Tödliche Geschichte(n)
Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547–1815)
1116
2011
978-3-8649-6271-4
978-3-8676-4320-7
UVK Verlag
Alexander Kästner
Selbsttötungen provozieren. Sie stellen das menschliche Leben in Frage, erfordern eine Reaktion und bedürfen der Deutung. Warum hat sich ein Mensch das Leben genommen? Wie stehen wir als Gesellschaft dazu ... und was sagt Gott?
Noch heute zeigt die gängige Bezeichnung >Selbstmord< an, dass Selbsttötungen einst als Sünde und Verbrechen gesehen wurden. Am Beispiel Kursachsens wird gezeigt, wie Menschen in der Frühen Neuzeit Selbsttötungen deuteten und auf diese in ihrer Lebenswelt reagierten. Dabei wird gefragt, in welchem Verhältnis Praktiken und Normen zueinander standen und wie sich diese vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert veränderten.
Der Autor wurde mit vorliegender Studie im Jahr 2010 an der Technischen Universität Dresden promoviert.
<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 24 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt <?page no="2"?> Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547 - 1815) UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 804 der Technischen Universität Dresden und mit Mitteln der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-271-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2012 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Rudolf Zacharias Becker: Noth= und Hülfs=Büchlein oder lehrreiche Freuden= und Trauer=Geschichte der Einwohner zu Mildheim, Erster Teil. Neue verbesserte [teilkolorierte] Auflage, Gotha 1799, S. 346. [Im Besitz des Verfassers] Druck: Bookstation GmbH, Sipplingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Für meine Familie <?page no="6"?> Inhalt VII Inhalt Inhalt VII Dank XI Einleitung 1 Fragen und Perspektiven 1 ‚Definitionskrücken’ und Begriffe 5 Warum eine weitere Geschichte der Selbsttötung? 10 Selbsttötung als Thema historischer Forschung für die Epoche der Frühen Neuzeit, 10 — Selbsttötung als Gegenstand von Forschungen zu Kursachsen, 24 — Selbsttötung als Gegenstand dieser Arbeit. Von der Norm-Praxis-Dichotomie zu einer Geschichte der Implementierung von Normen in der Frühen Neuzeit, 28 ‚Ad fontes’ 35 Gedruckte Quellen, 35 — Ungedruckte Quellen, 36 Aufbau der Arbeit 39 Rahmen der Untersuchung 40 Raum und Zeit, 41 — Herrschaftsorganisation, 42 Teil A: Warum? Über das Problem einer historischen Rekonstruktion von Suizidmotiven 51 1. Überlegungen zur Quellenkritik 55 1.1. Struktur und Charakter der Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen, 55 — 1.2. Summarische Berichte an die zentralen Regierungsbehörden, 66 — 1.3. Attestate der Pfarrer, 74 — 1.4. Beispiele, 77 2. Retrospektive Diagnose, Biochemie, Suizid und Geschichte 90 Schlussfolgerungen (Teil A) 97 <?page no="7"?> Inhalt VIII Teil B: ‚Vita ante actam’. Normen und Praktiken im Umgang mit Selbsttötungen im 16. und 17. Jahrhundert 99 3. Der Teufel führt die Hand der ‚Selbstmörder’. Positionen theologischer Schriften 103 3.1. Wie Luther einen ‚Selbstmörder’ beerdigt hat, 103 — 3.2. Die Ansichten Luthers zum ‚Selbstmord’, 106 — 3.3. Vom Teufel und von angemessenen Urteilen, 119 — 3.4. Ein atheistisches ‚Mordkind’, 144 — 3.5. Schnittpunkte der Debatten, 158 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert 162 4.1. Tradition, Recht, Gesetz, 162 — 4.2. Von einer Einzelfallentscheidung zum Gesetz, 168 — 4.3. Autorität und Recht, 172 5. Ein melancholisches Zeitalter? Zur Häufigkeit von Selbsttötungen im 16. und 17. Jahrhundert 180 5.1. Befunde der Forschung, 180 — 5.2. Überlieferung und Quantifizierung von Suiziden in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert, 186 6. Begräbnispraxis und Verwahrung suizidgefährdeter Menschen 192 6.1. Begräbnisreskripte des Dresdner Oberkonsistoriums, 192 — 6.2. Lebensumstände, 198 — 6.3. Erinnerungsgeschichten, 205 — 6.4. Suizidgefährdete Menschen im 16. und 17. Jahrhundert, 211 Schlussfolgerungen (Teil B) 219 Teil C. Die Implementierung von Normen zum Suizid in Kursachsen im 18. Jahrhundert 225 7. Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 1702-1763 225 7.1. Ein Leipziger Disput über die Hoheit bei Suizidverfahren zu Beginn des 18. Jahrhunderts, 225 — 7.2. Auseinandersetzung und Kooperation in Suizidverfahren, 239 — 7.3. Schlussfolgerungen, 275 <?page no="8"?> Inhalt IX 8. Der zergliederte ‚Selbstmörder’. Anatomie und Gesellschaft in Kursachsen 279 8.1. Zur historischen Entwicklung der Anatomie im albertinischen Sachsen, 280 — 8.2. War die anatomische Sektion eine Strafe? , 297 — 8.3. ‚Selbstmörder’ als Anatomieleichen 1748-1779, 304 — 8.4. ‚Selbstmörder’ als Anatomieleichen 1779-1817, 317— 8.5. Sozialprofile, 343 — 8.6. Schlussfolgerungen, 366 9. Einstellungswandel durch Erlass? Policeyprogramme zur Rettung von ‚versuchten Selbstmördern’ (1773-1815) 372 9.1. Voraussetzungen und Rahmenbedingungen des Rettungsmandats von 1773, 376 — 9.2. Normgenese und Normgebung, 399 — 9.3. Normumsetzung - Lebensrettung im Alltag, 411 — 9.4. Schlussfolgerungen, 453 10. Prävention durch Abschreckung und Fürsorge. Das ‚Selbstmordmandat’ von 1779 457 10.1. Selbsttötung als Epidemie, 458 — 10.2. Normgenese und Normgebung, 481 — 10.3. Begräbnispraxis 1779-1815, 510 — 10.4. Der Umgang mit Überlebenden von Suizidversuchen und suizidgefährdeten Menschen, 525 — 10.5. Bilanz und Ausblick, 547 Fazit 555 Abstract 565 Anhänge 569 I. Tabellen 569 II. Texte 581 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen 598 <?page no="9"?> Inhalt X Quellen- und Literaturverzeichnis 603 Ungedruckte Quellen 603 Gedruckte Quellen 614 Literatur 621 Hilfsmittel/ Nachschlagewerke 662 Register 665 Länder- und Ortsregister 665 Personenregister 667 Sachregister 670 <?page no="10"?> Dank XI Dank Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2010 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen. Die Idee zu diesem Buch verdankt sich dem Zufall eines Studienprojekts im Wintersemester 2001/ 02. Viele Jahre liegen zwischen diesen beiden Daten und der Zufall allein hätte weder Konzeption noch Realisierung befördert. Dazu bedurfte es der Unterstützung und Ermunterung durch meine Familie und des fruchtbaren Austauschs und des kompetenten Rats vonseiten vieler KollegInnen. Meinem Doktorvater Gerd Schwerhoff gebührt nicht nur für Betreuung und Begutachtung der Arbeit an erster Stelle persönlicher Dank. Er hat meine Leidenschaft für die Geschichte der Frühen Neuzeit geweckt, an dieses Projekt geglaubt und es von Beginn an gefördert. Sein Lehrstuhl in Dresden bot sowohl den nötigen intellektuellen, finanziellen und sozialen Rahmen als auch hinreichend Freiräume für eigenständiges Arbeiten. Josef Matzerath hat diese Arbeit ebenso lang begleitet und das Zweitgutachten verfasst. Bei gutem Essen und Wein in Altklotzsche haben wir nicht nur Ideen für dieses Buch vertieft. David Lederer war ohne Zögern bereit, das auswärtige Gutachten zu übernehmen. Er wagte im Winter den Flug von Maynooth nach Dresden, um persönlich über die Arbeit zu disputieren. Susanne Schötz übernahm den Vorsitz der Promotionskommission. Sie sowie Winfried Müller und Hans Vorländer als weitere Mitglieder der Kommission waren trotz vollen Terminkalenders bereit, das Promotionsverfahren zu unterstützen. Viele KollegInnen haben mit persönlichem Interesse und Engagement das Dissertationsprojekt begleitet. Ohne die jederzeit fachkundigen und kritischen Anregungen von Ulrike Ludwig wäre es aber nicht verwirklicht worden. Sie gab mir die Möglichkeit, einen wunderbaren Menschen und Freund kennenzulernen, und war meine Überlebensgarantie in Zeiten exzessiven Kaffeekonsums. Susanne Rau hatte für meine Fragen stets ein offenes Ohr und erläuterte mir frühzeitig die Spielregeln der akademischen Lebenswelt. Jan Willi Huntebrinker und Christian Hochmuth haben mit ihrer faszinierenden Art, spielerisch leicht Fragen und Probleme zuzuspitzen, manch dunklen Fleck der Arbeit erhellt. Sie und Falk Bretschneider, Katja Lindenau und Thomas Lüttenberg haben in der Frühphase der Arbeit geholfen, die Weichen richtig zu stellen. Corinna von Bredow und Sarah Karlsson haben am Lehrstuhl wichtige Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur geleistet, ebenso Franziska Neumann, die das Manuskript ein letztes Mal durchgesehen hat. Im ‚Arbeitskreis Historische Kriminalitätsforschung’, in Dresden, Wien und anderen Orten waren weitere Menschen bereit, ihr Wissen und ihre Quellen mit mir zu teilen. Ich danke Lutz Bannert, Stefan Dornheim, Karl Härter, Susanne <?page no="11"?> Dank XII Hehenberger, Florian Kühnel, Kateřina Matasová, Frank Metasch, Eric Piltz, Markus Schürer, Swen Steinberg, André Thieme und Klaus Wolf. Die ArchivarInnen und BibliothekarInnen in Bautzen, Chemnitz, Dresden, Jena, Leipzig, Pirna und Rudolstadt begegneten meinen vielen Wünschen stets interessiert und offen für die Bedürfnisse eines Benutzers. Stellvertretend sei an dieser Stelle Katrin Beger, Silke Kosbab und Anja Moschke gedankt. Ellen Valdayeva und John Jordan möchte ich für die äußerst kurzfristig besorgte Übersetzung der Zusammenfassung dieses Buches danken. Uta Preimesser danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit mit dem Verlag und den Herausgebern von ‚Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven’ für die Aufnahme in die Reihe. Die Spielregeln wissenschaftlicher Arbeit und die Publikation ihrer Ergebnisse werden zunehmend nicht nur durch politische Einflüsse korrumpiert, sondern stehen auch unter dem Druck finanzieller Zwänge. Ohne großzügige Druckkostenzuschüsse der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 ‚Transzendenz und Gemeinsinn’ sowie der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden hätte dieses Buch nicht erscheinen können. Was aber wäre all diese wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung ohne meine Familie wert gewesen? Mein Großvater Uwe hat sich dieses Buch vielleicht noch ein klein bisschen mehr gewünscht als sein Autor. Ohne ihn und Ritter Runkel hätte ich mich nie für Geschichte interessiert. Meine Frau Juliane, meine Großeltern Renate und Uwe, meine Eltern Reinhild, Birgit und Andreas, sowie meine Geschwister Jenny und Sebastian haben mich immer in allen Lebenslagen und in meinem Wunsch unterstützt, Historiker zu werden. Der Tod von Hagen hat mich damit konfrontiert, dass wissenschaftliche Themen die Distanz zum Leben sehr schnell verlieren können. Meine Frau Juliane gibt mir mit ihrer Liebe und Geduld die nötige Ruhe und Kraft sowie die für das untersuchte Thema notwendige Freude am Leben. Julius Anton rückt täglich zehn Minuten vor dem Weckerklingeln die Prioritäten im Leben wieder zurecht. Meiner Familie ist dieses Buch gewidmet. Dresden, Blaues Haus, im Herbst 2011 Alexander Kästner <?page no="12"?> Einleitung 1 Einleitung Fragen und Perspektiven „Hat den 22. august 1763 Peter Lehmann ein häußler zu Klein Seydau, etwas über 50 jahre alt, sich in seiner eigenen scheune selbst erhencket, weil er in einen kummer gerathen, wie er sein auf dem felde sehr reichlich stehendes getreyde bey seines eheweibes und tochter kränklichen umständen herein bekommen werde“. 1 Peter Lehmann war der erste frühneuzeitliche ‚Selbstmörder’, dem ich begegnete. Der Bericht über seinen Suizid bot im Jahr 2002 Anlass, im Rahmen eines studentischen Publikationsprojekts zur (zweiten) Tausendjahrfeier meiner Heimatstadt Bautzen einen kleinen Aufsatz zur Rechts- und Kriminalitätsgeschichte zu schreiben. 2 Seit dieser Zeit begleitet mich das Thema Selbsttötung, begleiten mich Peter Lehmann und die Frage, wie man mit Menschen wie ihm umging. ‚Selbstmörder’ wie Peter Lehmann stellten mit ihrer eigenmächtigen Beendigung des eigenen Lebens im Verständnis der Frühen Neuzeit die göttlich inspirierte Ordnung ihrer Gesellschaft infrage. In Begriffen wie ‚Selbst-Mord’, ‚Selbst-Ermordung’ oder ‚erschröckliche Selbst-Entleibung’ drückten Menschen in der Frühen Neuzeit sowohl aus, dass sie ‚Selbstmorde’ verachteten und entsetzt waren, als auch den Umstand, dass sich der ‚Selbstmörder’ eines schrecklichen Verbrechens und einer Sünde schuldig gemacht hatte, die ihn gleichsam aus der gegebenen Ordnung herauskatapultierten. Aber Verachtung und Entsetzen stellten nur einen Ausschnitt der vergangenen Wirklichkeit dar. Viele Quellen belegen deutlich, dass die Ansichten darüber, wie man eine Selbsttötung im konkreten Fall beurteilen sollte, geteilt waren. Einige Zeitgenossen äußerten auch Mitgefühl oder Verständnis, und zwar nicht nur für die Situation der Hinterbliebenen, sondern auch für die ‚Selbstmörder’. Aus dieser Beobachtung resultierte die Frage, wie Bekannte und 1 S T A B AUTZEN , Rep. gen. III. lit. B. 17, o. Pag., Schreiben vom 4. November 1773; S TA F I A Bautzen, 50009, Nr. 6124, fol. 63 v f. Hinweis zur Zitation in dieser Arbeit: In Zitaten handschriftlicher Quellen werden ausschließlich Eigennamen von Personen, Orten und Institutionen groß geschrieben, ebenso Satzanfänge. Gedruckte Quellen werden weitgehend ohne Änderungen entsprechend der Vorlage zitiert. Virgeln sind, soweit dies dem heutigen Sprachgebrauch entspricht, in Kommata umgewandelt und sonst weggelassen. Zitate über vier oder mehr Zeilen sind im Text eingerückt. Quellenzitate werden kursiv wiedergegeben. 2 K ÄSTNER , Mitleid. <?page no="13"?> Einleitung 2 Verwandte mit der Selbsttötung eines ihnen nahe stehenden Menschen umgingen? Weitere Fragen folgten: Wie behandelte man Menschen, die einen Suizidversuch überlebten? Unterschieden sich die Ansichten von Bevölkerung und Obrigkeiten? Wandelten sich die Einstellungen gegenüber dem Phänomen Selbsttötung im Verlauf der Frühen Neuzeit? Wenn ja, wie könnte dieser Einstellungswandel präzise bestimmt werden? Schließlich Fragen zu jenen Menschen, die sich das Leben genommen hatten: Was hatte sie dazu bewegt, sich zu erhängen, sich zu ertränken, sich die Kehle zu zerschneiden oder sich zu erschießen? Wie häufig nahmen sich Menschen in der Frühen Neuzeit das Leben? Gab es ‚Selbstmord-Konjunkturen’? Aus welchen sozialen Formationen kamen diese Menschen? Diese Fragen führten mich recht bald an die Grenzen sowohl dessen, was an Sinnzuweisung an eine Selbsttötung subjektiv nachvollziehbar ist, als auch an die Grenzen dessen, was sich mithilfe überlieferter Quellen aus der Frühen Neuzeit beantworten lässt. Überhaupt scheint bei dem hier zu behandelnden Thema Zurückhaltung angebracht. Enigmatische Sentenzen der Problembeschreibung, wonach - um hier nur ein Beispiel zu zitieren - die Selbsttötung „die letzte Form [sei], worin der Mensch sich selbst erkennt“, 3 können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Thema in letzter Konsequenz einer vollständigen intellektuellen Durchdringung entzieht. Was könnte klarer die Grenzen der menschlichen Erklärungskraft verdeutlichen als ein Mensch, der sich ohne offensichtlichen Grund das Leben nimmt? 4 Was könnte deutlicher die Grenzen des menschlichen Einfühlungsvermögens aufzeigen als der Versuch, das subjektiv nicht Nachvollziehbare etwa anhand bedrückender Selbstzeugnisse endgültig verstehen zu wollen. Und was, wenn diese Selbstzeugnisse selbst nicht sprechen wollen, wenn das Unvorstellbare nicht so artikuliert wird, wie vom Forscher erhofft 5 oder gar überhaupt nicht zu artikulieren ist. Solch einen Fall illustriert der Abschiedsbrief, den der englische Kaufmann William Burden 1804 in Leipzig verfasst hatte, bevor er sich wenig später erschoss: „for innumerable reasons w[hi]ch I have never told, nor ever could communicate to any body and which have broke my heart deprived me of that pleasurd, & caused me to commit the dreadful act“. 6 3 B OBACH , Selbstmord, S. 76. 4 H EALY , Suicide, S. 904. 5 J ARRICK , Fråga, S. 35 ff. 6 S T A L EIPZIG , Richterstube, Nachlassakten Nr. 670, fol. 9 r . <?page no="14"?> Einleitung 3 Wissenschaft kann hier helfen, indem sie ihren Gegenstand analytisch seziert und anschließend die gewonnenen Präparate wieder zu einer historischen Rekonstruktion zusammensetzt. Die historiografischen Darstellungen und Erzählungen machen bestimmte Aspekte sichtbar, andere dagegen unsichtbar. 7 Die vorliegende Studie wird sich demnach auch daran messen lassen müssen, ob sie die gewonnenen Erkenntnisse zu relativieren vermag, indem sie auf jene Aspekte des Themas und auf Fragen verweist, die entweder nicht berücksichtigt werden konnten oder aus Gründen der Darstellbarkeit ausgeblendet wurden. Ich habe oben einige Fragen benannt, an denen sich die vorliegende Untersuchung in einzelnen Abschnitten orientiert hat. Sie alle hinreichend bzw. mit einem Anspruch auf Vollständigkeit beantworten zu wollen, hätte den Rahmen dieser Arbeit jedoch gesprengt und zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Daher wurde die folgende Fragestellung in den Vordergrund gerückt: Wie hat sich der Umgang mit Selbsttötungen im Verlauf der Frühen Neuzeit verändert? Diese Frage ordnet sich in eine etablierte Forschungslandschaft ein, die unten noch genauer zu referieren ist. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das dominierende Erzählmuster der historischen Suizidforschung nach wie vor eine Modernisierungs- und Humanisierungsgeschichte des Wandels im Umgang mit Selbsttötungen ist, in dessen Verlauf die frevelhafte Sünde und das vorsätzliche Verbrechen ‚Selbstmord’ zu einer nicht länger strafwürdigen Handlung infolge von medizinisch-pathologisch diagnostizierter Geisteskrankheit und Unzurechnungsfähigkeit wurde. ‚From Sin to Insanity’ titelt bezeichnend ein von Jeffrey R. Watt herausgegebener Sammelband. 8 Die entscheidenden Impulse des Wandels der Einstellungen gegenüber Selbsttötungen und der Behandlung von Suizidenten setzten, so ein weiterer Befund der Forschung, Aufklärer und die gravierenden politischen Umwälzungen am Ausgang der Frühen Neuzeit. 