit widerstand thun vnd vom Regiment stossen? “ 170 Zunächst mag der Eindruck entstehen, dass um 1571 sogar ein gesteigertes Interesse an täuferischen Aufruhrplänen vorhanden war, da dieser Fragenkomplex ausführlicher ausfällt als der im Jahre 1536. Denkbar ist allerdings auch ein im Laufe des 16. Jahrhunderts immer weiter ausdifferenziertes Verhörinstrumentarium, so dass man 1571 mit dieser Frage innerhalb der Kategorie der Vorsteher die Spreu vom Weizen trennen wollte. Eine bejahende Antwort auf diese Frage ließ den Befragten oder die Befragte der Gruppe der ‚Aufwickler‘ zuordnen, wohingegen eine Verneinung lediglich auf eine predigende Vorstehertätigkeit hinwies und von den Amtleuten andere Maßnahmen gegen diese Personen angewandt werden sollten. Somit würde diese Frage weniger die Ängste der Obrigkeiten widerspiegeln, sondern vielmehr ein konzeptionelles Instrument des Verhörverfahrens darstellen, mit dem man die verhörten Personen in die erstellten Kategorien einordnen konnte. Dafür spricht die Tatsache, dass sich im relativ genau geführten Protokoll über die Beratung der neuen Täuferordnung von 1571 keine Hinweise auf die Besprechung täuferischer Aufruhrpläne finden. 171 Diese hätten mit Sicherheit sowohl in der Diskussion als auch in der Mitschrift einen großen Raum eingenommen, wenn es sich um eine konkrete Angst der Obrigkeiten vor einem blutigem Aufstand gehandelt hätte. Selbst wenn im späten 16. Jahrhundert die unmittelbare Gefahr von Aufruhr in den Hintergrund rückte, wurde es dennoch als äußerst wichtig erachtet, die Täuferbewegung rechtzeitig einzudämmen und die Täufer unter Kontrolle zu halten. In der Ordnung von 1584 hieß es hierzu: „Dann da solcher trutz vnnd hochmut nachgesehenn vnnd inen ein mal die hannd so lang werden soltte, dörfften Sie woll anders vnd beschwerlichers, wie zu Münster in Westpfhalen geschehenn, wider die Oberkheit anfahen vnd mans von Inen leiden müessen.“ 172 Bereits um 1570 hatte sich die Deutung der Täufer verschoben, wie ein Schreiben an die Tübinger Rechtsprofessoren Nikolaus Varnbüler und Kilian Vogler im 170 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 9v. 171 Vgl. HStAS A282/ 3084, Nr. 4. 172 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 18. <?page no="144"?> 145 September 1570 zeigt. Ihnen wurde ein Fragebogen mit dem herzoglichen Befehl überschickt, diese aus der juristischen Warte heraus zu beantworten. „Ir wöllendt [...] bedacht sein, was in Jedem Puncten, auch andern, so in dißer materi bei euch fürfallen, sich auch zutragen möcht, am füglichsten zustatuirn vnnd zuordnen, das dardurch die ehr Gottes gefürdert, berürte vnd andere Jetzige Secten Souil müglich abgeschafft vnnd allerhand beschwerliche ergernus, nachtel vnnd schad verhüet werden mecht.“ 173 Die Täufer wurden hier als Sektierer dargestellt, von der ‚beschwerliche Ärgernis‘, ‚Nachteile‘ und ‚Schaden‘ für die Gesellschaft ausgingen. Das Gemeinwesen vor Schaden zu schützen war ein von staatlichen Obrigkeiten und von der lokalen Bevölkerung weitgehend geteiltes Ideal. 174 Entsprechend war dies der springende Punkt in der Beurteilung der Täuferbewegung im späten 16. Jahrhundert. In der Logik des Textes galt es, durch die Beseitigung dieses Schadens gleichzeitig nicht nur die christliche Ordnung, sondern dadurch gleichzeitig die Ehre Gottes wiederherzustellen. Der Weg zu diesem Ziel führte im Rahmen der guten Policey über das obrigkeitliche Statuieren und Ordnen des vorhandenen Wissens - oder eben „dißer materi“. Im Laufe des 16. Jahrhunderts tritt das Konzept des Schadens immer stärker hervor, der den Obrigkeiten zufolge von den Täufern für die Gesellschaft ausging. 175 Zum einen brachten die Täufer aus dieser Sicht die gesamte Gesellschaftsordnung, zum anderen aber das Leben der Einzelnen durcheinander. Ausdrücklicher als in den früheren Täuferordnungen wurden 1571 die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Täuferbewegung ausgeführt. Der gesellschaftliche Schaden der Täufer lag darin begründet, dass täuferische Lehren und Lebensweisen - insbesondere die ihrer Vorsteher - „die Kürch, Policei, vnnd haus Regiment Perturbiren vnnd sie merckhlichen schaden thun“. 176 Nicht nur seien täuferische Lehren Gottes Wort und der Heiligen Schrift zuwider. Außerdem ‚verführten‘ 173 HStAS A282/ 3084 Nr. 1. 174 Vgl. Landwehr, Zwischen allen Stühlen, S. 106, demzufolge hinter den zahlreichen Beschwerden der Bevölkerung über Missstände in der Gemeinde „der Wille, Schaden von der Gemeinschaft abzuwenden“ stand. So war die „bestmögliche Einrichtung des Gemeinwesens nach christlichen und ständischen Grundsätzen“ ein allgemein angestrebtes Ziel. 175 Mit dem Begriff ‚Schaden‘ ist laut Grimm sprachhistorisch zunächst jede Verletzung der Person oder des Eigentums gemeint. Später erhält es als Verb eine abgeschwächte Bedeutung im Sinne von ‚Nachteil verursachen‘, wohingegen die stärkere Bedeutung mit ‚jmd. schädigen‘ ausgedrückt wird. Bestehen bleibt allerdings auch die dem ursprünglichen Wortsinn naheliegende Bedeutung von ‚schaden‘ als „jemanden (mit wissen und willen) schaden zufügen; vielfach auch noch ‚verletzen‘“. Ähnliche Bedeutungen hat im Frühneuhochdeutschen der ebenfalls im Zusammenhang mit den Täufern oft genutzte Begriff ‚Ärgernis‘. Hiermit ist erstens die Beschädigung oder Wertminderung von etwas gemeint, zweitens die „Verletzung sittlicher, darunter religiöser Normen“ sowie drittens eine böse Tat oder Sünde. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Sp. 1981-1983; Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 75f. 176 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4v. <?page no="145"?> 146 und ‚verwiesen‘ die Täufer Untertanen durch die „aufhebung ordenlicher oberkheit, schuldigen gehorsambs vnnd aller guter ordnung“. 177 Zum dritten richteten sie in der Haushaltung Chaos an, indem sie Ehen trennten und ‚verwirrten‘. Es wurde den Täufern und insbesondere den Täufervorstehern unterstellt, dass sie kleine Kinder heimlich aus dem Lande führten und diese dadurch nicht nur um ihr „Vatterlannd, Ire Elttern vnnd Freundt, haab vnnd gut, sonnder auch mit Irem Gifft vnnd Sectischen Lehr umb Ir seligkheit“ brächten. 178 Der letzte Punkt betrifft bereits die Auswirkungen des Täufertums auf das Leben einzelner Menschen, die auf die Kurzformel ‚Schaden an Leib, Seele und Eigentum‘ gebracht werden kann. Abschließend wurde aus der Position einer pflichtbewussten christlichen Obrigkeit argumentiert, dass es diese Lehren abzuwehren galt, um die „armen vnnderthonen vor solchem vbel vnnd verderben Irer Seelen, leibs vnnd guts“ zu schützen. 179 Die Ausbreitung der Bewegung wurde von den Räten abgesehen von den Täuferpredigern vor allem der Nachlässigkeit der Amtmänner zugeschrieben, so dass durch „langes vnd zuviles zusehen“ bereits großer Schaden entstanden sei. 180 Die Abwehr dieses Schadens musste somit an zwei Stellen gleichzeitig angesetzt werden: zum einen an der Beseitigung der täuferischen Lehr- und Predigttätigkeiten und zum anderen an der gewissenhafteren Umsetzung der Vorschriften bzw. der Einübung der lokalen Amtsträger in ihre Rolle als Verfechter der lutherischen Landeskirche und Landesherrschaft. Diese Ziele ließen sich mühelos in eine Repräsentation guter Obrigkeit und der Bewahrung bzw. der Herstellung einer christlichen Gesellschaftsordnung integrieren. 3.3. Zielsetzungen der württembergischen Täuferpolitik 3.3.1. Eine imaginierte Widerrufszeremonie In den vorangehenden Kapiteln ist gezeigt worden, dass Täuferdefinitionen und -ordnungen Sache des Verhandelns waren; sie waren in hohem Maße kulturelle Konstrukte. Die gesamte württembergische ‚Täuferbürokratie‘ des 16. Jahrhunderts, von denen hier exemplarisch die Täuferordnungen analysiert worden sind, waren ein administrativer Aufruf zum Sammeln, Festhalten, Ordnen von vorhandenen Informationen und somit letzlich auch zum Produzieren von neuem Wissen über die Täufer. 181 Man kann dieses Vorgehen als Versuch sehen, „die Gefahr 177 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4v. 178 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4v-5r. 179 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 6v. 180 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 6v. 181 Vgl. Sabean, Village Court Protocols, S. 22. Siehe auch Roeck, Außenseiter, S. 17f. Zur neueren <?page no="146"?> 147 der Unordnung und des Unkontrollierten zu organisieren und zu bändigen“. 182 Nicht zufällig hat Claus-Peter Clasen von den „großen Wiedertäufermandate[n]“ gerade im „Zeitalter der Orthodoxie“ gesprochen. 183 Den Ausgangspunkt des obrigkeitlichen Ordnung-Schaffens stellte die Überzeugung dar, als Vertreter der wahren christlichen Kirche gegen die nichtchristlichen ‚Lügen‘ und ‚Sekten‘ vorzugehen. Insofern funktionierte eine Täuferordnung nicht nur als Richtlinie zum Umgang mit den Täufern, sondern beanspruchte darüber hinaus die Legitimität der eigenen Weltsicht als absolute und einzige Wahrheit. Dabei ging es nicht darum, die als Täufer identifizierte Menschen endgültig aus der christlichen Gemeinschaft auszustoßen, sondern sie nach Widerruf, Urfehde und Besserung wieder in der lutherischen Kirche aufzunehmen. In diesem Prozess bot sich der Obrigkeit nicht nur die Möglichkeit, Herrschaft auszuüben, sondern - sowieso vom ersteren untrennbar - diese Herrschaft auch symbolisch zur Schau zu stellen. Die Verfolgung und Bestrafung der Täufervorsteher konnte dahingehend präsentiert werden, dass dadurch die Gesellschaft vor Unruhen und die Untertanen vor dem Verlust ihres Seelenheils geschützt werden sollte. Dadurch, dass die Obrigkeit den als ‚einfältig‘, und ‚in die Irre geführten‘ dargestellten Anhängern - sofern sie sich den obrigkeitlichen Vorschriften fügten - gegenüber als liebevolle, milde und dadurch christliche Obrigkeit zeigte, unterstrich die Bestrebung nach Ordnung, Frieden und gemeinem Nutzen weiter. 184 Dies sei am Beispiel der Widerrufsformel eines Täufervorstehers in der Täuferordnung von 1571 näher erläutert. Je weiter das 16. Jahrhundert voranschritt, desto mehr verloren die württembergischen Obrigkeiten ihren Glauben daran, dass täuferische Vorsteher und ‚halsstarrige‘ Anhänger ihren Glauben widerrufen würden. In der Täuferordnung von 1571 wurde vorgeschrieben, gefangengenommene Vorsteher dennoch immer zu einer Befragung durch Theologen, Kirchenräte und einige Oberräte nach Stuttgart vorzuladen. 185 Sollte ein standfester Täufervorsteher in seiner auf die Examination folgenden Gefangenschaft sterben, ohne widerrufen zu haben, „hette man Dannocht an allem dem, so zu seinem heil vnnd bekherung gedient, nichtzit versombt vnnd were man dessen gewiß vnnd sicher, das er sonst niemandt mehr verfuerte oder weitern schaden gethon hette“. 186 Man gewinnt an dieser Stelle geradezu den Eindruck, es habe sich bei der lutherischen Obrigkeit mehr um die Bemühung gehandelt, ihre christlichen Pflichten als Obrigkeit zu erfüllen, als um einen tiefen Willen zur Bekehrung der Täufer - oder einen Glauben an die Möglichkeit der Bekehrung. Forschung zur Wissensproduktion siehe stellvertretend und mit weiterführenden Literaturhinweisen Brendecke & Friedrich & Friedrich (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit; Füssel, Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft; Landwehr, Das Sichtbare. 182 Landwehr, Geschichte des Sagbaren, S. 84. 183 Clasen, Wiedertäufer, S. 36-49. 184 Vgl. Rublack, Herrschaftspraxis, S. 361. 185 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 13v. 186 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 29v. <?page no="147"?> 148 Wollte ein Vorsteher wider Erwarten seinen Glauben doch widerrufen, schrieb die Täuferordnung von 1571 vor, dass er wie die reumütigen ‚einfachen‘ Anhänger als „ain Poenitent anzunemmen“ sei. 187 Der gewonnene Kampf um eine verloren geglaubte Seele musste aus lutherischer Perspektive entsprechend ausdrucksstark in Szene gesetzt werden. Wie sich die lutherischen Kirchendiener die Wiedereingliederung eines Täufers vorstellten, illustriert die in der Täuferordnung von 1571 enthaltene „Forma revocationis“, die schriftlich fixierte Form des Widerrufes eines Täufers, wie sie der langjährige Walkersbacher Täufer Blasius Greiner abgelegt haben soll. 188 In einem längeren Exkurs wird an dieser Stelle die öffentliche Zeremonie geschildert, in der der Abtrünnige seinen oder ihren ‚Irrtum‘ ablegt und in den Schoß der lutherischen Landeskirche zurückkehrt. 189 Die Wiedereingliederung in Kirche und Gesellschaft sollte in zwei Schritten vollzogen werden. Zunächst hatte der Reumütige seinen Widerruf öffentlich in der Amtsstadt in Anwesenheit des Spezialis, der Oberamtleute und vor versammelter Gemeinde kundzutun. Darauf war dieser Widerruf in einer schriftlichen Verschreibung verbindlich zu bestätigen und zu unterschreiben. Bezüglich der obrigkeitlichen Vorstellungen über die Kriterien eines ‚guten Lutheraners‘ bzw. eines ‚verführenden Täufervorstehers‘ ist die „Forma revocationis“ ebenso wie die darauf folgende „Forma der verschreibung und bürgschaft nach der revocation“ 190 187 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 14r. 188 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 14v- 24r. 189 Dabei ergeben sich insgesamt deutliche Parallelen zu den Vorgaben der Exkommunikation von Sündern aus der Kirchengemeinschaft, wie sie in der Ordnung der Kirchenzensur 1559 festgehalten wurden. Dafür war die folgende Formel vorgesehen, die der Pfarrer vor versammelter Gemeinde vorzutragen hatte und die unter anderem die gesamtgesellschaftliche Begründung der Exkommunikation beinhaltete: „Ir lieben in Christo, diser (vel dise) N. ist im Laster der Gotslesterung (vel) Trunckenheit (vel alterius generis) bißher ein lange zeit verhafft gewesen. Unnd wiewol vilfältig ermanung und straffen, beid, durch Gottes wort und weltliche Oberkeit, an im (vel ir) versuchet, So hat doch ihne (oder sie) solches alles nicht zur rechter, Christlicher besserung bewegen wöllen. Damit nun nicht durch ein reudiges Schaffein gantze Herd verderbt und das böß, ergerlich exempel gemeiner Christlicher versamlung schädlich und nach-theilig sey, das auch Gottes Zorn und Straffverhüttet werde, so haben die Verordnete zur Administration der Kirchen disen (vel dise) N. nach gnugsamer erfarung aller handlung erkennt, das er (oder sie) biß auffsein (oder ir) öffentliche unnd beweißliche besserung von der Christlichen Kirchen abgesündert und des heiligen Nachtmals unsers lieben HERRN Jesu Christi als unwürdig und darvon außgeschlossen sein soll, Das er (oder sie) auch zu keinem Gevattern in Kinds Tauffgebraucht und zu keiner Christlichen Versamlung (ausserhalben der Predig Gottes wort) zugelassen werde. Der Allmechtig, Barmhertzig Gott wölle im (oder ir) sein (oder ir) Sünd zuerkennen geben, rechte Rew in ime (oder ir) schaffen unnd zur besserung des lebens erwecken, Amen.“ Arend, Kirchenordnungen, S. 405. 190 Die „Forma der verschreibung und bürgschaft nach der revocation“ sollte nach dem Widerruf schriftlich unterzeichnet werden. Wie in der öffentlichen Widerrufungszeremonie sollte sich der Widerrufende hier von den täuferischen Lehren und Lebensweisen distanzieren und fleissige Predigtbesuche in der lutherischen Kirche sowie die Teilnahme am Abendmahl versprechen. Betont wurde dabei, dass diese Wiedereingliederung in das lutherische Gemeindeleben in der eigenen Pfarrei geschehen solle. Weiterhin sollte der Widerrufende versprechen, der lutherischen Obrigkeit Gehorsam zu leisten. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 24r-25v. <?page no="148"?> 149 äußerst aufschlussreich, selbst wenn über die konkreten Umsetzungen wenig bekannt ist. 191 Der öffentliche Widerruf sollte folgendermaßen durchgeführt werden: An einem rechtzeitig öffentlich angekündigten Sonntag sollte der widerrufende Täufervorsteher vor dem Gottesdienst vom Mesner an einen „bequemen stul, nit weitt vom Altar“ geführt werden, an dem der Büßer für die versammelte Gemeinde der Amtsstadt gut zu sehen war. 192 Der Pfarrer sollte der Gemeinde den Widerrufenden mit den Worten vorstellen, dieser sei „durch list deß bösen feinds vnnd verfüerung seines aignen fleischs vnnd Bluts vor vilen Jaren In die schedliche verdammliche Irrthumben der widerteufferischen Sect gerathen“ und als taufender Vorsteher tätig gewesen. 193 Das für die Gesellschaftsordnung schädliche Verharren im ‚täuferischen Irrtum‘ wird in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben. Der Vorsteher habe sich „nit allein an den verbotten vnnd ordnungen der welttlichen Oberkheit“ vergriffen, sondern, was noch weitaus verwerflicher sei, auch „an Gottes wort vnnd ordnung“. Dadurch habe er „große schreckhliche Ergernus angerichtet“. 194 Der Täufer habe sich mit seinen öffentlichen Taten selbst aus der der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Seinen Gesinnungswandel verdanke er jedoch einzig und allein dem Herrn. Die Bekehrung sei schließlich „von Gottes gnaden durch fleissige vnnderhandlung bericht vnnd erkhandtnüs seiner grosen, vnnd vilen Irrthumben“ herbeigeführt worden - also unter Mitwirkung der lutherischen Kirchendiener als Vermittler der göttlichen Wahrheit. Als äußeres Zeichen seiner Buße wolle der Vorsteher nun öffentlich seinen Widerruf vor der Gemeinde bekennen. Bevor der Widerruf vollzogen werden konnte, sollte der Pfarrer der Gemeinde einschärfen, sie mögen den Büßer „mit freuden“ wieder in die christliche Gemeinschaft aufnehmen, wie auch „der herr Christus khein Bußferttigen Sünder von sich stoßt“. 195 Darauf sollte die öffentliche Widerrufung sämtlicher täuferischer Lehrstücke erfolgen. Zunächst sollten die als richtig erachteten lutherischen Gegenstücke der jeweiligen theologischen Lehren vom Pfarrer langsam und deutlich vorgelesen werden, worauf der Vorsteher „auf ainen Jeden Articul mit ainem wahren bestendigen JA anntworten soll“. 196 Behandelt werden sollten fünf theologische 191 Laut Bossert, Aus der nebenkirchlichen religiösen Bewegung, S. 35, ist Blasius Greiner später zu seinen täuferischen Praktiken zurückgekehrt. 192 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 14v. In der Ordnung der Kirchenzensur von 1559 war ähnlicherweise vorgesehen, dass der oder die Exkommunizierte in der Kirche einen besonderen Platz einnehmen sollten: „Es soll auch ein sonderlich Gestül in der Kirchen bestimpt, da die Excommuniciert Person alle Sontag und Feirtag zur zeit der Predig stehn, und auffdie Sontag, da das Nachtmal gehalten, soll allwegen der Meßner solche Person nach der Predig unnd Gebett vor anfang des Nachtmals auß der Kirchen durch das Volck hinauß fürn, biß der Sünder sich lernet Schemen und ein züchtigen Christenlichen Wandel an sich nemen.“ Arend, Kirchenordnungen, S. 405. 193 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 15v. 194 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 15v-16r. 195 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 16r-16v. 196 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 17r. <?page no="149"?> 150 Themenkomplexe bzw. zentrale Lehren: Die Lehre von der Heiligen Schrift, die Lehre von der Kirche, die Lehre vom Predigtamt und die Rolle der Kirchendiener, die Sakramente Taufe und Abendmahl sowie die Lehre von der Obrigkeit. Die Sakramente der Taufe und des Abendmahls betreffend sollte der Vorsteher gestehen, dass „dardurch die gnad Gottes den gleubigen angebotten, versichert, vergwißt vnnd becrefftigt würt“. 197 Eine verächtliche Stellung gegenüber der Sakramente, die den Täufern von lutherischer Seite unterstellt wurde, sollte der Büßer als „Schwermerei“ von sich weisen. 198 Von der Taufe sollte der Widerrufende bekennen, dass sie „ain Bad der widergeburt vnnd ain Ernewerung des hailigen Gaists“ sei, „darinn die Sünd abgewaschen vnnd die getaufften zu kindern vnd Erben Gottes angenommen werden“. 199 Gleichzeitig sollte er die täuferischen Auffassungen verwerfen, die die Taufe lediglich als „ain eusserlich Merckhzeichen der Christen vnnd bedeutung des Creutzes vnnd Todtung deß alten Adams“ ansahen. Die Verfasser des Bedenkens gaben zwar zu, dass diese „bedeutungen gleichwol auch im Tauffgefunden werden“, doch stellten sie „nit das haubstuckh vnnd fürnembste nutz desselben“ dar. 200 Der Unterschied zwischen etablierter Lehre und verwerflichem Irrtum zeigt sich an diesem Punkt als Gratwanderung, ein Indiz der manchmal schwierigen theologischen Grenzziehung zwischen württembergischer Orthodoxie und täuferischen Auffassungen. Weiter sollte der ehemalige Vorsteher entgegen der üblichen täuferischen Haltung, die Kindertaufe sei in der Bibel nicht belegt, bekennen, dass die Kindertaufe in der Heiligen Schrift sehr wohl einen „guten vesten grund habe“. 201 Die beiden letzten Punkte Abendmahl und Obrigkeit seien hier ausführlicher zitiert, um die bis ins Detail vorformulierte Art der Inszenierung zu verdeutlichen. Vom Abendmahl hatte der Widerrufende vor gesammelter Gemeinde seinen Irrtum im folgenden Wortlaut zu bekennen: „Ich glaub das im h. Abendtmal mit Brot vnnd Wein der wahr leib vnnd Blut Christi vermög seiner Allmechtigen Krafft vnnd warhafften worten gegenwerttig seie, mit der hannd des kürchendieners außgethailt vnd mit dem mundt deß niessenden empfangen werde, vom würdigen zum leben, vom vnwürdigen zum Gericht. Vnnd verwurffden Irrthumb der widerteuffer, so auß dem Nachtmal nur ain Bruderzech vnnd denckhmal der Brüederlichen liebe machen vnnd es nit für ain gemeinschafft des wesentlichen leibs vnd Bluts Christi haltten.“ 202 197 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 19r. 198 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 19v. 199 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 19v-20r. 200 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 19v-20r. 201 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 20r. 202 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 20v. <?page no="150"?> 151 Der lutherischen Obrigkeit sollte natürlich ein christliches Wesen zugestanden werden. Die obrigkeitlichen Pflichten und Aufgaben, denen der Widerrufende zuzustimmen hatte, wurden detailliert aufgelistet: „Ich glaub, das die weltlich obrigkheit, sambt Irem ordenlichen Regiment vnnd redlichen gesetzen gute ordnung vnnd geschöpf Gottes seind vnnd das Christen mögen one Sünd mit gutem gewissen das Ambt der Obrigkheit tragen, zu Gericht vnnd Rath gehen, clag vnnd antwort hören, die Partheÿen mit Aid beladen, auch aufgelegte Aid erstatten, vrtheil sprechen, vbeltheter mit dem schwert strafen, rechtmässige Krieg füeren, zum Krieg aufmanen vnd aufbieten, streiten vnnd kempfen, vnnd alles das Jhenig thun, was die Erbhuldigung vnnd Burgeraid außweisen vnnd gemeiner nutz des vatterlands erfordert. Vnd verwürffdie Auffrüerische Lehr vnnd Irrige mainung der widerteuffer, so darfür haltten, das die vorgemeltte stuckh nitt Christlich seind vnnd ain Mennsch bei halttung derselben nit ain Christ bleiben vnnd guts gewissen behalten möge.“ 203 Deutlicher hätte man die Wunschvorstellungen der lutherischen Obrigkeiten wohl kaum Ausdruck verleihen können. Die lutherische Obrigkeit war von Gott eingesetzt und somit legitim. Daraus folgte die Rechtmäßigkeit und Christlichkeit aller mit der Gesellschaftsordnung verbundenen Teilbereiche. Im imaginierten Widerruf der täuferischen Obrigkeitsauffassungen treten zugleich die Ideale einer christlichen Gesellschaftsordnung und sowohl die Rechte der lutherischen Obrigkeit als auch die Pflichten eines lutherischen Untertans klar in Erscheinung. Wie bereits mehrfach herausgestellt worden ist, waren Religion und Regierung aus lutherisch-obrigkeitlicher Perspektive eng miteinander verwoben und diese grundsätzliche Verbindung sollte nicht in Frage gestellt werden. Ein Christ sollte mit gutem Gewissen in allen Bereichen der weltlichen Gesellschaft integriert und tätig sein. Den Hintergrund stellte dabei das Ideal des gemeinen Nutzens. Abschließend hatte der widerrufende Täufervorsteher sich an die Gemeinde zu wenden, sich den Anwesenden gegenüber als warnendes Beispiel zu präsentieren und für die Einhaltung der vorgeschriebenen Ideale eines lutherischen Lebenswandels zu plädieren: „Enndtlich warnne Ich Jederman trewlich vnd ernstlich vor der verfüerischen schedlichen Sect der widerteuffer, sonnderlich vor Iren vnberuoffnen Vorstehern, Schleichern, winckhelpredigern vnnd ermane ainen Jeden Menschen freundtlich vnnd fleissig, das er die Predigten vnnd Sacramenta in seiner ordenlichen Pfarr offt vnnd fleissig besuche, daruß seinen glauben durch krafft des hailigen Gaists zuerweckhen, erhaltten, sterckhen vnnd mehren, zu der Ehr Gottes, zu erbawung deß nechsten vnnd zu seiner aignen wolfart vnnd seligkheit, wie Ich dann fürohin zuthun durch Gottes gnad gesinnet vnnd gewillt vnnd bitte alle vnd Jede Menschen in dieser loblichen gemeind vnnd nachpurschafft, sie wöllen mir vmb Gottes willen verzeihen, vnnd wer sich an meiner 203 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 21r-21v. <?page no="151"?> 152 verkherung geergert, welle sich hergegen auß dieser meiner bekherung bessern. Da verleihe der Allmechtig sein Göttliche gnad zu. AMEN.“ 204 Nachdem dem Büßer auf diese Ermahnung der Gemeinde durch Pfarrer eine Reihe von weiteren Fragen gestellt worden war, in denen sich der ehemalige Täufervorsteher explizit von seinen ehemaligen Glaubensbrüdern und -schwestern zu distanzieren hatte, sollte ihm die Absolution erteilt werden. Der Pfarrer habe nun an die Gemeinde gewandt die Wiederaufnahme des Büßers in die Kirchengemeinschaft zu verkünden, wonach die Zeremonie mit einem gemeinsam gesungenen Bußpsalm abgeschlossen werden sollte. 205 Es wird deutlich, dass der öffentliche Akt des Widerrufes zu weitaus mehr konzipiert war als zu einer rituellen Eingliederung des Büßers in die lutherische Kirchengemeinschaft. Hier sollte der vor versammelter Gemeinde stehende und sein Bekenntnis ablegende Widerrufende in aller Deutlichkeit als Figur in einem obrigkeitlichen Schauspiel instrumentalisiert werden. Durch die Präsentation des Widerrufs in dieser Form konnte die lutherische Obrigkeit auf besonders anschauliche Art und Weise ihren absoluten Anspruch auf Herrschaft präsentieren und gleichzeitig diese Macht vor der Gemeinde ausüben. Die lutherische Kirche sollte die Gelegenheit nutzen, ihre Lehren und Autorität durch die Gestalt des Büßers dramatisch zu verkünden. Des Weiteren sollte der demütigende Akt des öffentlichen Widerrufs eine abschreckende Wirkung auf die anwesende Bevölkerung haben und nachhaltig ein Exempel statuieren. An dieser Stelle kommt das Konzept Antje Flüchters von der symbolischen Dimension staatlicher Herrschaft besonders deutlich zum Tragen. Anhand des Widerrufsaktes, wie sie hier von den Kirchenräten formuliert wurde, konnte kein Zweifel daran bestehen, welche Partei den Kampf um die religiöse Definitionsmacht gewonnen hatte. Gleichzeitig konnte diese Botschaft durch die öffentliche Zurschaustellung eines büßenden, bekehrten Ketzers eindrücklich in die „Deutungszusammenhänge“ der Anwesenden eingebettet bzw. als „Ordnungskategorien“ wirksam werden. 206 Dramatischer noch als in den regelmäßig abgehaltenen Visitationen sollte in solch einer exemplarischen Widerrufszeremonie einer Einzelperson die obrigkeitlich-lutherische „Steuerungskompetenz hinsichtlich Glaubenspraxis und -lehre“ beansprucht und verkündet werden. Wie in den Visitationen sollte hier das Definitionsmonopol „erneuert und dramatisch inszeniert“ werden, so dass „das herzogliche 204 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 21v-22r. 205 Vorgeschlagen wurden entweder der Psalm 51 („O herre gott, begnade mich“) oder der Psalm 130 („Aus tiefer not“), je nach dem welches Lied in der Gemeinde besser bekannt war. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 22v-24r. Auch hier lassen sich Parallelen in anderen kirchlichen Ordnungen finden: Die Wiedereingliederung eines Exkommunizierten war in der Ordnung der Kirchenzensur von 1559 eine sehr ähnliche Formel vorgesehen. Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 406. 206 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 228. Zum Ordnungsstiften durch Kategorisierungen siehe auch Landwehr, Das Sichtbare, S. 67-70. <?page no="152"?> 153 Kirchenregiment für die Beteiligten unübersehbar“, mehr noch: „expressiv und unmittelbar erfahrbar“, war. 207 3.3.2. Die Täufer als Negativfolie Natürlich waren die Täufer bei Weitem nicht die einzigen Außenseiter der frühneuzeitlichen Gesellschaft, selbst wenn sie zeitweise zu den Aufsehen erregendsten gehören mochten. Bereits der oft im Zusammenhang mit den Täufern benutzte Begriff ‚Sektierier‘ umfasst eine Reihe weiterer Devianten religiöser Natur wie etwa die Schwenckfelder und Sakramentierer. Auch Katholiken, Juden und Kalvinisten waren in den Augen lutherischer Normgeber religiös bzw. konfessionell Andere, gegen die einerseits Grenzen zu ziehen waren, die aber andererseits zu symbolischen bzw. pädagogischen Zwecken instrumentalisiert werden konnten. 208 Anhand von Figuren wie etwa dem büßenden Täuferprediger oder der unter Gottes Zorn leidenden Juden 209 konnten negative Beispiele des religiös Anderen wirkungsvoll ins Spiel gebracht werden, die die lutherisch-christliche Weltordnung festigen sollten. 210 Andererseits stellten Hexen, Magier und Segensprecher eine innergesellschaftliche Bedrohung dar. 211 Gemeinsam war diesen 207 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 247. 208 Bezüglich der Katholiken als die konfessionell ‚Anderen‘ ist das am 20. November 1593 in Württemberg erlassene Verbot sektischer Bücher aufschlussreich. Die Jesuiten wurden hier als ähnliche Gefahr dargestellt wie die Täufer, da sie die Untertanen gegen das mühsam aufgebaute württembergische Kirchensystem aufstacheln konnten. Vgl. QGT I, S. 669f. Siehe auch Clasen, Wiedertäufer, S. 47. 209 Im Hinblick auf die Juden hat Thomas Kaufmann den protestantisch-theologischen Diskurs aufgearbeitet, in der den Juden eine ähnliche Fähigkeit wie den Täufern zugeschrieben wurde, der christlichen Gesellschaft Schaden zuzufügen. Er stellt einen Deutungswandel des Judentums nach 1530 fest, derzufolge die Juden von protestantischer Seite zunehmend als akute Gefahr für die Gesellschaftsordnung gesehen wurden. Kaufmann führt diese Sichtweise in erster Linie auf die „religiös-sozialen Integrationsbedürfnisse der Konfessionsgesellschaft“ zurück, die „keinerlei ‚Erfolg‘ der von Gott verworfenen Christusfeinde“ hinnehmen konnte. Wenn Juden nicht „sichtbar litten“, bedeutete dies eine „Infragestellung des eigenen Gemeinwesens“. „Vor allem aber hatte die Präsenz von Juden in der christlichen Gesellschaft einen pädagogischen Symbolwert: Sie sollte den Christen eine sichtbare Veranschaulichung dessen bieten, was es hieß, unter Gottes Zorn zu stehen und verworfen zu sein.“ So konnten Juden nicht vernichtet werden, sollten aber „im Elend und in der Zerstreuung leben“. Kaufmann, Die theologische Bewertung des Judentums, S. 232f. Siehe auch Driedger, Intensification of Religious Commitment, S. 279f.; Waite, Heresy, S. 229f. 210 Allgemein zum Umgang mit den religiösen Minderheiten in Württemberg siehe Bubenheimer, Heterodoxie, S. 308-326. 211 In Bezug auf Hexerei im südwestdeutschen Raum, vgl. Midelfort, Witch Hunting. Midelfort unterscheidet in den intellektuellen Hexereidiskursen des deutschen Südwestens im 16. und 17. Jahrhundert zwei Hauptstränge. Diese unterschieden sich in der grundlegenden Frage, inwieweit Gottes Wirkung im Diesseits Bedeutung zugeschrieben wurde. Im Luthertum wirkte sich in den Fußstapfen der ‚Brenz-Schule‘ im 16. und 17. Jahrhundert vor allem die gegenüber der Kraft des Teufels skeptische Tradition durch, die zu der Auffassung führte, dass Hexerei und Teufelswerk zwar durchaus existierten, die Hexen aber keinen wirklichen Schaden ausrichten <?page no="153"?> 154 Gruppen die Bedrohung, die von ihnen auf die lutherischen Normen und Lebensideale ausgingen, selbst wenn die Gefahr durchaus unterschiedlich eingestuft werden konnte. Aus symbolischer Perspektive gewinnt die von Robert W. Scribner gestellte Frage zum Prozess des Außenseiter-Werdens in der frühen Neuzeit in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung: „Wesentlich ist also nicht nur die Frage, warum eine Gruppe randständig wurde, sondern auch, warum gerade diese Form der Randständigkeit aus vielen anderen möglichen Formen zu eben diesem Zeitpunkt hervorgehoben worden war.“ 212 Warum waren es gerade die Täufer, die in einer lutherischen Herrschaft im späten 16. Jahrhundert zum Inbegriffdes religiösen Irrtums, des Verführens und Verführt-Werdens wurden? Klare Grenzziehungen hin zu den Katholiken waren für die Lutheraner einfacher vorzunehmen als im Verhältnis zu den Täufern und anderen Anhängern der radikalen Reformation, da hier die Grenzen von Anfang an undeutlicher waren. Hat man den Speyerer Reichstag von 1529, auf dem die neunzehn protestierenden evangelischen Reichsstände „sich ihr religiöses Gewissen politisch nicht binden ließen“, einerseits als „Geburtstunde des ‚Protestantismus‘“ gewürdigt, so ist im Hinblick auf die Festschreibung der Todesstrafe für die Täufer andererseits darauf hingewiesen worden, dass mit diesem Reichstag gleichzeitig „das große Sterben derjenigen eingeläutet wurde, die Ketzer und Aufrührer genannt wurden“. 213 Hier trennten sich die Wege der reformatorischen Evangelischen: Die Bewegung um Luther konnte von nun an in einigen Territorien bis zur Landeskirche aufsteigen, wohingegen die Täufer offiziell als zu verfolgende und mit dem Tode zu bestrafende Ketzer festgeschrieben wurden. Als ständige Kritiker der lutherischen Lehren und Lebensweisen bedrohten die Täufer nicht nur den allgemeinen „Bestand der Gesellschaft“ 214 , sondern konnten: „Only God could cause a storm. True, He might allow the devil a hand in stirring up the elements, but witches had nothing to do with it.“ Midelfort, Witch Hunting, S. 36-56, 64- 66 (Zitat: S. 39). Bruce Tolley zufolge behandelten die württembergischen Visitatoren magische Praktiken eher als „minor misdemeanors rather than serious crimes“. So habe sich die württembergische Landeskirche nicht in ihrer Existenz bedroht gefühlt, sondern es sei den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten statt der Bestrafung der Eigensinnigen in erster Linie um ihre moralische Besserung gegangen. Tolley, Pastors and Parishioners, S. 64-86, insbes. S. 70-73. Vgl. Scribner, Mobility, S. 84, über ähnliche Einstellungen der württembergischen Beamten zur vagranten Bevölkerung. Dagegen fand Gary K. Waite zufolge die erste „large-scale witch panic of the sixteenth century“ im württembergischen Raum statt, als Graf Ulrich von Helfenstein im Jahre 1562 sechs Frauen aus Wiesensteig als Hexen hinrichten ließ. Er verknüpft dieses Ereignis auch mit der Täuferverfolgung im Herzogtum, bleibt in seiner Argumentation allerdings sehr spekulativ. Waite, Eradicating the Devil‘s Minions, S. 144-153; Ders., Heresy, S. 154f. 212 Scribner, Außenseiter, S. 44. 213 Goertz, Skizze, S. 20. 214 Goertz, Das Täufertum als religiöse und soziale Bewegung, S. 36. <?page no="154"?> 155 insbesondere die lutherische Ordnung der Welt. Zu befürchten war, dass die Ausstrahlungskraft des sittenstrengen, biblizistischen Lebensmodells der Täufer „desto größer war, je sichtbarer diesbezügliche Defizite der Lutheraner waren“. 215 Die Täufer beanspruchten des Weiteren, wenn nicht eine generelle Gültigkeit für ihre alternativen Entwürfe einer christlichen Kirche und Gesellschaft, so doch mindestens die Erlaubnis, sich ungestört in eine Gemeinschaft der wahren Christen zurückzuziehen und nicht in die Zeremonien und Rituale der offiziellen Kirche zwangsintegriert zu werden. Dies konnte in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation in der lutherischen Kirche, die sich erst nach innen und außen befestigen musste und zudem offiziell an die gültigen Reichsmandate gegen die Täufer gebunden war, nur als Affront und Herausforderung verstanden werden. Wie Thomas Kaufmann festgestellt hat, bestimmte „der Kampf gegen die allenthalben hervorbrechenden ‚Schwärmer‘ die wahre lutherische Kirche nachhaltiger und dauerhafter als der Kampf gegen das Papsttum, dem zwar auch permanent entgegenzutreten war, das aber in seiner Gegnerschaft stabiler und kalkulierbarer war.“ 216 Die Beziehung zwischem dem offiziellen Luthertum, wie es in Württemberg in der Kirchenordnung von 1559 und 1580 im Konkordienbuch festgelegt wurde, und den Täufern wurde durch die schwierige Stellung der beiden als „nahe Fremde“ zueinander maßgeblich geprägt. Es fiel den Lutheranern zunächst schwer, die Täufer eindeutig zu identifizieren und sich ebenso eindeutig von ihnen zu distanzieren. Vielmehr operierten die Täufer mit alarmierend ähnlichen Konzepten und Begrifflichkeiten „im Namen des ‚Christentums‘“ und dazu noch „in bedrohlicher Nähe zu eigenen Gemeinden“. 217 Thomas Kaufmann hat den vielschichtigen Herausbildungsprozess lutherischer Identität 218 im Rahmen einer räumlich begrenzten (Territorial-)Herrschaft auf eine Weise charakterisiert, wie sie auch anhand der hier analysierten obrigkeitlichen Texte auch in Württemberg zu beobachten ist. Kaufmann zufolge wird Identität innerhalb einer Gemeinschaft durch gemeinsame Ideen, sprachliche 215 Bubenheimer, Heterodoxie, S. 312. 216 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 190. Vgl. Landwehr, Norm, Normalität, Anomalie, S. 46. 217 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 240. 218 Der hier benutzte konstruktive Identitätsbegrifflehnt sich an die Überlegungen Jan Assmans und Jürgen Straubs an, denzufolge man unter einer kollektiven Identität das von einer Gruppe aufgebaute Selbstbild und das dadurch entworfene Identifikationsangebot für die Mitglieder versteht. Allerdings muss man sich von der Gefahr einer unbegründeten Verallgemeinerung und Vereinheitlichung bewusst sein, aus den Quellen eine gemeinsame Identität einer anonymen Personengruppe zu rekonstruieren. Dennoch wird im Folgenden für die leitenden lutherischen Theologen in Württemberg als Arbeitshypothese angenommen, dass sie einer Gruppe angehörten, die „ihre soziokulturelle Herkunft und eine bestimmte Tradition, gewisse Handlungs- und Lebensweisen, Orientierungen und Erwartungen [teilen], die sie nicht zuletzt eine gemeinsame Zukunft erhoffen oder befürchten lassen“. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132; Straub, Personale und kollektive Identität, S. 102-104. <?page no="155"?> 156 Konventionen, Administration und Gesetzgebung, Netzwerke der politischen und intellektuellen Führungsschichten und nicht zuletzt durch die „‚Konstruktion‘ bestimmter Heterostereotypen und der Kreation spezifischer Identifikationsgestalten und ritueller und gedächtniskultureller Praktiken“ gestiftet. 219 Lutherische Identität - um die oben gestellte Frage zum gesteigerten Interesse an den Täufern zu beantworten - formte sich in bedeutendem Maße durch die Auseinandersetzung mit den religiös Anderen aus: Das Interesse an den Täufern und anderen ‚Sektierern‘ als Personifizierungen dieses Anderen war gegeben. Die Auseinandersetzung mit den Täufern spielte somit eine zentrale Rolle als Instrument der Identitätsstiftung einer (freilich idealtypischen) lutherischen Kultur. 220 Als Negativfolie eines idealen Lutheraners war die Figur des ketzerischen Täufers gleichzeitig der wichtigste innere Gegner in Württemberg, den es im Namen der Religion und der göttlichen Ordnung zu bekämpfen und zu besiegen galt. 221 Doch auch nach außen - hin zu anderen Herrschaften - war zu zeigen, dass man gegen Irrgläubige ernsthaft vorging und so dem eigenen konfessionellen Lager gemäß agierte. 222 So machte die Abgrenzung von den Täufern und anderen ‚Schwärmern‘ gleichzeitig einen „integrale[n] Moment konfessionskirchlicher Etablierug“ 223 aus, einer Etablierung, die freilich auch mit den staatlichen Machtansprüchen der protestantischen Landesherren eng verknüpft war. Diese Etablierung und Legitimation der eigenen Stellung sollte sowohl nach außen als nach innen vollzogen werden. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der geschilderte Prozess der Identitätsfindung nicht ausschließlich in den Schreibkammern der Kirchengelehrten oder ihrer Sekretäre stattfand, sondern sich parallel auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen abspielte. 224 Gleichzeitig sollten im Laufe dieses Ordnungskampfes die Anderen als Außenseiter etabliert und soweit möglich ausgegrenzt oder zumindest unschädlich gemacht werden. Hier konnte der werdende Staat auf seine administrativen Verfahren und Instanzen zurückgreifen. Es ist im Zusammenhang mit einer sich verdichtenden Staatlichkeit und der damit einhergehenden Bürokratisierung gleichzeitig „eine Steigerung der Prägnanz der Marginalisierung“ 225 beobachtet worden: In einer zunehmend professionellen 219 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 238. 220 Vgl. ebd., S. 239. Wie Driedger, Obedient Heretics, S. 171-176, betont hat, sind diese Identitäten nicht als fixiert sondern flexibel und situationsbezogen zu verstehen. 221 Vgl. Haude, In the Shadow, S. 20-24. 222 Vgl. David Mayes, der die Verschärfung der Täuferpolitik in Hessen in den 1570er Jahren auf die Bestrebung des Landgrafen Ludwig zurückführt, sich im Zuge der wachsenden konfessionellen Spannungen im Reich eindeutig im orthodox-lutherischen Lager zu positionieren. Entsprechend seien die landesherrlichen Maßnahmen gegen hessische Täufer in erster Linie als „an incident of confessional politics during the years when the Lutherans were defining themselves along precise confessional lines“ zu sehen. Mayes, Heretics or Nonconformists? , S. 1018, 1026. 223 Kaufmann, Nahe Fremde, S. 240. 224 Neben den Visitationen können hier etwa Predigten, Flugschriften oder Theaterstücke genannt werden. 225 Roeck, Außenseiter, S. 17. <?page no="156"?> 157 Administration wurde gesellschaftliches Ausgrenzen zunehmend in obrigkeitliche Verwaltungsverfahren und -institutionen integriert und dadurch oftmals intensiviert. 226 3.4. Fazit In den württembergischen Täuferordnungen des 16. Jahrhundert wurde eine Reihe von Bildern entworfen sowie Kategorien entwickelt und weitertradiert, mit denen religiös deviante Personen beschrieben und nach ihrer Gefährlichkeit geordnet werden konnten. Das Spektrum der Täuferkategorien streckte sich von den ‚gemeinen‘ Anhängern, die ihrer Einfalt halber in die Irre geführt worden waren, bis hin zu den Vorstehern, die solche ‚Verführungsarbeit‘ aktiv betrieben und täuferisches Gedankengut verbreiteten. Dieser grundsätzliche Gegensatz von Lehrern und Jüngern bzw. Verführern und Verführten, zieht sich durch alle württembergischen Täuferordnungen. Zu diesen Grundkategorien kamen im Laufe des 16. Jahrhunderts die Gruppe der Sympathisanten der Täufer hinzu, dessen Mitglieder zwar von den Obrigkeiten nicht als der Sekte zugehörig angesehen wurden, dennoch durch ihre Unterstützung der Täufer zur Verbreitung der Bewegung beitrugen. In der Ordnung von 1584 wurde mit den aktiven, standhaften Täuferinnen eine weitere, geschlechterspezifische Kategorie aufgestellt. Es ist aus der Analyse der Täuferkategorien deutlich geworden, dass die benutzte Systematik dem aktuellen Bedarf angepasst und aus den - zu großen Teilen in Zusammenhang mit den Visitationen gewonnenen - Erfahrungen mit den Dissidenten heraus entwickelt wurde. Die Richtlinien wurden von den Normgebern in Stuttgart formuliert. Bereits an diesem Punkt wurde verhandelt: Die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten in Württemberg mussten sich wiederholt im Vorfeld neuer Täuferbestimmungen untereinander in den Fragen verständigen, was einen Täufer bzw. eine Täuferin ausmachte, welche Gefahr von den Dissidenten ausging sowie welche konkreten Maßnahmen gegen sie vorzunehmen waren. So wurde etwa die Todesstrafe in Württemberg mehrmals diskutiert und als ungeeignete Strafe bis auf einzelne Androhungen in den Täuferordnungen abgelehnt. Die in den überwiegend auch publizierten Täuferordnungen offiziell festgelegten Kriterien der Erkennung und Kategorisierung sollten den weltlichen und kirchlichen Amtsträgern Mittel an die Hand geben, die vorgefundenen Fälle von Devianz zu erkennen und in ihrer Gefährlichkeit einschätzen zu können. In einem nächsten Schritt war die angemessene Sanktion zu bestimmen. Die Einschätzung der ‚Täufergefahr‘ in den württembergischen Täuferordnungen wandelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts. Obwohl die obrigkeitliche Angst vor Aufruhr nie vollends verschwand und revolutionären Pläne insbesondere bei den Vorstehern stets nachzugehen war, gewann in der Darstellung der 226 Vgl. ebd., S. 17f. <?page no="157"?> 158 Täufer der von ihnen ausgehende ‚Schaden‘ an Bedeutung, der fundamentale Bereiche der Gesellschaftsordnung zu zersetzen bedrohte. So stellten die Täufer nicht nur die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten in Frage und konnten mit ihrem Beispiel auch ihre Nachbarn zu Ungehorsam anstiften. Darüber hinaus bedrohten sie mit ihrer ‚Verführung‘ das weltliche und zeitliche Wohl der Untertanen, etwa indem sie Ehen zerrütteten und durch ihre häretischen Lehren das Seelenheil der Verführten gefährdeten. Die Bedrohung durch die Täufer lag ab dem späten 16. Jahrhundert demnach mehr in ihrem Potential, die lutherische Gesellschaftsordnung beständig zu unterminieren, als in der Gefahr eines konkreten, mit Waffengewalt durchgeführten Aufstands. Dennoch sollte den Täufern nicht zuviel Spielraum gewährt werden, damit sie nicht Überhand nähmen und aus der Erosion der lutherischen Normen kein Aufruhr entsehen könne. Die Hauptschuld an der Ausbreitung des Täufertums und an dem dadurch angerichteten gesellschaftlichen Schaden wurde in den Täuferordnungen den Vorstehern zugewiesen, die entsprechend härter zu bestrafen waren. Doch ohne die breite Unterstützung der Täufer durch ihre Sympathisanten auf lokaler Ebene wäre von den einzelnen Missionaren abgesehen keine größere Gefahr ausgegangen. In diesem Punkt galt es, weiter nach dem befundenen Maß an Überzeugung bzw. Eigensinn zu differenzieren. So gab es für die Anhänger mehrere Zuordnungsmöglichkeiten, je nach dem Ausmaß der täuferischen Aktivitäten der betroffenen Person sowie der von dieser gezeigten Bereitschaft zur Buße und Besserung. Entsprechend waren auch die Sanktionen angelegt, die von einer Ermahnung hin zum Landesverweis und Konfiskation der Güter reichten. Die Täuferkategorien waren flexibel: Bei erneuter Behandlung des Falles etwa in den Visitationen war die Möglichkeit für einen Auf- oder Abstieg innerhalb des Kategorien- und Strafsystems vorgesehen. Die situationsbezogene Urteilung fügt sich in die zeitgenössischen Policeygesetze und Strafpraktiken insgesamt. Mit der Aufstellung der Kategorien wurden gleichzeitig die ‚Labels‘ oder ‚Etikette‘ produziert, um deren Anwendung u. a. in den Visitationen verhandelt wurde. Angesichts des gestaffelten Strafsystems hatte es für die als Täufer oder Täuferin verdächtigen Personen eine konkrete Bedeutung, welcher Kategorie sie zugeordnet wurden. Es ergab sich aus den in den Täuferordnungen aufgestellten Täuferbildern eine Palette von Argumentations-, Rollen- und Handlungsmuster, die die einzelnen Akteure im Verlauf des Zuschreibungsprozesses bspw. - aber auch in anderen Kontexten - in den Visitationen einsetzen konnten, um ihre Interessen durchzusetzen oder Vorwürfe der Gegenseite abzuweisen. Weitere Spielräume eröffneten sich insbesondere für die als Täufer Verdächtigten aus dem in den Täuferordnungen offiziell festgelegten Prinzip der württembergischen Täuferpolitik, die spezifischen Umstände der jeweils zur Diskussion stehenden Fälle zu berücksichtigen. In diesem Sinne kann man in diesem Zusammenhang von den Spielregeln bzw. Rahmenbedingungen der Täuferbekämpfung sprechen - so die These für die fol- <?page no="158"?> 159 genden Kapitel -, die die Verhandlungen in den Visitationen zwar nicht determinieren konnten, aber sie doch auf bedeutende Weise strukturierten. Ausgangspunkt wird im Folgenden sein, die in den Täuferordnungen festgeschriebenen ‚typischen‘ Eigenschaften der Täufer und die Konsequenzen dieser Vorstellungen für die Täuferbekämpfung in Beziehung miteinander zu setzen: Sie sind keine gegensätzlichen Ebenen im Sinne von Diskurs vs. Praxis, sondern bedingen sich gegenseitig in einem komplexen und historisch wandelbaren Wechselwirkungsprozess. Diese Vorstellungen waren ein zentraler Diskussionsgegenstand in den Verhandlungen über das Phänomen ‚Täufer‘ sowie über die Grenzen der religiösen und politischen Freiräume im ‚Zeitalter der Konfessionalisierung‘. In den Visitationen wurde mit diesen Bildern operiert: Sie wurden im Austausch zwischen Visitatoren und Vorgeladenen an den einzelnen Fällen erprobt, überprüft, angewandt, abgelehnt und modifiziert. <?page no="159"?> 160 <?page no="160"?> 161 4. Die Visitatoren als Normanwender und Akteure der Täuferbekämpfung 4.1. Warum Visitieren? Die protestantischen Herzöge Württembergs betonten in ihren Ordnungen und Erlassen zeittypisch die Funktion des Landesherrn als oberster Bischof der Landeskirche, der „für die rechte Verehrung Gottes und für christlichen Wandel“ in seinem Territorium zu sorgen hatte. 1 Dies sollte durch die landeskirchlich kontrollierte Verbreitung des göttlichen Wortes erreicht werden. Hierfür war es zunächst notwendig, die junge lutherische Landeskirche mit möglichst zuverlässigem und kompetenten Personal zu besetzen. 2 Es handelte sich dabei nicht nur um eine innerkirchliche Regelung; vielmehr sollte durch den Aufbau einer stabilen Landeskirche gleichzeitig eine gottgefällige Gesellschaftsordnung gesichert werden. Die Herstellung bzw. Bewahrung der christlichen Ordnung sollte nicht nur gesellschaftliches Ideal sein, sondern wurde als Notwendigkeit erachtet, um einer Strafe Gottes zu entgehen. 3 Das von Gottes Willen abhängige ‚moralische Universum‘ formte den Deutungshorizont, in das die zeitgenössischen Vorstellungen einer christlichen Gemeinschaft eingebettet waren. „Within this framework“, schreibt Robert W. Scribner, „government exists to create the optimum conditions for order, moderation and the flourishing of social and economic life“. 4 So waren weltliche und religiöse Lebensbereiche eng miteinander verwoben. Dass religiöse Fragen vielfach auch weltliche Fragen waren - und umgekehrt -, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Täufer, deren bloße Existenz ein Politikum für die frühneuzeitlichen Machthaber war. 5 Bezeichnend hierfür ist weiter, dass die mit den Täufern eng verknüpfte Aufruhrgefahr in den Augen der zeitgenössischen Obrigkeiten den negativ aufgeladenen Gegenbegriffzur ‚guten Ordnung‘ darstellte. 6 1 Schmidt, Konfessionalisierung, S. 12. Siehe auch Flüchter, Konfessionalisierung, S. 238; Scribner, Police and Territorial State, S. 104-106. 2 Siehe hierzu z. B. die Bestimmungen in der Visitationsordnung vom 4. Mai 1547 in Arend, Kirchenordnungen, S. 155. Zu den näheren Anweisungen zur Besetzung von Kirchendienerstellen und die Anforderungen an die einzustellenden Amtsträger siehe die entsprechende Verordnung innerhalb der Großen Kirchenordnung von 1559 siehe ebd., S. 347-360. 3 Vgl. Janssen, ‚Gute Ordnung‘, S. 37; Schmidt, Dorf und Religion, S. 320. 4 Scribner, Police and the Territorial State, S. 106. Siehe auch Brecht, Kirchenordnung, S. 48; Scribner, Mobility, S. 78. 5 Vgl. Driedger, Anabaptists and the Early Modern State, S. 538; Haude, In the Shadow, S. 21. 6 Vgl. Haude, In the Shadow, S. 22f.; Janssen, ‚Gute Ordnung‘, S. 41. <?page no="161"?> 162 Die weltliche Obrigkeit wurde als Teil des Reiches Christi verstanden, welche die „Verantwortung für zeitliche Wohlfahrt und ewiges Heil ihrer Untertanen“ zu tragen hatte. 7 Um dies zu gewährleisten, sollte eine aus landesherrlicher Sicht definierte „gute, Christliche Ordnungen und Disciplin in unsers Fürstenthumbs Kirchen, Schulen und Policey“ herrschen. 8 Aus dieser Pflicht der christlichen Obrigkeiten leitete Herzog Ulrich die Notwendigkeit der Gründung der Synoden als kirchliche Kontrollinstanzen in Württemberg her. 9 Insbesondere unter Ulrichs Nachfolger und Sohn Herzog Christoph wurde das System der Kirchenvisitationen ausgebaut und ihre Tätigkeitsfelder auf sämtliche Bereiche des sittlichen, religiösen und kirchlichen Lebens ausgeweitet. 10 Insgesamt konzipierten die obersten Vertreter der Landeskirche und Landesherrschaft mit ihren zahlreichen Ordnungen, Erlassen und Anweisungen im Laufe des 16. Jahrhunderts ein mehrere Lebensbereiche umfassendes Programm der Besserung, das die gottgefällige Ordnung herstellen und sichern sollte. 11 Die regelmäßigen und flächendeckenden Visitationen sollten das entscheidende Mittel sein, um die Besserung konkret voranzutreiben. 12 Dies sollte durch die Feststellung und Behebung von ‚Fehlern und Mängeln‘ geschehen. Deren Spektrum umfasste laut der für Württemberg grundlegenden Visitationsordnung aus dem Jahre 1547 „abgötterei, falsche Leer, aberglauben, schenndung unnd Verachtung göttlichs wortts, lesterung seines heilligisten Namens unnd dann der Ambtleut unnd unnderthonen Laster, unzucht, faule, varlessige amptung unnd Regierung unnd dergleichen mer sich erregen wellten, etc.“ 13 Eine Voraussetzung für das Funktionieren solch eines umfassenden Besserungsprogramms war die Einrichtung von spezifischen Ämtern, Instanzen und Verfahren; für die notwendige Infrastruktur zu sorgen, war die Pflicht der Vertreter von Landeskirche und Landesherrschaft. Des Weiteren mussten sie sicherstellen, dass das auf Kontinuität angelegte System der Visitation nicht zum Stillstand kam. Erst dann konnten weitere Maßnahmen an die unteren Verwaltungsebenen übertragen werden. In Württemberg war für die Visitation ein dreistufiges Modell vorgesehen: Mit der „Inquisition“ als erstem Schritt war die Erhebung der notwendigen Informationen durch die Visitationskommission gemeint. 14 Die Beratschlagung 7 Holtz, Vom Umgang mit der Obrigkeit, S. 132. 8 So formulierte es die Große Kirchenordnung von 1582, vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 461. 9 Ebd., S. 155. Siehe auch Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 264. 10 Vgl. oben Kap. 2.1. 11 Zu den frühneuzeitlichen Bedeutungsdimensionen des Begriffes ‚Besserung‘ siehe Frühneuhochdeutsches Wörterbuch Bd. 3, Berlin 2002, Sp. 1910-1917. 12 Vgl. Labouvie, Verbotene Künste, S. 211-213, Franzen, Die Visitation, S. 11. 13 Arend, Kirchenordnungen, S. 149. 14 Dies bestätigt Katharina Friebs Beobachtung, die Bestrebung nach flächendeckender Verein- <?page no="162"?> 163 der in der Visitation gemachten Befunde („Konsultation“) hatte zweimal jährlich im Synodus stattzufinden, um schließlich drittens die beschlossenen Maßnahmen durch die weltlichen und kirchlichen Amtsträger durchführen zu lassen („Execution“). 15 Alle drei Schritte wurden als notwendig für das Funktionieren des Systems erachtet. 16 Veranschaulicht und begründet wurde dies wiederum mit Analogien aus der medizinischen Praxis. So hieß es in der Visitationsordnung von 1547 zur Notwendigkeit der „Inquisition“: „Es mag jee nit wol zu der krannckheit unnd dem gebrechen fruchtbarliche artznei auffgewenndt unnd angelegt werdenn, die krannckheit und gebrechen seiend dann zuvor aigenntlich unnd mit guten umbstennden erkundigt, wie sie geschaffenn unnd an welhern ort sie gelegenn seiendt.“ 17 Um eine akkurate Diagnose erstellen und um die richtigen Gegenmittel finden zu können, waren demnach umfangreiche Untersuchungen hinsichtlich der Beschaffenheit und Verortung der gesellschaftlichen ‚Krankheiten‘ notwendig. Übernahmen die Normgeber in Stuttgart die Festlegung der zu beseitigenden Erscheinungen, so war es die Aufgabe der Visitationskommission, die entsprechenden Informationen regelmäßig in den Gemeinden einzuholen, schriftlich festzuhalten und sie somit in für weitere Maßnahmen verfügbares Wissen umzuwandeln. 18 Nach Möglichkeit sollten des Weiteren - so zumindest eine zentheitlichung der Zustände und (administrativen) Vorgehensweisen im Territorium sei eine zentrale Funktion der Visitationen gewesen, für die eine ebenso flächendeckende Informationserhebung notwendig war. Gelegentlich wurden sogar Informationen über die Zustände vor Ort festgehalten, die an sich nichts mit den in den Visitationen vorzunehmenden Themenbereichen zu tun hatten. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 292-294, 297. Siehe auch Schwerhoff, Die Inquisition, S. 48f., 52f. Zum Begriff ‚inquisitio‘ und seiner Entwicklung siehe z. B. Esders & Scharff, Die Untersuchung der Untersuchung, S. 12-20. 15 Siehe hierzu auch Brecht, Kirchenordnung, S. 28; Landwehr, Policey im Alltag, S. 98. 16 Gerald Strauss hat darauf hingewiesen, dass der auf apostolische Praxis zurückgeführte Begriffder Visitation die Aspekte des Aufsuchens, Erkundens, Untersuchens, Belehrens und bei Bedarf Strafens umfasste. Strauss, Luther’s House of Learning, S. 250. Zur Begriffsgeschichte siehe auch Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 7. 17 Arend, Kirchenordnungen, S. 150. 18 Zur Unterscheidung zwischen ‚Informationen‘ und ‚Wissen‘, nach der die Aneignung von vielfältig anwendbarem Wissen über die Aufnahme und Erschließung von als eher statisch angesehenen Informationsbeständen geschieht siehe Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 287-290. Vgl. auch Burke, A Social History of Knowledge, S. 11; Labouvie, Verbotene Künste, S. 212f. Wie Helga Schnabel-Schüle festgestellt hat, ging den frühneuzeitlichen Gesetztexten und Erlassen in der Regel ein umfassendes Sammeln und Festhalten von Informationen voraus, die zu großen Teilen auch vor Ort erhobene Informationen und Standpunkte zumindest zur Kenntnis nahm. Insgesamt waren diese Informationen den frühneuzeitlichen Landesherrschaften unerlässlich, damit sie ihre Vorstellungen einer wohl geregelten christlichen Gesellschaft implementieren und in ihrem Herrschaftsgebiet nach Möglichkeit „korrigierend und gestaltend“ eingreifen konnten. Den Visitationen weist die Autorin zwei zentrale Funktionen zu: Zum einen die Informationserhebung über die Zustände in den Gemeinden, zum anderen eine „Kontroll- und Disziplinierungsfunktion“ zur Beseitigung der vor Ort festgestellten Missstände. <?page no="163"?> 164 rale These von Katharina Frieb zur frühneuzeitlichen Visitationstätigkeit - die Zustände vor Ort und innerhalb der Verwaltung flächendeckend vereinheitlicht werden, um effizienter handeln und gegen befundene Mängel jeglicher Art vorgehen zu können. 19 Wie die ersten Schritte der „Inquisition“ und „Konsultation“ wurde auch die diesen Abschnitt des Verfahrens abschließende „Execution“ von den obersten Normgebern in eine heilkundliche Metaphorik eingebettet: „Allso auch würde gewisslich ain Artzet (wie beriembt der immer were) wenig danncks oder lobs ains getrewen Artzets darvon bringen, ob er gleichwol formlich vonn den krannckhaiten redenn, dieselbigen mit namen nennen, auch costliche Recept inn die Appenteckh schreibenn konnte, wo er nit auch mit allem vleis darob unnd daran were, das dem kranncken die hailsamenn Artzneien zugeaignet unnd würcklichen angewenndt würden.“ 20 In anderen Worten trage allein die Diagnose wenig zur Heilung der Krankheit bei, es bedürfe stets konkreter Heilmittel. Wie bereits an dieser Stelle angedeutet wird, konnten die befundenen Mängel ohne die Mitwirkung der weiteren im Prozess eingebundenen Akteure - der weltlichen und kirchlichen Amtsträger auf den mittleren und unteren Verwaltungsebenen sowie einem ausreichenden Anteil der Bevölkerung - nicht behoben werden. So wurde die Exekution als notwendiger Bestandteil des Gesamtprozedere ausgemacht, ohne die nicht nur „costenn, müew unnd arbeit unnützlich verswenndt sein würden“, sondern darüber hinaus insgesamt die Bemühungen um eine christliche Gesellschaft nutzlos blieben. 21 Demnach war eine ausreichende „Herrschaftsvermittlung“ 22 auch aus der Perspektive der zeitgenössischen Obrigkeiten die zentrale Vorbedingung für die Visitationstätigkeit und Sektenbzw. Täuferbekämpfung in Württemberg. Durch den Vergleich mit einem medizinischen Verfahren von einer Diagnose über die Verschreibung der Medizin hin zu der darauf folgenden Genesung wurde neben der Heilkraft der Visitation gleichzeitig ihre Notwendigkeit für das Heil der Person, sogar schlichtweg für das Überleben der christlichen Gesellschaft betont. Insgesamt kann man die Visitation von ihrer Konzeption her als Kreislauf Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 175f. 19 Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 292f. 20 Arend, Kirchenordnungen, S. 154. Die Krankheitsmetapher wird auch an anderer Stelle in der Visitationsordnung von 1547 aufgegriffen, vgl. ebd., S. 150. 21 Ebd., S. 154. 22 Vgl. Brakensiek, Herrschaftsvermittlung, S. 10. Siehe auch ebd., S. 1: „Jede Herrschaft ist auf die Kooperation zumindest von Teilen ihr Unterworfenen angewiesen. [...] Obrigkeitliche Befehle mussten an die Adressaten kommuniziert, Informationen von und über Untertanen gesammelt und an die Herrschaft übermittelt, Soldaten ausgehoben, Steuern und Abgaben eingezogen Dienste nutzbringend verwendet werden.“ Diese Auffassung von Herrschaft greift letzlich die Definition Max Webers auf, der darunter „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ verstand. Zit. nach: Lüdtke, Einleitung, S. 9, und Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 173. <?page no="164"?> 165 zwischen Belehrung und Kontrolle beschreiben: Die Arbeit der Kirchendiener als Verbreiter des göttlichen Evangeliums wurde in regelmäßigen Abständen hinsichtlich ihrer Beschaffenheit und Auswirkungen bei der Gemeinde überprüft, befundene Mängel notiert und die angemessenen Maßnahmen festgelegt. Diese bestanden zunächst in weiterer Belehrung, deren Erfolge bei der nächsten Visitation untersucht werden sollten, um daraufhin ggf. - mit steigender Härte - weitere Maßnahmen anzuordnen, die dann wiederum in den nächsten Visitationen überprüft werden sollten. Das gleiche Verfahren galt für die weltlichen Amtsträger und die Einwohner der Gemeinden. Idealerweise sollte sich das Rad der Visitation kontinuierlich drehen und durch die ansteigende Besserung der Gesellschaft das Seelenheil und weltliche Wohlergehen der Untertanen gewährleistet werden (in diesem Sinne sollte man vielleicht eher von einer Spirale als einem Kreis sprechen, der sich gleichbleibend nur auf einer Ebene bewegt). Hand in Hand mit der landesherrlichen Bestrebung nach einer umfassenden Besserung ging das Selbstverständnis der Herrschaftsträger als gute, handelnde Obrigkeit, die die Untertanen vor dem „Erbfeind cristlichs lebenns“ schützte, der „erbare Zucht unnd gute Ordnung nit lanng leidenn kan“. 23 In Württemberg setzte sich bereits Herzog Ulrich als erster protestantischer Landesherr dieser Forderung enstprechend in Szene. Laut der Visitationsordnung von 1547 sei es dem „frommen, gottseligen Regennten unnd Künigen“ schon zu Beginn seiner Herrschaft ein besonderes Anliegen gewesen, „mit embsigem, eifferigem ernnst und trewem vleis“ darauf hin zu trachten, „wie der Nam Gottes geheilliget, sein Lob, Eer und preiß gefurdert, aller aberglaub unnd abgötterei zerstört unnd ab dem weg gethan, unnd dann bei den unnderthonen Zucht unnd Erberkeit, auch gütte Ordnung und policei gepflannzt, dardurch der arm bei Recht unnd billicheit geschützt unnd geschirmbt werde“. 24 Die vor Ort abgehaltenen Visitationen ließen sich als konkret sichtbares Mittel einsetzen, um nach innen gegenüber den Amtleuten und der Bevölkerung sowie nach außen hin gegenüber anderen Herrschaften den landesherrlichen Anspruch auf die Kirchenpolitik und die Durchsetzung der eigenen Konfession im Territorium als allein verbindliche Auslegung des Evangeliums zu unterstreichen. Zudem wurde die Rolle des Landesherrn als christlicher Herrscher betont, der die Verwantwortung für die gute Ordnung im Gemeinwohl und das Seelenheil seiner Untertanen trug. Hatte bereits die Veröffentlichung einer Kirchen- oder Visitationsordnung eine symbolische Dimension an sich, so wurde dieser Effekt 23 So die Visitationsordnung von 1547, vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 155. Zur symbolischen Repräsentation von Herrschaft in den Visitationen siehe Flüchter, Konfessionalisierung, S. 225-252. 24 Arend, Kirchenordnungen, S. 149. Als biblische Vorbilder und zur weiteren Legitimation dieser Bestrebung wurden die „Historien büecher des allten Testaments“ herangezogen. Ebd., S. 153. Zur alttestamentlichen Legitimationsbasis des landesherrlichen Kirchenregiments in Württemberg siehe auch Holtz, Umgang mit der Obrigkeit, S. 134, 144-153. <?page no="165"?> 166 durch die Inszenierung der Visitation um das Vielfache gesteigert. 25 Die Regelmäßigkeit der Visualisierung durch die einbis zweimal jährlich abgehaltenen Kirchenvisitationen trug zur weiteren Stärkung der symbolischen Repräsentation des obrigkeitlichen Anspruches vor Ort bei. Obwohl die Visitation sich „als Aufführung“ zunächst an die Amtmänner und Vertreter der lokalen Eliten richtete und in der Regel keine Dorfbewohner außerhalb der Ehrbarkeit und den ggf. vorgeladenen Dissidenten anwesend waren, muss man in einer kleinräumigen, auf mündlicher Kommunikation basierenden Gemeinschaft davon ausgehen, dass die symbolische Inszenierung wirkungsmächtig ins Dorf getragen wurde. David W. Sabean zufolge wurde bei der obrigkeitlichen „staging of the events“ mehr oder durchaus bewusst die Tatsache berücksichtigt, dass das Drama der Visitation ein Thema in der dörflichen Öffentlichkeit werden würde. 26 Gleichzeitig wurde die Legitimität des Vorgehens und des landesherrlichen Anspruches auf die Visitation zumindest in Ansätzen bereits durch die Anwesenheit und das Mitspielen der in den Prozess eingebundenen bzw. von den Maßnahmen betroffenen Akteure bestätigt. 27 Die Darstellung der Rolle und der Pflichten der christlichen Obrigkeit änderte sich in den späteren Visitationsordnungen des 16. Jahrhunderts nicht. Etwa in der Visitationsordnung von 1557 wurden als obrigkeitliche Aufgaben die „anrichtung gutter Pollicey unnd eusserlicher Zucht, zuvorderst aber Pflantzung göttlichs, hailmachenden worts“ genannt, die in erster Linie durch „bestellungen der ministerien mit gelerten, gottsforchtigen kirchendienernn“ und die landesherrlichen Visitationen erreicht werden sollten. 28 Gleichzeitig wurde die Position und Strafgewalt des Landesvaters durch die Bezugnahme auf Gott legitimiert: „Dann wie der Allmechtig seines heiligen Worts Verachtung unnd gutter, heilsamen Ordnung Ubertrettung nicht ungestrafft lassen würdt, Also seind wir bedacht, solchen Ungehorsam und Farlessigkeit auch für unsere Person und in Krafft unsers anbefolhenen unnd tragenden Göttlichen Ampts ohne gebürlichs, ernstlichs einsehens nicht hingehn zulassen.“ 29 Deutlich wird in diesem Zusammenhang ausgedrückt, dass Normübertretungen im göttlichen Auftrag geahndet werden sollten. Im Jahre 1582 stellte sich Herzog Ludwig in die Tradition seines herzoglichen Vaters, um das von diesem begonnene Werk der Reformation vom Kirchen- und Schulwesen mit gebührendem „Christlichem eiffer“ fortzusetzen. Dies bedeutete alles zu unternehmen, „was zur Ehr des Allmechtigen, auch ewigem Heil und Aufferbawung seiner geliebten 25 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 243f. 26 Ebd., S. 248; Sabean, Peasant Voices, S. 70. Siehe auch Kaul, Undankbare Gäste, S. 296. 27 Vgl. Flüchter, Konfessionalisierung, S. 247. 28 Arend, Kirchenordnungen, S. 326. 29 Ebd., S. 461. <?page no="166"?> 167 Kirchen dienlich“ sei; nicht zuletzt erfolge dies weiterhin durch das Erlassen von „allerhandt heilsame[n], wolbedachte[n] Ordnungen“. 30 Das obrigkeitliche Anliegen am Visitieren bestand somit darin, durch die Feststellung und Beseitigung diverser Mängel, unter denen die Abschaffung von Irrlehren und Bewahrung des Seelenheils der Untertanen einen beträchtlichen Teil ausmachten, die Besserung der Gesellschaft voranzutreiben. Die konkreten Maßnahmen wurden an die Amtsträger der verschiedenen Verwaltungsebenen delegiert, die in dieser Tätigkeit regelmäßig zu überprüfen und ggf. zu korrigieren waren. 4.2. Praktische Angelegenheiten 4.2.1. Visitationstypen Peter Thaddäus Lang hat zwei Hauptformen von Visitationen ausgemacht, die Mittelpunktvisitation und die Visitationsreise. Daneben existierten Mischformen sowie der seltenere Typus der Einzelvisitation. 31 Bei der Mittelpunktvisitation wurden die Geistlichen eines bestimmten Gebietes an einem Ort zusammengerufen, wo sie von den Visitatoren befragt wurden. Bei einer Visitationsreise hingegen konnten sich die Visitatoren persönlich ein Bild von den Gegebenheiten vor Ort machen. 32 In Württemberg handelte es sich bei den Kirchenvisitationen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts überwiegend um Visitationsreisen. Sie waren seit 1559 zweimal jährlich vorgeschrieben, doch scheinen sie im späten 16. Jahrhundert abgesehen von den Jahren 1584-1588 nur einmal im Jahr stattgefunden zu haben. 33 Eine Einzelvisitation richtete sich „gezielt auf einzelne problembeladene Personen oder Orte“. 34 Im Folgenden woll kurz eine solche Einzel- oder Spezialvisitation (so die zeitgenössische Quellenbezeichnung) vorgestellt werden, da die praktischen Umstände und das Vorgehen der Visitatoren hier deutlicher sichtbar werden als in der formalisierten Protokollierung der regulären Visitationen. Gleichzeitig spiegelt sie die Bedeutung der Täufer als spezielles Problem der Normgeber wider. 30 Ebd., S. 460f. Siehe auch ebd., S. 71. 31 Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 128f. 32 Allerdings war davon auszugehen, dass dieses Bild unter Umständen von den Betroffenen in der Pfarrei bewusst verzerrt werden konnte. Ebd., S. 134f. 33 Vgl. Bestand LKA A1/ 1581-1590. In Herzog Friedrichs Visitationsinstruktion vom 6. August 1597 wurde dann nur noch eine jährliche Visitation vorgeschrieben. Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 470-472. Neben der Visitationsreise war auch die Möglichkeit einer Mischform zwischen Visitationsreise und Mittelpunktvisitation vorgesehen, in der die Amtmänner einzelner Gemeinden in die Amtsstadt berufen wurden, um sie dort zu visitieren. Landwehr, Policey im Alltag, S. 100; Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 73. 34 Lang, Visitationsakten, S. 129. <?page no="167"?> 168 Nachdem das Konsistorium in Stuttgart im Jahre 1598 von zwei festgenommenen Urbacher Täufern erfahren hatte, dass sich in diesem bekannten „widertäufferisch nesst“ „ohne zweÿfel anndere mehr dergleichen sectarii sich heimlich hallten“, entschied es sich am 31. März desselben Jahres, eine Spezialvisitation in der Gemeinde zu veranstalten. 35 In seinem Beschluss beschrieb die Kirchenleitung eng an das Vokabular der Visitationsordnungen angelehnt die Ziele dieser Tätigkeit, die zunächst in der Informationserhebung vor Ort bestanden: Es sei eine „gemein durchgehende Inquisition vnnd examination anzustöllen, darmit man den grundt erlernen vnnd nach befündung gebürendt einsehens thon möge“. 36 In einem zweiten Schritt, ebenfalls ganz im Geiste der zeitgenössischen Visitationsbestimmungen, sollten auf der Basis der erhobenen Informationen Maßnahmen zur Beseitigung der vorgefundenen Missstände entwickelt werden. Die Visitation sollte von Lukas Osiander, dem Prälaten von Adelberg, der bereits in Urbach an einem Examen anwesend gewesen war und somit zumindest grob mit den Dorfverhältnissen vertraut war, und Matthäus Aulber, dem Spezialsuperintendenten von Schorndorf, geleitet werden. Außerdem sollten der Urbacher Pfarrer Gregorius Glareanus und einige der Stuttgarter Oberräte anwesend sein. Vorgeladen werden sollten alle Männer und Frauen im „verstandlichen“ Alter. 37 Die umfangreichen Befragungen begannen im Frühjahr 1598. Die Sitzungen fanden im Urbacher Rathaus statt. 38 Im Sommer wurde die Visitation u. a. aufgrund von Sitzungen des Hofgerichtes vorläufig abgebrochen und erst am 5. Dezember von Obervogt Jakob von Gültingen, Propst Andreas Grammer und Spezialis Aulber wieder aufgenommen. 