9 Vor dem Hintergrund zahlreicher Forschungen, die mehr oder weniger ausdrücklich in diese Richtung der Interpretation von Veränderungen im Umgang mit Selbsttötungen in der Frühen Neuzeit wiesen, erscheint die gewählte Fragestellung auf den ersten Blick wenig innovativ. Allerdings kann keineswegs für 7 Bereits die Metapher der anatomischen Sektion verweist auf diesen Vorgang, denn wie Valentin Groebner bemerkt hat, beruhte „der visuelle Triumph der Anatomie als wissenschaftlicher Disziplin […] ja darauf, in ihren Darstellungen […] das Blut, den Schleim und die Säfte, zum Verschwinden zu bringen.“; G ROEBNER , Schein, S. 69. 8 W ATT (Hg.), Sin. Dieser Sammelband präsentiert die neuere, angelsächsisch dominierte Forschung und zum Teil vernachlässigte Aspekte der historischen Suizidforschung zur Frühen Neuzeit - etwa einen systematischen Beitrag zu Spanien. Vgl. C AWTHON , [Rez.] Watt (Hg.), Sin; L IND , Suicide. 9 S NYDER , Historians, S. 660. <?page no="15"?> Einleitung 4 alle europäischen Länder eine Säkularisierung und Entkriminalisierung des Suizids im 18. Jahrhundert oder 19. Jahrhundert beobachtet werden. In Irland wurden Selbsttötungen bspw. erst im Jahr 1993 per Gesetz entkriminalisiert, was aber nicht bedeutet, dass die Handlung damit in irgendeiner Form ‚normalisiert’ wurde. 10 Auch für Sachsen stellen sich die bereits bekannten Fakten anders dar. Hier galt noch im 19. Jahrhundert ein Gesetz, welches vorsätzliche ‚Selbstmorde’ eindeutig kriminalisierte. Diese wurden entweder mit unehrlichen Begräbnissen oder alternativ der Ablieferung der toten Körper an die Anatomie bedroht. Letzteres hielt sich als Praxis bis mindestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts und auch die Begräbnisse von Suizidenten blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein umstritten. Deshalb stelle ich die Frage nach den Veränderungen im Umgang mit ‚Selbstmorden’ und ‚Selbstmördern’ für Kursachsen erneut, werfe sie aber zunächst auf die Frage zurück, welche Quellen überhaupt dazu geeignet sind, die erwarteten Veränderungen beobachten und untersuchen zu können. Die jüngsten deutschsprachigen Publikationen haben für das 18. Jahrhundert den Schwerpunkt der Untersuchung auf gedruckte Quellen und dabei wiederum vorrangig auf die Publizistik des 18. Jahrhunderts gelegt. 11 Die Befunde dieser Studien legen nahe, dass sich der Diskussionsbeiträge über Selbsttötungen im ausgehenden 18. Jahrhundert erheblich aufspreizten, diversifizierten. Die Veränderungen der Bewertung von Selbsttötungen sind als ambivalent zu bezeichnen. Obwohl in vielen Texten die Deutung in den Vordergrund gerückt wurde, Selbsttötungen seien Resultat einer krankhaften Veränderung von Körper und Gemüt, bestanden moralische Verdikte und gegenläufige Ansichten fort. In den Forschungen zur Geschichte der Selbsttötung im Alten Reich ist bislang ein Aspekt wenig beachtet worden, der hier in den Fokus der Analyse gerückt wird. Veränderte Bewertungen von und veränderte Reaktionen auf Selbsttötungen, so der Ansatz dieser Arbeit, lassen sich in Prozessen der Entstehung und Revision von Normen studieren. Weil Normen einen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben bzw. bestimmten Texten ein solcher Geltungsanspruch zugeschrieben wird, bilden sie aber nicht einfach einen gesellschaftlichen Konsens oder gar die Alltagsrealität ab. Sie sind vielmehr permanent Objekte von nie spannungsfreien Versuchen der Umsetzung und Nutzung, von Aushandlungen, Deutungen und kreativen Aneignungen. Deshalb verdichtet 10 N EVILLE , Suicide. 11 B ÄHR , Richter; N EUMEYER , Anomalien; S CHREINER , Glück. Auch schon L IND , Selbstmord, Teil A.II.-III., die aber gleichwohl auch archivalische Quellen in die Analyse einbezogen hat. <?page no="16"?> Einleitung 5 sich im Prozess ihrer Entstehung und auf der Ebene ihrer Umsetzung im Alltag Kommunikation und produziert Quellen. Diese Untersuchung nimmt daher gezielt Prozesse der ‚Implementation von Normen’ (Achim Landwehr) in den Blick. Damit setzt die Analyse an den, zumindest in der historischen Suizidforschung, bislang nur randständig beachteten Verbindungslinien zwischen der faktischen Evidenz veränderter Normen auf der einen und den auf unterschiedlichen Ebenen sichtbaren zeitgenössischen Diskussionen auf der anderen Seite an - vom Gerede im Dorf über gerichtliche Befragungen zu den Höhenflügen und Abstürzen der aufklärerischen Publizistik. Ich schaue also auf jene Bereiche, deren Analyse erhellt, auf welchen Wegen sich Normen und andere publizierte Stellungnahmen sowie die Alltagspraxis wechselseitig beeinflusst haben. ‚Definitionskrücken’ und Begriffe Um die Frage beantworten zu können, wie sich die Bewertung von Selbsttötungen und der alltägliche Umgang mit diesen in der Frühen Neuzeit verändert haben, muss zunächst geklärt werden, welche Phänomene in dieser Arbeit eigentlich als Selbsttötungen verhandelt werden. Eine Gegenstandsbeschreibung kann eine Definition zur Folge haben oder aber ihr kann eine solche Definition zugrunde gelegt werden. Die Entscheidung für oder gegen eine dieser Möglichkeiten hat einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit. Eine Definition etwa, die sich an Kriterien der eigenen Gegenwart orientiert, kann einerseits zu einer anachronistischen Einengung und Verzerrung der Perspektive führen. Andererseits kann sie die analytische Durchdringung des Themas durch klare Eingrenzung erleichtern. Eine Definition wiederum, die allein historischzeitgenössischen Kriterien verpflichtet ist, läuft Gefahr trotz historisch präziser Erfassung ihres Gegenstands an analytischer Schärfe zu verlieren. Eine solche Definition könnte zudem das Verständnis erschweren, weil sich dem heutigen Leser die historischen Definitionskriterien nicht unmittelbar erschließen. Bei Selbsttötungen und ihrer Deutung handelt es sich nicht einfach um anthropologische Konstanten oder natürliche Phänomene, sondern um soziale und damit auch historische und zu historisierende Phänomene der Zuschreibung und Registrierung. 12 Bevor überhaupt ein Definitionsansatz in Erwägung gezogen werden kann, ist das grundsätzliche Problem wertender Begrifflichkeiten 13 (‚Selbstmord’, 12 In gegenwartsorientierter (wissens-)soziologischer Perspektive ähnlich A TKINSON , Reactions; T IMMERMANNS , Suicide. 13 Hierzu mit Blick auf die Wandlungen lexikalischer Diskurse B ACHHUBER , Täter. <?page no="17"?> Einleitung 6 ‚Freitod’, ‚Selbsttötung’, ‚Suizid’) des Untersuchungsgegenstandes zu diskutieren. Vor diesem besonders in der deutschen Sprache virulenten Problem steht nicht nur die historische Suizidforschung. Florian Günzel hat sich in einer Studie zu strafrechtlichen Aspekten der Selbsttötung gegen eine Verwendung der beiden jeweils stark wertenden Begriffe ‚Selbstmord’ und ‚Freitod’ ausgesprochen, weil diese, so Günzels Argument, den Untersuchungsgegenstand in unangemessener Weise in dem einen Fall als Mordtat verunglimpfen und in dem anderen Fall als heroischen Freiheitsakt stilisieren würden. 14 Günzel spricht sich dafür aus, die Begriffe Selbsttötung und Suizid gleichermaßen zu verwenden, da diese wertneutral seien. Ähnlich hat auch der Philosoph Héctor Wittwer argumentiert, der zudem den Begriff der ‚Selbstvernichtung’ in die Diskussion eingeführt hat. Dieser verweise, so Wittwer, wie der Begriff Selbsttötung sowohl auf freie als auch auf zwanghafte Handlungen. 15 Dagegen haben Andreas Bähr und Heiko Buhr argumentiert, die Bezeichnung Suizid sei keineswegs sprachlich neutral, denn sie verweise im Kontext westlicher Kulturen auf das medizinisch-psychologische Paradigma der ‚Krankhaftigkeit’. 16 Diese hegemoniale Konnotation kann ich allerdings nicht erkennen, 17 sehe vielmehr mit Günzel und anderen Autoren die sprachliche Neutralität gewahrt. Vorrangig ist in dieser Studie von Selbsttötung die Rede, denn über die sprachliche Angemessenheit dieser Bezeichnung scheint am wenigsten ein Dissens bzw. am ehesten ein Konsens zu bestehen. Das Kompositum ‚Selbstmord’ wiederum (in den Quellen häufiger auch ‚Selbst-Mord’ und ‚Selbstentleibung’) 18 scheint ein Novum der Frühen Neuzeit 14 G ÜNZEL , Recht, S. 15 ff. 15 W ITTWER , Selbsttötung, S. 28. 16 B ÄHR , Einführung, S. 2; B UHR , Studien, S. 13. 17 Dies scheint mir in einigen Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaft eher eine bewusst gesetzte Pointe zu sein, die darum bemüht ist, die eigene Diskussion von denen der Mediziner und anderer Gruppen abzugrenzen, die am psychiatrischen Paradigma festhalten bzw. denen man dies unterstellt. Allerdings ist mit meiner Festlegung nicht geklärt, ob der Suizidbegriff etymologisch wirklich eine neutrale Herleitung aus lat. ‚sui caedere’ ist, denn die sprachliche Nähe zu neulateinisch ‚suicidium’ (Augustinus), das als eine Vorlage für die Lehnübersetzung ‚Selbstmord’ gilt, ist nicht zu verleugnen. Vor dem Hintergrund der mittlerweile in der Summe recht beliebig erscheinenden Verwendungsweisen einiger Begriffe bzw. konträrer Vorstellungen ein und desselben Begriffs (v. a. Suizid) scheint eine umfassende systematische, etymologische Aufarbeitung dringend geboten, die ich derzeit weder erkennen noch hier leisten kann. 18 Der Begriff ‚Selbstentleibung’ stammt nicht von Kant, wie G ÜNZEL , Recht, S. 15 Anm. 30 impliziert, sondern war, wie Gerichtsakten belegen, längst im allgemeinen Sprachgebrauch verortet. In der Publizistik wurde er bereits 1541 von Egidius Mecheler geprägt; B AUMANN , Selbstmord, S. 4. <?page no="18"?> Einleitung 7 zu sein. 19 Vera Lind hat in ihrer grundlegenden Studie zur Geschichte der Selbsttötung in der Frühen Neuzeit durchgängig die Bezeichnung ‚Selbstmord’ verwendet, um die frühneuzeitliche Perspektive und Wertung, also die ablehnende Haltung und Verdammung, zu verdeutlichen. Ich schließe mich diesem Vorgehen zum Teil und im Bewusstsein der daran vorgetragenen Kritik an. 20 In der vorliegenden Studie wird die Bezeichnung ‚Selbstmord’ immer dann verwendet, wenn das frühneuzeitliche Verdikt betont wird. In einem solchen Fall werden der Begriff und alle Ableitungen aus diesem durch halbe Anführungszeichen hervorgehoben. Ich halte dieses Vorgehen für berechtigt, weil sich so im Text eigene und die Wertungen der Quellen auch in der indirekten Wiedergabe unterscheiden lassen. Nachdem die Verwendung der Begrifflichkeiten geklärt ist, stellt sich die Frage, wie die Handlung Selbsttötung zu definieren ist. Ursula Baumann hat sich in ihrer Studie der ‚Selbstmord’ (! )-Definition der Soziologin Christa Lindner-Braun angeschlossen. 21 Sie definierte wie folgt: „Eine subjektiv intendierte Selbstmord (Selbstmordversuchs-)handlung […] liegt dann vor, wenn die handelnde Person zum Zeitpunkt der Ausführung einer aktiven oder passiven Handlung die tödliche (nichttödliche) Selbstverletzung als Folge dieser Handlung in einem absehbaren 19 Hierzu wird demnächst Andreas Bähr einen Beitrag in einem von Maria Teresa Brancaccio und David Lederer herausgegebenen Bandes vorlegen, der die Veränderungen der sprachlichen Bezeichnungen im Kontext obrigkeitlicher Kriminalisierungsbemühungen diskutiert. Noch existiert keine aktuelle begriffshistorische Untersuchung. L ENZEN , Selbsttötung, S. 12 f. meint, dass das Kompositum ‚Selbstmord’ zuerst von Johann Conrad Dannhauer in seiner 1643 erschienenen Katechismusmilch gebraucht wurde. Sie schließt sich hier B AUMANN , Selbstmord, S. 7 gegen DW B 10-1, Sp. 485 an, wo Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspiele (Bd. 8) von 1649 als frühester Beleg angeführt werden. Diese sprachhistorische Rekonstruktion geht zurück auf Albert Sombert in den ‚Bemerkungen und Ergänzungen zu Weigands Wörterbuch’ 1882; vgl. B AUMANN , Selbstmord, S. 7, wo diese Rekonstruktion mit dem Hinweis abgelehnt wird, das Kompositum ‚Selbstmord’ sei ein nachweislich von Theologen geprägter Ausdruck. Karl Baumanns Studie ist bis heute die einzige, umfangreichere sprachhistorische Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Selbstmord’, erschöpft sich aber weitgehend in der bloßen Auszählung von Wortverbindungen in gedruckten Quellen und blendet neben ungedruckten Quellen auch die historische Semantik aus. 20 Vgl. ihre Diskussion in L IND , Selbstmord, S. 9 ff. und ihr Fazit S. 19. Diesen Ansatz hat Ursula Baumann als historistisch verworfen, weil er „konsequent praktiziert absurde Folgen für die Geschichtswissenschaft hätte“. Es müsse davon ausgegangen werden, dass jeder Autor auch die moralischen Prämissen der von ihm verwendeten Begriffe teile; B AUMANN , Recht, S. 4 Anm. 8. Allerdings hatte Vera Lind genau diesen Zusammenhang explizit verneint. 21 B AUMANN , Recht, S. 3. Vgl. zur Entwicklung der nachfolgenden Definition Lindner-Brauns aus einem handlungstheoretischen Ansatz heraus L INDNER -B RAUN , Soziologie, S. 28 ff. <?page no="19"?> Einleitung 8 Zeitraum unmittelbar nach Beginn der Handlungsausführung für wahrscheinlich hält.“ 22 Das ist eine schöne Definition (und das ist hier gar nicht ironisch gemeint), die Selbsttötungen und versuchte Selbsttötungen von anderen selbstschädigenden Handlungen typologisch abzugrenzen vermag. Diese Definition kann aber aus mehreren Gründen für eine historische Untersuchung nicht mehr als eine Mogelpackung sein. Zum einen war der frühneuzeitliche ‚Selbst-Mord’- Begriff wesentlich weiter gefasst und konnte verschiedene Formen selbstschädigenden Verhaltens einschließen. Der ‚Zedler’ bezeichnete dies in Anlehnung an Walchs ‚Philosophisches Lexikon’ als ‚subtilen Selbst-Mord’. 23 Zum anderen unterstellt die Definition Lindner-Brauns, dass man auch zweifelsfrei feststellen könne, ob frühneuzeitliche Menschen, die sich töten wollten bzw. töteten, den Eintritt ihres Todes ‚unmittelbar nach Beginn der Handlungsausführung’ wirklich für wahrscheinlich hielten. Dieses Definiens wäre aber schon wegen der Quellenlage zwangsläufig unsere Zuschreibung, und das bedeutet eine Zuschreibung zweiter Ordnung, die selbst auf Zuschreibungen frühneuzeitlicher Beobachter beruht. 24 Das gilt im Übrigen auch für die durch spezifische Relevanzkriterien vorstrukturierte und die Blicke der Forscher wiederum beeinflussende Utopie einer statistischen Erfassung der Welt. Mit anderen Worten können wir die jeweiligen Einzelfälle (selbst wenn Selbstzeugnisse vorhanden sind) 25 nur mehr oder weniger plausibel interpretieren. Sie erscheinen in unseren Darstellungen immer als Interpretation, selbst wenn es sich um unkommentierte Quellen-Zitate handelt. Jeder einzelne aufgenommene (historische) Fall müsste auf das Kriterium des ‚subjektiven Für-Wahrscheinlich-Haltens des eigenen Todes unmittelbar nach Beginn der Handlungsausführung’ hin befragt werden, 22 L INDNER -B RAUN , Soziologie, S. 31, kursiv i. O. 23 Z EDLER Bd. 36, Sp. 1595ff (Art. ‚Selbst=Mord’), hier Sp. 1600 ff. Siehe auch schon W ALCH , Lexikon, Sp. 2351 ff. (Art. ‚Selbst=Mord’). Unter Verweis auf medizinische Traktate S IENA , Suicide, S. 56. 24 Auch W ITTWER , Selbsttötung, S. 31, verweist darauf, dass diese zugeschriebenen Intentionen niemals empirische Erklärungen der Suizidhandlung sein können. Siehe zur Definitionsproblematik auch B EAUCHAMP , Suicide, S. 183 ff. und A NDREE , Texte, bes. S. 111 f. Andree hat eine medienarchäologische Untersuchung des sog. ‚Wertherfiebers’ vorgelegt und das Rezipientenbewusstsein historischer Akteure als ‚Blackbox’ bezeichnet. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht weist er auf das offensichtliche Dilemma der Psychologie, nicht in diese Blackbox schauen zu können, aber die eigenen empirischen Ergebnisse als Bewusstseinsprozesse fehl zu deuten. 25 Zur Problematik der Interpretation von Abschiedsbriefen jetzt G RASHOFF (Hg.), Briefe, S. 5 ff. Grundsätzliche Kritik an Analysen, die auf Intentionen und Motive fokussiert sind, und mit einem Plädoyer für eine Analyse der historischen Semantik von Texten in B ÄHR , Richter. <?page no="20"?> Einleitung 9 um die Zugehörigkeit zu der ihn vereinnahmenden Kategorie des ‚Selbstmords’ zu belegen. Wie viele Fälle in den bisherigen Studien aber würden dann - diesmal vor allem aufgrund der Quellenlage - noch übrig bleiben, wenn man gezwungen wäre, dieses Definiens als Ausschlusskriterium zu verwenden und die Einordnung eines jeden Falls für den Leser plausibel zu machen? In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem von Anton Kunzmann gebrauchten Definiens der ‚Absicht’, das eigene Leben auf eine ‚unnatürliche Art’ zu beenden. 26 Auch hier bleibt nach Lage der vorhandenen Quellen in der Regel ‚Absicht’ eine in Bezug auf die ‚subjektiven Tatbestandsmerkmale’ deutende Zuschreibung. Darüber hinaus scheint es mittlerweile erwiesen, dass eine Absicht zu sterben bei Suizidalen im Regelfall nur sehr unklar ausgeprägt ist. 27 Die Definition Kunzmanns ist daher für die vorliegende Untersuchung ebenso abzulehnen wie die von Lindner-Braun. Interessanterweise ähneln aber diese modernen Definitionsversuche ungewollt und unreflektiert den frühneuzeitlichen Bezeichnungen eines ‚Selbstmords’ als Verbrechen. Der in den Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen durch verschiedene Indizien konstruierte Tatvorsatz markierte nämlich die Differenz zwischen einem ‚Selbstmord’ als schwerem Verbrechen (‚casus criminalis’/ ‚felo de se’) 28 und einem Suizid, der aufgrund bestimmter Indizien eher als Unglücksfall (‚casus tragicus’/ ‚non compos mentis’) gesehen wurde, auch wenn dies die Handlung selbst nicht vollständig entschuldigte. 29 Mir geht es in dieser Arbeit 26 K UNZMANN , Selbstmord, S. 2 f.; Def. i. O. gesperrt. 27 W ITTWER , Selbsttötung, S. 37 mit Literatur. 28 Das damit eng verbundene Problem der Willensfreiheit hat Verena Lenzen als „verborgene Achse der verschiedenen Argumentationen“ für und gegen den ‚Selbstmord’ in der christlichen Tradition bezeichnet; L ENZEN , Selbsttötung, S. 207. 