39 Im Dezember 1598 berichteten die Visitatoren ihren Vorgesetzten über das Vorgehen. Jeden Tag morgens von 6 bis 11 Uhr und nachmittags von 13 bis 18 Uhr würden sie „ein guter anzahl verdächtiger vnd vnverdächtiger, auch thails In Christlicher Religion sehr vnerfahrener Personen“ vernehmen. Zunächst hätten sie die Urbacher einzeln befragt, aber da noch fast 600 Personen zu verhören blieben, 40 holten sich die Visitatoren die Erlaubnis ein, diejenigen Familien, die die Predigten fleissig besucht hatten, „zu befürderung der sachen vnd ersparung deß Täglich vfflauffenden vncostens“ gemeinsam vorzuladen und zu befragen. Begründet wurde dies damit, dass von diesen Leuten „der mehrer Theil deß widertauffs oder andrer secttischen opinion Inn khainem verdacht“ stehe. 41 Diejenigen aber, die sich bisher in Religionssachen nicht gebührlich erwiesen hatten - „welches dem pfarrern am bessten würd bewust sein“ -, sollten weiterhin einzeln vernommen werden. 42 35 HStAS A282/ 3094c, f. 108r-108v. 36 HStAS A282/ 3094c, Nr. 15, f. 22r. 37 HStAS A282/ 3094c, f. 108r-108v. 38 Da die Visitatoren in Urbach keine Unterkunft finden konnten, übernachteten sie im benachbarten Haubersbronn. HStAS A282/ 3094c, Nr. 13, f. 78v. 39 HStAS A282/ 3094c, f. 93r. 40 HStAS A282/ 3094c, f. 89r. 41 HStAS A282/ 3094c, Nr. 10, f. 87r. 42 HStAS A282/ 3094c, f. 87r. <?page no="168"?> 169 Die oben beschriebene Form der Visitation stellt den Typus Spezial- oder Einzelvisitation dar, die die Inspektion lediglich einer einzigen Pfarrei umfasste, sei es aufgrund von „besonders skandalöse[r] Vorkommnisse“ oder bestimmten politischen Umständen wie etwa geteilten Herrschaften. 43 In Urbach lag der Grund in dem Fortleben und der befürchteten Ausbreitung der Täuferbewegung. Dazu kam die in den Visitationen und anhand der Berichte des örtlichen Pfarrers gemachte Feststellung, dass die Urbacher insgesamt äußerst schlecht über die christlichen Grundlagen informiert zu sein schienen. Ausnahmsweise wurde hier die gesamte Dorfbevölkerung vorgeladen. In der Regel begnügte man sich mit der Befragung der Kirchendiener, Amtleute und Vertreter der örtlichen Oberschicht. 44 Die Spezialvisitation in Urbach weist darauf hin, welch eminente Bedeutung der Visitation als Mittel zur Entlarvung religiöser Dissidenten und ihrer Belehrung beigemessen wurde, um so die sittliche und religiöse (bzw. konfessionelle) Reformation der Gesellschaft voranzutreiben. Gleichzeitig sollte der religiös-konfessionelle Wissensstand der Urbacher Bevölkerung insgesamt eruiert werden, um die in diesem Gebiet gefundenen Mängel beheben zu können. 4.2.2. Vorgesehener Verlauf der Visitation Visitationen waren grundsätzlich formale Angelegenheiten. Ihrer Durchführung lagen offizielle - und öffentliche - Richtlinien in den Visitationsordnungen zugrunde. So ging den durchgeführten Visitationen eine offizielle Ankündigung voraus, die in Druckausgaben an die betroffenen Amtleute verschickt werden sollte. Insbesondere bei der Visitation der Ämter wurde diese Maßnahme als notwendig erachtet, um sicher zu gehen, dass die zu Visitierenden zum vorgeschriebenen Zeitpunkt an Ort und Stelle waren. 45 Die öffentliche Ankündigung der Visitationen hatte neben dem praktischen Zweck, die Amtleute von der kommenden Veranstaltung zu informieren, außerdem ein deutlich symbolisches Anliegen: Durch ihre Anwesenheit und ihre Antworten in der Visitation legitimierten die herzoglichen Amtleute und die Vertreter der lokalen Eliten zumindest implizit den Anspruch der Landesherrschaft auf die Visitation. Gleichzeitig wurden die Amtleute in den Visitationsausschreibungen an ihren Eid und somit ihre Verpflichtungen gegenüber den Landesherrn erinnert. Dadurch wurde nicht nur der Herrschaftsanspruch der Landeskirche sichtbar gemacht, sondern auch allgemein 43 Wie Lang bemerkt, kamen allerdings auch Mischformen dieser Idealtypen vor. Lang, Kirchenvisitationsakten, S. 134f. 44 Vgl. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 321. 45 Arend, Kirchenordnungen, S. 150, 386; Strauss, Luther’s House of Learning, S. 252. Der konkrete Ablauf einer Visitation wurde vor allem in den Visitationsinstruktionen vorgeschrieben, während die Visitationsordnungen sich meist genereller auf das Gesamtkonzept sowie die Legitimation der Visitation konzentrierten. Auch die an die Spezialsuperintendenten adressierte Visitationsordnung, die in der Großen Kirchenordnung von 1559 eingegliedert ist, hält konkrete Ausführungsbestimmungen - inklusive Fragebögen - fest. Siehe hierzu Arend, Kirchenordnungen, S. 140-142, 326-343, 385-394, 470f. <?page no="169"?> 170 „die Herrschaftsstrukturen zwischen Herzog und Amtmännern inszeniert und aktualisiert“. 46 Als Anfangspunkt für die Visitationstouren war zunächst die jeweilige Amtsstadt vorgesehen, wo morgens nach einem Gottesdienst mit dem Visitieren begonnen werden sollte; mutatis mutandis war nach den gleichen Vorschriften auch in den Landpfarreien vorzugehen. 47 In den Städten sollten die Visitationen in der Gemeindekirche, im Rathaus oder auf dem Marktplatz, auf dem Land meist im Pfarrdorf stattfinden. 48 Hierbei war das Prinzip der Visitationsreise nicht zwingend einzuhalten. Vielmehr stellte es die Kirchenleitung der Visitationskommission zur freien Entscheidung, „wo es sie für bequemer ansehe unnd mit wenigerm costen geschehen möchte, [...] den pfarrer, Schulthais unnd Gericht zu inen in die Statt zuerfordernn oder ettwa zwai oder drei dörffer zusamen inn ain gelegenn dorffzubeschreiben, alles nach gelegennheit der umbstennde.“ 49 Nach der Eröffnungszeremonie sollte zunächst der Pfarrer und der Hilfsgeistlichen in seiner Amts- und Lebensführung überprüft werden. 50 Angefangen mit Lehrfragen - wie der Einhaltung der vorgeschriebenen Confessio Augustana und Confessio Virtembergica - und der Ausführung der Gottesdienste, Sakramentsspendung sowie des Katechismusunterrichts umfasste die Befragung des Weiteren eine Fülle an Fragen zu den weltlichen und kirchlichen Zuständen in der Gemeinde. Die Vernehmung des Pfarrers sollte mit Fragen nach den Kirchenbesuch, der Sittenzucht der lokalen Amtsträger wie auch der sonstigen Gemeinde fortgeführt werden. 51 Danach sollten sich die Visitatoren der Überprüfung des Schulmeisters der örtlichen Schule und des dort erteilten Unterrichts widmen. 52 Das für die Geistlichen vorgesehene Vorgehen galt auch für die Befragung der weiteren Vorgeladenen. So sollten sich die Visitatoren nach den Kirchendie- 46 Flüchter, Konfessionalisierung, S. 247f. 47 Arend, Kirchenordnungen, S. 150, 152. 48 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 256; Flüchter, Konfessionalisierung, S. 248; Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 64-72; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 50-54. 49 Arend, Kirchenordnungen, S. 152. 50 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 256; Flüchter, Konfessionalisierung, S. 248; Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 64-72; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 50-54. 51 Bei der Überprüfung der örtlichen Amtsträger waren für die Normgeber neben der Abhaltung von Vogt- und Ruggerichten, der Rechnungsführung und den Finanzen der Gemeinde auch der Umgang mit Armen und das Almosenwesen im Ort von besonderem Interesse. Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 150f.; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 321. 52 Arend, Kirchenordnungen, S. 151. Ähnlich lauten die Bestimmungen in der Großen Kirchenordnung von 1559, vgl. ebd., S. 386-388. Die für die Visitation vorgesehenen inhaltlichen Punkte lassen sich in dieser Reihenfolge insbesondere in den ausführlicheren Visitationsprotokollen des frühen 17. Jahrhunderts wiederfinden. Siehe hierzu den Bestand HStAS A281. <?page no="170"?> 171 nern die Ober- und Unteramtleute, die örtlichen Gerichts- und Ratspersonen sowie „ettlich namhaffte vonn der Gemaind“ einzeln vornehmen. 53 Zum Verfahren gehörte bei allen Betroffenen die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, den Visitatoren gegenüber Aussagen über andere Amtsträger bzw. Gemeindemitglieder zu treffen; in der in der Großen Kirchenordnung von 1559 einverleibten Visitationsordnung wurden den Visitatoren hierfür spezifische Fragenkataloge vorgegeben. 54 Als letzter Tagesordnungspunkt einer Visitation stand die Frage nach den religiösen und moralischen Dissidenten innerhalb der Gemeinde. Wurden Vorwürfe dieser Art gegen Gemeindemitglieder erhoben, hatten die Visitatoren der Gesinnung der Betroffenen anhand der in den Täuferordnungen näher dargelegten Gesichtspunkten auf den Grund zu gehen. Auch der Synodus hatte bei seiner Beratschlagung der Fälle nun nicht nur die Bestimmungen der Visitations-, sondern auch der Täuferordnungen zu berücksichtigen. Das Gleiche galt für die Pfarrer, sofern sie täuferische Tendenzen bei ihren Gemeindemitgliedern vermuteten. 55 Der Kirchenleitung war die Aufgeladenheit der Visitationssituation durchaus bewusst; es war klar, dass die Vorgeladenen versuchten, sich in möglichst gutem Licht zu darzustellen. Gerald Strauss hat sogar ein grundsätzliches Bemühen der Visitatoren beobachtet, die Stimmung während der Visitation für alle Beteiligten so angenehm wie möglich zu gestalten. Dies mochte zum einen der Darstellung einer guten, christlichen Obrigkeiten dienen, 56 doch ging es zum anderen bei der Schaffung einer möglichst unbedrohlichen Atmosphäre in einem nicht geringerem Maße darum, am effektivsten an die gewünschten Informationen zu gelangen. 57 In Württemberg wurde den Visitatoren die Anweisung gegeben, nicht nur gegenüber den „einfelttigen“ in den Gemeinden „in verrichtung diß unnsers bevelchs durchauß mügliche beschaidenhait“ zu gebrauchen, sondern insgesamt „mit freundtlicher beschaidenhaitt sich jeder ortten anbietten“. 58 53 Visitationsordnung von 1547 schrieb hierzu vor: „So dann allso die Kirchenndiener nach notturfft examinirt unnd befragt werdenn, sollenn die Inquisitores gleicher gestallt erstlich den Ober Ambtman, darnach den Unnder Arnptman, die Gerichtsunnd Raths Leut, auch ettlich namhaffte vonn der Gemaind ad partem unnd jeden insonderheit befragenn.“ Arend, Kirchenordnungen, S. 151. 54 Ebd., S. 388f. 55 Im Unterschied zu den Mitgliedern der Kirchenleitung konnten sie allerdings nicht auf die umfassenden Überlegungen der unpublizierten Täuferordnungen von 1571 und 1584 zurückgreifen, sondern mussten, sofern das Vorgehen nicht eindeutig vorbestimmt war, vor weiteren Schritten eine Resolution von der Kirchenleitung einfordern und abwarten. 56 Flüchter, Zölibat, S. 152, zufolge erhob die visitierende Obrigkeit „den Anspruch, die Gemeindemitglieder über wichtige Lebensbereiche auszufragen, und legitimierte dies mit ihrer Verantwortung gegenüber Gott“. Siehe auch Davis, Fiction in the Archives, S. 53; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 361. 57 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 253. Eine ähnliche Haltung innerhalb der Kirchenleitung beschreibt Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 184-186, im Zusammenhang mit dem in Württemberg unter Herzog Christoph durchgeführten Experiment der heimlichem Rüger. 58 Arend, Kirchenordnungen, S. 328f. Inwiefern das Ideal freundlicher Bescheidenheit in den Be- <?page no="171"?> 172 Bei der Ausführung der Visitationen wurden im Hinblick auf die Bekämpfung nonkonformer religiöser Strömungen im Laufe des 16. Jahrhunderts mit verschiedenen Möglichkeiten experimentiert, um das optimale Vorgehen zu ermitteln. So wurden in den frühen 1570er Jahren die Visitationsreisen von einigen Mitgliedern der Kirchenleitung als ungeeignet kritisiert. Es sei vergeblich, den religiösen Dissidenten in den Dörfern hinterher zu ziehen, „dan so baldt sie dessen Inne werden, so enteussern sie sich die weil des flecken vnd wirdt nichts erricht. Es were vil besser, man neme Einen nach dem andern, wa man Ine ergreiffen kondt, vnd schicket Ine hieher, so sehen sie den Ernst.“ 59 Diese Einsicht schlug sich in der Praxis nieder, in den regulären Visitationen - und ggf. auch außerhalb dieser - in ihrer Haltung als verdächtig befundene Personen einzeln zu vernehmen. In Extremfällen konnte wie im Jahre 1598 in Urbach sogar eine Spezialvisitation eingeleitet werden. In diesen Examen wurden die Verdächtigten anhand der in den Täuferordnungen festgehaltenen täuferischen Lehrfragen überprüft und dem Grade ihrer Devianz entsprechend einer Kategorie zugeordnet. Neben den Visitationsordnungen kamen an an dieser Stelle die Täuferordnungen zum Tragen. So zeigt sich gerade hier die sichtbarste Nahtstelle dieser beiden Typen von Ordnungen. Wurden die Täuferordnungen mitsamt den darin enthaltenen Fragebögen auch in den Visitationen angewandt und wurde ihre Kenntnis von den Visitatoren vorausgesetzt, waren sie doch nur eine Facette des Visitierens neben anderen. In den Einzelvernehmungen jedoch standen die Bestimmungen der Täuferordnungen im Vordergrund, um angemessene Etikette und Sanktionen für die potentiellen Täufer und Täuferinnen zu ermitteln. Die Reihenfolge der nach der Amtsstadt zu visitierenden Gemeinden war in Württemberg nicht festgelegt. Für die Kuroberpfalz sind von Katharina Frieb Visitationsrouten rekonstruiert worden, die keinem konsequenten Schema folgten, sondern eher den jeweiligen Bedürfnissen der Speziale entsprechend angelegt waren: Während einige die Visitatoren sich bemühten, die Wegstrecken möglichst kurz zu halten, konnten andere ihre Tour so anlegen, dass sie immer wieder am eigenen Wohnort vorbeiführte. 60 Auch für den offiziellen Abschluß der Visitationen vor Ort wurden in den württembergischen Ordnungen keine speziellen Vorgaben gemacht. Um so mehr wurde Wert auf die nach der Visitation vorfragungen von den jeweiligen Visitatoren aufgenommen und umgesetzt wurde, bleibt allerdings fraglich. Auch Strauss sieht der freundlichen Stimmung in der Visitation aufgrund des Machtgefälles Grenzen gesetzt: „To some extent this amiable approach seems to have worked, although it is to be doubted that the visiting party’s carefully cultivated air of bonhomie was able to break through the social and psychological barrier separating common folk from the officialdom that harassed and browbeat them in their daily lifes.“ Strauss, Luther’s House of Learning, S. 254. 59 LKA A26/ 466 I, f. 27v. 60 Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 313. <?page no="172"?> 173 zunehmende gewissenhafte Verschriftlichung und Weiterleitung der Befunde an den Synodus gelegt. 61 4.3. Zusammensetzung und Aufgaben der Visitationskommission 4.3.1. Ein weltlich-kirchliches Gemeinschaftsprojekt In der Visitationsordnung von 1547 wurden von Seiten der Normgeber die Aufgaben der Kommissionsmitglieder definiert und spezifische Erwartungen an ihr Auftreten und ihre Charaktereigenschaften herangetragen. So sollten die Visitatoren idealerweise „guthertzige, trewmainende personen“ sein, die „aines guten Leumbdens“ waren. Dies bedeutete im Detail, dass sie „die predigen unnd Sacramenta der Kirchen mit embsigem vleis besuchen, die büecher der heilligen schrifft gernn lesen, ein erbar, unsträfflich leben unnd wanndel fierenn“. 62 Die Maßstäbe wurden durch die Verknüpfung des Lebenswandels der Visitatoren mit ihrer Amtsführung - zumindest theoretisch - hoch angelegt. Nicht nur sollten sie ihren Amtspflichten engagiert nachgehen, gleichzeitig hatten sie ein moralisches Vorbild für die ihnen untergeordneten Amtleute sowie für die Bevölkerung abzugeben. 63 Die Aufgabenbereiche der weltlichen und kirchlichen Amtsträger waren im Zusammenhang der Visitation und der Täuferbekämpfung eng miteinander verknüpft. Die Visitationskommission - gewissermaßen das beauftragte ‚Team‘ der Normanwender - sollte sich in Württemberg mindestens aus einem Geistlichen, einem Adeligen, einem Bürger sowie einem Schreiber zusammensetzen, so dass in den Visitationen sowohl die weltlichen als auch die kirchlichen Obrigkeiten präsent waren. 64 Die Kooperation zwischen den weltlichen und kirchlichen Amtsträgern in der Visitationskommission sollte einen möglichst reibungslosen Ablauf des Verfahrens vor Ort garantieren. 65 61 Vgl. hierzu unten Kap. 4.3. 62 Arend, Kirchenordnungen, S. 150. 63 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 55. 64 Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 150. Zur Zusammensetzung der Visitationskommission siehe auch Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 323; Landwehr, Policey im Alltag, S. 99; Lempp, Der württembergische Synodus, S. 37, 41f., 44-46; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 45f. Wie Landwehr, Policey im Alltag, S. 99, herausgestellt hat, deutet die ‚gemischte‘ Zusammensetzung der Visitationskommission darauf hin, „daß die Visitation nicht als eine rein innerkirchliche Angelegenheit intendiert war, sondern als Zielgruppe den gesamten Stab des Territorialstaates im Blick hatte“. Siehe auch ebd., S. 140. 65 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 320. Siehe auch Labouvie, Verbotene Künste, S. 214. In der Praxis verlief die Zusammenarbeit freilich nicht immer reibungslos. Vgl. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 296. <?page no="173"?> 174 „Die Durchführung einer Visitation lag überwiegend in der Hand eines kirchlichen Personenkreises. Das war schon wegen der dort vorauszusetzenden Sachkunde in kirchlichen Angelegenheiten - von der Sakramentspendung bis zur Pfarrerwitwenversorgung - notwendig. In der Praxis lief eine Visitation gewöhnlich in Kooperation von geistlicher und weltlicher Obrigkeit ab, sehr oft nach vorausgegangener Beratung und Absprache.“ 66 Ein zentrales Prinzip bei der Besetzung der Visitationskommission war, dass die Gemeinde in der Amtsstadt, in der der Spezialis Stadtpfarrer war, nicht von diesem überprüft werden konnte. So wurde etwa die Amtsstadt Schorndorf im frühen 17. Jahrhundert vom Spezialis zu Waiblingen visitiert. 67 Aus den erhaltenen württembergischen Visitationsakten geht die Zusammensetzung der Kommission meist jedoch nicht genau hervor. Dass ihr die Speziale und Untervögte zugehörten, wird aus den in der Visitationssituation beschriebenen Handlungen deutlich; außerdem weist darauf auch die weitere Berichterstattung über mutmaßlich täuferische Personen hin, die überwiegend durch die Speziale und Untervögte - je nach Sachlage gemeinsam oder einzeln - vorgenommen wurde. Die Aufgabenfelder der weltlichen und kirchlichen Mitglieder der Visitationskommission waren zwar in Teilen getrennt (ihnen wurden etwa eigene Fragebögen an die Hand gegeben), doch lässt sich eine klare Abgrenzung der Kompetenzen nicht durchgehend ausmachen. 68 Achim Landwehr hat ein auf Wechselwirkung basierendes Herrschaftsmodell entworfen, in dem er zwischen Normbzw. Programmgebern, -anwendern und -adressaten unterscheidet. 69 Doch wie er selber angemerkt hat, ist das schematische Drei-Stufen-Modell aufgrund der Vielzahl der eingebundenen Akteure in sich weiter zu differenzieren. Demnach ist es von großer Bedeutung, „die Programmanwender als eigenständige Gruppe zu fassen und nicht auf den Status eines verlängerten Armes der territorialen Obrigkeit zu reduzieren. Sie besaßen weit mehr Möglichkeiten eigenständigen Vorgehens als dies in der Forschung üblicherweise konzediert wird“. 70 Diese Aufgabe wird allerdings dadurch erschwert, dass der Gebrauch der Begriffe ‚Amtmann‘ oder ‚Amtleute‘ in den Verordnungen des 16. Jahrhunderts keineswegs klar umrissen ist. Wenn keine explizite Trennung zwischen Ober- und Unteramtleuten vorgenommen wurde, 71 konnten Amtsträger sowohl auf den mitt- 66 Zeeden & Lang, Einführung, S. 14. 67 Landwehr, Policey im Alltag, S. 54. Für die Visitationen in der Amtsstadt Schorndorf siehe z. B. HStAS A281/ 1117. 68 Vgl. Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 45. 69 Siehe z. B. Landwehr, Policey vor Ort, S. 51f. 70 Landwehr, Policey im Alltag, S. 55. 71 Etwa in der Täuferordnung von 1571 ist im Kapitel über die Amtleute von den „ober vnnd vnderambtleuthen vnnd andern Dienern vnnd Knechten“ die Rede. An anderer Stelle werden <?page no="174"?> 175 leren (Amtsstadt) als auch den unteren (Gemeinde) Verwaltungsebenen gemeint sein. 72 Die betroffenen Amtsträger müssen in diesen Fällen soweit wie möglich aus dem Kontext erschlossen werden. Dies gilt für die in die Täuferbekämpfung eingebundenen obrigkeitlichen Akteure, die sich ebenfalls nicht eindeutig gruppieren lassen. Es war die Aufgabe der mittleren Verwaltungsebene, die Kommunikation zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ zu bündeln und weiterzuleiten. Gleichzeitig sollten sie auch die Einhaltung der Ordnungen vor Ort überwachen. Wenn im Folgenden von den an die weltlichen und kirchlichen Amtleute gerichteten Anweisungen die Rede ist, so sind als ihre Adressaten neben den Spezialen und Vögten auch die lokalen Amtsträger mitzudenken. Die Mitglieder der Visitationskommission waren sowohl Normanwender wie auch Normadressaten und mussten in ihren Handlungen den Herausforderungen dieser Doppelrolle gerecht werden. 73 Ihre Handlungsräume waren durch die begrenzte Möglichkeit der Visitatoren, selbständig vor Ort Maßnahmen zu ergreifen, definiert bzw. eingeengt. In den schwierigen oder schwerwiegenden Fällen konnten sie erst nach der Berichterstattung und einer Rückmeldung von Seiten der Stuttgarter Behörden agieren. 74 In eindeutigen und leichteren Fällen dagegen hatten sie sich nach den geltenden Visitations-, Täufer- oder sonst relevanten Ordnungen zu richten. Raum zum selbständigen Handeln blieb ihnen am ehesten in der Phase der Belehrung, deren Durchführung weder in den Visitations- und Täuferordnungen genau vorgegeben noch in den Visitationsprotokollen näher beschrieben wurde. Insgesamt blieben die Visitatoren vom Synodus abhängig, der wiederum in letzter Instanz auf die Entscheidungen des Herzogs angewiesen war. Somit geschah das Berichten und Agieren der Visitatoren - wie aller im Prozess eingebundenen Akteure - immer innerhalb hierarchischer Machtstrukturen. Als mittlere Verwaltungsebene waren sie von ‚oben‘ wie von ‚unten‘ Anforderungen und Druck ausgesetzt, die ihr Handeln und ihre Legitimationsstrategien beeinflussten. Demnach mussten die Mitglieder der Visitationskommission den Anforderungen der Zentralbehörden, die im Namen des Landesherrn die Normen festlegten, gerecht werden. Gegebenenfalls mussten die Ober- und Unteramtleute, Mitglieder der Gerichte, die Forstmeister und Knechte, sowie die Dorf- und Waldschützen als Adressaten eines aktuellen Ausschreibens gegen die Täufer genannt. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 59v-60r, 62v. 72 Ähnlich hat Landwehr die frühneuzeitlichen Programm- oder Normanwender in drei Gruppen geteilt, „erstens die herrschaftlichen Amtsträger, die direkt der Zentralregierung verantwortlich waren, zweitens die Gruppe der lokalen Obrigkeit, die das Regiment in der Gemeinde ausübte, und schließlich die Gruppe lokaler Amtsträger, die Aufgaben innerhalb der Kommune wahrnahmen“. Landwehr, Policey vor Ort, S. 61. 73 Dennoch machten die Normanwender nur einen kleinen Teil innerhalb der Gruppe der Normempfänger insgesamt aus. Landwehr, Policey im Alltag, S. 55f. 74 Arend, Kirchenordnungen, S. 152-155. Vgl. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 304f.: „Die Kompetenz der Spezialsuperintendenten umfaßte [...] die Erteilung vorläufiger Handlungsanweisungen, die gemeinhin solange Gültigkeit besaßen, bis der Kirchenrat oder eine andere Behörde gegebenenfalls anderslautende Befehle erteilte.“ <?page no="175"?> 176 auch sie sich für ihre Handlungen rechtfertigen; im Regelfall geschah dies in den Berichten. Dass unter Umständen selbst die Normanwender sich für ihr Handeln rechtfertigen mussten, hat Sebastian Schmidt am Beispiel des Hofpredigers Johann Schnepf und des Superintendenten Bernhard Bernhardi der nassau-dillenburgischen Landeskirche gezeigt. 75 Der Hofprediger Schnepf wurde im späten 16. Jahrhundert wegen seines unsittlichen Lebenswandels in der Visitation angezeigt. Die vorgebrachten Argumente und seine Strategie der Verharmlosung, die er anwandte, lassen sich durchaus mit denen der Untertanen vergleichen. 76 So wies Schnepf die Vorwürfe gegen seine Trunksucht zunächst mit dem Hinweis auf medizinische und altersbedingte Gründe zurück: Er könne ohne Alkohol nicht einschlafen, würde jedoch keineswegs im Übermaß trinken. Sein unsicherer Gang habe nichts mit seinem Alkoholkonsum zu tun, sondern sei eine Alterserscheinung und ein Zeichen leiblicher Schwäche. Bemerkenswert ist in diesem Fall, dass der Hofprediger vom Superintendenten Bernhardi nicht mehr als ermahnt werden konnte, weil dieser selbst der Trunksucht sowie einer eigenmächtiger Amtsführung bezichtigt wurde. Vielmehr benötigte der Superintendent „die gesamte Synode als Zeugen, um sich von diesen [...] Vorwürfen zu befreien“. 77 Aufgrund ihrer sittlichen Vorbildfunktion konnten den hohen kirchlichen Amtsträgern offiziell keine Freiräume gelassen werden. 4.3.2. Die Rolle der Spezialsuperintendenten (Speziale) Gewissenhaftes Beobachten, Befragen und Berichten: Ideale Eigenschaften und Aufgabenfelder der Visitatoren Die idealen Eigenschaften eines Spezialsuperintendenten (Spezialis) wurden in der Großen Kirchenordnung von 1559 beschrieben: Um das ihnen übertragene Amt möglichst erfolgreich ausführen zu können, sollten sie gelehrte, gottesfürchtige, ehrenhafte, tapfere sowie in Lehre und Leben tadellose Männer sein. 78 Außerdem wurden dort die Aufgaben und Kompetenzen des Amtes ausformuliert und normativ festgelegt. 79 Zuvorderst wurde die Visitation des dem jeweiligen Spezialis zugewiesenen Amtes zweimal jährlich - zu Mitfasten und Bartholomäi - vorgeschrieben. Vor seiner erster Visitation hatte der Spezialis sein Vorhaben beim Oberamtmann anzuzeigen, damit ihm dieser bei möglichen Schwierigkei- 75 Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 88-93. 76 Zu den Strategien vor Gericht siehe unten Kap. 6.2. sowie z. B. Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, S. 63; Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 655. 77 Bernhardi profitierte hierbei von den engen familiären und freundschaftlichen Verbindungen zu seinen Zeugen und Kollegen, die sich für ihn einsetzten. Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 90-93. 78 Arend, Kirchenordnungen, S. 385. 79 Siehe ebd., S. 385-394. Zu den nach ‚oben‘ und ‚unten‘ ausgerichteten Aufgabenfeldern der Speziale siehe auch Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 297f. <?page no="176"?> 177 ten bzw. Widerstand von Seiten der zu Visitierenden Rückhalt und „befürderung“ geben konnte. Überhaupt hatte der Spezialis eine Visitation immer im Voraus anzukündigen, damit die in der Amtsstadt betroffenen Amtsträger zum richtigen Zeitpunkt anwesend waren. Bezüglich der Visitation der Landgemeinden musste der Spezialis wiederum den Amtmann (ob hiermit der Ober- oder Untervogt gemeint ist, bleibt unklar) rechtzeitig über die anstehende Visitation der Gemeinden informieren, damit dieser seinen Kollegen in den Dörfern entsprechend Bescheid geben konnten. Die Ankündigung der Visitation verlief also innerhalb der Kommunikationsnetzwerke der weltlichen Amtsträger; der Spezialis selbst musste sich in den Gemeinden nicht eigens anmelden. 80 Weiter wurden in der Großen Kirchenordnung den Spezialen eine Reihe von Anweisungen gegeben, wie sie in den einzelnen Fällen von vorgefundenen Missständen zu handeln hatten. Die meisten dieser Handlungsanleitungen betrafen den Umgang mit den Kirchendienern vor Ort, etwa wenn diese von den Spezialen als arbeitsscheu, in ihren Lehren nonkonform, in ihrem Lebenswandel anstößig, in lokale Konflikte verwickelt, lasterhaft, trinksüchtig oder körperlich geschwächt befunden worden waren. 81 Ab welchem Punkt die Grenze zu einem dieser Zustände überschritten war, blieb allerdings undefiniert und somit dem Ermessen der einzelnen Speziale überlassen. Die erste Maßnahme, die von den Spezialen gefordert wurde, bestand im „examiniern und erforschen“. 82 Bei Bedarf hatte er in einem zweiten Schritt die Betroffenen zu ermahnen und belehren. Nach der Berichterstattung waren zunächst weitere Anweisungen von Seiten der Kirchenleitung abzuwarten. 83 Für die konkrete Visitationssituation wurden in der Visitationsordnung von 1547 wie auch in der Großen Kirchenordnung von 1559 die einzelnen Themenbereiche festgesteckt, die vom Spezialis zu überprüfen waren. 84 Zunächst hatten sich die Speziale mit der Amts- und Lebensführung der Pfarrer auseinanderzusetzen. Zu eruieren war u. a., ob die Lehrauffassungen der Pfarrer konfessionsgemäß waren, sie die Sakramentsspendung und weitere kirchliche Zeremonien sowie den Katechismusunterricht richtig und in ausreichendem Maße ausführten, auch wie fleißig sie nachlässige Schüler zum Unterricht aufforderten. Zu überprüfen waren weiterhin die Führung von Taufbüchern, später auch von Ehe- und Totenbüchern, die Verkündigung der Ehegerichtsordung von der Kanzel sowie die Tätigkeiten im Bereich der Seelsorge. Besonderes Augenmerk sollte auf die Bib- 80 Arend, Kirchenordnungen, S. 385. 81 Kurz wurde auch auf die Maßnahmen im Todesfall eines Kirchendieners eingegangen. Ebd., S. 389-391. 82 Ebd., S. 389. 83 Für die Streitigkeiten zwischen Pfarrer und Gemeinde waren an anderer Stelle nähere Handlungsbestimmungen formuliert worden. Ebd., S. 390. 84 Ebd., S. 151f., 386-389. Hierbei wurden zum einen Fragen an die örtlichen Kirchendiener, zum anderen an das Magistrat und ggf. weitere Mitglieder des Dorfverbandes, vorformuliert. Auch für die Befragung von Personen, bei denen täuferische Tendenzen vermutet wurden, waren Fragebögen festgelegt, die weiter unten in Kapitel 4.3.4. behandelt werden. <?page no="177"?> 178 liothek und theologische Lektüre des Pfarrers gerichtet werden. Erwies sich dieser etwa als „Faulentzer“, war darüber nach erfolgter Ermahnung des Betroffenen der Kirchenleitung Bericht zu erstatten. 85 Bei der Inspektion der Pfarrersfamilie wurde insbesondere auf die christliche Erziehung der Kinder geachtet. 86 Danach sollten die Speziale vom Pfarrer Aussagen über die Amts- und Lebensführung seiner Gehilfen sowie Hinweise auf sektiererische Tendenzen innerhalb der Gemeinde einholen und den Zustand des lokalen Schulwesens festzustellen. Im Hinblick auf die lokale Ehrbarkeit hatten sie den Pfarrer zu befragen, in welchem Maße die Lands- und Kastenordnungen durch die weltlichen Amtsträger im Ort eingehalten und verkündet, Vogt- und Ruggerichte abgehalten und religiös oder sittlich deviante Personen geduldet wurden, kurzum: wie sie insgesamt ihre Aufgaben und Pflichten verrichteten und wie tugendhaft ihre Lebensführung ausfiel. 87 Nach ähnlichem Muster hatten die Speziale nach den Pfarrern das „Magistrat unnd ettlich andere gutthertzige“ 88 Personen der Gemeinde vorzunehmen. Hier sollte es zunächst um die Beurteilung des Pfarrers und der Hilfsgeistlichen aus der Sicht der Gemeinde gehen, wie die Vertreter des Dorfes Lebens- und Amtsführung des Geistlichen einschätzten. Abgehandelt werden sollten im Wesentlichen die gleichen Punkte, zu dem bereits der Pfarrer selbst befragt worden war. Neben der Visitation der Pfarreien wurde den Spezialen auch die Visitation der Spitäler auferlegt. 89 Dies mag die Bandbreite der Aufgaben der Speziale weiter illustrieren. Abschließend waren in einer Visitation die vorgeladenen Dissidenten zu examinieren. Als Beispiel für die Vernehmung potentieller Häretiker sei hier exemplarisch und ausführlicher der Fall des Ehepaars Matthäus und Barbara Schätzlin aus Beutelsbach analysiert. 90 Dieser Fall ist nicht nur für die Vernehmungssituation, sondern auch die Ebenen, Methoden und Inhalte der Informationserhebung sowie für die Verschriftlichung der Befunde besonders aufschlußreich. Im Jahre 1605 berichtete der Schorndorfer Spezialis Matthäus Aulber, das seit längerem für seine täuferischen Tendenzen bekannte Ehepaar „für mich Pfarrern vnd Vndervogt gehn Schorndorffcitirt“ zu haben, nachdem es dem Pfarrer trotz mehrerer Versuche nicht gelungen sei, sie für die lutherische Kirche zu gewinnen. Barbara Schätzlin sei allerdings „übelauffseins wegen“ ausgeblieben, so dass letztendlich nur Matthäus „In beÿsein seines Pfarrers der ordnung gemäß examinirt“ werden konnte. 91 85 Arend, Kirchenordnungen, S. 386. 86 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 320f. Bei der Überprüfung der Lehrfragen wurde den Visitatoren in der Visitationsordnung von 1547 ein Katalog der abzufragenden Punkt an die Hand gegeben. Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 150. 87 Arend, Kirchenordnungen, S. 387f. 88 Ebd., S. 388. 89 Darüber hinaus sollten Aussagen zum Zustand der Kirchengebäude getroffen werden. Ebd., S. 388f. 90 HStAS A281/ 1122, S. 16-19. 91 HStAS A281/ 1122, S. 16. <?page no="178"?> 179 Inwiefern der Spezialis alle Antworten Matthäus Schätzlins in seinem Bericht wiedergab, muss offen bleiben. Doch die verschriftlichten Aussagen spiegeln zumindest das wider, was der Kirchengelehrte für notwendig erachtete, an seine Vorgesetzten weiterzuleiten. Die Fragen kreisten um die Anerkennung der weltlichen Obrigkeit sowie der lutherischen Kirche. Der Befragte sollte auch Stellung zu seinen täuferischen Praktiken beziehen und seine Glaubensgenossen beim Namen nennen. An dieser Stelle werden außerdem die Punkte sichtbar, an denen Schätzlin (und seine Frau später ebenfalls) nicht bereit war, zu verhandeln. Hiermit wurden die wesentlichen Punkte der vorgeschriebenen Fragenkataloge abgehandelt, wobei der Schwerpunkt mehr auf den politischen Fragen als im enger theologisch verstandenen Bereich lag. 92 Der Spezialis hielt fest: „Hatt er erstlich bekennet: Das er vnd sein hausfraw ettlich mahl eines Schweitzerischen Vorsteherpredigengehört.Wo abervndwan, auchwermehrmittvnddabeÿ gewesen,nicht ansagen wöllen, gedencke ehe In einem Thurn zu ersterben dan Jemanden zu verrahtten. Seÿe noch nicht widergetaufft worden, hab das Widerteüfferisch buch, Fundament 93 genannt, gehapt, seÿ im aber genommen worden. Die Oberkeÿtt laß er gottes Ordnung bleiben. Deß Aidschwerens halben thüe er got nichts ab, lass es bleiben beÿ dem das er befolhen. Wisse nit ob er sich mitt seiner Wehr wider einen feind vffder Oberkeÿtt befelch wöltte brauchen lassen. Hab die Erbhuldigung vffdem Gerastettener feld erstattet. So man dise widerumb von ihme begertte, wöltt er ein anttwort geben. Hatt gegen seinem Pfarrer bekennt, das er gesagtt, Luther hab wol angefangen, seÿ aber ab der ban kommen.“ 94 Die Rolle des Pfarrers als Informant und erster ‚Verhandlunspartner‘ wird hier deutlich, demgegenüber Schätzlin bereits Rechenschaft über seine Auffassungen - und wie es scheint, Enttäuschung - über die lutherische Kirche abgelegt hatte. Ebensowenig wie es dem Beutelsbacher Pfarrer gelungen war, die Schätzlins von den Vorzügen der lutherischen Kirche zu überzeugen, konnte der Spezialis von Matthäus Schätzlin Näheres über die täuferischen Netzwerke des Ehepaares erfahren. 92 Siehe den Fragenkatalog der Täuferordnung von 1571 im Anhang dieser Arbeit. 93 Gemeint ist das sog. Fundamentbuch von Menno Simons. Siehe dazu näher z. B. Goertz, Geschichte und Deutung, S. 64f. 94 HStAS A281/ 1122, S. 16-17. Vergleicht man das Protokoll mit dem Fragenkatalog von 1571 (siehe Anhang der Arbeit), zeigen sich sowohl Überschneidungen als auch Abweichungen von den dort vorgegebenen Fragen. <?page no="179"?> 180 Wie der Spezialis deutlich machte, war die Befragung Matthäus Schätzlins im Beisein des Pfarrers und seiner Frau geschehen, „so auch examinirt worden wie hernach volgett“. 95 Hiermit unterstrich er die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. Die Zuverlässigkeit der vor Ort erhobenen Informationen untermauerte der Spezialis mit dem Hinweis, dass dem „Pfarrern ein glaubwürdige Person gesagt“ habe, Matthäus wolle einen Teil seines Besitzes unter der Hand verkaufen. 96 All diese Punkte dienten dem Beweis, dass der Spezialis die Vernehmung ordnungsgemäß und zumindest in wesentlichen Punkten erfolgreich geführt hatte. Weiter wies der Spezialis auf die Befunde der vorigen Visitation hin, in der Schätzlin in Aussicht gestellt haben soll, „vff Pfingsten als ein gehorsam Pfarrkind einstellen vnd communiciren“ zu wollen, sobald „seine sachen mitt dem altten Schulthaissen Dionysio Klain“ erledigt seien. 97 Mit dem Rückgriffauf die frühere Visitation bezeugte der Spezialis die Regelmäßigkeit der Visitations- und Protokollierungspraxis, mit der versprochenen Teilnahme Matthäus Schätzlins am Abendmahl den Erfolg seiner Tätigkeit zumindest in diesem für die Landeskirche zentralen Punkt. Danach geht der Bericht zur Vernehmung von Barbara Schätzlin in der vergangenen Visitation über. Diese wurde vom Spezialis ergänzend herangezogen, um seine Erzählung ‚abzurunden‘ und seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen - möglicherweise auch, um die Tatsache herunterzuspielen, dass Barbara Schätzlin nicht zur anbefohlenen Examination in der Amtsstadt erschienen war. Wieder stellte der Spezialis klar, in welchem Personenkreis die Befragung stattgefunden hatte. Barbara Schätzlin habe „in beÿsein Ires Manns vor Pfarrern vnd mir Auch bekennett, das sie In der Widerteüffer Predigen gewesen, wölle aber niemand verrahten. Seÿ auch nicht widertaufft worden. Der Oberkeÿt wegen hatt sie kein richtige anttwort geben, wie auch von der Kindertauffvnd H. Abendtmahl, welches sie vor 2 Jaren empfangen, gedencke aber diß nicht mehr zu thun, biß sie würdig werde. Aidschweren seÿ nicht Christlich, wie auch land vnd leütt mitt Wehr vnd Waffen vor gewaltten zu beschützen. Gott hab vns die liebe gebotten vnd könde man einer nur den leib vnd nicht die Seel nemmen. 95 HStAS A281/ 1122, S. 17. 96 HStAS A281/ 1122, S. 18. 97 Es schien hierbei um einen Streit über die Weinvorräte im Stiftskeller zu gehen, der sich noch mindestens bis 1607 hinzog. Vgl. HStAS A282/ 3094d, Nr. 27. Mit dem Hinweis auf ungelöste Konflikte machte Schätzlin von einem Argument für die Abendmahlsverweigerung Gebrauch, das von den Dorfbewohnern neben dem Rekurs auf der eigenen Unwürdigkeit häufig genutzt wurde, ob sie nun von der Kirchenleitung als Täufer angesehen wurden oder nicht. Siehe dazu auch das Kapitel 6.1.2. <?page no="180"?> 181 Wer Christlich thüe, der seÿ ein glid der Christlichen Kirchen.“ 98 Wie zu sehen ist, gab Barbara Schätzlin zum Teil sehr ähnliche, zum Teil abweichende Antworten als ihr Mann. Das Protokoll erweckt den Eindruck, der Spezialis habe ihre Aussagen, wenn nicht wörtlich, so doch sinngemäß aufgenommen. Gleichzeitig wird der Standpunkt des Schreibers als Vertreter der Landeskirche deutlich, wenn Barbaras theologische Auffassungen als ‚unrichtig‘ abgetan werden. Allerdings ist sie hier auch nicht explizit als Täuferin festgehalten worden - es muss demnach offen bleiben, auf welche spezifische Weise die Antworten Barbaras von den Normen abwichen. Ähnlich wie ihr Mann, stellte auch Barbara Schätzlin den Visitatoren eine Teilnahme am Abendmahl in Aussicht, sobald das Hindernis ihrer Unwürdigkeit aus dem Weg geräumt sei. Ansonsten scheinen auch in Barbaras Vernehmung die Fragen der Christlichkeit der Obrigkeit, des Kriegsdienstes und des Eidschwurs im Zentrum gestanden zu haben. Für die Visitationssituation und insbesondere die mögliche Einflußnahme der Befragten auf die Verschriftlichung der Befunde, ist der auf die Examination Barbara Schätzlins folgende Bemerkung des Spezialis bemerkenswert: „Vnd als solche Puncten Ir abgelesen worden, hatt sie gesagtt, Ich verwürffauch nichts.“ 99 Es hat den Anschein, dass Barbara hier noch einmal von Seiten der Vernehmer die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Aussagen rückgängig zu machen - eine Handlung, die in den Visitationsakten sonst nicht belegt ist. Abschließend wies der Spezialis auf das Gerede am Rathaus hin, derzufolge die Schätzlins eine landesverwiesene Täuferin aus Winterbach beherbergt hätten. An diesem Punkt wird auch der Untervogt in der Berichterstattung als handelnder - befehlender - Akteur der Täuferbekämpfung sichtbar: „hatt Vndervogtt Schulthaissen daselbsten achttung vffsie zugeben befelch geben“. 100 Ob außer der lokalen Gerüchteküche noch weitere Informanten hinzugezogen wurden, ist nicht mehr ersichtlich, wenn der Spezialis seinen Bericht mit der festen Überzeugung abschloss, die im Remstal umherreisende Gertraud Schöpperlin habe das Ehepaar Schätzlin „ausser allem Zweifel [...] verfürtt“. 101 Kritischer Umgang mit den Aussagen der Vorgeladenen In Auseinandersetzungen mit Personen wie Matthäus und Barbara Schätzlin kam es für die Visitatoren darauf an, die vorgebrachten Argumente auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen, die Vorgeladenen in ihrem Gefahrenpotenzial einzuschätzen und bei ausreichender Beweislage in die vorgegebenen Kategorien des Täufertums einzuordnen. Insgesamt dürfte die Einschätzung der getroffenen Aussagen die schwierigste Aufgabe der Visitationskommission gewesen sein, die 98 HStAS A281/ 1122, S. 18. 99 HStAS A281/ 1122, S. 18. 100 HStAS A281/ 1122, S. 19. 101 HStAS A281/ 1122, S. 19. Zu Gertrud Schöpperlin siehe auch LKA A3/ 1603-1607, S. 47. <?page no="181"?> 182 sie neben den Dissidenten auch in Bezug auf die befragten Pfarrer, Hilfsgeistlichen sowie Mitglieder der Ehrbarkeit und Gemeinde erfüllen mussten. Das Bewusstsein der Visitatoren über das strategische Auftreten der jeweiligen Kontrahenten tritt in den Auseinandersetzungen um den kontroversen Rudersberger Schultheiß Erasmus Kraut in den späten 1580er Jahren besonders deutlich hervor, die eine Reihe dörflicher und obrigkeitlicher Akteure mit einbezogen. Im Herbst 1588 stand die Akzeptanz des Schulmeisters Laurentius Huober in Rudersberg zur Debatte. Sowohl der Pfarrer als auch das Gericht äußerten seine Zufriedenheit mit ihm. Es war allein der - aufgrund seiner ausgiebigen Trinkgelagen bei vielen selbst unbeliebte - Schultheiß, der „den armen tropffen nit leiden“ konnte. 102 Dass den Visitatoren in diesem Zusammenhang bewusst war, der Schultheiß versuche die Visitation als Forum für das Austragen seiner Feindseligkeit zu nutzen, zeigt sich in der Feststellung, der Schultheiß wisse gar nicht mehr, was er in der Visitation gegen den Schulmeister „furpringen soll“. Er habe es schließlich mit dem Vorwurf versucht, der Schulmeister Huober richte die Uhr nicht richtig und sei darüber hinaus „trutzig“. Wie die Visitatoren befanden, war dies allerdings „der warhait gar nit gmeß“. 103 Vielmehr habe der Spezialis in Erfahrung bringen können, dass der Schultheiß „dem Ministerio vnnd was derselben anhangt, nicht günstig“ gegenüber stehe. Die Sympathien der Visitatoren lagen eindeutig beim Schulmeister, wenn es hieß: „Es kan der arm schulmaister nit gnugsam klagen, mitt was hitzigen wörtten er ihn antaste. Wan er sich dan verantworte vnnd nicht alles leide, verunglümpf er ihn beÿ den Oberamtleuthen vnnd andern.“ 104 Letztlich gelang es also dem Schulmeister, die Visitatoren auf seine Seite zu gewinnen. Erschwerend wurde gegen den Schultheiß eingewandt, er sei ein schlechter Haushälter. So soll der Spezialis bereits mehrfach versucht haben, das schlechte und eigennützige Haushalten des Schultheißen insbesondere zu Lasten des „armen man[s]“ im Vogtzettel eintragen zu lassen. Diese Kritik des Spezialis sei allerdings durch den Schorndorfer Untervogt für nichtig erklärt worden, in dem der Schultheiß somit einen mächtigen Unterstützer gefunden hatte. 105 Der Grundsatz, die in den Visitationen gemachten Aussagen überprüfen zu lassen, wurde in den Visitationsordnungen mehrfach formuliert und stand in Einklang mit den zeitgenössischen Verwaltungs- und Rechtspraktiken insgesamt. 106 Ähnlich wie in den Täuferordnungen sollte gemäß den Visitationsord- 102 LKA A1/ 1588 II, f. 85v-86r. Zum Wissen der Verhörenden über die strategischen Antworten der Verhörten siehe auch Esders & Scharff, Die Untersuchung der Untersuchung, S. 44-47. 103 LKA A1/ 1588 II, f. 86r. 104 LKA A1/ 1588 II, f. 86r. 105 Der Synodus ordnete an, Spezialis und Vogt zu Schorndorf an ein respektvolles Miteinander zu erinnern und den Schultheiß zu Rudersberg ernsthaft zu mahnen, die armen Leute nicht weiter zu beschweren. LKA A1/ 1588 II, f. 86v. 106 Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 7; Landwehr, Policey im Alltag, <?page no="182"?> 183 nungen niemand unbegründet in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Rechtmäßigkeit der obrigkeitlichen Urteile sollten durch eine eingehende Erforschung der lokalen Umstände gewährleistet werden, eine Praxis, die in den Schriften der in den Amtsstädten ansässigen Speziale und Vögte an die Zentralverwaltung vielfach in Erscheinung tritt. 107 So hieß es etwa in der Ordnung von 1557 im Zusammenhang mit der Befragung der Gemeindevertreter, ihre Aussagen seien nicht für bare Münze zu nehmen, damit „die unschuldigen nit allso un billich inn argwohnn verdacht“ werden. Deshalb wurde den Visitatoren eingeschärft, dass sie „nicht leichtlich ainem jedem plossenn anzaigen glauben geben, sonnder da die sach nit gäntzlichen offenbar, notori unnd von dem schuldigen thaill bekhantlich sein wurde, bey denn antzaigenden alle gutte umbstendt, ob die soliche that selbst gesehen, gehört unnd darvonn gutt unnd aigentlichs, wer auch mehr dessen wissens hette, unnd auf den faal, solche zubeweißen sein mecht, erforschen, unnd in disem faal sicherlich der massen, damit niemandt unbillicher weiß uß on grundt, neid oder widerwillenn beschwerdt werden, hanndlenn. 108 Entsprechend witterten die Visitatoren im März 1583 mehr „mißuergunst, dan rechtmeßiger vrsach“ hinter dem Wunsch der Gemeinde Strümpfelbach nach einem neuen, „taugenlichern“ Schulmeister. 109 Auch in Hohengehren stellte die Visitationskommission im Frühjahr 1584 fest, dass der gegen den Pfarrer geäußerte Unmut „mehrerteÿls aus neid wider den pfarrer herfließe“. 110 In Aichelberg dagegen fragte sich der visitierende Spezialis im Frühjahr 1602, wieviel Glauben den Aussagen des dortigen Schultheißen zu schenken war, der als Einziger mit harten Vorwürfen der Trunksucht und des Fluchens gegen den Pfarrer aufwartete. Der Pfarrer legte dem Spezialis ans Herz, die Gemeindemitglieder zu befragen, die ihm einen guten Lebenswandel bescheinigen würden. 111 In diesem Fall schienen die Anschuldigungen des Schultheißen teilweise auf echten Begebenheiten zu basieren, denn wie der Spezialis später von dem in Tränen aufgelösten Pfarrer erfuhr, habe er sich tatsächlich einmal übermäßig betrunken. Der vom Schultheiß erhobene weitere Vorwurf des Fluchens dagegen konnte offenbar S. 136; Sabean, Soziale Distanzierungen, S. 222. 107 Auch sollte den Vorgeladenen mehrmals die Möglichkeit zur Besserung eingeräumt werden, vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 136. 108 Arend, Kirchenordnungen, S. 328. Zur Überprüfung der Aussagen siehe auch Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 71f.; Strauss, Luther’s House of Learning, S. 254. Ähnliche Tendenzen lassen sich bereits in mittelalterlichen Inquisitionsverfahren beobachten, vgl. Scharff, Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘, S. 150f. Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 180, hat auf die Nutzung illokutiver Verben wie „befehlen, bitten, fordern, auffordern“ im Allgemeinen sowie auf „erkunden“ im Besonderen als zeittypische Formulierungen in den Visitationsakten hingewiesen. 109 LKA A1/ 1583 I, f. 75v-76r. 110 LKA A1/ 1584 I, f. 100r. 111 HStAS A281/ 1120, S. 54. <?page no="183"?> 184 nicht bestätigt werden, denn er wurde in der weiteren Berichterstattung nicht mehr aufgegriffen. 112 So nahmen die Visitatoren auch den Pfarrern ihre Aussagen nicht ohne Weiteres ab. 113 Besonders kritisch war freilich mit den Aussagen der als mutmaßliche Täufer und Täuferinnen vorgeladenen Personen umzugehen. Die Witwe Anna Möll aus Winterbach, die zuvor ihre täuferischen Auffassungen offensiv verteidigt hatte, besuchte im Jahr 1583 zeitweise die lutherischen Gottesdienste. Die Visitatoren standen der Aufrichtigkeit des Verhaltenswandels jedoch mißtrauisch gegenüber. Nach einer weiteren Vernehmung fällten sie das Urteil, Anna besuche „zwar noch die predigen zu einem schein, aber helt nichts von dem kindertauffvnnd der waren gegenwertigkait deß leibs vnnd blutts Christi im H. Abendmal“. 114 Der Spezialis habe daraufhin „lengs aber vergebens“ mit ihr verhandelt. 115 Nach erneuten Vorladungen Annas hielten die Visitatoren in den folgenden Visitationen an ihrer Ansicht fest, sie besuche die Predigten nur zum Schein. 116 Im Frühjahr 1586 hieß es, sie sei „ein böß gleißnerin, die sich eußerlich demuettig vnnd euferig stelt, aber im hertzen ein widerteufferin“. 117 Sicheres Zeichen hierfür sei der Umstand, dass Anna die Kirche verlasse, sobald der Pfarrer gegen die Täufer predige. 118 Ebensowenig wurde von den Visitatoren den Aussagen Margaretha Greiners aus Urbach Glauben geschenkt, die im Herbst 1583 vorgab, aufgrund von Krankheit nicht zu einer angeordneten Befragung durch den Spezialis und Untervogt in Schorndorf erschienen zu sein. Der Grund für Margarethas nachlässigen Kirchgang, der den Anhaltspunkt für ihre Vorladung geliefert hatte, lag 112 HStAS A281/ 1120, S. 54-55. 113 Vgl. Strauss, Luther’s House of Learning, S. 266. Negativ fiel neben seinem Kollegen in Aichelberg auch der Gronbacher Pfarrer in der Herbstvisitation 1584 auf. Er hatte in der Visitation eine falsche Aussage über die Art und Weise seiner Bibelauslegung getroffen, die jedoch durch die Befragung des dörflichen Magistrats aufgedeckt worden war. Die „vnwarhait“ des Pfarrers habe ihm der Spezialis „gleichwol grob gnug verwißen“. LKA A1/ 1584 II, f. 85v. 114 LKA A1/ 1583 II, f. 87v. 115 Da sich Anna in dieser Situation „Ergerlich“ verhalten habe und Kontakte zu anderen Täufern pflege, war in der Ansicht des Synodus keine Geduld mehr mit ihr zu haben, sondern es waren „andere gradus“, d. h. schärfere Maßnahmen, gegen sie anzuwenden. Bis zur nächsten Visitation war sie von ihrem Pfarrer und dem Spezialis erneut befragt und belehrt worden. LKA A1/ 1583 II, f. 87v; LKA A1/ 1584 I, f. 94v. 116 Sie sei zudem „nit vnuerständig“ - es wird ihr in anderen Worten unterstellt, sich eine eigene Meinung bilden zu können -, sondern „hartneckig“. LKA A1/ 1584 I, f. 94v; LKA A1/ 1585 II, f. 76r. Im März 1585 wurde über Anna Möll vermerkt, dass sie auf ergangenen fürstlichen Befehl abermals erinnert worden sei und nunmehr wie gehabt die Predigten besuche, aber nicht zum Abendmahl gehe. Obwohl sie bislang wenig Willen zur Besserung gezeigt habe, riet der Synodus dazu, mit ihr Geduld zu haben. Als mildernde Umstände galten, dass sie immerhin die Predigten besuche, bereits auf einer Befragung bzw. Belehrung vor der Kanzlei erschienen sei und man außerdem von keinem „zugang Sectischer Personen“ bei ihr wisse. LKA A1/ 1585 I, f. 90v. 117 LKA A1/ 1586 I, f. 90r. 118 LKA A1/ 1586 I, f. 90r. <?page no="184"?> 185 den Visitatoren zufolge in den Lehren Schwenckfelds begründet: „[S]ie halte von h. Ministerio, wie alle schwenckfeldianer, namblich nichts“. 119 Selbst konfessionskonformen Antworten der Vorgeladenen standen die Visitatoren unter Umständen skeptisch gegenüber, falls sie aufgrund anderer Informationen - manchmal auch nur Vermutungen - ihre Aufrichtigkeit bezweifelten. Kritisch wurden etwa die Aussagen von Veit Espenlaub aus Schnait gehandhabt, über den in der Frühjahrsvisitation 1586 berichtet wurde, er kommuniziere seit drei Jahren nicht und erscheine nur selten zu den Predigten. Es sei den Visitatoren nicht möglich gewesen, den Dachdecker Espenlaub bezüglich möglicher täuferischer Lehrmeinungen zu überprüfen, da er zum Zeitpunkt der Visitation außer Ortes gewesen sei. Vermutlich auf den Schnaiter Pfarrer ist die Information zurückzuführen, Espenlaub glaube „veram praesentiam corporis et sanguinis Christi in coena“. Mangels weiterer Beweise und einer persönlichen Vernehmung konnte Espenlaub in diesem Zusammenhang von den Visitatoren nicht als Täufer festgeschrieben werden. Vollends überzeugt waren sie von seiner Unschuld dennoch nicht. Deshalb forderte der Synodus vom Spezialis und Untervogt zu Schorndorf einen Bericht darüber ein, ob Espenlaub täuferische Versammlungen besucht habe, ein Verdacht, der in der nächsten Visitation bestätigt werden konnte. 120 Auch der Abendmahlsverweigerer Adam Bauder aus Urbach antwortete bei seiner Befragung in der Frühjahrsvisitation 1584 im Sinne der Normgeber und vertrat die lutherische Auffassung vom Abendmahl. Aber da er bereits mehrere Auseinandersetzungen mit den Visitatoren hinter sich hatte, äußerten diese den Verdacht, „sein confession seÿ falsch vnnd er helts mit den widerteuffern“. 121 Die Erklärung Bauders, er könne wegen einem laufenden Rechtsprozeß am Tübinger Hofgericht nicht am Abendmahl teilnehmen, wurde in dieser und auch noch der nächsten Visitation entsprechend als „nichtige ausred“ abgewiesen. 122 Bauder wurde wegen seiner Haltung mehrmals auch in der Amtsstadt befragt, doch konnte man ihm nicht zum Abendmahl bewegen. Allerdings gelang es den Visitatoren trotz Verdachts auch nicht, ihn als Täufer zu überführen. Statt dessen wurde er in späteren Protokollen als „nicht widerteufferisch vnnd doch ein spöttler“ eingestuft, mit dem viel „gehandelt worden [ist], aber vergebenlich“. 123 119 LKA A1/ 1583 II, f. 91r. 120 Durch wen die entscheidende Auskunft erteilt wurde, Espenlaub habe den Hutterer Hans Schmid beherbergt, der daraufhin mehrere Leute bekehrte und nach Mähren führte, lässt sich nicht mehr klären. LKA A1/ 1586 I, f. 93r; LKA A1/ 1586 II, f. 92r. 121 LKA A1/ 1584 I, f. 98r. 122 Der Synodus ordnete daraufhin an, Bauder zu einer genaueren Examination vor die Kanzlei nach Stuttgart zu schicken, da die bisherigen Befragungen durch Pfarrer und Spezialis erfolglos geblieben waren. LKA A1/ 1584 I, f. 98r. Siehe auch LKA A1/ 1585 I, f. 94r. 123 LKA A1/ 1586 I, f. 95r. Bauder wurde im Frühjahr 1585 allerdings als ehemaliger Täufer beschrieben, der - wäre da nicht seine Frau, „die guthertzig ist“ - mit Sicherheit nach Mähren ziehen würde LKA A1/ 1585 I, f. 94r. <?page no="185"?> 186 Berichterstattung als Selbstlegitimation nach ‚oben‘ und Machtausübung nach ‚unten‘ Wie bereits herausgestellt worden ist, wurden die Visitationsreisen zunächst zum Zwecke der „Inquisition“, d. h. der Informationserhebung, unternommen. Waren die notwendigen Informationen über die lokalen Zustände erst einmal durch die gezielten Befragungen in den Visitationen zusammengetragen worden, hatten die Speziale die Befunde „inmassen sie es befunden und nit anders“ in Schriftform zu fassen. Neben der schriftlichen Berichterstattung kamen ergänzend auch mündliche Auskünfte in Frage, sofern sie zur schleunigen Klärung der Sachlage dienlich waren. 124 Nach der Visitation ging es um die Verarbeitung der gesammelten Daten „zu handlungsanweisendem Wissen“ 125 , mit dem die vor Ort gefundenen Missstände angefochten werden konnten. Der Prozeß der Entscheidungsfindung innerhalb der Visitationskommission ist im Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar. 126 Die sichtbarste Figur in der Berichterstattung über die vorgenommenen Visitationen ist eindeutig der Spezialis, der auch die Hauptverantwortung für das Berichten in seinem Amtsbezirk trug. Er tritt in den Visitationsprotokollen als befragender, belehrender, ermahnender, tadelnder, diskutierender und verhandelnder - und somit aktiver, gerechter und gewissenhafter - Vertreter der Landeskirche in Erscheinung. Aktives Handeln beschreibende Formulierungen konnten auf verschiedene, für das Verfahren wichtige Aspekte hinweisen. Bezogen auf die Informationserhebung durch die Visitatoren konnte dies etwa mit der Phrase „Auf fleißiges nachfragen hat sich weiters befunden“ 127 - oder etwas neutraler mit „[e]s hat sich befunden“ 128 - ausgedrückt werden. Als gelungen konnte die Berichterstattung der Visitatoren angesehen werden, wenn sie vom Synodus positiv bewertet wurde: Etwa wenn dem Befehl zur Ankettung Anna Mölls aus Winterbach im Herbst 1616 „gehorsam nachgesetzt worden“ war und bei der Kirchenleitung Zuversicht darüber herrschte, dass „Specialis vndt pfarrer auch füraus ihr officium thun [werden], ob Sie noch zugewinnen sein möchte“. 129 In den ausführlicheren Visitationsprotokollen ist die prominente Rolle des Spezialis durch die Nutzung der Ich-Form 124 Arend, Kirchenordnungen, S. 389. Explizite Hinweise auf mündliche Kommunikation sind in den Visitationsprotokollen allerdings kaum vorhanden. Für ein seltenes Beispiel siehe LKA A1/ 1583 II, f. 91v. 125 Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 297. Siehe auch Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 179. 126 Etwa inwiefern die Vögte jenseits ihres Spezialgebietes, der politischen Fragen, oder gar die Schreiber gegenüber den Spezialis etwas ‚zu sagen‘ hatten, muss eine offene Frage bleiben. Obwohl den Stadt- und Amtsschreibern bedeutende Einflußmöglichkeiten zugeschrieben worden ist, kann auch die Rolle der Schreiber im Visitationsverfahren bzw. ihr Maß an Eigenständigkeit im Protokollieren anhand der Visitationsakten nicht geklärt werden. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 309; Landwehr, Policey im Alltag, S. 48-53; Ders., Württemberg, S. 564; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 30f. 127 LKA A26/ 466 II, f. 140r. 128 Siehe z. B. LKA A26/ 466 II, f. 173v. 129 LKA A26/ 466 II, f. 181v. <?page no="186"?> 187 noch deutlicher hervorgehoben. 130 Gelegentlich blitzen hierbei auch persönlich anmutende Wahrnehmungen auf, etwa wenn der Schorndorfer Spezialis Matthäus Aulber im Frühjahr 1603 über den Diakon in Winterbach berichtete, dieser habe auf eine Art und Weise gepredigt, „wie ich sellten gehört“. 131 Nach ihrer Verfassung waren die Visitationsprotokolle an einen der vier Generalsuperintendenten (Generale) auf der nächsten kirchlichen Verwaltungsebene des Herzogtums weiterzuleiten. Sie sollten alle in der Visitation erhobenen Klagen aufzählen, egal, ob die Vorwürfe nun von Seiten der „Kirchendiener, Schulmeister, Gemein oder Privat Personen“ vorgebracht wurden. 132 Der Generalis wiederum erstellte eigenhändig 133 aus dem bei ihm eingegangenen Protokollen ein Extrakt, das er bei der nächsten Tagung des Synodus vorzulegen hatte. Die Generale, die die gekürzten Synodusprotokolle zusammenstellten, waren in der Regel selber nicht bei den Visitationen anwesend gewesen. Sie mussten sich auf die schriftlichen Berichte der Speziale verlassen, die die Visitationen in ihrem jeweiligen Amtsbezirk geleitet hatten. 134 Entsprechend wurden die ursprünglichen Visitationsprotokolle wie auch die Berichte der Pfarrer an die Speziale außerhalb der Visitation stets „with an eye to higher authority“ 135 verfasst. Die Speziale und Pfarrer mussten ihre Berichte inhaltlich wie formell so verfassen, dass ihre Vorgesetzten daraus die gewünschten Informationen entnehmen konnten, im Falle eines suspekten Täufers etwa die Verstöße gegen die kirchlichen Normen, das Verhalten im Verhör und die vorgeschlagenen Maßnahmen. 136 Die Generale wiederum legten ihre Zusammenfassungen ebenfalls mit Hinblick auf ihre Vorgesetzten - Synodus, Kirchenrat und Herzog - an, wobei die Schwierigkeiten insbesondere dem Landesherrn gegenüber nicht immer in voller Schärfe geschildert, in anderen Fällen dagegen durchaus überspitzt dargestellt werden konnten. 130 Siehe z. B. HStAS A281/ 1120, S. 54. 131 HStAS A281/ 1121, S. 2. 132 Arend, Kirchenordnungen, S. 390. Konnten die Speziale die Situation nicht im Rahmen ihrer Kompetenzen klären, so hatten sie die Kläger darauf hinzuweisen, ihr Anliegen in einer Supplikation anzubringen. Die Supplikationen waren in der die Amts- und Lebensführung der lokalen Kirchendiener betreffenden Fragen vom Spezialis zu unterzeichnen und mit einem Beibericht zu versehen. Hier öffnete sich ein neues Tätigkeitsfeld für die Speziale, die etwa im Bereich der Täuferbekämpfung und der Verwaltung konfiszierter Täufergüter mit Supplikationen aus der Bevölkerung eingespannt wurden, selbst wenn die Bedeutung der Vögte hier größer gewesen sein dürfte. Ohne die Unterschrift der Amtleute sollte das Supplikieren unterbunden werden, um die Kirchenleitung nicht übermäßig zu belasten. Nicht unterschriebene Supplikationen sollten im Kirchenrat nicht berücksichtigt werden, sondern den ordnungswidrigen Supplikanten wurde sogar mit Strafen gedroht. Arend, Kirchenordnungen, S. 391; Sabean, Village Court Protocols, S. 5f. 133 Vgl. Kolb, Generalsuperintendenten, S. 68. 134 Bei den späteren Verhören der vermeintlichen Sektierer konnten sie jedoch persönlich anwesend sein: So haben etwa die Generalsuperintenden von Maulbronn und Adelberg in Verhören von vermeintlichen Täufern „wiederholt den Vorsitz gehabt und darüber Bericht erstattet“. Ebd., S. 54f. 135 Sabean, Peasant Voices, S. 69. Siehe auch Ders., Soziale Distanzierungen, S. 221. 136 Vgl. Sabean, Village Court Protocols, S. 23; Ders., Peasant Voices, S. 88f. <?page no="187"?> 188 Die Visitatoren unterlagen der Notwendigkeit, ihre Berichterstattung in eine für die Normgeber plausibel erscheinende Form zu bringen. Wie Gerald Strauss betont hat, legten viele Protokollanten ihre Berichte so an, dass sie den Wünschen ihrer Vorgesetzten - oder dem, was die Visitatoren glaubten, dass diese zu hören wünschten - entsprachen. 137 Die Art und Weise ihrer Darstellung hatte ausreichend „true, real, meaningful, and/ or explanatory“ 138 zu sein, um kein schlechtes Licht auf ihre Amtstätigkeiten und Person zu werfen. Sie sollten nicht mehr und nicht weniger als „Ihr officium thun“; es kam also in erster Linie auf die ausreichende Erfüllung ihrer Pflichten an. 139 Mehr konnte man von ihnen nicht verlangen, denn wie ein Fall letztendlich ausging, lag in der Hand des Allmächtigen. „Der Specialis vnd Pfarrer thüen Ihr officium, das vberig muß man Gott befehlen“, war eine gängige Formulierung, die dies ausdrückt. 140 Die in den Kirchenordnungen beschriebenen idealen Charaktereigenschaften und Handlungsformen der Amtsträger waren aus der Sicht der Kirchenleitung von Bedeutung, da durch den unvorbildlichen Lebenswandel der Kirchendiener die Autorität der Landeskirche in Frage gestellt werden konnte. Man kann als die zentralen Kriterien, anhand derer die Amtsausübung der Speziale gemessen werden sollte, ihr Maß an Engagement (Fleiß) und Präzision (Gewissenhaftigkeit) bei der Visitation ausmachen. Diese Ideale spiegeln sich auch in den mehr oder weniger detaillierten Anweisungen des Synodus wieder, wie die Speziale in den einzelnen Fällen weiter zu verfahren hatten. Im Falle des Bauern Konrad Faut aus Oppelsbohm im Frühjahr 1611 etwa wurden mehrere Aufgaben formuliert, die sich die Visitatoren im weiteren Prozessverlauf vorzunehmen hatten: „Es seindt mit disem altenn Sibentzig Jährigen Mann hieuor schon alle gradus vorgenommen worden, aber nichts fruchtbarlichs mit Ihme ausgerichtet werden mögen, sonder bleibt als ein kindischer Man vffseiner opinion, begehrt doch niemanden zueverführen. Deswegen mit Ihme geduldt zuhaben, Jedoch alle visitation Ihn fürzufordern vnd zuvnderrichten, ob er wol vffden rechten weg gebracht werden möcht, auch Ihne mit betrawung der gefengcknus zu besuchung der Predigen, da er Je nit communicieren wollt, anzuhalten were. Da er aber vffseiner halsstarrigkeit vnd Sectirischer Lehr absterben wurde, er ohne geleit vnd Predigt begraben werden sollt.“ 141 Meist fielen die Anweisungen knapper aus, etwa, es wäre über eine Person „in künfftiger visitation vleißig nachzuforschen, ob Sie Communicirt oder nicht“. 142 137 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 263. 138 Davis, Fiction in the Archives, S. 3. 139 Siehe z. B. LKA A26/ 466 II, f. 173r, 174r; Landwehr, Policey im Alltag, S. 114. 140 LKA A26/ 466 II, f. 187r. 141 LKA A26/ 466 II, f. 136r. 142 LKA A26/ 466 II, f. 182v. <?page no="188"?> 189 Als typisch kann die Formulierung des Synodus in Bezug auf die Beutelsbacher Täufer im Herbst 1615 angesehen werden: „Speciali vnd Vndervogt zu Schorndorffwere zubefehlen, die Personen vorzufordern, vffdie widertäufferische articul zuexaminiren vnd in der Religion nottwendig zu informiren, auch sonst gutt vffsehen zuhaben, damit diser schwarm im flecken nit über hand nemme. So dan in nechster visitation, wessen sich solche Personen erclert, zuberichten.“ 143 Diese Anweisung fasst die Stadien des Visitations- und Besserungsverfahrens präzise zusammen, wie sie von der Kirchenleitung anvisiert wurden. Das Ziel des Unterfangens wird mit der Eindämmung der Täuferbewegung deutlich auf den Punkt gebracht, wie auch eindeutig darauf hingewiesen wird, dass die Erfolge dieser Bemühungen in der nächsten Visitatoren erneut überprüft werden sollen. Insgesamt beschreiben die Vorschriften der Visitations- und Täuferordnungen sowie die Anweisungen des Synodus nicht nur die von der Kirchenleitung an die lokalen Amtsträger bzw. die Bevölkerung gestellten Anforderungen, sondern benennen darüber hinaus die Punkte, anhand derer die Speziale ihren Blick für die Beobachtung, Beurteilung und Beschreibung der Zustände und zu überprüfender Personen vor Ort zu schärfen hatten. 144 Im Verschriftlichungsprozess der in den Visitationen erhobenen Informationen gaben die Berichterstatter die Gegebenheiten keineswegs objektiv wider, sondern passten sie der Sprache, den Denkmustern und den formalen Bedingungen der kirchlichen Verwaltung an. War die formale Zusammensetzung des Berichtes weitgehend durch das Genre des Visitationsprotokolls festgelegt, so konnten die Speziale insbesondere durch ihre Wortwahl Akzente setzen. Sie konnten sich also im von den Normgebern vorgegebenen Feld in einem gewissen Maße eigenständig bewegen. Die Freiräume konzentrieren sich v. a. auf die Möglichkeiten der Darstellung; sie ergaben sich am ehesten im Rahmen des Berichtens und Kategorisierens und waren von äußerst subtiler Art. Wie David W. Sabean gezeigt hat, waren in diesem Zusammenhang der Gebrauch von Verben sowie implizites Beurteilen von Handlungen wichtige Techniken, mit denen die Berichterstatter trotz eines vordergründig neutralen Tonfalls in ihrer Berichterstattung bereits Wertungen und Beurteilungen vornehmen konnten. 145 Die nüchterne Beschreibung über die Vernehmung der Witwe Maria Nießmüller aus Beutelsbach etwa lässt die Standpunkte der Kommission deutlich 143 LKA A26/ 466 II, f. 167v. Diese Anweisung wiederholte der Synodus sinngemäß im Jahre 1618, wenn er zu Beutelsbach festhielt: „Specialis vnd pfarrer möchten mitt guter institution vndt treühertzigen ermahnungen beÿ ihr immer vortfahren, damitt diß ortts nichts versaumbt werde.“ LKA A26/ 466 II, f. 201r. Für ähnliche Formulierungen siehe auch LKA A26/ 466 II, f. 173v, 174r. 144 Siehe auch Labouvie, Verbotene Künste, S. 211-213; Scharff, Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘, S. 144-149, 159-161. 145 Sabean, Peasant Voices, S. 89. <?page no="189"?> 190 werden. Zunächst wird auf das ordnungsgemäße Vorgehen „vermög beuelchs“ hingewiesen, nach der Maria im Frühjahr 1618 „für die amptleut bescheiden vnd alles ernsts erinnert vnd zur besuchung der predigten mit betrawung der gefengnus angehalten worden“ war. 146 Doch Maria wolle bei ihrem „widerteüfferischen streit“ bleiben. Dem streitsüchtigen Verharren der Witwe auf ihrem Irrtum wird das engagierte Eingreifen der Kirchendiener gegenübergestellt: „Es wirdt aber der pfarrer mit gutter information vnd trewhertziger erinnerung sein officium auch thun, ob sie noch möchte gewunnen werden.“ 147 Auf vergleichbare Weise beschrieben die Visitatoren eine Begegnung mit Maria Faut aus Schlechtbach im Jahre 1619. Allerdings kann hier von von keiner besonders subtilen Vorgehensweise mehr die Rede sein. Maria wurden durch den Gebrauch von Ausdrücken wie „kompt zu keiner predig“, „verachtet vnser communion“ und „redt [...] verechtlich von vnserem Gottesdienst“ negative Aktivitäten und Eigenschaften zugewiesen, die sie eindeutig dem Dissidentenspektrum zuwiesen. Es sei „mit ihr tradirt worden“, doch Maria habe keine den Vernehmern plausible Antworten über ihre Auffassungen geben können („kan aber ihres vnglaubens kein Rechenschafft geben“). 148 Bereits 1616 hatten die Visitatoren ähnliche Erfahrungen mit ihr gemacht. Damals waren ihre Bemühungen jedoch vom Synodus mit dem Vermerk „hatt der superintendens zu Schorndorffan seinem officio nichts ermanglen lassen“ abgesegnet worden. 149 Die betont streitsüchtig und eigensinnig dargestellten täuferischen Kontrahenten konnten von den berichterstattenden Spezialen somit nicht zuletzt dazu genutzt werden, die eigenen Aktionen in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Unterstrichen wurde hierbei, dass sie diese Personen deshalb nicht hatten bekehren können, weil dies überhaupt nicht möglich sei. Zum einen ließen diese Menschen kaum mit sich reden. So beteuerten die Visitatoren im Jahre 1599, mit den „halsstarrige[n] widerteuffer[n]“ in Urbach nach den Vorschriften „gar seüberlich“ verfahren zu haben und „ihnen vffdas freundtlichst den rechten weg, neben hefftiger intermination, landtsverjagung oder anderen straffen gewisen vnd alles versucht, aber von ihrer wideriger meinung mitt nichten abwenden mögen.“ 150 Nicht einmal die Kraft der heiligen Schrift mochte in derart schwierigen Fällen helfen: „Ob ihme wol die fundamenta aus den wortten der stifftung gezeigt worden, hat er sich doch nicht wöllen weisen laßen, sonder auch diser gefaßten 146 LKA A26/ 466 II, f. 201r. 147 LKA A26/ 466 II, f. 201r. 148 LKA A26/ 466 II, f. 205r. 149 LKA A26/ 466 II, f. 173r. 150 HStAS A282/ 3094c, Nr. 13, f. 77r. <?page no="190"?> 191 meinung verharret“, hieß es z. B. im Herbst 1612 über die Belehrung Ludwig Kleins aus Beutelsbach in der Abendmahlsfrage. 151 Zum anderen verhindere die mangelhafte Wissensbasis der Dissidenten eine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kirchengelehrten, wie der oben genannte Fall Maria Faut ausgelegt wurde. Ebenfalls konnte von Bedeutung sein, ob eine deviante Handlungsform von den Visitatoren als Einzelfall („exceptional“) oder als eine wiederkehrende Verhaltensweise bzw. feste Charaktereigenschaft („habitual“) interpretiert wurde. 152 Viele der den Schorndorfer Täufern und Täuferinnen zugewiesenen Eigenschaften waren letzterer Art, etwa wenn Ursula Rubin aus Urbach im Frühjahr 1602 „Ihrem vorigen widertaüfferischen vier Järigen gebrauch nach lengern bedacht begertt“ habe, ehe sie über eine künftige Teilnahme am Abendmahl entscheiden wollte. 153 Als täuferisch konnte auch die Unfähigkeit - oder der Unwillen - gedeutet werden, in den Visitationen deutlich Stellung zu den abgefragten Artikeln zu beziehen. So bemängelten die Visitatoren im Herbst 1614, zwei Männer in Geradstetten hätten, „(wie ihr brauch) schlechten bescheid geben“. 154 Auch der landesverwiesene oder ausgetretene Matthäus Schätzlin aus Beutelsbach handelte „der widerteüffer art nach“, wenn er sich im Herbst 1612 gelegentlich in seinem Heimatdorf aufhielt, nur um sich darauf „wider aus dem Staub [zu] machen“. 155 Auf solch ein Deutungsmuster griffauch die Ordnung von 1571 zurück, wenn es dort über die Mobilität der Täufer hieß: „[W]ie sie dann gemeinlich Im brauch haben, das wann ainer ein tag ettlich an einen ort gewesen, Er sich alsdann an ain annder genachpaurt ort, damit man sein dest weniger acht neme, thut vnnd sich an weil da enthaltet.“ 156 Die Wortwahl der Berichterstatter konnte für die Betroffenen durchaus einen Unterschied machen, etwa wenn als Grund der Abendmahlsverweigerung der Vorgeladenen ungelöste Streitigkeiten in der Nachbarschaft oder häretische bzw. obrigkeitswidrige Einstellungen weitergegeben wurden. Die Abendmahlsverweigerung von Bastian Flach aus Geradstetten etwa wurde 1605 als „nur ein böser Streit“ eingestuft. In anderen Zusammenhängen vermutete man einige Jahre später dagegen durchaus täuferische Sympathien bei ihm. 157 Auch lag es bis zu einem gewissen Punkt im Ermessen der Visitatoren, ob sie eigensinnige Dorfbewohner als Täufer oder nur als streitsüchtige Personen darstellten. Entscheidend war hier, dass keine täuferischen Ideen verbreitet wurden oder sonstiger ‚Schaden‘ angerichtet wurde. Lagen hierfür keine eindeutigen Anhaltspunkte vor, bewegte 151 LKA A26/ 466 II, f. 139v. 152 Sabean, Peasant Voices, S. 82. 