29 Mit Blick auf den für einen ‚Selbstmord’ entscheidenden Aspekt des ‚Willens’ (der im Begriff der Absicht enthalten ist und auch in Lindner-Brauns Definition, weil der von ihr entsprechend definierte ‚Selbstmörder’ ja das Ergebnis seiner Handlung für wahrscheinlich hält, also erkennt, und dennoch oder gerade deswegen einen ‚Selbstmord’ begeht) hat bereits der spanische Kanonist Diego Covarruvias y Leyva (1512-1577) geschrieben, „vt voluntarium constituat delictum: involuntarium autem ab eo excuset“. Covarruvias kam es darauf an, dass die Suizidären durch ihre Handlungen eine Absicht verdeutlichten, den Tod unmittelbar herbeizuführen: „ac immediate mors sequitur, non per accidens“. Dies wiederum erinnert, ohne dass Covarruvias hier einen längeren Vorlauf theoretischer Erörterungen bedurft hätte, stark an die Definition Lindner-Brauns, die sich so gesehen doch nicht als ungeeignet für eine historische Untersuchung erweisen könnte, weil sie eigentlich einen frühneuzeitlichen Standpunkt einnimmt. Beide Zitate in C OVARRUVIAS , Opera, S. 532. Zur Person M OTZENBÄCKER , Covarruvias. Eine rechtshistorisch perspektivierte Erörterung des ‚Selbstmord’- <?page no="21"?> Einleitung 10 genau um diese und andere zeitgenössische Differenzier-ungen, weil mein Fokus auf dem gesellschaftlichen Umgang mit Selbsttötungen und damit auf den Deutungen und Reaktionen der Bevölkerung sowie der Obrigkeiten liegt. Wesentlich entscheidender als eine eingängige Definition ist daher meines Erachtens die Frage, was Bevölkerung und Obrigkeiten als Selbsttötungen bzw. als strafwürdigen ‚Selbstmord’ bezeichnet haben und welche Relevanzkriterien dafür ausschlaggebend waren. Damit folge ich zwar keiner übersichtlichen Definition, weil diese Deutungen im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Interessen und komplexer Aushandlungsprozesse liegen konnten - nicht immer herrschte Einigkeit über die Deutung eines tödlichen Vorfalls. Die Herangehensweise, eine formale Definition zu vermeiden, scheint mir aber deswegen angemessener und dem Leser gegenüber aufrichtiger zu sein, weil sie die Fiktion vermeidet, die für diese Studie erfassten Selbsttötungen würden allesamt einer gemeinsamen Handlungsdefinition entsprechen. Warum eine weitere Geschichte der Selbsttötung? Selbsttötung als Thema historischer Forschung für die Epoche der Frühen Neuzeit Im 19. und frühen 20. Jahrhundert haben Juristen und Theologen Studien vorgelegt, die bis heute grundlegend sind. Sie haben den Fokus der Forschung erheblich beeinflusst. Diese konzentrierte sich in rechts- und kirchenhistorischer Perspektive auf die Ablehnung und Sanktionierung von Selbsttötungen, die noch für die kirchliche Amtspraxis bei Begräbnissen im 19. und 20. Jahrhundert relevant waren. 30 An den Begräbnispraktiken waren ebenso ältere kultur- Begriffs nach den Erwägungen der frühneuzeitlichen Jurisprudenz jetzt bei P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 11 ff. Im Übrigen würde dem die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und versehentlichem Suizid bei Héctor Wittwer entsprechen; W ITTWER , Selbsttötung, S. 31. Wittwer (ebd., S. 33) weist darauf hin, dass es sich bei Selbsttötungen um einen Akt handelt, bei dem die Intention zu sterben im Vordergrund steht und nicht die Intention sich zu töten. Daher müsste man eigentlich von Selbststerben sprechen. Wittwer verkennt allerdings, dass die beschreibenden Begriffe stets von außen an das Phänomen herangetragene Zuschreibungen sind, die auf dem jeweils äußerlich Erkennbaren beruhen - hier dem Akt des sich Tötens. 30 Um hier nur einige Beispiele vom Beginn des 20. Jahrhunderts zu nennen (dort auch entsprechende Verweise auf die ältere Literatur): nach wie vor unentbehrlich J ANSEN , Entwicklung; G EIGER , Kirchenrecht; G EIGER , Selbstmord; G EIGER , Schlussbemerkungen und T HÜMMEL , Versagung. Bis heute als grundlegend zitiert, inhaltlich jedoch wenig befriedigend B ERNSTEIN , <?page no="22"?> Einleitung 11 geschichtliche Arbeiten interessiert. 31 Daneben war es eine im 19. Jahrhundert kultivierte moralstatistische und gleichsam soziologische Perspektive, die die Häufigkeit von Selbsttötungen in Relation zu gesellschaftlichen Phänomenen setzte und dabei die Frage nach gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen von Selbsttötungen aufwarf. Die Perspektiven dieser Arbeiten beeinflussen bis heute die Diskussionen historischer Studien über quantitative Befunde zum Suizidgeschehen, die aufgrund der Quellenlage aber vor allem für das 19. Jahrhundert geführt werden. 32 Dies zeigte sich zuletzt in den Beiträgen einer von Maria Teresa Brancaccio, Susan Morrissey und David Lederer veranstalteten Tagung mit dem leitenden Thema ‚The Making of Modern Suicide’ (Maynooth, Dezember 2010). Innerhalb der Historikerzunft überwog lange Zeit deutlich Skepsis gegenüber der Beschäftigung mit der Thematik Selbsttötung. Mit einer gewissen Residualskepsis wird man in Gesprächen durchaus immer noch konfrontiert, wenngleich das Thema seit den 1980-er Jahren auch international Teil historischer Forschung ist. Die mittlerweile kritische Haltung vieler Historiker gegenüber dem Aussagewert quantitativen Datenmaterials und die um sich greifende Akzeptanz alltags- und kulturhistorischer Ansätze führten zu fruchtbaren und differenzierten Forschungen über den Wandel der historischen Einstellungen Bestrafung. Zu den kirchenrechtlichen und kirchendogmatischen Problemen auch N ÖLDEKE , Beerdigung; zu Sachsen H ITZSCHOLD , Bestrafung. 31 D IETZ , Selbstmörderbestattung; G EIGER , Behandlung; siehe auch S ZYTTIA , Selbstmörder, der sich überdies typologisierend mit Beweggründen für Selbsttötungen auseinandersetzte. 32 S NYDER , Historians, S. 660. Der Klassiker schlechthin ist unbestritten D URKHEIM , Selbstmord. Die Auseinandersetzung mit Durkheim sowie eine Übersicht über die Forschung ist an anderer Stelle kompetenter geschehen, als es im Rahmen dieser Arbeit möglich ist; vgl. B AUMANN , Recht, S. 227 ff. und B AUMANN , Selbsttötung. Zur fortdauernden Bedeutung Durkheims in der Soziologie und zur Operationalisierung seines Arbeitsprogramms siehe K NUDSEN , Selbstmord-Hypothese; darüber hinaus die fundierte Kritik an den kurzschlüssigen Umsetzungen von Durkheims Anomiethese bei M EHLKOP / G RAEFF , Mord. Beide Autoren fordern die stärkere Berücksichtigung von Langzeituntersuchungen und Zeitreihenmodellen, um die genauen Auswirkungen von anomischen Bedingungen erfassen zu können. Dabei wird ein empirisches Abbildungsdefizit von Anomie bescheinigt, das aus Sicht der Autoren dadurch behoben werden könnte, nicht ein bestimmtes Phänomen an sich (sozialer Wandel; Arbeitslosigkeit usw.) als Auslöser für Anomie zu begreifen, sondern die jeweilige Spezifik und Außergewöhnlichkeit dieses Phänomens (extrem beschleunigter Wandel; gravierende Verschlechterungen auf dem Arbeitsmarkt usw.). <?page no="23"?> Einleitung 12 gegenüber Selbsttötungen, die in breiteren historischen Kontexten verortet wurden. 33 Überblicksartikel und Sammelbesprechungen neuerer Forschungen scheinen ein geeigneter Indikator dafür zu sein, um festzustellen, wie etabliert ein Forschungsthema ist. Sie zeigen nicht nur quantitativ einen Zuwachs an Literatur an. Sie vermessen vielmehr auch das Feld der Forschung und spitzen die Untersuchungsbefunde und -perspektiven auf Fragestellungen für zukünftige Untersuchungen zu. Wenn solche Beiträge Indikatoren im genannten Sinne sind, lässt sich feststellen, dass die historische Suizidforschung im Jahr 2006 endgültig etabliert war. Róisín Healy und David Lederer bilanzierten unabhängig voneinander die neuere (und z. T. auch ältere) Forschungsliteratur. Beide Autoren wie auch die Zeitschriften, in denen ihre Beiträge veröffentlicht wurden, verdeutlichen die fortbestehende Hegemonie und den Deutungsanspruch der angelsächsischen Forschung im internationalen Kontext. 34 Gleiches gilt für die ebenfalls 2006 veranstaltete ‚International Conference on the History of Suicide’ an der McMaster University in Hamilton (Kanada), deren Tagungsband 2009 unter dem Titel ‚Histories of Suicide’ erschienen ist. Er enthält unter anderem drei Beiträge zur Geschichte der Selbsttötung im 18. Jahrhundert in Schottland (Robert Houston), Paris (Jeffrey Merrick) und London (Kevin Siena). 35 Ferner ist auf einen 2007 publizierten Beitrag von Terri Snyder zu verweisen, die die bisherigen Forschungen zur Selbsttötung im frühneuzeitlichen Europa für den US-amerikanischen Forschungskontext aufbereitet hat, inhalt- 33 Hierzu ausführlich H EALY , Suicide. Als völlig ungeeigneten Einstieg in das Thema erweist sich M ISCHLER , Freiheit. Mischlers Studie ist angefüllt mit Vereinfachungen und verzerrten Kontrastierungen, die für eine historische Studie problematisch wären. Vor deren Hintergrund wird ein Plädoyer für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod entfaltet. 34 H EALY , Suicide; L EDERER , Suicide. 35 W EAVER / W RIGHT (Hg.), Histories. Weder in der Einleitung noch in den einzelnen Beiträgen finden sich Verweise auf die neuere deutsche Suizidforschung zur Frühen Neuzeit. Einzige Ausnahme bildet der Beitrag von Kevin Siena, der auf L IND , Mind, hinweist. In diesem Sammelband sind die relevanten Frühneuzeitstudien H OUSTON , Medicalization, der unter anderem zeigt, dass die Durchsetzung professionalisierter medizinischer Sichtweisen auf Selbsttötung ein Phänomen des 19. Jahrhunderts ist; M ERRICK , Death, mit einer sozialhistorischen Untersuchung unter anderem zu geschlechtsspezifischen Motivzuschreibungen und zu Erläuterungen über die Auswirkungen der Debatten über das Überhandnehmen von Selbsttötungen im späten 18. Jahrhundert; S IENA , Suicide, der Krankheit aus der Sicht von Texten betrachtet, die über die Motivation zur Selbsttötung aus Krankheitsgründen berichten und die nicht eine Selbsttötung zum Ausgangspunkt einer medikalisierenden Perspektive nach dem Fakt einer Selbsttötung haben. Der ursprünglich auf der Tagung gehaltene Vortrag von Dominique Godineau (‚Troubles psychologiques et suicide an France au 18 e siècle’) ist im Tagungsband nicht vertreten. <?page no="24"?> Einleitung 13 lich jedoch hinter die konziseren Texte von Healy und Lederer zurückfällt. In den USA widmet man sich seit einigen Jahren der Erforschung von Selbsttötungen in den früheren nordamerikanischen Kolonien. Dabei wurden unter anderen Suizide von Sklaven, und die Auswirkungen der Umbrüche nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg untersucht. 36 Weitere Überblicke über die nationale wie internationale Forschung sowie grundlegende bibliografische Hilfsmittel liegen zahlreich vor. 37 Auf Studien, die für einzelne Abschnitte dieser Arbeit jeweils relevant sind, verweise ich jeweils in deren Anmerkungsapparat. An dieser Stelle beschränke ich mich auf die über einzelne Aspekte hinausgehenden, meist monografischen Studien zur Frühen Neuzeit, 38 die nach 1945 erschienen sind, um den Stand der Forschung darzu- 36 S NYDER , Historians. Jetzt auch S NYDER , Suicide. Zur exemplarischen Interpretation des Suizids eines Sklaven siehe auch schon I SAAC , Geschichte. Die Dissertation von Richard J. Bell (‚We Shall be no more’) war mir nicht zugänglich. Ausweislich Bells Homepage (URL: http: / / www.history.umd.edu/ BIO/ bell.html; abgerufen am 11. Juli 2011) war diese Studie auch zum Zeitpunkt der Überarbeitung meines Manuskripts noch nicht publiziert. Siehe aber bspw. den interessanten Beitrag B ELL , Guilt, der die Verknüpfung von Anti-Duell- und Suizid-Diskurs in den USA um 1800 untersucht. Überdies hat Richard Bell in seiner Dissertation auch die Etablierung von Lebensrettungsprogrammen in den USA und den Einfluss auf den Umgang mit Suizidenten untersucht (Hinweis bei M ONIZ , Saving, S. 610 Anm.4). 37 Neben den erwähnten Überblicksartikeln von Healy, Lederer und Snyder siehe B ÄHR , Einführung; B ÄHR , Richter; B AUMANN , Recht, S. 12 ff.; L IND , Selbstmord, S. 11 ff. und S CHREINER , Glück, S. 15 ff. Vgl. daneben zukünftig die detaillierte Beschreibung der Befunde sowohl der deutschsprachigen als auch der anglo- und frankofonen Forschung in der intensiven und erschöpfenden Diskussion der (nun hoffentlich bald auch vorliegenden) Dissertation von Martin Mahmoud Benkerrou (Münster), dem ich dafür danke, dass er mir Einblick in die noch nicht abgeschlossene Arbeit gewährt hat. Unersetzlich zur Recherche gedruckter Quellen sind die beiden folgenden wenngleich lückenhaften, dafür aber teilweise kommentierten Bibliografien: R OST , Bibliographie; B ERNARDINI , Literature. Mittlerweile kann Rosts Bibliografie, der zum Großteil dessen private Arbeitsbibliothek zugrunde liegt (wie auch die Bibliothek selbst) vollständig digital oder als Mikro-Fiche beim Harald Fischer bestellt werden. Für das mit der hier verhandelten Thematik eng verbundene Thema der Melancholie siehe die Verweise auf bibliografische Hilfsmittel bei W EBER , Kampf, S. 157 Anm. 9. 38 Ein gesonderter Überblick über die vorliegenden Forschungen zur Antike bzw. zum Mittelalter kann hier nicht gegeben werden. Zu nennen sind lediglich zwei von drei bislang vorliegenden Bänden einer umfassenden Geschichte des Suizids im Mittelalter von Alexander Murray, der im ersten Band 560 Fälle für das Mittelalter quantitativ auswertet und kapitelweise die wesentlichen Quellen mit ihren je spezifischen Darstellungsmodi und Typisierungen behandelt; M URRAY , Suicide Vol. I. Band zwei der vorliegenden Monumentalstudie beschäftigt sich dann ausführlich mit mittelalterlichen Strafpraktiken und juristischen wie theologischen Ansichten über versuchte und vollendete Selbsttötungen und der Rezeption und Deutung von ‚Judas Desperatus’. Er zeigt, dass die Verurteilung des Suizids im Mittelalter nicht allein auf christlich-theologische Positionen und das <?page no="25"?> Einleitung 14 stellen. 39 1953 publizierte Jürgen Dieselhorst eine Studie, die das Thema Selbsttötung aus rechtshistorischer Sicht behandelte und dabei Suizide, gerichtliche Verfahren (insbesondere die Leichenschau) und gelehrte Ansichten im Territorium der Reichsstadt Nürnberg fokussierte. 40 Die Untersuchung von Dieselhorst gilt nach wie vor als wichtiger Ausgangspunkt für Forschungen zum Suizid im Alten Reich. 41 Als Vergleichspunkt für die vorliegende Arbeit eignet sich Dieselhorsts Studie jedoch nur bedingt - zu unterschiedlich sind Rahmen- und Überlieferungsbedingungen einer freien Reichsstadt im Vergleich zu einem frühneuzeitlichen Territorialstaat wie Kursachsen. Das erkannte schon Fritz- Helmut Karraß, der für seine Untersuchung der ‚Behandlung der Selbstmörder in der Zentverfassung des Hochstifts Würzburg’ die Studie von Dieselhorst ausdrücklich als Vergleichsgröße nahm. Er verwies aber zugleich auf die unterschiedliche Entwicklung in seinem Untersuchungsgebiet. Karraß untersuchte ebenfalls die rechtshistorischen Bedingungen und Ausprägungen der Sanktionierung von Selbsttötungen seit dem Spätmittelalter. Dabei konnte er nachweisen, dass in erster Linie ein kaiserliches Konfiskationsprivileg für den Fürstbischof von 1486 den Umgang mit Selbsttötungen in Würzburg beeinflusst hat. Die für Würzburg beschriebene Konfiskationspraxis, das zeigt schon die besondere kaiserliche Privilegierung an, ist im Vergleich der Territorien des Alten Reiches eher die Ausnahme als die Regel gewesen. Nicht nur in Kursachsen, sondern auch in anderen Territorien spielten Vermögenskonfiskationen keine Rolle. Karraß konnte für Würzburg keinen unmittelbar wirkenden Einfluss der Constitutio Criminalis Carolina auf die Verfahren nach Selbsttötungen er- Wirken der Kirche, sondern auch auf den Einfluss antik-heidnischer Vorstellungen in Philosophie und Recht zurückgeht; M URRAY , Suicide Vol. II. Siehe auch M ATEJOWSKI , Rezeptionstypen. 39 Zu den in dieser Arbeit ferner behandelten Themen bzw. angrenzenden Fachbereichen (wie bspw. der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte oder der Philosophie) sei hier lediglich wegen ihrer Aktualität in Hinblick auf Forschungsstand, Thesenbildung und Relevanz auf W ITTWER , Selbsttötung verwiesen; vgl. auch B USCHE , Argumente, der die axiomatischen Grundlagen der aufklärerischen Suizidkritik ebenso erhellt wie die klassischen Gegenpole der Argumentation bei Thomas von Aquin und David Hume, indem er deren Argumente detailliert analysiert und auf ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zurückführt. Zu Hume siehe auch schon B EAUCHAMP , Suicide. Zur Literaturgeschichte (mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert) B UHR , Studien; zur Kunstgeschichte B ROWN , Art; H ULTS , Lucretia. 40 D IESELHORST , Bestrafung. Einen auf die normative Rechtsgeschichte beschränkten Überblick bietet K UNZMANN , Selbstmord, S. 3 ff., zur Carolina S. 26 ff., dort auch zu diversen Partikular- und Stadtrechten vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert Kunzmann leuchtet allerdings nicht die strafrechtswissenschaftlichen Debatten aus; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 3. 41 So die Einschätzung bei L EDERER , Suicide, S. 36. <?page no="26"?> Einleitung 15 kennen, der eine ausgreifende Konfiskationspraxis verhindert hätte. 42 Dagegen konnte Dieselhorst genau diesen Einfluss für die Reichsstadt Nürnberg nachzeichnen und auch für die preußischen Territorien ist in diesem Punkt die Vorbildwirkung der Carolina auf die territoriale Gesetzgebung nachgewiesen. Einzelne Territorialrechte schlossen eine Bestrafung des ‚Selbstmords’ sogar aus. 43 Der Rechtshistoriker Karsten Pfannkuchen hat in einer neuen und grundlegenden Studie darauf hingewiesen, dass die durchaus umstrittene Konfiskation des Vermögens von Suizidenten für die größeren Territorialstaaten im 16. Jahrhundert ohnehin hinfällig geworden sei. Diese hätten ihren Finanzbedarf durch den Aufbau einer effektiveren Finanzverwaltung wesentlich planvoller und systematischer decken können als mit der fallweisen Konfiskation einzelner in ihrem Umfang variablen Vermögen - was allerdings nicht erklärt, warum bspw. in England die Güterkonfiskation eine wichtige Rolle in der Sanktionierung des Suizids spielte. 