153 HStAS A281/ 1120, S. 34. 154 LKA A26/ 466 II, f. 160r. 155 LKA A26/ 466 II, f. 140r. 156 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 7v. 157 HStAS A281/ 1122, S. 8; LKA A26/ 466 II, f. 107v, 127r, 131r. <?page no="191"?> 192 man sich in einer Grauzone, in der die Zuordnung und Wertung des Spezialis und seiner Kollegen eine besonders große Rolle spielte, da diese entscheidende Auswirkungen darauf haben konnten, wie der Fall danach aufgerollt wurde, welche Fragen gestellt und welche Maßnahmen in Erwägung gezogen wurden. 158 Bezogen auf die Täufer bedeutet dies, dass religiöse Dissidenten (d. h. Abendmahlsverweigerer und nachlässige Kirchgänger) in den Visitationsprotokollen entweder als eigensinnige Dorfbewohner oder als potentiell weitaus gefährlichere Sektierer dargestellt werden konnten. Diese Einschätzungen wurden in der Regel von den Generalen in die Synodusprotokolle übernommen. Als Ausnahme darf die kritische Bemerkung eines Generalis im Herbst 1573 gesehen werden, der Spezialis habe nicht ausreichend über sein Vorgehen gegen einige verdächtige Personen in Beutelsbach und Endersbach berichtet. In diesen Fällen ordnete der Synodus eine nähere Erläuterung der vorgenommenen Handlungen an. 159 Da in den Synodussitzungen auf Grundlage dieser gekürzten Protokolle über die notwendigen Maßnahmen beraten wurde, wird deutlich, welch eine Bedeutung den ursprünglichen Formulierungen gemeinhin zukam. War einer Person vom berichterstattenden Spezialis eine bestimmte Eigenschaft zugewiesen worden, war es unwahrscheinlich, dass sich diese im Laufe des administrativen Prozesses zum Besseren noch änderte. Dies war nur in den unter Umständen folgenden weiteren Nachforschungen in der Sache möglich. Demnach war es für die Betroffenen - die visitierten Pfarrer, lokalen Amtsträger und Dissidenten - von zentraler Bedeutung, wie und was über sie berichtet wurde. 160 4.3.3. Die Rolle der Ober- und Untervögte Die Hauptverantwortung in den weltlichen Angelegenheiten der Täuferbekämpfung trugen im Schorndorfer Amt die Untervögte. Wie in Zusammenhang frühneuzeitlicher Herrschaftspraktiken mittlerweile mehrmals herausgestellt worden ist, bewegten sie sich zwischen den Fronten staatlicher und lokaler Interessen. 161 Dagegen ist ihre Bedeutung trotz ihrer zentralen Aufgaben in der Sektenbekämpfung weitgehend unbeachtet geblieben. 162 Im Folgenden sollen erste Überlegun- 158 Vgl. Sabean, Peasant Voices, S. 70. 159 LKA A26/ 466 I, f. 17v-18r. 160 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 448-459; Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit, S. 450f.; Sabean, Peasant Voices, S. 69. 161 Siehe z. B. Landwehr, Policey vor Ort, S. 64f.; Ders., Zwischen allen Stühlen, S. 108; Robisheaux, Rural Society, S. 257-263; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 369f.; Scribner, Außenseiter, S. 34; Ders., Police and Territorial State, S. 103-120; Martin Zürn, Amtleute und Geistliche als Sondergruppen in waldburgischen Territorien, in: Holenstein & Ullmann (Hg.), Nachbarn, S. 193-197. 162 Siehe als positive Ausnahme die Ausführungen zu den Aufgaben der Landvögte und lokaler Amtmänner in der Täuferbekämpfung im Kanton Bern bei Furner, Repression and Survival, S. 27-43. <?page no="192"?> 193 gen in diese Richtung gemacht werden, indem der Handlungsradius insbesondere der Untervögte als Mitglied der Visitationskommission und als in die Täuferbekämpfung eingebundener weltlicher Amtmann beleuchtet wird. Sind die Speziale die in den Visitationsakten am stärksten präsente Figur, so agierten die Vögte als Akteure der Täufer insbesondere nach bzw. zwischen den Visitationen, indem sie obrigkeitlichen Anordnungen nachgingen und konkrete Maßnahmen gegen die Täufer wie etwa die Güterkonfiskationen, die Ausführung der Haftstrafen oder der Landesverweise ergriffen. Gewissermaßen spielten sich diese Handlungen auf den Nebenschauplätzen der Visitationen ab; dennoch wäre eine Visitationstätigkeit oder Täuferbekämpfung ohne den Einsatz der Vögte nicht denkbar gewesen. Neben dem Strafvollzug lieferten sie in ihren Berichten wichtige Informationen über die lokalen Umstände, die auch dem Zwecke der Visitation dienten. Außerdem verliehen die Vögte mit ihrer Präsenz in der Visitation dem Spezialis nach außen hin Rückhalt und die Unterstützung der weltlichen Gewalt. Als Stellvertreter des Landesherrn auf Amtsebene hatten die Vögte herrschaftliche Gesetze und Befehle in sämtlichen Lebensbereichen zu verkünden, durchzuführen und gegen Normverstöße vorzugehen; insgesamt bestand ihre Aufgabe in nichts weniger als der „Aufsicht über die ‚gute Policey‘“ 163 in ihrem Amtsbezirk. 164 Sie waren Vorsitzende des Oberamtsgerichts, das gleichzeitig als Apellationsinstanz für die kommunalen Gerichte fungierte. Als zentrale Schaltstelle der Verwaltung bündelten sie die Kommunikation zwischen den Normgebern (Herzog und Zentralbehörden) und der lokalen Ebene. 165 Diese Bedeutung ist auch in der Rolle der Vögte im Visitationsverfahren deutlich sichtbar. Im Zusammenhang der Täuferbekämpfung war es eine zentrale Aufgabe der Vögte und der weiteren weltlichen Amtsträger, täuferische Versammlungen ausfindig zu machen und zu zerschlagen sowie verdächtigte Personen in Gewahrsam zu nehmen. Laut der Täuferordnung von 1571 sollten die Amtleute, sofern sie „Ir Pflicht bedenckhen vnnd schuldigen gehorsam leisten wollen“, ihre Augen „an allen orten E.f.g. Oberkheit, es seie In Stetten, dorffern, wälden oder auffdem feld“ offen halten, „was also für Conuenticul vnd versamblungen gehalten werden“. Des Weiteren wurden Wirtshäuser und private Behausungen als mögliche Treffpunkte der Täufer genannt, auf die es zu achten galt. 166 Die auf täuferischen Versammlungen oder in anderen Zusammenhängen Festgenommenen hatten die Vögte in den ‚politischen‘ Fragen zu vernehmen. 167 Außerdem lag es in ihrem Aufgabenbereich, ergänzende Informationen zu den in 163 Landwehr, Policey im Alltag, S. 48. 164 Ausgenommen aus dem Aufgabenbereich waren die Finanz- und Forstverwaltung. Härter & Stolleis, Einführung, S. 15; Landwehr, Policey im Alltag, S. 48f.; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 353. Zu den württembergischen Vögten allgemein siehe Wintterlin, Behördenorganisation, S. 4-10; Zimmermann, Der Vogt. 165 Sabean, Soziale Distanzierungen, S. 221; Ders., Das zweischneidige Schwert, S. 30. 166 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 60r-60v. 167 HStAS A63/ 23 (Verordnung betr. Schwenckfelder, Täufer und anderer Sekten, 1559); HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 59v, 62v. <?page no="193"?> 194 den Visitationen behandelten Fällen einzuholen, zum Vorschein gekommene lokale Sachverhalte zu überprüfen und Berichte über die Verdächtigten abzufassen. Sie hatten Supplikationen täuferischer Akteure 168 oder Berichte der dörflichen Amtsträger an den Herzog weiterzuleiten und sie mit ihren Gutachten zu versehen und umgekehrt Befehle aus Stuttgart an die Amtsträger der Gemeinden zu delegieren. Im Rahmen der Verwaltung der konfiszierten Täufergüter - eine Praxis, die als erstes in Württemberg eingeführt wurde 169 -, nahmen sie eine zentrale Position ein. Solange man berechtigte Hoffnungen auf die Rückkehr eines reumütigen Täufers oder seiner Erben hatte, ließ man beschlagnahmte Täufergüter üblicherweise von Treuhändern verwalten. Ansonsten sollte konfisziertes Täufergut zur Deckung der Inhaftierungskosten täuferischer Gefangener oder ad pios usus verwendet werden, etwa zugunsten von Armenhäusern. 170 Die Vögte zeichneten für die Einziehung, Inventarisierung und jährliche Rechnungsführung der Güter bzw. die Aufsicht dieser Bereiche verantwortlich. 171 Zu Beginn des 17. Jahrhundert hatten nicht alle württembergische Ämter einen eigenen Obervogt, sondern die Obervögte führten jeweils Aufsicht über ein oder mehrere Ämter. Dagegen verfügte jedes Amt über einen Untervogt, oder, falls für das Amt kein Obervogt zuständig war, nur einen Vogt. Im Schorndorfer Amt waren sowohl ein adeliger Oberals auch ein bürgerlicher Untervogt tätig. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Vögten bestand darin, dass der Obervogt den Untervogt bzw. die Untervögte seines Amtsbezirks überwachte. 172 Sie wurden vielfach auch für Aufgaben herangezogen, die ihre Anwesenheit am Hof 168 Diese Supplikationen betrafen in erster Linie die von landesverwiesenen Täufern konfiszierten Güter, in denen von den nächsten Verwandten die Rechtmäßigkeit der Konfiskation strittig gemacht und/ oder mit dem eigenen Recht am betreffenden Besitz argumentiert wurde. Zur Pflicht der württembergischen Amtmänner, Supplikationen mit einem Bericht und eigener Unterschrift zu versehen siehe Fuhrmann & Kümin & Würgler, Supplizierende Gemeinden, S. 296f.; Landwehr, Württemberg, S. 564; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 30. Landwehr weist darauf hin, dass die Supplikationen von einem ausgebildeten Schreiber der Gemeinde anzufertigen waren. Zu den allgemeinen Aufgaben der frühneuzeitlichen Vögte siehe mit weiterführenden Literaturhinweisen Landwehr, Policey im Alltag, S. 48f.; Rublack, Herrschaftspraxis; Zimmermann, Der Vogt; Zürn, Amtleute und Geistliche. 169 Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 62. 170 Das ad pios usus -Prinzip wurde ab dem frühen 17. Jahrhundert allerdings mehrmals gebrochen, als Herzog Friedrich nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten für den Kirchbau in Freudenstadt suchte. Dies führte ihn in Konflikt mit dem Landtag, der die Unrechtmäßigkeit der Konfiskationen im frühen 17. Jahrhundert anprangerte und weitere Nachforschungen in der Sache anforderte. Lempp, Der württembergische Synodus, S. 50f.; Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 99f., 106; Teufel, Die Beschlagnahme. Zum Landtag in Württemberg siehe einführend z. B. Blickle, Landschaften im Alten Reich, S. 89-97; Fuhrmann, Amtsbeschwerden; Landwehr, Württemberg, S. 562f., 565. 171 Landwehr, Policey im Alltag, S. 48; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 5; Zimmermann, Der Vogt, S. 51. Zu den Aufgaben der Vögte im Rahmen des Rechnungswesens und der Inventaraufstellung siehe Zimmermann, Der Vogt, S. 68f. 172 Darüber hinaus hatte der Obervogt auch „die Bestandaufnahme über die Frucht- und Getreidevorräte der Stadt“ zu kontrollieren. Landwehr, Policey im Alltag, S. 49. <?page no="194"?> 195 notwendig machte, wie etwa als Hofgerichtsbeisitzer. Der Untervogt dagegen war für die laufenden Geschäfte im Amtsbezirk verantwortlich. 173 Die Obervögte werden in den Täuferakten - zumindest für das Schorndorfer Amt - nur vereinzelt als Akteure sichtbar, meist, wenn sie gemeinsam mit den Untervögten einen an den Landesherrn bzw. die Zentralverwaltung gerichteten Bericht unterzeichnen. 174 Dies war etwa in der Spezialvisitation von Urbach im Jahre 1598 der Fall, als der Obervogt Jakob von Gültingen als Mitglied der Visitationskommission berufen wurde. 175 Über einen seiner Vorgänger, den Obervogt Heinrich Freiherr zu Mörsberg und Beffort dagegen ist zum einen überliefert, dass er im April 1576 Interesse an der Nutzung bzw. am Erwerb eines als Täufergut eingezogenen Gartens in Schorndorf anmeldete. 176 Zum anderen wurde über dem ehemals katholischen Obervogt in der Frühjahrsvisitation von 1584 festgestellt, dass er zwar die Predigten fleißig besuche, jedoch nicht am Abendmahl teilnehme. 177 Viel mehr allerdings ist über die Stellung der Obervögte in der Sektenbzw. Täuferbekämpfung im Schorndorfer Raum nicht zu erfahren; demnach ist ihre Rolle hier insgesamt nicht besonders hoch anzuschlagen. Als verrechnende Amtleute standen die Vögte zumindest im Prinzip bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts „unter genauer Kontrolle der Regierung“. 178 Martin Zürn zufolge waren die Vögte als Fremde und vom Landesherrn eingesetzte Amtsträger „von ihrer Dienstherrschaft extrem abhängig“ und „vertraten dementsprechend konsequent deren Interessen“. 179 Die Untervögte verrichteten ihr Amt eng in die hierarchischen Herrschaftsstrukturen eingebunden. Damit einher ging die Notwendigkeit, die Vorgesetzten in den Berichten über die Einhaltung der Vorschriften und ein ausreichendes Maß an Fleiß zu überzeugen. Allerdings stand neben einem „bürokratischen Amtsverhältnis“ zum herzoglichen Verwaltungsapparat noch ein „paternalistisch-autokratisches“ gegenüber, was 173 Ebd., S. 48f.; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 363f.; Wintterlin, Behördenorganisation, S. 5-7. 174 Siehe z. B. die von Obervogt Heinrich Freiherr zu Mörsberg und Beffort sowie Untervogt Sixt Weselin aufgestellte Rechnung über die Haftkosten und die Überführung eines Täufers auf die als Gefängnis genutzte Burg Hohenwittlingen vom 22. November 1582, HStAS A63/ 59, Nr. 1, den Beibericht von Obervogt Hieronymus [sic] Freiherr zu Mörsberg und Beffort zu Schorndorf zur Supplikation Lorenz Lachenmayers zu Schlechtbach vom 6. März 1590, HStAS A282/ 3094 d, Nr. 22, sowie den Beibericht von Obervogt Burkhardt von Weiler zu Schorndorf über die Supplikation Matthäus Schätzlins aus Beutelsbach vom 12. Januar 1607, HStAS A282/ 3094d, Nr. 27. 175 HStAS A282/ 3094c, Nr. 13. 176 HStAS A282/ 3094b, Nr. 15. 177 Da aber „gutte hoffnung“ auf eine Besserung bestand und die Gemahlin des Obervogtes als gute Lutheranerin befunden wurde, sah der Synodus keinen Anlass für ein weiteres Vorgehen, sondern äußerte lediglich den frommen Wunsch, der Obervogt werde „verhoffenlich sich von tag zu tag noch mehr nähern“. LKA A1/ 1584 I, f. 93r. Im April 1585 konnten die Visitatoren berichten, der Obervogt habe sowohl zu Weihnachten als auch am Gründonnerstag kommuniziert - ein Ereignis, das vom Synodus mit einem „Deo gratias“ begrüßt wurde. LKA A1/ 1585 I, f. 88v. 178 Wintterlin, Behördenorganisation, S. 5. 179 Zürn, Amtleute und Geistliche, S. 193. <?page no="195"?> 196 nicht selten aufgrund von unklarer Kompetenzverteilung, Intressenkonflikten und Konkurrenz zu Streitigkeiten zwischen den Ober- und Unteramtmännern führte. 180 Ebenfalls waren Konflikte mit den geistlichen Amtsträgern oftmals geradezu vorprogrammiert, ganz zu schweigen von den Untertanen, die ihre eigenen Interessen gegenüber dem amtlichen Handeln der Vögte aktiv verteidigten. Wie Ulinka Rublack herausgearbeitet hat, mussten die weltlichen Amtmänner somit grundsätzlich „vor dem Hintergrund der ständigen Infragestellung ihrer Herrschaft“ agieren. 181 Insbesondere den weltlichen Amtsträgern haftete wiederholt der Verdacht der Kirchenleitung an, sie gingen nicht effektiv genug gegen die Täufer und Täuferinnen vor. Vor allem richtete sich dieser Vorwurf auf die Amtleute der lokalen Ebene, doch auch die Vögte mussten mit ihrem Handeln beweisen, dass sie seinen Amtspflichten ausreichend nachkamen. Nicht zuletzt bestand diese Notwendigkeit, weil ihnen die Aufsicht über die Amtleute vor Ort oblag. Ein weiterer Punkt, in dem sich die Vögte behaupten mussten, war die rechtzeitige Fertigstellung der eingeforderten Berichte und Rechnungen. Wurden Rechnungen nicht rechtzeitig angefertigt, war dies zu begründen und zu entschuldigen. So erklärte z. B. der Schorndorfer Untervogt Sixt Weselin im 20. Juni 1587 die verspätete Fertigstellung der jährlichen Täuferrechnungen mit den Gültverschreibungen, die „verhinderung gethon [haben], Das ich solliche Rechnung Ee nit vertigen mögen“. Weiter wies er im Hinblick auf eine künftig eingehende Supplikation der Gemeinde Hohengehren hin, diese werde den Vorschriften gemäß verfasst und zusammen mit weiteren relevanten Akten eingereicht werden: „Das alles wurt Inn kunfftiger rechnung Ordenlich einkommen.“ 182 Wie erfolgreich die Amtmänner die Umsetzung der Normen vorantreiben oder kontrollieren konnten, hing davon ab, wie ihre Beziehungen einerseits nach ‚oben‘ zu den Beamten in Stuttgart und andererseits nach ‚unten‘ zum dörflichen Magistrat beschaffen waren. 183 Da die Untervögte - im Unterschied etwa zu den Pfarrern - nicht selber im Dorf wohnten, wurden sie über die Verhältnisse vor Ort in erster Linie durch die dörflichen Amtsträger auf dem Laufenden gehalten, mit denen sie regelmäßig „von Angesicht zu Angesicht“ zu tun hatten. 184 Je besser die Beziehungen des Vogtes zur dörflichen Führungsschicht waren, desto mehr Hilfe und Unterstützung konnte er von ihnen erwarten. Und umgekehrt: „Je mehr ein Amtmann ‚Furcht und Respekt‘ bei der Bevölkerung verspielte, desto häufiger und offener äußerte diese ihre Kritik.“ 185 180 Vgl. Rublack, Herrschaftspraxis, S. 363-365; Zürn, Amtleute und Geistliche, S. 196f. 181 Rublack, Herrschaftspraxis, S. 366-375 (Zitat: S. 368). 182 HStAS A282/ 3094b, Nr. 42. Siehe auch LKA A1/ 1584 II, f. 84r. 183 Vgl. Scribner, Außenseiter, S. 34, zu den Dorfbeamten (Schultheiß oder Vogt), dessen Position als Mittelmann dem des Pfarrers ähnelte: „Ihre Lage, am Rande zwischen zwei Statusbereichen, der sozialen Beziehungen und der Machtverhältnisse, war also ständig ambivalent. Dies brachte ein Stigma der Nicht-Zugehörigkeit und Gefährdung in Konfliktsituationen mit sich.” 184 Sabean, Soziale Distanzierungen, S. 221. 185 Rublack, Herrschaftspraxis, S. 372. <?page no="196"?> 197 Auch und besonders im Hinblick auf die Täuferbekämpfung blieben die Vögte auf eine funktionierende Zusammenarbeit mit den dörflichen Amtsinhabern angewiesen. Es ist klar, dass der in der Amtsstadt ansässige Vogt nur mit Verzögerung über lokale Geschehen in Kenntnis gesetzt werden und nicht unmittelbar an Ort und Stelle sein konnte. Obwohl sie aufgrund herzoglicher Befehle teilweise auch selber die Gegebenheiten vor Ort gezielt zu erforschen hatten, blieben sie auf Hinweise aus dem Dorf - oder ggf. auf zufällig gewonnene Erkenntnisse - angewiesen, wollten sie über diese Fälle hinaus etwas über über täuferische Personen oder Praktiken erfahren. Dies erlaubte es bspw. den in ihren Häusern angeketteten Täuferinnen, von ihren Ehemännern freigelassen zu werden und ihren Tätigkeiten (ob nun Arbeiten im Haushalt oder täuferischen Aktivitäten) nachzugehen. Bis der Vogt an ihren Türen klopfte, waren sie längst wieder in ihre Fesseln geschlüpft. 186 Je größer die räumliche Distanz der Vögte zu den Dörfern war, desto mehr Spielraum blieb den Täufern und ihrem Umkreis. Sichtbar wird dies insbesondere an der Ausbreitung der Täufer an den Rändern vom Herzogtum, aber auch in abgelegenen Orten innerhalb des Territoriums. 187 Insbesondere der Schorndorfer Raum stellte für die Täufer aufgrund seiner Nähe zur Grenze des Herzogtums einen besonders günstigen Standort dar. 188 Hinweise auf die Art und Weise, wie die Untervögte mit mutmaßlichen Täufern oder Täuferinnen im Rahmen ihrer Amtspflichten umgingen, gibt es nur vereinzelt. Dass die Amtmänner insgesamt hart durchgreifen konnten, bestätigten die Visitatoren im Frühjahr 1587 mit der Annahme, die Vögte würden einen Winterbacher Trunkenbold „maisterlich erzaußen“. 189 Ähnliches widerfuhr Veit Espenlaub aus Schnait, der nachlässig zu den Predigten erschien, nicht kommunizierte und sich bei einem Trinkgelage mit dem Schnaiter Pfarrer angelegt hatte. Im Jahre 1586 soll er darüber hinaus vom Schorndorfer Vogt unter so har- 186 So beschwerten sich etwa die Visitatoren im Frühjahr 1617 über die Beutelsbacher Täuferin Margaretha Hellwart, dass dem Untervogt und Schultheiß bei ihrem Besuch zunächst „nit geöffnet worden, bis sie sich selbs wider angelegt hat, welches sie am klopffen vermerckt“. LKA A26/ 466 II, f. 187v. 187 LKA A26/ 466 II, f. 128r, 140r-140v, 159v. Siehe auch Clasen, Wiedertäufer, S. 171; Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 295; Furner, Repression and Survival, S. 48; Karant-Nunn, Confessional Ambiguity; Leu, Täuferische Netzwerke, S. 179-183. 188 Vgl. Schmidt, Geschichte der Stadt Schorndorf, S. 479f. Entsprechend wurde den Amtleuten die Anweisung erteilt, die Amtsträger der benachbarten Territorien über die von den Täufern ausgehenden Risiken mittels „guter nachpeurlicher Correspondentz“ zu informieren. Sollten die Kollegen in den benachbarten Herrschaften wider Erwarten die Ermahnungen der Württemberger nicht Ernst nehmen, sondern die Täufer auf ihrem Gebiete dulden und sich somit „vnnachpürlich“ erzeigen, so bliebe als letzte Instanz ein Appell an den Kaiser oder an das Reichskammergericht übrig. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 61v-62r. Ein ähnliches Verfahren - in diesem Falle die Heranziehung des Kaisers oder des Schwäbischen Kreises - wurde in Bezug auf benachbarte Reichsritter vorgeschrieben, die Täufer in ihren Herrschaften zuließen. Vgl. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 58v-59r. 189 LKA A1/ 1587 I, f. 84r. <?page no="197"?> 198 ten Bedingungen in Haft gehalten worden sein, dass er aus Furcht vor weiteren Turmstrafen seine Familie verließ und außer Landes zog. 190 Mussten die Untervögte einerseits ihre Amtsführung gegenüber ihren Vorgesetzten legitimieren, konnten sie in ihren Schreiben andererseits auch strategische Ziele verfolgen. So machte etwa der Schorndorfer Untervogt Sixt Weselin den Herzog im Jahre 1588 auf die bei der örtlichen Täufergutsverwaltung und mit den erstellten Rechungen aufgebrachte Mühe aufmerksam und erhoffte sich aufgrund seiner guten Leistungen Anerkennung und materielle Vorteile vom Landesherrn: „Hab also mit solcher Confiscation nit geringe müeh zuegebracht, Jedes Jars ordenliche Rechnunng überschickht, Da Ich vnnderthöniger hoffnung bin, E. F. G. werden meiner gehabten müeh mit der zeitt der besoldung auch In gnaden eingedenckh sein.“ 191 Obwohl die Korrespondenz der Untervögte naturgemäß von der Rhetorik einer untertänigen Ergebenheit gegenüber dem Fürsten geprägt war, konnten sie bei Bedarf dennoch ihre Unzufriedenheit in Worte fassen. Sixt Weselin drückte im Sommer 1576 seine Kritik an den wiederholten Supplikationen der Verwandten der Täuferin Anna Heutlin - die er ja jedes Mal unterzeichnen und begutachten musste - als Verwunderung darüber aus, dass es diesen Personen immer wieder gestattet wurde, den Landesherrn mit ihren Anliegen zu beschweren („das mich wundert, das sie e.f.g. de Nouo widerumben bemuewhen derffen“). Obwohl die letzte Entscheidungsgewalt natürlich dem Herzog überlassen wurde, formulierte der Untervogt seine Meinung zum Abschluß seines Schreibens hinsichtlich einer der Bittsteller mehr als deutlich: „Diser supplicantin aber Ist man meins bedenckens gar nichts mer schuldig.“ In diesem Fall konnte der Untervogt die Kirchenleitung von seinem Standpunkt überzeugen, denn diese bestätigte in ihrer Stellungnahme, man hätte der Supplikantin ihren Anteil „mehr dann reichlich gnug folgen lassen, darumben sie vnnotwendig supplicirt“. 192 Im Rahmen der vorgegebenen Höflichkeitsformen konnten die Untervögte somit durchaus eigene Standpunkte vertreten und versuchen, diese bei ihren Vorgesetzten durchzusetzen. Für die Berücksichtigung ihrer Meinung sprach die Tatsache, dass sie nicht nur mit den lokalen Umständen weit besser vertraut waren als die Vertreter der höheren Verwaltungsebenen. Überhaupt waren die Stuttgarter Obrigkeiten auf die von den Vögten gesammelten und gebündelten Informationen vor Ort angewiesen. So erlaubte sich der Untervogt Johann Sebastian Engelhardt im Juli 1617, den Herzog indirekt sogar zurecht zu weisen, als von ihm in einem als unnötig befundenem Maße Unterlagen über den Fall des täufernahen Lorenz Lachenmayer aus Rudersberg eingefordert wurden, der die Wiedererstattung eingezogener Täufergüter aus dem Familienkreis anstrebte. 190 LKA A1/ 1586 II, f. 91v-92r; LKA A1/ 1587 I, f. 86v. 191 HStAS A282/ 3094d, Nr. 16. 192 HStAS A282/ 3094b, Nr. 29. <?page no="198"?> 199 Dem Untervogt war per Dekret auferlegt worden, „mit guten vmbständen [zu] berichten [...], wie es dises widertäuferischen guts halber beschaffen“. Es habe sich aber, wie der Untervogt betonte, in der Sache „nichtzit befünden“ wollen. Daraufhin sah er sich genötigt, auf die von ihm ordnungsgemäß eingereichten Berichte hinzuweisen: „Hierauf soll E.F.G. Ich in vnderthönigkhait nicht verhaltten, das von disem hierunder allwegen vf vorhergehende beuelch vnd decreta, jetz dis vnnd dan ain anders vnd mehrers zuerkhundigen, Ich vilmals berichtet, welche decreta aber Ich nit mehr beÿhanden, sonder von mir sampt denn zuwegen gebrachten documentis jederzeit wider zu E.F.G. Cantzleÿ geschickht worden, daselbst aller bericht vnnd vmbständt, villeicht vnder Doctoris Balthasari Eisengreins seeligen sachen, wie Ich verständigt, zu fünden sein möchten.“ 193 Die verschwundenen Akten seien also in der Kanzlei in Stuttgart zu finden und Engelhardt habe seine Amtspflichten stets gewissenhaft verrichtet. Gerade im Rahmen der Verwaltung der eingezogenen Täufergüter und der in diesen Angelegenheiten gestellten Supplikationen konnten die Untervögte Einfluß nehmen. Wie die Speziale in ihren Berichten, konnten auch die Vögte durch eine geschickte Wortwahl eigene Akzente setzen. 194 Denkbar ist, dass nicht nur die mit den Supplikationen beauftragten Schreiber die Bittsteller bei Bedarf als „more pitiful“ oder „more significantly connected“ darstellen, sondern auch die Vögte in ihren Begleitschreiben ähnliche Schritte vollziehen konnten. 195 Sixt Weselin, der im Dezember 1579 gemeinsam mit dem Schorndorfer Magistrat eine Supplikation des lateinischen Schulmeisters der Amtsstadt begutachtete, nutzte eine weitere Möglichkeit, indem er auf der tadellosen Amts- und Lebensführung des Schulmeisters rekurrierte. Diese sei zuverlässig in den jährlichen Visitationserhebungen dokumentiert: „Vnnd souil des Supplicanten vleis beÿ der Schul vnd der Jugendt, auch sonst sein thon vnnd lassen betrifft, Ist daran gannz vnd gar kein manngell. Wie solchs alles E.F.G. Jerlichs vß den Visitationibus In gnaden wol vernemen.“ 196 193 HStAS A282/ 3094a, Nr. 16. 194 Zimmermann, Der Vogt, S. 46, sieht in diesem Zusammenhang sogar eine Möglichkeit für den Amtmann, „jederzeit ihm nicht genehme Supplikationen nach seiner Willkür [zu] behandeln“. Zu den Einflussmöglichkeiten württembergischer Vögte in den administrativen Verfahren im 17. und 18. Jahrhundert siehe Bachmann, „Allerhand gottloses abgöttisches Werckhen“, S. 58- 63. 195 Vgl. Davis, Fiction in the Archives, S. 16. 196 HStAS A282/ 3094b, Nr. 34. Es ging in dem Fall um die Verlassenschaft der Täuferin Anna Heutlin in der Amtsstadt Schorndorf, der in den 1570er Jahren von mehreren Interessenten von ihren Freunden und Verwandten bis hin zu dem örtlichen Schulmeister, Obervogt sowie dem auswärtigen Abt zu Anhausen heiß umkämpft war. Der über vierzig Aktenstücke und die Jahre 1564-1587 umfasssende Fall befindet sich im Bestand HStAS A282/ 3094b. <?page no="199"?> 200 Insgesamt ist von einem größeren Handlungsradius der Amtleute auszugehen, als in der bisherigen Forschung oft angenommen worden ist. 197 In Bezug auf die Täuferbekämpfung sind in diesem Punkt noch ausführlichere Untersuchungen notwendig. Für den Moment kann festgehalten werden, dass die Vögte innerhalb des hierarchisch strukturierten Herrschaftsgefüges eine Vielzahl von Interessen verfolgten und unterschiedliche Standpunkte einnehmen konnten. 4.3.4. Anleitungen zum Amtmann-Sein: Die Fragebögen Damit in der Befragung auch gerade die Punkte angesprochen bzw. Informationen erhoben werden konnten, die im Interesse der Kirchenleitung standen, wurden sowohl für die regulären Visitationssituationen wie auch die Befragung von Täufern vorformulierte Fragenkataloge beigefügt. 198 Im Folgenden sollen diese Interrogatorien als von den Normgebern verfasste - und somit offiziell verbindliche - Richtlinien für die weltlichen wie kirchlichen Amtsträger näher betrachtet werden. Anhand der Fragebögen sollten die an der Täuferbekämpfung beteiligten weltlichen und kirchlichen Amtsträgern lernen, Täufer und Täuferinnen zu erkennen, zu überführen und in einer der vorgegebenen Täuferkategorien einzuordnen. 199 Wie bereits im Zusammenhang mit den Aufgaben der Visitationskommission angedeutet worden ist, wurden den weltlichen und kirchlichen Amtleuten jeweils eigene Fragenkataloge zur Verfügung gestellt. In der Vernehmungssituation waren von den mutmaßlichen Täufern und Täuferinnen sowohl die ‚politischen‘ als auch ‚religiösen‘ Punkte abzufragen. Die in Worms im Jahre 1557 formulierte gesamtprotestantische Stellungnahme zu den Täufern teilte die täuferischen Lehren in zwei Gruppen, je nachdem ob sie das weltliche Regiment betrafen oder nicht. Viele dieser Artikel finden sich später im württembergischen Mandat vom 25. Juni 1558 sowie in der Großen Kirchenordnung wieder. Auch der in Worms formulierte Leitfaden, wie das Verhör eines vermeintlichen Täufers durchzuführen sei, ähnelt den Richtlinien der Täuferordnung von 1536 sowie den späteren württembergischen Ordnungen. 200 Insgesamt lässt sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Tendenz erkennen, die Fragen immer detaillierter auszuformulieren. 201 197 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 55. 198 Ähnliche Hilfsmittel waren von Seiten der Normgeber auch in vielen anderen Punkten angefertigt worden. Siehe z. B. die detaillierten Anleitungen in der Ordnung zur Besetzung von Kirchendienerstellen aus dem Jahre 1559 in Arend, Kirchenordnungen, S. 347-360. 199 Zu den Fragenkatalogen und zum Verfahren des Abfragens während einer Visitation siehe auch Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 64-72; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 50-54. 200 HStAS A63/ 16 (5. November 1557), f. 3v-4r. 201 Siehe hierfür den im Anhang der Arbeit beigefügten Fragenkatalogen aus den Täuferordnungen von 1536 und 1571. <?page no="200"?> 201 Neben den politischen und theologischen Inhalten der Vernehmung konnte auch hinsichtlich der zu Befragenden differenziert werden, so dass für die Vorsteher teilweise eigene Fragen vorgesehen waren. In der Ordnung von 1571 sind dementsprechend insgesamt drei Fragenkataloge enthalten. Die ersten, auf praktische Gegebenheiten abzielenden Fragen wie etwa „was Er vnnd anndere für versamblung gehaltten? “ oder „Ob vnnd wen er daselbsten getaufft? “, waren für die Vorsteher reserviert. Dieser Fragebündel wurde 1571 relativ kurz gehalten. 202 Ausführlicher waren dahingegen die „Articul“ formuliert, „daruffain Jeder widerteüffer eusserlichen leiblichen Regiments wegen von den Ambtleuthen befragen solle werden“, die also an Vorsteher wie Anhänger gerichtet waren. 203 Auch der umfangreiche Katalog der theologischen Lehrfragen richtete sich an alle zu Vernehmenden. 204 Daneben wurden „der gemeinen widerteufer lehr“ - ähnlich wie bereits in der Großen Kirchenordnung von 1559 - in sechzehn Thesen zusammengefasst, anhand derer die Zugehörigkeit der Befragten in eine der Kategorien des Täufertums bestimmt werden sollte. 205 Der Ablauf der Befragung war folgendermaßen festgelegt: Zunächst waren die persönlichen Daten der oder des Befragten aufzunehmen und seine bzw. ihre Lehrauffassungen zu überprüfen. Das Abfragen der Personalien und anderer praktischer Angelegenheiten zielte vor allem darauf ab, sich ein möglichst genaues Bild über die Verbreitung der Täuferbewegung und die Netzwerke und Familiensituation der Befragten zu machen. Diesen Frageblock sollten die weltlichen Amtleute abfragen. So hatte die vernommene Person nach der Ordnung von 1571 u. a. darüber Auskunft zu geben, wer sie zur vermeintlichen Wiedertaufe bewegt habe, wo die täuferischen Versammlungen stattgefunden haben und wer und wie viele Menschen dabei gewesen seien. Über seine bzw. ihre Familie sollte der bzw. die Befragte berichten, ob „er auch ein Weib oder sie ain Mann vnd Kinder habe, die getaufft oder nit seien“. Für die obrigkeitliche Informationserhebung war es entscheidend, möglichst „alle mit Irem namen [zu] benennen“. 206 Nur anhand möglichst konkreter Angaben und namentlichen Nennungen der Komplizen konnten die Amtsträger hoffen, Täufer und Täuferinnen vor Ort ausfindig zu machen. Die politischen Fragen sollten in erster Linie die Einstellungen der oder des Vernommenen zur Obrigkeit sowie zu den Pflichten eines christlichen Untertanen ausloten. Danach sollte das Verhör zu den Glaubensfragen übergehen und von einem der anwesenden Theologen, entweder dem Spezialis oder dem Gemeindepfarrer, weitergeführt werden. Die Themengebiete umfassten 1571 Fragen über Gott, Gottes Sohn, der Erbsünde, das Predigtamt und den Kir- 202 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 8r-8v. 203 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 8v. 204 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 10v-12v. 205 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 3v-6v; Arend, Kirchenordnungen, S. 382. 206 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 9r. Im Jahre 1584 wurde die Praxis einiger Täufer beklagt, nur verstorbene oder auswärtige Glaubensgenossen namentlich zu nennen. Vgl. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 2. <?page no="201"?> 202 chendienst, die Taufe, die Buße, das Abendmahl sowie erneut Fragen über das Wesen der christlichen Kirche. 207 Insgesamt waren die Fragenkataloge der württembergischen Täuferordnungen eher darauf angelegt, lutherische Lehren in der Befragung bestätigen zu lassen und dadurch lutherische Untertanen zu ‚erzeugen‘ als den Befragten mit suggestiven Formulierungen täuferische Auffassungen ‚unterzujubeln‘ und möglichst viele der Befragten als Täufer oder Täuferinnen abzustempeln. Ein Beispiel aus der Täuferordnung von 1571 verdeutlicht dieses. Im Verhör sollten den vermeintlichen Täufern und Täuferinnen hinsichtlich der Taufe folgende Fragen gestellt werden: „Ob der Tauff, so von Johanne angefangen vnnd von Christo beuolhen, zu vnnserm hail nottwendig seie? Ob der Tauffnit allein seie ain eusserlich zeichen des Innerlichen Taufs, sonnder sei auch ain Mittel Werckhzeug, dardurch wir In Christo von dem heilligen Geist widergeborn vnnd ernewert werden? Ob man auch die Kinder taufen soll? “ 208 Diesem Fragenbündel liegt die offizielle Tauflehre der württembergischen Kirche zugrunde. 209 Vergleicht man diesen Fragenblock etwa mit dem Interrogatorium in der Ordnung der Besetzung von Kirchendienerstellen von 1559, zeigt sich, dass die Formulierungen im Grunde wortgleich sind. 210 Ähnlich war das Frageraster zu anderen Lehren konzipiert. 211 Zum Abendmahl etwa hieß es in der Täuferordnung von 1571: „Ob im nachtmal Christi mit Brot vnnd Wein durch die crafft des wortts oder der Einsetzung Christi der warhafftig leib vnd das warhafftig Blut vnnsers herrn Jhesu Christi warhafftig vnnd wesentlich geraicht vnd vbergeben werde allen Menschen, so sich des Nachzmals Christi gebrauchen, das zugleich wie sollichs mit der hand der diener über- 207 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 10v-12v. Siehe auch die Transkription der Passage im Anhang dieser Arbeit. 208 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 12r. 209 Siehe z. B. die Ausführungen der Großen Kirchenordnung von 1559 zur Taufe. HStAS A63/ 24, f. 52v-55r. 210 So waren neu einzustellende Kirchendiener in der Tauffrage anhand folgender Fragen zu überprüfen: „Ob der Tauff, so von Johanne angefangen und von Christo bevolhen, zu unserm heil notwendig sei. Ob der Tauffnicht allein sey ein eusserlich zeichen des innerlichen Tauffs, sonder sey auch ein Mittelwerckzeug, dardurch wir in Christo vom heiligen Geist wider geborn und ernewert werden. Ob man auch die Kinder tauffen soll.“ Arend, Kirchenordnungen, S. 350. 211 Allerdings lassen sich keine weiteren wortgleichen Formulierungen zwischen der Täuferordnung und der Ordnung zur Besetzung der Kirchendienerstellen feststellen. Die den Kirchendienern zu stellenden Fragen gingen außerdem in Teilen über die Täuferinterrogatorien hinaus, etwa waren in den Täuferverhören Fragen zu den Engeln, der Schöpfung der Welt und der Absolution nicht vorgesehen. Vgl. HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 10v-12v; Arend, Kirchenordnungen, S. 349-351. Siehe auch den Auszug der Täuferordnung von 1571 im Anhang der vorliegenden Arbeit. <?page no="202"?> 203 reicht, auch mit dem Mund dessen, so es esset, vnd trinckhet empfangen werde? Ob der unwürdig auch den leib Christi Im Nachtmal empfahe? “ 212 Für mutmaßliche Täufer - wie auch für die Anwärter auf eine Kirchendienerstelle - war es entscheidend, diese Fragen mit einem ‚Ja‘ zu beantworten, um ohne Konsequenzen aus dem Verhör herauszukommen bzw. als für den Kirchendienst ausreichend qualifiziert anerkannt zu werden. Gleichzeitig gestanden sie dadurch den lutherischen Lehren und der lutherischen Kirche ihre Autorität und ihren Anspruch auf die allein gültige Glaubenswahrheit zu. Sie ließen sich als christliche Untertanen oder Amtmänner belehren. Aber auch den verhörenden Amtleuten, die sich ja als Vertreter der Landeskirche oder Landesherrschaft wiederholt in der Situation der Befragung und Belehrung befanden, wurden hierdurch die offiziellen Normen immer wieder eingeschärft. Darüber hinaus ermöglichte eine weitgehend auf entweder-oder -Fragen aufbauende ‚Check-Liste‘ das Festhalten von eindeutigen Antworten und unterstützte somit ihre Kategorisierungsarbeit. Auf die Fragenkataloge folgten in den Täuferordnungen Anweisungen an die Amtleute für das weitere Verfahren. Eingeschärft wurde einmal mehr die Bedeutung der gewissenhaften Berichterstattung, nachdem die Vernommenen in Beisein der weltlichen und kirchlichen Amtleute den Vorschriften entsprechend examiniert und unterrichtet worden waren. Die Täuferordnung von 1536 wurde mit einer Mahnung an die Amtsträger abgeschlossen, den Abtrünnigen mit Fleiß und Engagement entgegenzutreten, damit die Täuferbewegung möglichst schon im Keim erstickt werden könne. 213 Besonderer Wert wurde hierbei auf eine nahtlose Zusammenarbeit zwischen den weltlichen und geistlichen Amtsträgern gelegt, was als Wunschvorstellung der Zentralbehörden von einer disziplinierten, untereinander und nach ‚oben‘ hin kooperativen Beamtenschaft gedeutet werden darf. So sollten die weltlichen Amtleute des Herzogtums die Kirchendiener damit beauftragen, alle gefangenen Täufer (unabhängig davon, ob sie Anhänger oder Vorsteher waren oder widerrufen wollten oder nicht) in der Anwesenheit der Amtleute mit Heranziehung der Heiligen Schrift eines Besseren zu belehren. Die 212 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 12v. Die Ordnung zur Besetzung der Kirchendienerstellen war in diesem Punkt ausführlicher, war sie doch an die professionellen Austeiler des Sakramentes gerichtet: „Von dem Nachtmal des Herrn Christi: Ob das Brot unnd der Wein in dem Nachtmal des Herrn Christi sey laut seiner Wort (Nemet hin und esset, das ist mein Leib; Nemet hin unnd trincket, das ist mein Blut, etc.) der recht warhafftig Leib und Blut Christi, werde auch durch Wein und Brot warhafftig, wesentlich und gegenwürtig außgetheilet. Ob das Brot werde also in den Leib unnd der Wein in das Blut Christi verwandelt, das da weder Brot noch Wein, sonder allein die gestalt des Brots und Weins bleibe. Ob der unwürdig auch den Leib und Blut Christi im Nachtmal empfahe. Ob man auß dem Nachtmal Christi soll ein Meß machen, darinn man den Leib und Blut Christi opfer für die Sünd der Lebendigen und Todten. Ob man das Brot und Wein für den Leib und Blut Christi halten soll, so man darbey kein Verkündigung des Todts Christi haltet, Und es nicht nach der Einsatzung Christi der Kirchen außtheilt, sonder sperret es in ein Sacramentheußlin oder tregt es umbher in einer Monstranzen.“ Arend, Kirchenordnungen, S. 350f. 213 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). <?page no="203"?> 204 Kirchendiener sollten „iren besten möglichen vleiß“ an den Tag legen, um die Abtrünnigen wieder für die lutherische Kirche zu gewinnen. 214 Im Jahre 1571 äußerte die Kirchenleitung die Befürchtung, dass sich insbesondere täuferische Vorsteher nicht belehren ließen. Bei der Einschärfung der Amtspflichten der an der Täuferbekämpfung beteiligten Amtleute ging es vielmehr darum, dass „ain Christliche oberkheit Ir ambt thue vnnd deßfahls nichtzit versome“, damit „dem herrn Christo ain Seel errettet vnd gewonnen werden möchte“. 215 Wie an anderer Stelle der Ordnung ausgeführt wurde, sei der „widerteufferisch[e] Irrthumb“ nicht Grund genug, einem Menschen sein Leben und somit „die hoffnung der besserung vnnd bekherung“ zu nehmen. Mit der Todesstrafe würde nicht nur der leibliche Körper, sondern auch die Seele des Hingerichteten gestraft, da ihm bzw. ihr so die letzte Gelegenheit genommen wurde, doch noch in die rechte Erkenntnis Gottes zu kommen und sich zu bekehren. 216 Die Obrigkeit hatte ihre weltlichen Pflichten zu verrichten, sollte sich aber nicht in Gebiete einmischen, die in Gottes Ermessen lagen. 217 Entscheidend war es, die von den Normgebern - natürlich dem Willen Gottes entsprechend - ausformulierten Pflichten zu erfüllen, nicht mehr und nicht weniger. Insgesamt dienten die in den Täuferordnungen vorgegebenen Fragebögen dazu, die Amtmänner in ihre einzelnen Zuständigkeiten innerhalb der Täuferbekämpfung einzuführen, zu unterstützen und in der Durchführung ihrer Amtsmpflichten einzuüben. 218 Durch das wiederholte Abfragen der festgelegten Punkte sollten sie einen spezifischen Blick entwickeln, mit dem sie nicht nur Täufer und Täuferinnen erkennen konnten, sondern darüber hinaus zu guten bzw. immer besseren Amtmännern werden sollten. Aus dieser Perspektive zeigt sich die Täuferbekämpfung als ein Tätigkeitsfeld neben zahlreichen anderen; sie ist somit eng in die zeitgenössischen Herrschaft- und Verwaltungspraktiken integriert. Die frühneuzeitlichen Ordnungen waren insgesamt dazu konzipiert, den Amtsträgern „konkrete Handlungsanleitungen und Verfahren für die Praxis“ in einem „rechtlich festgeschriebenen Rahmen“ an die Hand geben. 219 Die eingeübten Fähigkeiten galt es in den Visitationen und in der Berichterstattung und weiteren administrativen Korrespondenz zu demonstrieren. Die den Amtmännern auferlegten bürokratischen Aufgaben lassen sich ohne Weiteres in den Horizont der symbolischen Repräsentation von frühneuzeitlicher Herrschaft einordnen. Wie David W. Sabean eindrücklich gezeigt hat, waren die bürokratischen Schriften des 16. Jahrhunderts gesättigt mit ritualisierer - und 214 HStAS A63/ 4 (Täuferordnung von 1536). 215 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 13r. 216 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 26v. 217 Auf diese Einstellung ist im Zusammenhang mit den Aufgaben der Speziale bereits oben im Kapitel 4.3.2. hingewiesen worden. 218 Vgl. Härter & Stolleis, Einführung, S. 3, 16; Landwehr, Policey vor Ort, S. 53; Schnabel- Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 173. 219 Härter & Stolleis, Einführung, S. 16. <?page no="204"?> 205 somit symbolischer - Gestik gegenüber den Höhergestellten. 220 So wurden die Amtmänner bspw. unter Androhung von Geldstrafen dazu verpflichtet, nach den Richtlinien der Landesherrschaft über die verschiedenen Bereiche ihrer Tätigkeiten Buch zu führen. Wie beim wiederholten Hinweis auf ihren Eid gegenüber dem Herzog wurden auch hier ihre Verpflichtungen als Diener des Staates in Erinnerung gerufen. Der regelmäßige Schriftverkehr zwischen den Amtmännern vor Ort und der Zentralverwaltung sollte den Amtsträgern zudem deutlich machen, dass man in Stuttgart über die selben Informationen verfügte, so dass den Amtleuten kein Raum für abweichendes oder eigennütziges Handeln bleiben sollte. 221 Obwohl eine enge Verzahnung geistlicher und weltlicher Kompetenzen vorlag und in den Ordnungen vorgesehen war, bedeutet dies jedoch bei Weitem nicht, dass die Zusammenarbeit stets harmonisch verlief. Zwischen den Amtsebenen waren reibungslose Handlungsabläufe keineswegs gegeben, so dass die Kirchenleitung mehrfach zu einer besseren Zusammenarbeit ermahnen musste. 222 In der Vorbesprechung der neuen Täuferordnung zur Jahreswende 1570/ 71 fasste der Protokollant Nikolaus Varnbüler einen ganzen Diskussionsstrang unter der Rubrik „der Ambtleut halben“ zusammen. Die postulierten Schwierigkeiten ergaben sich vor allem aus der zwiespältigen Rolle der Amtmänner als gleichzeitig Kontrollierende und Kontrollierte. Das Hauptproblem lag darin, die mit den Täufern sympathisierenden Amtmänner (gemeint waren in erster Linie Schultheiße und Richter in den Dörfern) zum effektiveren Vorgehen gegen die Täufer und Täuferinnen zu bewegen. 223 Der Abt von Adelberg wies auf die Notwendigkeit hin, den Amtleuten „ain Instruction“ zu geben, „gutt vffsehens“ auf täuferische Versammlungen zu haben. 224 Der Hofprediger Bidembach wollte dem Problem durch den Erlass eines „Ernstliche[n] Special befelh[s]“ und der Verwarnung der Amtmänner vor der Kanzlei entgegen treten. Die beiden Juristen Varnbüler und Vogler und der Kirchenratsdirektor Kaspar Wild schlugen rigorosere Maßnahmen vor: Säumige Amtleute seien „Ernstlich zubeurlauben oder sonsten zustraffen“. Konsens herrschte im Kirchenrat hauptsächlich darüber, dass nachlässige Amtmänner Ermahnungs- und Strafmaßnahmen unterzogen werden sollten, wenn auch nicht in gleicher Strenge wie halsstarrige Täuferprediger. 225 In der ausformulierten Ordnung von 1571 wurde den Amtleuten entsprechend ein ganzes Kapitel gewidmet. Es wurde zunächst an die Pflichten der 220 Vgl. Sabean, Soziale Distanzierungen. 221 Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 383; Sabean, Village Court Protocols, S. 5 f. Zur Bedeutung des Eides in der frühen Neuzeit siehe auch Blickle (Hg.), Der Fluch und der Eid; Holenstein, Huldigung der Untertanen; Weber, ‚Anzeige‘ und ‚Denunciation‘, S. 589-593. 222 Vgl. Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 262; Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 296; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 45f.; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 359f., 364. 223 Vgl. Hofer, Popular Resistance, S. 138f.; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 348f. 224 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 9r. 225 HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 9v. <?page no="205"?> 206 Ober- und Unteramtleute sowie weiterer „Diene[r] vnnd Knecht[e]“ erinnert, nach täuferischen Versammlungen Ausschau zu halten und solche unverzüglich anzuzeigen. 226 Den Oberamtleuten wurde in diesem Zusammenhang außerdem die wichtige Aufgabe übertragen, ihrerseits ein Auge auf die Unteramtleute und ihre Amtsverrichtung zu werfen, „dieweil bißher bei vilen vnnderambtleuthen grosse fahrlessigkheit gespürt worden, das sie ettwan verwandtnus oder anderer vrsachen vnnd genieß halb durch die Finger gesehen, die widerteufferische Personen heimlich aus vnd einschleichen lassen vnd nit wie Inen vfferlegt, dargegen gebürlich gehandlet.“ 227 Die Oberamtleute hatten solch nachlässigen Unteramtleuten mit ernstlichen Strafen zu drohen und die von oben eingegangenen Befehle mehrmals einzuschärfen. Solche Anweisungen finden sich wiederholt auch in den Stellungnahmen des Synodus zu den Visitationsprotokollen. Läge bei den Unteramtmännern eine bewusste Nichtbeachtung der Vorschriften vor, seien sie „nit allein deß Ambpts vnnd diensts zuentsetzen, sonnder auch nach gelegenheit der sach vnnd vmbstend ferrer zustraffen“. 228 Um für die Amtleute einen weiteren Anreiz zu schaffen, ihren Aufgaben gewissenhaft nachzugehen, sollte von nun an das von den Täufern eingezogene Strafgeld zur Hälfte in den örtlichen Armenkasten fließen, „damit die gericht und andere in stetten und flecken desto fleissiger weren“. 229 Doch die Amtleute sollten nicht nur Belohnungen in Aussicht gestellt werden. Ihnen wurde auch nach wie vor mit Strafen gedroht: Gingen die Amtleute trotz einer ernstlichen Ermahnung nicht zügig gegen die Täufer vor, wurde ihnen zunächst mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe gedroht. Bei wiederholter Nachlässigkeit sollten sie „mit schimpf“ ihres Amtes enthoben werden. 230 Strafen waren also nicht nur für Täufer, sondern auch für säumige Amtmänner vorgesehen. Dies ist erneut ein Hinweis darauf, dass die Amtleute wichtige Adressaten obrigkeitlicher Normimplementierung waren. In diesem Zusammenhang richteten sich die angedrohten Sanktionen in erster Linie auf die lokalen Amtsträger, die an dieser Stelle aufgelistet und für die fortwährende Existenz täuferischer Tendenzen mitverantwortlich 226 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 62v. 227 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 62v-63r. 228 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 63r. In der Täuferordnung von 1584 finden sich keine direkten Anspielungen auf die mangelnde Kooperation zwischen den Verwaltungsebenen, doch der Kreis der verantwortlichen Amtsträger wurde hier im Vergleich zur Ordnung von 1571 explizit erweitert, so dass er nun „alle Ober vnnd Vnnder Ampttleuth, Burgermeÿster, Schultheissen, Auch Gericht vnnd Rathspersonen, Item alle Statt vnnd Dorffknecht, Castenpfleger, Wächter, Vorstknecht vnnd annder so Ämpter oder Dienst haben“ umfasste. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 26. 229 Die andere Hälfte des Geldes sollte teils zur Deckung der täuferischen Haftkosten verwendet werden und teils dem Fiskus zugute kommen. HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 24f. 230 HStAS A63/ 42 (28. Januar 1584), S. 27. <?page no="206"?> 207 gemacht worden waren. Die Aufsicht über die örtlichen Amtleute allerdings war eine Pflicht der mittleren Verwaltungsebene, die die Kommunikation zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ zu bündeln und zu vermitteln hatte. 4.4. Fazit Die Visitationen sollten dem landesherrlichen Verständnis einer guten Policey entsprechend die Behebung gesellschaftlich-moralischer Missstände herbeiführen. Die durch die Visitation angestrebte Besserung sollte die Einzelnen zu besseren Untertanen und besseren Christen erziehen. Gleichzeitig ermöglichte die mit der regelmäßigen und flächendeckenden Visitationstätigkeit verbundene immense Bürokratie der Landesherrschaft, neue Formen der Verwaltung zu schaffen und zu erproben. Die für das Visitationsverfahren notwendigen Aufgaben wurden den Mitgliedern der Visitationskommission auferlegt. Diese setzte sich aus Vertretern sowohl der geistlichen als auch der weltlichen Obrigkeit zusammen, deren jeweiliges Engagement für das Funktionieren des Verfahrens notwendig war. In den Visitations- und Synodusprotokollen sind es zwar die Speziale als Vorsitzende der Visitationskommission, die als handelnde Figuren auftreten und die Darstellung dominieren. Doch auch den Vögten - im Schorndorfer Amt insbesondere den Untervögten - kam eine bedeutende Rolle in der Täuferbekämpfung zu, oblag ihnen doch aufgrund der in den Visitationen ermittelten Informationen und den entsprechenden Resolutionen der Zentralverwaltung die Ausführung der Sanktionen, die Verwaltung und Verrechnung der eingezogenen Täufergüter sowie die Begutachtung und Weiterleitung der Supplikationen aus täufernahen Kreisen. Waren die Aufgaben und Kompetenzen der kirchlichen und weltlichen Amtsträger in Teilen unterschiedlich, so sollten sie doch alle zusammen der gesellschaftlichen Besserung dienen. Auch lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten in den Aufgaben der weltlichen und kirchlichen Mitglieder der Visitationskommission feststellen, insbesondere im Bereich der Informationserhebung, des Berichtens und der Überwachung der Amtsträger auf der lokalen Ebene. Die Speziale und Vögte fungierten auch jeweils als zentraler Knotenpunkt in der Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie. Das eigentliche Verfahren bestand aus drei miteinander eng zusammenhängenden Teilen, erstens der Ermittlung der Missstände, zweitens der Beratung der befundenen Verfehlungen und drittens der Ausführung der Gegenmaßnahmen. Im ersten Schritt waren Informationen über das kirchliche Leben in den Gemeinden, die Amts- und Lebensführung der weltlichen und kirchlichen Amtsträger vor Ort nach den von den Normgebern festgelegten Vorschriften zu erheben und schriftlich festzuhalten. Einen wichtigen Bereich machte die Aufdeckung von nachlässigen Kirchgängern und Abendmahlsverweigerern sowie weiteren ‚Fehlern und Mängeln‘ in der Gemeinde aus. Wie die zu Beginn dieses Kapitels <?page no="207"?> 208 zitierte medizinische Metaphorik der Visitationsordnung von 1547 zeigt, wurde dabei nicht die endgültige Ausschließung devianter Personen aus der Gesellschaft gefordert, sondern vielmehr ihre Wiedereingliederung nach erfolgreicher - obrigkeitlich gesteuerter - Beseitigung der den lutherischen Normen widerlaufenden Handlungsweisen. In der Visitationssituation waren die Visitatoren mit der Macht ausgestattet, die Vorgeladenen zu befragen und belehren. Informationen über deviante Personen oder Verhaltensweisen in den Gemeinden sollten möglichst zuverlässig erhoben werden, so dass die Visitatoren die Vorgeladenen über einander ausfragten. Gleichzeitig hatten sie die Glaubwürdigkeit bzw. Aufrichtigkeit der Aussagen und des Auftretens der Befragten zu bewerten. Deshalb waren von den Spezialen und Vögten bei Bedarf Nachforschungen vor Ort einzuholen. Doch auch die Vernehmung der Betroffenen selber spielte eine große Rolle. Insbesondere für die Befragung von Dissidenten lagen ausführliche Fragenkataloge vor, von denen die Speziale die im engeren Sinne theologischen Punkte abzufragen hatten, die Vögte dagegen die politischen. Viele der Punkte in den Fragebögen waren so formuliert, dass sie sich mit einem einfachen ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten ließen. Demnach handelt es sich im Prinzip um eine Art ‚Check-Liste‘, die trotz der Fülle an Themen zumindest in der Phase der Verschriftlichung relativ schnell ‚abgehakt‘ werden konnte. Auch sollten den Kirchendienern und Vertretern des Dorfes teilweise die gleichen Fragen gestellt werden. Je fleißiger und engagierter die Speziale und Vögte sich gegenüber ihren Vorgesetzten präsentieren wollten, desto gewissenhafter hatten sie ihre Befragungs- und Belehrungstätigkeiten zu dokumentieren. Sobald die Tour des Visitationskomittees in einem Amt vollendet war, sollten die gesammelten Informationen verarbeitet und dem Verwaltungsapparat zur Verfügung gestellt werden. Das Berichten war in hierarchische Machtstrukturen sowie in die zeitgenössischen Verwaltungspraktiken eingebettet. Im herrschaftlichen Machtgefüge stellten die Visitatoren die mittlere Ebene der Normanwender dar. Sie verfügten demnach über gewisse Macht nach ‚unten‘. Mit den in der Berichterstattung gewählten Formulierungen konnten die Visitatoren, insbesondere die Speziale, die spätere Entscheidungsfindung des Synodus zwar nicht steuern, aber in eine bestimmte Richtung lenken. Durch eine geschickte Wortwahl konnte es den Visitatoren gelingen, Sachverhalte oder Personen bereits zu einem frühen Zeitpunkt in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen, etwa als harmlos, einfältig oder eigensinnig. Dies traf insbesondere auf die Fälle zu, in denen keine eindeutigen Anhaltspunkte bzw. Beweise für die Kategorisierung vorlagen. Wenn auch die letzte Entscheidungsgewalt beim Landesherrn lag, so sind doch die Vorarbeiten der Visitatoren nicht zu unterschätzen, zumal der Synodus die Visitationsprotokolle als Grundlage für die vorgeschlagenen Maßnahmen benutzte. So war es für die in der Visitation überprüften Personen von großer Bedeutung, welche Formulierungen die Visitatoren in ihren Berichten benutzten, denn die <?page no="208"?> 209 von den Visitatoren vorgenommenen Deutungen und Festschreibungen konnten handfeste Folgen für die Normabweicher haben. Gleichzeitig unterlagen die Visitatoren einem Legitimationsdruck nach ‚oben‘. Die Visitationsprotokolle sollten möglichst keine Zweifel an der Amtsausübung der Kommissionsmitglieder aufkommen lassen. In anderen Worten hatten sie ihren Berichten ausreichende Glaubwürdigkeit zu verschaffen, um die Kirchenleitung zufrieden zu stellen. Hierbei war das fleißige und gewissenhafte Erfüllen der vorgegebenen Aufgaben zu demonstrieren. Die Pflichten, an denen die Amtleute gemessen werden konnten, waren in den normierenden Vorschriften, etwa den Visitations- und Täuferordnungen, festgehalten. Dazu kam die Vorbildfunktion der Amtsträger, die mit ihrem tadellosen Lebenswandel die Autorität von Landeskirche und Landesherrschaft unterstützen sollten. Aus den auferlegten Pflichten ergaben sich gleichzeitig die Punkte, die in der eigenen Berichterstattung zu betonen waren. Die Berichterstattung selbst stellte eine der wichtigsten Pflichten dar. Die von den Normgebern immer detaillierter ausgearbeiteten Anweisungen in den Ordnungen gaben den weltlichen und kirchlichen Amtsträgern konkrete Mittel an die Hand, durch welche Schritte sie ihre Pflichten in einem spezifischen Aufgabenbereich (hier: der Sektenbzw. Täuferbekämpfung) zu erfüllen hatten. Die Fragenkataloge wurden auf der Basis der bereits in der Großen Kirchenordnung 1559 festgehaltenen und in der Täuferordnung von 1571 erneut bekräftigten, vermeintlich typischen täuferischen Lehren entworfen. Das Frageraster diente der Einordnung der befragten Personen in das System der abgestuften Täuferkategorien. Die in bzw. nach den Visitationen vorgenommene Klassifizierung der Dissidenten bildete gleichzeitig die Grundlage für weitere Maßnahmen gegen sie, von denen die geduldige Belehrung durch die Speziale die wichtigste war. Selbst wenn es den Spezialen nicht gelingen sollte, hartnäckige Täufer zu bekehren, sollten ihre Berichte die Vorgesetzten von der Unnachgiebigkeit ihrer Amtsausführung überzeugen. Es durfte kein Verdacht entstehen, die Amtleute würden in ihrem Amt nachlässig vorgehen und die Täufergefahr nicht ernsthaft bekämpfen - ein Vorwurf, der in der Kirchenleitung im Laufe des 16. Jahrhunderts insbesondere gegen weltliche Amtmänner immer wieder erhoben wurde. Gleichzeitig aber wurden die Freiheiten der Amtsträger bezüglich dieses Themenfeldes eingegrenzt: Je ausdifferenzierter die Anweisungen, desto weniger Spielräume wurden den Amtleuten offiziell gewährt bzw. desto genauer waren die Leistungen definiert, die sie zu erbringen hatten. Man kann demnach an dieser Stelle die These formulieren, dass es bei den Richtlinien zur Sektenbzw. Täuferbekämpfung nicht ausschließlich um die Beseitigung von religiöser Devianz und potentiellen Aufrührern ging, sondern auch um die Einübung der Amtmänner, die zunehmend zu Staatsbeamten erzogen werden sollten. 231 Sie waren auch diejenigen, an die die Ordnungen in erster Linie adressiert waren. Den Spezia- 231 Vgl. Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 173, die in Anlehnung an Max Webers Herrschaftskonzept festhält: „Bei der Herrschaft ist konstitutiv der anderen erfolgreich Befehlende, bei der Disziplin ist das wichtigste Moment die ‚Eingeübtheit‘.“ <?page no="209"?> 210 len und Vögten wurde hierbei die Aufgabe zuteil, die Einhaltung der jeweiligen Ordnungen durch die Amtsträger vor Ort zu überwachen. In den Visitationen sollten sie wiederum in ihrer Aufsichtstätigkeit überprüft werden. Insgesamt wurden an die am Bekämpfungsprozess eingebundenen weltlichen und kirchlichen Amtsträger in den Visitations- und Täuferordnungen Erwartungen formuliert, die Erkenntnisse über die frühneuzeitlichen landesherrlichen und lokalen Herrschaftspraktiken weit über das Thema ‚Visitation‘ bzw. ‚Täufer‘ hinaus erlauben. <?page no="210"?> 211 5. Kräftefelder vor Ort 5.1. Zwischen den Fronten: Die lokalen Kirchendiener 5.1.1. Obrigkeitliche Idealbilder und Anforderungen an die Pfarrer In der Großen Kirchenordnung im Jahre 1559 wurde nach neutestamentlichem Vorbild das Ideal eines württembergischen Kirchendieners entworfen: „Es soll aber ein Bischoffunsträfflich sein, eines Weibs Man, Nüchtern, Messig, Sittig, Gastfrey, Lehrhafftig, nicht ein Weinsauffer, nicht Beissig, nicht unehrliche Handtierung treiben, Sonder Gelinde, nicht Haderhafftig, nicht Geitzig, der seinem eignen Hause wol fürstehe, der gehorsame Kinder habe mit aler Erbarkeit, (So aber jemandt seinem eignen Hauß nicht weißt fürzustehen, wie würdt er die Gemeine Gottes versorgen? ) nit ein Newling, auffdas er sich nicht auffblase und dem Lesterer ins Urteil falle. Er muß aber auch ein gut Zeugnuß haben von denen, die draussen seind, auffdas er nicht falle dem Lesterer in die schmach und Strick.“ 1 Dem vorbildlichen Lebenswandel und einer adäquaten Haushaltung wurden neben den an anderer Stelle detailliert aufgeführten lutherischen Lehrauffassungen 2 eine herausragende Rolle in der Amtsführung eines Kirchendieners zugeschrieben. Vor Ort waren die Pfarrer die sichtbarsten Vertreter der Landeskirche und hatten diese den lutherischen Normen entsprechend zu repräsentieren. Gleichzeitig waren konfessionskonforme Lehren und zur Schau getragener tugendhafter Lebenswandel eng miteinander verwoben. Es sei nämlich nutzlos, in Lehrfragen die richtige Position zu vertreten, wenn der Pfarrer „was er mit einer Hand erbawe, gleich wider mit der andern abreisse“. 3 Luise Schorn-Schütte hat in diesem Zusammenhang auf den spezifisch protestantischen Charakter dieses Ideals hingewiesen, demzufolge die Pfarrer eng mit ihrer Gemeinde zusammenleben 1 Arend, Kirchenordnungen, S. 355. Vgl. 1. Tim. 3: 1-7. Luise Schorn-Schütte hat auf die weitgehend gleich bleibenden klerikalen Ideale in der frühen Neuzeit hingewiesen, die in den zur Normierung herangezogenen Bibelstellen begründet lag: „The criteria according to which the clerical ideal was formulated and measured remained essentially unchanged, because they were drawn from the ‚norms‘ of the Old and New Testaments: pastoral care, intercession, and proclamation of the Word, which included the clergy’s functions of admonition and warning.“ Schorn-Schütte, Priest, Preacher, Pastor, S. 26. 2 Für den ausführlichen Fragenkatalog in der Ordnung der Besetzung von Kirchendienerstellen 1559 siehe Arend, Kirchenordnungen, S. 349-351. 3 Ebd., S. 353. <?page no="211"?> 212 sollten. Dadurch sollten protestantische Kirchendiener ähnliche Lebens- und Alltagserfahrungen machen wie andere Hausväter, mit dem wichtigen Unterschied allerdings, dass die an den Lebenswandel der Pfarrer gerichteten moralischen Erwartungen wesentlich höher waren. In seiner Rolle als „father of the parish” hatte der protestantische Pfarrer gleichzeitig „best ‚father of the family‘“ zu sein. 4 Doch es waren nicht die Pfarrer allein, die in der Gemeinde die lutherischen Normen einschärfen sollten. In vielen Orten sollten sie vom Diakon, Mesner und Schulmeister unterstützt werden, die wie der Pfarrer gemäß den erlassenen Ordnungen agieren sollten und die mit ähnlichem Maß wie diese gemessen wurden. 5 Ähnlich gestalteten sich dementsprechend auch ihre Spielräume. Die Anforderungen an die Kirchendiener entsprangen aus dem Selbstverständnis frühneuzeitlicher Obrigkeiten, für eine christliche Gesellschaftsordnung zu sorgen, in der sowohl weltliches als auch zeitliches Wohlergehen der Untertanen gesichert wurde. Zumindest im Spiegel der Visitationsordnungen ging es dabei nicht allein darum, ein zufriedenstellendes Mindestmaß an Zucht, Ordnung und Rechtgläubigkeit zu etablieren. Vielmehr galt es, durch kontinuierliches Visitieren - Belehren, Überprüfen und notfalls Bestrafen - Amtsträger, Untertanen, die ganze Gesellschaft auf dem Weg der Besserung weiterzuführen. Auf die Pfarrer bezogen bedeutete dies, dass die (freilich bereits während ihres Studiums eingeschärften) landeskirchlichen Normen ihnen in der Visitationssituation durch ein Verfahren von Kontrollieren, Belehren und gegebenenfalls Sanktionieren handfest nahegebracht werden sollten. Fragen der Seelsorge scheinen dabei denen der Erziehung zum treuen Beamten der Landeskirche untergeordnet gewesen sein. 6 Waren die Charaktereigenschaften eines tugendhaften Klerikers aus einem Paulusbrief abgeleitet, lassen sich die Ideale für die sich schnell professionalisierende Qualifikation der württembergischen Pfarrer sowie ihrer Mitstreiter, der Diakone und Schulmeister, aus den Visitationsvorschriften extrahieren. Wie bereits im Zusammenhang mit den Visitationsordnungen aufgezeigt worden ist, hatten die Pfarrer in den Visitationen zunächst mit der Konformität ihrer Lehre zu überzeugen, die durch die Augsburger und die Württembergische Konfession festgelegt worden war. Nachdem sich die Visitatoren mit der Art und Weise befasst hatten, wie der Pfarrer die Sakramente spendete, wurden die Ausführung des Katechismusunterrichts und der Aufsicht über die Schule, der Predigten, der Gebete und dem Kirchengesang überprüft. 7 Danach galt die Aufmerksamkeit der Lebensführung des Pfarrers und seines Haushaltes. Als nächstes sollte die Bibliothek des Pfarrers besichtigt und festgestellt werden, inwieweit er der Er- 4 Schorn-Schütte, Priest, Preacher, Pastor, S. 26f. Siehe auch Holtz, „[...] jhr Ampt“, S. 160f. 5 Das Mesner- und Schulmeisteramt hatte in Württemberg oftmals dieselbe Person inne, vgl. Fritz, Die Kirche im Dorf, S. 171. 6 Rublack, Lutherische Beichte, S. 150; Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 179. 7 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 321; Landwehr, Policey im Alltag, S. 100. Vgl. oben Kapitel 4.2.2. und 4.3.2. <?page no="212"?> 213 wartung eines täglichen, ‚privaten‘ Studiums nachging. Abschließend hatte der Pfarrer über die Teilnahme der lokalen Amtleute und der Bevölkerung an den kirchlichen Zeremonien, die Einhaltung der Sittenzucht sowie über notorische Sünder, Abendmahlsweigerer und potentielle Sektierer in der Gemeinde Auskunft zu geben. 8 Die Mittel der Erziehungsarbeit waren genau abzuwägen. Es galt einen akzeptablen Kompromiss zwischen geduldiger Belehrung und tatkräftiger Oktroyierung der offiziellen Lehren zu finden. Dass die Tätigkeit als Geistlicher vor Ort kein leichtes Unterfangen war, darüber war sich die Kirchenleitung in Stuttgart durchaus im Klaren: „Nach dem under allen ämptern, so den Menschen auß Göttlicher Ordnung aufferlegt sein, kein schwärers erfunden würdt, dann die Kirchen des Sons Gottes recht regieren, so soll sovil desto grösser ernst und fleiß, ein Kirchendiener zuwölen, fürgewendt werden, sovil gefarlicher geirret würdt, da man einem, der mit falscher Leer befleckt oder nur ergerlichen, lasterlichem leben geschendet, ein Kirhen zu regieren bevilhet.“ 9 Unter diesen Umständen war eine solide Ausbildung und die kontinuierliche Überprüfung der Kirchendiener eine dringende Notwendigkeit. 10 Da die Pfarrer als Multiplikatoren eine wichtige Rolle in den Gemeinden spielten, sollten sie auch ‚richtig‘ predigen und lehren. 11 Nicht selten mussten sich die Pfarrer gerade aufgrund ihrer vermeintlich mangelhaften Gelehrsamkeit und ihrem geringen Eifer am Studium theologischer Texte in der Visitation rechtfertigen. Waren die finanziellen Voraussetzungen für den Erwerb von Büchern vorhanden, wurde die Vernachlässigung der geistlichen Lektüre von der Kirchenleitung stark missbilligt. Als Vergehen galt auch, wenn der Pfarrer den „pauren geschäfften“ den Vorrang einräumte. 12 Umgekehrt dürfte sich ein Pfarrer bei der Begutachtung seiner Bibliothek und seines Studiums aus einer prekären Situation herausgeredet haben können, wenn er überzeugende Gründe - etwa eine schwere Krankheit 13 - darlegen konnte, weshalb ihm die Möglichkeiten zur professionellen Weiterbildung fehlten. 14 Dagegen war es eher 8 Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 321. 9 Arend, Kirchenordnungen, S. 348. 10 Vgl. Schorn-Schütte, Priest, Preacher, Pastor, S. 29; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 350-357. 11 Die theologische Bewegungsfreiheit wurde offiziell neben der obersten Richtschnur des Neuen Testaments durch drei weitere zentrale Schriften definiert, die Confessio Augustana, die darauf aufbauende Apologie von 1531 sowie die Loci Communes rerum theologicarum seu von Philipp Melanchthon. Vgl. Arend, Kirchenordnungen, S. 153-155; Brecht, Kirchenordnung, S. 28; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 354f. 12 LKA A1/ 1583 II, f. 90r; LKA A1/ 1584 II, f. 89v-90r. 13 LKA A1/ 1585 II, f. 84v. 14 Was von der Kirchenleitung als angemessener Umfang einer Pfarrbibliothek angesehen wurde, lässt sich zwar nicht genau bestimmen. Doch als unzureichend galt es, wenn der Pfarrer lediglich einige Postillen und einzelne Werke der wichtigsten württembergischen Theologen Johannes <?page no="213"?> 214 ungeschickt, mit der eigenen Eingebundenheit in die dörfliche Landwirtschaft zu argumentieren, selbst wenn die zeitraubende und konfliktträchtige Einziehung der Zehnten von den Pfarrern durchaus als Entschuldigung vorgebracht wurde. 15 Dass von den Visitatoren auf die Qualität der Predigten großer Wert gelegt wurde, ist im wortzentrierten Protestantismus kein überraschender Befund. 16 Von den Normgebern wurden sowohl zu leises oder zu lautes Predigen, die Auswahl der Schriftstellen, falls sie von den Vorschriften abwich, als auch die unangemessene Dauer der Predigt kritisiert. 17 Doch nicht nur Nachlässigkeit im Amt, sondern auch übermäßiger Enthusiasmus der Pfarrer konnte von der Kirchenleitung gerügt werden, da er dem Ideal widersprach, die lutherischen Normen und Lehren mit Mäßigkeit zu verbreiten. Für den Katechismusunterricht etwa war in der Confessio Virtembergica das leitende Prinzip formuliert worden, die gesetzten Lernziele (das Auswendiglernen der theologischen Kernstücke) mit christlichem Sanftmut zu erreichen: „Vnd sollen die Kirchendiener mit der Jugendt / so freündtlich vnd holdselig handeln / das sie nicht von dem Catechismo abgeschreckt / sonder darzu lustig werden / wie dan[n] vnser Herr Christus selbs sich der Kinder auffdas freündtlichest angenommen hat.“ 18 Vereinzelt wurden in den Visitationen tatsächlich Klagen erhoben, denen zufolge das Prinzip der mäßigen Unterweisung vom Pfarrer nicht eingehalten wurde. Über den Winterbacher Pfarrer Aegidius Oswald etwa wurde in der Herbstvisitation im Jahre 1583 berichtet, er lese und erkläre in den freitaglichen Morgenpredigten ein ganzes Kapitel aus der Bibel, „es seÿe lang oder kurtz“. 19 Der Fleiß des Pfarrers auf der Kanzel wurde von den Visitatoren zwar grundsätzlich anerkannt, doch hinsichtlich seines pädagogischen Wertes angezweifelt. Die Visitatoren begehrten in letzter Instanz eine Entscheidung des Synodus, „ob ihme soliches, dieweil es nicht nutzlich, [...] zuzulaßen seÿ“. 20 Nachdem die Gemeinde ihre Klage über die zu langen Predigten des Pfarrers in der Frühlingsvisitation 1589 wiederholt hatte, ordnete der Synodus dem Pfarrer kürzeres Predigen an. 21 Die Art des Predigens wurde in der Visitation Winterbachs noch im Jahre 1603 Brenz und Lukas Osiander besaß. LKA A1/ 1585 II, f. 84r. 15 Siehe z. B. HStAS A281/ 1120, S. 53; LKA A1/ 1586 II, f. 96r. Zur grundsätzlichen Skepsis der württembergischen Kirchenleitung gegenüber den landwirtschaftlichen Tätigkeiten der Pfarrer siehe Tolley, Pastors and Parishioners, S. 56f. 16 Vgl. Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, S. 8. 17 LKA A1/ 1583 II, f. 90r; LKA A1/ 1588 I, f. 84v; LKA A1/ 1589, f. 74r. 18 HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 64r; Tolley, Pastors and Parishioners, S. 160 (Anm. 54). Ähnliche Lehrstrategien gab es in Ulm, vgl. Kaul, Undankbare Gäste, S. 138-140. 19 LKA A1/ 1583 II, f. 86v. 20 LKA A1/ 1583 II, f. 86v. 21 LKA A1/ 1589, f. 75v. Wie eine spätere Visitation zeigte, beherzigte Pfarrer Oswald diesen Befehl. LKA A1/ 1590, f. 89v. <?page no="214"?> 215 thematisiert, als der Spezialis den eigenwillig predigenden, aber grundsätzlich als fleißig angesehenen Diakon „seines schwallredens“ halber belehrt hatte. 22 Den Kritikern eröffneten sich demnach mehrere Möglichkeiten, gegen einen Kirchendiener vor Ort vorzugehen: Sie konnten entweder ein ‚zu wenig‘ oder ein ‚zu viel‘ in seinem Amtsverhalten anprangern. Entsprechend musste dem Pfarrer die Gratwanderung gelingen, so dass ihm weder von Seiten der Gemeinde noch seiner Vorgesetzten übermäßiger Eifer, unangemessene Härte oder andererseits ein zu laxes Ausüben seines Amtes vorgeworfen werden konnte. Der Synodus seinerseits wägte die Entscheidung überwiegend nach dem Kriterium der Nützlichkeit für die eigene Sache ab. Dass Eingriffe der Visitatoren bzw. des Synodus von ‚oben‘ auch eine symbolische Dimension haben konnten - der örtliche Pfarrer wurde gegenüber seiner Gemeinde bloßgestellt - ist nicht zu unterschätzen. Durch eine bekannt gewordene Belehrung und einen so verursachten Autoritätsverlust konnten die Spielräume des Kirchendieners unmittelbar vor Ort und dadurch mittelbar auch in der Visitation eingeengt werden. Ein Pfarrer mit geringertem Ansehen konnte sich vermutlich weniger Fehler im Umgang mit den Gemeindemitgliedern erlauben als ein allseits respektierter Kirchendiener. Die strittigen Verhältnisse vor Ort wiederum gefährdeten den Pfarrer in zukünftigen Visitationen, wenn er Anzeigen von Seiten der Gemeinde zu befürchten hatte. In einer kleinräumigen Gemeinde ließen sich Amts- und Lebensführung der Kirchendiener nicht voneinander trennen und dies war auch nicht vorgesehen. So wurde das Ansehen der Landeskirche auch dadurch gefährdet, wenn die Pfarrer in ihren Gemeinden aufgrund ihres moralisch oder sittlich mangelhaften Lebenswandels in die Kritik gerieten. 23 Konnten öffentlich gewordene Familienkonflikte dem Pfarrer unter Umständen noch die Sympathien einiger Dorfbewohner einbringen, die Ähnliches zu erleiden hatten, 24 so mussten insbesondere aus täufernahen Kreisen erhobene Klagen gegen das von den Pfarrern gegebene schlechte Vorbild Unruhe beim Betroffenen und in der Kirchenleitung auslösen. Selbst wenn dies vielleicht nur einzelne Stimmen in den Gemeinden waren, so war die Bedrohung doch aufgrund ihres hohen Symbolwertes um ein Vielfaches größer. Denn die Täufer waren mehr als nur nachlässige Kirchgänger und aufsässige Abendmahlsverweigerer. Mit ihren zentralen Lehren (ob sie nun von den einzelnen Täufern oder Täuferinnen vertreten oder verinnerlicht wurden oder nicht) stellten sie herausfordernde alternative Gesellschaftsentwürfe gegenüber der jungen lutherischen Landesherrschaft auf. Bei der Eindämmung der Täuferbewegung wurde dem einzelnen Pfarrer von der württembergischen Kirchenleitung insgesamt eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Selbst wenn ihm nicht alles zu Ohren kommen konnte, was sich im Dorf abspielte (insbesondere, wenn den Dorfbewohnern daran gelegen war, etwas vor dem Kirchendiener zu verbergen), so war der Pfarrer dennoch der beste 22 HStAS A281/ 1121, S. 2-3. 23 Vgl. Labouvie, Verbotene Künste, S. 214; Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, S. 9f. 24 Vgl. Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung, S. 218-220, 226. <?page no="215"?> 216 Informant der Normgeber vor Ort. 25 Immerhin kannte er die Umstände vor Ort besser als jeder andere im obrigkeitlichen Herrschaftsgefüge; er hatte u. a. den Überblick, wer zu den Gottesdiensten und Sakramenten kam und wer ausblieb. 26 Sobald der Pfarrer von solchen nachlässigen Kirchgängern und Abendmahlsverweigerern - also potentiellen Sektierern - erfuhr, sollte er diese schnellstens ermahnen und belehren. Wenn sich keine Besserung einstellte, lag es am Pfarrer, dem Spezialis der nächstgelegenen Amtsstadt über die Vorfälle Bericht zu erstatten oder diese in der nächsten Visitation vorzutragen. 5.1.2. Legitimationsstrategien der Pfarrer Am Beispiel Urbachs lassen sich Argumentationsmuster und Legitimationsstrategien des berichterstattenden Pfarrers gegenüber seinen Vorgesetzten besonders deutlich aufzeigen. Urbach hatte einen Ruf als „volckreich[e] vnd vneünig[e]“ 27 Gemeinde, wo die Amtmänner seit Jahrzehnten Schwierigkeiten gehabt hatten, den Normgebern missfallende Einstellungen und Verhaltensmuster der Einwohner zu beseitigen. Die Täufer hatten hier seit Anfang der 1570er Jahre Anhänger gefunden und manch ein Pfarrer hatte im Laufe der Jahre die Schwere des Amtes in dieser Gemeinde beklagt. Im Juni 1620 übersandte der Urbacher Pfarrer Johannes Joachim Schüle dem Spezialis einen aus aktuellem Anlass verfassten Sonderbericht über die Täufer in seiner Gemeinde. Nicht nur verharrten in Urbach altbekannte Täufer und Täuferinnen auf ihrem Glauben, sondern es habe seit der letzten Visitation sogar „ein anderer, Newer widerteüffer sich endeckhtt“. Dieser Mann namens Jakob Banholtz sei bereits eine zeitlang vom Tisch des Herrn ferngeblieben. Dabei unterließ es der Pfarrer nicht, auf sein „vilfeltig trewhertziges vermahnen“ hinzuweisen, das inzwischen selbst die lange hadernden Eltern und Geschwister Jakobs zum Abendmahl hatte bewegen können. Nur „er Jacob allein“ sei nach wie vor „vßgepliben“. 28 Der Pfarrer fuhr mit der Beschreibung einer besonders scharfen Auseinandersetzung mit Banholtz fort, „damit man seines geÿstes ein gnugsames specimen vor augen hätt“. Banholtz war zusammen „mit seines vatters gantzem haußgesind“ zu einer nach dem Sonntagsgottesdienst durchgeführten Examination beschieden worden. Dies habe er aber „keins wegs gethan, sondern 25 HStAS A282/ 3094a, Nr. 26; Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 243f.; Furner, Repression and Survival, S. 43f.; Leu, Täuferische Netzwerke, S. 174. Zu den Erwartungen an die Pfarrer vor Ort siehe auch HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 54v. Die herausragende Rolle der Pfarrer trifft auch auf andere Bereiche aus obrigkeitlicher Sicht unerwünschten Verhaltens wie etwa magischer Praktiken. Siehe hierzu z. B. Labouvie, Verbotene Künste, S. 226. 26 Als Vertreter der Landeskirche vor Ort waren sie zudem meist die erste Zielscheibe antiklerikaler Äußerungen oder gegen die lutherischen Praktiken und Lehren gerichteter Kritik. Gelegentlich entdeckten Pfarrer täuferische Tendenzen sogar bei der Beichte, die dem Abendmahlsbesuch vorauszugehen hatte. Vgl. LKA A26/ 466 II, f. 205v. 27 LKA A1/ 1621, f. 52v. 28 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. <?page no="216"?> 217 ob er wohl zuo vor in der Predig gewesen, iedoch beÿ dem Examen sich nit einstellen wöllen“. 29 Diesen „vngehorsam“ habe Jakob Banholtz „mit beharrlichen trutz auch folgenden Sonntag“, an dem er nochmals mit anderen Personen zur Befragung durch den Pfarrer Schüle vorgeladen war, fortgesetzt. Somit habe Jakob bereits zum zweiten Mal dem Pfarrer „allen kirchen gehorsamen ipso facto versaget“. 30 Ähnlichen Ungehorsam habe auch Jakobs Bruder Jörg demonstriert, der am Examen anwesend gewesen war. Schüle beschrieb das Auftreten Jörgs seiner Person gegenüber als besonders respektlos, sogar spöttisch. Eigens zu nennen war auch der gravierende Umstand, dass dies „offentlich“ in der Anwesenheit anderer Leute geschehen sei. Denn als der Pfarrer die Anwesenden über die lutherischen Lehren aus einer aufgeschlagenen Bibel erklärte, habe ihn Jörg Banholtz geradeheraus unterbrochen, um seine eigenen Anschauungen aus der heiligen Schrift heraus zu legitimieren: „Geörg Banholtz obgedachten Jacobs Bruder, der interrumpiert sermonem, inter legendum mit lächlendem mund mir [...] zuo sagen offentlich: Ich sollte ihnen darfir lesen die Ep[isto]lam Jacobi, das 1. 2. 3. 4. vnd fünfft capitul, da würden wirs finden.“ 31 Der Pfarrer habe aber sogleich die Absicht hinter dieser Aufforderung durchschaut. Seiner Darstellung zufolge würden diese täuferischen - oder zumindest täufernahen - Personen nämlich die „bißhero gegen Ihnen gebrauchte sanfftmuott vnd gedult nur zu mehrer halßstarrigkheit mißbrauchen“. Schüle ließ die Situation als den Kampf eines rechtmäßigen Mannes gegen eine zahlenmäßig überlegene, eng zusammenhaltende Gruppe von Widersachern erscheinen, die die Aufgaben des Kirchendieners unmöglich machten. Denn sobald „ich mit einem allein die Irtumb außzuofegen handelte, sie gesampt fir einen Mann her firstelten vnd sich wider mich rottieren woltten“. 32 Doch Schüle habe sich nicht entmutigen lassen, sondern habe einen tapferen Schlagabtausch geliefert, indem er Jörg Banholtz genauso „offentlich“ zur Rede gestellt habe wie dieser zuvor ihn selbst. Hierbei habe Schüle das Recht Jörgs in Frage gestellt, ihn über religiöse Angelegenheiten zu unterrichten: „[H]ab ich gemeltte vngepir an Ime Geörg offentlich gestrafft vnd gfragt, woher er den gewaltt habe, mir in meinem ministerio einige maß oder Ordnung firzuoschreiben? “ Darauf habe Jörg „mit hitzigen worten geantwortet“, ob denn der Jakobusbrief nicht auch Gottes Wort sei und weiter gefragt, wenn man sie nicht gleichrangig mit den Paulusbriefen lesen könne, warum sie denn überhaupt noch einen Platz 29 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 30 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. Jakob Banholtz wurde noch im Jahre 1633 für einen aktiven Täufer bzw. einen vermeintlichen Vorsteher gehalten. Vgl. LKA A3/ 1632-1922 (29. November 1633). 31 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 32 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. <?page no="217"?> 218 in der heiligen Schrift hätten. Pfarrer Schüle habe diese Frage des Jörg Banholtz mit dem Hinweis auf die Versuchung Jesu in Matth. 4 widerlegt und betont, man habe die Bibel „in gutem gesundem verstand“ zu gebrauchen. Durch falsche Auslegungen würde man das Wort Gottes dagegen „mißbrauchen vnd verkehren“. Die Auseinandersetzung mit Jörg Banholtz gipfelte schließlich in der Anschuldigung des Pfarrers, Banholtz sei ein „verdächtig widerteüffer“. Nun habe im Raum bereits eine derartige „vnorndung“ geherrscht, dass der Pfarrer „das angestellte Examen gantz abrumpirn vnd vffkünfftigen Sontag sich widerumb aber bescheidenlich sich ein zuostellen bescheiden mußtte“. 33 Die Unterbrechung des Examens angesichts einer bedrohlichen Situation, beteuerte Schüle hierbei, bedeute aber noch lange nicht, dass der Kirchendiener den Kampf gegen diese ungehorsamen Personen aufgegeben hätte. Der Pfarrer schloß den Bericht an seinen Vorgesetzten in der Hoffnung ab, die Schwere seines Amtes ließe sich „ohnschwehr“ aus seiner „einfeltigen Erzehlung“ erkennen. Je mehr „fleiß, sanfftmut vnd gedult“ er gegen diese Leute anwende, desto „berüriger sich dieser geÿst noch mehr leütt zuo verfüren ohngescheücht vnd offentlich sehen laße“. Die von ihm bislang verfolgte Strategie der Sanftmut wies der frustierte Pfarrer hier aufgrund seiner negativen Erfahrungen von sich. Er habe in der großen Gemeinde ohnehin äußerst viel Arbeit zu verrichten - würde Schüle bei seinen Tätigkeiten „Gotths beÿstand“ nicht spüren, wäre die Lage für ihn „beÿnahe vnertreglich“. Allerdings wollte er nicht als grundsätzlich unzufriedener oder gar unmotivierter Kirchendiener verstanden werden, der sein Amt „mit seufftzen vnd nit mit frewden“ verrichte. Doch würden diese hartnäckigen Täufer ihm in die Verrichtung seiner Amtstätigkeiten maßlos erschweren. Er wies auf die beträchtliche und für die Implementierung lutherischer Normen grundlegende Gefahr hin, dass alles, was Schüle und seine Vorgänger in Urbach mühsam aufgebaut hatten, „von dergleichen widerspenstigen widerumb verärgert vnd abgerissen würde“. 34 Die Strategie Schüles baute insgesamt auf dem Versuch auf, die Ursache am Täuferproblem Urbachs den als widerspenstig, ungehorsam und aufsässig dargestellten Täufern zuzuweisen. Gleichzeitig beteuerte er die Tüchtigkeit der eigenen Amtsausführung wie auch die persönliche Verbundenheit mit dem Amt - welche er mit dem Hinweis auf den Beistand Gottes sogar als vom Herrn gesegnet darstellte. Um sich gegenüber ihren Vorgesetzten zu behaupten, hatten die Pfarrer die Visitatoren davon zu überzeugen, dass sie ausreichend energisch gegen täuferische Personen in der Gemeinde vorgingen. Gleichzeitig mussten sie beweisen, dass die Ausstrahlungskraft der Täufer im Ort nicht die Folge von mangelhafter Amtsausübung oder Lebensführung des Kirchendieners waren. Gerade in täuferreichen Gemeinden wurde von Seiten der Visitationen auf die Fähigkeiten der Pfarrer besonders großer Wert gelegt. 35 Im Gegensatz zu den weltlichen Amts- 33 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 34 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 35 Siehe z. B. LKAS A1/ 1583 I, f. 77r; LKAS A1/ 1583 II, f. 90r. <?page no="218"?> 219 trägern, deren nachlässige Bekämpfung der Sektierer von Seiten der Normgeber wiederholt kritisiert wurde, lassen sich in den Quellen allerdings keine direkten Hinweise finden, dass die Schuld an der Ausbreitung der Täuferbewegung den Gemeindepfarrern zugewiesen wurde. Dennoch ist davon auszugehen, dass eine starke Täuferpräsenz in der Gemeinde dazu geführt haben muss, dass die Amts- und Lebensführung des Pfarrers von den Visitatoren insgesamt stärker unter die Lupe genommen wurde. Dies traf insbesondere auf die aus der Sicht der Normgeber ‚einfachen‘ Dorfbewohner zu: Da die Grenzen zwischen in lutherischen Lehren Unwissenden und den in die Irre geführten ‚gemeinen‘ Täufern fließend waren, hatten die Pfarrer insbesondere auf diese Menschengruppe einzuwirken. Denn wie die Visitatoren im Juni 1598 in Urbach festhielten, könne der Pfarrer „mit fleißigem vffsehen bei disen Personen vil thun“. 36 Insgesamt scheinen es die Pfarrer im Schorndorfer Amt vorgezogen zu haben, statt Zeugen oder Akteure täuferischer Handlungen explizit bei ihren Namen zu nennen, nur auf die allgemeine Rede in der Gemeinde hinzuweisen. Es konnte durchaus im Interesse der Pfarrer liegen, insbesondere auf die hartnäckigen Fälle hinzuweisen, um die Anzeigepflicht zu erfüllen und bei Bedarf die Hilfe der Vorgesetzten in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig konnte es sich als nützlich erweisen, über mildere Fälle oder vage Vermutungen zunächst zu schweigen oder diese zu verharmlosen, insbesondere wenn die Dorfbewohner die Täufer duldeten oder gar unterstützten. Selbst mit vagen Andeutungen auf örtliche Gerüchte hatten die Pfarrer ihre Anzeigepflicht erfüllt, ohne gleichzeitig jemanden aus der Dorfgemeinschaft direkt den Visitatoren auszuliefern. Gleichwohl konnten solche Aussagen das Interesse der Visitationskommission wecken und ggf. weitere Nachforschungen in der Sache veranlassen. 37 Falls die Täufer Beschützer unter den Mächtigen des Dorfes hatten, wäre der Pfarrer ohnehin der Einzige gewesen, von dem die Visitatoren über die Dissidenten hätten erfahren können; es bestand somit keine unmittelbare Gefahr, dass das Herunterspielen täuferischer Präsenz in der Visitation aufgedeckt werden könnte. Dies lässt sich besonders am Beispiel Urbachs in den 1580er Jahren erkennen. Es zeigt sich des Weiteren, inwiefern nicht nur die Pfarrer, sondern auch die Schulmeister aufgrund ihrer Pflichten als Normanwender von den Visitatoren zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Nicht nur zwischen Amtmännern und Teilen der Bevölkerung schien in Urbach eine unüberwindbare Kluft zu be- 36 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 54v. 37 Andererseits es ist nur selten eindeutig zu klären, von wem die den Visitatoren gelieferten Informationen stammten. In Strümpfelbach wurde im Herbst 1573 ausnahmsweise deutlich auf den Pfarrer als Informationsquelle hingewiesen, der über Joß Gumpp, einen „ausgetretne[n] widerteüffer“, berichtete, dieser lasse sich zwar nicht öffentlich in der Gemeinde sehen, „doch bauwet er seine weinberg selbs, vnnd ist disen Sommer etlich mal von den pfarrer gesehen worden“. LKA A26/ 466 I, f. 18v. Für einen vergleichbaren Fall siehe LKA A26/ 466 I, f. 19r. Siehe auch Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 165; Furner, Lay Casuistry, S. 454f.; Labouvie, Verbotene Künste, S. 260-263. <?page no="219"?> 220 stehen. Auch untereinander waren sich die Amtsträger uneins. 38 Insbesondere der Schulmeister Michel Muttschler geriet seit dem Frühjahr 1585 immer stärker in die Schußlinie. In der Herbstvisitation 1585 beschwerten sich der Urbacher Pfarrer und die Ehrbarkeit über den Schulmeister. Nicht nur wurde die Qualität seines Unterrichts und Kirchengesangs bemängelt. Darüber hinaus sollen sich der Schulmeister und seine Frau agressiv gegenüber anderen Dorfbewohnern verhalten haben. Nicht zuletzt seien sie sogar des Diebstahls überführt worden. 39 Da sich die Situation durch eine strenge Ermahnung von Seiten des Spezialis zunächst zu beruhigen schien, hatten Pfarrer und Ehrbarkeit im Frühjahr 1586 noch keinen Erfolg mit ihrem Wunsch nach einem neuen Schulmeister. Die Visitatoren hatten sich selbst ein Bild über die Fähigkeiten Muttschlers gemacht und diese als ausreichend befunden. Der Synodus orientierte sich an der Meinung der Visitatoren und notierte für den weiteren Verlauf, es „pleibt darbey“. 40 So wurden die Klagen des Pfarrers und der Gemeindevertreter vorerst abgewiesen. Doch ein Jahr später wurde der Fall erneut vom Urbacher Pfarrer und der Dorfelite in der Visitation zur Sprache gebracht. Diesmal bezichtigten sie den Schulmeister zusammen mit seiner Frau eines Betruges. Sie sollen vorgetäuscht haben, einen „mittellosen Knaben“ in der Schule aufgenommen und das Schulgeld von der Gemeinde kassiert zu haben. In Wirklichkeit habe der Junge die Schule nicht länger als drei Wochen besucht. 41 Der Vorwurf des Pfarrers und der Ehrbarkeit wurde von den Visitatoren übernommen und mit klaren Worten verurteilt: „[S]ie nemmen, das ihnen nicht gepürt“. Mit diesem Argument, das auf die Gefährdung grundsätzlicher Ordnungsprinzipien bzw. Werte hinwies, konnten die Kläger sowohl die Visitatoren als auch den Synodus überzeugen. Die Vorkommnisse seien nicht nur „von einem schulmaister schimpflich zuhören“, sondern darüber hinaus grundsätzlich - und dies dürfte für die Kirchenleitung ausschlaggebend gewesen sein - „dem Ministerio nicht wenig Ergerlich“. 42 Autoritätsverlust im Dorf war somit nicht nur Zeichen eines untauglichen Amtmannes, sondern gefährdete gleichzeitig das obrigkeitliche Projekt der Normimplementierung. Deshalb war es wichtig, notfalls hart durchzugreifen und an entscheidenden Stellen wirkungsmächtige Exempel zu statuieren. So stimmte der Synodus der erneut vorgetragenen Bitte des Pfarrers und des Gerichts zu, einen neuen Schulmeister in Urbach einzusetzen. 43 Besonders gravierend erschien dem Synodus das Verhalten des Schulmeisters angesichts der Tatsache, dass sich dies ausgerechnet „an dißem ort“ zugetragen hatte, der ohnehin für die schwierige Disziplinierung der Bewohner bekannt war. Nun sei dem Schulmeister durch „seine excessis [...] alle authoritatem bei der Jugendt benommen“. 44 Der Fall des 38 Vgl. Clasen, Wiedertäufer, S. 160f. 39 LKA A1/ 1585 II, f. 81v. 40 LKA A1/ 1586 I, f. 94v. 41 LKA A1/ 1586 II, f. 94r-94v. 42 LKA A1/ 1586 II, f. 94r-94v. 43 LKA A1/ 1586 II, f. 94v. 44 Schulmeister Muttschler sollte dem Entschluß des Synodus vom 16. Februar 1587 zufolge bis <?page no="220"?> 221 Schulmeisters Muttschler wurde noch Jahrzehnte später in Erinnerung gerufen, als im Jahre 1621 Unregelmäßigkeiten in der Schulhaltung des Urbacher Schulmeisters Jerg Heinrich behandelt wurden. 45 Dieser hatte sich angreifbar gemacht, indem er eine zeitlang seinen eigenen Geschäften innerhalb des Weinbaus nachgegangen war und die Aufsicht über die Schüler seiner Tochter übertragen hatte. Daraufhin drohte der Synodus den Schulmeister sogar mit Gefängnisstrafe und Entlassung. Schließlich war gerade „inn disem volckreichen Fleckhen vil an der Schul gelegen, daß die Khinder gleich vonn Jugendt auffzum gebett vnd dem Catechismo angehaltten werden, damitt es Inen nicht wie Ihren Elttern ergehe“. 46 Vermutlich schwingt in diesen Formulierungen das Wissen um die Hartnäckigkeit der Täufer in diesem Ort mit, die durch eben diese Belehrungsmaßnahmen sowohl in der Kirche als auch in der Schule bekämpft werden sollten. Gleichzeitig weist er auf die Macht der Protokolle als Wissensspeicher hin: Selbst nach Jahrzehnten konnten alte Fälle erneut zu Bezugspunkten gemacht und in die Beurteilung neuerer Begebenheiten mit einbezogen werden. 47 Wie der oben beschriebene Fall des als aggressiv und betrügerisch dargestellten Urbacher Schulmeisters Michel Muttschler weiter zeigt, konnten auch die obrigkeitlichen Akteure gegeneinander agieren - oder: gegeneinander ausgespielt - werden. So verfasste der Urbacher Pfarrer Martinus Jäger (Venator) für die Visitation im Frühjahr 1587 einen schriftlichen Bericht über den Schulmeister, „darinnen er erzelt, wie er sich zu Vrbach verhalten“. 48 Dabei war es nicht so, dass Jäger in seiner eigenen Amtsführung als besonders vorbildlich angesehen wurde. Vielmehr kann man vermuten, dass er aufgrund seiner als kritikwürdig befundenen eigenen Leistungen darauf bedacht war, sich gegenüber den Visitatoren zu profilieren. Im September 1583 hieß es nämlich, dass der Urbacher Pfarrer nicht ausreichend Zeit bei der Lektüre theologischer Werke verbringe und darüber hinaus nur wenige Bücher besitze. 49 Außerdem hatten die Visitatoren den Verdacht, Pfarrer Jäger stehe nicht voll und ganz hinter seinen Amtspflichten, denn er hatte dem Synodus gegenüber die Bitte formuliert, in dem entlegenen Filial Walkersbach nur alle vierzehn Tage predigen zu müssen. Dieser Wunsch war ihm im Frühjahr 1583 abgeschlagen worden. Die Entscheidung begründete der Synodus damit, dass die wöchentlichen Georgii 1587 entlassen werden. Die Entlassung zog sich faktisch aber länger hin. LKA A1/ 1586 II, f. 94v. 45 LKA A1/ 1621, f. 53r. 46 LKA A1/ 1621, f. 53r. 47 Vgl. Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit, S. 450; Scharff, Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘, S. 152. 48 LKA A1/ 1587 I, f. 88r. Der Bericht ist nicht erhalten. 49 Erschwerend kam hinzu, dass Jäger nach der Einschätzung der Visitatoren finanziell sehr wohl zum Erwerb von Büchern in der Lage gewesen wäre. LKA A1/ 1583 II, f. 90r. <?page no="221"?> 222 Predigten in Walkersbach speziell für den Zweck eingerichtet worden waren, die weitere Verbreitung der Täuferbewegung im Ort zu verhindern (aus „sondern vrsach vnd bedenckhen hat man die Predigt im walckherspach angericht, dem widertauffdesto beßer zuwöhren“ 50 ). Der Pfarrer sollte deshalb jeden Montag in Walkersbach predigen, selbst wenn er nicht mehr als sechs Zuhörer hätte. Nur so könne „er durch Gottes gnad vileicht ettwas guts außrichten“. Der Urbacher Pfarrer sollte sich weiter seiner Verwantwortung als lutherischer Kirchendiener besinnen und sich nicht unnötig beschweren. 51 Das Gesuch des Pfarrers fand nicht nur kein Gehör bei der Kirchenleitung, sondern zog weitere Nachforschungen mit sich, als Pfarrer Jäger zu einer näheren Examination vor dem Kirchenrat nach Stuttgart vorgeladen wurde. Die Besorgnis des Synodus, die eine weitere Untersuchung notwendig machte, lag in der Tatsache begründet, dass Jäger die Verantwortung ausgerechnet über die herausfordernde Gemeinde Urbach mit ihren sechs Filialen hatte: „Weÿl ime den Walckerspach (darin es allwegen widertauffer gehapt) zuuersehen beuolhen vnd die notdurfft erfordert, das ain Pfarrher qualificirt seie, Ist des Sÿnodi bedenckhen, das er alher erfordert, in Predigen gehört vnd examinirt werde, da man alsdann gepuerende verordnung thun khan.“ 52 Der Synodus legte demnach besonderen Wert auf die Qualität der Kirchendiener in Orten, die in seiner Ansicht vom Täufertum bedroht waren - oder wie in Walkersbach, bereits eine gewisse Tradition als bevorzugter Standort der Täufer aufwiesen. Indirekt wurde hier darüber hinaus die Möglichkeit eingeräumt, dass qualitativ nicht ausreichendes Predigen des Pfarrers die weitere Ausbreitung der Täuferbewegung begünstigen könnte, die die entstandenen religiösen ‚Leerstellen‘ mit ihrem Gedankengut füllen könnten. 53 So sollte der Kampf gegen abweichendes Verhalten der Untertanen bzw. dissentierende religiöse Strömungen 50 LKA A1/ 1583 I, f. 77r. 51 LKA A1/ 1583 I, f. 77r. 52 LKA A1/ 1583 II, f. 90r. Am 4. Februar 1584 ist Pfarrer Jäger dann „alhie erschinen In ainer Predig gehört vnd examinirt worden, darinnen gleichwol zimlich befunden, Aber mit ernst erinnert worden, [...] fleissig zu studirn, vnd sich mit nutzlichen Buchern zuuersehen“. Das habe Jäger auch versprochen. LKA A1/ 1583 II, f. 90r. 53 In Urbach wurde noch 1628 vom Konsistorium betont, dass der neue Gemeindepfarrer ein besonderes Augenmerk auf täuferische Tendenzen in der Gemeinde zu richten hatte. Vgl. LKA A3/ 1611-1630 (5. Februar 1628). Claus-Peter Clasen hat die „religiöse Aufsicht“ in Urbach und insbesondere im Filial Walkersbach als „schlecht“ einstuft. Insgesamt urteilt er über die Gemeinde Urbach: „Die starke Ausbreitung des Täufertums in diesem Dorfe erklärt sich teilweise durch mangelnde religiöse Unterweisung. Da die Pfarrer alle paar Jahre wieder aus dem Dorfe fortzogen, konnte sich ein engeres Verhältnis zwischen ihnen und den Urbachern nicht entwickeln. Einige Pfarrer, wie Jakob Ringlin und Martin Venator, scheinen auch unter dem Durchschnitt gestanden zu haben. [...] Da die Autorität des Pfarrers hier tief gesunken war, versagte auch die lutherische Gemeindezucht vollkommen.“ Clasen, Wiedertäufer, S. 159-161. <?page no="222"?> 223 gerade in Gemeinden wie Urbach oder Walkersbach besonders tatkräftig ausgetragen werden. Um zurück auf die Herbstvisitation des Jahres 1585 zu kommen, in der Klagen gegen den Schulmeister Michel Muttschler laut wurden: Aus der Perspektive des Pfarrers Martinus Jäger erscheint es mehr als verständlich, dass er, wie oben erwähnt, bereitwillig Auskunft über den seinerseits in schlechtes Licht geratenen Schulmeister gab. Zum einen konnte er auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Visitation von der eigenen Person ablenken, 54 zum anderen die Schwierigkeiten seiner Amtsausübung in Anbetracht derart unfähiger Kollegen wie dem Schulmeister unterstreichen. Er war nicht als Einziger für die religiöse und moralische Erziehung der Urbacher oder die Bekämpfung der Täufer im Ort verantwortlich, sondern hätte die Unterstützung des Schulmeisters angesichts dieser Herausforderung gut gebrauchen können. Obwohl der Schulmeister letztendlich entlassen wurde, ging die Strategie des Pfarrers nicht vollends auf: Martinus Jägers Beschwerde über die Missstände in seiner Gemeinde führte in den frühen 1580er Jahren nicht zu deren Beseitigung, sondern zur Ermahnung des Pfarrers von Seiten seiner Vorgesetzten. 55 Das Interesse der württembergischen Normgeber wird in den Akten insofern sichtbar, als dass sich die Kirchendiener vor Ort auf die ordentliche Ausführung ihres Amtes und ihre moralische Vorbildfunktion konzentrierten und Aktivitäten entsagten, die aus der Sicht der Kirchenleitung unnötige Konflikte mit Gemeindemitgliedern auslösen konnten. Ein Pfarrer sollte seiner klerikalen Rolle entsprechend über dem dörflichem Gerede stehen und statt unnötiger Zankerei seine Energie dem Kirchenamt zuwenden. 56 Gleichzeitig ist am Schorndorfer Material zu beobachten, dass die von Seiten der Gemeinde erhobenen Klagen gegen die lokalen Kirchendiener von den Visitatoren durchaus ernst genommen wurden und zumindest weitere Nachforschungen in der Sache mit sich zogen. Dieser Befund stützt die Erkenntnis Achim Landwehrs, dass solch ein Vorgehen typisch für die Funktionsweise der Visitation war. Landwehr zufolge ist die Inanspruchnahme der Visitation als Kommunikationsforum von Seiten der Bevölkerung als zumindest indirekter „Beleg für ihre Effektivität“ anzusehen. 57 Diejenigen, die in der Visitation Anklagen gegen die Amtsträger erhoben, konnten sich darauf verlassen, dass von Seiten der Kirchenleitung Maßnahmen gegen diese eingeleitet wurden. Im Mindesten bedeutete dies eine nähere Erforschung der Umstände, 54 Vgl. Strauss, Luther’s House of Learning, S. 266. 55 LKA A1/ 1583 I, f. 77r. 56 Siehe hierzu z. B. den Fall des Hegenloher Pfarrers Jeremias Sommerhart um 1585, der in Schwierigkeiten mit seiner Gemeinde geriet, nachdem er als Witwer seine Magd nach einer in den Augen der Dorfbewohner zu kurzen Trauerzeit geehelicht hatte und seine Position vehement von der Kanzel verteidigte. Von der Visitationskommission wurde in diesem Fall nicht etwa eine streitsüchtige Gemeinde gerügt, sondern der Kirchendiener, dessen Professionalität in Frage gestellt wurde. LKA A1/ 1585 I, f. 96r. Vgl. auch LKA A1/ 1584 I, f. 100r; LKA A1/ 1584 II, f. 90r; LKA A1/ 1585 II, f. 84r. 57 Landwehr, Policey im Alltag, S. 136. <?page no="223"?> 224 ggf. aber auch die Versetzung oder Entlassung der betroffenen Person oder Verbesserungsversuche in der kirchlichen Verwaltungspraxis. 58 So konnten in der Visitation vorgetragene Klagen der Gemeindemitglieder die Pfarrer gegenüber ihren Vorgesetzten unter beträchtlichem Legitimationsdruck bringen. Demnach bedeuteten Konflikte innerhalb der Gemeinde für die Pfarrer immer auch eine mögliche Gefährdung ihrer Existenz. Es kam also darauf an, die eigenen Standpunkte überzeugend zu verteidigen und die Argumente der Widersacher herunterzuspielen oder sonst abzuwehren. Anhand der Visitationsprotokolle im Amt Schorndorf lassen sich drei Themenbereiche aufzeigen, die den Visitatoren bei der Beurteilung der Pfarrer von besonderer Wichtigkeit gewesen zu sein scheinen. Sie betrafen erstens die theologische Wissensbasis der Kirchendiener, zweitens ihre kommunikativ-didaktischen Fähigkeiten und drittens ihr Maß an Engagement im bzw. Verbundenheit mit dem Amt. Die in den Visitationsprotokollen notierten Fälle, die Anlass zu weiteren Nachforschungen gaben, lassen sich überwiegend diesen Punkten zuordnen, selbst wenn die idealtypisch gezogenen Grenzen in Einzelfällen freilich fließend sein konnten. Diese Schwerpunkte hatten wiederum Folgen auf die Selbstdarstellung bzw. Legitimation der Pfarrer gegenüber ihren Vorgesetzten; es war wichtig, insbesondere mit diesen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten zu überzeugen. So lange sie keinen Zweifel an den grundlegenden Qualitäten der Kirchendiener vor Ort hatte, konnte die Kirchenleitung in Bezug auf zweitrangige Unzulänglichkeiten ggf. ein Auge zudrücken. 5.1.3. Erwartungen von Seiten der Gemeinde Weitaus schwieriger als die in den offiziellen Vorschriften oder den Visitationsprotokollen formulierten Ansprüche der Stuttgarter Obrigkeiten ist es, die von Seiten der dörflichen Gemeinschaft an die Pfarrer herangetragenen Erwartungen zu bestimmen; Erwartungen, die, wenn unerfüllt, durchaus in erbitterte Konflikte umschlagen konnten. Problematisch ist etwa, dass man in den Protokollen von Seiten des Dorfes v. a. die Stimme der Ehrbarkeit zu hören bekommt. Es ist daher nicht immer möglich zu entscheiden, ob sie etwas ‚instrumentalisieren‘ wollten oder tatsächliche Mängel aufzeigten. Auch ist es nicht immer ersichtlich (manchmal aber mit einer Phrase wie „wird vermeldet“ angedeutet), ob ein Tatbestand von den Visitatoren selbst bei der Überprüfung des Pfarrers festgestellt worden ist oder sie sich auf Aussagen der Ehrbarkeit beziehen. Insgesamt erfährt man Näheres über die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den Kirchendienern in erster Linie, wenn in den Visitationen Klagen gegen Letztere erhoben wurden. Dementsprechend prägen Konflikte das überlieferte Bild des kirchlich-religiösen Alltags im Dorf. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Visitationsprotokolle nur einen sehr einseitigen Einblick in die lokalen Verhältnisse erlauben. 58 Landwehr, Policey vor Ort, S. 54. <?page no="224"?> 225 Es sind Versuche unternommen worden, die Wünsche der Laien an die württembergische Kirche aufgrund der Klagen der Filialgemeinden in den Visitationen aufzuzeigen, die keinen eigenen - d. h. im Dorf ansässigen - Pfarrer hatten. In vielen (wenn auch keineswegs in allen) Filialen äußerten die Einwohner wiederholt Forderungen auf bessere geistliche bzw. seelsorgeliche Leistungen der Kirche. Es wurden bspw. eigene Gottesdienste, eigene Abendmahlsfeiern oder eigene Begrabungsgottesdienste für die teilweise fernab der Mutterkirche gelegenen Filialen verlangt. Die Bemühungen der Gemeinden nach besserer Seelsorge vor Ort hatten vielfach bereits vor der Reformation eingesetzt. 59 Die Erwartungen der Bevölkerung hat Hans-Christoph Rublack mit der Formel auf den Punkt gebracht, ein Pfarrer solle „trösten, nicht strafen“. 60 Ähnliche Tendenzen lassen sich auch im Schorndorfer Amt beobachten, doch begrenzen sich diese nicht einzig auf die Filialgemeinden. So zeigt sich der Wunsch nach einer angemessenen Seelsorge der Sterbenden etwa in der Klage der Gemeinde Plüdershausen im Frühjahr 1581, sie mögen einen neuen Pfarrer zugewiesen bekommen, da der derzeitige wegen seiner eigenen Gebrechlichkeit kaum in der Lage sei, die Kranken in ihren Häusern zu besuchen. 61 Es hat insgesamt den Anschein, in den Gemeinden habe es zumindest unter einem Teil der Bewohner sehr genaue Vorstellungen davon gegeben, was man von der Kirche haben und nicht haben wollte bzw. welche Leistungen von der Kirche gefordert und welche Gegenleistungen verweigert wurden. 62 So wurde mancherorts als Voraussetzung für den von der Kirchenleitung eingeforderten Teilnahme an den lutherischen Gottesdiensten verlangt, das ihr Abhalten an den dörflichen Lebensrhythmus anzupassen war. Darauf deutet zum einen der in Schnait in den 1580er Jahren beobachtete Brauch hin, nur einmal jährlich zu Ostern zu kommunizieren und im Übrigen nur die Sonntagspredigten zu besuchen. 63 Die Vernachlässigung der gemeinen Gebete und der Vesperpredig- 59 Holenstein, Bauern, S. 24; Scribner, Außenseiter, S. 34f. Bruce Tolley erklärt die Missstände in den (Filial-) Gemeinden bzw. deren Vernachlässigung im späten 16. Jahrhundert nicht mit der mangelhaften Ausbildung der Pfarrer, sondern mit ihrer schlechten Besoldung. Das Konsistorium soll Gottesdienste in den Filialen alle zwei oder vier Wochen für ausreichend angesehen haben. Tolley bezweifelt jedoch, ob die Pfarrer in der Praxis auch nur diese Minimalanforderung erfüllen konnten. Tolley, Pastors and Parishioners, S. 82-84. Gegen Tolley lässt sich das Beispiel des Filials Walkersbach im Schorndorfer Amt anbringen, in der das Konsistorium wöchentliche Predigten für notwendig hielt, da man hier die weitere Ausbreitung der Täuferbewegung befürchtete. LKA A1/ 1583 I, f. 77r. 60 Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, S. 10. Siehe auch Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 96. 61 LKA A1/ 1581 I, f. 82r. Siehe auch LKA A1/ 1621, f. 49r-49v. 62 Hans-Christoph Rublack hat von einem „Leistungs- und Gegenleistungsdenken“ der frühneuzeitlichen Laien gesprochen. Vgl. Rublack, Lutherische Beichte, S. 153. Siehe auch Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 181, 350f. 63 LKA A1/ 1581, f. 80v; LKA A1/ 1586 II, f. 91r; LKA A1/ 1587 II, f. 84v; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 375. Zur Tradition nur an Ostern zu kommunizieren siehe auch Tolley, Pastors and Parishioners, S. 81. <?page no="225"?> 226 ten erklärten die Schnaiter wiederholt mit ihrer Auffassung, dass sie mit dem Besuch der Sonntagpredigten bereits genug am kirchlichen Leben teilgenommen hätten. 64 Ein anderes Mal haben sie als Entschuldigung „ihre geschäfften in den wälden an werckhtagen“ angebracht. An Sonn- und Feiertagen dagegen, nach dem Essen, behaupteten sie, „hab der ein an disem, der ander an andern orthen zu thun“. 65 Ostern als bevorzugter Zeitpunkt für die Teilnahme am Abendmahl konnte sich als entsprechend geringe Kommunikantenzahl zu anderen Zeiten niederschlagen, 66 wie dies etwa in Aichschieß der Fall war. Dort beklagte sich der Pfarrer im Frühjahr 1587, an Pfingsten kämen zum Abendmahl, wenn überhaupt, nur zwei oder drei Personen und auch diese seien hauptsächlich schwangere Frauen. Die restlichen Pfarrkinder würden sich damit entschuldigen, „es seÿ ihnen gleich vffostern zu bald“. 67 Am Beispiel des Aichelberger Pfarrers Conradus Wolf zeigt sich nicht nur, was die Gemeinden von der Kirche und ihren Amtsträgern erwarteten, sondern auch, welcher Aufwand mit der geistlichen Betreuung der Filiale unter Umständen verbunden war bzw. wie die Pfarrer die Schattenseiten ihres Amtes darstellten. Wolf hatte alle Sonn- und Feiertage drei Predigten zu halten, eine morgens in Aichelberg, in der er das Evangelium auslegte, darauf eine in dem Filial Schanbach, in der Evangeliumtexte und der Katechismus vorgenommen wurden. Die dritte Predigt fand wieder in Aichelberg statt, in der „etwas aus dem Catechismo expliciert vnnd die Jugendt examiniert“ wurde. Die württembergischen 68 Bewohner Schanbachs waren mit dieser Regelung keineswegs zufrieden, sondern beklagten in der Visitation im Herbst 1583, der „pfarrer komm zu vngelegenen stunden zu ihnen“, „welches ein große faarleßigkeit in der kurchen gepere“. 69 Auch in anderen Filialgemeinden Aichelbergs trage es sich zu, dass der Pfarrer entweder zu früh oder zu spät auftauche und darauf wieder schleunigst nach Hause eile. Darunter leide insbesondere die Unterweisung der Kinder, die er somit nicht „nach notturft informiern [könde]“. Die Schanbacher formulierten eine konkrete Bitte an die Kirchenleitung: Sie wollten einen Pfarrer haben, der „im Sommer zu 6 vhr beÿ ihnen predige“ und nicht wie bislang erst um zehn oder elf Uhr. 70 Nicht nur die Frequenz der kirchlichen Zeremonien, auch ihr Zeitpunkt sollte sich in den von landwirtschaftlicher Arbeit geprägten Tagesablauf integrieren lassen. Nur wenn dies in ausreichendem Maße der Fall war, gab es genug Interessen- 64 LKA A1/ 1587 II, f. 84v. 65 LKA A1/ 1586 II, f. 91r. 66 Vgl. Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk“, S. 54f. 67 LKA A1/ 1587 I, f. 91v-92r. Auch in Urbach erschienen um 1598 lediglich zu Ostern mehrere Dorfbewohner zum Tisch des Herrn, an „gmainen Sontägen deß Jars“ jedoch nur eine Hand voll. HStAS A282/ 3094c, f. 85v. 68 Es handelte sich hierbei um eine geteilte Herrschaft: Aichelberg und Schanbach gehörten zu den Ländereien des Junkers Thumb von Neuburg. Vgl. LKA A1/ 1584 I, f. 102v. 69 LKA A1/ 1583 II, f. 95r. 70 LKA A1/ 1583 II, f. 95v. Siehe zu dem Fall auch LKA A1/ 1584 I, f. 102r; LKA A1/ 1584 II, f. 91v. <?page no="226"?> 227 kongruenz, um den obrigkeitlichen Anforderungen lokal nachzukommen. 71 Die von den Gemeinden in den Visitationen zum Ausdruck gebrachten Beschwerden sind sowohl als Kritik an den bestehenden Verhältnissen und somit als Form von Antiklerikalismus gesehen, aber umgekehrt auch als Indiz für eine äußerst positive Auffassung der Kirche und des Pfarramtes gedeutet worden. 72 Luise Schorn- Schütte zufolge wurde in den Konflikten zwischen Pfarrer und Gemeinde im späten 16. Jahrhundert „niemals das geistliche Amt als solches in Frage gestellt“. Vielmehr sei die „hohe Akzeptanz des Amtes sui generis“ in den Gemeinden gerade dadurch bewiesen, dass in den Auseinandersetzungen „zugleich eine eindeutige Erwartungshaltung an ein vorbildliches geistliches Leben des Pfarrers unübersehbar ist“. 73 Ellen Yutzy Glebe ist in ihrer Dissertation zu den hessischen Täufern zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Es sei unhaltbar, den Laien trotz einiger wiederkehrender Konfliktpunkte (insbesondere bezüglich der Privilegien der Pfarrer) generell antiklerikale Haltungen oder gar den Wunsch einer gänzlichen Abschaffung des Klerus zuzuschreiben. In vielen Fällen hat Glebe vielmehr eine grundsätzlich hohe Anerkennung der Geistlichen festgestellt. 74 Die hier am Schorndorfer Amt gebrachten Beispiele weisen auf zweierlei hin: Zum einen drückten die Vertreter der ländlichen Gemeinden durchaus Interesse am religiösen Angebot der Kirche aus. Zum anderen aber wurde eingefordert, dass diese sich nicht mit dem örtlichen Lebens- und Arbeitsrhythmus überschneiden durften. 75 Wo dies der Fall war, etwa weil der Pfarrer nur zu ungelegenen und zu kurzen Zeiten ein Filial betreuen konnte und der Bedarf an kirchlichen und seelsorgerlichen Diensten nicht gedeckt wurde, konnten diesbezüglich Wünsche und Klagen in der Visitation formuliert werden. Wenn dies keine Besserung bewirkte, kam es vor, dass sich die Bewohner der Filiale ihre kirchlichen Bedürfnisse an anderen Orten erfüllten. Deshalb sahen manche Einwohner der oben beschriebenen Filialgemeinde Schanbach um 1584 keine andere Möglichkeit, als „an ande- 71 Es kann allerdings keine grundsätzliche Ablehnung obrigkeitlicher Normen festgestellt werden. Auf gemeinsame Interessen von Obrigkeit und Untertanen zumindest in einigen Punkten - etwa im Brandschutz - hat u. a. Achim Landwehr hingewiesen. Siehe z. B. Landwehr, Policey im Alltag, S. 315. 72 Zum Antiklerikalismus siehe z. B. Dykema & Oberman (eds.), Anticlericalism; Goertz, Antiklerikalismus und Reformation; Ders., Pfaffenhaß; Karant-Nunn, Neoclericalism and Anticlericalism; Scribner, Antiklerikalismus; Ders., Seelsorge und Reformation, hier: S. 222f. Zur Ausrichtung der frühneuzeitlichen Volksfrömmigkeit als grundsätzlich nicht kirchenfeindlich siehe z. B. Holenstein, Bauern, S. 119. 73 Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit, S. 271. Auch Dixon, Religiöse Transformation, S. 32f., 41, lehnt zumindest einen rein theologisch motivierten ländlichen Antiklerikalismus im späten 16. Jahrhundert ab. Antiklerikalismus beobachtet Dixon nur dort, wo die Pfarrer die Normen und Regeln der ländlichen Kultur bedrohten. Die religiösen Ansichten oder die Amtsausführung der Pfarrer wurden weitaus seltener angegriffen als ihr Lebenswandel. Siehe auch Labouvie, Verbotene Künste, S. 206. 74 Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 91-93, 178f. 75 Vgl. Labouvie, Verbotene Künste, S. 204f.; Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk“, S. 54f. <?page no="227"?> 228 re örthe zu den predigen“ zu gehen. 76 Man kann somit von einer eingeschränkten Akzeptanz der landeskirchlich normierten religiösen Formen zumindest in Teilen der ländlichen Bevölkerung auch im Schorndorfer Amt ausgehen. Die Autorität eines Pfarrers beruhte einerseits auf seiner Fähigkeit, in den Predigten „die christlichen Normen verbindlich auszulegen“ und andererseits auf seiner Befugnis über die Teilnahme der Dorfbewohner am Abendmahl zu entscheiden. 77 Eine tugendhafte Amts- und Lebensführung konnte nicht nur von der Kirchenleitung, sondern auch von Seiten der Gemeinde verlangt werden. Robert W. Scribner hat in diesem Zusammenhang auf die mögliche Verknüpfung der Forderung einer vorbildlichen Lebensführung der protestantischen Pfarrer mit dem vorreformatorischen Gedanken hingewiesen, „daß ein sündiger Priester seine priesterlichen Pflichten nicht gültig erfüllen könne“. 78 Wurde die Notwendigkeit seiner Präsenz als Seelsorger im Dorf akzeptiert oder sogar gewünscht, konnten sich die Amtsauffassungen von Pfarrer und Gemeinde dennoch grundlegend unterscheiden. Um dem Pfarrer den geforderten Respekt entgegenzubringen, musste dieser die von Seiten der Gemeindemitglieder erhobenen Erwartungen an das geistliche Amt ausreichend erfüllen. Im ländlichen Deutungshorizont waren materielle Fragen zentral: Geistliches Amtsverhalten in den Gemeinden hatte sich „vor allem als wirtschaftliche Bescheidenheit auszudrücken“. 79 Nur kollidierte dieser Wunsch nicht selten mit den gestiegenen materiellen Bedürfnissen der Pfarrer, die ja infolge der protestantischen Heiratspraxis meist eine ganze Familie zu ernähren hatten. Die Ansprüche der verheirateten Pfarrer wurden von Seiten des Dorfes nicht ohne Weiteres akzeptiert, zumal doch das Angebot an kirchlichen Zeremonien und Ritualen seit der Reformation augenscheinlich sogar gesunken war und die Geistlichen somit nicht mehr, sondern eher weniger Dienste an die Gemeinde zu leisten schienen. Es handelt sich hier somit um ein spezifisch protestantisches Konfliktpotential zwischen Pfarrer und Gemeinde, wie Luise Schorn-Schütte betont hat. 80 Ob man dies als Antiklerikalismus bezeichnen mag oder nicht, bleibe hier dahingestellt. Zu betonen bleibt statt dessen, dass einzelne Streitpunkte oftmals 76 LKA A1/ 1584 II, f. 91v. 77 Schmidt, Sozialdisziplinierung? , S. 665. Siehe auch Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung, S. 215f. 78 Scribner, Seelsorge und Reformation, S. 220f. Ähnlich hat Arnold Angenendt auf die in mittelalterlichen Frömmigkeitsdebatten umstrittene Frage hingewiesen, ob „ein sündiger Priester die Sakramentsgnade zu vermitteln imstande sei“. Angenendt, Grundformen der Frömmigkeit, S. 25. 79 Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit, S. 285. 80 Ebd., S. 272-274, 285f. Siehe auch Dies., Priest, Preacher, Pastor, S. 22, 26; Scribner, Seelsorge und Reformation, S. 214f. Dagegen sieht Johannes Wahl die Priesterehe als eine „grundlegende Erwartung“ der Gemeinde an die evangelischen Geistlichen an, die sie einerseits von der katholischen Kirche trennte, andererseits enger an die Lebenswelten der Pfarrei band. Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung, S. 220. Zu den materiellen Konflikten im Schorndorfer Amt vgl. den Streit der Urbacher mit ihrem Pfarrer wegen der von Amts wegen vorgeschriebenen Befreiung des Kirchendieners vom Frondienst im Herbst 1586. LKA A1/ 1586 II, f. 93v. <?page no="228"?> 229 Auslöser für lange schwelende Konflikte wurden oder ein sichtbarer Ausdruck bereits existierender Konflikte waren: Wurden die Erwartungen der Gemeinden wiederholt enttäuscht - auf welche Weise auch immer -, kam es zunächst zu einem Ansehensverlust der lokalen Kirchendiener. Mit der Zeit konnten sich aus den einzelnen Streitpunkten und Enttäuschungen langwierige Konflikte ergeben: „Ein gemeinsames Merkmal vieler derartiger Konflikte in ländlichen Gemeinden bestand darin, daß eine belanglose Meinungsverschiedenheit oder eine unbedeutende Beschwerde häufig ein Reservoir von tieferliegendem Groll und Unmut freisetzte und eine Kettenreaktion von Streit und Erbitterung auslöste, die die Grundlage der Seelsorge überhaupt zu untergraben schien.” 81 Die große Herausforderung des Pfarrers im Ort lag somit darin begründet, dass er in einer äußerst prekären Position zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Obrigkeit und innerhalb der Dorfgemeinschaft agieren musste. 82 Vielfach ging es in den Visitationen gerade um die formelle Regelung der aus der Ambivalenz des Pfarramtes entstandenen Konflikte. Das Konfliktpotenzial zwischen dem Pfarrer und der Gemeinde erschöpfte sich jedoch keineswegs in den dorfökonomischen Fragen bzw. lassen sich wirtschaftliche und soziale Bereiche des dörflichen Zusammenlebens nur bedingt voneinander trennen. 83 Das Verhältnis des Pfarrers zu der Gemeinde wurde auf entscheidende Art und Weise durch „‚weiche Faktoren‘ wie das Verhalten des Pfarrers gegenüber lokalen Normen und Traditionen“ geprägt. 84 Drängte der Kirchendiener auf eine zu rigorose Einhaltung der in Stuttgart formulierten Normen und mischte er sich - zumindest dem Empfinden der Betroffenen nach - zu sehr in das Leben der Gemeindemitglieder ein, konnte er sich einer ähnlichen Situation finden wie der Urbacher Pfarrer Martinus Jäger in den frühen 1580er Jahren. Diesem begegnete man in der Gemeinde mit einer „großen vngunst“, nachdem der Pfarrer in der Visitation „vnzucht vnnd Ergerlichen haben“ einiger Dorfbewohner angezeigt hatte. 85 Ging der Pfarrer dagegen zu viele Kompromisse mit der Gemeinde und den lokalen Normen ein, versetzte er sich dadurch womöglich in eine schwierige Lage gegenüber seinen kirchlichen Vorgesetzten. Diese Beobachtungen weisen auf die Dimension der Visitation als zentrale Kontaktzone zwischen den Konfliktparteien hin, wie dies zunächst Jay Goodale dargelegt und Frank Fätkenheuer weiter entwickelt hat. 86 Goodale zufolge sa- 81 Scribner, Seelsorge und Reformation, S. 222. 82 Vgl. Goodale, Pfarrer als Außenseiter, S. 209; Labouvie, Verbotene Künste, S. 225f.; Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, S. 2f.; Scribner, Außenseiter, S. 34. 83 Zur Nutzung der Visitation auch zur Austragung von Beleidigungs- und Körperverletzungsfällen sowie Eigentumsstreitigkeiten siehe die Beispiele aus Nassau-Dillenburg bei Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 97-112. 84 Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 354, 362. 85 LKA A1/ 1583 II, f. 91v. Siehe auch Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, S. 10. 86 Vgl. Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 190f., 354; Goodale, Pfarrer als Außenseiter. <?page no="229"?> 230 gen die von Seiten der Gemeinde gegen die Pfarrer erhobenen Klagen weniger über die tatsächliche Amtsausführung des Kirchendieners aus, sondern spiegeln vielmehr „die marginale Existenz eines Pastors am Rande einer engmaschigen Dorfgesellschaft“ wider. 87 Frank Fätkenheuer hat weiterführend festgestellt, dass die „Kenntnis möglicher Mechanismen der Politik einzelner Gemeinden, ihren Pfarrer in bestimmten Fällen anzuschwärzen, in anderen die wahren Konflikte nicht zu benennen, sondern dorfintern auszutragen“ neue Sichtweisen nicht nur auf die Gattung der Visitationsprotokolle eröffnet, sondern „auch auf die Supplikationen und sonstigen Schreiben der Gemeinde und ihres Pfarrers“. 88 Zu berücksichtigen gilt etwa, dass in den Visitationsprotokollen Bereiche bzw. Konflikte des dörflichen Lebens ausgeblendet werden, „die die Gemeinde und der Pfarrer ohne Wissen bzw. Einflussnahme der Obrigkeit regeln wollten“. 89 Es würde jedoch insgesamt zu kurz greifen, sähe man jede Klage gegen einen Pfarrer als versteckten Konflikt in der Pfarrgemeinde an, wie dieser Ansatz suggerieren könnte. Schließlich war es lediglich ein Aspekt der Visitation, dass diese für Zwecke der dörflichen Konfliktaustragung genutzt werden konnte. Bestehen bleibt daneben die Tatsache, dass die Visitatoren die Pfarrer auch persönlich befragten und sich ein Bild u. a. aufgrund seiner Bibliothek und seines privaten Studiums von dessen Amtsausübung machten. 90 Wenn auch in den Visitationen überwiegend Konfliktfälle zum Vorschein kamen, lassen sich im Schorndorfer Amt vereinzelt Hinweise auf eine positive Einbindung der Pfarrer in ihre Gemeinde finden. Überliefert ist etwa der Fall des Urbacher Pfarrers Jakob Mayer, der im März 1589 sein Amt in Urbach angetreten hatte und bereits ein Jahr später eine Position als beliebter Heilpraktiker im Dorf erlangt hatte. Allerdings waren ihm diese Aktivitäten von Seiten der Visitatoren sogleich untersagt worden. In der Frühjahrsvisitation 1590 musste sich Mayer wegen seiner fortwährenden Heiltätigkeiten verantworten. Der Pfarrer beschrieb seine Situation als äußerst schwierig, da er einerseits „wider fl. beuelch nichts handlen“ wolle. Andererseits aber sah er sich dazu gezwungen, den Urbachern weiterhin mit seiner heilenden Salbe zur Seite zu stehen, nicht zuletzt, weil die 87 Goodale, Pfarrer als Außenseiter, S. 199. Für einen Fall in Gronbach, in dem neben den vordergründigen, in religiösen Begriffen gefassten Vorwürfen lokale Normübertritte des Pfarrers zum Vorschein kamen siehe LKA A1/ 1584 II, f. 85v. 88 Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 362. 89 Ebd., S. 354. 90 Auch Achim Landwehr hat jüngst dafür plädiert, bei den in den Visitationen eines Fehlverhaltens bezichtigten Amtmännern möglichst genau zwischen den tatsächlich in ihrer Amtsführung Nachlässigen und den Opfern einer lokalen Diffamierungskampagne zu unterscheiden. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der befundenen Mängel tatsächlich von der Kirchenleitung festgestellt und als solche vermerkt wurde. Auch inwiefern die Vertreter der Gemeinde Konflikte mit ihrem Pfarrer in der Visitation verschwiegen haben mögen, lässt sich in vielen Fällen nicht mehr feststellen. Man kann bei dieser Quellengattung mitnichten davon ausgehen, dass keine Klagen von Seiten der Gemeinde bedeute, dass es keine Konflikte mit dem Pfarrer gegeben hätte. Es gab zahlreiche Möglichkeiten, Konflikte dorfintern auszutragen, so dass diese keinen Eingang in die obrigkeitlichen Akten gefunden haben. Landwehr, Policey im Alltag, S. 140. <?page no="230"?> 231 Dorfbewohner ihm sonst zumindest einen Teil seiner Naturalabgaben verweigert hätten. Auf diese Einkünfte war der Pfarrer als Vater von sechs Kindern angewiesen, da „er keine früchten zur besoldung hab“. Außerdem würden die Urbacher „ihm kain ruh [laßen]“ und unnachgiebig an sein christliches Gewissen appellieren: „[D]ie leuth [...] sagen, wie er so vnbarmherzig sein könde.“ 91 Die Vertreter der Gemeinde setzten sich aktiv für die Wahrung ihrer Interessen ein und versuchten, die Visitatoren von der Notwendigkeit der Heilkünste ihres Pfarrers zu überzeugen. Gleichzeitig argumentierten sie mit dem Wohlwollen des Landesherren: „[W]ann vnßer g.f. vnnd herr den grund seines arzneÿens wißten, sie würden ihm nicht verbieten, von wegen bößer alter schäden die er hailt, die sonsten niemands curieren kan“. 92 Zwei Ratsherren, die der Pfarrer auch geheilt haben soll, formulierten im Namen der ganzen Gemeinde die Bitte, Mayer weiter praktizieren zu lassen, denn schließlich „thue [er] werckh der barmherzigkait“. 93 Wie bereits gegenüber dem Pfarrer, machten die Dörfler auch in der Visitation von dem Argument der christlichen Barmherzigkeit Gebrauch und betonten gleichzeitig den hohen Bedarf an medizinischer Versorgung in Urbach. Da Pfarrer Mayer in seiner Amts- und Lebensführung für lobenswert befunden wurde und die Nebenverdienste seiner „artzneÿen“ zudem dringend nötig hatte, zeigte sich die Kirchenleitung bereit, Mayer seine Heiltätigkeiten mit einigen Einschränkungen vorerst zuzulassen. Entscheidend war hierbei das Kriterium, dass Mayer „in seinem ampt darneben nichts verseumpt“ habe, obwohl er viel Zugang von den Urbachern gehabt habe. Die Nebentätigkeit des Pfarrers stellte somit keine Bedrohung für die Auführung seiner kirchlichen Pflichten dar. Der Synodus ordnete an, der Pfarrer solle weiterhin seine alten Patienten behandeln, aber sich keiner neuen Fälle mehr annehmen. Auch sollte man seine Machenschaften genau im Auge behalten. Im Grunde konnte er nur so lange als Heiler tätig sein, wie es ihm die Kirchenleitung gestattete. 94 In zukünftigen Visitationen - deren Protokolle leider nicht mehr überliefert sind - wird er zudem unter erhöhtem Druck gestanden haben, die Visitatoren von seinem tugendhaften Lebenswandel und seinem Eifer im Kirchendienst zu überzeugen. Die Gemeinde dagegen hatte sich mit ihrer geschickten Nutzung christlicher Argumente erfolgreich mit ihrer Forderung nach medizinischer Versorgung vor Ort durchgesetzt, schließlich wurde das fürstliche Verbot im Rahmen der Kompromisslösung praktisch aufgehoben. Die Beispiele aus dem Schorndorfer Amt bestätigen die These Frank Fätkenheuers, die Lebenswelten der Pfarrer und der Dorfbewohner seien eng miteinander verwoben gewesen. 95 In seiner mikrohistorischen Fallstudie zum fränkischen 91 LKA A1/ 1590, f. 94v. Zur positiven Einbindung der Pfarrer in ihre Gemeinden siehe auch Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 94 -96. 92 LKA A1/ 1590, f. 94r. 93 LKA A1/ 1590, f. 94v. 94 LKA A1/ 1590, f. 94v. Auf die partielle Duldung von Heilpraktikern durch die württembergische Kirchenleitung weist auch Tolley, Pastors and Parishioners, S. 68f., hin. 95 Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 195-277. <?page no="231"?> 232 Pfarrer Thomas Wirsing hat Fätkenheuer gezeigt, dass der Pfarrer im Dorf „nicht einer von vielen war, sondern in exponierter Stellung fungierte“. 96 Das deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Pfarrer weder vollends integrierte Mitglieder noch gänzlich ausgegrenzte Außenseiter im Dorf waren. 97 In Bezug auf die in der Visitation zum Vorschein kommenden Kräftefelder und Interessenkonflikte bedeutet dies, dass die Amts- und Lebensführung nicht nur von den Visitatoren, sondern auch von den Gemeindemitgliedern genau beobachtet wurde. Bei Bedarf scheuten sich die Dorfbewohner nicht, ihre Ansichten von den lokalen Kirchendienern in den Visitationen auf eine Art und Weise zur Sprache zu bringen, die der Durchsetzung bzw. Wahrung ihrer Interessen diente. Wollte die Gemeinde gar einen unliebsamen Geistlichen loswerden, hatte sie mit ihrer Klagemöglichkeit in der Visitation effektive Mittel in der Hand. Dies hatten die Pfarrer wiederum bei ihren Aktionen und ihrer Selbstdarstellung stets zu bedenken. 5.2. Pflichten und Eigeninteressen der Gemeinden 5.2.1. Die weltlichen Amtsträger der Gemeinde als Bekämpfer der Täufer Waren sittliche und religiöse Vergehen aus der Sicht der frühneuzeitlichen Normgeber eng miteinander verwoben, so mischten sich auch in den Visitationen die Sphären weltlicher und kirchlicher Verwaltung. 98 In der Visitationskommission waren kirchliche und weltliche Beamte vertreten, die dementsprechend die kirchlichen und weltlichen Zustände der Gemeinden eruieren sollten. Im Zuge der praktischen Herausforderungen in der Verwaltung der konfiszierten Güter von ausgewanderten oder ausgewiesenen Täufern verzahnten sich diese Bereiche weiter. In den Visitationen sollte sichergestellt werden, dass die lokalen Amtsträger die obrigkeitlichen Richtlinien befolgten und die Täufer nicht etwa dadurch begünstigten, dass sie diesen ihre Güter abkauften, bevor sie eingezogen werden konnten. 96 Ebd., S. 277. 97 Zur Außenseiterposition des Pfarrers siehe auch Rublack, „Der wohlgeplagte Priester“, insbes. S. 7f., 10, 23-29; Scribner, Außenseiter, S. 32-34. Die Auffassung vom Pfarrer als vollständig isolierten Außenseiter in der ländlichen Gemeinde ist aber insgesamt zu relativieren. So hat Bruce Tolley die protestantischen Pfarrer Württembergs als recht wohlhabende Außenseiter ihrer Gemeinde beschrieben, die aber bspw. als Paten durchaus persönliche Beziehungen im Dorf entwickeln konnten. Bestehen bleibt dennoch der Umstand, dass die Pfarrer als Diener sowohl des Staates als auch der Kirche die Autorität und Herrschaft des Landesherrn im Dorf repräsentierten. Tolley, Pastors and Parishioners, S. 5f. Zur ausführlichen Kritik an der älteren Pfarrerforschung siehe auch Schorn-Schütte, Priest, Preacher, Pastor, S. 29-36. 98 Siehe oben Kap. 4.3.1. Vgl. auch Landwehr, Policey vor Ort, S. 54, 99; Holtz, Konfliktpotential, S. 157. <?page no="232"?> 233 Die Vernetzung täuferischer Akteure mit der dörflichen Oberschicht war ein häufiger Anlass zu Klagen bei den Stuttgarter Obrigkeiten. In den Verhandlungen um die neue Täuferordnung 1570/ 71 bemängelte der Abt von Adelberg, dass viele der Unteramtleute mit den Täufern verwandt seien, was eine effektive Bekämpfung der Bewegung quasi unmöglich mache. 99 In dem ausformulierten Ordnungsentwurf wurde den Amtmännern ein eigenes Kapitel gewidmet. Das effektive Vorgehen der lokalen Amtleute gegen die der Täufer sei entscheidend für das Gelingen der Sektenbekämpfung insgesamt. Denn selbst wenn „man gleich in anndern Puncten allen das best vnd bösest darzu thut vnnd es volgendt bei den Ambtleüthen an Irer fleissigen Inspection vnnd beuolhener ernstlicher Execution mangelt, So ist es alles durchauß vergeblich vnnd vmbsonst, wie man dann ettwan bißher erfahren vnd Im werckh befunden.“ 100 Die kleinen und großen Nachlässigkeiten der Amtleute ermöglichten es den Dissidenten, ihrem Lebenswandel nachzugehen und neue Anhänger für ihre Lehren zu gewinnen. 101 Ähnliche Schwierigkeiten wurden noch im Jahre 1604 vom Kirchenratsdirektor Balthasar Eisengrein benannt. Dieser wies insbesondere auf die Praxis der lokalen Amtmänner hin, die einzuziehenden Täufergüter nicht ordentlich zu konfiszieren und zu verwalten, da sie das Vorgehen für unbillig hielten und die Bestimmungen „In Ire Köpf nitt bringen“ könnten. Dies war insbesondere im Schorndorfer Amt der Fall. 102 Als weiteren Grund für die nachlässige Verwaltung nannte Eisengrein den großen, aber unentschädigten Aufwand dieser Tätigkeiten. Besonders aber bemängelte er, dass die Täuferordnung von 1571 nicht publiziert, sondern lediglich in Stuttgart als interne Richtlinie der Kirchenleitung genutzt worden sei. Dies habe zur Folge gehabt, dass „vül Ambtleuth, sonderlich aber die Schultheißen vnd Gericht in den fleckhen, vmb die widertauffer ordnung vnd das nach außweisung derselben der außgewichnen widertauffer hinderlaßne güetter Inuentiert vnnd in seinem sondern in der ordnung begriffnen fellen confisciert werden sollen vnd mögen, gar kein wißenschafft gehabt.“ 103 In einer späteren Visitation wurde darüber hinaus der Verdacht geäußert, dass nicht nur die Amtmänner unzulänglich über die geltenden Richtlinien informiert waren, sondern das für die Unterstüztung der Täufer geltende Verbot auch „dem gemeinen Volckh nicht bekant“ sei. Sie sollten deshalb in Zukunft auf der 99 HStAS A282/ 3084 Nr. 4, f. 9v. 100 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 2v-3r. 101 Vgl. HStAS A282/ 3084, Nr. 4, f. 9v. 102 Daneben wurden die Ämter Cannstatt und Maulbronn negativ hervorgehoben. HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). 103 Außerdem kritisierte Eisengrein die ebenfalls unpublizierte Ordnung von 1584, dass diese in vielen Fällen unzureichend blieb und darüber hinaus teilweise dem geschriebenen und dem natürlichen Erbrecht widersprach. HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). <?page no="233"?> 234 Kanzel verlesen werden. 104 So war die Duldung der Täufer nicht ausschließlich auf ihre auf Freundschaft und Verwandschaft basierenden Netzwerke vor Ort zurückzuführen. Das Unwissen bzw. die Ignoranz der Amtmänner hatte es Eisengrein zufolge den Täufern ermöglicht, frei nach Mähren oder in andere Orte außerhalb des Herzogtums zu ziehen, ohne dass dies den Behörden in Stuttgart mitgeteilt wurde. 105 Den Visitatoren musste demnach neben der Identifizierung der Sektierer daran gelegen sein, dass die lokalen Amtsträger ausreichend über ihre Pflichten informiert waren. So zielten die Befragungen der Amtsleute in den Visitationen bezüglich der Täufer und sonstigen Sektierer auf zweierlei hin. Zum einen sollte sichergestellt werden, dass Vertreter der Ehrbarkeit keine täuferischen Sympathien hegten. Zum anderen war sicherzustellen, dass die Amtsträger möglichst genau Bescheid wussten, was sie angesichts religiöser Dissidenten zu tun hatten - bevor man von Seiten der Landeskirche und Landesherrschaft überhaupt eine Einhaltung der offiziellen Normen einfordern konnte. Entsprechend lautete der Hauptverdacht gegenüber den weltlichen Amtleuten vor Ort, die diese in den Visitatoren gegenüber mit der Rechenschaft ihrer Amtsführung zu widerlegen hatten, sie würden ihre Pflichten nicht ausreichend erfüllen. In Gemeinden mit bemerkbarer täuferischer Präsenz hatten die Amtleute die Visitatoren davon zu überzeugen, dass sie nicht so handelten wie etwa der Schultheiß in Beutelsbach. Dieser stellte im Jahre 1581 den Inbegriffeines schlechten Amtmannes dar, denn er sei nicht nur „mit vilem zerren vnnd fluchen ergerlich“, sondern „setze den Mandaten die widerteuffer betreffend nicht nach, trachte mehr nach ihrem gutt dan nach der Ehr Gottes“. 106 Wie neben Beutelsbach insbesondere das Fallbeispiel Urbach zeigt, waren die Klagen der Kirchenleitung mancherorts alles andere als unbegründet. In Urbach wurden die Täufer von der lokalen Ehrbarkeit nicht nur geduldet, sondern teils sogar aktiv unterstützt. 107 Dem Urbacher Schultheißen Jakob Köblin und seinen Richtern wurde bereits seit den frühen 1580er Jahren neben unzuverlässiger und eigennütziger Amtsverwaltung die Duldung ihrer täuferischen Nächsten vorgeworfen. Die bisweilen chaotischen Umstände sowie das ungehinderte Wirken der Täufer im Ort veranlassten den Urbacher Pfarrer Gregorius Glareanus schließlich dazu, für eine Intervention der Kirchenleitung zu plädieren. So wurde in Urbach in den Jahren 1598/ 99 eine Spezialvisitation durchgeführt, in der die Amtsführung des Schultheißen und der Richter zu einem zentralen Gegenstand gemacht wurde. Bei der Klärung der lokalen Umstände spielten die Aussagen sowohl des Pfarrers als auch der befragten Dorfbewohner eine bedeutende Rolle. Deutlich 104 LKA A26/ 466 II, f. 108v. 105 Dies hätte u. a. zur Folge gehabt, dass ihre hinterlassenen Güter nach einem anderen Verfahren inventiert und verpflegt worden seien als für Sektierer vorgesehen war. HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). 106 LKA A1/ 1581, f. 79v-80r. 107 LKA A1/ 1582, f. 74r. <?page no="234"?> 235 sichtbar wird an dem Fall außerdem die Methode des ‚Cross-Checkings‘ der Aussagen, mit der die Visitatoren die Glaubwürdigkeit der lokal erhobenen Informationen zu sichern suchten. Durch die in unüblicher Breite überlieferten Antworten der Gemeindemitglieder lassen sich in diesem Fall ausnahmsweise auch nähere Einblicke in die Argumentationsmuster der Dorfbewohner gewinnen. Dem Bericht des Pfarrers Gregorius Glareanus zufolge habe die schlechte Amts- und Lebensführung des Schultheißen Jakob Köblin nicht nur zur Folge gehabt, dass die allgemeine Disziplin im Ort drastisch nachgelassen habe, sondern auch, dass die Täufer ihrem Lebenswandel ungestört nachgehen und sogar neue Anhänger gewinnen könnten. Glareanus fasste seine Sicht auf Köblin dahingehend zusammen, dass dieser ein „weinsichtiger, vertrunkener, übelschwerender, lautschreÿender Mann“ sei, „der nur mit pochen vnd poldern amptet“. 108 Ähnliche Meinungen holten sich die Visitatoren auch von zahlreichen Vertretern der Gemeinde ein. 109 Es war aber nicht allein die Köblin zugeschriebene schwere Trunksucht, die ihn zu einem untauglichen Amtmann machte. Der Einschätzung eines gewissen Basti Schiecks zufolge war es nicht einmal von Bedeutung, ob Köblin nüchtern oder betrunken sei, er „tobe vnd poldere“ so oder so. 110 Dazu kamen Vorwürfe einer eigennützigen und rücksichtslosen Haushaltung des Schultheißen zusammen mit einigen vertrauten Richtern sowie seine weiteren sittlichen Vergehen, die insgesamt zu seinem vollständigen Autoritätsverlust in Urbach geführt hätten: „Es will auch die vnzucht in dißem flecken nicht recht gestrafft werden, dan schulthaiß selbst im wittwern stand mit seiner magdt ein vnehelich kind bekommen vnnd danach schulthaiß gepliben.“ 111 Nach solch einem Vergehen hätte der Schultheiß seine Stellung verlieren müssen, doch dies sei nicht geschehen (über den Vorfall wurde bereits 1582 an die Kirchenleitung berichtet). Darüber hinaus stand er zusammen mit einigen Richtern im starken Verdacht, den Kirchenschatz entwendet und der Bevölkerung beträchtlichen finanziellen Schaden zugeführt zu haben. 112 Ihre letzte Existenzsicherheit verloren die ärmsten Schichten durch den um 1588 durchgeführten Umbruch der Allmenden und die Einziehung der ausgeliehenen Äcker und Weingärten, die seitdem für die Gemeinde bebaut wurden. Die Tagelöhner mussten von nun an für Hafer, Stroh und Wein bezahlen, die ihnen früher umsonst gewährt worden waren. Nachdem auch noch der Kirchenschatz verloren gegangen war, konnten 108 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. 109 Siehe HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 35r-40r. 110 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40v. 111 LKA A1/ 1582, f. 74r. 112 Der Wert des gestohlenen Kirchenschatzes variierte in den Aussagen der Dorfbewohner zwischen achzig und fünfhundert Gulden. HStAS A282/ 3094c, f. 83r-83v; HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 34r-35r, 42r-44v. <?page no="235"?> 236 die Mittellosen in Urbach bei Missernten mit keiner materiellen Unterstüztung von Seiten der Gemeinde rechnen. 113 Nicht nur trugen Schultheiß und Richter in hohem Maße zur verheerenden Verschlechterung der materiellen Grundlagen der Armen im Dorf bei. Außerdem wurde ihnen von vielen Urbachern ein herzloser Umgang mit den Mittellosen unterstellt, der im deutlichen Widerspruch mit den Idealen christlicher Nächstenliebe stand. 114 Wie einige Frauen im Ort berichteten, schreie der Schultheiß die Armen an und verweigere ihnen materielle Hilfe mit der Begründung, „wan er ihnen nichts gebe, zögen sie dauon“. 115 In der Stellungnahme des Pfarrers wurde die Aussage der Frau von Hans Reiser, des Urbacher Müllers, aufgegriffen, der Schultheiß habe einen fremden, in Urbach verstorbenen Bettler, statt mit einem Leichentuch nackt, nur mit ein wenig Stroh bedeckt, begraben lassen. 116 Die Müllerin beklagte sich außerdem, Schultheiß und Richter würden reiche Weinvorräte zur Verfügung stehen, sie „liessen aber arme Kindtbetterin durst sterben, ehe sie ihnen ein tropffen mitthailtten“. 117 Viele der befragten Dorfbewohner wiesen darauf hin, dass diese Probleme nicht dorfintern beigelegt werden konnten. Wie sich etwa Hans Bichel beschwerte, dürfe keiner Kritik an Köblin äußern, ohne dass dieser sofort mit Heranziehung der Schorndorfer Amtleute drohe. 118 Andere Urbacher erzählten über die schroffen Zurückweisungen, als sie ihre Anliegen mit Köblin zu besprechen suchten. Köblins abweisende Art auf Kritik zu reagieren hatte offensichtlich dazu geführt, dass man lange Zeit nichts offiziell gegen ihn unternahm. Gleichzeitig aber verloren die Urbacher zunehmend den Respekt vor dem Amtmann. Die Konsequenzen insbesondere für die Sittenzucht im Ort seien fatal, betonte Pfarrer Glareanus: „Vnd weil ihn solche thorhait gmainiglich fürgeworffen wird, darffer nit frölich die Laster straffen. Ich besorg, es habe die Vnzucht darumb zu Vrbach so sehr überhandt genommen! Sie wird für kein schand geachtet.“ 119 Mit dieser Aussage wies Glareanus die Schuld an der gemeindlichen und sittlichen Verwahrlosung Urbachs deutlich von sich. Verantwortlich sei der Schultheiß, der mit seinem Lebenswandel ein schlechtes Beispiel für die Gemeinde setzte und zudem seine Autorität verloren habe, was „gar nahe beim gantzen Fleckhen“ dazu geführt habe, „das man ihn nit sehr förcht“. 120 113 Clasen, Wiedertäufer, S. 184. Siehe auch HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 41v-42r. 114 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 39r-40r. Zur Nächstenliebe, vgl. Schmidt, Dorf und Religion, S. 307. 115 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 39r-40v. 116 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40v; HStAS A282/ 3094c, f. 83v. 117 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 39r. 118 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40r. 119 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. 120 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. <?page no="236"?> 237 Obwohl der Pfarrer und viele der Urbacher die schlechte Amtsführung Köblins gegenüber den Visitatoren beklagten, wussten sie auch von Personen bzw. Gruppen, die die Vorzüge der gelockerten Aufsicht in der Gemeinde sich zunutze machten. Zum einen wurden Jugendliche genannt, die „mit vnsinnigen schreÿen, schlagen, werffen, prüglen, lumppen, fenster einschlagen vnd anderm vnchristlichen wesen“ 121 nachts das Dorf unsicher machten. 122 Glareanus zufolge habe das Nachlassen jeglicher Disziplin in Urbach solche Ausmaße angenommen, dass keiner dagegen agieren konnte, ohne zu riskieren, dass ihm die Fenster eingeschlagen wurden. 123 Der Pfarrer selbst sei Opfer des Vandalismus geworden, als ihm im Garten das Kraut ausgerupft und auf dem Feld der Flachs zertrampelt worden war. 124 Neben den Übergriffen der Jugendlichen berichtete der Pfarrer über das geringe Interesse der Urbacher an den Predigten und am Abendmahl. 125 In den freitaglichen Predigten habe er unabhängig von der Jahreszeit selten mehr als zehn Zuhörer, „an Sambstagen einen, zwen vnd gmainiglich gar keinen“. 126 Abgesehen von der Osterzeit würde auch das Abendmahl außerordentlich schlecht besucht. Glareanus führte dies auf die „gmaine rede“ 127 im Ort zurück, das Abendmahl sei nutzlos, da sich bei den Teilnehmern keine Besserung in der Lebensführung einstelle. Dass nach ernstlichen Ermahnungen von Seiten des Pfarrers auf Weihnachten und Pfingsten zwischen vierzig und hundert Personen kommuniziert hatten, hielt man in Urbach „für ein wunder vnnd etwas newes“. 128 Als größtes Problem jedoch hob Pfarrer Glareanus die Bedrohung durch die Täufer hervor, die ihre Lehren ungestört im Ort verbreiten konnten und hartnäckig bei ihren Auffassungen blieben. Es sei Glareanus zufolge bereits „gar nahe gantz Vrbach“ zum Täufertum bekehrt worden. Täufer würden außerdem nicht angezeigt werden und während den antitäuferischen Predigten des Pfarrers sei „meniglich verdrossen zuhören“. 