44 Neben diesen explizit rechtshistorisch 45 orientierten Arbeiten markierte in der deutschsprachigen Forschung die 1985 publizierte Dissertation von Markus Schär eine eindeutige Zäsur. 46 Hartmut Lehmann hat Schärs mikrohistorische Untersuchung von Selbsttötungen und deren Bewertungen im frühneuzeitlichen Zürich als ‚bahnbrechend’ bezeichnet. 47 Dieser Einschätzung kann ich mich auch heute noch anschließen. Schär hatte sich von Forschungen in der Psychologie, Soziologie und Ethnografie inspirieren lassen und konnte zeigen, dass die Instrumentalisierung von Religion als Herrschaftsinstrument und die Durchsetzung einer rigiden Sittenzucht und Prädestinationslehre durch das städtische Regiment in Zürich zu einer latenten Zunahme von Selbsttötungen geführt hat. Schär interpretierte die von ihm untersuchten Selbsttötungen als „Opfer […], dargebracht einem Gott, der die Unterwerfung aller Seelen fordert“ 48 und begangen von Menschen, die durch die reformierte Lehre zur ‚suizidalen 42 K ARRAß , Behandlung; vgl. auch schon H EFFNER , Strafen. 43 B ERNSTEIN , Bestrafung, S. 5, weist bspw. auf das in Holstein, Schleswig, Pommern, Mecklenburg und der Mark Brandenburg geltende Lübische Recht hin. H OLZHAUER , Suizident, S. 68, ergänzt, dass in diesem die Konfiskation ausdrücklich verneint wurde. 44 P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 95. Siehe aber jetzt Houston, Punishing, S. 30 ff. und 95 ff. zur Konfiskationspraxis in Schottland, England und Wales. 45 Vgl. weiter H OLZHAUER , Suizident, R EHBACH , Bemerkungen und die bei P FANNKUCHEN , Selbstmord, genannte Literatur. 46 S CHÄR , Seelennöte. 47 L EHMANN , [Rez.] Schär, Seelennöte. 48 S CHÄR : Seelennöte, S. 294. <?page no="27"?> Einleitung 16 Schwermut’ disponiert wurden. Nicht nur gemessen am Stand der historischen Forschung zur Kulturgeschichte des Suizids in den 1970-er und 1980-er Jahren, sondern auch wegen ihrer originellen Darstellung und Thesenbildung ist die Arbeit von Markus Schär nach wie vor eine anregende Studie zum Suizid in der Frühen Neuzeit. Trotz umstrittener Thesen hat er durch die Begrenzung des Untersuchungsraums bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Horizonterweiterung eine gelungene Darstellung der Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken vorgelegt. Die bis heute wegweisende Studie ‚Sleepless Souls’ von Michael MacDonald und Terence R. Murphy erschien 1990 und markierte einen Stand der Forschung, hinter den in weiteren Studien, zumindest dem Anspruch nach, nicht mehr zurückgegangen werden sollte. 49 Vielmehr sind die meisten neueren Forschungen dem Beispiel von MacDonald und Murphy gefolgt und orientierten sich an sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen, um das Themenfeld für neue Perspektiven weiter zu öffnen. MacDonald und Murphy argumentierten, dass sowohl die Verschärfung der ‚Selbstmord’-Strafgesetzgebung und eine härtere Strafverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert als auch die deutliche Tendenz zu milderer Bestrafung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auf umfassende kulturelle Wandlungsprozesse zurückgeführt werden können. Die historische Untersuchung von Selbsttötungen gilt seitdem als Vehikel für einen kulturhistorischen Zugang zu vergangenen Gesellschaften, indem Einstellungen und deren Veränderungen auf ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückführt werden. Faktisch hatte dies aber schon Markus Schär in seiner Untersuchung durchexerziert, die leider in der englischsprachigen Forschung nur schleppend rezipiert worden ist. Gleichwohl ist in jüngster Zeit Kritik an den Thesen MacDonalds und Murphys zum Prozess der Entkriminalisierung laut geworden, den die Autoren als Prozess einer Säkularisierung beschrieben und damit den zentralen Begriff der seither geführten Debatten geprägt haben. 50 Ein zentrales Argument für die Annahme einer Entkriminalisierung des Suizids ist der Prozess der Durchsetzung medizinisch-pathologischer Deutungsmuster, der unter den Begriffen 49 M AC D ONALD / M URPHY , Souls; siehe auch F REIST , [Rez.] MacDonald/ Murphy, Souls. 50 Exemplarisch etwa die Ausrichtung der Diskussion bei W ATT , Death, der eine umfassende Untersuchung des Suizidgeschehens in Genf vorgelegt hat. Jetzt auch W RIGHT / W EAVER , Introduction, S. 3 ff. <?page no="28"?> Einleitung 17 ‚Medikalisierung’ und/ oder ‚Pathologisierung’ verhandelt wird. 51 Die mittlerweile abgeschlossene Untersuchung von Robert Houston über Selbsttötungen im frühneuzeitlichen Schottland im Vergleich zu England und Kontinentaleuropa hat gezeigt, dass die bisherigen Befunde vorschnell als Medikalisierung und Säkularisierung des Suizids im 18. Jahrhundert interpretiert wurden. 52 Wesentliche Aspekte der Medikalisierung von Suiziderklärungen seien, so Houston, entweder keine neuen Phänomene des 18. Jahrhunderts gewesen (etwa Krankheitszuschreibungen als Ursachenindikatoren) oder erst Phänomene des 19. Jahrhunderts (routinierte Todesursachenermittlung und deren medizinisch-psychiatrische Deutung durch akademisch geschulte Ärzte). Letzteres wird durch die ebenfalls 2010 erschienene Studie von Ian Marsh noch einmal deutlich unterstrichen. 53 Wichtig erscheinen überdies Houstons Einsichten bezüglich des varianten Einflusses zeitlich und regional verschiedener Zuschreibungen an die Rolle und Funktionen der Obrigkeiten wie auch die mit in Betracht zu ziehenden regional verschiedenen Rechtsentwicklungen. Houston kommt in seiner Arbeit zu einem ähnlichen Fazit, wie ich es auf Grundlage eigener Forschungen bereits an anderer Stelle gezogen habe: „Eine Gleichbehandlung aller Selbstmörder hat es nie gegeben.“ 54 Houstons Studie ist ohne Frage für zukünftige Forschungen unerlässlich und ein Meilenstein in der Auseinandersetzung mit den Thesen MacDonalds und Murphys, von denen er sich vollständig abgrenzt. 55 Die vorliegende Studie geht jedoch noch über Houstons Ansatz hinaus und verfolgt über einen ebenso langen Zeitraum die angesprochenen Entwicklungen von Normen und Praktiken in ihrer Interdependenz zueinander. Überdies werden einzelne Themenbereiche (bspw. Suizidenten als Anatomieleichen und die Lebensrettung von Suizidenten) im Rahmen der Suizidforschung zum ersten Mal systematisch analysiert; Themen, die auch in Houstons Studie entweder überhaupt nicht oder nur vereinzelt angesprochen werden. 51 M AC D ONALD , Medicalization; vgl. zum Begriff und seinen Bedeutungen in der Frühneuzeitforschung den Überblick bei E CKART / J ÜTTE , Medikalisierung. 52 Siehe dazu seine online verfügbare Projektskizze H OUSTON , Suicide. Jetzt H OUSTON , Punishing. 53 M ARSH , Suicide. 54 K ÄSTNER , [Art.] Selbsttötung, Sp. 1072. Vgl. H OUSTON , Punishing, S. 364: „Describing one country (or age) as harsh and another as lenient is in truth unhelpful, for all European countries were selective in their treatment of suicides, and all had mixed economies of punishment.“ 55 C RESSY , [Rez.] Houston, Punishing, kommentierte dies mit dem Ausruf „‚Ouch! ’“ <?page no="29"?> Einleitung 18 Für die neuere Forschung stehen ferner exemplarisch die Arbeiten von Julia Schreiner und Susan Morrissey. Beide Autorinnen haben ebenso auf die Gleichzeitigkeit von Medikalisierung und fortdauernder moralischer Ächtung des Suizids hingewiesen wie Robert Houston. 56 Schreiner fokussierte die Themen- Trias Hypochondrie-Suizid-Melancholie, um nachzuzeichnen, über welche Medien medizinische Deutungsangebote ausstrahlten und von anderen Disziplinen aufgegriffen wurden. Dabei konnte sie überzeugend nachweisen, dass die moralische Ächtung der Selbsttötung trotz Medikalisierungs- und Pathologisierungstendenzen bestehen blieb. Julia Schreiner hat die bislang dichteste Zusammenschau der vielfältigen Diskussionsstränge im späten 18. Jahrhundert vorgelegt, die jüngst von der literaturhistorischen Habilitationsschrift Harald Neumeyers ergänzt wurde. 57 Morrisseys Studie kann dagegen als eine Geschichte gelesen werden, die die Abhängigkeit von Selbsttötungshandlungen und deren Deutungen in Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und in Bezug auf für einzelne Sozialformationen spezifische Ehrvorstellungen beschreibt. Morrissey plädiert dafür, den Begriff der Säkularisierung als teleologische Meisterzählung zu verwerfen und statt dessen einen Prozess der Pluralisierung von Erklärungen für Selbsttötungen zur Kenntnis zu nehmen. 58 Zur Kritik an dem von MacDonald und Murphy gebrauchten Begriff der Säkularisierung ist anzumerken, dass beide Autoren durchaus auch dessen Ambivalenzen im Blick hatten. Säkularisierung zielte für sie begrifflich auf einen Prozess der Verweltlichung, der die Fortexistenz religiöser oder moraltheologischer Welterklärungen weder ausschließen sollte, noch mit einem kurzschlüssigen Konzept einer ‚Rationalisierung der Welt’ zu verwechseln ist. 59 Des- 56 S CHREINER , Glück, zusammenfassend v. a. S. 141 ff. und 236 ff. Z. T. kritisch die Besprechungen bei B ÄHR , [Rez.] Schreiner, Glück; F UCHS , [Rez.] Schreiner, Glück; S TUKENBROCK , [Rez.] Schreiner, Glück; W ITTWER , [Rez.] Schreiner, Glück. M ORRISSEY , Suicide; vgl. auch M ANNHERZ , [Rez.] Morrissey, Suicide und P INNOW , [Rez.] Morrissey, Suicide. Einzelne Aspekte detaillierter in M ORRISSEY , Drinking; M ORRISSEY , Patriarchy. 57 N EUMEYER , Anomalien. Ich habe Neumeyers wichtige Studie bereits an anderer Stelle gewürdigt; vgl. K ÄSTNER , [Rez.] Neumeyer, Anomalien. 58 Morrissey hat unter anderem auf spezifische Rezeptionsprozesse westeuropäisch-aufklärerischer Literatur in Russland sowie auf eigene Traditionen des östlichen orthodoxen Christentums im Umgang mit Selbsttötungen verwiesen, die es zukünftig stärker vergleichend heranzuziehen gilt. 59 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 300 ff. und M AC D ONALD / M URPHY , Säkularisierung; vgl. zu dieser Argumentation B UHR , Studien, S. 16 Anm. 23. Aber auch schon M AC D ONALD , Reply, bspw. S. 166: „The simple saga of scientific and philosphical progress […] is rejected in my article“. sowie die diesem Beitrag vorhergehenden Diskussionen in M AC D ONALD , Secularization; A NDREW , Debate. <?page no="30"?> Einleitung 19 wegen verfehlt letztlich auch die griffige Formulierung ‚From Sin to Insanity’ den Charakter der Entwicklungsgeschichte der Selbsttötung, weil der Suizid eben beides zugleich - Ausdruck von Sünde und (! ) Geisteskrankheit - blieb und keine endgültig abgeschlossene Verschiebung der Deutungen in der Frühen Neuzeit stattgefunden hat. Im Anschluss an Morrissey ließe sich auf ein etabliertes Erklärungsmodell verweisen, das für die Frühe Neuzeit und insbesondere deren Spätzeit um 1800 von einer zunehmend legitimen Pluralisierung von Weltbildern und -deutungen als Folge der funktionalen und sozialen Ausdifferenzierung der frühneuzeitlichen Gesellschaften ausgeht. Die beschriebenen Deutungsvorschläge haben prinzipiell dieses Phänomen vor Augen. Das vorgeschlagene Beschreibungsmodell hat nach meinem Dafürhalten zwei Vorteile: Zum einen erfasst es das legitime Auseinandertreten und Nebeneinander sozialer Teilordnungen als Prozesse, die nach Karl-Siegbert Rehberg den Umbruch der frühneuzeitlichen Gesellschaften zur Moderne hin kennzeichneten. 60 Zum anderen ist das Modell nicht teleologisch fixiert, denn es rechnet sowohl für das 18. Jahrhundert als auch für die Zeit davor die Möglichkeit alternativer und umstrittener Deutungen ein und macht diese Möglichkeit analytisch beschreibbar, ohne zu polarisieren. Blickt man hieran anknüpfend auf die neuere Forschung deutscher Provenienz, ist eine eindeutige Fokussierung auf das 18. Jahrhundert erkennbar; auf Julia Schreiners Dissertation und Harald Neumeyers Habilitation wurde bereits hingewiesen. Dieser Fokus hat mehrere Gründe. Zum einen sind für dieses Jahrhundert besonders viele gedruckte Quellen vorhanden, die auch gut erschlossen und verfügbar sind. 61 Zum anderen lassen sich Untersuchungen dieser Quellen sowohl an die Diskussionen über die Entkriminalisierung des Suizids im 18. Jahrhundert anschließen als auch an die etablierten fächerübergreifenden Forschungen zur Aufklärung. Auch hat die neuerliche Hinwendung zu größeren Territorien im Alten Reich dazu geführt, dass mit der besonderen Überlieferungssituation auf der Ebene der landesherrlichen Verwaltung vor allem das 16. Jahrhundert aus dem Blick geriet, auch wenn dies kein übergreifender Befund ist, wie die Studien von Blesch, Lederer und Obser gezeigt haben. 62 60 R EHBERG , Institutionen. Diesen Ansatz verfolgt auch M ATZERATH , Adelsprobe, etwa S. 18 f. 61 Siehe etwa die ‚Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Raum’, URL: http: / / www.ub.uni-bielefeld.de/ diglib/ aufklaerung/ (zuletzt abgerufen am 10. August 2009). 62 B LESCH , Selbsttötungen; L EDERER , Madness, S. 242 ff.; O BSER , Selbstmordfälle. Vgl. auch die ‚städtischen’ Zahlen bei D IESELHORST , Bestrafung; L EDERER , Dead; S CHÄR , Seelennöte und W ATT , Death. <?page no="31"?> Einleitung 20 Insgesamt treten in der neueren Forschung die Unterschiede in der administrativen Durchdringung der einzelnen Territorien deutlicher hervor als zuvor. Robert Houston hat dies für Schottland, England und Wales mit vergleichenden Blicken auf kontinentaleuropäische Territorien untersucht. David Lederer konnte für Kurbayern eine umfassende Administrierung und dichte Registrierung von Selbsttötungen bereits für das 17. Jahrhundert feststellen. 63 Für Kursachsen können, so ist in dieser Arbeit zu zeigen, solche Phänomene erst für das 18. Jahrhundert beobachtet werden. Unter den neueren deutschsprachigen Arbeiten kommt Vera Lind das Verdienst zu, mit ihrer 1999 erschienenen Dissertation ‚Selbstmord in der Frühen Neuzeit’ nicht nur dem Titel nach eine Gesamtschau des Themas für die Forschung vorgelegt zu haben. 64 Linds Arbeit wird zum einen aufgrund ihrer breiten Ausrichtung auch zukünftig Referenzpunkt weiterer Forschungen bleiben. Zum anderen wird bei Berghahn Press New York derzeit eine Übersetzung der Studie ins Englische vorbereitet, was die internationale Rezeption, vor allem in der dominierenden angelsächsischen Forschung, deutlich erleichtern dürfte. Ein zentrales Argument von Vera Lind lautet, dass eine weit reichende Entkriminalisierung des Suizids in der Alltagspraxis bereits um 1740 erkennbar sei, was sich daran zeige, dass in 85 Prozent der von ihr untersuchten Fälle ‚Selbstmörder’ ein stilles und damit ehrliches Begräbnis erhalten hätten. 65 Diese These ist wichtig, weil sie uns einerseits zu der oben angerissenen Diskussion über die adäquate Bezeichnung der Veränderungen der Deutungen und des Umgangs mit Selbsttötungen zurückführt. Andererseits provoziert dieser Befund weitere Fragen, von denen an dieser Stelle exemplarisch eine Frage zu nennen ist. Warum gestaltete sich die Praxis im Alltag anders als die scheinbar so rigiden Normen? Zumal sich bereits vor deren Wandel der Umgang mit Selbst- 63 L EDERER , Madness. Lederer kombinierte die Überlieferung verschiedener Verwaltungsebenen, um ein vielschichtigeres Gesamtbild zu erhalten. Seine Untersuchung bietet die Möglichkeit, die jeweiligen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Bewertung des Suizids und im Umgang mit Suizidgefährdeten bzw. Suizidenten in den konfessionellen Lagern empirisch abgesichert vergleichen zu können. Für die veränderte Situation in Bayern im 18. Jahrhundert ebd., S. 292 ff. Zu Lederers Studie K ÄSTNER , [Rez.] Lederer, Madness; L UEBKE , [Rez.] Lederer, Madness; S IEBENHÜHNER , [Rez.] Lederer, Madness; T ADDEI , [Rez.] Lederer, Madness. 64 L IND , Selbstmord. Dazu B ÄHR , [Rez.] Lind, Selbstmord; J ÜTTE , [Rez.] Lind, Selbstmord; K OLLING , [Rez.] Lind, Selbstmord; M AURER , [Rez.] Lind, Selbstmord; M ÜLLER H OFSTEDE , Kummer; S CHMIDT -K OHBERG , [Rez.] Lind, Selbstmord. Überdies liegen mehrere Aufsätze Linds vor, in denen sie einzelne Aspekte ihrer Studie diskutiert; bspw.: L IND , Mind; L IND , Rolle. 65 L IND , Selbstmord, S. 465. <?page no="32"?> Einleitung 21 tötungen verändert haben soll. Ich werde in dieser Arbeit argumentieren, dass in den bisherigen Studien weder die Eigenschaften noch die Strukturen der Normen und Untersuchungsverfahren hinreichend systematisch herausgearbeitet worden sind, um das Verhältnis von Norm und Praxis präzise bestimmen zu können. Im Gegensatz zu Ursula Baumann, die Linds Befund (Diskurs und Lebenswelt verhielten sich nicht deckungsgleich) einfach und ohne nähere Begründung für wenig bemerkenswert hält, 66 werde ich über die von Lind vorgestellten Erklärungen (Mobilisierung der Pfarrer durch das soziale Umfeld, wachsender Einfluss der Ärzteschaft, Rolle der Beamten vor Ort) hinausgehen und Linds These zum einen in chronologischer Perspektive hinterfragen: 67 Kann man wirklich erst ab 1740 von einer deutlichen Inkongruenz rigider Normen und milder Praktiken ausgehen bzw. kann man überhaupt von einer Inkongruenz sprechen? Wobei nun spätestens mit der Studie von Robert Houston klar sein sollte, dass ‚rigide’ und/ oder ‚mild’ moralisch-wertende und zudem anachronistische Beschreibungen sind. 68 Zum anderen ist anhand der sächsischen Befunde zu prüfen, ob Linds Thesen nicht an spezifische Rahmenbedingungen ihres Untersuchungsraums gebunden sind. 69 An die Studie von Vera Lind knüpfte Ursula Baumann mit ihrer 2001 publizierten Habilitationsschrift an. 70 Sie hat die Geschichte des Suizids vorrangig für das 19. Jahrhundert untersucht. Ihre Überlegungen zur Frühen Neuzeit bleiben notwendig unterkomplex. Baumann weist nachdrücklich auf 66 B AUMANN , Recht, S. 12 Anm. 23. Sie kann natürlich nur deswegen mit einer kurzen Anmerkung über Linds Befund hinweggehen, weil sie die eigentliche Zuspitzung der These Linds übergeht, Norm und Praxis wären nicht nur deckungsgleich, sondern die Praxis prägte zeitlich bereits vor den Normen veränderte Muster aus, die sich dann später in den Normen wiederfinden. 