129 Der Pfarrer führte die Duldung und Ausbreitung der Täuferbewegung in Urbach auf die Nähe des Schultheißen zu den Sektierern zurück, der „vnter seinen gefreündten widerteüffer“ habe. 130 Gegen diese gehe Köblin nicht vor. Etwa als einige der weggezogenen Urbacher später wieder nach Hause zurückgekehrt waren, habe der Schultheiß sie nicht wie in den Täuferordnungen vorgeschrieben zur Rechenschaft gezogen. 131 Ein anderes 121 HStAS A282/ 3094c, f. 84v. 122 Siehe hierzu auch HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40r-42v. 123 HStAS A282/ 3094c, f. 83r. 124 HStAS A282/ 3094c, f. 83r. 125 Vgl. HStAS A282/ 3094c, f. 83r-84v. 126 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. 127 HStAS A282/ 3094c, f. 85v. 128 HStAS A282/ 3094c, f. 85v. 129 HStAS A282/ 3094c, f. 85v. Ein Hans Halt aus Urbach ließ etwa verlauten, er wolle keine Predigten gegen den Papst und die Täufer hören, weil er nicht einsehe, inwiefern diese ihn angingen. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 57v. 130 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. 131 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. <?page no="237"?> 238 Mal soll Köblin einen Täufer in Walkersbach, den er festzunehmen hatte, durch den Unterküfer gewarnt haben. 132 Dem Pfarrer soll der Schultheiß sogar dazu geraten haben, über die Täufer im Ort zu schweigen, da dieser sonst „nur grose vngunst“ beim „g[emeinen] Mann“ auf sich lade. 133 Doch es war nicht nur der Schultheiß, der den Täufern in Urbach nicht ordnungsgemäß nachsetzte. Auch den meisten Richtern warf Glareanus die Vernachlässigung der offiziellen Vorgaben vor. Er machte dafür in erster Linie die familiären Verbindungen der Urbacher Ehrbarkeit zu den Täufern verantwortlich: „Die mehste vnd fürnemste vnder den Richtern haben eintweders Schwestern oder Brüder oder Söhn oder Töchtern oder Schwäger beÿ den widerteüffern, die zum theils beÿ Ihnen bißweilen heimlich auß vnd einschlieffen vnd (wie zuvermutten) offtmals von den Auffwicklern brieffempfangen, werden doch nit angezeigt.“ 134 Pfarrer Glareanus verknüpfte die schlechte und geradezu unchristliche Amtsführung des Schultheißen zusätzlich mit seiner Duldung der Täufer, ein Argument, mit dem er die Aufmerksamkeit der Kirchenleitung sicherstellte. Nicht nur ließe der Schultheiß die Täufer ungestört und ziehe finanziellen Nutzen aus ihnen. Mehr noch: Die materielle Not, die von den unzumutbaren Aktionen der Ehrbarkeit nur verstärkt worden war, hatte viele Urbacher zur Emigration gezwungen. Die Auskünfte des Pfarrers wurden von den Dorfbewohnern bestätigt, die zu den Täuferkontakten der Ehrbarkeit befragt wurden. Köblin habe bereits in den 1570er Jahren „vil Haussgesindt zu den widerteüffern in Mehrenland ziehen lassen: Ihnen ihre gütter abgekaufft vnd andere zuverkauffen gestattet“. 135 So sei der Schultheiß, der ursprünglich ohne Vermögen ins Dorf gezogen sei, während seiner Amtszeit insgesamt zu einem Besitz von mehreren tausend Gulden gekommen. 136 Der Schultheiß Jakob Köblin versuchte nach Möglichkeit die gegen ihn gerichteten Klagen von sich zu weisen oder herunterzuspielen. Weder sei es zutreffend, dass er sich maßlos betrinke, noch dass er fluche. 137 Angesichts solcher Anschuldigung in die Defensive gedrängt, forderte Köblin, man solle ihm die Personen nennen, die ihm solches vorwerfen würden. Auch würde er seine kleinen Laster wie ein Mann zu tragen wissen. Dem überlieferten Protokoll zufolge soll der Schultheiß sich mit folgenden Worten gewehrt haben: „Ich wil gern ein Würt ansehen der sagen könd, Ich hab gezehret, das man mich hab haimführen müssen. Item, Ich wil gern den ansehen, der da sage, das Ich mein Amptt 132 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 35r. 133 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. 134 HStAS A282/ 3094c, f. 82r. 135 HStAS A282/ 3094c, f. 83v. 136 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 38r. 137 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40r. <?page no="238"?> 239 nicht hab thon. Zu einem mahl hab Ich deß Klöppers begert, weil der weg böß gewesen vnd damals gar nicht truncken gewesen. Zeche ich mit einem, so gib Ich mein Zech. Zeche ich sonsten mit andern, so hab Ich mein thail dauon, wie ein anderer.“ 138 Auf die Klage des Forstknechten Jerg Dipping, obwohl der „Schulthaiß die Widerteüffer vor dem fenster gehapt, hab er sie doch nicht vertreiben wöllen“, habe Köblin erwidert, „er hab alwegen gethon, was er hab thun sollen, wie man ihme zugeschriben“. Er räumte zwar die Möglichkeit ein, es hätten sich Täufer ohne sein Wissen im Ort aufhalten können. Darüber hinaus gab er zu, dass man früher wohl etwas nachlässiger gewesen sei, bevor die täuferischen Missionare ihr Predigen in der Region intensiviert hatten. Hierbei implizierte er, ein Auge zugedrückt haben zu können, solange die Täufer keine akute Gefahr darstellten. Er beließ es jedoch statt einer Eingestehung seiner Schuld bei einer äußerst vagen Andeutung der unterlassenen Aktionen und spielte die Bedrohung durch die Täufer herunter. Seine Amtspflichten - auf dieses wichtigste Kriterium bestand Köblin - habe er stets erfüllt. Zuletzt erklärte er sich den Visitatoren gegenüber zur Besserung bereit, selbst wenn er die Anklagen gegen seine Person und Amtsführung grundsätzlich ablehnte: „Seÿ er fahrlessig gewesen, dessen er sich doch nicht schuldig wisse, wölle er fürohin desto fleissiger sein.“ 139 Als er ein anderes Mal zu die von ihm vorgenommenen bzw. unterlassenen Maßnahmen im Rahmen der Täuferbekämpfung vernommen wurde, entschuldigte sich der Schultheiß zusammen mit den Richtern, sie hätten nicht gewusst, dass man laut der geltenden Rugordnung gegen die Täufer vorzugehen hatte. 140 Im Gegenzug zu den vorgebrachten Anklagen unterstellte der Schultheiß seinerseits den Urbachern Böswilligkeit gegenüber der eigenen Person: Wenn sie ihn in einem „löffel erträncken köndten, sie thettens“. Es würde im Ort zwar viel geklagt, doch es käme keiner zu ihm, um die Probleme zu klären. So konnte Köblin seiner eigenen Aussage nach nichts gegen die Missstände unternehmen. 141 Dies war ein weiterer Versuch des Schultheißen, die Verantwortung über die Ausbreitung täuferischer Ideen und die Unordung in Urbach von sich zu weisen. Schuld sei nicht der Schultheiß, der seine Pflichten nachlässig erfülle, sondern die Gemeinde, die nicht mit ihm kooperiere. Die Visitatoren schenkten den Entschuldigungen Köblins und der Richter jedoch wenig Glauben. Die Aussagen der Richter Konrad Anckelin und Jörg Wagner über in Urbach tätige Täuferprediger überzeugten sie vielmehr davon, dass „Schultheiß vnd Gericht dergleichen personen, so Iren wandel Ins landt gehabt, gewusst“ hätten. 142 Angesichts der persönlichen Kontakte Jakob Köblins zu den Täufern verwundert dies nicht. Nicht zuletzt gehörte seine Ehefrau Ge- 138 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 40r. 139 HStAS A282/ 3094c Nr. 14, f. 38v. 140 HStAS A282/ 3094c, f. 82v. 141 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 39r-39v. 142 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 50v. <?page no="239"?> 240 noveva jahrzehntelang mit zu den auffälligsten Täuferinnen in Urbach. 143 Zudem war sie die Schwester des als aktiven Täufer bekannten Jörg Faut. Zwei weitere Schwestern waren bis zum Zeitpunkt der Spezialvisitation in den Jahren 1598/ 99 gestorben, ohne sich von ihrem Täufertum offiziell zu distanzieren. 144 Inwiefern Jakob Köblin die religiösen Ansichten seiner Frau teilte, ist nicht überliefert. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Urbacher die Möglichkeit nicht ungenutzt gelassen hätten, mit dem Vorwurf einer täuferischen Gesinnung des Schultheißen ein weiteres Argument gegen ihn anzuführen. Der Urbacher Pfarrer Glareanus erklärte sich angesichts dieser Zustände hilflos, sein Amt in der Gemeinde den Erwartungen der Kirchenleitung entsprechend verrichten zu können. In der Spezialvisitation von 1598/ 99 war er von Amtes wegen der wichtigste Ansprechpartner vor Ort, dem in der Situation ein schwieriger Balanceakt gelingen musste. Einerseits hatte er die Missstände seinen Vorgesetzten glaubhaft zu beschreiben, um die notwendige Hilfe von oben zu bekommen. Andererseits durfte er dabei in seiner eigenen Amtstätigkeit nicht in zu schlechtes Lich geraten. Es scheint Glareanus - dessen Aussagen in vieler Hinsicht von den unabhängig vom Pfarrer befragten Dorfbewohnern bestätigt wurden - gelungen zu sein, die Visitatoren von seinen Standpunkten zu überzeugen. Neben dem Austausch vor Ort orientierten sich die Visitatoren in Vielem am ausführlichen Bericht des Pfarrers über die Missstände in Urbach. In diesen „Klagpuncten“ verteidigte der Pfarrer seine Amtsverrichtung und wies auf die Schwierigkeit seiner Stellung in der Gemeinde hin. Bezeichnend für die konfliktträchtigen Kräftefelder im Ort ist, dass dem Pfarrer von einigen Urbachern anonyme Drohbriefe zugestellt wurden. 145 In dieser Situation war Glareanus viel an einer überzeugenden Schuldzuweisung gelegen, demnach die christliche Ordnung in der Gemeinde ernsthaft gefährdet sei, solange die Führung Urbachs bei untauglichen Amtleuten lag. So bestünde in seinen Augen insgesamt nur „schlechte hoffnung, das die Polliceÿ kentte verbessert werden, wa nit der Fleckh mit eim ernsthafften, eÿfferigem Schulthaissen vnnd gotseligen Richtern, so die ware 143 Noch im Jahre 1620 wurde über die täuferischen Aktivitäten der bis dahin fest bei ihren Ansichten gebliebenen Genoveva Köblin berichtet. Sie soll nicht nur ihre Tochter zum Täufertum bekehrt haben, sondern diese auch bei ihrer Vorladung zu einer Examination in ihrem Glauben gestärkt haben. Genoveva Köblin habe den Visitatoren gegenüber keinen Hehl aus ihren Auffassungen gemacht, sondern erklärt, sie habe sich „zum rechten haüfflin gesellet, habe kein frömers finden können, wolle auch bei denselben pleiben“. Der Synodus hatte mit Genoveva, die eingezogen und still lebte und - abgesehen von den nächsten Familienmitgliedern - niemanden zu bekehren versuchte, über Jahre hinweg versucht zu verhandeln. Die Erfolge waren allenfalls kurzfristig, wenn auch sich Genoveva in einem Examen „zu vnser Religion bekanntt“ hatte. Als die Versuche schließlich als gescheitert anerkannt wurden, blieb nur noch die Androhung übrig, der Schultheissin nach ihrem Tode das Glockenläuten und die Beerdigung im christlichen Boden zu verweigern. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 53v; LKA A26/ 466 II, f. 202r, 205v. 144 HStAS A282/ 3094c, f. 82r. 145 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. <?page no="240"?> 241 Christliche Religion begeren zufürdern vnd die widerteüfferische Sect außzurotten, versehen wird.“ 146 Glareanus selbst sei somit nicht für die mangelnde Ordnung in Urbach verantwortlich. Er rekurrierte vielmehr auf Argumente, die im Sinne der Stuttgarter Normgeber sein mussten. So betonte der Pfarrer, dass eine gute Policey in Urbach nur dann gewährleistet werden könne, wenn zum einen der Schultheißen und die mit ihm kollaborierenden Richter abgesetzt wurden, die entgegen den ihnen gestellten Anforderungen sich weder als ernsthaft noch eifrig erwiesen hatten. Zum anderen seien die täuferischen Tendenzen in Urbach endgültig zu beseitigen. Mit diesen Pointen fand Glareanus durchaus Gehör bei der Kirchenleitung: In seinem nach dem Abschluß der Spezialvisitation in Urbach verfassten Bedenken stellte sie sich auf die Seite des Pfarrers und drängte auf die Absetzung des Schultheißen. Köblin sei „nicht der geringste vrsachen“ für die untragbaren Verhältnisse in der Gemeinde, da er „sich fasst täglich vberweint, vß deß flecken seckel vil verzert, vbel flucht, die Leüth mit hartten wortten anfahrt“. 147 Doch damit nicht genug. Der Gipfel der Verfehlungen Köblins stellte auch für die Normgeber der Befund dar, dass „allß Im befolhen worden widerteüffer beÿzufangen, hab er selbige nit allein laßen warnnen, sonder auch Inen selbsten Güetter abkaufft“. 148 Die Zustände in Urbach stellten sicherlich einen Aufsehen erregenden Extremfall dar. Claus-Peter Clasen hat in der Gemeinde etwa fünfzehn miteinander verschwägerte Familien gezählt, in denen täuferische Einstellungen teilweise über zwei oder sogar drei Generationen hinweg weitertradiert wurden. Gleichzeitig blieben andere Familien den Täufern scheinbar gänzlich verschlossen. Die Einstellung zu den Täufern hat Clasen zufolge nicht nur alte Reibereien im Dorf verschärft, sondern sogar neue hervorgerufen. Zusätzlich polarisierend muss die Tatsache gewirkt haben, dass die Urbacher Täufer durch Heirat und Verwandschaft eng mit der lokalen Führungsschicht verbunden waren. Dagegen stammte im Jahre 1598 keiner der Richter aus denjenigen Familien, die den Täufern abgeneigt gegenüber standen. Das Täufertum zeigt sich im Falle Urbachs als Phänomen der führenden Familien - die angesichts der Amtsführung Jakob Köblins und der Richter ohnehin eine sehr starke Position in den lokalen Kräftefeldern einnahmen -, das von rivalisierenden oder verfeindeten Familien oder Gruppen im Dorf heftig abgelehnt werden musste. 149 Der Druck der täuferischen Partei in Urbach ging soweit, dass (so zumindest die Beschreibung des Pfarrers) jeder, der „frölich“ ins Pfarrhaus käme, „für ein Schwätzer vnd verrhäter“ gehalten würde und sich gegenüber dem Schultheiß und Gericht rechtfertigen müsse. 150 146 HStAS A282/ 3094c, f. 82v. 147 HStAS A282/ 3094c, Nr. 15, f. 19v. 148 HStAS A282/ 3094c, Nr. 15, f. 19v. 149 Clasen, Wiedertäufer, S. 187. 150 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. <?page no="241"?> 242 Zugleich lassen sich an dieser Sondersituation in Urbach die lokalen Dynamiken sowie die Deutungen, Argumente und als wichtig erachteten Maßnahmen deutlicher als sonst erkennen. Auf Drängen des Pfarrers und nach den drastischen Schilderungen der Urbacher wurden Schultheiß Köblin und diejenigen Richter abgesetzt, die „sich mitt den widertauffern bißhero zuuil gemein vnd dardurch auch sich ettwas verdächtig gemacht“ hatten. 151 Man konnte zwar „auß mangel vnuerwanter vnd qualificirter personen kein gantz newe Gericht verordnen vnd setzen“. 152 Dennoch wurde mit dem Machtwechsel in Urbach von oben deutlich gemacht, dass nachlässige Haushaltung und die Begünstigung der Täufer nicht geduldet wurde. 5.2.2. In eigener Sache: Die Täufer als argumentative Waffe Im oben behandelten Fallbeispiel Urbach tritt die Rolle der lokalen Kräftefelder im Zusammenhang mit der Visitation in ungewöhnlicher Deutlichkeit hervor. Hierbei waren die Täufer zum einen ein Thema, über dessen Akzeptanz verhandelt wurde. Zum anderen konnte das Schlagwort ‚Täufer‘ als Argument ins Visitationsspiel eingebracht werden, vornehmlich, um dem Gegner verdächtige Eigenschaften und strafbare Handlungsweisen zuzuschreiben. Insbesondere gegen weltliche Amtmänner wie den Schultheiß in Urbach ließ sich dieses Argument anwenden, war ihnen doch als dringende Amtspflicht vorgeschrieben, gegen die Täufer vorzugehen. Obwohl eine derartige Nutzung des Täuferbegriffs in lokalen Auseinandersetzungen in den Visitationen nur äußerst selten sichtbar wird, ist davon auszugehen, dass der Begriffin der dörflichen Öffentlichkeit bekannt war und auch gebraucht wurde. Einen weiteren raren Einblick in die Nutzung des Täuferbegriffs in den horizontalen und vertikalen Beziehungsgeflechten des Dorfes erlaubt der Fall Rudersberg. 153 In Rudersberg gab es mehrere Täufer, so dass die Obrigkeiten die Ausbreitung der Bewegung befürchten mussten. 154 Ähnlich wie in Urbach wurde im Streit einiger Bewohner von Rudersberg mit ihrem Gericht und Rat im Jahre 1602 verfahren. Etliche Privatpersonen hatten sich unter der Führung von Adam Klotz und Jacob Aurbacher zusammengeschlossen, gegen die drohende Steuerer- 151 HStAS A282/ 3094c, Nr. 19, f. 7r-7v. Siehe auch HStAS A282/ 3094c, f. 67v-70r. 152 HStAS A282/ 3094c, Nr. 19, f. 7r-7v. Siehe auch HStAS A282/ 3094c, f. 67v-70r. 153 Dieser Fall wurde allerdings nicht vor der Visitation ausgetragen, sondern mittels einer auf die Supplikation der Rudersberger folgenden weltlichen Begutachtung der Umstände. Aufgrund der Parallelen zu Urbach sei er hier dennoch ergänzend herangezogen. Den Täufern sollte in erster Linie durch effizientes Visitieren entgegengewirkt werden. In weltlichen Angelegenheiten wie dem Streit in Rudersberg sollte analog das System der Vogtgerichte wirksam eingesetzt werden, vgl. HStAS A206/ 4466, f. 9r (30. November 1602). 154 Claus-Peter Clasen zufolge schlossen sich in Rudersberg im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert insgesamt 15-25 Personen dem Täufertum an. Daneben emigrierte eine unbekannte Anzahl Menschen nach Mähren. Clasen, Wiedertäufer, S. 37; Ders., Anabaptists in South and Central Germany, S. 134. <?page no="242"?> 243 höhung durch den Rudersberger Schultheißen und der Richter suppliziert und um nähere Nachforschungen der Stuttgarter Behörden in der Sache insistiert. Die Männer hatten - aus der obrigkeitlichen Perspektive durchaus ähnlich wie die Täufer - im Haus von Adam Klotz heimliche „Conuenticula gehaltten“ und dadurch angeblich Dorfbewohner gegen Schultheiß und Rat aufgestachelt. Sie sollen sogar die Drohung ausgesprochen haben, „es werde ein Klain Baurenkrieglin geben“, wenn ihren Forderungen nicht nachgegeben würde. 155 Obwohl es in erster Linie um Unklarheiten in der lokalen Forstverwaltung und andere Fragen der materiellen Nutzung bzw. lokalen Ressourcenverteilung ging, wurden diese Konflikte von den Klägern mit der Anzeige gekoppelt, der Schultheiß hätte seinen Neffen - einen Täufer namens Lienhardt Hasel - geholfen, aus dem Herzogtum zu fliehen und ihm sein Gut unversteuert folgen lassen. Zu allem Überdruss hätte er ihm „auch noch ein Pferdt darzue geschenckht vnnd gestattet, daß er Im Ampt sonnderlich diß Jar die Arme leütt verfüert“ habe. 156 Außerdem vermeldeten sie, der Schultheiß habe noch einen Bruder, der ein offenkundiger Täufer sei. 157 Dass gerade die armen Leute, die ohnehin von existentieller Not bedroht waren, von den Täufern erfolgreich angesprochen wurden, sollte das Unverantwortliche im Handeln des Schultheißen weiter unterstreichen. Insgesamt brachten die Rudersberger einen neun Punkte umfassenden Beschwerdekatalog vor, in dem allgemein mit dem „Nachthail vnd Schaden“ 158 argumentiert wurde, den die schlechte Amtsführung des Schultheißen und des Rates im Dorf verursacht hatte. Die Stuttgarter Obrigkeiten kamen aufgrund ihrer Erkundigungen vor Ort zum Urteil, dass die beiden Anführer Klotz und Aurbacher rachgierige Männer waren, die die Anschuldigungen gegen den Schultheißen und seinen Neffen allein „auß verbittertem Affect“ und „mit vngrund angetragen“ hatten. 159 Dass der Bruder des Schultheißen offenkundiger Täufer sei, glaubten die Stuttgarter Obrigkeiten, denn ihm war bereits der Aufenthalt im Amt verboten worden. 160 Von Hasel aber gäbe es bislang keine weiteren Hinweise, dass er ein Täufer sei. 161 Dennoch wurde eine derart schwere Anschuldigung ernst genommen, da die Probleme mit den Täufern im Amt - hier wurde namentlich auf Urbach hingewiesen - bereits gravierend waren. In der Gegend um Rudersberg sollte durch „guette Inspection“ und entsprechende Bestrafung verhindert werden, dass die Täufervorsteher wie in Urbach „durch sonderbare heimbliche Practickhen vnnd Annderer Collusionen vil Arme Leütt Schenndtlich verfüeren“ konnten. 162 155 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 2v-3r. 156 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 3v. Siehe auch HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 26r. 157 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 26v-27r, 28r. 158 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 3r. 159 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 26v. 160 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 28r. 161 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 27v. 162 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 27r. <?page no="243"?> 244 Der Täuferbegriffwurde in Rudersberg von den unzufriedenen Dorfbewohnern ins Spiel gebracht und fand Gehör bei den Stuttgarter Obrigkeiten, selbst wenn diese den Motiven der Kläger misstrauten. In diesem Falle zeigt sich, wie dicht beieinander die Gefahr von Aufruhr und Täufertum in den obrigkeitlichen Deutungen oft lagen. Nicht nur wurden Klotz und Auerbacher ähnliche Verhaltensformen zugeschrieben wie den Täufern (etwa Versammlungen im Geheimen und Hetzkampagnen gegen lokale Vertreter der Landesherrschaft), sondern darüber hinaus hatte ihr Handeln schädliche Folgen für die Stabilität der Gesellschaft. Es wurden auch teilweise gleiche Begrifflichkeiten benutzt wie im Zusammenhang in der Auseinandersetzung mit den Täufern wie etwa „Redlins füerer“, „heimblich practic“ oder „Conuenticula“. 163 Allerdings standen die aufsässigen Rudersberger ähnlich unter dem Schutz ihrer Nachbarn wie viele der Täufer, die nicht namentlich angezeigt wurden. 164 Den Streitparteien muss bewusst gewesen sein, dass die Obrigkeiten auf bestimmte Schlagwörter empfindlich reagierten. So sicherte der Einsatz von Begriffen wie ‚Täufer‘ und ‚Bauernkrieg‘ durch die Pfarrer oder Untertanen erhöhte Aufmerksamkeit von Seiten der Obrigkeiten. Die Kontrahenten konnten dadurch sowohl ihren Unmut Ausdruck verleihen als auch konkrete Anschuldigungen formulieren, die sich allerdings hier im Falle des Lienhardt Hasel teilweise als unbegründet erwiesen. Die Auseinandersetzung in Rudersberg kreiste in erster Linie um andere Fragen als religiöse Devianz, doch wurde dieses als erschwerendes Argument neben dem Vorwurf der schlechten Haushaltung der Amtmänner herangezogen, wenn sich die Betroffenen Nutzen davon erhofften. Gleichzeitig stützen die Beispiele aus dem Schorndorfer Amt die Einschätzung Frank Konersmanns, dass in den Visitationen überwiegend Handlungen oder Personen angezeigt wurden, die als bedrohlich für das Gemeinwohl empfunden wurden. Insbesondere in Zeiten von Teuerung und Epidemien konnten Normverstöße wie etwa schlechte Haushaltung „weder von der Kirchenleitung noch der Kirchengemeinde“ geduldet werden. 165 Das Amt Schorndorf war von diesen Entwicklungen ab den 1570er Jahren hart getroffen; es war in Württemberg nicht nur eines der am stärksten von der Täuferbewegung, sondern auch von Armut betroffenen Gebiete im Herzogtum. Manche - aus den täuferischen Kreisen sogar sehr viele - beschlossen in Gegenden wie vorzugsweise nach Mähren auszuweichen, in denen sie bessere Lebensbedingungen zu erwarten hatten. Unter den Hinterbliebenen spitzten sich vielerorts die Konflikte angesichts der Ressourcenknappheit und der wachsenden sozialen Unterschiede weiter zu. 166 163 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 2v-3r, 7r. 164 HStAS A206/ 4466 (30. November 1602), f. 7r. 165 Konersmann, Kirchenvisitation, S. 619. Zur ähnlichen Nutzung der Dorfgerichte siehe Holenstein, Bauern, S. 25f. Siehe auch Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, S. 267. Rudolf Schlögl dagegen hat die Anzeige insbesondere derjenigen Nachbarn vor der Visitation betont, mit dem man im Streit lag und die nicht am Abendmahl teilnahmen. Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, S. 252. 166 Vgl. Clasen, Wiedertäufer, S. 59-61; Holenstein, Bauern, S. 25f., 46-49, 60f.; Holenstein & <?page no="244"?> 245 Allerdings konnten Nachlässigkeit oder gar Übergriffe der lokalen Amtmänner auch in Gemeinden beklagt werden, in denen es keine täuferische Präsenz gab. 167 Schlechte Haushaltung war in von den negativen Entwicklungen des späten 16. Jahrhunderts besonders stark betroffenen Orten an sich bereits ein ernster Vorwurf gegen einen Amtmann. 168 Verschärft wurden Klagen dieser Art, wenn sie mit den Täufern in Verbindung gebracht wurden, wie etwa das Beispiel Urbachs zeigt. Hier wurde der Vorwurf der Untauglichkeit des Schultheißen durch die Verknüpfung seiner schlechten Haushaltung mit der Begünstigung der Täufer, die dem Schultheißen Jakob Köblin darüber hinaus noch wirtschaftlichen Gewinn einbrachte, noch schwerwiegender. Gleichzeitig wurde der Vorwurf zu einer Frage der religiösen Zustände der Gemeinde, deren Klärung der Visitation zustand. Für das Schorndorfer Amt lässt sich somit die Beobachtung Antje Flüchters geltend machen: „Eine unordentliche Haushaltung war nicht nur eine Frage der Moral, sondern stellte auch eine Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung dar.“ 169 In Urbach standen die Täufer für die Vertreter der Landeskirche stellvertretend für die zunehmende Verwahrlosung des Gemeinwesens und der insgesamt als unchristlich empfundenen Verhältnisse. Die Beispiele aus dem Schorndorfer Amt weisen weiter darauf hin, dass es ein von der Landesherrschaft und von der lokalen Bevölkerung - zumindest teilweise - geteilter Wert war, das Gemeinwesen vor Schaden zu schützen und den gemeinen Nutzen zu fördern. Aus der Perspektive der Dorfbewohner ließ sich die gewissenhafte Haushaltung des Ortes in den christlich-kommunal geprägten Horizont und der nachbarschaftlichen Solidarität einordnen. Wie Heinrich Richard Schmidt betont hat, ist ‚Nachbarschaft‘ in diesem Zusammenhang mehr als eine reine Sachbezeichnung. Sie ist vielmehr eine ethische Größe, eine Norm, die jede Art von Schädigung des materiellen oder geistigen Besitzes des Nächsten ausschließt. 170 In Rudersberg wussten die Kontrahenten, dieses Ideal für das Austragen ihrer persönlichen Streitigkeiten einzusetzen. Indem sie auf den Nachteil rekurrierten, den sie durch die Handlungen des Schultheißen erlitten hatten, griffen sie auf ‚oben‘ wie ‚unten‘ plausible Argumente zurück. Die Wahrung des gemeinen Nutzens und damit einhergehend einer christlichen Ordnung bzw. einer guten Policey konnte als obrigkeitlich gesegnete Norm bei Bedarf zu einem gewichtigen Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘, S. 20; Robisheaux, Rural Society, S. 69f.; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 16, 18; Schmidt, Geschichte der Stadt Schorndorf, S. 428, 433; Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 19-23, 74f., 112f. 167 Dies war zum Beispiel in Schornbach in den späten 1580er Jahren der Fall. LKA A1/ 1588 I, f. 89v; LKA A1/ 1589, f. 79r; LKA A1/ 1590, f. 95v. Siehe auch Schmidt, Dorf und Religion, S. 308f. 168 Vgl. auch die Ermahnung von zwei als schlechte Haushälter identifizierten Personen in Schnait im Frühjahr 1602. HStAS A281/ 1120, S. 22. 169 Flüchter, Zölibat, S. 40. 170 Schmidt, Dorf und Religion, S. 308. Siehe auch Blickle, Gemeindereformation, S. 196-200; Landwehr, Policey im Alltag, S. 317; Ders., Zwischen allen Stühlen, S. 106; Schedensack, Nachbarn im Konflikt, S. 203-209; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 230; Wegert, Popular Culture, S. 35, 39. <?page no="245"?> 246 Gesprächsgegenstand und Bezugspunkt vor Ort gemacht werden. 171 Eine solche Instrumentalisierung des Täuferbegriffs bestätigt des Weiteren die Beobachtung André Holensteins und Sabine Ullmanns, dass in den Ressourcenkonflikten der ländlichen Gesellschaft die sachlichen Argumente häufig mit stereotypen Vorstellungen verschmolzen - in täuferreichen Gebieten wie dem Amt Schorndorf eben auch mit dem Bild des für die gesellschaftliche Ordnung und Harmonie gefährlichen Täufers oder der Täuferin. 172 5.2.3. Teilnahmepflicht der Bevölkerung am kirchlichen Leben Nach der Überprüfung und Befragung der Pfarrer in der Visitation wurden auserwählte Vertreter der Gemeinde herangezogen. Zunächst ging es um die Lebens- und Amtsführung des Schultheißen sowie der Mitglieder von Gericht und Rat. Gemäß den Visitationsvorschriften sollte darauf geachtet werden, dass diese nicht „unnser Confession zuwider“ waren. Die Liste der unerwünschten Eigenschaften und Praktiken, mit denen eine solche Haltung genauer beschrieben wurde, war ausführlich. Die örtlichen Amtleute dürften nicht „sich auch der Predig unnd des Herrn nachtmall nit geprauchten, sonnder papistisch, zwinglisch, schwenckhfeldisch, widerteufferisch, weinsichtig, Gotslesterer, Ehebrecher, Hurer seyen oder mit bössen, wucherlichen verpotten keuffen unnd Contrecten unnd sonnst anndern Lastern umbgangen unnd treiben“. 173 Hier zeigt sich deutlich, dass die Bekämpfung der Sekten und Irrlehren einen zentralen Bestandteil der Visitation darstellte. Daneben sollten die Visitatoren in Erfahrung bringen, inwiefern die Ehrbarkeit ein sittlich vorbildliches Leben führte und ihr Amt zum Wohl der Gemeinde ausübte. Nachdem sich die Visitatoren ein Bild vom Lebenswandel und der Amtsverrichtung der lokalen Amtmänner gemacht hatten, war die Überprüfung des kirchlichen Lebens in der Gemeinde an der Reihe. Im Mittelpunkt standen hierbei der Predigt- und Abendmahlsbesuch der Bevölkerung. 174 Diese Frage war aus der Sicht der Normgeber so zentral, dass längeres Fernbleiben von den Gottesdiensten und insbesondere vom Abendmahl den Verdacht erweckte, täuferischer Gesinnung oder sonst suspekt zu sein. Eine 171 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 324-326. 172 Holenstein & Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘, S. 23f.; Konersmann, Kirchenvisitation, S. 617. Siehe auch Bachmann, „Allerhand gottloses abgöttisches Werckhen“, S. 72; Fuchs, Um die Ehre, S. 189. 173 Arend, Kirchenordnungen, S. 330 (Visitationsordnung von 1557). 174 Vgl. Schmidt, Dorf und Religion, S. 122; Tolley, Pastors and Parishioners, S. 73. Wie Tolley, Pastors and Parishioners, S. 78 (Anm. 69), anmerkt, hat Natalie Zemon Davis bereits in den frühen 1980er Jahren den Vorschlag gemacht, protestantische Religiosität in der frühen Neuzeit gerade anhand den mit dem Abendmahl verbundenen Vorstellungen und Praktiken zu untersuchen. Vgl. Davis, From ‚Popular Religion‘ to Religious Cultures, S. 325f. Für die Stadt Ulm liegt mittlerweile eine solche Studie vor, vgl. Kaul, Undankbare Gäste. <?page no="246"?> 247 Abendmahlsverweigerung konnte sogar als Ablehnung der landeskirchlichen - und somit auch landesherrlichen - Obrigkeit interpretiert werden. 175 Aus theologischer Perspektive wurde in Württemberg großer Wert auf das Hören des Evangeliums als notwendige Grundlage für den Glauben gelegt. Besonders wurde dies im Zusammenhang mit dem heiligen Abendmahl betont. In der Confessio Virtembergica hieß es dazu: „Vnd nach dem in der entpfahung des Sacraments des Nachtmals der Glaub erfordert würd / der Glaub aber kompt auß dem Gehör / vnd das Gehör durch Gottes wort / so ist es sehr nöttig / das man die wort des Nachtmals / wölche seind Wort des Sons Gottes / bey dem Nachtmal frey offentlich spreche. Dann dise Wort seind die Predig des Euangelions / vnnd die Verkündung des Todts Christi. Darumb so ist von nötten / das man bey dem Nachtmal / die Wort des Nachtmals offentlich spreche / damit die Kirch verstehe / was im Nachtmal gehandelt / was auch ir zu entpfahen / gereichet werde / vnd sie iren Glauben darauß stercken möge.“ 176 Die Kirchenleitung formulierte hier die Erwartung, die Gemeinde habe die Bedeutung des Abendmahls nicht nur öffentlich von ihrem Pfarrer präsentiert zu bekommen. Sie sollte darüber hinaus die Bedeutung des Sakraments verstehen, um ihren Glauben zu stärken. Die Grundlehren des Luthertums sollten vom Pfarrer in den Predigten und im Katechismusunterricht nach dem sonntäglichen Gottesdienst vermittelt werden. 177 Das Lernziel bestand darin, dass die Jugendlichen „volgenden Catechismum von wort zu wort auswendig lernen“. Damit dieses Ziel erreicht werde, hatten der Pfarrer oder der Diakonus zuvor die Artikel des Katechismus in aller Klarheit auszulegen. Idealerweise sollte es hier nicht beim bloßen Auswendiglernen der Kernstücke bleiben, sondern es wurde ein „gutte[r] Christliche[r] Verstand“ angestrebt. 178 Woraus dieser christliche Verstand im Einzelnen bestehen sollte, wurde in diesem Zusammenhang allerdings nicht spezifiziert. Möglich ist die Lesart, dass dieser durch das Erlernen der Katechismusinhalte an sich entstehen würde und der christliche Verstand demnach eine konsequente Folge der verinnerlichten Katechismuslehrstücke wäre. 175 Siehe unten Kapitel 6. 176 HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 22r-22v. 177 „Erstlich soll ein jetlicher Pfarher oder Prediger / allwegen auffein jeden Sontag / insonderheit nach der Predig / auffder Cantzel die zehen Gebot / Das Symbolon Apostolicum / vnd das Vatter vnser fürsprechen / Vn[d] darmit es fruchtbarlich vn[d] nutzlich geschehen mög / soll er nicht heüt dise Form / morgen ein andere gebrauchen / sonder die bemelte Stuck auffschreiben / vn[d] sie dem Volck / auß dem geschriben büchlin oder Täfelin ordenlich / verstentlich vn[d] deütlich fürlesen / das beide / Alt vn[d] Jung / bey inen selbs die Wort nachsprechen / vnnd einerley Wort gewonnen mögen / dann es tregt sich bey dem gemeinen Volck diser Stuck halben allerley Vnrichtigkeit zu.“ HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 60r-61v, 63v-64r. 178 HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 63v-64r. <?page no="247"?> 248 Ein für den Katechismusunterricht formulierter Katalog mit Musterantworten, die in der Confessio Virtembergica zu finden ist, der die Erwartungen der Kirchenleitung an das religiöse Wissen der Bevölkerung im für das vorliegende Thema zentralen Punkt ‚Abendmahl‘ verdeutlichen mag. Man werde durch das Abendmahl im Glauben gestärkt und erhalte Trost in Anfechtung. Insgesamt war das Abendmahl als Sakrament aufzufassen, in dem Christus den Gläubigen „warhafftig / vnnd gegenwürtig / mit Brott vnd Wein / sein Leib vnd Blut schenckt vnd darreicht“. 179 An dieser Stelle erfolgte eine deutliche Abgrenzung von den Täufern, Zwinglianern und Kalvinisten, die die Realpräsenz ablehnten. Die Sünden werden nicht durch die Einnahme des Abendmahls an sich gesühnt, wie dies ein geläufiger Irrtum unter den Zeitgenossen sei, sondern der „verdienst Christi“ könne den Gläubigen nur durch das Predigen des Evangeliums und durch den Akt der Austeilung der Sakramente zuteil werden. Durch das Abendmahl vergewissere Gott den Menschen die Verzeihung ihrer Sünden und ein ewiges Leben. 180 Das Abendmahl war demnach notwendig, um eine persönliche, direkte Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen herzustellen. 181 Die Teilnahme an den Gottesdiensten und am Abendmahl gehören zu den wenigen Anlässen, in denen die Dorfbewohner jenseits der lokalen Amtsträger in den Visitationsakten überhaupt in Erscheinung treten. 182 Es wird aus den Quellen allerdings nicht immer deutlich, ob sie persönlich von den Visitatoren befragt wurden oder der Pfarrer Auskunft über sie erteilte. Anzunehmen ist, dass die erste Nennung in der Regel durch den Pfarrer erfolgte, die Dissidenten aber beim längeren Fernbleiben von den Gottesdiensten und vom Abendmahl persönlich vorgeladen wurden. Eine persönliche Vorladung lassen die in den Visitationsprotokollen teilweise verzeichneten Antworten der Betroffenen in Zusammenhang mit dem Spezialis geführten Diskussionen vermuten. 183 So sind es insbesondere Problemfälle, die in in den Visitationen thematisiert wurden. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass die aktenkundig gewordenen Fälle nur die ‚Spitze des Eisberges‘ sind; dass Vieles nicht verschriftlicht wurde oder den Visitatoren überhaupt zu Ohren kam. Kürzungen sind insbesondere im Bereich der positiven Feststellungen anzunehmen. 184 Nur selten wurde etwa der Umstand genannt, dass die Gemeinde fleißig zu den Predigten kam und am Abendmahl teilnahm. Das Protokoll der Spezialvisitation in Urbach 1598/ 99 bildet eine Ausnahme, in dem sowohl auf die zufrieden stellende Beteiligung der Bevölkerung am kirchlichen Leben als auch die Praxis des Weglassens bei der Verschriftlichung explizit hingewiesen wurde: 179 HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 66v. 180 HStAS A63/ 24 (Confessio Virtembergica), f. 66v. 181 Vgl. Tolley, Pastors and Parishioners, S. 78-81. 182 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 101. 183 Vgl. hierzu Kap. 6. 184 Vgl. Braun, Die bayerischen Teile, S. 39; Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 354; Landwehr, Policey im Alltag, S. 108f., 315. <?page no="248"?> 249 „Dagegen seÿen die Andere, welche (als laici) zimlich respondirt vnd fleissig beÿ den Predigen vnd Sacramentten sich gefunden, von vnß commendirt vnd also fürzufahren vermahnet vnd vmb geliebtter Kürtze wegen nicht alhero verzeichnet worden.“ 185 Bezeichnenderweise finden sich gerade in Urbach weitere, in eine ähnliche Richtung zielende Bemerkungen. So berichtete der neue Urbacher Pfarrer Ernestus Bloß im Frühjahr 1605, man hätte die spezielle Unterrichtung der „rudiores“ in der Gemeinde bereits unter seinem Vorgänger Gregorius Glareanus als „vnvonnötten“ aufgegeben. Bloß konnte stolz vermelden, dass inzwischen „bemeltte rudiores altte vnd Junge fleissig zu den Mittagspredigen kommen“. 186 Eine schriftliche Fixierung erfuhr dieser Sachverhalt jedoch allein, weil diese Gemeinde bis dahin eine besondere Herausforderung für die Etablierung landeskirchlicher Normen gewesen war und sich zuvor gerade nicht durch vorbildliche Teilnahme an den Predigten und am Abendmahl ausgezeichnet hatte. 187 Der neue Schultheiß, der den nach der Spezialvisitation von 1598/ 99 abgesetzten Jakob Köblin in Urbach ersetzen sollte, wurde vom Kirchenratsdirektor Balthasar Eisengrein persönlich „einer gantzen vor dem rathauß versambleten gemaindt præsentirt“. Dabei nutzte Eisengrein die Gelegenheit, den Urbachern „Ir bißhero gefüehrt ärgerlich vnd rohloß leben ausfüehrlich vnd nach notturfft [zu] verwisen vnd darauf mit ernst dahin [zu erinnern], das sie Ins künfftig die predigen vnd H. Sacrament mitt mererem vleiß, dan bißhero beschehen, besuochen, ob E.F.G. ordnung mitt großeren ernst halten, dem fleckhen ein nutzlich haußhaltung anstellen vnd sonsten Insgmein sich eines Christlichen Erbaren Lebens bevleißen“. 188 In dieser Ansprache des Kirchenratsdirektors verdichten sich die Ansprüche der Obrigkeit an die Gemeinden. Ein ehrbarer christlicher Lebenswandel bestand demnach im Wesentlichen aus dem Besuch der Gottesdienste, der Teilnahme am Abendmahl sowie einer ordentlichen Haushaltung im Ort. Nur durch deren Einhaltung könne der in Urbach vorgefundene „Barbarisch vnuerstand In glaubenssachen“ 189 mit der Zeit bewältigt werden. Mit seiner öffentlich inszenierten Ermahnung der Gemeinde machte Eisengrein als hoher Vertreter der Kirchenleitung allen Anwesenden die Ansprüche der Landeskirche und Landesherrschaft mehr als deutlich. Bei weniger auffälligen Gemeinden sind in den Akten eben um „geliebtter Kürtze wegen“ 190 weitaus weniger Nennungen zu erwarten. Die Durchsicht der 185 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 56v. 186 HStAS A281/ 1122, S. 28. Auch in der Frühjahrsvisitation 1611 wurde mit Erleichterung festgestellt: „Das bös widerteüfferisch nest zu Vrbach ist durch fleißige inspection der amptleütt vnd des Superintendenten zerstört.“ LKA A26/ 466 II, f. 139r. 187 Vgl. oben Kap. 5.2.1. 188 HStAS A282/ 3094c, Nr. 19, f. 4v-3r. 189 HStAS A282/ 3094c, Nr. 19, f. 4v. 190 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 56v. <?page no="249"?> 250 Visitationsprotokolle für das Amt Schorndorf bestätigt die These Bruce Tolleys, dass der Kirchenbesuch der württembergischen Bevölkerung als durchschnittlich gelten kann. 191 Tolley hat allerdings auch festgestellt, dass bestimmte Gottesdienste weniger frequentiert wurden als andere: So waren die sonntäglichen Vesperpredigten im späten 16. Jahrhundert in den protestantischen Territorien gemeinhin schlecht besucht. 192 Am ehesten wurde an den Sonntags- und Morgengottesdiensten teilgenommen, weniger dagegen an den Abendgottesdiensten unter der Woche oder den sonntäglichen Nachmittagsgottesdiensten. Der Katechismusgottesdienst schien außerdem in ländlichen Regionen unbeliebt zu sein, besonders wenn er sich nicht in den agrarischen Arbeitsrhythmus integrieren ließ. 193 Insgesamt sei in Württemberg Tolley zufolge keine „widespread disaffection“ der Bevölkerung gegenüber den lutherischen Gottesdiensten festzustellen. 194 Die württembergische Kirchenleitung gab sich mit der Situation weitgehend zufrieden, obwohl sie die Lage durch die Visitationen stets zu beobachten und bei Bedarf korrigierend einzugreifen suchte. 195 5.3. Fazit Das Anliegen der im Entstehen begriffenen württembergischen Landeskirche war es im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, gesellschaftliche Besserung voranzutreiben, indem auch die unterste Verwaltungsebene durch ihr Amtsverhal- 191 Insgesamt schätzt Tolley die Teilnahmefreudigkeit der Bevölkerung an den Gottesdiensten in Württemberg war zwar geringer als etwa in Straßburg, aber höher als in Sachsen ein. Tolley, Pastors and Parishioners, S. 73. Hiermit verweist er gleichzeitig auf die Debatte, die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in Anschluss an die kritische Studie von Gerald Strauss um den Erfolg bzw. Misserfolg der Reformation geführt wurde. Hatte Strauss am sächsischen Material die Teilnahmeintensität der Bevölkerung an den Gottesdiensten bemängelt, beobachtete James M. Kittelson in Straßburg weitaus mehr Partizipation. Kittelson, Successes and Failures; Strauss, Luther’s House of Learning. 192 Ebd., S. 74-77. Siehe auch Labouvie, Verbotene Künste, S. 204; Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk“, S. 54. 193 Tolley, Pastors and Parishioners, S. 75. 194 Tolley weist weiter auf die Wichtigkeit hin, die Synodusprotokolle seriell zu betrachten, da Stichproben einzelner Jahrgänge aufgrund der großen Variation in der Kirchgangfrequenz der Dorfbewohner zu Fehleinschätzungen führen können. Insgesamt schien die Teilnahmefreudigkeit je nach Veranstaltung und ggf. je nach Ort stark zu variieren. Letzteres ist ein Befund, der in der französischen Forschung laut Tolley längst anerkannt ist, in der deutschen dagegen nicht. Ebd., S. 73, 77, 159f. (Anm. 44). 195 Tolley, Pastors and Parishioners, S. 73. Eine stichprobenartige Bewertung der Visitationsbefunde des Jahres 1581 im Schorndorfer Amt bestätigt diese Einsicht. Insgesamt bewerteten die Visitatoren hier 22 Pfarrer, von denen sie vier (ca. 18,2%) als vorbildlich und acht (ca. 36,4 %) als neutral einstuften. Gegen drei (ca. 13,6 %) hatten die Visitatoren etwas einzuwenden und sieben (ca. 31,8 %) wurden nicht explizit bewertet, d. h. es gab nichts gegen sie einzuwenden. Mehr oder weniger zufrieden war man also mit der Amtsverrichtung von 19 von 22 Pfarrern (ca. 86,4 %). Vgl. LKA A1/ 1581, f. 77r-84v. <?page no="250"?> 251 ten das Ansehen der Landeskirche förderte oder zumindest nicht unterminierte. Diese Leistungen waren in den Visitationen regelmäßig zu überprüfen. In die Einschätzung der Kirchendiener flossen die religiösen Zustände in den Gemeinden mit ein, an denen der Ertrag der geistlichen Arbeit der Pfarrer vor Ort zumindest bis zu einem gewissen Punkt abgelesen bzw. verglichen werden konnte. Da die moralische Besserung der Bevölkerung nach Auffassung der Kirchenleitung zumindest grundlegende Kenntnisse der lutherischen Lehren voraussetzte, so wurde in den Visitationen als unchristlich befundene Lebensführung der Gemeindemitglieder entweder auf deren mangelnde Wissensbasis oder Ignoranz zurückgeführt. An dieser Stelle sollte die Arbeit der Kirchen- und Schuldiener vor Ort ansetzen - und diese Arbeit wurde durch die Überprüfung der Gemeindemitglieder evaluiert. 196 Die Kontrolle der Gemeindemitglieder war, wenn nicht ausschließlich, so dennoch im Wesentlichen eine weitere Überprüfung der Leistungen der kirchlichen Amtsträger vor Ort. Die Dorfbewohner erscheinen in mindestens drei unterschiedlichen Rollen in den Visitationsprotokollen: Erstens als Mitglieder der lokalen Ehrbarkeit, die aufgrund ihres Amtes in der Visitation anwesend waren, zweitens als Informanten über suspekte Personen in der Gemeinde und drittens als potentielle oder offenkundige religiöse oder moralische Dissidenten. Diese Kategorien konnten sich auch überlappen, etwa wenn ein Schultheiß, Richter oder Ratsherr aufgrund eines Täufereiverdachts zur Examination vorgeladen wurde. Die von der Kirchenleitung an die Gemeinden gestellten Erwartungen betrafen in erster Linie die Teilnahme an den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern, die neben dem Katechismusunterricht der Verinnerlichung lutherischer Lehren und Normen durch das Hören und Einprägen von Gottes Wort dienen sollten. Entscheidend war in dem untersuchten Zeitraum die äußere Anpassung an das kirchliche Leben. Damit sind zwei in der Forschung vertretene Positionen zur Funktion der Visitationen zusammengeführt: Geht es der einen Ansicht nach um die primäre Kontrolle der Pfarrer, setzen andere die Überprüfung der Gemeinden in den Mittelpunkt. 197 Statt von einem dualistischen Modell - entweder Kirchendiener oder Bevölkerung als Adressaten der Visitationen - scheint es sinnvoller davon auszugehen, dass sie beide in den Visitationen überprüft wurden und die Erkenntnisse 196 Gemessen wurde sie u. a. anhand der Katechismuskenntnisse der Bevölkerung, vgl. Strauss, Luther’s House of Learning, S. 255. 197 Helga Schnabel-Schüle hat für die nachreformatorischen protestantischen Visitationen betont, hier sei im Unterschied zu den mittelalterlichen Visitationen der Fokus statt auf den Klerus „deutlich erkennbar auf die Gemeinde“ gelegt geworden. „Dem entspricht die Tatsache, daß es nun kaum mehr Mittelpunktvisitationen gab, sondern die einzelnen Gemeinden wirklich besucht und vor Ort überprüft und befragt wurden.“ Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 178. Siehe auch Dies., Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 32f. Ähnlich urteilt Konersmann, Kirchenvisitation, S. 622f. Achim Landwehr dagegen sieht es als „nicht vordergründiges Ziel der Visitationen“ an, „die Bevölkerung, sprich die Programmadressaten, zu kontrollieren, sondern es waren die Programmanwender, die im Zentrum des Interesses standen“. Landwehr, Policey im Alltag, S. 109. <?page no="251"?> 252 von den Visitatoren in Zusammenhang gebracht werden konnten. Im Vordergrund stand jedoch die Amts- und Lebensführer der Pfarrer. Gemessen wurde die Erfüllung ihrer Aufgabe als Normanwender u. a. an den religiösen und sittlichen Zustände der Gemeinde. In diesen Bereichen beobachtete Mängel wurden indes nicht allein als Verschulden der Geistlichen interpretiert, doch wurde ihnen eine prominente Rolle in deren Verhinderung und Beseitigung zugewiesen. Gleichzeitig wurden sie als Diener der entstehenden Landeskirche in ihrem Amt eingeübt und erzogen, so dass sie in der Lage sein sollten, ihre Aufgaben immer besser nach den Vorstellungen der Kirchenleitung auszuführen. Neben die Kontrolle der Kirchendiener trat hier also der Aspekt des professionellen Trainings hinzu. Doch ging es in den Visitationen nicht ausschließlich um von ‚oben‘ ausgeübte Macht, Kontrolle oder die Zurschaustellung einer christlichen Obrigkeit. Auch die Bevölkerung konnte sie zum Vortragen ihrer kirchlich-religiösen Anliegen, Austragen von dörflichen Konflikten sowie Aushandeln der eigenen Spielräume nutzen. 198 Die an die Gemeinde gerichtete Frage nach dem Lebenswandel der Pfarrer einerseits und dissentierende Verhaltensweisen unter den Dorfbewohnern andererseits boten die Möglichkeit, dörfliche Konflikte vor die Visitation zu bringen. So werden die in die Visitationen eingebundenen lokalen Kräftefelder v. a. in Konflikten sichtbar, die vor der Visitation ausgetragen wurden. Hierbei lassen sich Argumentationsmuster und Strategien der Kontrahenten beobachten, mit denen sie die Visitatoren von ihrem Anliegen zu überzeugen und gleichzeitig die Gegenseite zu schmähen und deren Vorwürfe von sich zu weisen suchten. Durch das Anbringen lokaler Konflikte vor die Visitation machten sich die Dorfbewohner das obrigkeitliche ‚Kontrollinstrument‘ zu eigen und versuchten mit obrigkeitlicher Legitimation ihre Interessen durchzusetzen. In vielen vor die Visitation gebrachten Streitfällen zeigt sich ein Bemühen der Kirchenleitung nach Konfliktbeilegung und Versöhnung der Kontrahenten, in den Protokollen gewöhnlich mit dem zeitgenössischen Begriffder ‚Vergleichung‘ umschrieben. 199 Vermittelnd eingegriffen wurde sowohl in Streitigkeiten zwischen Pfarrer und Gemeinde als auch in Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Dorfbewohnern. 200 Man kann Bruce Tolleys Beobachtung zustimmen, dass die Rolle der Kirche in der Beilegung von dorfinternen Konflikten in Württemberg weit wichtiger gewesen ist, als in der bisherigen Forschung angenommen. Tolley sieht die Mediationstätigkeit der Visitatoren als genauso wichtige soziale Funktion der Kirche an wie die Ausübung von Macht und Kontrolle. 201 Weitere Unterstützung erfährt diese These aus der neueren Forschung zu frühneuzeitlichen Sondergruppen, für die André Holenstein und Sabine Ullmann 198 Konersmann, Kirchenvisitation, S. 617. 199 Siehe z. B. LKA A1/ 1585 II, f. 76v, 84r; LKA A1/ 1586 II, f. 93v; LKA A1/ 1588 I, f. 89v; LKA A1/ 1590, f. 90r. 200 Für die Schlichtung innerdörflicher Konflikte siehe z. B. LKA A1/ 1585 II, f. 76v; LKA A1/ 1590, f. 90r. 201 Tolley, Pastors and Parishioners, S. 112. <?page no="252"?> 253 stellvertretend herangezogen werden können. Sie weisen darauf hin, dass die in der dörflichen Gemeinschaft inhärenten Konfliktmomente es notwendig machten, „obrigkeitliche Behörden und ihre Gerichte“ als Vermittler heranzuziehen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die obrigkeitliche Mediation in den Gemeinden gruppenübergreifend akzeptiert und angestrebt wurde. 202 Es lag sowohl der Kirchenleitung als auch der Bevölkerung Vieles daran, die dörflichen Auseinandersetzungen auszuräumen und nach Möglichkeit eine Situation wieder herzustellen, in der die Kontrahenten zumindest koexistieren konnten. 203 Indem die Visitation vermittelnd in die lokalen Konflikte eintrat, unterstrich sie jedoch gleichzeitig in aller Deutlichkeit ihre eigene Bedeutung als zuständige und notwendige Instanz für die (Wieder-)Herstellung und Sicherung des Gemeinwohls und dadurch zur zunehmenden Besserung der Gesellschaft. Neben den obrigkeitlichen Bemühungen, ihre Herrschaft wirkungsmächtig zu inszenzieren, bleibt allerdings der Umstand festzuhalten, dass sie nur in dem Maße Chancen auf ein erfolgreiches Eingreifen in die lokalen Konflikte - und die lokalen Gegebenheiten überhaupt - hatten, wie die Gemeinden dies zuließen. 204 Für die Spielräume und Strategien der Betroffenen in der Visitation bleibt abschließend festzuhalten, dass sich aus der Bereitschaft der Kirchenleitung zu Konfliktschlichtung und Kompromissen Verhandlungsmöglichkeiten für die Teilnehmer ergaben. Je geschickter sich die jeweiligen Protagonisten in der Visitation agierten und argumentierten, desto mehr Freiräume konnten sie sich schaffen bzw. erhalten. Plausible Argumente konnten in den Auseinandersetzungen etwas bewirken, weil der Ausgang der Verhandlungen zunächst offen war. Die Visitatoren konnten sich genauso gut auf die Seite der Pfarrer als der Gemeinde stellen, je nach dem wen sie im Recht sahen, d. h. wer die überzeugenderen Argumente vorbrachte und durch ein demütiges Auftreten die Legitimation der Visitation - und dadurch von Landeskirche und Landesherrschaft - anerkannte. Entsprechend mussten die Argumente der Parteien mit den Interessen bzw. Normen der Kirchenleitung in Einklang gebracht werden. Religiöse Begriffe bzw. Kriterien wie etwa schlechtes Predigen des Pfarrers konnten hier von Nutzen sein. Man hatte aber auch mit materiellen Gesichtspunkten Aussichten auf Erfolg, wenn diese die obrigkeitlich anerkannten Werte von gesellschaftlicher Harmonie und guter Ordnung grundlegend bedrohten. Konnte man etwa die Visitatoren davon überzeugen, dass die gegnerische Haltung bzw. Handlungsweise dem Ansehen der Landeskirche oder Landesherrschaft schade, hatte man die Möglichkeit, Gehör zu finden. In manchen Konflikten, die im Dorf entbrann- 202 Zu Recht weisen die Autoren auf die grundlegende Bedeutung dieses Befundes für die gesamte Frühneuzeitforschung: „Es stellt sich hier die Frage nach dem Gewicht von lokalen Faktoren für den Prozeß der Staatsbildung.“ Holenstein & Ullmann, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘, S. 29. Zur gruppenübergreifenden Nachfrage der Konfliktregulierung siehe auch Davis, Fiction in the Archives, S. 51. 203 Vgl. Schmidt, Dorf und Religion, S. 298. 204 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 139; Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 181. <?page no="253"?> 254 ten, wurden die Täufer von den Kontrahenten als argumentative Waffe genutzt, um sich gegenüber ihren Widersachern einen Vorteil zu verschaffen. In Urbach und Rudersberg wurden die schlechte Haushaltung im Ort von den dortigem Pfarrer bzw. einigen Dorfbewohnern mit der Duldung der Täufer verknüpft. Die gegen die Ehrbarkeit erhobenen Vorwürfe gewannen somit deutlich an Schärfe. Insgesamt zeigen die Visitationsprotokolle des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, dass die Dorfbewohner bis zu diesem Zeitpunkt einen flexiblen und kreativen Umgang mit dem erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in ihrer nachreformatorischen Ausformung in das Dorf getragene Kommunikationsforum der Visitation gelernt hatten. 205 205 Vgl. Landwehr, Policey vor Ort, S. 54; Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, S. 252f. <?page no="254"?> 255 6. Die als Täufer Vorgeladenen und ihre Spielräume 6.1. Der Prozess des Täufer-Werdens 6.1.1. Die Suche nach den Sektierern Den letzten Tagesordnungspunkt einer Visitation stellte die Frage nach Täufern oder sonstigen ‚Sektierern‘ in der Gemeinde dar. Nachlässiger Kirchgang und Abendmahlsverweigerung waren erste Indizien, welche die Betroffenen verstärkt in das Blickfeld der örtlichen Pfarrer rücken ließen. Die vorgetragenen Fälle hatten allerdings immer eine Vorgeschichte, die sich über einen Zeitraum von einigen Monaten bis mehr als zwei Jahrzehnte erstrecken konnte. Ein bestimmter zeitlicher Vorlauf war in den Visitations- und Täuferordnungen vorgesehen. Die Visitationsordnung von 1559 etwa schrieb vor, der Pfarrer habe gotteslästerliche und unbußfertige Personen in seiner Gemeinde, die statt ihre verwerflichen Lebensweisen aufzugeben, sich vom Abendmahl fernhielten, zunächst unter vier Augen anzusprechen. Folgte auf eine „solche privat Predig kein besserung“, sollte der Pfarrer den Fall bei seinem Vorgesetzen, dem Spezialis, anzeigen. Dieser habe dann seinerseits zusammen mit dem Pfarrer und zwei Mitgliedern des örtlichen Ruggerichts die betroffene Person erneut zur „besserung und Buoß“ zu ermahnen. Sollte selbst die Heranziehung der lokalen Amtsträger und dadurch der lokalen Öffentlichkeit nichts helfen, war ein schriftlicher Bericht an den Generalis zu richten, der diesen weiter an den Synodus zu leiten hatte. Das Verfahren konnte bis hin zur öffentlichen Exkommunikation des Dissidenten reichen. 1 In besonders schwerwiegenden Fällen, deren Bestrafung „one merckliche ergernuß unnd nachtheil“ nicht aufgeschoben werden konnte, war es der Visitationsordnung von 1559 zufolge notwendig, Maßnahmen auch außerhalb der regulären Visitationen zu ergreifen. An dieser Stelle sollten die gültige Täuferordnung und die ergänzenden Bestimmungen herangezogen werden. 2 Die Täuferordnung von 1571 schrieb für das Verfahren vor, man sollte diejenigen Täufer und Täuferinnen, die keine Vorsteher seien, zunächst vom Pfarrer „freundtlich“ ansprechen zu lassen und sie in der Frage zu unterrichten. Den Betroffenen war bis zur nächsten Visitation Zeit zur Besserung einzuräumen; allerdings sollte der Pfarrer innerhalb dieser Frist möglichst zwei oder mehrere Male mit ihnen „anhaltten vnnd anmanung thun“. 3 Die den Dissidenten gewährten Besserungsfris- 1 Arend, Kirchenordnungen, S. 392; Landwehr, Policey im Alltag, S. 101. 2 Arend, Kirchenordnungen, S. 392f. 3 Dieses Verfahren war bereits vor 1571 angewandt worden und wurde in der Kirchenleitung <?page no="255"?> 256 ten wurden in der Praxis meist großzügiger ausgelegt als hier in den Vorschriften festgehalten, was auch der zeitgenössischen Rechtssprechung entsprach, die jeweiligen Umstände eines Falles zu berücksichtigen und stets die Möglichkeit der Begnadigung nach einer erfolgten Besserung einzuräumen. 4 Die Personen, bei denen aber kein Verhaltenswandel zu sehen war, hatte der Pfarrer in der nächsten Visitation anzuzeigen. Gelangte man auch in der Visitation zu keinem Einvernehmen, war der Fall weiter an die Kanzlei zu reichen. Konnte der oder die Vorgeladene die Kanzlei davon überzeugen, dass sie nicht den Täufern angehörte, sollte man die Person auf ihr Versprechen und eine unterzeichnete Verschreibung hin entlassen, sie würde in Zukunft fleißig die Predigten besuchen, keine Kontakte zu den Täufern pflegen und insgesamt „In allen anndern sachen aller christenlichen gebür vnnd gehorsam“ erzeigen. Durch Reue, Demut und christlichen Gehorsam konnten also auch ehemalige Täufer Vergebung erhalten. 5 Diejenigen aber, die sich nach der Examination vor der Visitation und der Kanzlei nicht zur Vernunft bringen ließen, sollten „ain zeittlang“ in Gefangenschaft gehalten werden, damit sie „der sach baß vnnd nottürftiglich nachgedenckhen“ könnten. Auch diese Bedenkzeit sollte von Unterrichtung in Glaubenssachen begleitet werden. 6 Sollte auch diese Maßnahme zu keinem Gesinnungswandel führen, hatte man die betroffene Person fortan wie „einen vngehorsamen vnnderthonen, der weder trew noch Aid der herrschafft geben will“, zu behandeln. Letztendlich sollten sie aus dem Herzogtum verwiesen werden, sofern es sich um keinen Vorsteher handelte. 7 An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr das Täufertum mit Ungehorsam der weltlichen Obrigkeit gegenüber in Verbindung gebracht wurde. Die Täufer standen aus der Sicht der Normgeber nicht nur für die Absage an die lutherische Landeskirche, sondern eben auch an die - eng damit verwobene - Landesherrschaft. Den Visitatoren standen mehrere Zuordnungsmöglichkeiten für die Dissidenten zur Verfügung, angefangen mit den wegen ihrer Einfalt in die Irre geführten Anhängern und Anhängerinnen über die hartnäckigen Täufer und Täuferinnen bis hin zu den missionierenden Täuferanführern, denen es besonders hart nachzusetzen galt. 8 Daneben existierten weitere Kategorien der religiösen Devianz - etwa die der Sakramentsverächter, Spötter, Epikurer oder Schwenckfelder -, die aber zumindest in den Protokollen des Schorndorfer Amtes seltener gebraucht auch weiterhin als ausreichend befunden. HStAS A63/ 42, f. 31r. 4 Vgl. Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen, S. 124; Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 53f., 82-85. 5 HStAS A63/ 42, f. 31r-31v. Dieses Verfahren war auch für diejenigen nicht-wiedergetauften Personen vorgesehen, die noch vor ihrer Anhörung das Herzogtum verlassen hatten, doch später Reue zeigten, sowie für reumütige als Täufer des Landes verwiesene Personen. HStAS A63/ 42, f. 32v. Zur geforderten Demut siehe auch Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 107. 6 HStAS A63/ 42, f. 33r. 7 Den Vorstehern sollte durch den Landesverweis keine Möglichkeit gegeben werden, in anderen Regionen zu predigen. HStAS A63/ 42, f. 33v-34r. 8 Vgl. oben Kap. 3.2. <?page no="256"?> 257 wurden. Deswegen wird im Folgenden das Hauptaugenmerk weiterhin auf dem Täufertum liegen. Die in den Täuferordnungen aufgestellten Kategorien des Täufertums spiegeln gleichzeitig die vorgesehenen verschiedenen Etappen einer standfesten täuferischen ‚Karriere‘ wider, der mit der ersten Nennung in den Akten beginnt und über mehrmaliges Verhandeln, Examinieren und von Mal zu Mal härter werdenden Maßnahmen zuletzt in Haftstrafen, Güterkonfiskationen und dem Landesverweis enden konnten. Meistens wurden die ersten Nennungen in den Akten recht knapp protokolliert und der Stand der Dinge sachlich festgehalten. Die verdächtigten Personen sollten zunächst in ihrem Verhalten beobachtet und durch den Pfarrer oder Spezialis zu ihren Auffassungen befragt werden, um bei Bedarf weitere Schritte gegen sie vorzunehmen. Dies zeigt etwa der Fall Geradstetten im Herbst 1615, als zwei Dorfbewohnern täuferische Sympathien unterstellt wurden: „Es sollen auch an disem ort Vlrich Hawer vnd Christina Hans Maÿers wittib deß widertauffs halben verdacht sein, vffwelche gutte achtung zu geben [...] beuolhen worden.“ 9 Der Synodus ordnete als weitere Maßnahme an, dem Spezialis und Untervogt zu Schorndorf zu befehlen, „die Personen vorzufordern, vffdie widertäufferische articul zuexaminiren vnd in der Religion nottwendig zu informiren“. Gleichzeitig war die Gesamtsituation im Ort zu berücksichtigen, „damit diser schwarm im flecken nit über hand nemme“. 10 Es war jeweils in der nächsten Visitation zu berichten, „wessen sich solche Personen erclert“ hätten. Ulrich Hauer und Christina Mayer entgingen weiteren Untersuchungen unmittelbar nach der Visitation, da sie das Versprechen ablegten, „in Zukunft fleißiger die Predigten zu besuchen“. Dennoch sollte der Pfarrer in Geradstetten sie weiterhin im Auge behalten. 11 In und zwischen der nächsten Visitationen standen sowohl Christina Mayer als auch Ulrich Hauer in Bezug auf ihre Aussagen und ihr Verhalten unter erhöhtem Konformitätsdruck, wollten sie weiteren Vorladungen und Maßnahmen entgehen. In der nächsten Visitation im Frühjahr 1616 wurde Christina Mayer erneut examiniert. Sie habe nicht nur „auf die proponirte articulos zimlich fein respondirt“, sondern auch „rund bekendt, sie halte nichts auf der widerteüffer glauben“. Statt dessen machte sie deutlich, sie sei allein „deswegen in disen verdacht kommen, weil sie gesehen worden, am ein Sonntag vnder der predig mit etlichen vnbekandten leütten über felder reisen“. 12 Christina verwies hierbei auf die Dyna- 9 LKA A26/ 466 II, f. 167v. 10 LKA A26/ 466 II, f. 167v. 11 LKA A26/ 466 II, f. 167v, 173v-174r. 12 LKA A26/ 466 II, f. 174r. Ähnlich beklagte sich der Knecht Wolff Schwarz aus Geradstetten im Jahre 1573, sobald „etliche Junge gesellen zusamen kommen an den feiertagen, habe man ain geschwetz gemacht, sie seien widerteuffer“. Offensichtlich war Schwarz unter Täufereiverdacht geraten, ein Vorwurf, den er mit der Angabe von sich wies, zu Weihnachten kommuniziert zu <?page no="257"?> 258 mik der lokalen Öffentlichkeit, die einem ggf. bereits aufgrund kleinster Indizien als Täufer bzw. Täuferin abstempeln konnte. In ihrem Fall habe es ausgereicht, dass sie in unbekannter - und daher verdächtiger - Gesellschaft zu einem Zeitpunkt gesehen worden war, an dem sie den Vorschriften nach am Gottesdienst hätte teilnehmen sollen. Das Beispiel Christina Mayers weist anschaulich auf die Praxis der Visitatoren hin, ihr Urteil nicht alleine aufgrund der persönlichen Eindrücke in der Visitation und den Aussagen der oder des Examinierten zu fassen. Neben den Auskünften der Pfarrer gingen sie Hinweisen von Seiten den Dorfbewohnern ernsthaft nach. Christina Mayer scheint es in der Visitation gelungen zu sein, den gegen sie gerichteten Verdacht abzuweisen, indem sie auf Lehrfragen aus lutherischer Warte richtig antworten konnte, sich explizit von den Täufern distanzierte und offensichtlich auf eine den Visitatoren einleuchtende Weise auf das Gerede im Dorf verwies, das sie zu Unrecht der Täuferei bezichtigt hatte. Auch Ulrich Hauer konnte sich in den nächsten Visitationen aus einer prekären Situation hinausmanövrieren, obwohl er den Visitatoren aufgrund seiner Aussagen und Kontakte als potentieller Täufer erschien. Im Frühjahr 1616 konnten die Visitatoren festhalten, Hauer habe versprochen, in Zukunft fleißiger die Predigten zu hören. Seine Kontakte zum landesverwiesenen Täufer Konrad Banholtz habe er konsequent abgestritten. In der Frage der Rechtfertigung musste Hauer seinen Standpunkt schließlich aufgeben, man werde selig, „wan man fromb seÿ“. Nach einer offensichtlich längeren Auseinandersetzung mit dem Spezialis habe er „endtlich bekendt“, dass „wier durch den glauben an Christum mießen seelig werden“. So entging Hauer zwar weiteren Maßnahmen, doch sollten Pfarrer und Spezialis ihn weiterhin beobachten und in der nächsten Visitation erneut über seinen Lebenswandel berichten. 13 Es folgten allerdings keine weiteren Nennungen mehr in den Akten; scheinbar konnte sich Hauer weiteren Vorladungen entziehen oder diese wurden nicht in den Protokollen aufgenommen. 14 Es ist anzunehmen, dass wiederholte Vorladungen in den Visitationen oder vor das Konsistorium das Nachdenken der Betroffenen über die eigenen Auffassungen intensiviert haben. Musste man sich in bestimmten Punkten rechtfertigen, gehörte dies zur natürlichen Vorbereitung auf die Vernehmung. Spätestens in der Visitation musste man Stellung beziehen. Fielen die Erfahrungen mit den offiziellen Normen, Praktiken und Vertretern der Obrigkeit wiederholt negativ aus, konnte dies zur Entstehung einer Identität als Dissident oder - falls eine enge Bedingung zu einer Gruppe mit spezifisch täuferischem Selbstverständnis vorlag - als Täufer beitragen. Was Caroline Gritschke für die süddeutschen Schwenckfelder beobachtet hat, trifft ebenfalls auf die mutmaßlichen Täufer und Täuferinnen des Schorndorfer Amtes zu. Es bildeten sich haben. Im Frühjahr 1574 wurde berichtet, dass er die Gottesdienste besuche und eine Teilnahme am Abendmahl in Aussicht gestellt habe. LKA A26/ 466 I, f. 15r, 46r. 13 LKA A26/ 466 II, f. 173v-174r. 14 Letzteres dürfte allerdings nach dem Aktenkundig-Werden Hauers weniger wahrscheinlich sein. Auch Todesfälle ehemaliger Täufer wurden insbesondere in den hartnäckigen Fällen vielfach verzeichnet. <?page no="258"?> 259 „ganz allmählich feste religiöse Trennlinien [heraus], die beide Seiten erst entstehen ließen: das lutherische Bekenntnis als einzige erlaubte Variante des Protestantismus in den oberdeutschen Reichsstädten und das Schwenckfeldertum als eine dissidentische religiöse Gemeinschaft.“ 15 Den Visitationsprotokollen und Täuferakten des Schorndorfer Amtes nach zu urteilen, bestand das ländliche Täufertum im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert v. a. in der Ablehnung der lutherischen Normen und des Konformitätsdruckes der Landeskirche. Entsprechend ist explizite Kritik an der Landeskirche und den lutherischen Praktiken insbesondere in den Aussagen derjenigen Personen zu finden, die von den Visitatoren als eigensinnige Täufer und Täuferinnen klassifiziert wurden. 16 Ein gutes Beispiel für die Verdichtung des Täufereiverdachts und die gleichzeitige Verhärtung der Fronten bietet Maria Faut aus Schlechtbach. Sie stand im Herbst 1614 „in starckem verdacht“, eine Täuferin zu sein. Diese Mutmaßung beruhte darauf, dass „sie selten in den predigen gesehen wirdt“ und seit drei Jahren nicht kommuniziert hatte. 17 Erschwerend kam dazu, dass bereits Marias Vater als Täufer angesehen worden war und die Visitatoren davon ausgingen, dass sie von ihm „Irr gemacht worden“ sei. 18 Einen Bedarf für die Anpassung an die lutherischen Lehren habe Maria nicht gesehen, und sie habe auch nicht „erklären wöllen, ob sie in die kirchen vnd zum Sacrament gehn wölle oder nit“. Vielmehr habe sie verlauten lassen, sie „gedenck eben, sie wöls bleiben laßen“. Der Synodus ordnete daraufhin an, Maria Faut sei durch das Konsistorium „vffdie widertäufferische articul“ zu überprüfen. Die Examination fand im März 1615 statt. Als Maria Faut - der Ansicht der Visitatoren nach „ohn allen grund“ - an ihren Auffassungen festhielt, obwohl sie über diese „weder red noch antwurtt geben“ konnte, wurde sie eine zeitlang in Schorndorf in Gefangenschaft gehalten. 19 Im Frühjahr 1616 hieß es dann, Maria „beharrt auf ihrem widerteüfferischen kopff“, u. a. weil sie dem Spezialis gesagt haben soll, „sie kend vnd wöll mit vnser kirchen vnd communion nichts zu thun haben“. Weil Maria Faut aber niemanden zu verführen versuchte, ließ der Synodus sie jedoch „nicht wie andere an Kettin“ legen. Doch sowohl Pfarrer als auch Spezialis sollten jeweils ihr „officium thun“, d. h. Maria im Auge behalten und sie in Glaubensfragen belehren. 20 Es stellte sich allerdings keine Veränderung ein. Im Frühling 1617 blieb sie weiterhin, „auch über vilfeltige erinnerung auf ihrem halßsterrigen Irrtumb“ und wollte „weder 15 Gritschke, „Via Media“, S. 357f. 16 Vgl. Glebe, Anabaptists in their Hearts? , S. 224f., die die Enttäuschung vieler hessischer Dorfbewohner an der lutherischen Reformation als zentralen Grund für ihre täuferischen Sympathien nennt. 17 LKA A26/ 466 II, f. 159r. 18 LKA A26/ 466 II, f. 159r. 19 LKA A26/ 466 II, f. 159r, 161r, 167r. 20 LKA A26/ 466 II, f. 173r. Im Frühjahr 1616 stand sie außerdem im Verdacht, nach Mähren auswandern zu wollen. LKA A26/ 466 II, f. 181r. <?page no="259"?> 260 zur kirchen, noch vnserer communion kommen“. 21 Letzten Endes wurde Maria Faut im Jahre 1619 mit dem Etikett „böse, streittige, halßstarrige widerteüfferin“ versehen. Sie konnte den Visitatoren zufolge zwar „ihres vnglaubens kein Rechenschafft“ ablegen, habe aber dennoch übermütig verkündet, „wan noch zehen special da weren, miesten sies nit bereden, das sie anders sinns wurdt“. 22 Maria Faut war nicht nur durch ihren Vater, sondern auch in der Auseinandersetzung mit den Visitatoren zur ‚Täuferin‘ gemacht worden. In die Ecke gedrängt - als Folge der Straf-, Druck- und Verfolgungsmaßnahmen - stellten sich auch andere explizit in die Reihen der Täufer. Über Maria Nießmüller aus Beutelsbach etwa, die einige Jahren zuvor als Täuferin ins Visier der Kirchenleitung geraten war, stellten die Visitatoren im Frühjahr 1617 fest, sie sei nach einer aufgrund versäumter Predigten auferlegten Haftstrafe nur noch „halssterriger vnd trutziger worden“. 23 Hans Vetter aus Geradstetten wiederum zerstritt sich um 1607/ 08 mit seinem Pfarrer, weil dieser sein Exemplar des Fundamentbuchs von Menno Simons konfisziert hatte. Vetter wollte daraufhin nicht eher kommunizieren, bis man ihm sein Buch erstattet habe. Als der Spezialis ihm das Angebot machte, den Preis für das Buch auszuzahlen, wenn dieser „der widerteüffer Sect verwerffe“, habe Vetter nicht nur den Widerruf seiner täuferischen Ansichten verweigert, sondern vielmehr „rund bekandt, das er zu den widerteüffern newlich zur predig gangen“. 24 Die Forderung des Pfarrers bewirkte somit genau das Gegenteil des Erhofften - Vetter bekannte nun explizit seine täuferischen Sympathien. In diesem Fall entbrannte der Konflikt an einem konkreten Gegenstand, dem zu konfiszierenden Buch, und führte zu weiteren Auseinandersetzungen. Vetters täuferische Aktivitäten gingen in den kommenden Jahren jedoch weit über Besitz eines verbotenen Buches hinaus. Im Jahre 1609 wurde er erneut aktenkundig, diesmal als „ausgetretten[er] widerteüffer“, der in Verdacht war, Menschen zur Teilnahme an täuferischen Versammlungen in Heinbach bei Esslingen zu überreden. 25 Zugespitzt kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Visitationen und die weiteren Formen der württembergischen Täuferpolitik die Einstellungen der Vorgeladenen polarisierten: Entweder sie gaben - zumindest augenscheinlich - den obrigkeitlichen Anforderungen nach oder sie nahmen zunehmend die Argumente und Handlungsweisen der ‚halsstarrigen Täufer‘ an, wie sie in den Täuferordnungen beschrieben waren. 26 Im Folgenden werden die Etappen im Prozess des Täufer-Werdens näher beleuchtet, angefangen von den Indizien, die Pfarrer wie Nachbarn auf mögliche Dissidenten aufmerksam machten, hin zu den Bezie- 21 LKA A26/ 466 II, f. 187r. 22 LKA A26/ 466 II, f. 205r. 23 LKA A26/ 466 II, f. 187v. Siehe auch HStAS A282/ 3091d, Nr. 2. 24 LKA A26/ 466 II, f. 107v-108r. 25 LKA A26/ 466 II, f. 127v. 26 Vgl. Mark Furners Überlegungen zu den persönlichen Umständen wie etwa der Familiensituation, die die eigene Haltung des Weiteren prägen konnten. Furner zufolge standen mutmaßliche Vorsteher unter größerem Druck zu widerrufen, wohingegen junge und unverheiratete Männer weniger zu verlieren hatten, wenn sie bei ihren Auffassungen blieben. Furner, Lay Casuistry, S. 431. <?page no="260"?