67 Vgl. nur die Darstellung in L IND , Selbstmord, S. 39 ff. Die Praxis des 16. Jahrhunderts gerät bei ihr zwangsläufig aus dem Blick, weil sie schlichtweg keinen Fall aus diesem Jahrhundert in ihre Untersuchung einbeziehen konnte. Das übersieht H OUSTON , Punishing, S. 363. 68 H OUSTON , Punishing, bes. S. 363 und passim. 69 So widerspricht die These Linds von der vergleichsweise frühzeitigen und weitgehenden Entkriminalisierung in der Alltagspraxis auch den Ergebnissen von Karin Schmidt-Kohberg, die, wenngleich empirisch wenig gesättigt, davon ausgeht, dass die württembergische Bevölkerung sich gegen eine differenzierte Beurteilung und Behandlung von ‚Selbstmördern’ zur Wehr setzte; S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord. Zu Schmidt-Kohbergs Studie siehe die kritischen Einschätzungen bei K ÄSTNER , [Rez.] Dillinger, Zauberer; S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN , [Rez.] Dillinger, Zauberer; überwiegend positiv würdigt dagegen David Lederer Schmidt-Kohbergs Studie; vgl. L EDERER , Suicide, S. 45. 70 B AUMANN , Recht; vgl. auch schon B AUMANN , Überlegungen; B AUMANN , Suizid; B AUMANN , Diskriminierung. <?page no="33"?> Einleitung 22 den jeweiligen Deutungsanspruch einzelner Wissenschaftsdisziplinen hin, die Selbsttötung als Thema für sich vereinnahmten und „Interpretationshegemonie beanspruchten“. 71 So sei der Suizid im 19. Jahrhundert zunehmend in das Blickfeld der Sozialwissenschaften geraten, nachdem Aufklärung, Medikalisierung und juristische Entkriminalisierung das Deutungsmonopol der Theologen durchbrochen hätten. 72 Baumanns Studie hat zudem den Blick auf zwei Themenfelder gerichtet, die in dieser Arbeit für das 18. Jahrhundert systematisch untersucht werden: die Rolle der frühneuzeitlichen Anatomie für den Umgang mit den Leichen von ‚Selbstmördern’ und die Bedeutung obrigkeitlicher Lebensrettungsprogramme für den Umgang mit versuchten ‚Selbstmördern’. 73 Abschließend sind für die Frühneuzeitforschung noch die Dissertation von Andreas Bähr und eine Studie von Arne Jarrick zu Selbsttötungen in Schweden zu nennen. Bährs Dissertation fokussiert mit den Aporien aufklärerischen Nachdenkens über den Suizid ebenfalls Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 74 Arne Jarrick hat in einer sowohl mitfühlenden als auch mitreißenden Studie versucht, frühneuzeitliche Sichtweisen sowie die Motive frühneuzeitlicher Suizidenten zu ergründen - Motive, die er unter anderem in einer spezifischen Ökonomie der Scham und der Ehre verortet. 75 Der weite ideengeschichtliche Bogen, den George Minois aufspannt, ist dagegen mehrfach 71 B RINK , [Rez.] Baumann, Recht. 72 Der ‚Wille zum Wissen’, wie es Michel Foucault ausgedrückt hat, schrieb die ‚Selbstmörder’ in einen neuen Diskurs ein, der sie einer sozialpathologischen Deutung unterwarf. „Dieses hartnäckige Sterbenwollen, das so fremd war und doch so regelmäßig und beständig auftrat und darum nicht durch individuelle Besonderheiten oder Zufälle zu erklären war, war eines der ersten Rätsel einer Gesellschaft, in der die politische Macht eben die Verwaltung des Lebens übernommen hatte.“; F OUCAULT , Wille, S. 165 f. 73 B AUMANN , Recht, S. 85 ff. u. 161 ff. Zur Anatomie jetzt umfassend S TUKENBROCK , Cörper und Teil C, Kap. 8 dieser Arbeit; zu den Lebensrettungsprogrammen systematisch G OLDMANN , Geschichte und Teil C, Kap. 9 dieser Arbeit. 74 B ÄHR , Richter. Andreas Bähr hat gezeigt, wie die Aporien der aufklärerischen Moralvorstellungen darauf verwiesen, dass eine Selbsttötung als moralische Selbstverurteilung dann begründbar erscheinen konnte, wenn sie als moralisch notwendig galt, zugleich aber illegitim blieb. Bähr hat so die Begründungsmöglichkeiten für eine Selbsttötung innerhalb der Denkgrenzen und Verhaltenscodes einer bestimmten Kultur - nämlich der der Spätaufklärung - präzise herausgearbeitet. Darüber hinaus gelangt er, obwohl von ihm nicht intendiert, durch eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Semantik der Texte zu gewinnbringenden Einsichten in das Innenleben der Betroffenen. So auch die Lesart bei L EDERER , [Rez.] Bähr, Richter; K RONAUER , [Rez.] Bähr, Richter. Jetzt auch B ÄHR , Leiden. Vgl. darüber hinaus Bährs Kritik am Ansatz von Baumann in B ÄHR , [Rez.] Baumann, Recht. 75 J ARRICK , Fråga. <?page no="34"?> Einleitung 23 als methodisch höchst problematisch kritisiert worden und beschränkt sich im Wesentlichen auf Frankreich. 76 Mittlerweile haben interkulturell angelegte Studien und überhaupt Studien zum Suizid in außereuropäischen Territorien wie China neue Perspektiven etwa hinsichtlich geschlechtergeschichtlicher Aspekte eröffnet und kulturelle Bedingtheiten suizidaler Phänomene genauer fokussiert. 77 Resümiert man den hier grob skizzierten Forschungsstand, 78 ist festzuhalten, dass die Befunde insbesondere für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dicht und gesichert scheinen. Gleiches gilt für Untersuchungen zu den publizistischen Debatten. 79 Allerdings hat die Dissertation von Karsten Pfannkuchen gezeigt, dass Normen und ihr Wechselverhältnis zu Praktiken erneut in den Blick genommen werden müssen. 80 Es wird daher in dieser Arbeit systematisch zu untersuchen sein, aus welchen Debatten über die alltägliche Praxis heraus Normen überhaupt entstanden und verändert wurden. Die vorliegende Studie wird daher am Beispiel Kursachsens 76 M INOIS , Geschichte. Die deutsche Übersetzung datiert auf 1996, im französischen Original erschien die Studie zuerst 1995. Minois’ Studie wurde aus verschiedenen Perspektiven kritisiert. Andreas Bähr bemängelte etwa die geistesgeschichtliche Teleologie der Erzählung, die zudem methodisch inkonsistent sei sowie die problematische Annahme von Minois, Selbsttötungen seien kausal erklärbare Phänomene; B ÄHR , [Rez.] Minois, Geschichte. H. C. Erik Midelfort kritisierte vor allem Minois’ methodisch unreflektierten Umgang mit quantitativen Befunden; M IDELFORT , [Rez.] Minois, History. Dagegen unkritisch und die eigenen psychiatrischen Gewissheiten ‚feiernd’ S LABY , [Rez.] Minois, History. 77 Für einen Überblick über die interkulturell vergleichende Forschung, im Sinne einer Historischen Anthropologie, die „den unterschiedlichen Umgang mit Selbsttötung und deren differente Bedeutung in den Blick rücken“ will, siehe B ÄHR / M EDICK (Hg.), Sterben (Zitat, ebd. Vorwort, S. V); hierzu auch K ÄSTNER , [Sammelrez.] Watt (Hg.), Sin und Bähr/ Medick (Hg.), Sterben. Zu China siehe exemplarisch T HEISS , Suicide. 78 Derzeit plant David Lederer, eine umfassende Geschichte der Selbsttötung im Alten Reich zu publizieren. Darüber hinaus arbeitet Florian Kühnel an am Exzellenzcluster der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster an einer Dissertation über den Umgang mit Selbsttötungen im frühneuzeitlichen Adel. An einer ersten explizit konfessionsvergleichenden Studie (Österreich / Schweden) forscht Evelyne Luef an der Universität Wien. Lucio Biasiori (Scuola Normale Superiore di Pisa) arbeitet zur Geschichte des Suizids in Italien im 18. Jahrhundert. Ein Paper von ihm mit dem Titel „Per una storia sociale del suicidio nell’Italia moderna. A propositu die due libri recenti“ soll demnächst in den ‚Studi storici’ erscheinen; weitere sind geplant. 79 Dass dem allerdings nur vordergründig so ist, hat Florian Kühnel in seiner Magisterarbeit am Beispiel der europaweiten Publizistik zum Suizid des kursächsischen Kabinettsministers Karl Heinrich Graf von Hoym 1736 gezeigt; K ÜHNEL , Selbsttötung, insbes. S. 80 ff. 80 P FANNKUCHEN , Selbstmord. <?page no="35"?> Einleitung 24 vom 16. Jahrhundert bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine Geschichte der Implementierung von Normen für den Umgang mit Selbsttötungen erzählen. Abschließend wird das skizzierte Paradigma der Entkriminalisierung und Säkularisierung des Suizids neu diskutiert. Selbsttötung als Gegenstand von Forschungen zu Kursachsen Systematische kriminalitätsgeschichtliche Vorarbeiten zu Kursachsen liegen bis auf die Dissertationen von Falk Bretschneider und Ulrike Ludwig bislang nicht vor. 81 Ebenso fehlt eine umfassende Untersuchung zur Geschichte der Selbsttötung im frühneuzeitlichen Kursachsen. 82 Diese Forschungslücke verwundert, denn nicht erst seit dem Aufkommen der statistischen Weltvermessung gilt Sachsen als ein Land, das eine im Vergleich der deutschen Territorien sehr hohe Suizidrate aufweist. Die konstant hohe sächsische Suizidrate hat Journalisten und Wissenschaftler wiederholt zu Erklärungsversuchen angeregt, die aber allesamt nicht wirklich überzeugen können. 83 Der allgemeinen Ratlosigkeit und den doch eher alltagstheoretisch-psychologisierenden Erklärungen hat Wladimir Kaminer eine süffisante Pointe gegeben, als er in einem Artikel des Magazins ‚Cicero’ resümierte, in Sachsen würden sich deshalb so viele Menschen das Leben nehmen, weil es da so schön sei. 84 Lediglich einzelne Aspekte der Thematik wurden, wenn auch meist knapp und wenig erschöpfend, behandelt. Einige Arbeiten erwähnen das sächsische ‚Selbstmordmandat’ von 1779. 85 Georg Grebenstein hat auf das Beseitigen von 81 B RETSCHNEIDER , Gesellschaft; L UDWIG , Herz. Vgl. ebd., passim, auch die Hinweise auf Manfred Wildes Studie zur Hexenverfolgung in Kursachsen. 82 Allenfalls für das 19. Jahrhundert können die jeweils zeitgenössischen Abhandlungen Oscar Kürtens und August Hitzscholds als Referenzen zur Statistik und als ein erster Überblick über die in Sachsen im 19. Jahrhundert geführten Debatten und Veränderungen in den Normen zum Suizid gesehen werden; H ITZSCHOLD , Bestrafung; K ÜRTEN , Statistik. Kürtens Arbeit ist von Ursula Baumann als ‚methodisch sorgfältige Arbeit’ gewürdigt worden; B AUMANN , Recht, S. 226 Anm. 287. 83 B ÖTTGER , Ärzte; vgl. auch die Palette an psychologisierenden Erklärungskrücken bei D RASSDO , Minderwertigkeitskomplexe, „fischelant“. Neueste Zahlen bei F ELBER , Suizid-Statistik, der allerdings zugeben muss, dass für die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und für die konstant hohe sächsische Suizidrate keine endgültig befriedigenden Erklärungen vorliegen. 84 K AMINER , Sachsen, S. 128. 85 A MELUNXEN , Selbstmord, S. 31 f.; B ERNSTEIN , Bestrafung, S. 10 f.; G LAUNING , Geschichte, S. 328. K UNZMANN , Selbstmord, S. 45 f.; zuletzt auch B AUMANN , Recht, S. 25; S CHREINER , Glück, S. 145. <?page no="36"?> Einleitung 25 ‚Selbstmörderleichen’ durch die Leipziger Scharfrichter hingewiesen. 86 Über einzelne Kirchenbucheinträge zu ‚Selbstmörderbegräbnissen’ informiert eine Miszelle von Manfred Schober. 87 Daniel Wojtucki hat die Bestattung von ‚Selbstmördern’ an Richtstätten in Schlesien und der Oberlausitz untersucht. 88 Weitere archäologische und historische Studien für diese Gebiete sind von Paweł Duma zu erwarten, der am Archäologischen Institut der Universität Breslau eine Dissertation über den unreinen Tod in der Frühen Neuzeit verfasst. 89 Systematischer führte bereits Robert Wuttke die Thematik in seiner großen sächsischen Volkskunde aus. Wuttke folgte noch ganz der im 19. Jahrhundert geläufigen sozialpathologischen Deutung 90 des Suizids, der für ihn ein „trauriges Bild geistiger und moralischer Zerrüttung“ 91 bot und behandelte die Thematik zusammen mit weiteren Delikten. Wuttke berichtete über die Häufigkeit und die Diskussionen über Selbsttötungen in Kursachsen im 18. Jahrhundert, unter anderem über die Gutachten des Oberkonsistoriums, der juristischen Fakultäten und der Schöppenstühle für das Suizidmandat von 1779 und konnte auf eine Vielzahl von Quellen zurückgreifen, die heute zum Teil als Kriegsverlust gelten: 1784 hatte die Landesökonomie- Manufaktur- und Kommerziendeputation (in dieser Arbeit nachfolgend kurz Kommerziendeputation) 92 beim Oberkonsistorium und anderen Verwaltungsbehörden die Einreichung von Suizidlisten beantragt, woraus sich eine erste landesweite ‚Proto-Suizidstatistik’ entwickelte. 93 Für die 1780-er Jahre gelten diese Listen wie auch die dazugehörigen 86 G REBENSTEIN , Scharfrichter, S. 84 und 88. 87 S CHOBER , Selbstmörder. 88 W OJTUCKI , Bestattungen. Im Übrigen ignoriert Wojtuckis Studie die neuere Suizidforschung und überhaupt die neuere historische Forschung völlig und plädiert dafür, die Geschichte der Selbsttötung künftig grundlegend (! ) zu erforschen. 89 Vgl. exemplarisch den an Wojtucki anschließenden Beitrag D UMA , Selbstmord. 90 B AUMANN , Selbsttötung; für ein prominentes Beispiel siehe die Behandlung der Thematik durch Karl Marx, der den Blick auf die Unterdrückung der Frau richtete und einen Teil der Memoiren des Pariser Polizeichefs Peuchet exzerpierte, kommentierte und erneut publizierte. Hierzu, zu Hintergründen und dem Verhältnis von Marxens Deutung in Bezug zu Freud und Durkheim P LAUT / A NDERSON (Hg.), Marx. 91 W UTTKE , Volkskunde, S. 238. 92 Nicht zu verwechseln mit der Vorläuferinstitution, der bereits 1735 eingerichteten ‚Commerciendeputation’. 93 Vorreiter für offizielle Suizidstatistiken waren England und das Königreich Schweden, für das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts umfassende Erhebungen vorliegen; hierzu L INDELIUS , Trends; M ÄKINEN u. a., Perspectives; O HLANDER , Suicide. <?page no="37"?> Einleitung 26 Berichte der Kommerziendeputation als Kriegsverlust. Für einige darauffolgende Jahre sind die Jahreshauptberichte der Kommerziendeputation aber erhalten und konnten für die vorliegende Untersuchung herangezogen werden. Die Arbeit von Robert Wuttke war für die vorliegende Studie auch insofern inspirierend, als er erstens zeigte, dass das etablierte Stereotyp vom suizidgeneigten Sachsen von frühneuzeitlichen Autoren inspiriert wurde. Zweitens lenkte Wuttke den Blick auf die Tätigkeit der Kommerziendeputation. Auf der Suche nach den Quellen dieser Behörde stieß ich auch auf umfangreiches Aktenmaterial in den Beständen der anderen zentralen Landesbehörden, in denen Rettungen verunglückter Menschen und ‚versuchter Selbstmörder’ dokumentiert sind. Dadurch eröffneten sich weitere Perspektiven auf die Thematik Selbsttötung (obrigkeitliche Lebensrettungsprogramme und entsprechende Interventionen der Bevölkerung bei Suizidversuchen), die hier systematischer als in der bisherigen Forschung untersucht werden. 94 Mit der magisch aufgeladenen Bedeutung des toten Körpers von ‚Selbstmördern’ sowie obrigkeitlichen Reaktionen auf Selbsttötungen, Streitigkeiten über Verfahrensweisen und mit der Jurisdiktionshoheit nach Selbsttötungen in Leipzig um 1700 hat sich Craig Koslofsky beschäftigt. 95 Koslofsky hat meine Aufmerksamkeit auf einige Aspekte gelenkt, an die ich in dieser Untersuchung dankbar anknüpfe: Vor allem sind hierbei Konflikte einzelner Herrschafts- und Verwaltungsträger um die Hoheit über die Untersuchungsverfahren zu nennen, ferner das Ringen um die Form des Begräbnisses nach Selbsttötungen und damit im Zusammenhang stehende Konflikte um die Verfügungsgewalt über die Suizidenten. Überdies lenkte Koslofsky den Blick auf die zeitgenössische Debatte über die Gültigkeit und Anwendbarkeit von Normen und Grundsätzen zur Behandlung von ‚Selbstmördern’. Ferner hat Stefan Kroll in seiner Habilitation einige Befunde zum Suizidgeschehen im kursächsischen Militär im 18. Jahrhundert vorgetragen. 96 Allerdings zeigen seine im Vergleich zur gesamten Studie recht kurzen Ausführungen zu diesem Thema, dass aufgrund der schwierigen Quellenlage eine umfassende und erschöpfende Darstellung von Selbsttötungen im kursächsischen Militär 94 Die bisherige Forschung: B AUMANN , Recht, S. 83 ff.; L IND , Selbstmord, etwa S. 436 f.; S CHREINER , Glück, S. 161 ff. Kurzer Hinweis auch schon bei M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 350. Umfassend Teil C, Kap. 9 dieser Arbeit. 95 K OSLOFSKY , Säkularisierung; K OSLOFSKY , Suicide; K OSLOFSKY , Body. Diese Studien entstanden im Rahmen umfangreicherer Untersuchungen Koslofskys zu Tod und Begräbnisritualen in der Frühen Neuzeit. Vgl. zu diesen M ARSHALL , [Rez.] Koslofsky, Reformation. 96 K ROLL , Soldaten, S. 516 f. und 564 ff.; hierzu auch K ÄSTNER , [Rez.] Kroll, Soldaten. <?page no="38"?> Einleitung 27 nicht möglich ist. 97 Daher kann die anstehende Untersuchung lediglich auf Krolls Befunde zurückgreifen, um die eigenen Fälle suizidaler Soldaten bzw. von Suizidenten im Militär einzuordnen. 98 Darüber hinaus hat der Leipziger Psychiatriehistoriker Holger Steinberg zwei Aufsätze über das 1775 in Kursachsen weitgehend erfolglos verhängte Verbot von Goethes ‚Werther’ verfasst, das mithin auch in weiteren älteren und neueren Darstellungen kurz abgehandelt ist. 99 Unter den neueren Studien, zu denen auch einige eigene Vorarbeiten und Publikationen zählen, 100 ragt schließlich eine nicht publizierte Magisterarbeit von Florian Kühnel heraus, der mithilfe eines mikrohistorischen und historischanthropologischen Zugriffs den Suizid des Kabinettsministers Karl Heinrich Graf von Hoym (Festung Königstein 1736) untersucht hat. Kühnel hat alle im 97 Diese Einschränkung resultiert auch aus der Tatsache, dass ein stehendes Heer mit einer entsprechenden Administration in Kursachsen erst seit 1682 bestand, und die rechts- und kriminalitätshistorischen Quellen für das 16. und 17. Jahrhundert noch dürftiger sind. Vgl. hierzu die Ausführungen bei N OWOSADTKO , Militärjustiz, sowie die Überlegungen zur Quellenkritik in H UNTEBRINKER , Knechte, S. 26 f.; zu dem daraus abgeleiteten methodischen Vorgehen ebd., S. 31 ff. Dieser Eindruck der bisherigen Forschung hat sich für die Thematik Selbsttötung während eigener Recherchen im Zusammenhang eines anderen Forschungsprojekts im Königlichen Kriegsarchiv Stockholm (KKS) bestätigt, wo ich zusammen mit Ulrike Ludwig (Dresden) die Urteilsbücher (‚Domböcker’) der Militärgerichte der schwedischen Garnisonen in Mecklenburg für das 17. und 18. Jahrhundert gesichtet habe. 98 Vgl. zum Forschungsstand insgesamt K ÄSTNER , Desertionen. Darüber hinaus arbeitet Thomas Barth in einem Forschungsprojekt, das von Werner Felber angeleitet wird, an einer Erhebung von Suizidhäufigkeiten im sächsischen Militär im 19. Jahrhundert anhand von Rekrutenlisten. 99 S TEINBERG , Furcht; S TEINBERG , Werther-Effekt. Holger Steinberg hat seine Arbeiten zuletzt auf dem DGPPN-Kongress 2007 am 22. November 2007, Symposium „Kopie, Nachahmung, Anlehnung - ‚Beispielsuizide’ und ihre Wirkungen“ vorgestellt. Der Titel des Vortrages lautete „Der ‚Werther-Effekt’. Zum historischen Umfeld eines Eponyms“. Ich danke Herrn Steinberg für die Bereitstellung seiner Vortragspräsentation. Vgl. unter den älteren Arbeiten bspw. K IRN , Fakultät, S. 172 und W USTMANN , Bücher, S. 282, unter den neueren Studien siehe A NDREE , Texte, S. 192 f.; B AUMANN , Recht, S. 49 f.; F LASCHKA , Werther, S. 281 ff.; S CHREINER , Glück, S. 271 f. 100 Vorarbeiten, die in diese Studie eingeflossen sind, und Untersuchungen zu einigen in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlicher behandelten Aspekten finden sich in K ÄSTNER , Mitleid; K ÄSTNER , Seelen; K ÄSTNER , Bewertung; K ÄSTNER , Desertionen; K ÄSTNER , Experten. Nicht publiziert sind meine Staatsexamensarbeit, in der ich bereits einige Überlegungen, insbesondere zum 17. Jahrhundert vorgestellt habe (K ÄSTNER , Leid) sowie ein Abschlussbericht für ein Studienprogramm des Internationalen Graduiertenkolleg 625 ‚Norm, Schrift und Symbole’ in Dresden, mit dessen Hilfe ich frühzeitig wichtige Akten zu den Gesetzgebungsprozessen im 18. Jahrhundert auswerten konnte; K ÄSTNER , Wahrnehmung. <?page no="39"?> Einleitung 28 Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden befindlichen Dokumente zu diesem Fall sowie die zeitgenössische Publizistik minutiös ausgewertet und den Ablauf, die Hintergründe des Suizids, das Untersuchungsverfahren und die europaweiten Diskussionen, die dieser Suizid auslöste, analysiert. 101 Ohne direkten Bezug zum landeshistorischen Kontext widmeten sich einige Untersuchungen der Haltung Luthers zum Suizid. Allerdings fehlten bislang genauere Untersuchungen zur Rezeption der Ansichten Luthers (und Melanchthons) sowie zur Diskussion der Selbsttötungsproblematik in den Schriften der lutherischen Orthodoxie des späten 16. und 17. Jahrhunderts. Auch die hierfür einschlägigen Quellen wie beispielsweise die zeitgenössischen Consilien- und Responsensammlungen sind für die Thematik bisher nicht hinreichend ausgewertet worden. 102 Die ältere Arbeit von Wilhelm Thümmel, der das umstrittene Problem der kirchlichen Bestattungsversagung über den Suizid hinausgehend umfassend behandelt hat, kann für die anstehende Analyse nur ein erster Ausgangspunkt sein. 103 Die vorliegende Untersuchung füllt somit eine Lücke der Forschung zu Kursachsen. Sie reiht sich überdies in einen größeren Forschungskontext zur Geschichte der Selbsttötung ein, der Anregungen und Impulse für eine vergleichende Einordnung der Befunde für Kursachsen bietet. Selbsttötung als Gegenstand dieser Arbeit. Von der Norm-Praxis-Dichotomie zu einer Geschichte der Implementierung von Normen in der Frühen Neuzeit Das folgende Zitat von Elisabeth Cawthon, in dem sie ihre Sicht auf die Ergebnisse der neueren Forschung zusammenfasst, verdeutlicht, weshalb die vorliegende Untersuchung erneut auf das Verhältnis von Normen und Praxis und mithin auf Prozesse der Ein- und Umsetzung von Normen fokussiert: Neuere Forschungen würden, so Cawthon, „note again and again that the residents of Western Europe found ways to mitigate the harshness of the letter of the law. And ironically [! ], often they did so through legal mechanisms or via low-levelofficials“. 104 Diese Einschätzung verdeutlicht eine eingefahrene Interpretation 101 K ÜHNEL , Selbsttötung. Einige Aspekte dieser Arbeit sind publiziert in K ÄSTNER / K ÜHNEL , Leben; K ÜHNEL , Öffentlichkeit. Solche mikrohistorisch und historisch-anthropologisch arbeitenden Studien sind bislang eher die Ausnahme, ein weiteres Bsp. ist M ERWICK , Death. 102 Vgl. für einen ersten Versuch K ÄSTNER , Bewertung. 103 T HÜMMEL , Versagung. Siehe jetzt auch H EROLD , Grundsatz. 104 C AWTHON , [Rez.] Watt (Hg.), Sin, o. Pag. <?page no="40"?> Einleitung 29 des Umgangs mit Selbsttötungen in der Frühen Neuzeit. Harte und rigide Normen werden einer vergleichsweise milden Praxis, die zudem und ironischerweise auf einer legalen Justiznutzung beruhte, gegenübergestellt. In der durchaus richtigen Beobachtung Cawthons, dass die neuere Forschung, dies als ironische Wendung darstellt, scheint mir deutlich zu werden, dass den Debatten der historischen Suizidforschung ein tendenziell beschränktes Verständnis von der Intention und Rolle von Normen für die Ausübung von Herrschaft in der Frühen Neuzeit zugrunde liegt. Forschungen, die eine im Vergleich zu den jeweils kontrastierten Normen facettenreichere, ambivalente und von vielfältigen lebensweltlichen Einflüssen durchdrungene Alltagspraxis konstatieren, sind Legion. Das Verhältnis von Normen und tatsächlichem Handeln ist ein Grundthema der Geschichtswissenschaft. Für die mich interessierenden Fragen sind zwei Ebenen dieser Diskussion bedeutsam. Erstens die Debatten darüber, aus welchen Gründen Normen überhaupt erlassen werden und welche Rolle hierbei die Alltagspraxis spielt. Zweitens Antworten auf die Frage, wann und warum Alltagshandeln von Normen abweicht. Auf der ersten Ebene siedeln sich im Rahmen der historischen Suizidforschung Studien an, die umfassende kulturelle Wandlungsprozesse als Ursachen für veränderte Normen und deren Umsetzung sowie den Wandel von Praktiken allgemein konstatieren. 105 Normen erscheinen in dieser Lesart zunächst als Ausdruck veränderter kollektiver Mentalitäten. Darüber hinaus aber erscheinen sie auch als Instrumente der Obrigkeiten, um das Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen - in einer zugespitzten Lesart: um die Bevölkerung zu disziplinieren. Es verwundert also nicht, wenn die strafenden Normen zum Suizid mitunter als Bestandteil des von Gerhard Oestreich skizzierten ‚Fundamentalprozesses der Sozialdisziplinierung’ interpretiert wurden. Allerdings wurden dabei das von Oestreich ebenso betonte Moment reaktiver Sozialregulierungen, der forschungsanleitende Hypothesencharakter seiner Ausführungen sowie die von ihm diskutierten zeitlichen Konjunkturen der Policeygesetzgebung unterschlagen. 106 105 M AC D ONALD / M URPHY , Souls; M AC D ONALD , Medicalization; M ONBALLYU , Decriminalisering; S CHÄR , Seelennöte. Grundsätzlich stellt sich in den meisten Arbeiten die Frage nach den Ursachen veränderter Normen im Verlauf der Frühen Neuzeit; etwa D IESELHORST , Bestrafung, S. 123 ff.; M ÄKINEN , Suicide, Kap. 3; M ÄKINEN u. a., Perspectives, S. 270 ff. 106 Eine solche Deutung bspw. bei S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 180. Nicht nur in diesem Beitrag wird auf O ESTREICH , Strukturprobleme, verwiesen, dem ein Hinweis auf S CHULZE , Sozialdisziplinierung, zwar stets folgt, dessen Erklärungen aber meist nicht rezipiert werden. In der <?page no="41"?> Einleitung 30 Für die zweite Ebene der Diskussion des Norm-Praxis-Verhältnisses markiert im Rahmen der historischen Suizidforschung die Dissertation von Vera Lind einen Wendepunkt, 107 denn sie stellt als grundlegenden Befund heraus, dass Selbsttötungen in der alltäglichen Begräbnispraxis bereits vor den publizistisch erhitzten Debatten aufklärerischer Zirkel und der Novellierung einzelner Normen um 1800 tendenziell entkriminalisiert waren. Empirisch untermauert Lind ihre These, indem sie eine weithin akzeptierte Praxis stiller Beisetzungen und die Handlungsspielräume von Bevölkerung und Amtsträgern in den Untersuchungs- und Entscheidungsverfahren herausstellt. Beide Aspekte würden sich, so Lind, aus jenen rigiden Normen nicht herauslesen lassen, die in den Herzogtümern Schleswig und Holstein gegolten haben, sodass von den Normen nicht auf den tatsächlichen Umgang mit Selbsttötungen im Alltag geschlossen werden könne. Mit diesem Ergebnis teilte Lind prinzipiell die Einschätzungen weiterer Forschungen, die ebenso wie sie entweder auf die Handlungsspielräume der Bevölkerung und ‚staatlicher’ Funktionsträger sowie auf kulturelle Faktoren oder die emotionale Tragweite einzelner Selbsttötungen verweisen, um zu erklären, weshalb ‚harte’ Normen nicht durchgesetzt wurden. 108 Die Diskussionen über die Ursachen des klaren Befundes einer inkongruenten Norm-Praxis-Beziehung sind mittlerweile im Rahmen der neueren Policeyforschung aber auch in der Historischen Kriminalitätsforschung 109 weiter vorangetrieben worden. Jürgen Schlumbohm hatte die Frage gestellt, ob es ein spezifisches Strukturmerkmal vormoderner Territorialstaaten gewesen sei, „Gesetze [zu erlassen], die nicht durchgesetzt werden“. 110 Schlumbohm grenzte sich, wenngleich nicht immer widerspruchsfrei, von der älteren Policey- und Rechtsgeschichte ab, die sich in erster Linie auf die Analyse von Normen beschränkt hatten. Diese Abgrenzung ergänzte er um die wichtige (von ihm aber allgemeinen Diskussion zur Sozialdisziplinierung findet sich zudem kaum ein Hinweis auf den wichtigen Beitrag von K RÜGER , Policey. 107 L IND , Selbstmord. 108 Vgl. hierzu die richtige Einschätzung der gängigen Argumentationen der Forschung bei C AWTHON , [Rez.] Watt (Hg.), Sin. 109 Vgl. etwa L UDWIG , Herz, bspw. S. 10 ff. Zum Stand der Historischen Kriminalitätsforschung siehe S CHWERHOFF , Kriminalitätsforschung; ferner K RISCHER , Forschungen. Diese jeweils mit Rückblicken und Verweisen auf ältere Überblicksdarstellungen. 110 S CHLUMBOHM , Gesetze. Ich teile grundsätzlich die von Ulrike Ludwig (L UDWIG , Herz, S. 11 Anm. 8) formulierte Kritik an Schlumbohms Beitrag, dieser hätte die in den Gesetzen formulierten Intentionen vormoderner Herrschaft zu stark auf ihre symbolischen und rhetorischen Komponenten reduziert. Siehe dagegen aber R ÜVE , Scheintod, S. 145. <?page no="42"?> Einleitung 31 deutlich überbetonte) Sicht auf die symbolischen Aspekte der frühneuzeitlichen Gesetzgebung und die Rolle der Bevölkerung bei der ‚Durchsetzung’ von Normen. Zudem beantwortete er seine in der Überschrift (rhetorisch? ) gestellte Frage, ob nicht durchgesetzte Gesetze ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates gewesen seien, mit einer These, die Tendenzen neuzeitlicher Gesetzgebung im Vergleich zum Mittelalter sichtbar machen sollte: „Ein wesentliches Charakteristikum frühneuzeitlicher Staaten scheint [! ] nun zu sein, daß sie einerseits zahlreiche Gesetze und Verordnungen erließen - im Unterschied zu früheren Jahrhunderten -, daß sie andererseits diese nur partiell durchsetzten. Dabei ist die Diskrepanz zwischen Gesetzesnorm und Rechtswirklichkeit quantitativ bedeutender und qualitativ gravierender als in den west- und mitteleuropäischen Staaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.“ 111 Diese Tendenzbestimmung hat die Rezeption Schlumbohms in einen ‚harten’ Befund verwandelt. Im Anschluss daran wurde darüber gestritten, wie bspw. die zahlreichen Klagen zeitgenössischer Beobachter über defizitäre Normdurchsetzungen 112 zu interpretieren seien sowie darüber, ob von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen Normen und Praktiken auszugehen sei. Achim Landwehr konnte gegen das Bild eines nicht selten als dichotom überzeichneten Norm- Praxis-Verhältnisses überzeugend geltend machen, dass Normen in der Frühen Neuzeit zunächst einmal Strukturen schufen und Korridore anlegten, „die das Handeln der Untertanen gebietend und verbietend beeinflussten, jedoch bewegten sich die Untertanen innerhalb dieser Korridore bei weitem nicht immer in der vorgeschriebenen Weise und modifizierten somit die normative Struktur“. 113 Ihm ging es also um ein grundlegend anderes Verständnis der Normen selbst, aus dem heraus das Verhältnis zur Praxis neu zu überdenken ist. Die neuere Forschung hat schließlich die Handlungs- und Gestaltungsspiel- 111 S CHLUMBOHM , Gesetze, S. 659. 112 Ein Problem der Darstellung von Schlumbohm war, dass er sich zwar von Vergleichen mit Staatsvorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts abzugrenzen versuchte, aber sich aus deren Begrifflichkeiten nicht befreien konnte, was sich ganz zentral in der wiederholten Verwendung des Begriffes ‚Normdurchsetzung’ zeigt wie auch in seinen Tendenzvergleichen zu - empirisch nicht belegten - Gesetzgebungsintentionen der Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts. 113 L ANDWEHR , Normdurchsetzung, S. 162. Landwehr lehnt sich hier an Anthony Giddens’ Begriff der Strukturierung an. <?page no="43"?> Einleitung 32 räume in Bezug auf die Umsetzung (aber auch schon auf die Entstehung und Einsetzung) von Normen insgesamt bestätigt. 114 In jüngster Zeit scheint in einigen wichtigen Punkten weitgehender Konsens hergestellt worden zu sein. So ist mittlerweile unbestritten, dass prinzipiell erhebliche Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Normen auftraten, wenngleich die Gründe hierfür vielfältig waren und sich nur bedingt generalisieren lassen. Auch der ältere Begriff der Normdurchsetzung ist nicht unumstritten geblieben. Gegen ihn hat Achim Landwehr dafür plädiert, von Normeinsetzung als Prozess zu sprechen, in dem Normen in „bestimmte politische, gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Verhältnisse“ eingesetzt wurden und mithin in komplexen Wechselverhältnissen zu diesen Gegebenheiten standen. Diese Gegebenheiten, so Landwehr, sind als ein konkret beschreibbarer historischer Wissens- und Erfahrungshintergrund zu verstehen. 115 Karl Härter hat in einer Vielzahl von Beiträgen betont, dass Gesetzgebungsprozesse in der Vormoderne Folgen vielschichtiger Kommunikationsprozesse waren - eine Sicht, die in der historischen Suizidforschung nahezu vollständig unberücksichtigt geblieben ist. 116 Torsten Grumbach hat zwar gegen die Akzentuierungen von Landwehr geltend gemacht, dass der Begriff der Normdurchsetzung (an dem Grumbach festhält) den tendenziellen Zwangscharakter des Prozesses der Umsetzung obrigkeitlicher Erlasse besser erfasse. Überdies wäre die vor allem von Martin Dinges in der deutschen Debatte pointiert vertretene Position, Normen seien aus- und verhandelbar, übertrieben. 117 Beide Behauptungen Grumbachs scheinen mir indes nicht stichhaltig zu sein, denn es verhält sich ja nicht so, als ob die 114 Bspw. H OLENSTEIN , Umstände. 115 L ANDWEHR , Normdurchsetzung, Zitat S. 153; siehe auch L ANDWEHR , Normen. 116 Statt vieler H ÄRTER , Gesetzgebungsprozess. In der historischen Suizidforschung hat nur Karsten Pfannkuchen systematisch gezeigt, dass es durchaus lohnt, die Diskussionen innerhalb von Regierungsbehörden neben eine Analyse einzelner Vorschriften zu stellen, um zu einer genaueren Bewertung der Gesetzestexte selbst zu gelangen; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 163 ff. Vgl. allerdings auch L IND , Selbstmord, S. 62 f., zu Diskussionen über ein Gesetz, dass spezielle Sanktionen ‚suicidal murderers’ vorsah. 117 G RUMBACH , Medicinalpolicey, S. 257 ff. Martin Dinges hat in vielen Beiträgen den Aushandlungscharakter von Normen betont. Sein Plädoyer richtete sich vor allem gegen eine dominantetatistische Perspektive. Gleichwohl will er aber die Aushandlungsprozesse selbst nicht romantisch verklären. Letztlich ist nicht zu erkennen, dass Dinges asymmetrische Konstellationen nivelliert oder bestreitet. Allerdings führt der Begriff des Aushandelns in der stark von einer obrigkeitlichen Perspektive beeinflussten Forschung nach wie vor zu Irritationen. <?page no="44"?> Einleitung 33 neueren Diskussionsbeiträge allesamt den unterschiedlich deutlich erhobenen Anspruch der Obrigkeiten auf Durchsetzung und Geltung der erlassenen Normen ausgeblendet hätten - die Akzente werden jedoch auf andere Phänomene gesetzt. Grumbachs Positionierung steht letztlich für eine Sichtweise, die Landwehr gerade überwinden möchte, indem er herausstellt, dass es eben nicht darum gehen kann, „Antworten auf die Frage nach der Effektivität von Normen zu liefern“. Vielmehr fokussiert die von ihm unterstützte Sicht „die vielfältigen Prozesse, die durch den Erlaß von Normen ausgelöst wurden.“ 118 Landwehr löst sich damit von einem Denkmodell, zu dessen Voraussetzungen die Vorstellungen vom Staat als Machtstaat einerseits und vom Durchsetzen von Willensbekundungen der Obrigkeiten gegenüber der Bevölkerung und deren etwaigen Widerständen andererseits zählen. Die von Landwehr favorisierte Sicht will dagegen unvoreingenommen auf die Folgen von Normen blicken. Diese sind zunächst systematisch zu erfassen und anschließend zu deuten. Im Folgenden wird daher vorrangig von der Einsetzung und Umsetzung von Normen gesprochen. Damit soll nicht ausgeblendet werden, dass auch repressive Maßnahmen zur Umsetzung frühneuzeitlicher Gesetze zählten. Die hier favorisierten Begriffe tragen jedoch dem Umstand Rechnung, dass Herrschaftsverhältnisse in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich als Verhältnisse beschrieben werden können, denen allein ein von oben nach unten gerichteter Wille zur Durchsetzung zugrunde lag. 119 Für die Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung von Normen wurden wiederholt die im Vergleich zum Nationalstaat westlich-moderner Prägung 120 schwache verwaltungstechnische Infrastruktur vormoderner Staaten, individuelle Defizite des Verwaltungspersonals sowie - weitaus bedeutsamer - deren Ver- 118 L ANDWEHR , Policey, S. 51. Es scheint mir hier auch nicht zufällig zu sein, dass im ‚Flaggschiff’ der neueren Policeyforschung, dem von Karl Härter herausgegebenen Sammelband ‚Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft’, die Beiträge von Holenstein und Landwehr geradezu programmatisch voranstehen. Beide Autoren haben die Diskussionen nachhaltig beeinflusst und Modelle geliefert, deren Angemessenheit es in detaillierten Fallstudien zu prüfen gilt. 119 Hierzu und mit einer umfassenden Kritik an den herkömmlichen, an dichotomen und teleologischen Denkmodellen des 19. Jahrhunderts geschulten Begrifflichkeiten und lieb gewordenen Vereinfachungen in den Darstellungen frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis M EUMANN / P RÖVE , Faszination. 