> 261 hungen der Täufer und Täuferinnen innerhalb ihrer lokalen Gemeinschaft, die vielfach darüber entschieden, ob sie in den Visitationen angezeigt wurden bzw. inwiefern sie zwischen den Visitationen Unterstützung im Dorf erfuhren. 6.1.2. Erstes Zeichen: Der Rückzug aus dem kirchlichen Leben Als erstes Indiz für sektiererische Neigungen galt der Kirchenleitung ein längeres Fernbleiben von den Gottesdiensten und insbesondere vom Abendmahl. 27 In Geradstetten etwa machte sich der junge Hans Seifer im Jahre 1615 „des widertaufs halben Suspect“, weil er „selten in die kirchen [kompt]“. 28 Auch der 70jährige Konrad Faut aus Schlechtbach - möglicherweise ein verschwägerter Verwandter der oben genannten Maria Faut -, der ansonsten obrigkeitliche „gebott vnd verbott“ einhielt, wurde von den Visitatoren um 1610 wiederholt als Täufer vernommen, weil er die Teilnahme am Abendmahl weigerte und sich nicht in den Gottesdiensten blicken ließ. 29 Selbst einen nach abgelegtem Widerruf rückfällig gewordenen Täufer erkannte man daran, dass er sich aus dem kirchlichen Leben - insbesondere vom Tisch des Herrn - zurückzog. 30 Als geradezu idealtypische Beschreibung eines Täufers bzw. einer Täuferin kann die Diagnose der Visitatoren über die Urbacherin Barbara Halt im Frühjahr 1616 gelten: „Endris Halten Weib sol mit dem widerteüfferischen schwarm gantz eingenommen sein, geht zur keiner predig, communicirt auch nit.“ 31 Die täuferischen Standpunkte zum Abendmahl erläuterte die 40jährige Witwe Gertrud Schöpperlin aus Winterbach im Jahre 1602, die ihrer eigenen Aussage nach um 1582 von einem Schweizer Vorsteher wiedergetauft worden war: „von vnserm Ministerio vnd Kirchengehn heltt sie gar nichts vnd sagtt, was Sie in vnser Kirch beÿ solchen vnbußferttigen Sündern, da kein besserung, thun solte. Das Nachtmahl empfahe sie beÿ den Irigen, aber nicht beÿ vns, damit sie nicht vnser Sünd sich thailhafftig mache. Es seÿ auch Im Abendmahl nicht der leib vnd das blut Christi, sonder nur brott vnd wein, den Christus auffsein leib gedütten vnd disen allain zu seinem gedächtnus eingesetztt.“ 32 Dennoch waren bei weitem nicht alle nachlässigen Kirchgänger Täufer oder wurden von den Normgebern oder Nachbarn als solche interpretiert. 33 Ähnlich konnten nicht bei jedem, der die Teilnahme an der Kommunion verweigerte, 27 Siehe oben Kap. 3.2.2. und 5.2.3. Vgl. außerdem Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 597; Oyer, Nicodemites, S. 491. 28 LKA A26/ 466 II, f. 161r. 29 LKA A26/ 466 II, f. 126r, 136r. 30 LKA A26/ 466 I, f. 203v. 31 LKA A26/ 466 II, f. 175r. 32 HStAS A281/ 1120, S. 8. 33 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 434. Auf die Teilnahmepflicht und Teilnahmefreude der Bevölkerung am kirchlichen Leben ist bereits in Kapitel 5.2.3. näher eingegangen worden. <?page no="261"?> 262 täuferische oder sonstige häretische Auffassungen nachgewiesen werden. Freilich war die Grenzziehung nicht immer einfach, insbesondere da Eigensinn und Ungehorsam per se Attribute der Täufer waren. Das Fernbleiben vom Abendmahl als eigensinnige, ungehorsame Praxis erforderte von Seiten der Visitatoren demnach immer weitere Nachforschungen. Die Aussagen Margaretha Feyerabends aus Oppelsbohm im Herbst 1573 etwa bedurften weiterer Nachfragen, um ihre wahre Gesinnung aufdecken zu können. Margaretha zeigte sich zwar bereit, in die Kirche gehen zu wollen, aber mit Einschränkungen („nit alle son vnnd feiertag“). Innerhalb der letzten fünf oder sechs Wochen vor der Visitation sei sie nur einmal im Gottesdienst gewesen. Sie wollte nicht versprechen, das Abendmahl einzunehmen, „sagt sie könde die zehen gebott nit halten, darumb seÿ sie vnwürdig, nimpt khein vnderricht auß gottes wort an, verharrt streitig Inn Irem fürnemen“. 34 War sie nun eine Täuferin oder nicht? Es hat aufgrund der Visitationsprotokolle den Anschein, dass die Abendmahlsauffassungen der Bevölkerung in den Visitationen zu einem Gegenstand von wiederholten Debatten bzw. Missverständnissen zwischen Kirchenleitung und Laien wurden. 35 Die Schlüsselstelle für das Abendmahlsverständnis sowohl unter den Kirchengelehrten als auch beim Kirchenvolk war der erste Korintherbrief (1. Kor. 11: 27-29): 36 „Wer nun unwürdig von dem Brot isst oder aus dem Kelch des Herrn trinkt, der wird schuldig sein am Leib und Blut des Herrn. Der Mensch prüfe aber sich selbst, und so esse er von diesem Brot und trinke aus diesem Kelch. Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selber zum Gericht.“ 37 34 Der Synodus wollte Margaretha nach jeder versäumten Predigt ein Strafgeld einziehen. LKA A26/ 466 I, f. 12r -12v. 35 Siehe auch Kaul, Undankbare Gäste, S. 4f., 308f., der in diesem Zusammenhang von „interkultureller Kommunikation“ bzw. von einer „Abfolge interkultureller Kommunikationen“ zwischen den obrigkeitlichen Idealmodellen und ihren lokalen Appropriationen spricht. 36 Ein besonders plastisches Beispiel bietet Jakob Greiner aus Walkersbach, der im Herbst 1574 seine Abendmahlsverweigerung nicht nur im Lichte seines weltlichen Lebenswandels interpretierte, sondern seine spätere Bekehrung in Zusammenhang mit dem Korintherbrief stellte. Greiner schilderte, wie er sein bisheriges Leben verbracht habe, mehr den Äußerlichkeiten des Lebens wie Zehren oder Spielen nachgegangen sei als den geistlichen Tätigkeiten. Doch nun seien ihm die Worte des Apostels Paulus bekannt, wonach die unwürdige Teilnahme am Abendmahl Verdamnis mit sich ziehe. Greiner wolle nicht „schuldig am leib vnnd blut des herrn werden oder das Nachtmal zum gericht empfahen“. Auch sein Bruder Melchior wies in der selben Visitation explizit auf den Korintherbrief hin: „So doch paulus den Corinthiern verbiete das sie mit den offentlichen sündern nit essen sollen“. LKA A26/ 466 I, f. 70v-71r. Auch Hans Krätz aus Urbach verwies 1598 explizit auf diese Bibelstelle. Vgl. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 28. 37 Zit. nach der Lutherbibel von 1984. Bereits seit dem Frühmittelalter lässt sich eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage der Unwürdigkeit im Abendmahl aufzeigen, bei der es ein breites Spektrum von Auslegungen gab. Bei Augustinus etwa findet sich der Gedanke, dass man das Sakrament nur mit reinem Gewissen empfangen dürfe. Augustinus zufolge führte die Angst vor Unwürdigkeit bei vielen dazu, dass sie das Abendmahl gar nicht zu empfangen wagten. Bei anderen dagegen sei das Gegenteil zu beobachten - sie trauten sich nicht, „den Empfang nur <?page no="262"?> 263 Die meisten Hinweise der Dorfbewohner auf den Korintherbrief als Legitimation der Abendmahlsverweigerung blieben jedoch implizit. Mehrere der 1598 verhörten Urbacher erklärten in indirekter Anlehnung an diese Stelle, dass sie nicht am Abendmahl teilnehmen könnten, da sie sich außer Stande sahen, sündenlos und mit reinem Herzen zu leben. 38 Bezeichnend ist, dass sie von den Visitatoren weitgehend in das täuferische Spektrum eingeordnet wurden. In die Kategorie „Personen so ex profeßo Widerteüffer, sich aber auch berichten haben lassen“ fiel etwa Katharina Härer, die vier Jahre lang nicht kommuniziert hatte, weil sie „vnwürdig vnd nicht tüchtig gewesen“ sei. 39 Hans Halt habe als Ursache seiner Abendmahlsabstinenz angegeben, dass er sich „darzu nicht würdig befunden“ habe, da „sich einer also beraiten müsse, das er sauber seÿ“. 40 Auch diejenigen Urbacher, die im Jahre 1598 als hartnäckige Täufer und Täuferinnen klassifiziert wurden, rekurrierten auf die Unwürdigkeit. So erklärte Ursula Rubin, sie könne nicht am Abendmahl teilnehmen, weil sie nach Empfang desselben keine Besserung in ihrem eigenem Lebenswandel festgestellt habe, „sonder In grosse sünd gerahten vnd deßen vnwürdig seÿ“. Sobald sie aber den entsprechenden Zustand der Reinheit erlangt habe und „das hochzeittlich Kleid 41 könd anziehen“, versprach sie zu kommunizieren. 42 Doch nicht ausschließlich in Urbach - und keinesfalls ausschließlich in täuferischen Kreisen - wurde mit der Unwürdigkeit argumentiert. 43 Philipp Goll aus Steinenberg, der nicht als Täufer in Verdacht stand, gab im Frühjahr 1586 zu, er ginge zwar prinzipiell gerne zum Abendmahl und es würde ihm durchaus schwerfallen, sich davon zu enthalten. Doch er sah sich nicht imstande, ein dem Sakrament gemäßes christliches Leben zu führen, denn er „fall [...] wider in die sünd“. 44 einen Tag zu unterlassen“. Im Konzil von Trient wurde schließlich festgehalten, dass keiner, der eine Todsünde begangen habe, zum Abendmahl kommen dürfe. Ebenso müssten unbewusste Todsünden durch regelmäßige Beichten vor der Kommunion aufgedeckt werden. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, S. 93-95. 38 Möglicherweise kam hier auch eine Passage aus der in den Täuferkreisen allgemein angesehenen Bergpredigt zum Tragen (Mt. 5: 23-24). Vgl. auch Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 128, derzufolge neben dem Wunsch der sittlichen Erneuerung der Welt bei vielen gemeinen Täufern und Täuferinnen „in der Frage der Rechtfertigung der eigene Beitrag durch gute Werke mehr einleuchtete als die schwer zugängliche Lehre Luthers“. 39 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 22. 40 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 24. 41 Vgl. Mt. 22: 11f.; Offb. 19: 8. Dieser Verweis könnte auf schwenckfeldische Tendenzen hinweisen, da Schwenckfeld an mehreren Stellen in seinen Schriften auf das Gleichnis vom hochzeitlichen Kleid hinweist. Vgl. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, S. 96 (Anm. 913). 42 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 29. 43 Siehe auch Kaul, Undankbare Gäste, S. 300-302, der diese Praxis für Ulm belegt. 44 LKA A1/ 1586 I, f. 99r. In einer späteren Visitation wurde der Sündenkatalog Golls näher ausgeführt: Goll und einige weitere Männer in Steinenberg seien „verächter der predigen vnnd sacramenten, volle zapffen, verschwender, lose leichtfertige leuth vnnd böse streittköpff, an denen kein straffvnnd warnung hilfft“. Ein anderes Mal wurde berichtet, Goll habe nicht vom Pfarrer examiniert werden können, da er zu „bezecht“ gewesen sei, „vnnd nur mit dem pfarrer [habe] zanckhen wöllen“. Die Ansicht, Golls Lebenswandel ließe in wesentlichem Maße zu <?page no="263"?> 264 Im Kontext der Dorfgemeinschaft ist der Abendmahlsfeier eine fundamentale, wenn nicht gar konstitutive Rolle zugeschrieben worden. 45 Predigten und Abendmahl fungierten als „Vergemeinschaftungsriten“ innerhalb der Gemeinden, „die Freundschaft stiften und kommunale Harmonie voraussetzen“. 46 Wie Oliver Kaul für Ulm festgestellt hat, hatte die Frage um die Unwürdigkeit bei der Teilnahme am Abendmahl eine zentrale Bedeutung für die Laien. Hierbei spielten zwei Faktoren eine besondere Rolle: Erstens die offizielle Lehre vom Abendmahl, die „trotz gleichzeitiger Betonung des Trost- und Stärkungscharakter“ des Sakraments der Bevölkerung immer wieder nahelegte, dass ihnen beim unwürdigen Empfang „das Gericht in Form von Krankheit, Tod und dem Verlust des Seelenheils“ drohte. Dies veranlasste so manchen Zeitgenossen dazu (und zwar nicht selten in Absprache mit dem örtlichen Pfarrer) sich bis zur Lösung des Konflikts bzw. Besserung des eigenen Lebenswandels vom Abendmahl zu enthalten. Zweitens „ließ sich die Lehre vom unwürdigen Empfang mit dem zeitgenössischen Ehrdiskurs und den damit verbundenen Konfliktaustragungsstrategien vereinbaren“. 47 War die kommunale Harmonie zerbrochen, wurde auch die Teilnahme am Abendmahl zu einer heiklen Angelegenheit. Im sozialen Beziehungsgeflecht des Dorfes wurde sie vielfach als öffentlicher Ausdruck bestehender sozialer Beziehungen verstanden. Entsprechend wurden ungelöste Konflikte unter der Bevölkerung als plausibler Grund angesehen, nicht zum Abendmahl zu gehen. Das Ehepaar Hans und Apollonia Öserlin aus Schnait bspw. erklärte im Frühling 1588, sie hätten eine „böse nachpeurin, die sie am communiciern bißhero verhindert“ habe. Auf nicht beigelegte Konflikte lassen sich auch die Aussagen aus der Gemeinde schließen, die Öserlins hätten selber einen Ruf als „Gottloße vbelschwerende leuth“. 48 Hans Halt aus Urbach dagegen, der aufgrund seiner Unwürdigkeit lange Zeit nicht kommuniziert hatte, berichtete im Frühjahr 1598, endlich wieder dazu bereit gewesen zu sein, doch ausgerechnet dann „habe man ihm die fenster hineingeworffen“. 49 Dadurch war er wieder in den Zustand von Streit, Hass und Unwürdigkeit zurückgefallen und hatte nicht am Sakrament teilnehmen können. wünschen übrig, scheinen 1586 somit sowohl Goll als auch die Kirchenleitung geteilt zu haben. Ihm wurde bis zur nächsten Visitation Zeit zur Besserung gegeben. Es scheint in diesem Fall tatsächlich ein sittlicher Wandel stattgefunden zu haben, denn in der Frühjahrsvisitation 1588 wurde berichtet, er habe seinem Versprechen endlich Folge geleistet und kommuniziert. LKA A1/ 1585 I, f. 97v; LKA A1/ 1587 I, f. 93r; LKA A1/ 1588 I, f. 92r. 45 Bemerkenswert erscheint, dass die Bedeutung der Abendmahlsgemeinschaft und der Konfliktregulierung als Voraussetzung dieser Gemeinschaft ein konfessionsübergreifendes Ideal gewesen zu sein scheint, die man in Luthertum, Katholizismus und Reformiertentum mit ähnlichen Mitteln zu erreichen suchte. Kaul, Undankbare Gäste, S. 300; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 54; Schilling, Sündenzucht; Schmidt, Dorf und Religion, S. 122, 299. 46 Schmidt, Dorf und Religion, S. 122. Siehe auch Kaul, Undankbare Gäste, S. 3, 289f.; Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, S. 252. 47 Kaul, Undankbare Gäste, S. 187. 48 LKA A1/ 1588 I, f. 88r. 49 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 24. <?page no="264"?> 265 Der Rekurs auf die eigene Unwürdigkeit wurde im Dorf verstanden, da es sich in die lokalen Denkmuster einfügte. 50 Gleichzeitig dürften die im Dorf verbreiteten und allgemein anerkannten Deutungen des Abendmahls Möglichkeiten der Verharmlosung und Verschleierung von dezidiert täuferischen Überzeugungen geboten haben. Die enorme Bedeutung des Abendmahls wird anhand der Visitationsprotokolle deutlich, nannten doch die in den Visitationen vorgeladenen Dorfbewohner als Begründung ihrer Abendmahlsverweigerung meistens die laufenden Streitigkeiten, in die sie entweder mit dem Pfarrer oder innerhalb der Nachbarschaft verwickelt waren. 51 In diesem Zusammenhang, in dem Begriffe wie Neid, Hass, Feindschaft und Freundschaft zentrale Kategorien formten, mit denen die sozialen Beziehungen geordnet und gedeutet werden konnten, stellte „die Nichtteilnahme am Abendmahl die formale, öffentliche Anerkennung eines Streits“ dar. 52 Erst wenn der unwürdige Zustand von Hass und Feindschaft formell bzw. für alle im Dorf sichtbar beseitigt worden war, konnten die Kontrahenten wieder würdig und mit reinem Herzen am Abendmahl erscheinen. Dies ließ sich nur durch einen formalen und öffentlichen Vergleich bspw. durch ein weltliches Gerichtsverfahren oder die Mediation durch die Visitatoren erreichen, die Verzeihung und Versöhnung möglich machten. 53 So wurde im Herbst 1584 aus Winterbach vermeldet, der Wirt Melchior Kaiser stehe „in widerwillen“ und nehme nicht am Abendmahl teil. Der Pfarrer und Schultheiß äußerten den Wunsch, „es werde ein vergleichung angestelt werden“, damit Kaiser sich wieder „christlicher“ erzeigen und kommunizieren würde. 54 50 Vgl. Kaul, Undankbare Gäste, S. 300f.; Schmidt, Dorf und Religion, S. 310f. 51 Siehe z. B. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 16, 24; LKA A1/ 1583 I, f. 77v; LKA A1/ 1585 II, f. 76v, 83r; LKA A1/ 1587 I, f. 83v; LKA A1/ 1588 I, f. 88r; LKA A1/ 1590, f. 90r; LKA A26/ 466 II, f. 126v-127r. Auch Oliver Kauls Material aus Ulm zeigt Streit, Neid und Feindseligkeiten als weit verbreitete Gründe für das Fernbleiben vom Abendmahl. Hans-Christoph Rublack hat solche Motive auch noch im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert festgestellt. Vgl. Kaul, Undankbare Gäste, S. 80f.; Rublack, Lutherische Beichte, S. 143-145. 52 Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 41f., 63. 53 Inwiefern ein Gerichtsprozess zwingend für die verbindliche Beilegung der Konflikte war oder ob die in der Abendmahlsverweigerung resultierenden Konflikte auch informell - solange für alle im Dorf sichtbar - beigelegt werden konnten (war dies doch insgesamt trotz zunehmender Nutzung der obrigkeitlichen Instanzen die häufigste Form der lokalen Konfliktregelung), muss vorerst mangels weiterer Belege in den Visitationsprotokollen offen bleiben. Vgl. Kaul, Undankbare Gäste, S. 188, 301; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 61-63; Schmidt, Dorf und Religion, S. 315; Wunder, Bäuerliche Gemeinde, S. 19, 104f. Insbesondere Adam Bauder aus Urbach führte von 1583 bis 1584 wiederholt seine fortwährenden Rechtshändel am Tübinger Hofgericht als Grund an, nicht zu kommunizieren. Dass die Kirchenleitung Bauders Sichtweise allerdings nicht teilte, geht aus ihrer Bemerkung hervor, Bauder solle dem Rechtsprozess seinen Gang lassen und deswegen sein „Seelenhaÿl“ nicht gefährden. Ähnlich hatte sich Alexander Faut, ebenfalls aus Urbach, während seines Rechtsprozesses im Jahre 1598 bereits ein Jahr lang vom Abendmahl enthalten. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 16; LKA A1/ 1583 I, f. 77v. 54 Wie genau der Vergleich aussehen sollte, ist allerdings nicht überliefert. Drei weitere Abendmalsverweigerer aus Winterbach, Hans Speckhel, Gori Lutz und ein nicht namentlich genannter Bäcker gaben im Frühjahr 1587 an, sie kommunizierten nicht, weil „sie wißen nicht zu- <?page no="265"?> 266 Aus der Sicht der Kirchenleitung haftete dem unter der Bevölkerung verbreiteten Argument der Unwürdigkeit der Verdacht einer grundsätzlichen Dissidenz an. 55 Die Teilnahme am Abendmahl bedeutete aus obrigkeitlicher Perspektive gleichzeitig die Anerkennung der lutherischen Landeskirche und der Landesherrschaft in Württemberg. 56 Umgekehrt wurde die Abwesenheit am Tisch des Herrn als Absage an Landeskirche und Landesherrschaft interpretiert: „To avoid communion was, in effect, to disobey the state.“ 57 Die Verweigerung, am Abendmahl teilzunehmen, hatte eine entscheidend tiefergehende Bedeutung als nur das simple Fehlen der Betroffenen an einer kirchlichen Zeremonie. Besonders brisant wurde die Frage aus obrigkeitlicher Perspektive aufgrund der zwischen Abendmahlbesuch, einem häretischem Abendmahlsverständnis (Ablehnung der Realpräsenz) und der Täuferbewegung hergestellten engen Verbindung. Der Bezug zu den Täufern bzw. den ‚Verächtern des Sakraments‘ verschärfte die Bedeutung des Kampfes gegen die Sektierer, da sie mit ihrer divergierenden Auffassung vom Abendmahl in gerade dieses prekäre Feld eindrangen und somit weiter dazu beitragen konnten, dass die Bevölkerung nicht zum Abendmahl ging. In anderen Worten unterminierten die Täufer die Abendmahlsbereitschaft weiter, die bereits innerhalb der Bevölkerung deutlich anders ausgelegt wurde als von der Obrigkeit gewünscht. Der Kirchenleitung war demnach viel daran gelegen, die Abendmahlsverweigerer intensiver zu beobachten, um entscheiden zu können, ob es sich um Sektierer oder nur zerstrittene Pfarrkinder handelte. Dies erklärt gleichzeitig den großen Stellenwert, den die Fragen um das Abendmahl und seine Bedeutung in den Visitationsprotokollen einnehmen. 58 Dass die Abendmahlsweigerung eine Praxis war, der man sich unabhängig von einer täuferischen Gesinnung (aber selten jenseits eines Täufereiverdachts durch die Visitatoren) bedienen konnte, zeigt deutlich der Fall von Georg Scheffer in Derdingen, außerhalb des Schorndorfer Amtes. Gleichzeitig bündelt der Fall einuerzeihen“. Ähnlich äußerte sich auch Lienhart Wieland aus Haubersbronn, der im Herbst 1585 fünf Jahre lang das Abendmahl aufgrund seines Zustandes von „neid vnnd haß“ gemieden hatte, denn er „wiße nicht zuuerzeihen“. LKA A1/ 1585 II, f. 76v; LKA A1/ 1587 I, f. 83v; LKA A1/ 1585 II, f. 83r. 55 Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 58, 75. Die unterschiedlichen Auslegungen des christlichen Abendmahls waren bereits im Spätmittelalter ein Streitpunkt zwischen offizieller Theologie und den als Häresien abgestempelten Glaubensrichtungen gewesen. Vgl. Rubin, Corpus Christi, S. 319-334. Zu den Abendmahlsdebatten vor und während der Reformation siehe mit weiterführender Literatur Kaul, Undankbare Gäste, S. 99-103. 56 Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 51-76; Tolley, Pastors and Parishioners, S. 78-82. Siehe auch Landwehr, Policey im Alltag, S. 101; Rubin, Corpus Christi, S. 148f.; Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, S. 252; Schmidt, Dorf und Religion, S. 122-127. Kaul, Undankbare Gäste, S. 98, zufolge kamen in der von Seuchen, Teuerung und konfessionellen Spaltungen geprägten Krisenzeit außerdem noch endzeitliche Ängste bzw. die Angst vor Gottes Zorn dazu. 57 Tolley, Pastors and Parishioners, S. 79. 58 Zur „Sprengkraft“ der Abendmahlsthematik vor dem Hintergrund interkonfessioneller Abgrenzungsprozesse und obrigkeitlicher Disziplinierungsbemühungen siehe auch Kaul, Undankbare Gäste, S. 291-295. <?page no="266"?> 267 drücklich die verschiedenen Facetten der Abendmahlsthematik. 59 Scheffer wurde im März 1581 als vermeintlicher Täufer zur Visitation vorgeladen, verteidigte sich aber rundheraus, keiner zu sein. Er wies die täuferischen Lehren als Irrtum von sich und bekannte sich „durch auß zu der Augspurgischen Confeßion“. 60 Auf den von Seiten der Visitatoren formulierten Vorwurf, Scheffer verachte durch seine jahrelange Verweigerung des Abendmahls die christlichen Sakramente, habe dieser entgegnet, „das seÿ weder auß verachtung noch darumb beschehen, als solte er in der lehr vom nachtmal zweiffel hafftig sein“. 61 Statt dessen läge der Grund in einem nicht beigelegten Konflikt, der einen Ehrverlust Scheffers zur Folge gehabt habe: „Sondern darumb das er vor etlich Jaren seÿ bezüchtigt worden, er hab einen Marckstain außgraben, da Ime nun sein ehr nit wider restituirt, wisse oder künde er nit verzeihen, Oder mit gueter conscientz das heilig Abentmal entpfahen, man sing oder sag Im gleich was man wölle. Weil er aber solche schmachhandlung rechtlich zuerörtern nie begert oder getriben, Da Ime von dem Amptman schon etwan ein weg gezeügt vnd andeütung geschehen, wie er ab solcher sach komen mechte.“ 62 Der im Dorf erhobene Vorwurf, Scheffer habe illegal einen Markstein versetzt, hatte ihn in eine unehrenhafte Position gebracht, die seitdem nicht aufgehoben worden war, weil Scheffer trotz der Anweisungen von Seiten des lokalen Amtmannes keinen formalen Prozess angestrebt hatte und seine Ehre auch nicht auf informellem Wege wieder hergestellt worden sei. Solange der Konflikt nicht endgültig beigelegt war, konnte Scheffer seinen Widersachern nicht verzeihen. Die Situation insgesamt versetzte ihn in einen rituellen Zustand der Unwürde, in der er nicht mit gutem Gewissen am Abendmahl teilnehmen konnte; eine Situation, 59 Da ähnliche Deutungsmuster auch im Schorndorfer Amt gängig waren, mag das Beispiel Scheffers hier stellvertretend herangezogen werden. 60 LKA A1/ 1581, f. 149v. Caroline Gritschke hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Hinweis auf die gemeinsame Grundlage der Confessio Augustana von süddeutschen Schwenckfeldern als Verschleierungsstrategie genutzt wurde, um von größeren Lehrdifferenzen abzulenken. So soll das Bekenntnis einiger katholischer Zeitgenossen zufolge „aller ketzer deckhmantel“ gewesen sein. Gritschke, „Via Media“, S. 344. 61 LKA A1/ 1581, f. 150r. 62 LKA A1/ 1581, f. 149v-150v. Auch innerdörfliche Rangfragen - wie etwa die Sitzordnung in der Kirche - konnten zu Konflikten führen, die im Zustand von Neid, Hass und Unwürdigkeit mündeten. In diese Richtung ist der Fall des Daniel Wolleber aus Weiler zu interpretieren, der im Jahre 1590 ein ganzes Jahr von den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern ferngeblieben war. Ein Grund für seine Abwesenheit lag seiner eigenen Aussage nach darin, dass er selten zuhause sei und deswegen „anderswo die predigen“ höre. Außerdem aber „hab ihm einer seinen stul in der Kurchen eingenomen, das hab in vnlustig gemacht“. Er wolle aber „einen newen stul in die kurchen machen laßen“ und sich darauf hin „wider gehorsamlich einstellen“. So stellte Wolleber den Visitatoren seine Wiederkehr an den Tisch des Herrn in Aussicht, sobald er seinen alten Platz in der Kirche einnehmen könnte und der Konflikt geklärt worden sei. Anzunehmen ist, dass mit dem Verlust des gewohnten und ihm zugehörigen Sitzplatzes gleichzeitig die Ehre Daniel Wollebers angetastet worden war. LKA A1/ 1590, f. 90r. <?page no="267"?> 268 die als solche nicht verhandelbar war. 63 Man könne sagen - oder singen - was man wolle, Scheffer könne nicht kommunizieren, ehe der Streit beendet und seine Ehre restituiert sei und Scheffer verziehen habe. Die Visitatoren allerdings schien diese Argumentation nicht völlig zu überzeugen, denn sie drückten „große sorg“ aus, Scheffer „wisse sich eintweders schuldig, Oder aber wende solche rechtfertigung nur zuo einem schein für“. 64 Gemeinsam war den Vertretern der Landeskirche wie der ländlichen Bevölkerung Württembergs eine Wertschätzung des Abendmahls, selbst wenn die daraus gezogenen praktischen Folgerungen stark voneinander abweichen konnten. Kirchenleitung wie Bevölkerung verstanden das Abendmahl als Versöhnungsmahl, das mit Fragen der Feindschaft und der Vergebung verbunden war. 65 Eine geteilte Wertebasis bildete somit nicht nur der große Stellenwert des Abendmahls an sich. Daraus folgte zudem, dass die Argumentation mit dem Abendmahl allen Parteien eingeleuchtet haben muss, dass sie in anderen Worten einen Schnittpunkt zwischen den verschiedenen Diskursebenen darstellte. Der Rekurs auf die „Theologie der Würdigkeit“ wurde im Dorf und in der Visitation, wenn vielleicht nicht flächendeckend geteilt, so doch allgemein verstanden. 66 Sowohl für die Visitatoren als auch die betroffenen Abendmahlsverweigerer war es von Bedeutung, in der Befragungssituation klarzustellen, inwiefern hinter der Abstinenz eine täuferische Motivation lag. Aus der Sicht der Obrigkeit galt es, die befundenen Mängel den bestehenden Kategorien zuzuordnen, um dem Vergehen entsprechende Gegenmaßnahmen anordnen zu können. Die Visitatoren äußerten wiederholt den Verdacht, die Vorgeladenen nutzten das Argument der Unwürdigkeit nur als Vorwand, um aus anderen Gründen nicht am Abendmahl teilzunehmen - ob aus Ignoranz, Indifferenz oder sogar aus sektiererischen Beweggründen, war jeweils genauer zu eruieren. So wurden in der Frühjahrsvisitation in Winterbach 1587 drei Männer, die unterschiedlich lang vom Sakrament ferngeblieben waren, als „nicht sectisch, sonder neidisch vnnd zum thail seuffisch befunden“. 67 Auch die Abendmahlsverweigerung Hans Stechers aus Kleinheppach wurde im Frühjahr 1587 nicht auf sektiererische Neigungen, sondern seine „Negligentia“ zurückgeführt. 68 Diese Personen hatten, sobald sie das geforderte Maß an Demut an den Tag legten, weitaus bessere Aussichten auf Nachsicht von Seiten der Visitatoren als dies bei einem Täufereiverdacht der Fall 63 Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 63, der die dörflichen Kategorien von Feindschaft, Neid und Hass als „rituellen Zustand“ interpretiert hat, die nicht „der Kontrolle des einzelnen“ unterlagen. Erst nachdem die „Unklarheiten beseitigt waren“, konnte der Zustand der Unwürdigkeit und eines unruhigen Herzens aufgehoben werden, „und Vergebung mußte automatisch folgen“. Ähnlich rituell wurde die der Kommunion vorausgehende Beichte von vielen Laien aufgefasst, vgl. Rublack, Lutherische Beichte, S. 148, 153. 64 LKA A1/ 1581, f. 149v-150v. 65 Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 58. 66 Schmidt, Dorf und Religion, S. 310f. 67 LKA A1/ 1587 I, f. 83v. 68 LKA A1/ 1587 I, f. 86r. <?page no="268"?> 269 gewesen wäre. Für die Vorgeladenen bestand in den Visitationen somit die Notwendigkeit, den Häresievorwurf möglichst glaubhaft und plausibel abzustreiten, wenn sie weiteren Maßnahmen entgehen wollten. Trotz genau festgelegter theologischer Normen erwiesen sich Abendmahl und Predigtbesuch vor Ort somit als höchst komplexe Angelegenheiten, die eingebunden in die konkreten Lebenszusammenhänge der Bevölkerung weit über den gelehrt-theologischen Bereich hinausgingen. 69 Über und durch den Gegenstand Abendmahl wurde in den Visitationen gleichzeitig über prinzipielle Fragen der Einhaltung der kirchlichen Normen bzw. der religiösen Freiräume vor Ort verhandelt sowie über den Gehorsam, den Landesherrschaft und Landeskirche von den Untertanen einforderten. 70 In diesen Diskurs wurden die Täufer und Täuferinnen in zweierlei Weise eingebunden: Zum einen sollte über die Examination der Abendmahlsverweigerer festgestellt werden, ob diese aus täuferischen bzw. sonstigen sektiererischen Motiven erfolgte oder aus dem breiter angelegten Deutungshorizont von Streit und der daraus resultierenden Unwürdigkeit. Zum anderen wurde in den Visitationen über die Teilnahme der Bevölkerung an den lutherischen Riten verhandelt. Vielfach bemühten sich die Visitatoren um eine Beilegung der Streitigkeiten, um somit das Hindernis an der Abendmahlsteilnahme aus dem Weg geräumt werden konnte und dem Unwürdigkeitsargument so der Boden entzogen würde. 71 Die Vorgeladenen dagegen konnten versuchen, sich mit diesem Argument und der in Aussicht gestellten Beilegung der Konflikte sowie der darauf erfolgten Teilnahme am Abendmahl aus der prekären Vernehmungssituation herauszureden. 72 6.1.3. Weitere Indizien: Verdächtige Aussagen, Verhaltensweisen und Kontakte Neben dem nachlässigen Besuch von Gottesdiensten und der Abendmahlsverweigerung als Konditionen bzw. Kriterien sine qua non wurden oft weitere Indizien genannt, die den oder die Verdächtigten in das täuferische Spektrum rückten. Vielfach handelte es sich um Auffassungen oder Handlungsweisen, die bereits in den Täuferordnungen und vorformulierten Fragebögen als Erkennungsmuster vorgegeben waren. 73 Diese „Merckhzeichen“ 74 konnten vor oder auch erst in der Visitation festgestellt werden, wie etwa bei Magdalena Steb aus Bittenfeld, die in der Frühlingsvisitation 1574 vorgeladen war. Obwohl sie fest behauptete, dass sie „dem widertauffnit an[hange]“, war sie den Visitatoren als Täuferin suspekt, da 69 Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 58. 70 Siehe auch Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 608f. 71 Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 61-63; Schmidt, Dorf und Religion, S. 315. 72 Zu dieser Hinhaltestrategie siehe auch unten Kap. 6.2.4. Ähnliches stellt Kaul, Undankbare Gäste, S. 187f., für Ulm fest. 73 Siehe z. B. HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). Siehe auch die Lehr- und Fragenkataloge im Anhang dieser Arbeit. 74 HStAS A63/ 42 (16. Januar 1571), f. 4r. <?page no="269"?> 270 sie „doch nit zu des Herrn Abentmal“ ging und darüber hinaus in ihrer Vernehmung „die vrsachen vnnd argumenta der widertauffer“ benutzt hatte. 75 Bei der Frau des Jörg Metzmann aus Fellbach, die im Frühjahr 1574 als „ein newe widerteufferin“ in den Akten festgehalten wurde, kamen zur Abwesenheit bei den lutherischen Gottesdiensten und beim Abendmahl die Verweigerung des Eides dazu. 76 Der junge Schneidergeselle Abraham Faut kam im Jahre 1598 unter den Täufereiverdacht, nachdem er nachweislich täuferische Literatur rezipiert hatte und daraufhin nicht mehr beim Abendmahl gesehen worden war. Er soll neben dem Fundamentbuch von Menno Simons aus einem täuferischen Liederbuch das Lied über das Märtyrerschicksal Jörg Wagners „halb auswendig gelernet [haben], dannenhero, wie oben vermeldet, nicht communicirt“. 77 Gertrud Schöpperlin aus Winterbach lehnte im Jahre 1602 nicht nur die Kindertaufe ab, sondern wollte darüber hinaus „nicht bekennen vnd glauben, das ein Christ welttliche Oberkeÿtt tragen vnd die Übelthätter mit dem Schwerdt straffen lassen möge“. Mit der Ablehnung des Eidschwurs und des Kriegsdienstes, der Kritik der lutherischen Sittenzucht sowie der Ablehnung der Realpräsenz im Abendmahl wurden in ihrer Vernehmung weitere Auffassungen, die in den Fragenkatalogen der Täuferordnungen als typisch täuferisch fixiert waren, festgehalten. 78 Als Indizien einer sektiererischen Gesinnung konnten des Weiteren von den Visitatoren beobachtete Unkenntnis der lutherischen Lehren und das eigensinnige Festhalten an den eigenen Standpunkten gedeutet werden. 79 So standen im Herbst 1614 zwei Männer aus Geradstetten „in großem verdacht“, Täufer zu sein, weshalb sie „vom Superintendenten examinirt vnd zu red gesetzt worden“ seien. Da die Männer aber bei der Examination einen „schlechten bescheid“ gegeben hatten, machte dies sie umso suspekter. Der Spezialis ließ vermerken, dies sei eine typisch täuferische Praxis („wie ihr brauch“). 80 Trotz der von den Visitatoren attestierten schmalen Wissensbasis in Glaubensfragen wurden diese Menschen von den Theologen als in ihren Auffassungen äußerst standhaft beschrieben. Es ging der Kirchenleitung allerdings nicht ausschließlich um das ausreichende Maß an Wissen, sondern v. a. um die Richtigkeit dieses Wissens. Selbst wenn eine Person im Examen „ettlich spruch anzaigen“ konnte, musste dies nicht bedeuten, dass dieses Wissen von den Vertretern der Landeskirche honoriert wurde; es konnte schließlich ein Wissen sein, dass in der Auffassung der Visitatoren „wenig In gottes wort“ verankert war. 81 75 LKA A26/ 466 I, f. 42r-42v. 76 LKA A26/ 466 I, f. 40v-41r. 77 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 55v. 78 HStAS A281/ 1120, S. 7-8. Für ähnliche Aussagen siehe auch HStAS A281/ 1120, S. 33-34; LKA A26/ 466 II, f. 139v. 79 Siehe z. B. HStAS A282/ 3092 (5. Juli 1574); LKA A1/ 1581, f. 150v. 80 Die beiden Männer sollten vom Pfarrer im Auge behalten werden und dieser sollte in künftiger Visitation Bericht über die beiden erstatten. LKA A26/ 466 II, f. 160r. 81 Vgl. den Bericht über die Examination des Hans Fritz am 7. Juni 1565. HStAS A282/ 3091d, Nr. 2. <?page no="270"?> 271 Neben als täuferisch angesehenen Auffassungen oder der Unkenntnis der lutherischen Lehren konnten auch deviante Handlungsweisen den Verdacht auf eine sektiererische Gesinnung erwecken. Da sich ein guter Untertan v. a. durch seine Demut auszeichnete, wurde ein zu forsches Auftreten von den Normgebern leicht als Zeichen von Aufsässigkeit und Hochmut gewertet. Diese Eigenschaften wiederum entsprachen dem stereotypen Täufer- und Ketzerbild, 82 so dass Vorgeladene mit zu eigensinnigem Verhalten schnell in einen generellen Täufereibzw. Ketzereiverdacht gerieten. Ihr Eigensinn - von den Visitatoren vielfach als Sturheit charakterisiert - konnte sich sowohl auf weltliche oder kirchliche Punkte beziehen; entscheidend war die abwehrende Haltung gegenüber den Vertretern oder Praktiken der Landeskirche und/ oder der Landesherrschaft. Bartle Weiß aus Oppelsbohm etwa war den Visitatoren bereits im Jahre 1581 aufgefallen, als er seit seiner Eheschließung 24 Jahre zuvor nicht mehr in der Kirche kommuniziert hatte. Als er im August 1582 den Visitatoren gegenüber eine Erklärung abgeben musste, erzählte Weiß, er halte die Einnahme des Abendmahls in der Kirche nicht für notwendig, da er das Sakrament „alle tag daheimen in seinem hauß empfange“. 83 Da Weiß der Landeskirche ihre Bedeutung als heilsvermittelnde Anstalt absprach, rutschte er mit dieser Aussage in das Spektrum der Dissidenten. Die lutherische Abendmahlslehre wies Weiß - ob wissentlich, ist nicht mehr zu klären - mit der Erläuterung von sich, man habe schließlich „alles eßen vnnd trinckhen von Gott“, und dass im Abendmahl „nichts weitters außgetheilt“ werde. 84 Obwohl dies eine den Täufern zugeschriebene Auffassung war, wurde Weiß bei einer näheren Examination von den Visitatoren jedoch nicht für einen Täufer, sondern für einen Spötter gehalten. 85 Gleichwohl musste er in Zukunft damit rechnen, dass die Visitatoren Interesse an seinem Verhalten und seinen Äußerungen zeigten und dass beim weiteren Ausbleiben vom Abendmahl Strafmaßnahmen gegen ihn ergriffen werden konnten. Auch blieb die Gefahr der Festschreibung als Täufer bestehen. Aus der Perspektive der Kirchenleitung mussten solche Aussagen, die von den Dorfbewohnern als harmlose Frömmigkeitspraktiken präsentiert wurden, als Verachtung des Sakraments - und somit zugleich: Verachtung der Landeskirche - abgewiesen werden. Sie zogen früher oder später genauere Nachforschungen mit sich. Auch spöttische Handlungen während des Gottesdienstes konnten bei den Visitatoren leicht den Verdacht eines möglicherweise täuferisch bedingten Ungehorsams erwecken. Die Urbacherin Sabina Mercklin war unter der Bedingung aus der Haft entlassen worden, die Predigten zu besuchen. Dieser Forderung 82 Vgl. Patschovsky, Häresie; Schlachta, Gefahr, S. 119f.; Schwerhoff, Inquisition, S. 14; Scribner, Heterodoxie, S. 289. 83 LKA A1/ 1582, f. 70r. Ähnlich beschrieb Konrad Seybold aus Fellbach im Frühjahr 1575 seine Abendmahlsabstinenz als Form der häuslichen Frömmigkeit: „Er haltte des Herrn Abentmal dahaimen Inn seinem hauß, wan er über vnnd vor dem tisch bette vnnd gott dancksage.“ LKA A26/ 466 I, f. 93v. 84 LKA A1/ 1582, f. 70r. 85 LKA A1/ 1583 II, f. 79r. <?page no="271"?> 272 kam sie nach, doch wie in der Frühjahrsvisitation 1574 berichtet wurde, sei sie „gleichwoll wainendt darein gangen“ und habe sich beklagt, „sie müesse in die kürchen ghön“. 86 Über Jakob May aus Knittlingen im Maulbronner Amt hieß es im Herbst 1575: „Der ledig gsell Jacob Maÿ setzt sich in der kirchen gegen den predigstuol, hört dem pfarher vleissig zuo vnd wan pfarher einen puncten abgehandelt (wie er dan die articulos darinnen die widerteuffer Irren der notturft nach jetziger zeitt explicirt), lächelt gedachter Jacob gegen den andern zuhörern. Das würdt dahin verstanden, als ob er Jacob hiemitt anzaigen wöllte, der pfarrher hab nit recht geredt, Er Jacob wüsste es besser außzulegen.“ 87 Die Gebrüder Jakob und Melchior Greiner aus Walkersbach wiederum lasen im Frühjahr 1577 täuferische und schwenckfeldische Bücher während den Predigten. 88 Anna Möll aus Winterbach dagegen verließ die Kirche, sobald dort gegen die Täufer gepredigt wurde, wie den Visitatoren im Frühjahr 1586 vermeldet wurde. 89 Verdächtig waren des Weiteren Aktionen, die heimlich - etwa nachts oder an abgelegenen Orten - stattfanden. 90 Sie entzogen sich der obrigkeitlichen Kontrolle und ihnen haftete entsprechend sogleich der Verdacht sektiererischer Geheimniskrämerei an. Auch die Nähe der als täuferisch verdächtigten Personen zu den Herrschaftsgrenzen ließ die Kirchenleitung bisweilen misstrauisch werden. So verdichtete sich etwa der Verdacht um das Beutelsbacher Ehepaar Matthäus und Barbara Schätzlin weiter, als sie im Jahre 1609 in ein Haus am Rande des Dorfes einzogen. Der Einschätzung der Visitatoren zufolge habe Matthäus Schätzlin „sein gelegene behausung an das eüsserste haus des fleckens auffder Seitten gegen dem Dorffhainbach vnd den Thumbischen höltzern (in welchen die widertäuffer Ihre versamblungen haltten) stoßendt vertauscht, damit er vnd sein weib desto besser vnd weniger vermerckt zu den widertäuffern vnd hergegen dise zu Ihnen den heimblichen zuschlich haben möchten.“ 91 86 LKA A26/ 466 I, f. 49r. 87 LKA A26/ 466 I, f. 126r. 88 LKA A26/ 466 I, f. 204r. 89 LKA A1/ 1586 I, f. 90r. 90 Dass nächtliche Zusammenkünfte und Aktivitäten in der Wahrnehmung der Obrigkeiten höchst suspekt erschienen, zeigen die Täuferakten deutlich. So berichteten Spezialis und Vogt zu Schorndorf im Februar 1598 über die Tätigkeiten des vermeintlichen Täuferführers Hans Schnall, der in Urbach Menschen in der Nacht getauft haben soll. Auch schien es den beiden Beamten verdächtig, dass in Hans Kölles Haus in Urbach die Menschen gerade abends ein und aus gegangen sein sollen. Auch in den Verhandlungen im Vorfeld der Täuferordnung von 1571 wurde das „noctu congregari“ als „abscheulich ding“ festgehalten. HStAS A282/ 3084 Nr. 4, f. 9r; HStAS A282/ 3094c, 114r-114v. 91 LKA A26/ 466 II, f. 128r. <?page no="272"?> 273 Einen ähnlichen Verdacht äußerten die Visitatoren im Herbst 1614 in Bezug auf Anna Mölls abseits im Dorf gelegene Behausung, wo die durch ihr hohes Alter geschwächte Frau ungestört täuferische Gäste empfangen könne. 92 Über den landesverwiesenen Hans Vaihinger dagegen wurde in der Visitation von Geradstetten im Frühjahr 1575 berichtet, er hätte „ein haus hinder dem Junckhern von Zilhart kaufft“. Jenseits der Grenze zum Herzogtum könne er seine täuferischen Kontakte unbehelligt pflegen, denn Zillhart duldete Täufer auf seinem Gebiet. 93 Allein der Kontakt zu bekannten Täufern konnte einen in das Spektrum der Verdächtigen rücken lassen. 94 Insbesondere Familienangehörige der Täufer wurden von den Pfarrern bzw. den Visitatoren herausgefordert, ihre Standpunkte offen zu legen. Agathe Leis schien den Visitatoren im Frühjahr 1574 umso verdächtiger, weil sie die Mutter des als Täufer landesverwiesenen Friedrich Bauer war. 95 In Großgartach sollten im Herbst 1612 Michael Dalmer mit seinen zwei Söhnen Lorenz und Michael aufgrund ihrer täuferischen Sympathien vernommen werden. Die Söhne, beides „offendtliche widerteüffer“, waren zur Zeit der Visitation nicht anzutreffen. Der Vater wollte keine Aussagen zu den täuferischen Kontakten der beiden treffen, ließ aber vermelden, dass er es gerne sähe, „das sie beÿ ihrem glauben bliben“. Dadurch brachte er den Verdacht der Visitatoren auf sich, „als wan er auch mit dem widertauffbehafft were“. 96 Im Fall der Barbara Halt aus Urbach wurden in den Jahren 1616 und 1620 ihre nächsten Verwandten überprüft, ob sie nicht die täuferischen Ansichten Barbaras teilten. 97 In der Tat wiesen viele der Befragten darauf hin, dass sie ihr Wissen im Familienkreis erworben hatten. Über Bartle Weiß aus Oppelsbohm erfuhren die Visitatoren im August 1582, dass seine Eltern ihn gelehrt hätten, man empfange im Abendmahl nur Wein und Brot. 98 Die Weitertradierung täuferischer Ideen und Praktiken im Familienkreis war den Obrigkeiten durchaus bekannt; in der Täuferordnung von 1571 wurde darauf ausführlich eingegangen. 99 Für die Betroffenen bedeutete die enge Verknüpfung von Täufertum und Familie zweierlei: Zum einen konnten sie im Allgemeinen auf die Unterstützung von Seiten ihrer nächsten Verwandten zählen, zum anderen aber machte ein täuferisches Famili- 92 LKA A26/ 466 II, f. 159v. Siehe auch Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion, S. 295. 93 Die Kompetenzen im geteilten Herrschaftsgebiet Geradstettens scheinen nicht genau geklärt gewesen zu sein. So bat der Schorndorfer Spezialis im Frühjahr 1575 um genaue Anweisungen vom Landesherrn, „ob er fürohin sich solcher leut, so hinder dem Junckhern sitzen, auch annemen solle“. Zillhart soll im Herbst 1574 dem Geradstettener Schultheißen gegenüber Stellung zu Vaihinger bezogen haben: „Er habe dem Vaihinger platz geben In dem haus, das er Vaihinger erkaufft, zu wonen, vnnd ausserhalb nit, dan er nit weiter gewalt habe“. LKA A26/ 466 I, f. 97r- 97v. 94 Siehe z. B. LKA A26/ 466 II, f. 137v, 159r; LKA A26/ 466 II, f. 137v, 140r, 167v. Ähnliches hat für das Mittelalter Moore, Persecuting Society, S. 7, festgehalten. 95 LKA A26/ 466 I, f. 70r. 96 LKA A26/ 466 II, f. 140r. 97 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit. 98 LKA A1/ 1582, f. 70r. Siehe auch LKA A26/ 466 I, f. 93r. 99 Siehe oben Kapitel 3.2.3. <?page no="273"?> 274 enmitglied die Visitatoren oftmals auf die ganze Familie aufmerksam. So boten täuferische Netzwerke den Verdächtigten einerseits erhöhten Schutz, konnten aber gleichzeitig weitere Personen in das Visier der Pfarrer und Visitatoren - und somit in Erklärungsnot - bringen. Diese ‚belastenden‘ Beziehungen mussten sich allerdings nicht nur auf den Kreis der Verwandten beschränken. Im Herbst 1615 ging in Geradstetten „die sag“, ein Mann namens Daniel Jaiter unterhalte freundschaftliche Kontakte zu den Täufern Hans Seifer und Konrad Banholtz. Dies machte ihn aus der Perspektive der Visitatoren „deß widertauffs halben gar verdächtig“. 100 Dazu kam der von den Visitatoren geäußerte Verdacht, Jaiter hätte täuferische Versammlungen besucht. Dies stritt Jaiter zunächst glaubhaft ab. Als die Visitatoren aber erfahren hatten, dass er mehrmals bei dem ausgetretenen Hans Seifer zu Besuch gewesen war, konnte Jaiter den Verdacht des Täufertums nicht vollends von sich abschütteln, selbst wenn er das Versprechen ablegte, künftig fleißiger zu den Predigten und zum Abendmahl zu erscheinen. 101 Zu einem Sympathisanten der Täufer wurde man in den Augen der lutherischen Kirchendiener selbst, wenn man diese beherbergte. 102 Bisweilen genügte es auch, wenn man die Augen schloss und Tätigkeiten täuferischer Freunde oder Verwandte nicht aktiv verhinderte. Dies war bei der Familie Baur bzw. Bauder in Urbach im Jahre 1608 der Fall. Hans Baur, der vier Jahre zuvor „als ein widerteüffer hinweg gezogen“ war, hatte damals zwei Kinder bei seiner Mutter und seinem Stiefvater Thomas Bauder hinterlassen. Zu diesen Kindern sei er „heimblich von vnd zu geschlichen“. Dies hätten sein Stiefvater und seine Mutter den Visitatoren zufolge „wol gewißt“, habe doch Thomas Bauder gestanden, dass Hans Baur ungefähr vor einem Jahr versprochen habe, die Kinder zu sich zu holen. Als Thomas von den Visitatoren mit der Frage konfrontiert wurde, weshalb er dies nicht verhindert habe, soll er sich entschuldigt haben: „[D]er Sohn heb gesabt, die kinder seÿen sein, er hab damit zu schaffen was er wöll.“ 103 Thomas Bauder bediente sich hier der durchaus gängigen Strategie, die Schuld von sich zu weisen. 104 Er konnte die Kirchenleitung damit jedoch nicht überzeugen. Diese urteilte über Thomas und seine Frau: „Stellen sich die zweÿ also, als seÿ es hinderrücks ihrer geschehen vnd will sich er Thomas nicht bereden laßen, das er schuldig gewesen die kinder aufzuhalten oder solches der oberkeit zu entdecken.“ 105 Der Synodus sah zwar ein, dass diese Kinder nunmehr für die lutherische Landeskirche in Württemberg verloren waren und man sie „fahrn lassen“ müsse. 100 LKA A26/ 466 II, f. 167v. 101 LKA A26/ 466 II, f. 173v. 102 Vgl. oben Kap. 3.2.3. 103 LKA A26/ 466 II, f. 108v. 104 Vgl. Gritschke, „Via Media“, S. 346. 105 LKA A26/ 466 II, f. 108v. <?page no="274"?> 275 Bezüglich des Stiefvaters und der Mutter von Hans Baur war jedoch im Oberrat zu erwägen, „was der widertauffer Ordnung nach zu gebürlicher straffgegen ihnen fürzunemen seÿe“. Auch sollte man Maßnahmen ergreifen, um die für die Unterstützung von Täufern geltenden Richtlinien unter der Bevölkerung besser bekannt zu machen. 106 In das Spektrum der Täufersympathisanten konnte man allerdings auch dann gerückt werden, wenn man die Abendmahlsverweigerung dazu nutzte, den eigenen Unmut gegenüber den als zu hart empfundenen Umgang mit den täuferischen Nächsten zum Ausdruck zu bringen. In diesen Fällen wurde man vom Pfarrer oder von den Visitatoren zur Rede gestellt und musste die eigene Position rechtfertigen. In diesen Begegnungen klangen oftmals allgemeinere Kritikpunkte an der lutherischen Kirche in Württemberg an, insbesondere ihrer zentralisierten Bannpraxis und als ungerecht oder zu hart dargestellten Täuferbekämpfung. Insgesamt mündeten insbesondere Streitigkeiten mit dem Pfarrer leicht in der Verweigerung der Teilnahme an den kirchlichen Zeremonien. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass obrigkeitliche Maßnahmen vor Ort Auswirkungen gegen die Intentionen der Programmgeber haben konnten. Dies ist besonders in Orten wie Urbach und Walkersbach zu beobachten, in denen viele Bewohner durch familiäre und nachbarschaftliche Beziehungen den Täufern nahe standen. Hier entbrannten zu Hass, Unwürdigkeit und Abendmahlsverweigerung führende Konflikte oftmals gerade in den unterschiedlichen Auffassungen in der Frage, wie man mit religiösen Dissidenten vor Ort umzugehen hatte. So gab bspw. Hans Krätz aus Urbach um 1600 die Vertreibung seiner Tochter Christina aus dem Herzogtum als Grund seiner Abendmahlsverweigerung an. Die Schuld wies er den Pfarrer Gregorius Glareanus und anderen Personen in Urbach zu, die den Fall seiner Tochter „anbracht“, d. h. sie angezeigt, hatten. 107 Er beschrieb die Verfolgung der Täufer und Behandlung seiner Tochter, die er ausschließlich auf das Agieren des Pfarrers zurückführte, als zutiefst ungerecht: „Das der Pfarrer die Obrigkeÿt vermane die widerteüffer zuvertreiben vnd das Ir zunemmen, wie newlich mit seiner Tochter Christina geschehen, seÿ nicht recht.“ 108 Der harte Umgang mit den Täufern, den nicht zuletzt konkret die eigene Tochter erfahren hatte, machte Hans Krätz zu einem vehementen Gegner des Urbacher Pfarrers. Das Empfinden, warum die Täufer so harsch verfolgt werden sollten und ihnen ihr Besitz genommen werden konnte, schien für Krätz nicht nachvollziehbar, habe er doch selbst in den täuferischen Predigten „nichts Vnrechts“ festgestellt. Vielmehr hätte er bei diesen „das Euangelium wie alhie vnd Ir gebett 106 LKA A26/ 466 II, f. 108v. 107 Vgl. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 27. 108 Krätz unterstrich diese Aussage, dass man „niemand das sein nemmen“ soll, mit einem Vergleich mit den Pharisäern, die schreiend den Tod Christi auf dem Kreuz verlangt hatten. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 27. Siehe auch HStAS A63/ 42, f. 35r. <?page no="275"?> 276 für die feind vnd Oberkeÿtt gehört“. 109 In der Darstellung des Hans Krätz zeigten sich die Täufer somit nicht als Anfechter der Obrigkeit und ihrer Position, wie in den Täuferordnungen gemeinhin befürchtet. Vielmehr erwiesen sie christliche Nächstenliebe und ein äußerst friedliches Gemüt, indem sie sowohl für den Segen ihrer Feinde als auch der Obrigkeit beteten. Die Abendmahlsverweigerung des Hans Krätz war gleichzeitig symbolischer wie konkreter Ausdruck seiner Unzufriedenheit mit der württembergischen Täuferpolitik und der Landeskirche, die sich eine Beurteilung über die moralischen und religiösen Qualitäten seiner Tochter und anderer Täufer und Täuferinnen anmaßte und darüber hinaus ihr Hab und Gut unrechtmäßig beschlagnahmt hatte. 110 Insgesamt führte das Schicksal seiner Tochter dazu, dass sich Hans Krätz umso energischer an ihre Seite stellte und nun seinerseits ins Spektrum der Dissidenten rückte. Weil Krätz auch in späteren Befragungen konsequent die Teilnahme am Abendmahl verweigerte und die Realpräsenz ablehnte, wurde er von den Visitatoren schließlich als Täufer festgeschrieben. Im Frühjahr 1605 hieß es, Krätz sei „als ein widerteüffer gestorben“. 111 Ähnlich wie Hans Krätz argumentierte Margaretha Kurtz aus Oppelsbohm in der Herbstvisitation 1586. Sie gehe nur selten in die Kirchen und habe seit 19 Jahren nicht kommuniziert. Als Ursache gab sie „ihres mans exilium“ an. Sie könne „denen nicht verzeihen, die ihren man helfen vertreiben“. Diese Ungerechtigkeit ihrem frommen Mann gegenüber stand in Margarethas Darstellung im krassen Gegensatz zum zügellosen Lebenswandel vieler Zeitgenossen, der aber von Seiten der Kirche nicht nachgesetzt wurde: „Item sie wiße vil vnnütz leben, das man nit straff, vnnd aber ihrem frommen man dulde man nirgent. Geschee ihm vnrecht vnd vnbillich.“ 112 109 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 27. 110 Vgl. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 27. Auf den Umstand, dass die lokalen Amtmänner die Konfiskationen täuferischer Güter vielfach für unberechtigt hielten, ist bereits in Kap. 5.2. hingewiesen worden. 111 HStAS A281/ 1120, S. 33-34; HStAS A281/ 1120, S. 30. Auch Thomas Härer aus Urbach beklagte im Herbst 1574 das Vorgehen des Pfarrers gegen seinen als Täufer landesverwiesenen Vater Jörg, der bereits vor der Herbstvisitation 1573 ausgewiesen worden war. Nicht nur sei Thomas Härer verboten worden, seinem Vater „guts [zu] thun“ oder ihm gelegentlich Unterkunft zu gewähren. Wie Härer betonte, würden diese Verbote ihn „gar hoch beschweren“, müsse er dadurch doch „wider das viert gepott handlen“. Durch den lutherischen Kirchendiener sei Härer demnach gezwungen worden, mit grundlegenden Prinzipien des Christentums zu brechen. Außerdem habe der Pfarrer entscheidend dazu beigetragen, dass sein Vater als Täufer überhaupt ausgewiesen worden war. Bereits ein Jahr vorher hatte Thomas Härer vermeldet, er „seie denen Feindt, die Ime seinen vatter vertriben haben“. Auch seine Frau Walpurga äußerte scharfe Kritik an der täuferfeindlichen Haltung des Urbacher Pfarrers. LKA A26/ 466 I, f. 19r- 19v, 70v. Für einen weiteren Fall dieser Art siehe LKA A26/ 466 I, f. 64v-65r. 112 LKA A1/ 1586 II, f. 82v. <?page no="276"?> 277 Die Täufer wurden hier als vorbildliches Gegenteil zu den Lutheranern stilisiert; gleichzeitig übte Margaretha Kritik an der Bannpraxis der württembergischen Landeskirche aus, die ihrer Meinung nach zu lax ausfiel. Da die von den Obrigkeiten betonte Bedeutung des Abendmahls als Zeichen von christlicher Untertänigkeit durchaus bekannt war, öffnete sich dadurch gleichzeitig eine Möglichkeit, gegen die obrigkeitlichen Maßnahmen zu protestieren. Insbesondere machten Personen aus dem täuferischen Umkreis von dieser Praxis Gebrauch, die so ihrer Enttäuschung oder ihrem Widerwillen gegen die als zu harsch oder ungerecht empfundene Verfolgung der täuferischen Verwandten oder Nachbarn Ausdruck verliehen. Aus der Unwürdigkeitsthematik im Abendmahl lässt sich dies so erklären, dass sich die Betroffenen mit einem Konflikt mit den Vertretern der weltlichen oder kirchlichen Obrigkeit argumentierten. Gleichzeitig rückten diese Personen selbst in das Spektrum der Dissidenten und mussten in Zukuft verstärkt auf ihre Aussagen und ihr Verhalten achten, wollten sie keine weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen bzw. weitere Maßnahmen gegen sich verhindern. 6.1.4. Freunde und Feinde der Täufer im Dorf Im Unterschied zu den Pfarrern konnte es den Dorfbewohnern kaum entgehen, wenn ein Familienmitglied, ein Nachbar oder eine Nachbarin täuferischen Aktivitäten nachging oder Kontakte zu verdächtigen Fremden pflegte, wurde doch „auffälliges und abweichendes Verhalten“ insgesamt „rasch Gegenstand des dörflichen Geredes und Geschwätzes“. 113 Unabhängig davon, wie die Dorfbewohner im Einzelnen zu den Täufern standen, dürfte über ihre Praktiken, Verfolgung und die involvierten Personen im Ort eifrig geredet worden sein. Es waren ähnliche Mechanismen am Werk wie im Reden über und Anzeigen von magischen Praktiken und potentiellen Hexen, auf die Gerd Schwerhoffhingewiesen hat: „War das Gerücht erst einmal in die Welt gesetzt, dann entfaltete es schnell eine eigene Dynamik. Die Stigmatisierung des/ der Verdächtigen schritt mit jedem neuen Schicksalsschlag fort, der immer selbstverständlicher ihrem/ seinem Wirken attribuiert wurde.“ 114 113 Holenstein, Bauern, S. 26. Siehe auch Clasen, Anabaptism, S. 362. Die im Dorf kursierenden Gerüchte wurden von den Gerichten - wie auch Visitatoren - als Information berücksichtigt, mussten aber kritisch überprüft werden. Die Glaubwürdigkeit konnte bspw. durch den „Grad der Verbreitung“ gesteigert werden. Die Beziehung von Gerücht und Gericht blieb jedoch ambivalent. So konnte man in den Prozessakten zwar auf dörfliches Gerede hinweisen, doch geschah dies nicht immer im Sinne der Ankläger. Vielmehr konnte ein „breites Gerücht“ auch „die Behauptungen der beklagten Partei untermauern“. Fuchs, Um die Ehre, S. 312f. Siehe auch Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 660. 114 Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 435. <?page no="277"?> 278 Freilich war man als Nachbar oder Familienmitglied von den Aktivitäten der Täufer meist weniger betroffen als von mutmaßlichen Schadenzaubern. Das Täufer-Werden im Dorf schritt vielmehr mit jedem administrativen „Schicksalsschlag“, jeder Vorladung und jeder Strafe, aber auch mit jedem Verdacht täuferischer Kontakte oder Aktivitäten fort. Inwiefern dieses dorfinterne Wissen nach ‚oben‘ weitergegeben wurde, ist eine völlig andere Frage. Aus den Protokollen ist meist nicht ersichtlich, von wem der Hinweis auf die dörfliche Öffentlichkeit stammte. Vielfach wurden die Gerüchte mit Formulierungen wie „es geht die sag“ 115 oder „es würt gesagt“ 116 umschrieben. In Geradstetten etwa wurde im Jahre 1615 über Hans Seifer vermerkt, es „geht die sag, das er dem Landtsverwisnen widerteüffer Conrad Banholtzen nach ziehe“. 117 Ähnlich vage wurde auf das Gerücht verwiesen, dass in Geradstetten auch Daniel Jaiter Kontakte zu Banholtz unterhalte. 118 In Schlechtbach wurde im Herbst 1616 über die Zukunftspläne Maria Fauts gemunkelt, denn „wie die gemein sag geht“, habe sie vor, „sich in Merrhen zu den Brüdern zubegeben“. 119 Wenn Anzeigen aus der Gemeinde näher identifiziert wurden, so gehörte der Denunziant meist der dörflichen Ehrbarkeit an. In Geradstetten etwa zeigte ein Richter namens Hans Hockstul im Frühjahr 1575 an, der landesverwiesene Hans Vaihinger „wandelt one scheue“ im Ort ein und aus, denn er habe ihn selbst „durchs dorfffaren“ gesehen. 120 In Beutelsbach beschwerte sich im Jahre 1609 „ein Gericht herr“ über Matthäus und Barbara Schätzlin, dass diese mit „ihrer halsstarrigkeit groß ergernus geben“. 121 Seltener wurden Dorfbewohner als Informationsquellen namentlich festgehalten. Im Jahre 1619 jedoch äußerte Christian Rüelin, Margaretha Hellwarts „nechster Nachpar“ aus Beutelsbach, den Verdacht, Margaretha besuche täuferische Versammlungen in Heinbach, obwohl sie selbst behaupte, nach Esslingen zu gehen. 122 In der Regel wurden Täufer und Täuferinnen von Seiten der Bevölkerung nicht angezeigt. 123 Insbesondere Familienmitglieder wurden in Schutz genommen. 124 Ein gutes Beispiel hierfür ist Hans Banholtz aus Urbach, der im Jah- 115 LKA A26/ 466 II, f. 161r, 167v, 181r. 116 LKA A26/ 466 I, f. 15r, 19r, 23v. 117 LKA A26/ 466 II, f. 161r. 118 LKA A26/ 466 II, f. 167v. 119 LKA A26/ 466 II, f. 181r. 120 LKA A26/ 466 I, f. 97v. 121 LKA A26/ 466 II, f. 128r-128v. 122 LKA A26/ 466 II, f. 205r. Dabei sollte sie früheren Befehlen zufolge eigentlich zuhause in Ketten liegen. Siehe z. B. LKA A26/ 466 II, f. 128v, 140r, 160r, 168r, 187v, 203r-203v. 123 Clasen, Wiedertäufer, S. 156; Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 606; Mattern, Leben im Abseits, S. 174-177; Oyer, Nicodemites, S. 494. 124 Das Phänomen der Unterstützung von Täufern im Familienkreis begrenzte sich freilich nicht allein auf das Schorndorfer Amt. In der Familie Feckelin in Schmiden im Cannstatter Amt wurde neben Endris Feckelin auch seine täuferische „brüderin“ Margaretha unterstützt. In der Visitation im März 1583 wurde über Margaretha, die Frau Jacob Feckelins, berichtet, sie sei eine „böse verwißne widerteufferin“, die sich „viel anhaimsch“ halte. Dies habe auch ihr Ehemann <?page no="278"?> 279 re 1620 von seinem Pfarrer Johannes Joachim Schüle zur Rede gestellt wurde, weshalb sein Sohn nicht kommuniziere, hatte man doch endlich die restliche Familie Banholtz dazu bewegen können. Hans Banholtz ließ sich auf die Diskussion nicht näher ein, sondern mutmaßte lediglich: „Es wäre sein sohn villeicht noch nit gschickhtt gnug, wenn Ihn der Herr ermahnete, würde er villeicht auch kommen“. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Wortwahl des Pfarrers, Hans Banholtz sei gar keine andere „entschuldigung“ mehr eingefallen, um seinen Sohn zu verteidigen. 125 Nach einer weiteren Vernehmung im Juli 1620 äußerten der Schorndorfer Spezialis und Untervogt den Verdacht, Hans Banholtz wisse sehr wohl, wo sich sein inzwischen weggezogener Sohn Jakob aufhalte. 126 Wenn Aussagen gemacht werden mussten, beließen es die Dorfbewohner vielfach bei möglichst unverfänglichen Andeutungen. 127 So wollte keiner der auf einer täuferischen Waldversammlung im Juli 1616 Gefangenen angeben, etwas über die aus den Händen der Obrigkeiten entflohenen zwei Frauen zu wissen, „wer, wes namens vnd von wannen die weiber seien“. 128 Möglichst ausweichend versuchten auch der Schultheiß und die Richter in Kleinheppach in der Herbstvisitation 1573 auf die Fragen nach den täuferischen Kontakten der Apollonia Treiber zu antworten: „Ob aber die widerteuffer Inn Irem haus zusamen kommen, sagen schulthais vnnd ein Richter von klainen heppach, sie wissen solches nit zusagen, aber doch standt das haus am ort des fleckens, das sie woll künden aus vnnd ein wandlen vnnd von niemandt gesehen werden.“ 129 In diesem Falle lassen sich innerhalb der Ehrbarkeit unterschiedliche Vorgehensweisen erkennen. So wollte der Schultheiß die von einem Richter gemachte Aussage, er habe Apollonia mehrmals im Dorf gesehen, nicht eindeutig bestätigen. Jacob dem Spezialis gegenüber zugegeben. Erklärt habe er seine Unterstützung mit einem Vergleich aus der Tierwelt: „wan man gleich ein Tauben verkauff oder außlaß, komme sie doch bißweilen wider in ihren schlag vnnd der Teubler laß sie gern hinnein, also seÿ es auch mit seinem weib beschaffen.“ Auch Georg Feckelin aus Schmiden war mehrmals untersagt worden, seine als Täuferin verwiesene Mutter zu beherbergen, doch dieser setzte sich unbekümmert über die Verbote hinweg. LKA A1/ 1583 I, f. 67v-68r; LKA A1/ 1586 II I, f. 78r. Für ähnliche Beispiele aus der Schweiz siehe Leu, Täuferische Netzwerke, S. 176-179. 125 HStAS A282/ 3094a, Nr. 25. 126 „[E]s ist aber kein zweifel, der vatter würdt wol wissen, wohin dieser sein Sohn gezogen, dieweil er ohne langst, mitt vnwillen zum Pfahrrern gsagt, Er wöllt das seine kinder alle weren, woh sÿe gern wollten“. HStAS A282/ 3094a, Nr. 26. 127 Insgesamt war das Verschweigen und ausweichende Antworten gegenüber den Obrigkeiten eine durchaus übliche Handlungsform der Bevölkerung. Ähnlich wurden in den Visitationen etwa magische Praktiken von der Bevölkerung vielfach verschwiegen bzw. nur vage angedeutet. Vgl. Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation, S. 181; Labouvie, Verbotene Künste, S. 215; Sabean, Village Court Protocols, S. 10, 21. 128 HStAS A206/ 4417 Nr. 2. 129 LKA A26/ 466 I, f. 16r. <?page no="279"?> 280 Gleichzeitig war er bemüht, den Vorwurf eines nachlässigen Vorgehens gegen die Täufer von sich zu weisen: „Er habe woll etwan gehört, das dise Appolonia dahaimen seie, er habe sie aber selbs nie gesehen, habe auch seither Irenthalben khain beuelch gehabt.“ 130 Es zeigt sich in dieser Aussage der Versuch des Schultheißen, zwischen den unterschiedlichen Erwartungen zu balancieren - einerseits Apollonia Treiber nicht der Visitation auszuliefern, gleichzeitig aber den Anforderungen der Obrigkeiten zumindest pro forma nachzukommen. In der Frühjahrsvisitation 1575 ging es wieder um Apollonia Treiber und ihre mutmaßliche Mitstreiterin Maria Schmidt. Erneut präsentierte sich das Gericht weitgehend unwissend zu den täuferischen Kontakten der Frauen, ließ sich diesmal aber auf eine Einschätzung der Glaubensstärke der Betroffenen ein: „Specialis hat Irethalben ein gantz gericht gefragt, ob sie zugang von Ires gleichen, sagen, sie wissen nichts, mainen die Maria werde iren irrthumb fallen lassen, aber bei der Appolonia werde nichts zuerheben sein.“ 131 Wie das Beispiel aus Kleinheppach nahelegt, mussten sich die Mitglieder der Ehrbarkeit eines Ortes in der Visitation für ihr Handeln bzw. Nicht-Handeln verantworten, wenn ihnen enge Verbindungen zu den Täufern unterstellt werden konnten. 132 Eine Möglichkeit war es, die Schuld von sich zu weisen, indem man darauf pochte, man könne Familienmitglieder nicht gegen ihren Willen in die Kirche oder zur Examination bewegen. So verteidigte sich im Herbst 1573 Margaretha Fauts Stiefvater, ein Urbacher Richter, mit der Begründung, er „künde sie nit zwingen“, nachdem sie „vfferforderung vngehorsam ausbliben“ war. Ähnlich argumentierten im gleichen Ort die Eltern von Lienhart Marx (dem Familiennamen nach zu schließen ebenfalls mit Beziehungen zur Ehrbarkeit), wie auch die Mutter von Adam, Hans und Anna Bauderer. 133 Gelegentlich wurden in den Visitationen oder gegenüber dem Pfarrer vielmehr Versuche unternommen, für unter Täufereiverdacht geratene Nächste ein gutes Wort einzulegen. So beteuerten einige der Beutelsbacher Richter im Herbst 1574, Claus Frey „seie khain widerteuffer, dan er zere mit“; außerdem bekleide er ein weltliches Amt. 134 Die Umkehrung einiger als typisch täuferisch angesehener Tätigkeiten sollte hier den Beweis liefern, dass es sich bei Frey um keinen Sektie- 130 LKA A26/ 466 I, f. 15v-16r. Für eine ähnliche Argumentation siehe LKA A26/ 466 I, f. 47v. Auch in Rudersberg betonte der Schultheiß, er habe alles daran gesetzt, dem Täufer Hans Hasel aufzuspüren, doch diesen leider nicht finden können. LKA A26/ 466 I, f. 72v. 131 LKA A26/ 466 I, f. 98r. 132 Zu den Aufgaben der Ehrbarkeit in der Täuferbekämpfung siehe auch oben Kap. 5.2.1. 133 LKA A26/ 466 I, f. 19v-20r. Siehe auch LKA A26/ 466 I, f. 42r, 167r-167v; LKA A26/ 466 II, f. 109r. 134 LKA A26/ 466 I, f. 68r. <?page no="280"?> 281 rer handeln könne. Dabei war Frey den Visitatoren zufolge Jahre zuvor als Täufer des Landes verwiesen worden. Nach einer Begnadigung durch den Herzog war er aber wieder nach Württemberg zurückgekehrt. 135 In Beutelsbach wiederum setzte sich Maria Nießmüller im Frühjahr 1616 für ihre Nachbarin Margaretha Hellwart ein, die das Abendmahl nicht empfangen wollte. Maria entschuldigte ihre Nachbarin mit der Begründung, Margaretha habe noch ungeklärte Konflikte in der Nachbarschaft. Die Nachbarin selbst unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Margaretha und höre „nichts vnrechts von ihr“. 136 Auch wenn die Fälle seltener überliefert sind, in denen eine Duldung der Dissidenten im Ort Ärger in der Dorfbevölkerung hervorgerufen hätte, bedeutet dies nicht, dass es solche Schwierigkeiten nicht gegeben hätte, sondern lediglich, dass sie in den Quellen nicht erfasst sind. In einer engmaschigen Gemeinschaft konnten sich Dorfbewohner möglicherweise viel Ärger ersparen, wenn sie täuferische Nachbarn nicht anzeigten, insbesondere dann, wenn diese der lokalen Ehrbarkeit nahe standen. Denunziation und Dorfleben passten insgesamt nur bedingt zusammen, da „solidarisches Verhalten“ für ein funktionierendes Zusammenleben „zum großen Teil überlebensnotwendig“ war. 137 Von den Dorfbewohnern genügten auch unpräzise Aussagen, um dorfintern den Verdacht zu erheben und die Betroffenen in das gewollte Licht zu rücken, ohne jedoch zum offiziellen Eingreifen der Obrigkeiten zu führen. 138 Andererseits konnte die Visitation gerade dazu genutzt werden, um mit Hilfe der Obrigkeiten gegen unliebsame Nachbarn vorzugehen - ohne diese jedoch direkt anzuzeigen und somit ggf. in direkten Konflikt mit dem Angezeigten zu geraten. 139 Auch hierbei blieben die Anzeigen bewusst anonym und vage. So ist es etwa nicht mehr zu klären, wer in 135 LKA A26/ 466 I, f. 67v. 136 LKA A26/ 466 II, f. 174r -174v. 137 Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 185. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Scheitern der obrigkeitliche Versuche späten im 16. Jahrhundert, ein System verlässlicher Informanten vor Ort aufzubauen. So wurde in Württemberg zwar 1562 das Amt der heimlichen Rüger eingeführt, die aufgrund ihres Amtseides verpflichtet waren, Anzeigen über die Bevölkerung zu erstatten. Diese Amtsträger stießen in den Gemeinden auf wenig Unterstützung und überhaupt fanden sich nur wenige, die sich dieses Amtes annehmen wollten, da sie bei Übernahme des Amtes mit einem Ansehensverlust im Ort rechnen mussten. Schon 1567 wurde das Experiment von Seiten des Landtages als nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich abgeschafft. Interessant ist, dass die Mitglieder der vom Landtag aufgestellten Kommission „die mit der Institution der heimlichen Rüger verbundene Idee der Kontrolle“ als „problematisch“ ansahen. Es sei nicht die Pflicht des Landesherrn, über alle Gegebenheiten der Gemeinden informiert zu sein, sondern man solle den lokalen Amtsrägern vertrauen, dass diese relevante Informationen weiterleiten bzw. Missstände anzeigen und ahnden würden. Insgesamt baute man eher „auf die Selbstregulierungstendenzen in den Gemeinden als auf obrigkeitliche Eingriffe“. Ebd., S. 181-186. Zu den policeylichen Grundlagen und dem zeitgenössischen Begriffder Denunziation siehe Weber, ‚Anzeige‘ und ‚Denunciation‘. 138 Vgl. Sabean, Village Court Protocols, S. 10, 21. Zu den Begriffen ‚Geschwätz‘ und ‚Geschrei‘ in der dörflichen Öffentlichkeit siehe auch Ders., Das zweischneidige Schwert, S. 173f. 139 Vgl. Konersmann, Kirchenvisitation, S. 607f.; Schmidt, Glaube - Herrschaft - Disziplin, S. 112. <?page no="281"?> 282 Beutelsbach im Frühjahr 1611 mit der Information an den Pfarrer oder die Visitatoren herantrat, Matthias Schätzlin „seÿ von den Brüdern zu einem vorsteher aufgeworffen worden“. 140 Einen weiteren Einblick in die Dynamiken der dörflichen Kommunikation bietet das bereits genannte Beispiel Beutelsbach im Frühjahr 1616. Dort wies Maria Nießmüller darauf hin, dass sich diejenigen im Ort, die ihre Nachbarin Margaretha Hellwart „in die schand gebracht“ haben, ihre Ehre nicht wieder hergestellt hätten, so dass „sie zu stuttgardt, als solt sie vnrein sein, besichtiget worden“ sei. 141 Die Vorladung Margarethas nach Stuttgart - vermutlich vor das Konsistorium oder die Kanzlei - brachte in der örtlichen Öffentlichkeit den Verdacht mit sich bzw. verstärkte die dort bereits herrschende Meinung, sie sei unrein und unehrenhaft. Dies könnte dahingehend ausgelegt werden, dass (sofern es sich hier um ihren Täufereiverdacht handelte) die Zugehörigkeit zu den Täufern in Margarethas Heimatort Beutelsbach nicht nur positive Reaktionen hervorrief. Möglicherweise hatten gerade Margarethas täuferische Einstellungen und Aktivitäten sie in Schwierigkeiten im Dorf gebracht. 142 Mehr als vage Andeutungen sind allerdings auch in diesem Zusammenhang nicht überliefert. In Urbach dagegen sind die Frontlinien deutlicher zu erkennen. Hier wurde im Zuge der 1598-99 durchgeführten Spezialvisitation zunächst die starke Präsenz und sogar Akzeptanz der Täufer in der Gemeinde festgehalten. Nicht nur verweigere man trotz der in den Vogtgerichten immer wieder eingeschärften Anzeigepflicht konsequent die Denunziation sektiererischer Nachbarn. Die Täufer sollen darüber hinaus die religiösen Auffassungen nahezu aller Dorfbewohnern gründlich ins Wanken gebracht haben. Wie der Pfarrer Gregorius Glareanus berichtete, würden die irregeführten Urbacher „kallt vnd warm auß einem Mundt blassen“; in anderen Worten „eintweder nit wissen was sie glauben, oder im glauben zweÿfflen, ob sies schon nit durchauß mit ihnen halten“. 143 „Daher der gröste thail ihnen so gar günstig vnd genaigt, d[a]s man sich an außreüttung derselben fromen Leüt, (ut loquuntur) an denen man sich hoch versündige, nur ärgert. 140 LKA A26/ 466 II, f. 131v. 141 LKA A26/ 466 II, f. 174v. Bezeichnenderweise hieß es später auch über Maria Nießmüller, sie sei eine Täuferin, die vor der Visitation im Frühjahr 1617 im Gefängnis gewesen sei. Weiter wurde berichtet, sie habe noch nie kommuniziert. LKA A26/ 466 II, f. 187r-187v. Siehe auch LKA A26/ 466 II, f. 195r. Im Jahre 1619 beklagten sich die Visitatoren, Margaretha Hellwart und Maria Nießmüller würden sich gegenseitig in ihrem Glauben verstärken (so habe „eine die andere verführt vnd Im Irthumb gestärckht“). LKA A26/ 466 II, f. 207r. 142 Im Herbst 1618 wurde Näheres über die täuferischen Kontakte und Aktivitäten Margaretha Hellwarts festgehalten. Sie war bereits zuvor mit der Ankettung in ihrem Haus bestraft worden, doch hatte sich regelmäßig befreit. Nicht nur bewegte sie sich frei in ihrem Haus, sondern sie ging „auch auf die märckt vnd genechtbarte ort“. Als Anhänger Margarethas wurden in diesem Zusammenhang neben ihrer Schwiegermutter die Frau von Michael Esenwein und Maria Nießmüller genannt. Nachdem mit ihr „allerhand gradus, aber vergebenlich, versucht worden“ seien, war ihr Fall nun weiter an den Oberrat zu leiten. LKA A26/ 466 II, f. 203r- 203v. 143 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. <?page no="282"?> 283 Ist auch deßwegen ein algemeine Rede, wan der Pfarrer den Vrbächern den Daumen nit so hart vffden Aug hiellte, wurde in kürtze der ghentz fleckh widerteüfferisch.“ 144 Angesichts dieser starken protäuferischen Gruppe musste sich die gegnerische Partei damit begnügen, dem Pfarrer nachts heimliche Briefe unter die Haustür zu schieben, in denen Täufer denunziert wurden. 145 Der Urbacher Pfarrer Georg Glareanus gab in seinem Bericht den Inhalt zweier Briefe wortgenau wider und paraphrasierte einen dritten, die er im Verlauf der Jahre 1597 und 1598 bekommen hatte. Im ersten wurde bekannt gemacht, dass Barbara Halt und Ursula Rubin, zwei Töchter des Richters Konrad Anckelin „zu der ketzerischen Trumppanna in die Schul gehen“. 146 Nach einer missbilligenden Beschreibung, derzufolge die als Täuferin bezichtigte Barbara Halt selbst bei der Beerdigung ihres Kindes die Kirche nicht habe betreten wollen, wurde dem Pfarrer nahegelegt, in seinem „Register“ nachzuschlagen, wann die Frauen das letzte Mal kommuniziert hätten. 147 Dies zeigt, dass die Abendmahlsverweigerung eine dem Schreiber - und vermutlich dem ganzen Dorf - bekannte Praxis war, an denen man Täufer erkennen konnte. Weiter beschrieb der anonyme Denunziant die Handlungsformen der beiden Schwestern Barbara und Ursula: „Sie gehen gar nit in Ewer Predigt: sie verachten Eüch vnd ewer Predigt, das Clar wort Gottes. Sie beede weÿber vnnd der Conrad Anckelin seind euch Spinnenfeindt: Vnd wan sie Euch auß dem fleckhen kentten treÿben, wurden sie sich nit saumen.“ 148 In aller Deutlichkeit wurden hier die Positionen markiert und in einen religiösen, wenn nicht sogar konfessionellen, Deutungsrahmen eingeordnet. Auf der Seite Gottes standen der Schreiber und der Pfarrer, auf der gegnerischen - gottlosen - Seite die Verächter dieser Ordnung. Abgeschlossen wurde das Schreiben mit der konkreten Drohung, den Pfarrer in der Kanzlei anzuzeigen, sollte er die genannten Frauen nachsichtig behandeln. Hierbei gab der Verfasser einen Hinweis womöglich sogar auf seine Identität, aber zumindest auf seine Motive und Stellung zum Täufertum: Da der Pfarrer dazu beigetragen hatte, den Vetter des Schreibers (Jörg Faut) zu vertreiben, sei dieser ihm wohlgesonnen und wollte als Hilfestellung diese Anzeige erstatten. 149 Im dritten Brief, den Pfarrer Glareanus im November 1598 erhielt, wurde u. a. die Feindseligkeit der Bürgermeister bzw. der Mitglieder von Rat und Gericht im Allgemeinen gegenüber dem Pfarrer und 144 HStAS A282/ 3094c, f. 85r. 145 HStAS A282/ 3094c, f. 85v. 146 HStAS A282/ 3094c, f. 84r. 147 HStAS A282/ 3094c, f. 84r. Auch bei der Taufe eines Nachbarkindes sei Barbara Halt nicht in der Kirche erschienen. Für einen weiteren Fall, in dem eine vermeintliche Täuferin bei einer Beerdigung nur bis vor den Kirchhof mitging siehe LKA A26/ 466, Bd. 1, f. 167r. 148 HStAS A282/ 3094c, f. 84r. 149 Glareanus allerdings behauptete, nicht zu wissen, von wem die Briefe stammten. HStAS A282/ 3094c, f. 84r. <?page no="283"?> 284 seiner Predigten herausgestellt. Allein die Degradierung des Kirchendieners zu einem „schelm“ musste sein Ansehen und seine Ehre auf grobe Weise antasten: „Weitter, Lieber Pfarrer, Ich laß dich weitter wissen, wie sie sich wider dein Lehr setzen vnnd streben: So baldt sie von deiner Predigt kommen, so lauffen sie zusamen vnd schmähen dich, d[a]s Gott nit Gott seÿ, du liegest vil mahl wie ein schelm.“ 150 Wie das Beispiel des ‚geteilten‘ Dorfes Urbach nahelegt, wäre es übertrieben zu behaupten, die ländliche Gesellschaft wäre der Täuferbewegung insgesamt nur mit Wohlwollen begegnet. Robert von Friedeburg hat die Konflikte zwischen den Täufern und ihrer dörflichen Nachbarschaft am Beispiel Hessens sogar als den Regelfall herausgestellt. Die Täufer waren auf die Unterstützung ihrer Familien- und Verwandschaftsnetzwerke angewiesen, um sich gegenüber einer „insgesamt eher feindselige[n] Umwelt“ abzuschirmen. Friedeburg zufolge mussten die Täufer damit rechnen, „in der Regel sofort“ denunziert zu werden. Insbesondere sollen die täuferischen Taufpraktiken „Mißtrauen und Feindseligkeit“ bei ihren andersgläubigen Nachbarn erweckt haben. Doch auch die strengere Sittenzucht der Täufer musste „Empörung“ bei den Zeitgenossen hervorrufen, die sich gegen eben solche Maßnahmen von Seiten der Obrigkeiten vehement wehrten. 151 Die Absonderung der Täufer aus der Dorfgemeinschaft, die Friedeburg als gegeben voraussetzt, soll die Kluft zwischen den Täufern und ihren Nachbarn weiter vertieft haben. 152 Es ist davon auszugehen, dass Feinde insbesondere in der dörflichen Führungsschicht den Täufern das (Über-)Leben im Ort äußerst schwierig machen konnten. So gab der Endersbacher Richter Veit Hauck im Frühjahr 1574 bereitwillig Auskunft über den acht Jahre zuvor landesverwiesenen Friedrich Bauer, der aber in seinem Heimatdorf unbehelligt ein und aus gehe. Hauck habe nur zwei Wochen vor der Visitation beobachtet, wie Bauer „hin vnnd her stro [schneidt]“. Neben der Missachtung eines fürstlichen Befehls führte Hauck zwei weitere schwere Vorwürfe ins Feld, die zum Nachteil der Gemeinschaft und gesellschaftlichen Ordnung ausfielen: Bauer „verfüert die leut, wa er khan, wann Er nit einhaimisch, so muß weib vnnd kindt betteln“. Er würde gerne mit Frau und Kindern fortziehen, doch erlaube man es ihm nicht, seinen Besitz zu verkaufen. 150 Das Schimpfwort ‚Schelm‘ gehörte zum relativ festen Instrumentarium frühneuzeitlicher Ehrkonflikte, vgl. Fuchs, Um die Ehre, S. 189. Weiter wurde die Ernsthaftigkeit der Lage durch den Hinweis des anonymen Schreibers auf den Teufel unterstrichen: „Weitter sagen sie wider dich, sie wöllen alhie bleÿben, vnd miesse der Teüffel den Pfarher für das Dorffhinauß führen, Noch wöllen sie hie bleÿben. [15]98. Lieber Pfarrer, der diß hatt geschriben, der gönnt dir vnnd deiner haußfrawen guts.“ HStAS A282/ 3094c, f. 84r-84v. 151 Friedeburg, Untertanen und Täufer, S. 215-218. 152 Ebd., S. 220. Allerdings setzt seine Interpretation festgefügte konfessionelle Identitäten voraus und bedenkt nicht die Möglichkeit von instrumentalisierten Argumenten bzw. Vorwänden in den Quellenaussagen. <?page no="284"?> 285 Endersbach bliebe so mit diesem Täufer „beschweret“, der außerdem noch „zugang von seines gleichen“ habe. 153 Neben Feindseligkeit, Indifferenz und Sympathie erweckten die asketischen Lebensentwürfe der Täufer teilweise einfach die Neugier ihrer Nachbarn. Da es vielen Zeitgenossen nicht ganz klar zu sein schien, was diese Menschen „angeblich so gefährlich machte und weswegen sie so gnadenlos verfolgt wurden“, wollten sich viele selber ein Bild von den Täufern machen, das jenseits der obrigkeitlichen Propaganda lag. Womöglich faszinierte sie hierbei die eng mit den Täufern verknüpfte „Sphäre des Anrüchig-Verbotenen“. 154 Wie die Argumentation einiger Geradstettener im Jahre 1609 nahelegt, konnten die Täufer auf ähnliche Weise fremd beschrieben werden wie etwa die Katholiken. Als sie aufgrund ihrer Teilnahme an einer täuferischen Versammlung von den Visitatoren zur Rede gestellt wurden, erklärten sich Michael Krämer, Jakob Gebelin, Michael Schilling, Hans Seifer sowie die Ehefrau des Georg Mansschreck, der Versammlung aus „einem fürwitz, anderst nit, als da einer etwan in ein papistische kirchen gehet“, beigewohnt zu haben. 155 Diese Erklärung mag freilich auch den Versuch dargestellt haben, das Geschehene zu verharmlosen und die Visitatoren von der eigenen Ungefährlichkeit zu überzeugen. Solchen Fürwitz wollte die Kirchenleitung jedoch nicht durch die Finger sehen, stellte doch jeder Zuhörer die Gefahr eines neuen Sympathisanten dar, sollten sie Gefallen an den in den Versammlungen miterlebten täuferischen Auffassungen und Frömmigkeitsformen finden. Hätten die Vorgeladenen Geradstettener sich nicht „dem widertauffmit mund vnd hertzen verdambt“, hätte der Synodus sie gerne statt einer Vermahnung handfest bestraft. Nun jedoch legte er dem Spezialis lediglich auf, „in künfftiger Visitation vleißige nachforschung zuhaben, wessen sich besagte Personen seithero verhalten“. 156 Ihr künftiges Verhalten würde zeigen, inwiefern die von den Vorgeladenen als Begründung angegebene Neugier als Motiv Bestand hatte - oder ob sich nicht doch etwa aufgrund ausbleibender Predigt- oder Abendmahlsbesuche täuferische Sympathien ausmachen ließen. Dies bedeutet, dass die Visitatoren das Argument der Neugier nicht für grundsätzlich unplausibel hielten. Es bedurfte jedoch näherer Klärung, ob es von den Verdächtigten aufrichtig vorgebracht oder nur als Ausrede genutzt worden war. Vergleichbar ist der Fall Michael Esenweins aus Beutelsbach, der im Herbst 1616 verdächtigt wurde, auf einer Täuferversammlung dabei gewesen zu sein, die an einem Weinberg in der Nähe von Schornbach abgehalten worden war. Esenwein versicherte den Visitatoren, er sei rein zufällig auf der Veranstaltung gelandet: 153 Die Kirchenleitung ordnete an, die Situation im Auge zu behalten und Bauer, wenn möglich, für eine Befragung festzunehmen. LKA A26/ 466 I, f. 69r. 154 Mattern, Leben im Abseits, S. 172-174. 155 LKA A26/ 466 II, f. 127r-127v. 156 LKA A26/ 466 II, f. 127r-127v. <?page no="285"?> 286 „Nachdem er schulden halben ausgangen, seÿ er Im fürüberreisen vngefehr zu der predig kommen, derselben hab er ein weil zugehört, als er nun Jemanden ersehen, seÿ er (weil ihm nichts gutt eingefallen) daruon gelauffen.“ 157 Die Visitatoren konnten bei der näheren Vernehmung Esenweins keine täuferischen Tendenzen bei ihm feststellen. Seine Entschuldigung wurde vom Synodus zunächst angenommen, doch sollte der Spezialis künftig Bericht erstatten, ob Esenwein die Predigten besuche und am Abendmahl teilnehme oder sich doch noch als Täufer „Suspect erzeige“. Im Frühjahr 1617 konnte den Esenwein den Verdacht weiter von sich weisen, da er die Gottesdienste besuchte und kommunizierte. 158 Insgesamt ist innerhalb der Dorfgemeinschaft von einer ganzen Bandbreite an Einstellungen auszugehen, die erheblichen zeitlichen und regionalen Variationen unterliegen konnten. 159 Am ehesten kamen mit den Täufern und ihrer Bekämpfung natürlich diejenigen Dorfbewohner in Kontakt, in deren familiären oder nachbarschaftlichen Umkreis täuferische Sympathien geäussert wurden. Sie konnten den Prozess des schrittweisen Überführens als Täufer bzw. Täuferin aus nächster Nähe beobachten. Nicht selten hatten die obrigkeitlichen Bekämpfungsmaßnahmen zur Folge, dass die nächsten Freunde und Verwandte aus Mitleid bzw. dem Empfinden, die aus ihrer Sicht frommen und harmlosen Täufer würden zu Unrecht verfolgt oder zu hart angegangen, diesen iher Hilfe gewährten oder sich selber von der Landeskirche distanzierten (eine Art ‚Domino-Effekt‘). Als entscheidend erwies sich die „Stärke der Konfliktlinien im Dorf“, d. h. wie geschlossen sich die Dorfgemeinschaft gegenüber den auswärtigen Visitatoren verhielt. 160 Auf diese Komplexität hat u. a. Roland E. Hofer hingewiesen. Die Befunde Hofers über die Beziehungen der Schleitheimer Täufer zu ihren Nachbarn ab dem späten 16. Jahrhundert zeigen, dass Täufer weniger aus religiösen Anlässen angezeigt wurden als aufgrund materieller Konflikte, die insbesondere um die kommunalen Holz- und Feldressourcen kreisten. Hierbei wurden obrigkeitliche Zuschreibungen aufgegriffen, die Täufer als „destructive and dangerous for the community“ beschrieben. Gleichzeitig wurde die täuferische Selbstzuschreibung in Frage gestellt, ein besonders frommes Leben zu führen. Statt dessen wurde die Scheinheiligkeit und der Hochmut der Sektierer angeprangert. Hofer zufolge griffen die Dorfbewohner insgesamt auf ähnliche Deutungsmuster wie die Obrigkeiten zurück, indem sie die Täufer als Bedrohung für das Gemeinwohl 157 LKA A26/ 466 II, f. 182v. Zum Versammlungsort siehe LKA A26/ 466 II, f. 181v-182r. 158 LKA A26/ 466 II, f. 182v; LKA A26/ 466 II, f. 188r. 159 Die „Fraktionierung der einheimischen Bevölkerung“ in ihren Positionen gegenüber vermeintlichen Ketzern, die Gerd Schwerhoffin den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inquisitionsakten beobachtet hat, dürfte auch auf die Täufer und ihre Umwelt zutreffen. Diese Meinungsverschiedenheiten wussten die Inquisitoren vielfach auszunutzen. Vgl. Schwerhoff, Inquisition, S. 57. 160 Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 181. <?page no="286"?> 287 stilisierten. Einerseits sieht er die Täufer eher als Außenseiter als vollends integrierte Mitglieder in der Dorfgemeinschaft an, deren Akzeptanz letztlich durch das Zusammenspiel vieler Faktoren bestimmt wurde. 161 In Krisensituationen konnten dann stereotype Deutungsmuster aktiviert werden, die den Ängsten der weltlichen wie kirchlichen Obrigkeiten entsprachen, die „clearly uncertain about the loyality of their subjects“ waren. 162 Andererseits stellt Hofer den Denunziationen eine grundsätzliche Duldung der Täufer im dörflichen Kontext zur Seite, die ihr Überleben angesichts obrigkeitlicher Repressalien überhaupt ermöglichten. Der Grund hierfür liegt laut Hofer im Antagonismus der Bevölkerung gegenüber den herrschaftlichen Disziplinierungsmaßnahmen. So setzten sich die Schleitheimer oftmals über die obrigkeitlichen Anordnungen der Täuferbekämpfung hinweg bzw. ignorierten diese einfach. 163 Die Duldung der Täufer schloss eine Duldung ihrer religiösen Praktiken mit ein. So beobachtet er zum Beispiel, dass die Dorfgemeinschaft den Täufern meist freie Wahl ließ, ob diese ihre neugeborenen Kinder zur Taufe bringen wollten oder nicht. 164 Obwohl es unzutreffend wäre, von einer strengen Dichotomie zwischen gelehrter und ungelehrter Religiosität auszugehen, waren religiöse Auffassungen bzw. Frömmigkeitspraktiken der professionellen Theologen und der Laien sicherlich nicht deckungsgleich. Aus einem komplexen Aneignungs- und Ausformungsprozess entstanden auf lokaler Ebene eine Reihe von Überschneidungen, aber auch Unterschiede zu den offiziellen Normen. 165 Selbst wenn es außeror- 161 Hofer, Popular Resistance, S. 126f.; Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 606f. Auch Marlies Mattern hat auf das breite Spektrum der Einstellungen der Zeitgenossen zu den Täufern aufmerksam gemacht: Ihr Verhalten „war nicht grundsätzlich bestimmt von Ab- und Ausgrenzungsversuche der ihnen manchmal seltsam anmutenden Täufer. Wie zu allen Zeiten gab es feindselige und freundliche, mißgünstige, indifferente oder einfach nur neugierige und wohlwollende Nachbarn, Freunde und Verwandte.“ Mattern, Leben im Abseits, S. 171. Auf ähnliche Deutungsmuster weisen die im Kapitel 5 behandelten Fälle in Urbach und Rudersberg hin. 162 Hofer, Popular Resistance, S. 132. 163 Ebd., S. 127-129. Auch Claus-Peter Clasen hat die geringe Anzeigebereitschaft in Württemberg mit dem Vorrang dörflicher Solidarität gegenüber obrigkeitlichen Anforderungen erklärt. Als weitere Gründe für die bäuerliche Duldung bzw. Unterstützung der Täufer und Täuferinnen führt Clasen den Mitleid mit den „ewig gehetzten“, die Beeindruckung von der Lebensführung der Täufer und Täuferinnen, das Empfinden von der Konfiszierung täuferischer Güter als Rechtsbruch, die Ablehnung der „religiöse[n] Engherzigkeit“ der Theologen sowie religiöse Gleichgültigkeit an. Religiöse Differenzen rücken hierbei als zweitrangig in den Hintergrund. Clasen, Wiedertäufer, S. 157f. 164 Hofer, Popular Resistance, S. 130. Dagegen konnten die Täufer Mark Furner zufolge mit der Ablehnung der Kindertaufe an die Grenzen der dörflichen Duldung stoßen: „Living in a context that regarded child baptism as essential for salvation, the Anabaptist rejection of the rite clearly risked provoking the animosity of fellow villagers, many of whom might otherwise have been inclined to aid or protect them.“ Einige gingen schließlich Kompromisse ein und ließen ihre Kinder taufen; gelegentlich wurden diese Kinder in Abwesenheit ihrer Eltern von Dritten zur Taufe gebracht. Furner, Lay Casuistry, S. 446-448. 165 Als Kern ländlicher Christlichkeit in der Frühen Neuzeit hat bspw. David Mayes den Glauben an den christlichen Gott, in Christus als Sohn Gottes, in den Tod und die Auferstehung Christi <?page no="287"?> 288 dentlich schwierig ist, Glaubensvorstellungen unter der Bevölkerung durch obrigkeitlich überlieferte Quellen zu bestimmen ist, darf man davon ausgehen, dass es einen Kern an geteilten Überzeugungen gab, auf die man in der Visitation rekurrieren konnte, ohne in Sektiererverdacht zu fallen. Bei diesem Versuch, die eigene Religiosität möglichst konform darzustellen, sind mitunter Brüche festzustellen, an denen die Nachfragen der Visitatoren dann ansetzten (so z. B. in den bereits behandelten Auffassungen zum Abendmahl). Aufgrund der bestehen gebliebenen Beziehungen vieler der als Täufer Vorgeladenen zu ihren Nachbarn und Verwandten darf der Schluss gezogen werden, dass diese Menschen offensichtlich nicht so stark gegen die dörflichen Auffassungen von Religion bzw. Christlichkeit verstießen, um grundsätzlich ihres Glaubens wegen angezeigt zu werden. Die Gründe für die Unterstützung bzw. Duldung müssten somit innerhalb den Netzwerken bzw. Kräftefeldern sowie der Bedeutung der Religion im dörflichen Kontext zu suchen sein. 166 Insgesamt folgert Hofer, dass die Täufer in der Dorfgemeinschaft aufgrund ihrer kommunalen und familiären Bindungen innerhalb Schleitheims geduldet und vor obrigkeitlichen Maßnahmen geschützt wurden: „The village community succesfully engaged in passive - but periodically also active - resistance to the disciplining efforts of the authorities, and they succeeded in protecting individual villagers effectively from governmental attacks. Indeed, within the village community, the question as to whether someone was an Anabaptist or not appears not to have been all that relevant. Thus the village perspective differed from that of the government, which contributed significantly to the largely unsuccessful efforts of the authorities to combat the Anabaptists.“ 167 Ähnlich hat Hanspeter Jecker den täuferischen Protest im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert aufs Engste „mit dem Widerstand weiterer, vorwiegend ländlicher Bevölkerungsteile gegen die obrigkeitlichen Massnahmen zur Intensivierung der Herrschaftsdurchdringung auf dem gesamten Territorium“ verknüpft. 168 Dies fügt sich durchaus in den breiteren Kontext der frühneuzeitlichen Herrschaftsverdichtung, ist doch unter der Bevölkerung eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Implementation obrigkeitlicher Normen beobachtet worden, sofern diese gegen die herkömmlichen Normen und Bräuchen verstießen. 169 als Versöhnung der Sünden, die Teilnahme an den christlichen Sakramenten sowie das Verständnis von der Bibel als Wort Gottes ausgemacht. Diese Punkte wurden laut Mayes von allen innerhalb der ländlichen Bevölkerung geteilt. Mayes, Communal Christianity, S. 6. Siehe auch Conrad, „Bald papistisch“. 166 Vgl. Monge, Überleben durch Vernetzung; Schlachta, „Als ob man uns von engeln gottes saget“, S. 201-222; Leu, Täuferische Netzwerke. 167 Hofer, Popular Resistance, S. 130f. Vgl. Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 606-608. 168 Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 591. 169 Siehe z. B. Dixon, Religiöse Transformation, S. 32f., 41; Landwehr, Policey vor Ort, S. 58f.; Rublack, Herrschaftspraxis, S. 375; Wegert, Popular Culture, S. 27, 35, 39f. <?page no="288"?> 289 Es bleibt abschließend feszuhalten: Wenn die Visitationen nur in dem Maße Informationen nach oben durchdringen ließen, wie es vor Ort zumindest von einigen Personen, Gruppen oder Kräftefeldern gewollt wurde, so bedeutet dies, dass die Obrigkeiten über diesen Kommunikationsweg nur bedingt Auskunft über die Täufer gewinnen konnten. Die relative Langlebigkeit der württembergischen Täuferbewegung lag somit in hohem Maße in ihrer lokalen Tolerierung begründet. Mehr noch als die Pfarrer waren die Einstellungen der dörflichen Ehrbarkeit und ihrer Nachbarn entscheidend für die Täuferbekämpfung bzw. Duldung religiöser Nonkonformisten in der Dorfgemeinschaft. Wurden Täufer und Täuferinnen von Schultheiß, Gericht und Rat geduldet, gab es kaum jemanden, der sie hätte effektiv vertreiben können. 170 Gleichzeitig hatten die Täufer kaum Möglichkeiten in Gemeinden, in denen sie in den wichtigsten Familien kein Gehör fanden bzw. keine Verwandte hatten, Fuß zu fassen. Für ein umstrittenes Phänomen wie das Täufertum gilt die generelle Beobachtung von Helga Schnabel-Schüle in ganz besonderem Maße, dass die „Intention der jeweiligen Dorfgemeinschaft“ entscheidend dazu beitrug, „[w]elche Informationen angesichts dieser Kontrolle von außen wirklich auch weitergegeben wurden“. 171 So blieben die Normgeber in Stuttgart auch in der Täuferbekämpfung auf die Kooperation mit den lokalen Amtmännern und der Bevölkerung angewiesen. 6.2. Strategien und Argumente der Verdächtigten 6.2.1. Die Vorgeladenen unter Zugzwang In den oben genannten Beispielen ließen sich bereits Handlungsformen erkennen, auf die als Täufer verdächtigte Personen innerwie auch außerhalb den Visitationen wiederholt zurückgriffen. Man kann diese durchaus mit den Überlebensstrategien der Täufer im Berner Raum vergleichen, wie sie Mark Furner herausgearbeitet hat. Furner zufolge vermieden die als Täufer Verdächtigten nach Möglichkeit die Vorladung bzw. das Erscheinen vor den lokalen Gerichtsinstanzen, gingen bei Bedarf Kompromisse in ideologisch weniger zentralen Punkten ein und versuchten mit allen Mitteln der Festschreibung als Täufer zu entgehen: „In a repressive environment, in which a matter of definition could mean the difference between exile and continuation, it was better not to attract attention.” 172 Außerdem hat Furner bei einigen Täufern die Tendenz beobachtet, einen unter Druck geleisteten Widerruf oder Eid als als unverbindlich anzusehen. Dies scheint insbesondere in Bezug auf den Eid der Landesverwiesenen der Fall gewesen zu sein, das Territorium nicht mehr zu betreten. Eine ähnliche Einstellung 170 Clasen Wiedertäufer, S. 158. 171 Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 181. 172 Furner, Lay Casuistry, S. 458. Siehe auch Furner, Repression and Survival, S. 310-414. <?page no="289"?> 290 hat Caroline Gritschke bei süddeutschen Schwenckfeldern festgestellt. 173 Diese Strategien hatten die Betroffenen aus gegebenem Anlass und aufgrund ihrer Erfahrungen mit den obrigkeitlichen Maßnahmen entwickelt; sie variierten je nach den regional und zeitlich unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Bekämpfung und Bestrafung von Dissidenten. 174 Es handelte sich um eine ad hoc entstandene Handlungsform, für die auch im Nachhinein keine theologische Legitimation gesucht wurde. 175 Dass von solchen Praktiken nicht auf die inneren Einstellungen der als Täufer Verdächtigten oder die Qualität ihres Glaubens geschlossen darf, legt Furner überzeugend dar: „Criticizing these Anabaptist survival tactics for their dishonesty or lack of fortitude is naive. […] For as long as their colleagues still communed with them, and as long as they maintained an otherwise pious lifestyle, such dissenters were prepared to trust that an all-powerful and merciful deity might understand and forgive them. Thus, secrecy, compromise and casuistry belonged to the rules of survival among the later Anabaptists in the Emmental.” 176 Überleben war in diesem Fall für die Betroffenen wichtiger als - ohnehin ein problematisches Konstrukt - eine ‚täuferische Identität‘. Die Vorgeladenen mussten in den Visitationen ihre Position rechtfertigen und argumentierten somit stets aus der Defensive. Eike Wolgast hat zu Recht auf die ungleiche Machtverteilung zwischen Obrigkeit und Täufer in den Verhören hingewiesen, indem er betont hat, dass es im 16. Jahrhundert keine „Begegnungen unter gleichen Bedingungen für beide Seiten […] zwischen Täufern und weltlichen Obrigkeiten bzw. deren theologischen Beauftragten“ gegeben hat. 177 Allerdings gilt dies nicht nur für vermeintliche Sektierer, sondern ebenso für die im Zuge der Visitation überprüften weltlichen und insbesondere kirchlichen Amtsträger vor Ort. 178 Das formalisierte Verfahren schützte gleichzeitig vor willkürlicher Behandlung durch die Machthaber. Wie Helga Schnabel-Schüle im Zusammenhang mit den frühneuzeitlichen Strafprozessen betont hat, gingen diese Verhöre zumindest nach der allerersten Befragung, in dem noch mehr Spielraum bestand, nach festen Regeln vonstatten und waren somit „nicht der Willkür der- 173 Insbesondere wurde das Abhalten von oder die Teilnahme an Konventikeln geleugnet. Gritschke, „Via Media“, S. 349. Oyer, Nicodemites, S. 510f., sieht in der Nähe der württembergischen Täufer zu den Schwenckfeldern einen weiteren Grund, einen unter Druck abgelegten Eid nicht als verbindlich anzusehen. Furner, Lay Casuistry, S. 432, 459-463, wiederum konstatiert, dass die juristische Grundlage eines erzwungen Eidschwurs unter den Zeitgenossen insgesamt umstritten war. 174 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 463-469. 175 Vgl. Oyer, Nicodemites, S. 512. Siehe auch Gritschke, „Via Media“, S. 339f., 352-354. 176 Furner, Lay Casuistry, S. 462f. Siehe auch ebd., S. 470. 177 Wolgast, Stellung der Obrigkeit, S. 89f. Siehe auch Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit, S. 445. 178 Vgl. oben Kap. 5. <?page no="290"?> 291 jenigen unterworfen, die die Verhöre führten“. 179 Allerdings wurden die Grenzen der Handlungsräume der vermeintlichen Sektierer mit jeder Vorladung zur Visitation oder einer anderen Vernehmung tendentiell enger gezogen. 180 Bedrohlich muss aus der Perspektive der Vorgeladenen allein die Tatsache gewirkt haben, dass über die Verhandlungen Protokoll geführt wurde. 181 Die Protokollanten hatten Anweisungen, zunächst alle Informationen festzuhalten. Zu befürchten war, dass „[w]hatever was said in the course of the interviews was taken down, leaving it to higher administrative echelons to discriminate between accurate observation and idle gossip“. 182 In anderen Worten: Alles was man in der Vernehmung sagte, konnte schriftlich fixiert werden und dem oder der Betroffenen später ggf. mehrmals vorgehalten werden. Die Entscheidungen wurden fernab im Synodus in Stuttgart getroffen, mit der Tendenz, allen suspekten Personen und Tatbeständen näher auf den Grund zu gehen. 183 Wer etwas zu befürchten hatte, etwa aufgrund einer nonkonformen religiösen Haltung, war in den Visitationen der realen Gefahr ausgesetzt, durch das während der Visitation geweckte Interesse und insbesondere im Falle einer Festschreibung als Täufer oder Sektierer weitere obrigkeitliche Aufmerksamkeit und Maßnahmen auf sich zu ziehen. Aufgrund der Visitationsprotokolle waren die Festschreibungen in Stuttgart prinzipiell jederzeit zu überprüfen und formten zusammen mit den im Prozess entstandenen Beiakten die Grundlage für weitere Entscheidungen. Möglichkeiten zu Verhandlungen bot die Ausrichtung der Täuferpolitik in Württemberg, die die Todesstafe grundsätzlich ablehnte und großen Wert auf die Besserung durch Belehrung sowie ein gestaffeltes Strafverfahren legte. 184 Das Ziel der Kirchenleitung war die Wiedereingliederung der Abtrünnigen in die lutherische Kirche und Gesellschaft. Die Vertreter der Landeskirche waren verpflichtet, ihr Bestmögliches zur Bekehrung der Dissidenten zu tun, doch in letzter Instanz entschied Gott über das Schicksal und somit das Seelenheil der Menschen. So lag letztendlich auch die Beseitigung der Täuferbewegung in der Hand des Allmächtigen. 185 Die als Täufer Verdächtigten konnten zu jedem Zeitpunkt in dem 179 Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen, S. 24f. Siehe auch Dies., Ego-Dokumente, S. 298- 301, sowie speziell im Hinblick auf die Visitationsakten Dies., Kirchenleitung und Kirchenvisitation, S. 72. Vergleichbares ist für frühneuzeitliche Hexenprozesse festgehalten worden, vgl. Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, S. 260; Roper, Witch Craze, S. 50f. 180 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 450f; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 435. 181 Vgl. Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit, S. 450f. 182 Strauss, Luther’s House of Learning, S. 254. 183 Vgl. Landwehr, Policey vor Ort, S. 54. 184 Vgl. oben Kap. 3.1.2. 185 Darauf weisen einzelne Vermerke der Visitatoren hin, wie etwa der Eintrag zu Maria Faut im Frühjahr 1617. Der eigensinnigen Frau gegenüber wurden im Synodus keine neuen Maßnahmen mehr verordnet, sondern der Synodus hielt nahezu resigniert fest: „der Specialis vnd Pfarrer thüen Ihr officium, das vberig muß man Gott befehlen“. Andererseits wurde in erfolgreicheren Fällen, wie etwa nach der Bekehrung und dem öffentlichen Widerruf des langjährigen Dissidenten Konrad Faut die Ehre ebenfalls Gottes Wirken zugeschrieben: „Ist Gott darfür zudannken“. LKA A26/ 466 II, f. 187r. Siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 439, demzufolge manche Pfarrer <?page no="291"?> 292 langen Verfahren von erster Vorladung bis zum Landesverweis von ihrem Recht auf formellen Widerruf Gebrauch machen. Dieser Widerruf musste als verbindlich anerkannt werden, selbst er wenn von der Kirchenleitung nicht immer für aufrichtig eingeschätzt wurde. Man konnte somit jederzeit ‚aussteigen‘ und nach getaner Buße und ggf. Bestrafung wieder in die lutherische Landeskirche und Gesellschaft aufgenommen werden. 186 Für die meisten der als mutmaßliche Täufer oder Täuferinnen Vorgeladenen galt in der Visitation das, was Gerd Schwerhofffür Kölner Turmhäftlinge in der Frühen Neuzeit geltend gemacht hat: „Sie mußten bestrebt sein, das eigene Verhalten in möglichst rosigen Farben zu schildern, ohne sich unglaubwürdig zu machen, alle Vorwürfe zu leugnen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.“ 187 Je weniger konkrete Informationen die Vorgeladenen in der Vernehmungssituation preisgeben mussten, desto geringer war die Gefahr, sich zu verzetteln oder einen Mitstreiter oder Angehörigen in Schwierigkeiten zu bringen. 188 Hierbei konnten sich die Betroffenen einer Reihe von Argumentations- und Verhaltensmuster bedienen, die vom unnachgiebigen Abstreiten bis hin zum vollen Geständnis reichten. 189 Manche gaben sogar „bewußt ausweichende oder doppeldeutige Antworten“. 190 Des Weiteren machte die „Dramaturgie des Verhörs“ eine demütige Haltung für die Vorgeladenen notwendig. 191 Nur durch ausreichend zur Schau getragene Reue, Demut und Versicherungen des zukünftigen Gehorsams konnte man die Kirchenleitung in dem Maße von der eigenen Ungefährlichkeit bzw. der Treue zur Landeskirche und Landesherrschaft überzeugen, dass man nicht mehr unter spezieller Beobachtung der Visitatoren stand. Im Falle der ‚hartnäckigen‘ Täufer und der Vorsteher war dafür im Prinzip sogar ein öffentlicher Widerruf notwendig. 192 Praktisch aber konnte man weiteren Vorladungen im Berner Raum die Täufer nicht anzeigten, solange sie auf ihre Besserung hofften. Wie Lyndal Roper jüngst herausgestellt hat, ging es den Obrigkeiten in Hexenprozessen auf ähnliche Weise neben der exemplarischen Bestrafung der Angeklagten auch um ihr Seelenheil. Roper, Witch Craze, S. 57. 186 Entsprechend waren auch die Fragenkataloge der württembergischen Täuferordnungen angelegt, vgl. oben Kap. 4.3.4. Siehe auch Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige, S. 590f.; Seebaß, An sint persequendi haeretici? , S. 91f. Siehe auch die Anweisung des Synodus im Herbst 1612, der Pfarrer zu Großgartach möge Apollonia Bengel aus seiner Gemeinde „priuatim [...] instituiren, ob Sie vor ihrem end noch zugewinnen sein möchte“. LKA A26/ 466 II, f. 142r-142v. 187 Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 105. Siehe auch Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 655. 188 Vgl. Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 150; Oyer, Nicodemites, S. 501. 189 Vgl. Labouvie, Verbotene Künste, S. 257; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 106. 190 Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 148f. 191 Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 107. 192 In der Täuferordnung von 1571 waren für die Zeremonie detaillierte Bestimmungen entworfen worden, die oben in Kap. 3.3.1. näher vorgestellt worden sind. <?page no="292"?> 293 dadurch entgehen, dass man in der Gemeinde nicht mehr mit devianten Auffassungen oder Handlungen auffiel. Es ist davon auszugehen, dass die Vorgeladenen im späten 16. Jahrhundert über die Funktionsweise der Visitationen Bescheid wussten; „sie kannten ihre Regeln und ihre Vorgehensweise und sie konnten sich dieses Wissen zunutze machen“. 193 Auch muss ihnen „die Bedeutung ihrer eigenen Aussagen sehr wohl bewußt“ gewesen sein. 194 Genauso wie sich Menschen vor einem Gerichtsprozess untereinander Erfahrungen austauschten, 195 konnten auch den von der Kirchenleitung vernommenen Ratschläge erteilt werden. So berichtete ein als Täufer verdächtigter Mann im Herbst 1586, es sei ihm im Voraus von den Seinen „gerathen wurden“, nicht mit den Visitatoren zu „disputiern“. 196 War es für viele der als Täufer Verdächtigten offenbar wichtigstes Ziel, in den Visitationen nicht als Täufer überführt zu werden, gaben andere wiederum ohne Weiteres Auskunft über ihre Zugehörigkeit zu einer täuferischen Gruppe oder legten ihre Ansichten offen. 197 Allerdings waren diese Fälle weitaus seltener. Die Aussagefreudigkeit mag durch eine Identifikation mit den Täufern verstärkt worden sein; unter Umständen zeigte man sich dann bereitwilliger, in Glaubensfragen zu diskutieren. 198 Die zeitgenössischen Theologen hatten eigene Begriffe zur Beschreibung der flexibel agierenden Täufer und Täuferinnen. Für den Kirchenratsdirektor Balthasar Eisengrein etwa zeichneten sich Täufer um 1604 dadurch aus, dass sie „sich zu der widertaufferischen Sect, da sie gleich deßhalben angesprochen werden, nitt bekennen wöllen“ und sich so zu verstecken versuchten, um ungehindert ihre Güter verkaufen und davon ziehen zu können. 199 Eisengrein benutzte in diesem Zusammenhang den Begriffder „Heimliche[n] widertauffer“ 200 . Diese Charakterisierung zu Beginn des 17. Jahrhunderts weicht von dem Bild der offen missionierenden Täuferprediger ab, wie sie in den Täuferordnungen beschrieben wurden. Eher weist er mit dieser Beschreibung auf die Handlungsmuster derjenigen Täufer und Täuferinnen (oder die gewandelte obrigkeitliche Wahrnehmung 193 Landwehr, Policey vor Ort, S. 54. Siehe auch Schlachta, Gefahr, S. 415; Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation, S. 252f., 258. 194 Vgl. Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 104. 195 Vgl. Simon-Muscheid, Frauen vor Gericht, S. 391. 196 LKA A1/ 1586 II, f. 78v. Vgl. LKA A26/ 466 I, f. 125r. Zur Vermeidung von Disputationen in Glaubensfragen als täuferische Überlebensstrategie siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 432. 197 Vgl. Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 105, der das bereitwillige und ausschweifende Offenlegen der eigenen Taten auch ohne Anzeichen von Folter beobachtet hat. 198 Vgl. Bernhofer-Pippert, Täuferische Denkweisen, S. 148: „Die Überzeugung, zu den Auserwählten zu gehören, verbunden mit dem stark ausgeprägten Sendungsbewußtsein, führte dazu, daß die Täufer sich in den Vernehmungen als Bekenner fühlten.“ Siehe auch Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 107. 199 HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). 200 HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). Aus dem Berner Raum ist der zeitgenössische Begriff ‚Halbtäufer‘ überliefert, vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 453f. Solche regional spezifischen Bezeichnungen sind bislang nicht näher untersucht worden, wie Schlachta, Gefahr, S. 128f., zu Recht bemängelt. <?page no="293"?> 294 dieser Menschen) hin, die bemüht waren, ihren Glauben im Stillen zu praktizieren und sich dafür Freiräume durch die selektive Preisgabe ihrer Auffassungen zu sichern. 201 In der Täuferforschung hat John S. Oyer in diesem Zusammenhang den auf Calvin zurückgehenden Begriffder ‚Nikodemiten‘ genutzt. Calvin beschrieb damit die Protestanten seiner Generation, die sich unter katholischer Herrschaft lediglich der Form nach dem offiziellen Glauben unterwarfen und an katholischen Gottesdiensten teilnahmen. Der Begriffist in der Forschung aber allgemeiner, in Bezug auf jene Sektierer des 16. Jahrhunderts verwendet worden, die sich, obgleich von einer dissentierenden religiösen Auffassung überzeugt, der dominanten Form von Religion anpassen. 202 Oyer sieht hier zum einen diejenigen Täufer als Nikodemiten an, die ihren Glauben ein- oder mehrmals förmlich widerriefen, nach ihrer Freilassung jedoch zu ihren täuferischen Praktiken zurückkehrten. Zum anderen zählt er diejenigen dazu, die sich äußerlich den kirchlichen Anforderungen anpassten, die Gottesdienste besuchten und sogar am Abendmahl teilnahmen. Er betont jedoch, dass Nikodemiten und standhafte Täufer nur schwer voneinander zu unterscheiden sind und dass sie außerdem ohne Weiteres ihren täuferischen Glauben auch gemeinsam praktizierten. 203 Oyer bezieht sich in seiner Analyse stark auf das südwestdeutsche Gebiet. Die württembergischen Obrigkeiten ließen sich Oyer zufolge auf einen Kompromiss ein, indem sie weniger hart gegen die Täufer vorgingen als in vielen anderen Regionen. Sie verlangten in den meisten Fällen keinen offiziellen Widerruf und offiziellen Eidschwur, sondern erkannten auch ein mündliches Versprechen der Besserung an. Nach etwa 1565 war die Teilnahme an den lutherischen Gottesdiensten die entscheidende Anforderung der Kirchenleitung. 204 Mark Furner dagegen sieht die dissimulierenden Praktiken als eine überregional verbreitete Überlebensstrategie der Täufer und anderer religiöser Dissidenten unter Druck 201 Nach Eisengrein sollte es „solcher Sect verdachtige[n] personen“ verboten werden, aus dem Herzogtum zu ziehen, bevor sie sich einer genaueren Inspektion durch den Spezialis, Pfarrer oder Amtmann unterzogen hatten und nachweisen konnten, keine Täufer zu sein und nicht zu den hutterischen Brüderhöfen nach Mähren zu ziehen. Das von Eisengrein genannte Wegziehen aus Württemberg steht darüber hinaus im Zusammenhang mit der aus Mähren eintreffenden hutterischen Missionare, die Menschen für die mährischen Brüderhöfe zu gewinnen suchten, eine Tendenz, die die württembergische Regierung aus religiösen, aber auch finanziellen, Gründen möglichst unterbinden wollte. HStAS A282/ 3084 (24. August 1604). Zu den obrigkeitlichen Interessen, vgl. die Äußerung des Synodus im Herbst 1612 zu Leonbrunn, wo „vil würtembergische vnderthonen“ von einem Täufervorsteher „verführt vnd aus dem land gelöckelt“ sein sollen. Diese Menschen hätten „ihren hausrath vnd bettgewand heimlich zu gelt gemacht, Ihr überigs verlaßen“ und seien „den widerteüffern zugezogen [...], doch haben sie mehr schulden verlaßen, dan aus ihrem güettern mag gelöst werden.“ LKA A26/ 466 II, f. 142v-143r. 202 Die Zahl der Nikodemiten schätzt Oyer in Württemberg und den süddeutschen Reichsstädten am höchsten ein. Oyer, Nicodemites, S. 490. Siehe auch Eire, Calvin and Nicodemism; Ginzburg, Il Nicodemismo; Zagorin, Ways of Lying. 203 Oyer, Nicodemites, S. 491f., 496. 204 Ebd., S. 512f. <?page no="294"?> 295 an. Es handelte sich um einen „important and normal aspect of survival“. 205 Es hat insgesamt den Anschein, dass viele der württembergischen Täufer und Täuferinnen zu einer mindestens partiellen Anpassung an die Gesellschaftsordnung und die lutherischen Normen bereit waren. Bedeutend scheint an dieser Stelle, dass die gemachten Kompromisse durchaus mit ihrem religiösen Selbstverständnis zu vereinbaren waren. Entsprechend kann von äußeren Handlungsformen nicht direkt auf eine entsprechende innere Haltung geschlossen werden. 206 Entscheidend ist aus der Perspektive der Betroffenen weniger, wie sie ihren Umgang mit den Obrigkeiten gestalteten. Wichtiger scheint die Frage, wie ihre Glaubensgenossen mit den unter Druck gemachten Kompromissen umgingen. Wenn sie nikodemitische Brüder und Schwestern, die ansonsten am grundsätzlichen täuferischen Ideal der Nachfolge Christi festhielten, am gemeinsamen religiösen Leben teilnehmen ließen, kann von einem ‚Abfall‘ vom täuferischen Glauben wohl nicht die Rede sein. 207 Die äußeren Handlungsmuster vieler Schorndorfer Täufer und Täuferinnen wurden somit von dem Grad an obrigkeitlich und lokal ausgeübtem Druck bzw. dem Grad der Duldung entscheidend mitgeformt. In den Visitationen standen sie unter Zugzwang, doch konnten sie ihr Denken und Handeln mit Hilfe unterschiedlicher Argumentations- und Handlungsmuster rechtfertigen, um so den Zuordnungsprozess der Visitatoren möglichst günstig zu beeinflussen, Maßnahmen zu verhindern oder wenigstens das weitere Verfahren hinauszuzögern. Die Vorgeladenen agierten in den Visitationen freilich nicht auf gleicher Augenhöhe mit den Normgebern, doch ebensowenig lässt sich ihre Rolle auf die eines passiven Opfers von obrigkeitlichen Aktionen reduzieren. Somit ist der Begriffdes Verhandelns durchaus angebracht. 208 6.2.2. Abstreiten, Nicht-Wissen und ‚taktisches Vergessen‘ Mark Furner zufolge war es das wichtigste Ziel der als Täufer Verdächtigten, den Kontakt mit den Obrigkeiten zu vermeiden. Waren sie diesen jedoch einmal in die Hände gefallen, galt es, möglichst nicht als Täufer identifiziert zu werden. Denn sobald dies geschehen war, hatte man mit wiederholten Kontroll- und Repressionsmaßnahmen zu rechnen. 209 In der konkreten Vernehmungssituation bestand die „einfachste und konsequenteste Strategie der Befragten“ im „Abstreiten der Anschuldigungen“. 210 Insbesondere erstmals Vorgeladene konnten sich diese Strategie zunutze machen. 211 Dies mag das Beispiel der im Sommer 1616 205 Furner, Lay Casuistry, S. 459. 206 Furner, Lay Casuistry, S. 430, 470; Oyer, Nicodemites, S. 508. 207 Furner, Lay Casuistry, S. 431, 463. 208 Darüber hinaus verwendeten die Visitatoren den Begriffebenfalls - zum Teil sicherlich, um im lutherischen Horizont ihre christliche Milde und Mäßigkeit den Dissidenten gegenüber zu betonen. 209 Furner, Lay Casuistry, S. 438f., 447-449, 458. 210 Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 105. 211 Vgl. Labouvie, Verbotene Künste, S. 260. <?page no="295"?> 296 in einem Wald in der Nähe von Schornbach Versammelten verdeutlichen. Dort waren sowohl als Täufer festgeschriebene Personen, Sympathisanten als auch schaulustige Neugierige zusammengekommen. Die Letzteren durften „vf hochflehentlichen bitten“ und nach einer Vermahnung von Seiten der Obrigkeiten gehen, weil sie ihrer eigenen Angabe nach nicht zu den Täufern zählten und außerdem nichts Verdächtiges über sie bekannt war. Vielmehr wusste man, dass sie die lutherischen Predigten und das Abendmahl besuchen. Einer der Aufgegriffenen hatte außerdem damit argumentiert, das „erst mahl bei den widertäufern geweßt zu sein“. 212 Eindeutige Bekenntnisse der Vorgeladenen zu einer täuferischen Gruppe kommen in den Visitationsprotokollen entsprechend verhältnismäßig selten vor. Als Ausnahme müssen die mehrfachen Aussagen Konrad Fauts aus Schlechtbach gelten, der seine Zugehörigkeit zu den Schweizer Brüdern scheinbar bereitwillig kundgab. 213 Häufiger war der Fall, dass die Befragten explizit eine Zugehörigkeit zu den Täufern mit Worten, gelegentlich auch mit Taten (etwa Eidschwur), ablehnten. 214 Bastian Flach aus Geradstetten z. B. kam nur selten zu den Predigten und kommunizierte nicht, distanzierte sich aber angesichts drohender Strafmaßnahmen im Jahre 1609 „mit handgegebner trewe“ von den Täufern. 215 Magdalena Steb aus Bittenfeld versicherte in der Frühlingsvisitation 1574, „sie hange dem widertauffnit an“. Sie blieb allerdings verdächtig, zum einen, weil sie nicht kommunizierte, zum anderen, weil sie „vor dem Speciali [...] die vrsachen vnnd argumenta der widertauffer [fürgewendet]“ habe. 216 Zwischen Ablehnung und Anerkennung versuchte auch der Urbacher Hans Krätz zu balancieren, der selber eine zeitlang in Mähren verbracht und Predigten der dortigen Täufer verfolgt 212 HStAS A206/ 4417 Nr. 2. 213 Vgl. LKA A26/ 466 II, f. 126r, 136r, 167r, 173r. Siehe auch HStAS A281/ 1120, S. 5, 7. 214 Mehrere Urbacher beteuerten im Frühjahr 1574, sie hielten es nicht mit den Täufern und versuchten ihre Abwesenheit vom Abendmahl mit anderen Gründen zu erklären. Hans Bauderer sei als Handwerksgeselle mehrere Jahre unterwegs gewesen und danach durch seine Krankheit geschwächt gewesen. Er äußerte zwar einige Zweifel an der lutherischen Abendmahlslehre, habe aber „entlich ergeben, Er wölle Inn die kürchenn ghön vnnd noch lernen“. Franz Krusti dagegen bekannte, er sei vor Jahren in Mähren gewesen, betonte aber dennoch, er „halte es nit mit den widerteuffernn“. Auch er versprach, in Zukunft in die Kirche zu gehen und sich belehren zu lassen. LKA A26/ 466 I, f. 49r-49v. Siehe auch HStAS A282/ 3094a, Nr. 26; LKA A26/ 466 I, f. 42r-42v. 215 Allerdings schien nicht einmal diese Geste Flach vom Verdacht des Täufertums zu befreien, denn im Jahre 1610 hielten die Visitatoren ihn für einen „bekandtliche[n] halsstarrige[n] widerteüffer“, der sich nicht bekehren ließe. Die Visitatoren äußerten die Befürchtung, „weil solche gesellen ihr weis nicht laßen, besorgt man, er thüe heimblich schaden“. Der Fall sollte an den Oberrat übertragen werden, der als „Letsten gradum“ den Landesverweis gegen Flach vornehmen sollte. Im Jahre 1608 war Bastian Flach als Täufer in den Protokollen geführt worden, der aber „wegen des trutz“ noch nicht bestraft worden war. Er soll seinen Vetter Konrad Banholtz in Geradstetten „zum widertauffverführt“ haben. LKA A26/ 466 II, f. 107v, 126v-127r, 131r. 216 LKA A26/ 466 I, f. 42r-42v. <?page no="296"?> 297 hatte und dessen Tochter als Täuferin landesverwiesen war. Er erklärte den Visitatoren um 1598, dass er den Täufern „weder zu noch abstehe“. 217 Die Zugehörigkeit zu den Täufern konnte in der Vernehmungssituation abgelehnt werden, selbst wenn man im Dorf vorher selbstbewusst als solcher aufgetreten war. Der vielfach vernommene Matthäus Schätzlin aus Beutelsbach wurde im Frühjahr 1611 aufgrund eines Täufereiverdachts verhört, wies aber die Anschuldigung von sich („hat ers verleügnet“). 218 Dem Spezialis war aber aus anderer Quelle zu Ohren gekommen, Schätzlin habe in Beutelsbach mit seinem heroischen Auftreten gegenüber der Kirchenleitung geprahlt: „[V]or einem Jar hatt er beÿ den leütten fürgeben, das er disputando die herren Consistorialis, volgendts auch seinen superintendenten M. Lucam Osiandrum also eingethon, das ihme niemand mehr antwurtt geben kenden.“ 219 Gleichzeitig mit der eigenen Distanzierung von den Täufern galt es, nach Möglichkeit auch Personen im direkten Umfeld vor einer Festschreibung als Täufer zu bewahren. Informationen über Teilnehmer und Vorsteher der Versammlungen floßen meist nur spärlich. In Urbach verweigerte Sabina Mercklin, die bereits als standhafte Täuferin inhaftiert worden war, im Frühjahr 1574 die Auskunft, wo und durch wen sie getauft worden war. 220 Hans Biner aus Geradstetten, vorgeladen im Frühjahr 1575, gestand dem Spezialis zwar, „Inn der widerteuffer kürchen“ zu gehen. Doch wo sich diese befinde, wollte er nicht verraten. 221 Christina Krätz, eine weitere Urbacherin und die Tochter des oben genannten Hans Krätz, weigerte sich im Jahre 1598 ebenfalls, über ihre täuferischen Praktiken und Netzwerke auszusagen: „Das sie aber von Ihme [Jörg Faut von Urbach, Anm. P. R.] oder anderen Iren glauben gelernet, Item, was für vorsteher auch andere Personen beÿ tag vnd nacht [...] beÿ ihme auß vnd eingangen, [...] nicht anzaigen [...] wöllen.“ 222 Anna Möll aus Winterbach wiederum gab bei ihrer Examination im April 1602 zu, an einer täuferischen Versammlung in einem Wald nahe Esslingen teilgenommen zu haben, lehnte es aber entschieden ab, Namen der Teilnehmer preiszugeben: „[W]il aber niemand (wie sie sagt) verrahten“. 223 Ähnlich handelten Matthä- 217 Vgl. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 27. Für eine ähnliche Stellungnahme siehe LKA A26/ 466 I, f. 22v. 218 LKA A26/ 466 II, f. 13v. 219 LKA A26/ 466 II, f. 13v. 220 LKA A26/ 466 I, f. 48v. 221 LKA A26/ 466 I, f. 97r. 222 HStAS A282/ 3094c, 112r-113v. Sie wurde später als Täuferin des Landes verwiesen. Vgl. z. B. HStAS A281/ 1120, S. 33. 223 HStAS A281/ 1122, S. 6. <?page no="297"?> 298 us und Barbara Schäztlin aus Beutelsbach im Jahre 1605; Matthäus wollte sogar eher in Gefangenschaft sterben als einen seiner Glaubensgenossen verraten. 224 Viele der Befragten konnten oder wollten sich auf keine eindeutige Position festlegen. 225 Maria Ebernhart aus Oppelsbohm bestand bei ihrer Examination durch den Spezialis in der Herbstvisitation 1574 lange darauf, dass „der widertauffsamt andern derselbigen articuln [...] nit vnrecht“ sei. Gleichzeitig habe sie eingeräumt: „Jedoch seie vnser glaub auch nit vnrecht“. 226 Diese Art von vagen Aussagen war eine Praxis, der sich als Täufer Vorgeladene auch jenseits des Schorndorfer Amtes bedienten. Der Dettinger Weingärtner Urban Bolz etwa wollte in seinem Verhör im Jahre 1560 offen lassen, welcher Glauben der Richtige sei: „Item er wolle den widertauffeben so wenig als vnser Leer verworffen haben.“ 227 Die Vermeidung einer eindeutigen Stellungnahme war eine von den Examinierten vielfach - wenn nicht sogar am häufigsten - angewandte Strategie, weiteren Maßnahmen zu entgehen bzw. diese wenigstens hinauszuzögern. Wie neuere Arbeiten zu frühneuzeitlichen Gerichtsverfahren zeigen, war es insgesamt eine weit verbreitete Praxis, sich in den Verhören auf „taktisches Vergessen“ zurückziehen. 228 Ralf-Peter Fuchs z. B. hat in Bezug auf Zeugenverhöre beobachtet, dass sich die als Zeugen vorgeladenen auffallend häufig auf ihr Unwissen beriefen. Doch die im Protokoll festgehaltene Formel nescit ist nicht immer „auf eine vollständige Ahnungslosigkeit“ zurückzuführen. 229 „Vielmehr kann es sich um ein nur ungenaues Wissen des Zeugen handeln, unter Umständen auch um eine momentane Weigerung, die Mühe auf sich zu nehmen, sich exakt zu erinnern.“ 230 Die Schwestern Anna und Apollonia Bengel aus Großgartach geben ein gutes Beispiel für die gezielte Präsentation von ‚Nicht-Wissen‘ gegenüber den Visitationen. Sie gaben im Jahre 1609 an, „nichts von der heilig tauff, von der person vnd ampt Christi, vom Nachtmal, oberkeit vnd andern articuln“ zu verstehen. Missbilligend wurde von Seiten der Visitatoren vermerkt, das „gantz fundament“ der betagten Schwestern, „damit sie die testimonia scripturæ vmbstoßen wöllen“, darin bestand, dass sie „disen verstand nicht haben [möchten], sie wißens nicht, der Specialis hab gutt schwetzen“. Anders als der Kirchengelehrte könnten Anna und Apollonia Bengel nämlich „weder schreiben noch lesen“. 231 Somit griffen Anna und Apollonia Bengel den von den Obrigkeiten gemachten Vorwurf der Einfalt der religiösen Dissidenten auf, um sich damit zu verteidigen und möglichst gegen obrigkeitliche Maßnahmen zu wehren. Gleichzeitig wurden sie von den Visitatoren als spöttische Frauen beschrieben, die angesichts der Drohung 224 HStAS A281/ 1122, S. 16-18. Siehe auch oben Kap. 4.3.2. 225 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 441. 226 LKA A26/ 466 I, f. 66r. 227 HStAS A282/ 3091b, ohne Nr (18. Mai 1560). Siehe auch LKA A26/ 466 I, f. 40v-41r. 228 Göttsch, Konstruktion schichtspezifischer Wirklichkeit, S. 445-447. 229 Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 25. Siehe auch Simon-Muscheid & Simon, Zur Lektüre von Gerichtstexten, S. 25. 230 Fuchs & Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen, S. 25. 231 LKA A26/ 466 II, f. 129r. <?page no="298"?> 299 des Spezialis, er werde ernsthaft gegen sie vorgehen, nur „ihne hönisch ausgelacht vnd gesagt” hätten, „sie fragen nichts darnach“. Als Zeichen einer erfolgreichen Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit mag die Feststellung der Visitatoren gelten, die die Schwestern schließlich statt Täuferinnen als „grobe Idioten“ einordneten. 232 Auch Maria Faut aus Schlechtbach konnte oder wollte in ihrer Examination im Herbst 1614 auf die Fragen der Visitatoren keine „richtige antwurt“ geben. 233 Im Herbst 1617 machte Maria Faut den Visitatoren das Angebot, sie wolle über die Teilnahme an den Predigten und am Abendmahl „nachgedencken“. Gleichzeitig bat sie darum, „man solle sie als ein einfelltig weib beÿ ihrer weis bleiben laßen“. 234 Indem sich Maria selbst als einfältig bezeichnete, griffsie das Deutungsschema der Obrigkeiten auf und versuchte es, für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Wenn sie denn so dumm sei, argumentierte sie, könne man von ihr keine tiefgehenden Kenntnisse der rechten Lehren einfordern. Entsprechend bräuchte sie Zeit zum Nachdenken, ja sogar Verständnis dafür, dass sie ihr Verhalten im hohen Alter nicht mehr ändern könne. Die Visitatoren schätzten Maria im Herbst 1618 sowohl als einfältig als auch als überzeugte Täuferin ein. 235 Vollends hatte Maria ihre Befrager also nicht von ihrer Ungefährlichkeit überzeugen können. Die Beurteilung der Visitatoren hatte für sie zur Folge, dass sie künftig durch den Büttel oder Dorfschützen in die Gottesdienste begleitet werden sollte. Würde sie sterben, ohne widerrufen zu haben, sei sie „ohne geleitt vnd Predig“ zu begraben; eine Androhung, die einer überzeugten Täuferin allerdings wenig Angst gemacht haben dürfte, sofern sie die Zeremonien der lutherischen Kirche insgesamt ablehnte. 236 Die Vorladung Maria Nießmüllers aus Beutelsbach im Frühjahr 1618 zeigt dagegen, dass eine erfolgreich zur Schau getragene Unwissenheit in täuferischen Glaubenslehren eine Vorgeladene auch vor weiteren Maßnahmen schützen bzw. diese zumindest hinauszögern konnte. Ein Jahr zuvor in der Frühlingsvisitation 1617 war über Maria berichtet worden, sie sei nach dem Besuch einer täuferischen Versammlung in Schorndorf inhaftiert gewesen und habe nach ihrer Freilassung die Gottesdienstbesuche aufgegeben. Kommuniziert habe sie noch nie. Von ihren Auffassungen (die allerdings im Protokoll nicht näher ausgeführt wurden), wolle sie nicht abstehen. Dieser Meinung war sie auch im Herbst 1617 232 LKA A26/ 466 II, f. 129r. Ähnlich spöttisch soll Margaretha Hellwart aus Beutelsbach im Jahre 1612 die Visitatoren ausgelacht haben. LKA A26/ 466 II, f. 140r. In diesen Fällen mag auch der stereotype Vorwurf der ketzerischen Hochmut zum Tragen gekommen sein, vgl. z. B. Schlachta, Gefahr, S. 119f. 233 LKA A26/ 466 II, f. 159r. 234 LKA A26/ 466 II, f. 195r. 235 „Obwoln dises ein einfeltig weib, doch halßstarrige widertäufferin“. LKA A26/ 466 II, f. 203r. 236 LKA A26/ 466 II, f. 203r. Ähnlich argumentierte die „einfelltig[e]“ Margaretha Hellwart aus Schlechtbach im Frühjahr 1618. Sie soll darauf hingewiesen haben, dass sie als 50jährige Frau nicht mehr in der Lage sei, etwas Neues zu lernen. LKA A26/ 466 II, f. 201r-201v. <?page no="299"?> 300 und im Frühjahr 1618. 237 Obwohl Maria Nießmüller bis an ihren Tod an ihren Auffassungen festzuhalten meinte, sah die Kirchenleitung 1618 „kein sorg das sie andere verführen werdt“, denn sie sei „in ihrem Irrtumb selbs übel berichtet“. 238 Ein solcher Rekurs auf die eigene Einfalt scheint eine überwiegend, aber keineswegs ausschließlich, weibliche Praxis gewesen zu sein. 239 Die Beispiele weisen auf die Notwendigkeit der Vorgeladenen hin, die Visitatoren v. a. von der Ungefährlichkeit und des demütigen Lernwillens des ‚Ignoranten‘ zu überzeugen. Diese Notwendigkeit lag in der Sichtweise der Kirchenleitung begründet, derzufolge eine weitere Verbreitung täuferischer Ideen unter allen Umständen zu unterbinden war. Gleichzeitig sollte der Landeskirche und Landesherrschaft ausreichender Gehorsam erwiesen werden. Die Bewegungsräume der Vorgeladenen waren eng und sie mussten stets darauf achten, nicht zu ‚dick aufzutragen‘. Wollte man auf die eigene Einfalt rekurrieren, musste man zusehen, nicht als hartnäckiger Streitkopf zu gelten, da dies eine stereotype Eigenschaft eines Ketzers war und so mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Maßnahmen nach sich zog. Am abschließenden Beispiel Konrad Fauts aus Schlechtbach wird deutlich, wie fließend die Übergänge - und entsprechend: wie begrenzt die Handlungsmöglichkeiten der Vorgeladenen - zwischen bedauerlicher Einfalt und bedrohlichem Eigensinn sein konnten. Konrad Faut schien die Visitatoren im Herbst 1615 zunächst davon zu überzeugen, dass er seine religiösen Auffassungen nicht ausreichend in Worte fassen konnte („wiewol er seines widertäufferischen vnglaubens weder red noch antwurtt geben kan“). Die Visitatoren führten die Haltung Fauts zwar weniger auf seine Einfalt zurück, sondern auf seine Streitlust und seinen Eigensinn (es sei „nichts dan ein streit vnd eigensinnikeit“). Im Folgejahr wurde Ähnliches berichtet: Noch immer könne Konrad Faut „seines glaubens kein rechenschafft geben“. Ihm wurde erneut der Gang zur Predigt und zum Abendmahl anbefohlen, doch Faut forderte eine Bedenkzeit ein und wolte sich „auf pfingsten erklären“. Der Synodus wollte „disem altten halsstarrigen Mann“, an dem bis dahin alle Maßnahmen gescheitert waren, nun als letztes Mittel mit der Verweigerung einer christlichen Beerdigung nach seinem Tod drohen. Das als mangelhaft befundene theologische Wissen Fauts wurde aber gleichzeitig als Hindernis angesehen, härter gegen ihn vorzugehen, wurde doch die Fähigkeit Fauts bezweifelt, Menschen überhaupt verführen zu können. Entsprechend war es nicht möglich, ihn nach den für missionierende Täufer geltenden Richtlinien zu bestrafen („khen mann weitters nicht wie mitt 237 LKA A26/ 466 II, f. 187r-187v; 195r, 201r. 238 LKA A26/ 466 II, f. 201r. 239 Auch Georg Gugelmann aus Dettingen bekannte im März 1581, dass er „weder der widertäuffer oder seines Pfarhers lehr er Jemaln hab fassen künden“. Er bat die Visitatoren um Geduld und versprach, in Zukunft fleißig zu den Predigten zu kommen. Hiermit handelte er eine Freilassung bis zur nächsten Visitation aus, in der sein Fall erneuert behandelt werden sollte. LKA A1/ 1581, f. 150v. Siehe auch LKA A26/ 466 I, f. 219r. Zum Argument der weiblichen Einfalt in frühneuzeitlichen Gerichtsverfahren und Gnadengesuchen siehe Davis, Fiction in the Archives, S. 83f.; Simon-Muscheid, Täter, Opfer und Komplizinnen, S. 661. <?page no="300"?> 301 anderen procediren“). Die Belehrung durch den Spezialis sollte aber nicht ausbleiben. 240 6.2.3. Verharmlosen und Verschleiern Neben dem Abstreiten eigener Handlungen bzw. der Zugehörigkeit zu den Täufern sowie dem taktischen Vergessen war es die Hauptstrategie der als Täufer oder Täuferinnen verdächtigten Personen, ihre von den Visitatoren als normwidrig angeklagten Handlungen „in einer der obrigkeitlichen Richtlinien entsprechenden Weise als positiv und ungefährlich darzustellen“. 241 Vielfach wurde die Ungefährlichkeit der eigenen Glaubenspraktiken oder -auffassungen unterstrichen, indem man auf den häuslichen Kreis hinwies, in der die Frömmigkeit stattfand. 242 Mit dieser Strategie konnte man durchaus eine Festschreibung als Täufer bzw. als sogar aktenkundiger Täufer weitere Maßnahmen wie einen Landesverweis vermeiden, wie Mark Furner für den Berner Raum gezeigt hat. 243 Ein privater Bibellesekreis sei ja noch lange keine verbotene Versammlung, von der eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft ausgehe, so die Argumentationslogik der Vorgeladenen. 244 Auch könne das Lesen einer bestimmten Bibelstelle nicht genügen, um als Täufer überführt zu werden. So versuchte sich etwa der Urbacher Jörg Banholtz im August 1620 gegenüber seinem Pfarrer mit dem Argument zu verteidigen, „er seÿ darüber kein widertaüffer, wan er gleich die Epistel Jacobi lese“. 245 Doch die Grenzen von häuslicher Frömmigkeit hin zu täuferischen Zusammenkünften waren fließend. So soll ein junger Bauer seinem Pfarrer eine täuferische Versammlung im Herbst 1582 auf eine Weise geschildert haben, die sich kaum von der Bibellektüre im häuslichen Kreis unterscheiden ließ: „Endris feckelin predige zwaÿen Tischen vol leuthen, hab die Bibel vor ihm vnnd blettere drinnen vnd lese ihnen drauß“. 246 Auch kam es auf die Inhalte der Lektüre an; ein Bibellesekreis mochte ja noch von den Visitatoren akzeptiert werden, doch schlechter standen die Chancen, wenn es sich um ein unerlaubtes Werk handelte. Dies bekam Hans Schmid aus Großheppach im Jahre 1584 zu spüren, nachdem in der Frühjahrsvisitation bekannt geworden war, dass er während den sonntäglichen Morgenpredigten seiner Frau aus einem täuferischen Buch vorlas. Das Buch sollte konfisziert und Schmid selbst einer Vernehmung durch Spezialis und Vogt unterzogen werden. 247 240 LKA A26/ 466 II, f. 167r, 173r. 241 Labouvie, Verbotene Künste, S. 258. Siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 451. 242 Siehe z. B. LKA A26/ 466 I, f. 125r-125v; LKA A26/ 466 II, f. 195r-195v. 243 Vgl. Furner, Lay Casuistry, S. 450f. 244 Vgl. Gritschke, „Via Media“, S. 349; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 262. 245 HStAS A282/ 3094a, Nr. 26. 246 LKA A1/ 1582, f. 68v. 247 Bis zur Herbstvisitation 1584 war dies allerdings nicht geschehen. Weiteres ist in der Angelegenheit nicht überliefert. LKA A1/ 1584 I, f. 96v; LKA A1/ 1584 II, f. 86r. <?page no="301"?> 302 Die Grenzen des erlaubten Lesens waren in mehreren Bücherverboten im Laufe des 16. Jahrhunderts festgelegt worden. 248 Dennoch konnte sich selbst erlaubte Bibellektüre bei nonkonformen Interpretationen gegen die Intentionen der lutherischen Normgeber wenden. Frühneuzeitliches Lesen war ein sozialer Akt, bei dem das Verständnis und die Interpretation des Gelesenen durch die Gemeinschaft derjenigen beeinflusst wurde, in der die Texte rezipiert wurden. 249 Dieser gemeinschaftliche Aspekt des Lesens sowie die konkrete Umsetzung des Gelesenen im Alltag setzten die Lektüre in ein häufig problematisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen - war es doch nicht das Lesen oder der Text an sich, das Veränderung hervorrief, sondern die Interpretationen und konkreten Umsetzungen des Gelesenen. 250 Robert W. Scribner hat die potentielle Gefährlichkeit volkstümlichen Lesens aus der Sicht der Obrigkeiten auf den Punkt gebracht: „Die Literalität war ein wichtiger Auslöser, potentiell gefährliches Wissen zu erwerben - gefährlich, weil es außer Kontrolle geraten konnte. Die Häresie war ein Wissen, das deshalb gefährlich wurde, weil es außer Kontrolle geraten war, insbesondere wenn es hartnäckig bestehende Hierarchien wie auch die ideologische Kohärenz in Frage stellte, die ihrerseits eine Grundlage von Hegemonie bildete. Das erste und hauptsächliche Merkmal eines Ketzers ist seine Eigensinnigkeit.” 251 Die täuferischen Auslegungen des Gelesenen wichen im späten 16. Jahrhundert in vieler Hinsicht von den Vorstellungen der lutherischen Obrigkeiten ab, auch wenn sich beides im Prinzip auf anerkannte Literatur wie die Bibel bezog. Durch die konkrete Umsetzung des Gelesenen in soziale Alltagspraxis stellte das volkstümliche Lesen in den Augen der Obrigkeit eine Gefahr dar, die nicht zuletzt deshalb kaum einzuschätzen bzw. einzudämmen war, weil die Verbreitung und Rezeption täuferischer Ideen innerhalb der schwer zu kontrollierenden familiärfreundschaftlichen Netzwerke stattfand. Die Interpretationen der ungelehrten Täufer wurden sowohl vom Lesen in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter als auch von den Umständen und Konflikten im eigenen Alltag beeinflusst. Man musste natürlich nicht persönlich im Besitz eines täuferischen Buches sein oder auch nur lesen können, um in den Genuss subversiver Lektüre zu kommen. Dies zeigte Maria Nießmüller im Herbst 1617, als sie dem Vorwurf des nachlässigen 248 Siehe oben Kapitel 3. 249 Cavallo & Chartier, Einleitung, S. 14f.; Snyder, Orality, S. 379. 250 Snyder, Orality, S. 376. 251 Scribner, Heterodoxie, S. 288f. Zu einem ähnlichen Befund gelangt auch C. Arnold Snyder, der die drastischen Maßnahmen der Obrigkeit zur Unterdrückung der Täufer darauf zurückführt, dass sie sich der Macht der mündlichen Kultur bewusst war. Anlass zum Handeln bot der Obrigkeit dabei häufig bereits die Gefahr sozialer Unruhen. Vgl. Snyder Orality, S. 392. Siehe auch Gawthrop & Strauss, Protestantism and Literacy, S. 41f.; Rubin, Corpus Christi, S. 332. <?page no="302"?> 303 Kirchenbesuches entgegnete, „sie hette die Christlich kirch in ihrem hertzen vnd sie hörte da heumbden auch Gottes wort, welches sie ihr fürlesen ließ“. 252 Wer als Täufer oder Täuferin verdächtigt wurde, musste somit darauf bedacht sein, die eigene Lektüre wie auch andere Praktiken als harmlose und möglichst mit den lutherischen Idealen vereinbare Frömmigkeitsformen darzustellen. Es machte einen großen Unterschied, ob man angab, sich mit der heiligen Schrift oder mit verbotener Literatur wie etwa Menno Simons’ Fundamentbuch, einem täuferischen Liederbuch oder einem zwinglischen Katechismus 253 beschäftigt zu haben. 254 Als Versuch der Verharmlosung - in diesem Falle durch die Auskunft gebenden Dorfbewohner - mag die Aussage der Hohenhaslacher in der Herbstvisitation 1575 gelten, Junker Eberhard von Wittershausen käme nur selten von seinem Anwesen „vom berg hinab“ in die Kirche. Statt dessen berichteten sie, er lese „auß einer postill [...] das Euangelium mitt der außlegung daheimb In der stuben seiner krancken Muotter vnd hausfrawen“. 255 Der explizite Hinweis auf die Postille als zugelassene Literatur war notwendig, um einen weiteren Verdacht vom Junker abzulenken, galt der genannte Weinberg (Bromberg) doch als täuferische Enklave mitten im württembergischen Herrschaftsgebiet. 256 Wie bereits erwähnt, versuchten sich manche der Vorgeladenen mit der Erklärung herauszureden, aus reiner Neugier an einer täuferischen Versammlung teilgenommen zu haben. 257 Eine weitere Möglichkeit zur Verharmlosung lag paradoxerweise in der ausführlichen Beschreibung des eigenen Handelns. Durch die Offenlegung sollte beglaubigt werden, dass es sich bei den eigenen Handlungen um keine - nahezu per definitionem im Geheimen stattfindenden - sektiererischen Praktiken handelte. Gleichzeitig konnte man hiermit den Visitatoren zuvorkommen und die Aktionen auf die eigene Weise umdeuten, bevor sie als täuferisch fixiert werden konnten. So konnte etwa der dezidiert nicht-religiöse Charakter der Zusammenkünfte mit Arbeitskollegen oder im Rahmen nachbarschaftlicher Geselligkeit hervorgehoben werden. 258 Vielen der Vorgeladenen war daran gelegen, die eigenen Glaubenspraktiken als möglichst unverfänglich darzustellen, indem sie allgemeingültige christliche Ideale betonten. Margaretha Hellwart aus 252 LKA A26/ 466 II, f. 195r-195v. 253 Das Buch wurde im Herbst 1573 von Endris Feckelin in Schmiden konfisziert. LKA A26/ 466 I, f. 11r. 254 Nur selten konnten die Obrigkeiten täuferische Bücher aus dem Verkehr ziehen. Ausnahmsweise gelang es den Visitatoren in Urbach und Walkersbach im Jahre 1598 mehrere Bücher zu beschlagnahmen, nämlich von Jakob Greiner das Fundamentbuch von Menno Simons, von der Frau von Leonhart Meyer (einer gebürtigen Greinerin) ein gedrucktes und ein handschriftliches Liederbuch sowie bei Jakob Faut und Jerg Luipolt jeweils ein weiteres Liederbuch. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, f. 26r. Zur Konfiskation des Fundamentbuches siehe ein weiteres Beispiel in LKA A26/ 466 II, f. 107v. 255 LKA A26/ 466 I, f. 125v. Siehe auch LKA A26/ 466 I, f. 126r-126v. 256 Vgl. LKA A26/ 466 I, f. 125r-125v. Siehe auch Clasen, Wiedertäufer, S. 210. 257 Vgl. LKA A26/ 466 II, f. 127r-127v. 258 Vgl. Gritschke, „Via Media“, S. 349-351. <?page no="303"?> 304 Beutelsbach etwa gab im Jahre 1618 an, sie „beger nach Gottes willen zu leben, das bös zu meiden vnd das gutt zu thun“. 259 Der Hinweis auf familiäre Frömmigkeit wurde von Apollonia Bengel aus Großgartach als weiteres verharmlosendes Beglaubigungsmittel dazugezogen. Als sie im Herbst 1612 von den Visitatoren examiniert wurde, wies sie auf ihr großes Vertrauen in ihre nächsten Verwandten hin. Auf die Frage der Visitatoren, „warumb sie von vnserm glauben abgefallen? “ gab sie zur Antwort: „[D]ieweil wier in vnserer kirchen kein excommunication haben“. Apollonia wurden daraufhin die entsprechenden Stellen aus der Großen Kirchenordnung vorgelesen sowie der in der Zensurordnung vorgesehene Prozess erläutert, „den man mit den beharrlich vnbußfertigen fürnimbt“. Davon versicherte Apollonia nichts gewusst zu haben, denn ihre Brüder hätten ihr etwas anderes erzählt. Deshalb wolle sie trotz der drohenden Strafen „in ihrem wesen also bleiben“, denn sie war davon überzeugt, „ihre Brüder werden sie nichts vnrechts gewisen haben“. 260 So versuchte sich Apollonia einerseits der Verantwortung zu entziehen und diese ihren Brüdern zuzuschreiben. Andererseits griffsie auf die positive Rolle der Familie in der Verstärkung des Glaubens hin, der ja auch von den Normgebern in der Betonung der Hausväter als religiöse Häupter des Haushaltes stark gemacht wurde. 261 Mögliche täuferische Motive konnten auch mit dem Hinweis auf materielle Schwierigkeiten verschleiert bzw. heruntergespielt werden, um so das eigene Verhalten zu erklären. 262 Als Kaspar Treiber aus Kleinheppach in der Herbstvisitation 1573 wegen seiner Abendmahlsabstinenz zur Rede gestellt wurde, habe er „sich entschuldigt, das der nit In die predig gange, mache das er khein haushalterin habe, daher künde er nit alwegen In die kürchen kommen“. Treiber lieferte die von den Visitatoren gewünschten Antworten („hatt Er auch ain gnugsame vnnd Christenliche bekantnus gethon“) und versprach in Zukunft fleißiger am kirchlichen Leben teilzunehmen. 263 Das Beispiel zeigt, dass die Vorgeladenen materielle Erwägungen durchaus als plausible Strategie ansahen, mit denen man in den Visitationen argumentieren konnte. Da viele der Täufer und ihrer Nachbarn im Schorndorfer Amt in ärmlichen Verhältnissen lebten, ist es freilich nicht immer möglich, zwischen tatsächlicher Armut und den möglicherweise als Vorwand genutzten Argumenten zu unterscheiden. Das Interesse der Visitatoren an Kaspar Treiber mag auch dadurch gesteigert worden sein, dass seine Frau drei Jahre zuvor als Täuferin aus dem Herzogtum verwiesen worden war, sich aber zur letzten Erntezeit im Dorf hatte blicken lassen. 264 Die konkreten Umstände der eigenen Arbeit oder Amtsverrichtung konnten als Erklärung dargeboten werden, warum man der kirchlichen Teilnahmepflicht 259 LKA A26/ 466 II, f. 201r-201v. 260 LKA A26/ 466 II, f. 142r-142v. 261 Vgl. Landwehr, Policey im Alltag, S. 321f.; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 176. 262 Vgl. Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, 106. Siehe auch LKA A26/ 466 II, f. 131v. 263 LKA A26/ 466 I, f. 15v. 264 LKA A26/ 466 I, f. 15v. <?page no="304"?> 305 nicht ausreichend nachkommen konnte. Hans Schmidt etwa, der Ehemann der als hartnäckigen Täuferin festgeschriebenen Marie Greiner, entschuldigte sich im Herbst 1573, „er seie ein schmidt, müsse etwan da oder dorthin, das man Ime zu den rossen breuche, komme etwan Inn ainer wochen nit haim“. 265 Fragen der theologisch genau definierten Rechtgläubigkeit konnten aus dieser Perspektive als zweitrangig dargestellt werden bzw. der Vorgeladene konnte versuchen, von diesen abzulenken. 266 Auch die Ehemänner der angeketteten oder inhaftierten Täuferinnen wiesen vielfach auf die materielle Not hin, die durch die Strafe ihrer Gattin in Familie und Haushalt verursacht wurde. 267 Hans Krätz aus Urbach beklagte sich, ihm sei nach dem Landesverweis seiner Tochter Christina „sein narung entzogen worden“. 268 Stoffel Müller, ein „armer gesell“ aus Winterbach, war seit ca. 1581 nicht mehr zum Abendmahl gekommen. Deshalb in der Frühjahrsvisitation 1584 vorgeladen, erklärte Müller, dass seine Ehefrau „als ein widerteufferin mit gefängnuß also gehalten werde, das sie ihm nicht ein suppen kochen könd“. Dies habe zur Folge gehabt, dass Müller „offt vnwillig“ werde und deshalb nicht am Abendmahl teilnehmen könne. 