120 Die Problematik dieses Vergleichs kann hier nicht weitergehend erörtert werden, doch könnte die Vorstellung einer effektiveren Umsetzung von Normen in der Moderne bzw. die Behauptung, im Gegensatz zur Vormoderne hätten erst moderne Staaten Normen mit der Intention erlassen, diese auch wirklich umzusetzen, ein sowohl an den empirischen Realitäten sowohl der Frühen Neuzeit als auch der Neuzeit/ Moderne vorbeigehendes, autosuggestives Wunschdenken sein. <?page no="45"?> Einleitung 34 flechtung in und deren Rücksichtnahme auf die Verhältnisse vor Ort verantwortlich gemacht. 121 Ebenso wiederholt ist hierbei aber auch auf den Anachronismus hingewiesen worden, dem die Perspektive auf mangelnde infrastrukturelle Vollzugspotenziale erliegt. Schon die ältere Forschung hat nach alternativen Vergleichsgrößen gesucht, die nicht den Idealtypus ‚moderner Nationalstaat’ zum Maßstab erheben. Ob es hierbei allerdings hilfreich war herauszustellen, dass im Vergleich zur Herrschaftsorganisation sog. ‚Drittweltstaaten’ der 1960-er und 1970-er Jahre etwa der protobürokratische preußische Staat des 18. Jahrhunderts geradezu modern anmutete, darf wohl eher bezweifelt werden. 122 Derartige Versuche zeigen indes, wie notwendig es ist, die Umsetzung von Normen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Gegebenheiten zu analysieren und genau in diese Richtung weist, wie oben beschrieben, die neuere Forschung. Wegweisend und spannend sind hierbei die Arbeiten von Stefan Brakensiek. Im Konsens mit der übrigen Forschung sieht auch er die Durchsetzungsfähigkeit territorialer Herrschaft ganz maßgeblich an professionelles Handeln von Herrschafts- und Funktionsträgern vor Ort rückgebunden. 123 Ähnlich wie Landwehr, der gerade nicht die Effektivität frühneuzeitlicher Gesetzgebung bestimmen will, plädiert Brakensiek dafür, nicht länger über Stärke und Schwäche frühmoderner Staaten zu sinnieren, sondern die Qualitäten des lokalen Personals und damit notwendigerweise die Aushandlungsprozesse von Normen vor Ort zu untersuchen. Hierzu entwirft Brakensiek eine Matrix, die dabei helfen soll, die Stellung lokaler Amtsträger zu bestimmen: Insbesondere die Grundlagen lokaler Macht, das amtliche Aufgabenregime mit seinen spezifischen Normen und Verfahrensweisen sowie die kulturellen Bedingungen obrigkeitlichen Handelns charakterisieren ein institutionelles Arrangement, innerhalb dessen die Stellung lokaler Amtsträger und damit die konkreten Prozesse der Umsetzung von Normen verortet werden können. 124 Brakensiek charakterisiert frühneuzeitliche Herrschaft vor Ort als personalisierte Herrschaft, deren je individuelle Unterschiede ein charakteristischer Faktor des 121 S CHLUMBOHM , Gesetze, S. 656. Am Beispiel des medizinischen Personals und deren Einflussnahmen auf die zu erstatteten Berichte im Medizinalwesen auch D INGES , Policey, S. 280 f. 122 Dieser Vergleich bei S PITTLER , Wissen, S. 600 f. 123 B RAKENSIEK , Amtsträger, S. 50. Vgl. exemplarisch für die weitere Forschung G RUMBACH , Medicinalpolicey, S. 259; H ÄRTER , Gesetzgebungsprozess; H OLENSTEIN , Umstände; L UDWIG , Tätigkeit. 124 B RAKENSIEK , Amtsträger, S. 52. <?page no="46"?> Einleitung 35 gesamten Systems waren. 125 Allein Unterschiede bei der Umsetzung von Normen zu benennen und daraus ein Durchsetzungsdefizit abzuleiten, greift demnach zu kurz. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass sich das „Regiment des Fürsten in der Provinz […] als eine auf begrenzte Akzeptanz gestützte und am Konsens orientierte Herrschaft“ darstellt. 126 Mit dem Begriff der ‚akzeptanzorientierten Herrschaft’ scheint mir ein Fluchtpunkt der bisherigen Diskussion beschrieben, der hier als Ausgangspunkt und Inspiration für die weitere Untersuchung dienen soll. Es kann nun aber nicht allein gewinnbringend sein, die von der neueren Forschung vorgetragenen Thesen lediglich am kursächsischen Beispiel abzuklopfen. Die neuere Forschung liefert vielmehr Anregungen für eine eigenständige Untersuchung und eigene Überlegungen. Mit dem hier untersuchten Quellencorpus, das sich zu großen Teilen aus Berichten örtlicher Herrschafts- und Funktionsträger zusammensetzt, wird, so der Ansatz, eine bislang vernachlässigte Perspektive in den Blick genommen: die Rückbindung lokaler Herrschaftsprozesse an die zentralen Regierungsbehörden durch schriftliche Kommunikation und die Reaktionen, die diese Rückkopplung im Bereich der Gesetzgebung auslöste. Nachfolgend wird also nicht einfach das Arbeitsprogramm der neueren Forschung abgearbeitet - dies könnte ich mit den dieser Arbeit zugrunde gelegten Quellen auch gar nicht leisten. Vielmehr werden die Befunde zur ‚akzeptanzorientierten Herrschaft’ und zur Einsetzung von Normen als gegeben vorausgesetzt und durch eine Analyse der rekommunizierten Inhalte von Herrschaftsausübung ergänzt. ‚ad fontes’ Gedruckte Quellen Die Forschung hat einen Großteil der gedruckten Quellen, die das Thema Suizid behandeln, bereits ausgewertet. Das gilt besonders für das 18. Jahrhundert. Auf diesen Vorarbeiten kann aufgebaut werden. Gedruckte Quellen 127 125 B RAKENSIEK , Amtsträger, S. 56. Brakensiek erhebt hier überzeugend zur Ausgangsvoraussetzung weiterer Überlegungen, was S CHLUMBOHM , Gesetze, S. 655 f. bereits als „ein strukturelles Gegengewicht gegen die Durchführung des herrscherlichen Gesetzesbefehls innerhalb der administrativen Maschinerie selbst“ benannt hat. Vgl. ebd. für Angaben zur älteren Forschung. 126 B RAKENSIEK , Amtsträger, S. 58. 127 Mit Unterstützung der ‚Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden’ (SLUB) konnte die vom Harald Fischer Verlag neu herausgegebene Suizidbibliothek von <?page no="47"?> Einleitung 36 werden daher vor allem dann einbezogen, wenn sie - wie etwa theologische Consiliensammlungen - für das Thema Selbsttötung noch nicht systematisch berücksichtigt wurden, oder wenn meine Interpretation von denen anderer Studien abweicht. Für das 16. und 17. Jahrhundert fehlt bislang eine inhaltlich vergleichende Zusammenschau vorhandener gedruckter Quellen. Die vorliegenden Untersuchungen haben sich meist nur Teilaspekten wie der Thematisierung von Selbsttötungen in den konfessionellen Auseinandersetzungen, 128 der Seelsorge Schwermütiger 129 oder einzelnen theologischen Traktaten gewidmet. Diese Teilbefunde aufgreifend werden in dieser Studie unterschiedliche Quellengattungen vergleichend betrachtet: von gedruckten Regional-Chroniken, von Handlungsanweisungen oder Ratschlägen in Briefen, über Predigten hin zu Consiliensammlungen. Die Darstellung der für Kursachsen relevanten Normen und Spruchpraktiken für die Frühphase der Untersuchung wird durch eine Analyse der straf- und kirchenrechtlichen Kompendien Benedict Carpzovs ergänzt. Für die Spätphase meiner Untersuchung, in der die sächsische Policeygesetzgebung in den Fokus der Analyse gerückt wird, erschließen sich die Normen weitgehend aus den verschiedenen Ausgaben und Bänden des Codex Augusteus. Ergänzend wurden auch Schriften herangezogen, deren Autoren in die hier untersuchten Gesetzgebungsprozesse eingebunden waren. Ungedruckte Quellen Die vorliegende Arbeit stützt sich vorrangig auf unveröffentlichtes Archivmaterial, das hier zum ersten Mal der Forschung vorgestellt wird. Da bislang keine systematische Untersuchung der Thematik für Sachsen vorlag, wurden zunächst die einschlägigen Bestände der zentralen Regierungs- und Verwaltungsbehörden im ‚Sächsischen Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv Dresden’ ausgewertet. Neben Quellen des Geheimen Rates (Geheimes Archiv), des Geheimen Konsiliums und des Geheimen Kabinetts, der Landesregierung sowie der Kommerziendeputation wurden auch die Bestände des Oberkonsistoriums (ohne die Visitationsakten), 130 des Appellationsgerichts, des Geheimen Kriegs- Hans Rost angeschafft werden. Dies hat den Zugriff auf das über Sachsen hinausweisende Quellenmaterial wesentlich erleichtert. 128 M IDELFORT , Selbstmord. 129 K OCH , Gabe. 130 Der Fragenkatalog für die Visitatoren C OD . A UG ., Sp. 619 ff. und neue Studien (S CHERER , Visitationen) lassen vermuten, dass Visitationsprotokolle keine ergiebige Quelle für diese Unter- <?page no="48"?> Einleitung 37 ratskollegiums und des Dresdner Collegium medico-chirurgicum ausgewertet. Aufgrund der problematischen Überlieferungssituation konnten dagegen die Spruchbände des Leipziger Schöppenstuhls ebenso wenig berücksichtigt werden wie die Überlieferung adeliger Patrimonialgerichte für die lokale Ebene. 131 Neben einer Vielzahl von Faszikeln, die Berichte aus den Ämtern 132 sowie von städtischen und grundherrlichen Gerichten beinhalteten, konnten auch das bislang unentdeckte Leichenbuch der Dresdner Anatomie, eine für die Frühe Neuzeit einzigartige serielle Quelle, und die noch erhaltenen Jahreshauptberichte der Kommerziendeputation ausgewertet werden. Diese Quellen ermöglichen unter anderem Analysen des Sozialprofils von Suizidenten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Überlieferung der zentralen Landesbehörden spiegelt die sich wandelnde Bedeutung von Selbsttötungen als ein tendenziell wachsendes Problem ihrer Administrierung und der territorialobrigkeitlichen Schlichtung von Auseinandersetzungen über Jurisdiktionskompetenzen. Ferner spiegelt diese Überlieferung ein ordnungspolitisch motiviertes Programm zur Suizidprävention, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts implementiert wurde. Meine Geschichte der Selbsttötung in Kursachsen ist also in erster Linie eine Geschichte ihrer Überlieferung in den Ablagen der landesherrlichen Zentraladministration inklusive der daraus resultierenden Konsequenzen für die methodischen Zugriffe und die Reichweite der Thesenbildungen. Zu diesen Konsequenzen zählen etwa die Vorstrukturierung einzelner Themen durch die Quellen und die chronologische suchung sein dürften, weshalb Sie nicht in diese Untersuchung einbezogen wurden. Schließlich aber sprach auch der unbefriedigende Forschungsstand zu den kursächsischen Visitationen gegen einen systematischen Einbezug. Ferner konnten die durchaus in größerer Anzahl vorhandenen, früher dem Bestand des Geheimen Konsiliums zugeordneten ‚Oberkonsistorialberichte’ nicht einbezogen werden, weil diese wegen Bestandsrevisionen nicht zugänglich bzw. als fehlend deklariert waren; so bspw. ehemals S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, H.St.A. 4563, „Ober-Consistorial Berichte 1702- 1713“ (Bestellung am 19. Februar 2007; als fehlend deklariert). 131 Hierzu L UDWIG , Herz, S. 30; S CHWERHOFF , Zentren, S. 66 f. 132 Von den exemplarisch geprüften Ämtern konnten lediglich für das Amt Dresden einige Fälle ausgemacht werden, die jedoch allesamt aus späterer Zeit stammen; S ÄCHS HS T A D RESDEN , Findmittel der Bestände 10046 (Amt Dippoldiswalde), 10047 (Amt Dresden), 10051 (Kreisamt Freiberg), 10062 (Amt Pirna). Eine Durchsicht aller in den Amtsüberlieferungen bzw. den Überlieferungen städtischer Gerichte vorhandenen Gerichtsbücher erwies sich nach einigen Probebohrungen für die vorliegende Arbeit als nicht zielführend, wenngleich Zufallsfunde darauf hindeuten, dass in unbekannter Zahl Selbsttötungen verzeichnet sind. Die von mir aufgenommenen Einzelfunde sprechen jedoch nicht dafür, dass eine weitere Erhebung die Befunde der vorliegenden Studie substanziell beeinflusst hätte; etwa SächsHStA Dresden, 10686, Nr. 420, fol. 40. Ich danke Ulrike Ludwig (Dresden) für den Hinweis auf diese Quelle. <?page no="49"?> Einleitung 38 Schwerpunktbildung im 18. Jahrhundert. Diese Beschränkungen waren in Kauf zu nehmen, denn die Sichtweisen der untersuchten Landesbehörden waren für diese Studie von besonderem Interesse, weil sich Prozesse der Ein- und Umsetzung von Normen an der verschriftlichten Kommunikation dieser Behörden studieren ließen. Besonders aufschlussreich waren dabei Dokumente, aus denen sich Einsichten in die inhaltliche Verknüpfung von Berichten lokaler Herrschafts- und Funktionsträger über alltägliche Vorkommnisse mit der Initiierung von Gesetzgebungsprozessen ergaben. Für die Frühphase der Untersuchung fehlen solche Quellen der mittleren und zentralen Administration weitgehend. 133 Die Untersuchung gedruckter Quellen konnte für diesen Zeitraum lediglich exemplarisch durch Dokumente einzelner Untersuchungsverfahren ergänzt werden. Die Gesamtheit lokalen Verwaltungsschriftgutes aufzuarbeiten war im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Verzichtet wurde auch auf eine Auswertung durchaus vorhandener Überlieferungen angrenzender Territorien, um den räumlichen Fokus der Studie nicht zu verzerren. 134 Im ‚Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz’ wurde für den Bereich des Gesamtkonsistoriums Glauchau und im Archiv der Superintendentur Pirna (‚Ephoralarchiv Pirna’) exemplarisch jeweils eine lokale Tiefenbohrung durchgeführt. Diese beiden Archive wurden nach einer Vorrecherche im ‚Landeskirchenarchiv Dresden’ ausgesucht, weil sie zum einen relevante Bestände erkennen ließen und sich zum anderen als zugänglich er- 133 Für das 18. Jahrhundert sind dagegen auch in den Ablagen einzelner Gemeinden in den Beständen der zentralen Landesbehörden Selbsttötungen verzeichnet. Für Dresden bspw. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9839/ 11, Loc. 9839/ 13, Loc. 9839/ 14, Loc. 10120/ 5, Loc. 10120/ 6. 134 Vgl. bspw. für die benachbarte Grafschaft Henneberg im 16. Jahrhundert, die nach Aussterben der gräflichen Linie 1583 durch die umliegenden Territorialherrschaften inkorporiert wurde, das Gemeinschaftsarchiv für die Grafschaft Henneberg im Staatsarchiv Meiningen. Dessen online zur Verfügung stehende Findbücher informieren über einige Selbsttötungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert; Johannes Möttsch [Bearb.]: Thüringisches Staatsarchiv Meinigen. Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv Sektion IV, Meinigen 2001, Nr. 210 [URL: http: / / www.thueringen.de/ imperia/ md/ content/ staatsarchive/ meiningen/ findbuch/ ghaiv.pdf (zuletzt abgerufen am 9. August 2009)]; Johannes Möttsch [Bearb.]: Thüringisches Staatsarchiv Meinigen. Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv Sektion VI, Bestandsnr.: 410106, Meinigen 2000, Nr. 606, und insbes. die Nr. 670 ff. [URL: http: / / www.thueringen.de/ imperia/ md/ content/ staatsarchive/ meiningen/ findbuch/ ghavi.pdf (zuletzt abgerufen am 9. August 2009)]. Zur rechtlichen und kriminalitätshistorischen Sonderstellung der Grafschaft Henneberg zwischen 1583 und 1660 siehe F ÜSSEL , Land; S CHWERHOFF , Zentren. <?page no="50"?> Einleitung 39 wiesen. 135 Für die Überarbeitung zur Drucklegung habe ich mich entschlossen, die ursprünglich aus pragmatischen Erwägungen ausgesparten Fallakten der Richterstube des Stadtarchivs Leipzig ergänzend heranzuziehen. Die dort gesichteten Akten konnten die gewonnenen Befunde weiter untermauern. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Studie gliedert sich in drei Teile, die sowohl inhaltlich systematisch als auch chronologisch untergliedert sind. Teil A überwölbt die spätere Analyse. Hier wird die Struktur der Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen in Kursachsen idealtypisch vorgestellt, um zu erklären, welche Quellen durch diese Verfahren produziert wurden. Anschließend werden die wichtigsten Quellen (summarische Berichte der Ämter und pastorale Attestate über den Lebenswandel) kritisch analysiert. Allgemein zielt die Quellenkritik darauf, zu bestimmen, welche Fragen sich mit diesen Quellen beantworten lassen. Die Teile B und C folgen dann sowohl einer thematischen als auch einer chronologischen Untergliederung des Untersuchungszeitraums. Dieses zweifache Gliederungsprinzip resultiert aus der Tatsache, dass erst nach 1700 in Kursachsen landesherrliche Gesetze erlassen wurden, die verbunden mit einem allgemeinen Geltungsanspruch die Verfahrensweisen nach und den Umgang mit Selbsttötungen regelten. Das bedeutet, dass sich nach 1700 die normativen Rahmenbedingungen für die Behandlung von ‚Selbstmördern’ änderten. Deshalb gilt es zunächst in Teil B zu klären, in welchen Texten mit normativem Geltungsanspruch vor 1700 über Selbsttötungen diskutiert wurde und welche Auswirkungen diese Diskussionen auf die Begräbnispraxis in Kursachsen hatten. Ziel der Analyse ist die Beschreibung jenes Wissens und jener Erfahrungen, Einstellungen und Praktiken im Umgang mit Selbsttötungen, die gewissermaßen die Prinzipien und das Fundament der nach 1700 erlassenen Landesgesetze bildeten. Dieser Hintergrund macht verständlich, welchen Intentionen Ein- und Umsetzung landesherrlicher Normen nach 1700 folgten und ob sich 135 In beiden Fällen zeigte sich jedoch, dass auch die Überlieferung kirchlicher Behörden die Quellengrundlage dieser Arbeit für die Zeit vor 1700 kaum systematisch verbessern konnte. Auf die Gründe, die zudem je nach Archiv unterschiedlich sind und noch einmal besonders augenfällig in der Überlieferung der größten Superintendentur des Landes - Freiberg - werden, kann hier nicht systematisch eingegangen werden. Die sächsischen Ephoralarchive sind überwiegend schlecht zugänglich, was vor allem an der faktisch nicht vorhandenen Personalausstattung dieser Archive liegt. Ich danke für Unterstützung im Ephoralarchiv Pirna Frau Albrecht und Herrn Wenzel. <?page no="51"?