269 Er versuchte, sein negatives Verhältnis zur Landeskirche mit Ressourcenfragen und seiner materiellen Not zu verteidigen. Hierbei erhoffte er sich Verständnis von der Kirchenleitung für die Notwendigkeit, den Haushalt durch die Präsenz einer tüchtigen Ehefrau funktionsfähig zu halten. Insgesamt stellte das Aufgreifen obrigkeitlich-lutherischer Ideale wie etwa hier der guten Haushaltung eine durchaus erfolgversprechende Strategie dar, die von den Visitatoren und dem Synodus als Vertreter dieser Ordnung ernst genommen werden musste. Bereits in den Visitations- und Täuferordnungen, vielmehr aber noch in der Visitationspraxis, wurde einer ausreichenden Ordnung und Disziplin sowie der Intakthaltung von den Familien- und Arbeitsverbänden ein größerer Stellenwert eingeräumt als den doktrinalen Ungereimtheiten einzelner Dorfbewohner. Der Vorrang der Familienbande war sogar in der Täuferordnung von 1571 festgehalten. 270 Doch die Täufer waren mittels des regelmäßigen Visitierens und Berichterstattens genau im Auge zu behalten, um in dem Moment einzugreifen, wenn die Bewegung überhand zu gewinnen drohte und eine Gefahr für die Anerkennung von Landesherrschaft und Landeskirche wurde. 265 LKA A26/ 466 I, f. 16v. 266 Zu den Ablenkungs- und Verschleierungstechniken siehe auch Gritschke, „Via Media“, S. 347. 267 Vgl. HStAS A206/ 4417 Nr. 5; HStAS A281/ 1121, S. 32-33; HStAS A282/ 3087, Nr. 10. Siehe auch Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 66. 268 So ließ er die Visitatoren im Jahre 1602 wissen, dass er als Folge „nimmer mehr beÿ vns zu Communiciren [gedencke]“. HStAS A281/ 1120, S. 33. 269 LKA A1/ 1584 I, f. 94v. 270 Wie bereits im Kap. 3.2.3 ausgeführt, hieß es dort, man könne „kein ernstliche straf darauf setzten“, dass täuferische Personen im unmittelbaren Familienkreis unterstützt wurden. Vgl. HStAS A63/ 42, f. 56v. <?page no="305"?> 306 6.2.4. Vage Versprechen und Nicht-Beachtung obrigkeitlicher Anweisungen Die den württembergischen Visitations- und Täuferordnungen zugrunde liegende Einstellung, in Glaubensfragen zunächst auf geduldige Belehrung zu setzen, eröffnete den Vorgeladenen ihre wichtigsten Möglichkeiten zur Aushandlung ihrer Spielräume. In der Verhörsituation wurde verhandelt, etwa indem die Vorgeladenen um Fristen baten, die eigenen Einstellungen zu überdenken. Gleichzeitig wurde die eigene Besserung in Aussicht gestellt, ohne jedoch ein eindeutiges Versprechen abzulegen. „Selbst noch inhaltsleere Konformitätszusagen hatten zumindest die Beendigung des Verhörs und damit einen Zeitgewinn zur Folge“, hat auch Caroline Gritschke in Bezug auf die süddeutschen Schwenckfelder beobachtet. 271 Insbesondere ‚Ersttäter‘ erließ man auf versprochene Besserung hin aus der Visitation; Pfarrer und Visitatoren sollten diese Personen jedoch weiterhin im Auge behalten. 272 Mit Walpurga Härer z. B. wurde im Herbst 1573 zum ersten Mal offiziell verhandelt. Da sie versprochen habe, sie wolle „sich christenlich erzaigen“ und es „der erst actus“ war, „da mit disem ehegemecht gehandlet worden“, wollte die Kirchenleitung noch Geduld mit ihr haben. 273 Doch auch mehrmals Vorgeladene konnten sich mit dieser Strategie aus der Visitation herausreden, wie das Beispiel der Ursula Rubin aus Urbach zeigt. Die wegen langjähriger Abendmahlsverweigerung im Frühjahr 1602 examinierte Ursula Rubin wollte sich nicht darauf festlegen, ob sie in Zukunft, wenn schon nicht beim eigenen, dann wenigstens bei anderen Pfarrern kommunizieren wolle. Stattdessen bediente sie sich einer bewährten und in den Augen des Spezialis typisch täuferischen Strategie, indem sie „Ihrem vorigen widertaüfferischen vier Järigen gebrauch nach lengern bedacht“ begehrte. Mit der Bedenkzeit konnte sich Ursula Rubin Freiräume schaffen, die ihr erlaubten, die Situation unbehelligt zu überstehen und ohne ihre Aussagen später revidieren zu müssen. Diese Methode hatte sie bereits mehrmals erfolgreich angewandt. 274 Wie das Beispiel Ursula Rubins andeutet, war die Bedingung für eine Frist die in Aussicht gestellte Besserung bzw. Teilnahme am Abendmahl. Dies traf auch für Bastian Hama aus Schnait zu, der im Herbst 1573 zwar die Gottesdienste besuchte, aber nicht kommunizierte. Auf die Belehrung des Spezialis hin habe er „sich beschaiden erzaigt“ und nach langen Verhandlungen schließlich „erbotten, mit der zeit des herrn Abentmal zu empfahen“. Der entscheidende Grund, weshalb ihm die Kirchenleitung die erbetene Frist gewährte, war das Zugeständnis Hamas, in Zukunft am Abendmahl teilzunehmen („weÿl er sich erbotten das herren Abentmal zuempfahen, Ist Ime hieruffzuzusehen“). 275 In der Frühjahrsvisi- 271 Gritschke, „Via Media“, S. 343. 272 Siehe z. B. LKA A1/ 1585 II, f. 76v. 273 LKA A26/ 466 I, f. 19v. 274 HStAS A281/ 1120, S. 34. Für einen ähnlichen Fall siehe LKA A26/ 466 II, f. 195r. 275 LKA A26/ 466 I, f. 17v. <?page no="306"?> 307 tation 1574 wurde allerdings berichtet, Hama sei mit seiner Tochter und seinem Schwager vermutlich nach Mähren gezogen. Wie im Protokoll missbilligend festgehalten, wurde ihnen von den örtlichen Amtleuten die Möglichkeit eingeräumt, vor Wegzug ihren Besitz zu verkaufen, denn sie „haben sich nit für widerteuffer ausgeben“. Dies habe den Visitatoren zufolge keineswegs der Wahrheit entsprochen: „Aber da sie das gelt Inn den Seckel gebracht, seindt sie auch zu den widerteuffern gefallen.“ 276 Ein Jahr darauf, im Frühling 1575, hieß es, Hama besuche die Predigten, aber nicht das Abendmahl. „Specialis hat In der visitation vil mit Ime gehandlet, aber khein ander antwort von Ime bringen mögen, dan er wölle sich mit seinem pfarrer besprachen, der werde von Ime vernemen, was sein mainung.“ 277 Dem Spezialis gegenüber wollte Hama sich scheinbar nicht festlegen, zeigte sich aber willig, mit dem Schnaiter Pfarrer zu verhandeln. Erklärte sich ein Befragter oder eine Befragte bereit, wenigstens die Gottesdienste zu besuchen, so war die Kirchenleitung meist bereit, die Entwicklung eine Zeit lang zu verfolgen und auf Besserung zu warten. Lucia Müller aus Beutelsbach etwa besuchte im Herbst 1573 wieder die Predigten und die Visitatoren äußerten die „hoffnung, sie werde auch des herrn Abentmal empfahen“. Die Kirchenleitung wollte dies abwarten. 278 Ähnliches gelang dem Schreinergesellen Martin Rösser, der vor der Frühjahrsvisitation 1575 aus Mähren in sein Heimatdorf Urbach zurückgekehrt war. Rösser wollte nicht eingestehen, dass „der widerteuffer Irthumb ein Irthumb seie“ und vertrat aus der Sicht der Kirchenleitung unrichtige Auffassungen von der Rechtfertigung, dem Eidschweren sowie von der Obrigkeit. Darüber hinaus zeigte er sich nicht bereit, am Abendmahl teilzunehmen. Statt dessen bat er, „man wölle Ine nit vertreiben, Es werde gott der Herr Ime gnadt geben, das wan er die predig besuche, weiter möge erleuchtet werden“. Trotz seiner Kompromisslosigkeit - womöglich, weil er immerhin eine Besserung in Aussicht gestellt hatte - gab der Spezialis nur die Anweisung, der Pfarrer solle „gute achtung vff Ine Martinn Rössern geben“. 279 276 LKA A26/ 466 I, f. 69r. 277 LKA A26/ 466 I, f. 98v. 278 LKA A26/ 466 I, f. 17r. Bis zum Frühjahr 1574 besuchte sie gelegentlich die Gottesdienste, hatte aber noch nicht kommuniziert. Die Anweisung des Synodus lautete, „der pfarrer soll noch malen bei Ir anhalten“, obwohl bereits „seer offt mit Ir gehandlet worden“ war. LKA A26/ 466 I, f. 46v. 279 LKA A26/ 466 I, f. 99r-99v. Einen Aufschub handelten im Herbst 1573 auch vier Frauen aus Haubersbronn aus. Ursula Gauckler, Ursula Mörlin, Elisabeth Gumpp sowie Barbara Wächter waren bereits vor der Herbstvisitation 1573 mit dem Spezialis und Untervogt zu Schorndorf aufgrund ihres nachlässigen Kirchgangs vernommen worden. Von den Frauen hatten Gauckler und Wächter täuferische Verwandte. Alle vier hatten „bewilliget, die predigen zubesuchen“ und hiermit auch bereits vor dem Beginn der Visitation begonnen. Die Kirchenleitung ordnete daraufhin an, „den dreien ersten ist zill geben zu Communicieren bis vff Natiuitatis Christi, der vierten bis vffostern“. Bis zur Frühjahrsvisitation 1574 hatte sich am Verhalten zweier <?page no="307"?> 308 Neben der in Aussicht gestellten Besserung konnten die als Täufer Verdächtigten auf Erfolg in ihren Verhandlungen hoffen, wenn sie glaubhaft machen konnten, keine Leute zu ‚verführen‘. 280 Einige operierten mit der spezifisch protestantischen Maxime, man müsse in Glaubensfragen Gott mehr gehorchen als der Obrigkeit. 281 Margaretha Hellwart aus Beutelsbach etwa wies im Jahre 1618 auf die oberste Autorität Gottes hin, der sie zu gehorchen hatte: „Gott hab sie das also gelehrt, dem seÿ sie mehr zugehorsamen schuldig.“ 282 Dies war freilich eine forsche Behauptung angesichts des Anspruchs der lutherischen Landeskirche, der alleinige Vertreter der göttlichen Wahrheit zu sein. So eine Aussage ließ sich sicherlich nur dann treffen, wenn man überzeugt von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes und der direkt von Gott erhaltenen Botschaft war. Die Landeskirche wurde hier deutlich der Autorität Gottes untergeordnet, die nicht an die lutherische bzw. an überhaupt eine äußerliche Kirche gebunden war. 283 Nicht immer bestachen die Menschen, die dieses Argument ins Feld führten, mit einer tadellosen Lebensführung. In Haubersbronn etwa erschien der wegen seiner Abendmahlsverweigerung zur Examination vorgeladene Christian Wieland im Herbst 1585 „zimlich bezecht“ vor die Visitationskommission. Auf die Ermahnung des Spezialis, Wieland müsse kommunizieren, habe dieser erwidert, „sein zeitt seÿ noch nit kommen“. Als man ihm darauf über seine Abendmahlsauffassung befragte, habe Wieland gesagt, „man pringe ihn dahin nicht, das er solches bekenne, er wöll gott kein ordnung geben“. Danach musste die Befragung aufgrund des Rauschzustandes des Verhörten abgebrochen und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Seine Aussagen und sein Verhalten hatten zur Folge, dass Wieland unter die „spötter vnd verachter“ eingeordnet wurde. 284 Eine besonders kühne Verhandlungsweise legte Melchior Greiner aus Walkersbach an den Tag. Er war ein Mitglied der für ihre täuferische und schwenckvon ihnen allerdings kaum etwas geändert. Ursula Mörlin und Barbara Wächter hatten nicht kommuniziert und besuchten die Predigten nur selten. Zur Zeit der Visitation seien sie „nicht anhaimisch“ gewesen. Im Herbst 1574 wurde eine von ihnen, Ursula Mörlin, bereits als „widerteufferin“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist aus den Akten zu erfahren, dass der Spezialis bereits mehrmals mit Ursula Mörlin verhandelt habe und sie in Schorndorf im Gefängnis gelegen habe. Sie komme weiterhin „bisweilen Inn die predig, aber communiciert nit“. Dennoch wurden von der Kirchenleitung keine weiteren Maßnahmen angeordnet, außer dass der Spezialis sie bei der Visitation mehrmals anzusprechen und darüber Bericht zu erstatten habe. LKA A26/ 466 I, f. 22r, 49v-50r, 72r. 280 Vgl. den oben behandelten Fall des Konrad Faut aus Schlechtbach, der die Visitatoren im Jahre 1610 darum bat, ihn als alten Mann, der niemand verführen möge, bei seinen Auffassungen bleiben zu lassen. Ähnliches wurde auch 1611 über ihn berichtet. LKA A26/ 466 II, f. 130v, 136r. Vielleicht hat das nahende Ende Konrad Faut tatsächlich zu neuen Gedanken gebracht, denn im Jahre 1616 hatte er in Schorndorf öffentlich widerrufen. Ab 1617 kommunizierte und besuchte er die Gottesdienste regelmäßig. LKA A26/ 466 II, f. 181r, 187r. 281 Vgl. Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, S. 262. 282 LKA A26/ 466 II, f. 201r. 283 Vgl. oben die Aussage Maria Nießmüllers im Herbst 1617, sie habe die christliche Kirche in ihrem Herzen und könne auch zuhause Gottes Wort hören. LKA A26/ 466 II, f. 195r-195v. 284 LKA A1/ 1585 II, f. 82v. <?page no="308"?> 309 feldische Sympathien bekannte Familie Greiner, die breiten Einfluss in Walkersbach ausübte. 285 In der Herbstvisitation 1574 kritisierte er die in seinen Augen zu laxe Kirchenbannpraxis in Württemberg, derzufolge öffentliche Sünder von ihrem Gemeindepfarrer lediglich ermahnt, nicht jedoch aus der Abendmahlsgesellschaft ausgeschlossen werden konnten. 286 Dies habe eine in gefährlichem Ausmaß gelockerte Kirchenzucht zur Folge, die Melchior Greiner seiner eigenen Aussage nach dazu zwang, das Abendmahl zusammen „mit den vnwürdigen“ einzunehmen, „beÿ welchen Er khain buoß sehe“. Er betonte den Visitatoren gegenüber jedoch, dass er nicht aus „mutwill“ vom Tisch des Herrn fernbleibe. Es sei vielmehr „aus forcht vnnd schwachhait geschehen“. Greiner beschrieb sich als ebensowenig würdig für das Sakrament wie die von ihm kritisierten Unbußfertigen. Es war ihm daran gelegen, die eigene Verbundenheit am christlichen Glauben deutlich herauszustellen. Gottes Wort „höre er gern“ und „versaume khaine“ Predigt. Greiner bat, „man wölle mit Ime nit eÿlen“. Er wolle abwarten, bis er „mit rainem hertzen“ zum Abendmahl kommen könne. 287 Diese Bedingung ließ keine Kompromisse zu: Solange er die Forderung nach einem reinem Herzen nicht erfüllen konnte, wollte Greiner nicht kommunizieren, egal was ihm der Spezialis vorhielt. Doch sobald er soweit wäre, stellte Greiner einen Verhaltenswandel in Aussicht: „Er wölle nit lang aussen bleiben, verhoffe, Es solle baldt besser werden. Er seie khain verächter göttlicher ordnung, könde aber gott seiner erleuchtung khain zil stecken.“ 288 Da die Besserung letztlich von Gottes Willen abhängig sei, könne man Greiner in dieser Sache keine Fristen setzen - und dem Allmächtigen schon gar nicht. Diese Argumentation wurde nicht nur von Melchior Greiner, sondern auch von vielen anderen seiner Zeitgenossen vorgebracht, die von den Visitatoren meist im Dissidentenspektrum verortet wurden. 289 So wollten etwa die Urbacher Thomas und 285 Die Familie Greiner war über drei Generationen ein wichtiger Träger der Täuferbewegung in und um Urbach und Walkersbach. Täuferisches Gedankengut wurde innerhalb der Familie von den frühen 1560er bis in die 1620er Jahre vermittelt. In der Herbstvisitation 1583 etwa wurde berichtet, die Mitglieder der Greiner-Familie hätten die Kapelle Walkersbachs abgerissen, so dass der Pfarrer genötigt war, seine Wochenpredigten in den Stuben der Walkersbacher vor nicht mehr als vier oder fünf Zuhörern abzuhalten. Diese Entwicklung wurde von den Visitatoren darauf zurückgeführt, dass Blasius und Endris Greiner - die beiden Familienoberhäupter - „nicht vil lust zum predigampt gehabt“ hätten. Noch im Jahre 1602 musste der Urbacher Pfarrer seine Wochenpredigten in Walkersbach in einem Privathaus verrichten, weil kein Kirchbau vorhanden war. HStAS A281/ 1120, S. 31; LKA A1/ 1583 II, f. 90v. Siehe auch Oyer, Nicodemites, S. 502-505. 286 Dieses Recht war ausschließlich dem Synodus vorbehalten. Genauer zur württembergischen Bannpraxis siehe Brecht, Kirchenordnung, S. 39; Brecht & Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, S. 367-369; Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 53. 287 LKA A26/ 466 I, f. 70v-71r. 288 LKA A26/ 466 I, f. 71v. 289 Vgl. LKA A1/ 1585 II, f. 82v; LKA A26/ 466 I, f. 42v; LKA A26/ 466 II, f. 129r, 195r. Siehe auch <?page no="309"?> 310 Walpurga Härer im Frühjahr 1574 „khain gewisse zeit bestimmen, vffwölche sie gedencken des herrn Abentmal zu empfahen“. 290 Die verschiedenen, in der vorliegenden Arbeit thematisch gruppierten Strategien konnten von den Betroffenen natürlich auch miteinander kombiniert werden. Clara Greiner aus Urbach etwa bat in Rückgriffauf ihre Einfalt um eine Bedenkzeit in Glaubensfragen. Als sie vor der Herbstvisitation 1577 in Schorndorf durch den Spezialis und den Untervogt examiniert worden war, habe sie „sich entschuldiget, sie verstee die sach nit wol.“ Sie habe sich bereit erklärt, „in einem Monats früst ein antwurt geben: ob sie zur predig gehn wöll oder nicht“. Dies sei „ihr auch zugelaßen worden“. Clara sei aber darauf nicht in den Predigten gesehen worden. Vielmehr soll sie in ihrem Haus zwei Täufer beherbergt haben und mit Maria Schmidt (eine geborene Greiner) aus Großheppach auf täuferischen Versammlungen in Heinbach bei Esslingen besucht haben. Außerdem habe sie sich taufen lassen und ihren Sohn Endris zum Täufertum ‚verführt‘. 291 Da Clara nicht das einzige Mitglied der Greiner-Familie war, das den Visitatoren Kopfzerbrechen verbreitete, erging nun der Befehl, den als äußerst bedrohlich empfundenen Fall der Greiners dem Oberrat zu übertragen. Die Kirchenräte bestanden auf ein härteres Vorgehen gegen die Mitglieder der Familie, um den Schaden einzudämmen, den die Greiner in Walkersbach und zumindest indirekt im gesamten Amt anrichteten. 292 Ähnliche Maßnahmen wurden von den Visitatoren auch im Jahre 1578 gefordert. 293 Neben der Strategie des ‚Hinhaltens‘ bestand noch die Option, obrigkeitliche Anweisungen schlichtweg zu ignorieren. Die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit den Vertretern und Institutionen der Obrigkeit war eine vielfach genutzte Möglichkeit. 294 Wie bereits gezeigt worden ist, wurde die Anzeigepflicht allgemein vernachlässigt. Insgesamt ließen sich im Schorndorfer Amt ein Großteil der Vorgeladenen und ihrer Nächsten auf dieses „Katz-und-Maus-Spiel“ 295 mit den Obrigkeiten ein. Viele der als Täufer des Landes verwiesenen ließen sich trotz allem in ihren Heimatdörfern blicken. 296 So habe sich etwa Apollonia Treidie Beispiele in Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 51-76. 290 LKA A26/ 466 I, f. 49r. 291 LKA A26/ 466 I, f. 219r. 292 „Dieweil sich in dem Schorndorffer Ambt befindt, das der Widertauffnicht ab, sondern zu nimbt, auch die ausgetrettne widertauffer nichts destoweniger in die flecken wandeln, vnnd die sachen also Je lenger Je böser werden (Da dann die Greiner Im Walckherspach vil schadens thun) So were der Theologiorum vnderthenig bedencken, vnser gnediger fürst vnnd Herr hette mit gnugsamen befelh abgefertiget einen aus dem Obern Rhat, ainen aus dem Kirchenrhat, den Generalen vnnd Specialem, vnnd hette gegen obgemelten widerteufferischen Personen (vermög der approbirten ordnung) gebürliche handlung vnnd execution, also bar, fürnemen lassen vnd were die sach mit den Greinern anzufahen.“ LKA A26/ 466 I, f. 221r. 293 LKA A26/ 466 I, f. 228v-229r. 294 Siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 452f. 295 Kobelt-Groch, Frauen in Ketten, S. 63. 296 Ähnliches hat Robert W. Scribner auch bei aus anderen Gründen verwiesenen Württembergern festgestellt. Vgl. Scribner, Mobility, S. 79f. Siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 435-438; Hofer, <?page no="310"?> 311 ber im Jahre 1573 zur Erntezeit „on alle scheü“ in Kleinheppach gezeigt. 297 Diese Praxis war freilich auch außerhalb des Schorndorfer Amtes verbreitet. So war etwa auch Endris Feckelin aus Schmiden nach seinem Landesverweis im Sommer 1582 bereits im Oktober in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Dies veranlasste die Visitatoren zur grundlegenden Kritik, diese Praxis der Täufer schmälere das Ansehen der Obrigkeit und trage zur Verstärkung der Täuferbewegung bei: Der bereits mehrmals ausgewiesene Endris Feckelin „kompt alwegen gleich wider ein, macht man also nur ein gespött drauß vnnd stercket die widerteuffer in ihrem Ihrtumb“. 298 Nicht nur Landesverweise oder Verbote, täuferische Mitmenschen zu unterstützen, sondern auch die Vorladung zur Visitation oder nach Stuttgart zum Konsistorium blieben mehrfach unbeachtet: Viele der Vorgeladenen erschienen nicht zu ihrer Examination oder hielten sich während der Visitation gar nicht erst im Ort auf. 299 Der Beutelsbacher Matthäus Schätzlin etwa hatte sich 1609 „aus dem flecken gemacht“, sobald er über die nahende Visitation erfahren hatte, da er dort „nicht verhört mögen werden“ wollte. 300 Gelegentlich wurden Entschuldigungen vorgebracht, welche die Visitatoren für Ausreden hielten. Ursula Mörlin aus Haubersbronn etwa habe im Frühling 1575 „fürgeben sie seie kranckh“. Die Visitatoren jedoch blieben skeptisch, da sie bereits öfter ausgeblieben war. 301 Maria Mercklin aus Urbach soll im Jahre 1573 den Büttel, der sie zur Visitation begleiten sollte, regelrecht ausgetrickst haben. Sie habe „dem Büttel geantwort, sie wölle nur den schlaier vffsetzen vnnd erscheinen, ist aber nit geschehen, do man sie wider erfordert, ist sie nit mer vorhanden gewesen“. 302 Diese Praxis des Ignorierens wurde auch vom Synodus insbesondere in Urbach beklagt, wo 1573 festgehalten wurde: „[W]ann dise Personen merckhen, das man schier visitirn wolle, sie ausreissen, vnnd sich nicht finden lassen. Vnnd aber in diser verzaichnus ettliche [...] Personen, wann Popular Resistance, S. 137. 297 LKA A26/ 466 I, f. 15v. Ähnlich wurde im Herbst 1612 über den inzwischen ausgetretenen bzw. landesverwiesenen Täufer Matthäus Schätzlin berichtet, er halte sich „der widerteüffer art nach“ bisweilen in seinem Heimatdorf Beutelsbach auf, nur um sich darauf „wider aus dem Staub [zu] machen“. Es wurde dem Beutelsbacher Schultheißen auferlegt, Schätzlin nachzugehen und ihn, sobald er wieder im Ort sei, gefangen zu nehmen, damit dieser keinen größeren Schaden mehr anrichten könne. LKA A26/ 466 II, f. 140r. Für weitere Beispiele siehe LKA A26/ 466 I, f. 18v- 19r, 46v, 47v, 66v, 67v, 69r-70r, 98r , 98v-99r, 217r-218r. 298 LKA A1/ 1582, f. 68v. Siehe auch LKA A1/ 1583 I, f. 67v-68r. 299 Vgl. LKA A26/ 466 I, f. 14v-15r, 16r, 19v-21v, 50r, 66v, 68r, 70r, 97r; LKA A26/ 466 II, f. 108r, 126v, 128r, 139v, 167v, 174v-175r, 181r, 202r, 203v, 205v. Siehe auch Furner, Lay Casuistry, S. 432. 300 LKA A26/ 466 II, f. 128r. 301 LKA A26/ 466 I, f. 100r. 302 LKA A26/ 466 I, f. 21v. <?page no="311"?> 312 sie gleich erfordert werden durch den büttel, dannach vngehorsam aussenbleiben vnnd also mit Inen nichts khan fruchtbarlichs gehandelt werden vnd nichts destoweniger der widertauffsehr zunimbt.“ 303 Diesem Ungehorsam war nach Ansicht der Kirchenleitung mit Turmstrafen zu begegnen. 304 Im Frühjahr 1577 wurden neben Urbach auch Walkersbach und Haubersbronn als Orte genannt, in denen Täufer verstärkt Fuß gefasst hatten. 305 Im Herbst 1577 stellten die Visitatoren eine Liste aus acht Urbachern zusammen, die „zum theÿl des widertauffs halber hinweg gezogen, zum theÿl auch deß Lands verwisen worden, die sich doch wider haimlich beÿ nächtlicher weil einschleichen vnnd ander Leuthen müehe machen“. 306 Abschließend sei auf einen Fall näher eingegangen, der die Strategien des täuferischen Überlebens als ganzheitliche Form der Lebensgestaltung zeigt. Denn im Leben der Einzelnen war der Rückgriffauf die vorgestellten Strategien nicht allein auf die Visitationssituation beschränkt. Sie konnten sich je nach Situation und Bedarf auch mehrerer dieser Mittel bedienen. Gleichzeitig wird sichtbar, dass auch das Verhandeln mit der Obrigkeit nicht auf Dauer möglich war. Der in Urbach gebürtige und um 1575 zum Täufertum übergetretene Hans Marx diente jahrzehntelang den Junkern Friedrich von Nippenburg und später seinen Sohn Wilhelm als Haushalter auf deren Schloß in Schwieberdingen und konnte sowohl Vater als auch Sohn als machtvolle Beschützer für sich gewinnen. Friedrich von Nippenburg setzte sich unbekümmert über die Anordnungen des württembergischen Herzogs in religiösen Angelegenheiten hinweg, um seinen treuen Haushalter weiterhin behalten zu können. Im Jahre 1588 erklärte von Nippenburg, Hans Marx sei ihm ein guter Haushalter. Er werde sich in der Frage nicht beugen, schließlich sei sein einziger Herr der Kaiser, der ihm einen solchen Haushalter nicht verbieten würde. 307 Die Pfarrer, Konsistoriumsmitglieder und Kirchenräte ließen sich immer wieder voller Geduld und Optimismus auf Verhandlungen mit Hans Marx ein, der seinen Verhörern immer wieder neue Hoffnung gab, dass er von seinem ‚Irrtum‘ abfallen würde. Und immer wieder mussten die Kirchendiener feststellen, dass Hans Marx und seine Frau Sabina weder in die Predigten noch zum Abendmahl gingen. Im Dezember 1597 hieß es dann endlich, dass Marx Anzeichen der Besserung durch mehrmaligen Predigtbesuch gezeigt habe. Wilhelm von Nippenburg wandte sich an den Herzog mit der Bitte, Geduld mit Marx zu haben und den Schwieberdinger Pfarrer anzuweisen, das Ehepaar „fürohin mit sanfftmüettigem Gaist [zu] vnnderrichten“. 308 303 LKA A26/ 466 I, f. 21v. 304 LKA A26/ 466 I, f. 21v. 305 LKA A26/ 466 I, f. 204v. 306 LKA A26/ 466 I, f. 217r-217v. 307 LKA A1/ 1588 I, f. 142v. 308 HStAS A63/ 72 (30. Dezember 1597). <?page no="312"?> 313 Offensichtlich gehorchte Hans Marx letzten Endes den Befehlen der Obrigkeit, jedoch nicht ohne alle ihm verbleibenden Freiräume auszunutzen. So erklärte er sich ein Jahr später im Dezember 1598 vor dem Konsistorium dazu bereit, „die predigten nicht nur vor, sonder in der kürchen anzuhören, darzu auch hiezwischen künftiger visitation das h. Abendmahl zu besuchen“. Sabina Marx dagegen zeigte sich „wider alles versehen so gar widersünnig und halsterrig, das von ir die wenigste richtige antwort nicht gepracht werden möge“. Trotzdem gewährte der Kirchenrat Sabina Marx ein weiteres Vierteljahr zur Besserung. 309 Knapp zwei Jahre hörte sich Hans Marx entgegen seines Versprechens die Predigten nur an der Kirchtür stehend an. Hans Marx war vor der Visitation im Frühjahr 1600 „in anhörung der predigen nit in die kirch hinein gangen, sonder vor der kürchthür heraus vnder dem Glockenthurm stehen bliben. Aber seithero hat er anfahen in die kürch hinein gehn (vffdes pfarrers beschähen ansprechen vnd ermanen) vnd neben andern pfarrkündern Inner der Kürchen den predigen, dem gebett vnd gesang abzuwartten.“ 310 Hans Marx fügte sich also nach wiederholten Verhandlungen den obrigkeitlichen Anforderungen und hörte sich den Gottesdienst schließlich in der Kirche an. Doch immer noch blieb ihm genügend Spielraum, seinen Widerwillen zu demonstrieren: So beschwerte sich der über den Fall berichtende Dekan Melchior Hägelin darüber, dass Marx zwar an Sonn- und Feiertagen morgens in die Kirche ging, aber nicht in die Mittags- und Freitagspredigten und auch nicht zum Abendmahl. Weil Marx sich ansonsten aber in seinem Lebenswandel keinen Anlass zu Klagen gab und das Konsistorium immer noch auf seine Besserung hoffte, wollte man ihm weiterhin geduldig zusehen und hoffen, dass es dem Spezialis gelingen würde, Marx durch Unterweisung doch noch zum Abendmahl zu bewegen. 311 Ob dies geschah, ist nicht überliefert. Möglicherweise ist das Ehepaar bis zum Jahre 1604 ausgewiesen worden, obwohl Hans Marx im Jahre 1602 eine Bittschrift an den württembergischen Herzog übersandt hatte, in der er seine untertänige Rechtgläubigkeit beteuerte. 312 Auf dieses Schreiben hin beschloss das Konsistorium zwar Ende Januar 1602, weiter Geduld mit dem Ehepaar zu haben, wenn nicht nur Hans Marx, sondern auch seine Frau Sabina, die sich noch unnachgiebiger als ihr Mann gezeigt hatte, die Predigten besuchte. Ansonsten drohe ihnen der Landesverweis. Vielleicht ist dies tatsächlich geschehen, denn um 1604 wird in einer in der Hand des Kirchenratdirektors Balthasar Eisengrein verfassten Notiz ein Hans Marx aus Urbach genannt, dessen Güter eingezogen 309 HStAS A63/ 72 (22. Dezember 1598). 310 Seine Frau unterließ es weiterhin gänzlich, zur Predigt zu erscheinen. HStAS A63/ 72 (26. Januar 1601). 311 HStAS A63/ 72 (26. Januar 1601). 312 HStAS A63/ 72 (22. Januar 1602). Siehe auch unten Kap. 6.2.5. <?page no="313"?> 314 worden sind. 313 In diesem Fall hätte das langjährige Hin und Her im Fall Hans Marx die Kirchenleitung schließlich davon überzeugt, dass er ein unverbesserlicher Täufer war. Dennoch sollte ihm auch in der letzten Phase der Festschreibung die Möglichkeit zur Besserung gewährt werden - freilich zu Bedingungen, die die Kirchenleitung festlegte und die nur noch begrenzt verhandelbar waren. 6.2.5. Die Nutzung obrigkeitlich geschaffener Amtswege Mit der oben genannten Bittschrift des Hans Marx ist auf eine Quellengattung hingewiesen, die in der Täuferforschung bislang weitestgehend unbeachtet geblieben ist: 314 die Supplikationen aus täuferischen Kreisen. Von diesen Schriftstücken, die insbesondere auf die Wiedererstattung eingezogener Täufergüter zielten, sind zumindest im Schorndorfer Amt ab dem späten 16. Jahrhundert so viele überliefert, dass es sich um eine beträchtliche Erweiterung der ‚Täuferakten‘ im engeren Sinne handelt. 315 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind sie insofern von Interesse, dass sich in diesen Schreiben Strategien der Distanzierung und positiven Selbstdarstellung der in den Visitationen vorgeladenen und der als Täufer verdächtigten Personen beobachten lassen. Gleichzeitig weisen die Supplikationen auf eine Nutzung obrigkeitlicher Instanzen jenseits der Visitation hin. Neben der Visitation scheinen auch diese Amtswege den Menschen bekannt gewesen zu sein, die durchaus zur Wahrung bzw. zum Erreichen der eigenen Interessen in Anspruch genommen wurden. Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in diese Formen der Selbststilisierung gegeben werden, um damit das Spektrum der Strategien der als Täufer Verdächtigten schlaglichtartig zu erweitern. Wie in den Visitationen, musste sich auch der Supplikant bzw. die Supplikantin eindeutig von den Täufern distanzieren, um mit seinem bzw. ihrem Anliegen Aussichten auf Gehör zu haben. Dies tat etwa der Urbacher Richter Konrad Anckelin in seiner Bittschrift gegen Ende des 16. Jahrhunderts, indem er sich in klaren Worten von der „verdamthen Ketzereÿ“ seines im Täufertum verstorbenen älteren Bruders abgrenzte und sich selbst als „armen Baursman vnnd weingartter“ und „arme[n] betrangte[n] gehorsame[n] vnderthon“ bezeichnete. Es ging um die Hinterlassenschaft eines weiteren Bruders, Hans Anckelin aus Geradstetten, 313 HStAS A282/ 3084 (ca. 1604, „Nota des abzugs halben“). 314 Siehe jedoch jüngst Schlachta, Gefahr, S. 38. Sie hält fest, dass Supplikationen zwar in letzter Zeit in der Frühneuzeitforschung als Quellen zunehmend herangezogen worden sind, insbesondere im Rahmen der Neuen Politikgeschichte, der Kritik der etatististischen Konfessionalisierungstheorie sowie daran anknüpfend der von Peter Blickle angestoßenen Gemeindeforschung. Dagegen seien Supplikationen aus den Reihen konfessionell devianter Menschen und Gruppen bislang kaum untersucht worden. Dabei gehörten Supplikationen „zu den wichtigsten Instrumenten konfessionell devianter Untertanen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen [...] und eine Verbesserung ihrer Situation zu erreichen“. Siehe auch ebd., S. 243-253. 315 Vgl. HStAS A282/ 3094a, Nr. 24. Einführend zu den Supplikationen siehe Eibach, Versprochene Gleichheit, S. 522-524; Fuhrmann & Kümin & Würgler, Supplizierende Gemeinden. Speziell zu Württemberg siehe im selben Band Fuhrmann, Amtsbeschwerden. Zu den Güterkonfiskationen siehe Schraepler, Die rechtliche Behandlung, S. 60-68; Teufel, Die Beschlagnahme. <?page no="314"?> 315 der ohne Erben und Kinder verstorben war. Hans Anckelin habe Konrad zufolge zu Lebzeiten „vil vnnd offt verlautten lassenn, das Ich allein sein Erb sein solle, Er das auch mit Einem Testament versehen wolle“. Nur sei es nicht mehr dazu gekommen, denn Hans sei „durch schnellen Todt übereÿlet“ worden. Darauf war sein Vermögen zwischen zwei Erben geteilt worden, nämlich zwischen Konrad Anckelin und seinem täuferischen Bruder Balthasar, „widertaüffern ex errore“. 316 Das Erbteil des ausgewanderten Balthasar Anckelin sei daraufhin ein Jahr lang unter obrigkeitlicher Aufsicht verpflegt worden. Konrad Anckelin habe das Land bis vor vier Jahren geniessen können, bis jedoch „man Im Lanndt das widertauffische guott angriffen“ hat, und der damalige Landprokurator Georg Eßlinger das täuferische Gut im Herzogtum hat verkaufen lassen. Die Maßnahmen des Landprokurators stellte Konrad Anckelin als ungerecht dar, denn nicht nur habe der hohe Amtsträger seines Bruders „aigen verlassenschafft zue gellt gemacht“, sondern auch Konrad Anckelin in tiefe Not getrieben, indem er ihn „mit allem Ernst benöttiget vnnd bezwungen, für denn Erbthail so Er widerteüffer vom Bruder zu Gerenstetten empfangen, haben sollte, Inner 14 tagen beÿ Thurnstraff 450 Gulden Paargellt erlegen müeße“. Die Bezahlung sei dann auch geschehen, allerdings zu Konrad Anckelins „Eüßersten verderben“. Das in Geradstetten gelegene Erbgut forderte Anckelin, der mit einem Juristen Rücksprache gehalten hatte, mit dem Hinweis auf die Erbunfähigkeit von Ketzern bzw. Apostaten zurück: Wäre der täuferische Bruder Balthasar „beÿ seiner erkhannten wahren Seeligmachenden Religion bestenndig verbliben“, wäre sein Anspruch auf das Erbe unbestritten. Da er aber von der offiziellen Religion abgefallen sei, fuhr der Supplikant fort, „so gehörtt dieselbig Einig vnnd allein mir alls dem annderen Bruoder zue vnnd sonsten Niemandt“. 317 Konrad Anckelin wusste es, seine Bittschrift den Konventionen der Gattung entsprechend zu verfassen bzw. verfassen zu lassen. Besonders bemerkenswert macht seine Supplikation aber der Umstand, dass Anckelin in anderen Quellen durchaus den täufernahen Kreisen zugeordnet wurde. 318 Nicht nur stand er im Verdacht, um 1595 nach Mähren ziehenden Urbachern Geld gewechselt und Wein geschenkt zu haben. Ein anderes Mal soll er einer Witwe mit mehreren kleinen Kindern eine Auswanderung nach Mähren nahegelegt haben, wo sie „gutt sach“ 319 haben würden. Darüber hinaus war er selber als Vermittler täuferischer Schriften genannt worden, der seinen Kindern ein täuferisches Liederbuch geschenkt hatte. Seine drei Töchter waren den Obrigkeiten als Täuferinnen bekannt und sein Sohn Hans soll - womöglich gerade aus dem genannten Liederbuch - täuferische Märtyrerlieder gesungen haben. 320 316 HStAS A282/ 3094a, Nr. 23. 317 HStAS A282/ 3094a, Nr. 23. 318 Auch Matthäus Schätzlin aus Beutelsbach, der vielfach als Täufer vernommen wurde, verfasste eine Bittschrift an den Herzog. Vgl. HStAS A282/ 3094d, Nr. 27-29. 319 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 32. 320 HStAS A282/ 3094c, Nr. 6, f. 102r; HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 32. Zu Hans Anckelin und den täuferischen Märtyrerliedern siehe auch Burschel, Sterben und Unsterblichkeit, S. 117- 157. Scheinbar war auch Konrad Anckelins Anspruch an das Erbe seiner Brüder nicht völlig <?page no="315"?> 316 Über die täuferische Gesinnung Anckelins lässt sich allerdings nichts Endgültiges sagen, denn trotz der Unterstützung der Täufer zeigte er den Visitatoren im Jahre 1598 auch an, dass Jörg Lutz aus Mähren nach Urbach komme und „die leütt vffwickle“. Die Visitatoren legten diese Aussage dahingehend aus, dass die Urbacher Ehrbarkeit von den Täufern im Ort gewusst, aber nichts gegen diese unternommen hätte. 321 Im Verlauf der Spezialvisitation von 1598/ 99 ließ Konrad Anckelin offensichtlich mit sich handeln, denn in den Akten wird er zuletzt unter denjenigen Urbacher Richtern geführt, die zwar zunächst verdächtig gewesen seien, doch sich hätten belehren lassen. 322 Wie immer es mit Konrad Anckelins persönlichen Überzeugungen gestanden haben mag, fest steht, dass er sich die von den obrigkeitlichen Instanzen gebotenen Möglichkeiten zunutze machte und in diesem Zusammenhang bewusst mit dem Diskussionsgegenstand ‚Täufer‘ operierte. Und er war nicht der Einzige. Der Fall von Lorentz Lachenmayer, der unnachgiebig um das Erbe seiner Tochter supplikierte (nicht zuletzt, indem er mit der Unschuld seiner Tochter argumentierte, die fälschlich als Täuferin abgestempelt worden sei) 323 , wurde im Kirchenrat als Beispiel für die unerträgliche Flut von Supplikationen genannt, in denen die Obrigkeiten vermeintlich rauen Worten und Drohungen von Seiten der Supplikanten ausgesetzt wurden: „[N]eben andern mehr dergleichen, Insonderheit Lorentz Lachenmeÿers zue Schlechtbach [...] in denn Obern Rath sein angebracht worden vnd die Kirchenräth gleichsam Täglich von denn Supplicanten auch mit außgießung böser betrawlicher reden angeloffen werden.“ 324 Die Kirchenräte leiteten daher im April 1613 die dringende Bitte an den Oberrat weiter, dieser solle möglichst schnell einen Bescheid in der Sache geben, „damit man doch solches Nachlauffens geübrigt sein möge“. 325 Neben der Rückerstattung wurde in den Supplikationen (wenn auch seltener) für die Haftmilderung täuferischer Nächster plädiert. Wie in den Visitationen, ließen sich auch hier materielle Not und die durch die Strafen verursachte eindeutig. Das hinterlassene Gut seines Bruders Hans in Geradstetten hatte er zwar bereits vor 1598 geerbt. Doch das in Urbach gelegene Gut seines täuferischen Bruders Balthasar, der nach Mähren ausgewandert war, sollte solange verpflegt werden, bis Balthasars Tochter diese in Anspruch nehmen könne. Zur Klärung der Frage war es von Bedeutung, ob Balthasar das Gut vor oder nach seinem Übertritt zum Täufertum geerbt hatte - und an dieser Stelle wusste Konrad Anckelin mit seiner Supplikation anzusetzen. HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 36-37. 321 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 30. 322 HStAS A282/ 3094c, Nr. 14, S. 42. 323 Der Landprokurator habe Margaretha Lachenmayer bezichtigt, eine Täuferin zu sein, „Als ob sie vonn der wahren Religion deß heiligen Euangelii vnnd denn verirrten widertäüffern zugefallen vnd zugezogen sein sollte“. HStAS A282/ 3094a, Nr. 22. 324 HStAS A282/ 3094a, Nr. 24. Die Akten zum Fall Lachenmayer befinden sich in HStAS A282/ 3094a. 325 HStAS A282/ 3094a, Nr. 24. <?page no="316"?> 317 schwierige Familiensituation als Argumente anbringen. So wandte sich bspw. Georg Hellwart aus Beutelsbach mit einer Supplikation am 27. August 1616 an den Herzog mit dem Anliegen, seine täuferische Ehefrau Margaretha vor dem Verwahren in einem „bledehauß“ zu retten, wo sie keine „gelegenhaitts hab, Jemanden mitt Ihrem Irthumb Weitter anzusteckhen“. Hellwart stimmte zwar zu, dass dieses an sich eine „Wohl verdiente straff“ für seine Frau sei, die - in Hellwarts Worten - „mitt dem Widertauffbehafftet“ sei. Trotzdem plädierte er dafür, seine Frau, wie bereits früher geschehen sei, lieber im Haus angekettet zu halten, wo er sie stets im Auge behalten würde. Als Begründung wies er auf „allerhandt beschwerlichen Vngelegenheitts“ hin, womit vermutlich Schwierigkeiten in der Haushaltung gemeint waren. 326 Georg Hellwarts Anbringen war erfolgreich. Das Konsistorium beschloss am 3. September 1616, Margaretha in ihrem Zuhause anzuketten. Er hätte jedoch darauf zu achten, dass sie sich nicht ohne Hilfe aus den Ketten befreien könnte und „andre zuuerfüren vnd anzuestecken gelegenhait haben möge“. Dem Ehepaar wurde deutlich gemacht, dass Margaretha Hellwart inhaftiert werden würde, wenn man sie noch einmal bei täuferischer Agitation ertappe. Sie sollte außerdem vom Schorndorfer Spezialis unterrichtet werden. Auch der Pfarrer von Beutelsbach sollte Margaretha Hellwart möglichst oft besuchen und versuchen, sie wieder auf den „rechten weg“ zu bringen. Ausschlaggebend für den Erfolg der Supplikation dürfte das Begleitschreiben des Schorndorfer Untervogtes Johann Sebastian Engelhardt gewesen sein. Dieser versicherte dem Herzog, man könne sich sicher sein, dass eine in Ketten gelegte Margaretha Hellwart unter der Aufsicht ihres tugenhaften Ehemannes keinen Schaden ausrichten könne. Denn Georg Hellwart habe „seines verhalttens, thuns vnnd laßens halb ain gut pradicat, das er ain ehrlicher hartschaffender gesell“ sei, der sich an den täuferischen Neigungen seiner Frau „gut wenig erfrewe“. Hellwart habe auch versprochen, in Zukunft besser auf seine Frau aufzupassen und ihr nicht mehr soviel Freiheit zu gewähren wie bisher. 327 Der Antragsteller konnte natürlich auch um Gnade bzw. Straferlass für sich selbst bitten. Hans Seifer aus Geradstetten bspw. appellierte im Frühjahr 1634 um die Wiedererstattung der ihm als Täufer entzogenen Bürgerrechte. 328 Er porträtierte sich als reumütiger Untertan, der in seiner „betrübten Ellenden“ auf die Gnade und Gutmütigkeit des Herzogs angewiesen sei. Im Rückblick stellte er sein Leben als Kette von unglücklichen Ereignissen dar, für die er selber nur bedingt verantwortlich sei. Nach seiner „Blüehende[n] Jugend“ sei er von seinem Schulmeister und einem Freund „zue der widertäufferischen Sect verlaithet“ worden und habe sich trotz mehrmaligen obrigkeitlichen Ermahnungen jahrelang 326 HStAS A206/ 4417, Nr. 5. 327 HStAS A206/ 4417, Nr. 4. Im Jahre 1619 allerdings wurde über Margaretha Hellwart berichtet, sie gehe ihren täuferischen Praktiken wie gewohnt nach. Daraufhin konnte sie der Turmstrafe nicht mehr entgehen. HStAS A206/ 4417 (24. September 1619). 328 HStAS A206/ 4417 (4. März 1634). <?page no="317"?> 318 nicht belehren lassen, sei von den Gottesdiensten, dem Abendmahl „vnnd Andern Christlichen Übungen beÿ der […] erkhannten vnd Bekhannten Religion Augspurgischer Confession“ ferngeblieben. Diese Irrungen ließen sich teilweise mit seiner „vnglickliche[n] Ehe“ erklären, die dazu geführt habe, dass Seifer durch „des Bösen Feindts anstifftung von obigen verfüehrischen Personen“ in das Unglück geleitet worden sei, so dass er nunmehr seit 17 Jahren an „vnderschidlichen orthen“, fern von seiner Heimat „in der Frembde“ zu leben gezwungen sei. Nun aber habe er sich gebessert und lehne den „widertäufferischen Irthumb“ ab. 329 Seifer wusste sich mit einer biblischen Figur zu vergleichen: Er sei der „verlohrn[e] Sohn“, der nun zu seinem liebenden Vater zurückkehren möchte. Seinen Glaubenswandel verdanke er - das betonte Seifer noch einmal - Christus, seinem einzigen Erlöser sowie „Gott den haÿligen Geist“, die Seifer in einem langen Prozess der Erbauung davon überzeugt haben, nur „In Rechter Erkhanntnus vnd Bekhanntnus das Euangelij vnd Seeligmachenden Christlichen glaubens“ ein ewiges Leben erlangen zu können. „Solchem allem nach flehe vnnd Schreÿe ich“, so Seifer, ihn wieder „zue dem Schaffstall oder gmeinschafft der Christlichen Kürchen […] Augspurgischer Confession kommen zuelaßen, Christlich vnnd mitlaident, aller gnädigst affectioniert vnnd gesinnet“. 330 Abschließend bat er den Herzog demütigst - diesmal mit dem Verweis auf den „Armen Blinden mann“ im Lukasevangelium 331 - „in aller vnderthönigster gehorsamer vmb Gottes willen, die wollen mir meinen hievorigen Irrthumb vnnd außtretten gnädigst verzeihen“. Anders als bei Georg Hellwart stellte sich der Untervogt in diesem Fall nicht eindeutig auf die Seite des Antragstellers. Er erklärte sich lediglich bereit, dem herzoglichen Entschluss in der Sache Seifer zu folgen, wie immer dieser ausfallen möge. Entsprechend beschloss dann das Konsistorium am 4. März 1634, Seifer noch mal einer genaueren Examination zu unterziehen, um die Beschaffenheit seines Gesinnungswandels zu überprüfen. 332 In den Supplikationen wurden vielfach ähnliche Argumentationsmuster genutzt wie vor der Visitation. Oben ist bereits auf die materiellen Argumente hingewiesen worden. Hans Seifer wiederum griffobrigkeitlich akzeptierte Deutungsmuster auf, indem er sich als reumütigen Sünder darstellte. Diesen Weg ging auch der bereits genannte Haushalter Hans Marx aus Schwieberdingen in seiner Supplikation im Januar 1602. Da er bereits als Täufer festgeschrieben war, ließ sich sein früheres Verhalten nicht völlig abstreiten: „Nun khan ich nicht laügnen, daß ich vnnd mein hausfraw vnns ettwan lange zeitt der Kirchen enthallten.“ Doch er konnte sich immer noch als einen gebesserten Mann stilisie- 329 HStAS A206/ 4417 (4. März 1634). 330 HStAS A206/ 4417 (4. März 1634). 331 Vgl. die Heilung eines Blinden bei Jericho in Lk. 18: 35-42. 332 HStAS A206/ 4417 (4. März 1634). <?page no="318"?> 319 ren, der nunmehr nicht genug von den Predigten hören konnte und dem eine Ausweisung allein deshalb schmerzen würde, weil er dann nicht mehr die Predigten des neuen, offensichtlich strengeren Gemeindepfarrers hören könne. 333 Inzwischen sei ihm die lutherische „Predig deß worts von herzen anmüettig worden, Sonnderlich da iezt ein Annderer pfarherr M[agiste]r Schäffer nach Schwieberdingen geordnet, hat mich bedunckht, ich kende seiner predigen nit sadt werden, sonnderlich weil er die laster mit rechtem ernst pflegt zue straffen vnnd anzugreiffen, Allso daß, so ich deßelben soll vnnd mueß beraubt sein, mir dardurch nicht geringes Herzlaid zugefüegt würt werden.“ 334 Das Aufgreifen des stereotypen Rollenmusters eines reumütigen Sünders bewirkte bei Marx, dass man ihm und seiner Frau eine weitere Frist gewährte, an den Gottesdiensten teilzunehmen und die Kirchenleitung so von der Aufrichtigkeit der Bekehrung zu überzeugen. Diese Beispiele weisen darauf hin, dass in den Supplikationen von den Bittstellern ähnliche Mittel herangezogen wurden als von den Vorgeladenen in den Visitationen. Alleine mit einer untertänigen Supplikation konnten die Betroffenen die Kirchenleitung allerdings selten von ihrem Gesinnungswandel überzeugen. Doch es war eine weitere Möglichkeit, für die eigene Sache zu werben, die - wie die Visitation - immerhin zeitlichen Aufschub in der Sache gewähren konnte. Wurden die Selbstaussagen durch den Untervogt bestätigt, durch den die Supplikationen an den Herzog geleitet wurden, hatte man bereits mehr Aussichten auf Erfolg. Eine weitere Möglichkeit war, die eigene Besserung in den Visitationen zur Schau zu stellen, wo sie von der Visitationskommission in ihrer Glaubwürdigkeit offiziell überprüft wurde. Somit waren in der Täuferfrage Visitationen und weitere obrigkeitliche Amtswege eng miteinander verschränkt. Die als Täufer gehandelten Menschen ließen es sich nicht nehmen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszunutzen. Von einem Rückzug dieser Personen aus der Gesellschaft kann im Lichte der oben präsentierten Beispiele nicht die Rede sein. 6.3. Fazit In den Visitationen sollte in einem letzten Schritt den aus obrigkeitlicher Sicht religiös suspekten Personen, ihren Tätigkeiten und Netzwerken näher nachgegangen werden, entweder durch persönliche Vorladung oder aufgrund von Aus- 333 HStAS A63/ 72 (22. Januar 1602). 334 Seine Frau Sabina besuche zwar immer noch nicht die Predigten, doch Hans Marx versicherte, „Ihr das gehörte wordt fleißig einzubilden mit der tröstlichen zuversicht, es werde doch Gott einmahl die stundt geben, daß sie neben mir die predigen besuche“. HStAS A63/ 72 (22. Januar 1602). <?page no="319"?> 320 sagen des Pfarrers und der dörflichen Ehrbarkeit. Den Ausgangspunkt eines Täufereiverdachts bildete meist das Fernbleiben der Betroffenen von den Predigten und insbesondere vom Abendmahl. Die Abendmahlsthematik gewann in den Gemeinden durch die Visitationen und ihre Suche nach den Sektierern entscheidend an Brisanz. Neben aus lutherischer Perspektive häretischen Abendmahlsauffassungen (Ablehnung der Realpräsenz) wurde unter den Dorfbewohnern mit der Theologie der Würdigkeit eine weitere, wenn nicht direkt häretische, so doch in vielem von den offiziellen Normen abweichende Interpretation bzw. von den lutherischen Lehren zu extrem gezogene Konsequenzen des Abendmahls verbreitet. 335 Diese besagten, dass man nur in einem rituell würdigen Zustand am Sakrament teilnehmen durfte, ohne Verdammnis über sich zu bringen. Zur eigenen Unwürdigkeit trugen neben moralischen Vergehen auch Gefühle wie Neid und Hass sowie Konflikte mit den Nächsten bei. Vielfach wurde in den Visitionen gerade mit ungeklärten Streitigkeiten argumentiert, die die Teilnahme am Abendmahl verhinderten. Für die Akzeptanz der lutherischen Lehren und kirchlichen Praktiken war dies insofern ein Problem, da die Täufer, sofern sie mit ihren Abendmahlsauffassungen und ihrer vermeintlich antiobrigkeitlichen Haltung in ihrem Dorf Gehör fanden, die Teilnahmefreudigkeit der Bevölkerung am Abendmahl weiter unterminieren konnten. So galt es, in den Visitationen die Motive hinter der Abendmahlsverweigerung möglichst genau in Erfahrung zu bringen, um ggf. in bestehende Konflikte vermittelnd einzugreifen, die Dorfbewohner zu belehren, zu ermahnen und gegen als täuferisch angesehenen Personen weitere Maßnahmen einzuleiten. Wie die Beispiele aus dem Schorndorfer Amt gezeigt haben, in denen Sympathisanten der Täufer aus Protest gegenüber den obrigkeitlichen Sanktionen ihre Teilnahme am Abendmahl verweigerten, war es in der Praxis nicht immer möglich, zwischen täuferischer Gesinnung und in Unwürdigkeit mündenden lokalen Konflikten zu trennen. In Gesprächen der Verdächtigen mit dem lokalen Pfarrer und ggf. in den Visitationen wurde in einem nächsten Schritt - zumindest prinzipiell fest an den in den Täuferordnungen enthaltenen Fragenkatalogen entlang - weiteren Vorstellungen nachgespürt, die in den Augen der Normgeber über die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu den Täufern entschieden. Hierbei wurde das Auftreten der Vorgeladenen mit in die Beurteilung einbezogen. Aufgrund dieser Informationen und Eindrücke erfolgte die Zuordnung zu den in den Täuferordnungen vorgegebenen Kategorien des Täufertums bzw. der religiösen Devianz. Somit wurden in den Visitationen die in den Täuferordnungen formulierten 335 So wurde den Laien von der Kanzel durchaus auch offiziell eingeschärft, dass ein durch Streitigkeiten verursachter unwürdiger Empfang das Seelenheil gefährden würde. Gleichzeitig wurde zu einer möglichst häufigen Teilnahme am Abendmahl geraten, um die Menschen im Glauben zu kräftigen und ihren Trost zu spenden. Es war dieser Widerspruch, der vielen der Zeitgenossen einiges an Kopfzerbrechen bereitete, wie sie sich in der Abensmahlsfrage richtig verhalten sollten. Vgl. Kaul, Undankbare Gäste, S. 300. <?page no="320"?> 321 Richtlinien zur Bekämpfung von aus obrigkeitlicher Perspektive unerwünschten bzw. häretischen Glaubens- und Lebensformen auf Menschen und Gegebenheiten vor Ort angewandt. Die Visitation war auf die Informanten vor Ort angewiesen, ohne die das Verfahren letztlich nicht ausreichend fuktionierte. Neben den Pfarrern und der Ehrbarkeit waren auch die Untertanen verpflichtet, Täufer anzuzeigen. Dieser Pflicht ist die Bevölkerung aber kaum nachgekommen. Besonders innerhalb der Familie wurden Täufer den obrigkeitlichen Interessen nur äußerst selten ausgeliefert. Meistens handelte es sich bei den Anzeigen um Andeutungen und Verweise auf die ‚allgemeine Rede‘ im Ort, die auf die Spuren der Täufer führten. Obwohl die Täufer vielfach von ihren Mitmenschen geschützt oder zumindest geduldet wurden, standen ihnen manche in den Dörfern feindselig - aber ebensogut einfach auch neugierig - gegenüber. Entscheidend war letztendlich, wie sich die Beziehungen der Täufer zur dörflichen Ehrbarkeit gestalteten. Diese hatte zum einen die weltlichen Ämter inne, die neben dem Pfarrer die Täuferbekämpfung auf lokaler Ebene auszuführen hatten. Gleichzeitig kamen sie als Vertreter des Dorfes in den Visitation regelmäßig zur Sprache. Für die Vorgeladenen begann mit der ersten Vorladung das Aktenkundig- Werden und gleichzeitig die zunehmende Einengung ihrer Spielräume. War man nämlich einmal in den Verdacht gekommen, ein Täufer oder eine Täuferin zu sein, so war es nicht einfach, diesen Vorwurf bzw. dieses Etikett wieder loszuwerden. Die Vorgeladenen argumentierten zwar stets aus der Defensive heraus, doch standen ihnen eine Reihe von Argumentations- und Handlungsmustern zur Verfügung, mit denen Spielräume bzw. zumindest zeitlicher Aufschub ausgehandelt werden konnten. Hier konnten sie von dem abgestuften Strafsystem und der - auch in den Verordnungen als Denkmuster verankerten - Hoffnung der lutherischen Kirchenleitung auf Besserung und Bekehrung profitieren. Diese grundsätzliche Ausrichtung der württembergischen Täuferpolitik machte es möglich, auch nach der Festschreibung als Täufer in den Schoß der Landeskirche zurückzukehren. Hieraus ergaben sich Möglichkeiten für die Vorgeladenen, sich nicht auf ihre Gesinnung bzw. ihre Aussagen festzulegen oder sich mit dem Hinweis auf eine mögliche künftige Bekehrung Fristen auszuhandeln. Die als Täufer und Täuferinnen Verdächtigten wussten es, die Hoffnungen der Kirchendiener auf ihre Bekehrung zunutze zu machen. Die Hauptstrategie der Schorndorfer Täufer und Täuferinnen bestand im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert darin, nicht als hartnäckiger Täufer bzw. hartnäckige Täuferin kategorisiert zu werden, da sie dann mit Haftstrafen, Konfiszierung ihrer Güter und Landesverweis zu rechnen hatten. Dafür mussten eigene täuferische Aktivitäten und Kontakte geleugnet, verschleiert und verharmlost werden. Hierzu bediente man sich Hinhaltestrategien wie der in Aussicht gestellten Besserung und bewusst vager Aussagen oder dem taktischen Vergessen. Bei Bedarf wandte man diese Techniken auch in Aussagen über in Verdacht geratene Nächste an. Je überzeugender es den Vorgeladenen gelang, sich den Verhören- <?page no="321"?> 322 den gegenüber als harmlos und demütig zu präsentieren, desto mehr Spielräume konnten sie sich aushandeln. Allerdings wurden diese Möglichkeiten mit jeder weiteren Vorladung bzw. Nennung in den Akten weiter eingegrenzt. So fiel es einer erstmals aktenkundig werdenden Person tendentiell leichter, auf ihrer Unschuld bzw. ihrem Unwissen zu plädieren als jemandem, der bereits mehrere Begegnungen mit den Visitatoren hinter sich hatte. Letztlich war es ausschlaggebend, die Visitatoren von der eigenen Harmlosigkeit für das Gemeinwohl und einer respektvollen Haltung gegenüber Landeskirche und Landesherrschaft zu überzeugen. In einigen Fällen konnten Vorgeladene sogar weiterhin von dem offiziellen kirchlichen Leben fernbleiben, da sie aufgrund ihrer erfolgreich zur Schau gestellten ‚Einfalt‘ keine Gefahr für die Gemeinde darstellten (d. h. keine täuferischen Ideen verbreiten konnten). So zentral die Visitation für das administrative Täufer-Werden der Betroffenen war, gab es dennoch auch andere Wege, auf denen die Vorgeladenen versuchen konnten, Einfluss auf den Prozess zu nehmen. So zeigen sich etwa in den Supplikationen aus täuferischen Kreisen ähnliche Handlungs- und Argumentationsmuster wie in den Visitationsakten. Auch hier erwiesen sich Beteuerungen von der eigenen Demut, Untertänigkeit, Einfalt und Harmlosigkeit als die erfolgreichsten Strategien. <?page no="322"?> 323 7. Schluss Ziel der vorliegenden Arbeit war es, am Beispiel Württembergs und speziell des Schorndorfer Amtes in den Jahrzehnten nach der Reformation Ansätze einer Kulturgeschichte der Visitation und einer Kulturgeschichte der Täufer zu entwickeln. Diese sind nicht deckungsgleich, sondern vielfach miteinander verschränkt. Zwar gab es an anderen Orten und in anderen Zeiten Visitationen, in denen die Täufer keine Rolle spielten, ebenso wie es täuferische Auffassungen und Praktiken unabhängig von den obrigkeitlichen Maßnahmen gab. Die Zusammenführung dieser Bereiche macht aber wichtige Prozesse sichtbar, die beide Geschichten aus einer etwas ungewöhnlichen Richtung beleuchten und so die gängigen Interpretationen dieser Phänomene zu modizifieren vermögen. Die Visitationen wurden als Kommunikationsforum untersucht, auf dem die Akteure versuchten, ihre Interessen durchzusetzen bzw. zu wahren. Diese Dynamik der mit- und gegeneinander agierenden Akteure und Gruppen wurde als ‚ernstes Spiel‘ umschrieben, um den Blick auf die sich ständig ändernden - aber dennoch alles andere als willkürlichen oder irrationalen - Konstellationen, Handlungsmöglichkeiten und Mächteverhältnisse zu lenken. Die Spielmetapher berücksichtigt auch die historische Kraft des Eigensinns, nämlich die Gegebenheit, dass sich historische Akteure normative Vorgaben in unterschiedlichsten Weisen aneignen, diese umgehen oder gar ignorieren können. Gleichzeitig aber gab es Regeln (Normen, Rollenvorgaben und Ideale), deren Bruch ab einem bestimmten Punkt handfeste Konsequenzen mit sich ziehen konnte. Hier ging es insbesondere um die Frage, wie ein als religiös deviant definiertes Verhalten den ‚Spielverlauf‘ änderte, welche Aktionen und Gegenaktionen es hervorrief, wie es Handlungsoptionen neu strukturieren oder neue Personen in das Geschehen einbeziehen konnte. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Täufer in erster Linie als Projektionsfläche und Diskussionsgegenstand - also im hohen Maße als etwas von den am Entstehungsprozess Beteiligten ‚Gemachtes‘. Es zeigte sich allerdings auch, dass die Frage nach dem Wesen des Täufertums schon für die Zeitgenossen nicht einfach zu beantworten war und zum Thema vielfältige Debatten auf allen Ebenen der Gesellschaft geführt wurden. Diese Arbeit beleuchtet mit den Visitationen einen wesentlichen Teil dieser zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit den Täufern. Die frühneuzeitlichen Kirchenvisitationen sind zwar als bedeutendes Mittel für den Ausbau einer konfessionellen Landeskirche anerkannt, aber in ihren vielfältigen Funktionen nicht ausreichend untersucht worden. Darüber hinaus ist die Rolle der Visitationen für die Täuferbekämpfung bislang nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden, ebensowenig wie näher bedacht worden ist, dass die Existenz der Täufer die Obrigkeiten dazu anregen konnte, effektivere Vorgehensweisen gegen unerwünschte <?page no="323"?> 324 Formen von Religiosität zu entwickeln, wie dies in Württemberg mit dem regelmäßigen Beobachten, Berichten und Visitieren versucht wurde. Die vorliegende Untersuchung bietet ein an einem Territorium entwickeltes Interpretationsmodell, welches die vielfältigen Verschränkungen und Wechselbeziehungen von Visitationspraxis, Sektenbekämpfung, Konfessionalisierung und Landesherrschaft im 16. und frühen 17. Jahrhundert deutlich machen. Im Fokus der Arbeit stand zum einen die konkrete Frage, wie die Visitationen zur Täuferbekämpfung beitrugen bzw. wie in den Visitationen über die Merkmale und das mögliche Maß an Tolerierung von religiösem Nonkonformismus insbesondere auf dem Lande verhandelt wurde. Indem die Dorfbewohner als Teil dieser Kommunikation mit in die Betrachtung einbezogen wurden, wurden eine Reihe von weiteren sozialen, moralischen und kirchlich-religiösen Anliegen untersucht, welche die Untertanen in den Visitationen anbringen wollten. Zum anderen wurden die Visitationen im Rahmen frühneuzeitlicher Herrschaftspraktiken als eigenständiges, komplexes Verfahren herausgearbeitet, das auf eine umfassende moralisch-religiöse Besserung der Amtsträger und Gemeinden - und somit auf die Sicherung sowohl von sozialer Ordnung als auch des kollektiven Seelenheils - zielte. In den einzelnen Kapiteln wurde den Interessen und Notwendigkeiten der jeweiligen am Zuschreibungsprozess beteiligten Gruppen systematisch nachgegangen, nämlich der Stuttgarter Normgeber, der ermittelnden und berichterstattenden Visitationskommission, der vor Ort ansässigen Kirchendiener, der Dorfbewohner sowie zuletzt der als Täufer Verdächtigten. Es zeigte sich, dass sich ein hochbrisantes Phänomen wie die Täufer für eine solche Analyse im ganz besonderen Maße eignet, da es verschiedene Deutungsmuster, Argumente und Strategien, Konflikte und Loyalitäten sowie Ordnungs- und Normvorstellungen der Beteiligten stärker sichtbar werden lässt. Zugespitzt formuliert verhandelten in den Visitationen sowohl Pfarrer und Gemeinden als auch die mutmaßlichen Täufer und Täuferinnen ihre Handlungsmöglichkeiten. Doch auch die Visitatoren hatten sich gegenüber ihren Vorgesetzten zu bewähren und ggf. zu rechtfertigen. Die Normgeber in Stuttgart wiederum waren auf kooperative Amtmänner und Informanten vor Ort angewiesen. Dieser Komplexität ist in der Forschung Rechnung zu tragen, indem die Visitationen weder einseitig als Durchsetzungsinstrument obrigkeitlicher Ideale noch als ein Kontrollmoment ausschließlich der Amtsträger oder ausschließlich der Bevölkerung verstanden werden. Weder waren die weltlichen und kirchlichen Amtmänner willenlose Vollstrecker obrigkeitlicher Befehle, noch nahmen die Untertanen die implementierten Normen ohne weiteres und auf die von den Obrigkeiten intendierte Weise an. Für die Täuferforschung eröffnet eine solche Analyse der obrigkeitlichen Täuferbekämpfung mittels der Visitationen einen neuen Zugang. Hierbei wird die Perspektive von den täuferischen Vordenkern - die unser Bild von den Täuferbewegungen des 16. Jahrhunderts immer noch sehr stark prägen - auf die zeitgenössischen Obrigkeiten verschoben, die die ‚Täufergefahr‘ in ihrem Ter- <?page no="324"?> 325 ritorium in den Griffzu bekommen versuchten und dafür differenzierte Methoden der Informationserhebung sowie Kriterien der religiösen Devianz bzw. des Täufer-Seins entwickelten. Darüber hinaus geraten die als Täufer und Täuferinnen verdächtigten Menschen aus dem ländlichen Milieu in den Blick, die in der Forschung lange Zeit im Schatten der prominenteren Führungsgestalten des Täufertums gestanden haben. Diese Personen zogen mit kleineren, größeren oder gar imaginierten Normübertritten obrigkeitliche Aufmerksamkeit auf sich und wurden in den von Normgeberseite initiierten Konstruktionssprozess von ‚Täufern‘ eingebunden. Außerdem werden die unterschiedlichen Akteure auf den mittleren Ebenen der Gesellschaft sichtbar, die sich ebenfalls an dem Prozess beteiligten, mehr noch: deren Partizipation für diesen sogar unerlässlich war und die Umsetzungen der offiziellen Vorgaben zur Täuferbekämpfung überhaupt ermöglichte. Vögte, Pfarrer, dörfliche Schultheißen und Richter waren Personen, deren Einstellungen und Handlungen die Möglichkeiten nonkonformer Lebensgestaltung vor Ort entscheidend mitformten. Ihrem Handeln waren zwar durch die Regeln der Visitation und der allgemeinen Herrschaftspraktiken der Zeit Grenzen gesetzt, doch blieb ihnen in diesem vorgegebenen Rahmen dennoch Raum, den Täufern aus unterschiedlichen Beweggründen auf unterschiedliche Weise zu begegnen. Diese weltlichen und kirchlichen Amtsträger sind in der Täuferforschung bislang nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen gewesen. Die grundlegenden, bereits in den 1520er Jahren entstandenen, von dem Schock des Bauernkrieges und des Täuferreiches in Münster entscheidend geprägten und sich schnell verfestigenden Erkennungszeichen der Täufer wie etwa die Ablehnung der Kindertaufe oder der lutherischen Abendmahlslehre wurden in den Täuferordnungen des 16. Jahrhunderts normativ fixiert. Die offiziellen Vorgaben markierten gleichzeitig die Grenzen und Möglichkeiten sowohl der Täuferbekämpfung als auch der täuferischer bzw. nonkonformer Lebensgestaltung und Glaubenspraktizierung. Aus obrigkeitlicher Sicht und vermittelt durch die obrigkeitlichen Protokolle und Berichte, die im Mittelpunkt der Untersuchung standen, hat das Täufertum im Schorndorfer Amt vor allem Protestcharakter. Der Begriff ‚Täufer‘ bezeichnet in diesem Kontext in erster Linie eine Person, die sich wiederholt aus dem offiziellen kirchlichen Leben, insbesondere von den Gottesdiensten und dem Abendmahl, zurückzog. Täufer-Sein bedeutete aus dieser Perspektive die Ablehnung nicht nur zentraler lutherischer Normen, sondern der lutherischen Landeskirche und ihrer Praktiken insgesamt. Entscheidend für den Umgang mit den Täufern in Württemberg war die von den Obrigkeiten wahrgenommene Bedrohung der lutherischen Gesellschaftsordnung, da diese Ordnung im späten 16. Jahrhundert noch keineswegs gruppenübergreifend gefestigt war. Die Landeskirche und der frühneuzeitliche Fürstenbzw. Territorialstaat waren vielmehr erst im Entstehen begriffen und das von ihr als normativ vorgeschriebene kirchliche Angebot wurde innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Kräftefelder unterschiedlich angenommen. Die <?page no="325"?> 326 Täufer gefährdeten die erfolgreiche Umsetzung dieses Projektes auf grundlegende Weise. Sie stellten das Deutungsmonopol der lutherischen Normgeber respektlos in Frage und forderten diese - zumindest in den Aussagen der täuferischen Vordenker, die wiederum zumindest in Teilen in den Täuferordnungen als unter den Anhängern gültige ‚typisch täuferische‘ Auffassungen übernommen wurden - durch alternative Lebensentwürfe radikal heraus. Daneben blieb stets die Angst der Obrigkeiten erhalten, es könne zu einem Aufruhr kommen, wenn die Ausbreitung täuferischen Gedankenguts und nonkonformer Praktiken (aus obrigkeitlicher Sicht: des Ungehorsams) nicht rechtzeitig und effektiv eingedämmt würde. Die Täufer- und Visitationsakten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts bieten allerdings keinerlei Anhaltspunkte auf konkrete täuferische Aufruhrpläne im Schorndorfer Amt. Da die Täuferbewegung im Vergleich zur Gesamtpopulation in Württemberg auch zahlenmäßig gering blieb, war für die Beurteilung nicht ihr reales Bedrohungspotenzial ausschlaggebend. Erst wenn man die Bedeutung der Täufer als Deutungs- und Zuschreibungsmuster in den Blick nimmt, wird die den Täufern durch die frühneuzeitlichen Normgeber nachgesagte Gefahr verständlich. Die politische Dimension (Untertänigkeit) war hierbei der religiösen (Häresie) untergeordnet, wenngleich sich die Ebenen nicht vollständig voneinander trennen lassen. Für die württembergischen Obrigkeiten hatten die Täufer trotz unterschiedlicher Gewichtungen ihres religiösen bzw. politischen Gefahrenpotentials eine immense Bedeutung. Dies geht allein aus dem massiven administrativen Aufwand hervor, der von der Kirchenverwaltung betrieben wurde, um die Täufer zu beschreiben, zu klassifizieren und um adäquate Gegenmittel zu finden. Hierfür war zunächst eine Verständigung der Obrigkeiten untereinander notwendig, welche Personen, Auffassungen oder Handlungsformen zu untersagen und strafbar zu machen waren. Insbesondere das erhaltene Sitzungsprotokoll des Tübinger Juristen Nikolaus Varnbüler von 1570/ 71 zeigt, wie vielfältige Verhandlungen über das Wesen des Täufertums bereits auf der Ebene der Normgeber im Vorfeld der meist publizierten Täuferordnungen abliefen. Die Analyse der obrigkeitlichen Täuferbilder ist für ein angemessenes Verständnis der in der Visitation vorgenommenen Zuschreibungsprozesse notwendig. Diese Bilder sind vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Vorstellungen einer ‚guten Policey‘ zu sehen, die die Aufgaben von Obrigkeiten und Untertanen umschrieb und dessen Einhaltung die Gesellschaftsordnung gewährleisten und das Gemeinwohl fördern sollte. Wenn in den Visitationen als Täufer oder Täuferinnen Verdächtigte vorgeladen wurden, musste von den weltlichen und kirchlichen Amtmännern eindeutig festgestellt werden können, inwiefern die gegen diese Personen erhobenen Vorwürfe Bestand hatten und was für eine Bedrohung die Vorgeladenen darstellten. Wurden diese anhand der in den Täuferordnungen aufgestellten Merkmale und Kriterien als ‚Täufer‘ oder ‚Täuferin‘ identifiziert, galten fortan die Bestimmungen der jeweils gültigen, offiziellen Täuferordnung. Die in den Ordnungen festgehaltenen offiziellen Täuferkategorien und die diesen <?page no="326"?> 327 zugewiesenen Sanktionen steckten den generellen Handlungsrahmen für die von der Täuferbekämpfung betroffenen Akteure ab. Gleichzeitig wurde eine Reihe von typischen Einstellungen, Eigenschaften oder Handlungsformen produziert, die den einzelnen Kategorien zugewiesen wurden. Da die Härte der Strafen abhängig von der jeweiligen Kategorie war, konnten die Zuschreibungen sehr konkrete Folgen für die Betroffenen haben. Die Täufer dienten als Negativfolie für die Darstellung der lutherischen Normgeber als gute, christliche Obrigkeit. Von der idealtypischen Figur eines hartnäckigen Täufers konnte ex negativo ein ebenso idealtypisches Bild eines guten lutherischen Untertans hergeleitet werden, das es als Identifikationsmodell auf allen Ebenen der Gesellschaft zu implementieren galt. Die Abgrenzung von den Täufern in der „official Lutheran imagination“ 1 war demnach ein Mittel der positiven Selbstinszenierung und Stärkung bzw. Herstellung des Zusammenhalts in den eigenen Reihen. Die Täufer waren für die lutherischen Normgeber notwendige Antagonisten, die es nicht nur real zu bekämpfen galt, sondern von denen man sich auf der symbolischen Ebene distanzierte, um somit das positive Selbstbild zu stärken bzw. überhaupt erst zu schaffen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Täuferordnung von 1571 entworfenen Widerrufszeremonie für Täufervorsteher. Durch den Mund des büßenden Vorstehers sollte einer versammelten Gemeinde der Sieg der lutherischen Kirche über den ketzerischen Irrtum der Täufer öffentlich verkündet werden. Mit den Visitationen sollte ein kontinuierliches Besserungsprogramm zur Beseitigung moralisch-religiöser ‚Fehler und Mängel‘ etabliert werden. Legitimiert wurde dies mit der Pflicht des Landesherrn, für weltliches wie zeitliches Wohl in seinem Territorium zu sorgen. Zu diesem Zweck waren weltliche und kirchliche Amtsträger sowie die Untertanen in ihren jeweiligen Rollen einzuüben und in den Visitationen regelmäßig zu überprüfen. Die religiösen Dissidenten stellten ein zentrales Teilgebiet des allgemeinen Besserungsprogramms dar; unter diesen waren die ‚Täufer‘ die wichtigste zu bekämpfende Gruppe. In der Analyse der Visitationsvorgänge und der daran beteiligten Akteure ist klar geworden, dass die Visitationen weit mehr als eine ausschließlich kirchliche Angelegenheit waren. Gerade das Beispiel der Täufer, die als politische und religiöse Dissidenten bekämpft wurden, macht die enge Verzahnung weltlicher und kirchlicher Gewalt deutlich. Den gängigen Prinzipien der zeitgenössischen Rechts- und Verwaltungspraktiken entsprechend beruhte das Visitationsverfahren auf schriftlich festgelegten Regeln, dem Streben nach gerechter Behandlung und der Überprüfung der erhobenen Informationen. Die Informationserhebung geschah überwiegend durch die schriftlichen Berichte, in denen die relevanten Informationen der Kirchenverwaltung in adäquater Form verfügbar gemacht werden sollten. Diese wurden sowohl von den Gemeindepfarrern, den visitierenden Spezialsuperintendenten (Spezialen) sowie in einem weiteren Schritt der den Spezialen vorgesetzten Ge- 1 Driedger, Obedient Heretics, S. 3. <?page no="327"?> 328 neralsuperintendenten verfasst. Gleichzeitig sollten die Berichte möglichst keine Zweifel an der Amtsausübung der Kommissionsmitglieder aufkommen lassen, denen die verantwortungsvolle Aufgabe der Umsetzung des Besserungsprogramms anvertraut war. Das Schreiben an die Vorgesetzten geschah somit immer in einer hierarchischen Beziehung und die Schreiber waren bemüht, sich im möglichst guten Lichte erscheinen zu lassen. Hierzu gehörte im Wesentlichen die Vergewisserung, dass man sein Amt gewissenhaft und loyal verrichtete. Dies wiederum bedeutete unter anderem ein zielstrebiges Vorgehen gegen religiös dubioses Verhalten im eigenen Amtsgebiet. In Bezug auf die Dissidenten fungierten die Visitationsprotokolle als Wissensspeicher, die eine langfristige Beobachtung der Verdächtigten ermöglichte. Die Täufer waren mittels des regelmäßigen Visitierens und Berichterstattens genau im Auge zu behalten, um jederzeit eingreifen zu können, wenn die Bewegung an einem Ort außer Kontrolle zu geraten und eine Gefahr für die Anerkennung von Landesherrschaft und Landeskirche zu werden drohte. Der Ausgang einer Visitation war nicht von vorneherein festgelegt. Das Ziel der Kirchenleitung bestand in der Belehrung, ggf. Bestrafung und schließlich Wiedereingliederung der Abtrünnigen. Ein Ausschluss aus der Gesellschaft, vornehmlich durch den Landesverweis vollzogen, war nur in den Fällen vorgesehen, in denen es keine Hoffnung mehr auf eine Bekehrung gab. Die Visitatoren hatten die Anweisung, die spezifischen Umstände eines Falles zu berücksichtigen. Von entscheidender Bedeutung waren auch die stark von Johannes Brenz geprägten Grundsätze der württembergischen Täuferbekämpfung, die die Todesstrafe ablehnten und auf wiederholte Belehrung der Dissidenten setzten. Demnach durfte, wie in der Täuferordnung von 1571 ausgeführt wurde, den Normübertretern die Möglichkeit zur Bekehrung nicht durch aktive Maßnahmen wie die Todesstrafe genommen werden. Die Obrigkeiten waren zwar angehalten, sich ernsthaft um das Seelenheil der Untertanen zu kümmern, doch letztlich lag die Besserung der Sünder und die Entscheidung über ihre Errettung in Gottes Ermessen. Die Spielräume, die sich religiösen Nonkonformisten im späten 16. und 17. Jahrhundert eröffneten, waren somit insgesamt weniger die Folge einer ineffektiven Verwaltung oder nicht ausreichender Repressionsmitteln der Obrigkeiten. Die Erklärung liegt vielmehr in den grundlegenden Prinzipien der frühneuzeitlichen Verwaltungs- und Herrschaftspraktiken sowie der Visitations- und Täuferordnu