> Einleitung 40 in diesen Prozessen ein Einstellungswandel gegenüber Selbsttötungen ausdrückte. Die Analyse konzentriert sich in Teil C, der gleichsam der Hauptteil dieser Arbeit ist, erstens auf einen landesherrlichen Befehl von 1719, der die Kompetenzen der Konsistorien und weltlichen Gerichte voneinander abgrenzte. Zweitens werden Verordnungen in den Blick genommen, die die Versorgung der anatomischen Institute mit Leichen regelten und nach denen seit 1723 auch ‚Selbstmörder’ abzuliefern waren. Weiterhin wird drittens die Umsetzung eines Mandats untersucht, mit dem die Landesherrschaft seit 1773 ausnahmslos alle Untertanen dazu verpflichtete, Verunglückten und ‚versuchten Selbstmördern’ das Leben zu retten. Viertens und schließlich wird ein Mandat untersucht, das nicht nur die weiterhin strittigen Begräbnisfragen regelte, sondern seit 1779 auch eine obrigkeitlich verordnete Fürsorgepflicht gegenüber Suizidalen implementieren sollte. Ein kurzer Ausblick auf das 19. Jahrhundert beschließt diesen Teil. Im abschließenden Fazit werden einige zentrale Ergebnisse der Arbeit mit Blick auf die oben skizzierten Forschungsdebatten zum Prozess der Entkriminalisierung der Selbsttötung im ausgehenden 18. Jahrhundert zusammengefasst. Rahmen der Untersuchung Raum und Zeit Mit dem albertinischen Kursachsen wird eine Kernregion des lutherischen Protestantismus im Alten Reich untersucht, die vergleichsweise früh eine vorbildhafte Kirchenorganisation, Ämterstruktur und Gerichtsverfassung ausprägte. Im gewählten Untersuchungszeitraum zersplitterte das Territorium nicht wie etwa in den ernestinischen Herzogtümern. Der Beginn der Untersuchung setzt aus inhaltlichen Gründen vor der Übertragung der Kurwürde 1547 an, wenngleich sich das Hauptaugenmerk der Analyse auf die Entwicklungen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts richtet. Die Zäsur des Wiener Kongresses 1815 bildet einen räumlichen, zeitlichen und politischen Einschnitt, mit dem diese Untersuchung endet. Mehr als die Hälfte des Territoriums und zwei Fünftel der Bevölkerung gingen verloren. Hinzu kamen weitere durch direkte und indirekte Kriegseinwirkungen verursachte Verluste im verbliebenen Königreich Sachsen. <?page no="52"?> Einleitung 41 Kursachsen kann, wie es zuletzt Falk Bretschneider formuliert hat, „als ein exemplarischer Mittelstaat des Alten Reiches gelten“. 136 Allerdings zeichnete sich das albertinische Sachsen nicht durch ein einheitliches Territorium in dem Sinne aus, dass der Kurfürst in allen Landesteilen auch die gleichen Herrschaftsrechte besaß. Die folgenden Umstände erschweren eine gleichbleibende Abgrenzung des Untersuchungsraums zwischen 1547 und 1815: vielfältige territoriale Veränderungen während der Arrondierungspolitik im 16. Jahrhundert; die auch in den folgenden Jahrhunderten existierenden inkorporierten und mit Sonderrechten ausgestatteten Herrschaften (bspw. die der Schönburger 137 oder die sächsischen Sekundogenituren) bzw. Landesteile (bspw. die Lausitzen); 138 eine wechselhafte Geschichte der Kirchenverwaltung auf der regionalen Ebene. 139 Ferner ist die spannungsgeladene Vielfalt der Kompetenzen in der Rechtsprechung innerhalb Kursachsens zu beachten. So übten bspw. die Ämter zwar prinzipiell „in erster Instanz die Obergerichtsfunktionen des Landesherrn in ihrem Bezirk aus“. 140 Eingeschränkt wurde diese Kompetenz jedoch immer dann, wenn diese Funktion und Kompetenz auch Städte oder schriftsässige Grundherren beanspruchten. Thomas Klein hat diesen Umstand wie folgt resümiert: „In den Ämtern bestand eine bunte Vielfalt der Gerichts- und Verwaltungszuständigkeiten.“ 141 Die lokale Überlieferung bietet daher ein sehr fragmentiertes und uneinheitliches Bild, dem durch Rückgriff auf die Überlieferung der Landesherrschaft nur bedingt begegnet werden kann. Diese bietet dagegen die Möglichkeit eines systematischen Zugriffs, der durch exemplarische Auswertungen lokaler Überlieferungen ergänzt wird. 136 B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 31. 137 S CHLESINGER , Landesherrschaft. 138 Vgl. etwa H ERZOG , Sonderstellung; zur rechtlichen Sonderstellung der Oberlausitz jetzt auch ein eingängiger Überblick bei M ARQUARDT , Bürgertestamente, S. 31 ff.; am Bsp. der Stadt Budissin/ Bautzen siehe die Beiträge in S CHWERHOFF u. a. (Hg.), Eide. 139 Vgl. etwa T HOMAS , Aufbau. 140 B LASCHKE , Behördenkunde, S. 348. 141 K LEIN , Kursachsen, S. 833. Dort auch ein konziser Überblick zu den folgenden Abschnitten. Vgl. ferner zu den historischen Wurzeln dieses Umstands B LASCHKE , Raumordnung; B LASCHKE , Behördenkunde; L UDWIG , Justitienfürst, S. 49 Anm. 167. Jetzt L UDWIG , Herz, S. 51 f. Anm. 177. <?page no="53"?> Einleitung 42 Herrschaftsorganisation Die Landeskirche im 16. Jahrhundert Zu Beginn des 16. Jahrhunderts präsentierte sich der sächsisch-thüringische Raum als eine territoriale Gemengelage der zwei wettinischen Häuser. Das Haus Wettin führte bis zur Leipziger Teilung 1485 den nach den Habsburger Territorien größten geschlossenen Herrschaftsverband im Reich. 142 Die Leipziger Teilung intendierte zwar ursprünglich keine dauerhafte Separierung der wettinischen Länder, 143 weshalb die Territorien eng miteinander verzahnt blieben und die Brüder Ernst (reg. 1464-1486), der als der ältere die Kurwürde behielt, und Albrecht (reg. 1464-1500), der als Herzog den meißnischen Landesteil wählte, sich bspw. auf eine gemeinsame Herrschaft über die erzgebirgischen Silberbergwerke einigten. Bekanntlich setzte sich die Reformation Luthers zunächst im ernestinischen Sachsen durch. 144 Die engen Verbindungen zwischen den wettinischen Teilterritorien verhinderten dabei von Beginn an, dass im zunächst beim katholischen Lager verbleibenden albertinischen Herzogtum Sachsen die Bevölkerung konfessionell separiert wurde. 145 Auch konnte der nach der Leipziger Disputation 1519 in offener Gegnerschaft zu Luther agierende Herzog Georg (reg. 1500-1539), 146 bedingt durch den frühen Tod seiner Söhne und weil sein Testament nicht rechtsgültig geworden war, nicht verhindern, dass sein Bruder und Nachfolger Herzog Heinrich der Fromme (reg. 1539-1541) im Jahr 1539 mit breiter Unterstützung durch den ernestinischen Kurfürsten Johann Friedrich I. (reg. 1532-1547; als Hz. 1547-1554) und willkommener Unterstützung 142 K ELLER , Landesgeschichte, S. 19 ff. mit Karten, S. 69 f. 143 B LASCHKE , Raumordnung, S. 100 weist darauf hin, dass man 1485 auch keine Grenze im modernen Sinne zog, sondern vielmehr die Zugehörigkeit von Ämtern und Herrschaften (die organisch gewachsen als selbstständige Besitzeinheiten gelten können, wenngleich sie administrativ höchst unselbstständig waren) zu einer der beiden wettinischen Linien regelte. 144 J UNGHANS , Ausbreitung; W ARTENBERG , Entstehung; siehe auch die Literaturangaben im Anhang von J UNGHANS (Hg.), Jahrhundert. Zu den ernestinischen Kurfürsten bis zum Verlust der Kurwürde siehe S CHIRMER , Kurfürsten. 145 B LASCHKE , Wechselwirkungen, S. 436; K ELLER , Landesgeschichte, S. 167; S MOLINSKY , Sachsen, S. 13 f. 146 Vgl. zu den Gründen der Gegnerschaft zwischen Herzog Georg und Luther L UDOLPHY , Ursachen. Zu den wettinischen Herzögen bis zur Übernahme der Kurwürde siehe B ÜNZ / V OLK- MAR , Herzöge. <?page no="54"?> Einleitung 43 der Wittenberger Theologen auch im albertinischen Sachsen die Reformation einführte. 147 Die aus der lutherischen Reformation folgenden Konsequenzen des Aufbaus einer spezifischen landeskirchlichen Verwaltung 148 sowie die Wechselwirkungen zwischen Reformation und Ausbau des vormodernen Territorialstaats 149 sind für die vorliegende Arbeit von erheblicher Bedeutung. Ich greife die Zäsur der Reformation auf, um am Beispiel schriftlicher und verschriftlichter Äußerungen von Luther die Geschichte der Selbsttötung in Sachsen einzuleiten. 150 Die Struktur der neu entstehenden Landeskirche wurde im Wesentlichen unter Herzog/ Kurfürst Moritz (reg. 1541-1553; Kf. seit 1547) 151 gefestigt, der durch die Wittenberger Kapitulation neben dem Kurkreis und der Kurwürde 1547 auch die übrigen ernestinischen Gebiete östlich der Saale erwarb. In seine Regierungszeit, genauer in das Jahr 1542, datieren auch die ersten überlieferten Äußerungen Luthers zu konkreten Suizidfällen im albertinischen Sachsen. Luther war von seinem langjährigen Gefährten Anton Lauterbach, dem ersten Superintendenten Pirnas, um Rat nach einigen Selbsttötungen gebeten worden. Die Superintendenturen waren neu geschaffene Institutionen. Sie waren nach den Verwaltungsbereichen der Ämter gegliedert und als übergemeindliche Betreuungsinstanzen angelegt. Sie blieben eng an die Landesherrschaft angebunden. Die Superintendenten wurden direkt vom Landesherrn eingesetzt und sollten „in einem von der landesstaatlichen Verwaltungspraxis vorgegebenen Bereich als landesherrliche Beauftragte für Kirchenangelegenheiten Kontrollfunktionen übernehmen“. 152 Um diese Posten besetzen zu können, benötigte man in zunehmendem Maße qualifizierte Theologen bzw. qualifiziertes Kirchenpersonal. Deshalb griff der Landesherr in der Frühzeit der Reformation im albertinischen Sachsen auf Personal aus dem ernestinischen Wittenberg zurück. In Angelegenheiten weltlicher Jurisdiktion und Ordnung sollten sich die 147 W ARTENBERG , Entstehung, S. 69 ff. Im Übrigen drängte Heinrich 1539 auch die Grafen von Schwarzburg in seiner Rolle als Lehnsherr zur Einführung der Reformation in ihren Grafschaften. 148 Zum Überblick S MOLINSKY , Sachsen. T HOMAS , Wirkungen. 149 Stellvertretend für die landeshistorische Forschung trotz fragwürdiger teleologischer Darstellung B LASCHKE , Wechselwirkungen. 150 Teil B, Kap. 3. 151 Klassisch B LASCHKE , Moritz. Jetzt R UDERSDORF , Moritz. 152 T HOMAS , Aufbau, S. 107. Vgl. zum Amt des Superintendenten auch schon N OBBE , Superintendentenamt (hier Teil drei). Kurz auch W ARTENBERG , Entstehung, S. 77. Bei Entscheiden in Ehesachen war im Übrigen die Beteiligung des jeweiligen Amtes vorgeschrieben. <?page no="55"?> Einleitung 44 Superintendenten aber ebenso enthalten wie die theologischen Mitglieder der Konsistorien. Nach dem Tod von Kurfürst Moritz widmete sich sein Nachfolger Kurfürst August (reg. 1553-1586) 153 der Konsolidierung der inneren Verhältnisse. Vor allem die zentrale Landesverwaltung wurde ausgebaut. Seit 1554 wurde der sukzessive Erwerb kleinerer Herrschaften sowie die Verständigung mit den Ernestinern in territorialen Streifragen vorangetrieben. Erworbene Herrschaften wurden in der Regel in Ämter umgewandelt und so in die bestehende Verwaltungsstruktur eingegliedert. Nach und nach gelang es auf diesem Weg, das albertinische Sachsen zu einem frühneuzeitlichen Flächenstaat auszubauen und das Territorium zu arrondieren. Dem gleichen Ziel dienten auch die Säkularisierungen respektive Sequestrationen ehemals größerer Klosterherrschaften wie beispielsweise Altzella und Remse. Andere vormalige Grundherrschaften, hierzu zählten beispielsweise die Besitzungen des Klosters Nimbschen, wurden den neu gegründeten Landesschulen zugewiesen, die damit ihren materiellen Unterhalt bestreiten konnten. Überhaupt wurde die landesherrliche Aufsicht über das höhere Bildungswesen verstärkt, weil die neuen Funktionen und Einrichtungen der Landesherrschaft nach fachlich qualifizierten Amtsträgern verlangten. 154 Im Zuge dieser territorialen Arrondierung und der Ausgestaltung des Landeskirchensystems wurden auch die drei Bistümer Merseburg (1544/ 1561), Naumburg (1564) 155 und Meißen (1581) dem albertinischen Sachsen durch landesherrliche Administraturen angegliedert. 156 Die ehemaligen Hochstifte blieben in ihrer Verwaltung weitgehend eigenständig und wurden dem Geheimen Rat unterstellt. 157 Der übergemeindlichen Ebene der Kirchenverwaltung folgten als nächsthöhere Instanzen auf Landesebene die Konsistorien, die an den Konsistorialorten mit den Superintendenturen personell verknüpft waren. 1545 wurden in Merseburg und Meißen zwei Konsistorien eingerichtet. Das Merseburger Konsistorium, das zunächst die Amtsgeschäfte des dortigen Koadjutors Georg von Anhalt unterstützen sollte, wurde 1550 nach Leipzig verlegt. Das 153 B RUNING , August. 154 B LASCHKE , Wechselwirkungen, S. 440; S MOLINSKY , Sachsen, S. 22 f. 155 Luther selbst hatte bekanntlich 1542 Nikolaus Amsdorf als evangelischen Bischof zu Naumburg eingeführt und geweiht. Dessen Rechtsverhältnis zur bereits bestehenden Superintendentur blieb jedoch ungeklärt, sodass Konflikte über die Amtskompetenzen an der Tagesordnung waren; N OBBE , Superintendentenamt, S. 408. 156 K ELLER , Landesgeschichte, S. 169 f.; S MOLINSKY , Sachsen, S. 23 f. 157 Zumindest in den entsprechenden Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden fanden sich keine relevanten Quellen für die vorliegende Arbeit. <?page no="56"?> Einleitung 45 Meißner Konsistorium, ursprünglich als Ersatz für die entfallene bischöfliche Verwaltung eingerichtet, wurde 1580 als Oberkonsistorium nach Dresden übergesiedelt. Es setzte sich aus einem Präsidenten sowie je zwei weltlichen und theologischen Räten zusammen, darunter der Dresdner Superintendent. Das bereits existierende Konsistorium in Wittenberg blieb auch nach dem Übergang des Kurkreises an das albertinische Sachsen erhalten, ebenso die dortige Universität. 158 Im Kurkreis angesiedelten Herrschafts- und Gerichtsträgern war es weiterhin erlaubt, sich in Rechtsfragen an die Wittenberger Spruchgremien zu wenden. Für das 16. Jahrhundert ist zu betonen, dass das Augenmerk der Landesherren in Bezug auf kirchliche Angelegenheiten der Konsolidierung der Landeskirche vor dem Hintergrund zahlreicher Konflikte und theologischer Streitigkeiten galt, so etwa um das Augsburger Interim, die Auseinandersetzungen mit den sog. ‚Gnesiolutheranern’, den ‚Kryptocalvinisten’ und den Wirren um die ‚Zweite Reformation’ unter Kurfürst Christian I. (reg. 1586-1591). 159 Für die Konsolidierung der lutherischen Landeskirche nach dem Amtsantritt von Kurfürst August stehen zwei bedeutende Dokumente: Das Konkordienbuch von 1580, das als ‚corpus doctrinae’ das orthodoxe Luthertum zu anderen Lehren abgrenzte und eine kirchliche Lehrnorm festlegte einerseits. Und die Kirchenordnung von 1580 andererseits, welche die kursächsische Kirchenverfassung ausgestaltete. Die große Kirchenordnung von 1580 stellte, wie Ralf Frassek bemerkt hat, kein genuines Kirchenrecht mehr dar, weil sie - wie andere Kirchenordnungen auch - von der weltlichen Obrigkeit erlassen worden war. 160 Sie regelte unter anderem, dass die Konsistorien in Leipzig und Wittenberg dem nach Dresden verlegten ehemaligen Meißner Konsistorium untergeordnet 158 Hierzu bemerkt Ulrike L UDWIG , Justitienfürst, S. 41: „Mit der Erlangung der Kurwürde hatten die albertinischen Kurfürsten 1547 von ihren ernestinischen Nachbarn mit dem Hofgericht, der Juristenfakultät, dem Konsistorium und dem Schöppenstuhl in Wittenberg einen wesentlichen Teil ihrer späteren Behördenorganisation hinzugewonnen. Gerade der Umstand, dass diese Gremien durchweg dem Landesherrn unterstanden und nicht wie der Leipziger Schöppenstuhl zu dieser Zeit außerhalb eines landesherrlichen Zugriffs lagen, machte es einfacher, eine zentralisierte Behördenorganisation zu etablieren. Der entscheidende Vorteil von bestehenden Spruchbehörden gegenüber neu zu schaffenden lag darin, dass ihre Legitimation aus dem Gewohnten heraus bereits bestand und sie als Sachverständigengremium weithin Anerkennung genossen.“ 159 N ICKLAS , Christian. Kurz zur ‚Zweiten Reformation’: K ELLER , Landesgeschichte, S. 170 ff.; S MOLINSKY , Sachsen, S. 24 ff.; W ARTENBERG , Entstehung, S. 84 ff. Ausführlicher K OCH , Ausbau. Vgl. weiterführend die Literaturhinweise in den zitierten Arbeiten. 160 F RASSEK , Buch, S. 69. Zum Kontext der Entstehung der Kirchen- und Universitätsordnung von 1580 jetzt umfassend L UDWIG , Philippismus. <?page no="57"?> Einleitung 46 wurden, das damit nun faktisch ein Oberkonsistorium wurde. 161 Darüber hinaus wurden Fragen der Visitation detailliert geregelt. 162 Im Zuge eines calvinistischen Staatsprojektes unter Christian I. war das Oberkonsistorium zwischenzeitlich nach Meißen rückverlegt worden. In dieser Zeit fand auch ein Austausch von Teilen des Kirchenpersonals statt. Die personellen Veränderungen wurden zu Beginn der 1590-er Jahre auf Druck der Landstände durch eine Visitation revidiert und auch das Meißner Konsistorium wurde 1606 endgültig nach Dresden transloziert. Hier wurde es als Oberkonsistorium mit dem 1602 geschaffenen ‚Geistlichen Rat’ vereinigt. 163 Erst um 1602-06 war der systematische Ausbau und die Rekonstituierung der kursächsischen Landeskirche halbwegs abgeschlossen und zu einem Ruhepunkt gekommen. Von da an konnte die zentrale Administrierung der Kirchenverwaltung (‚Stabsdisziplinierung’) einsetzen, die sich in einer rasch ausdifferenzierenden Verwaltungstätigkeit des Dresdner Oberkonsistoriums ausdrückte. Die Justizverwaltung im 16. Jahrhundert: Regierungsbehörden, Ämter, Gerichte Nach der Wittenberger Kapitulation 1547 hatte sich das albertinische Herrschaftsgebiet nahezu verdoppelt. Dies erzwang neben organisatorischen Anstrengungen, um die neuen Territorien administrativ einzuflechten, auch eine Restrukturierung der zentralen Verwaltungsbehörden. 164 1547 wurde eine in Hofrat und Kanzlei gegliederte zentrale Verwaltung errichtet, die fortan als Landesregierung (seit 1548 auch offiziell als Regierung bezeichnet) agierte. Diese war zunächst noch völlig unspezifisch für die Beförderung der Wohlfahrt aller Untertanen zuständig. Neben der Kompetenzminderung durch die kurfürstlichen Kammerkollegien entstand der Landesregierung im Jahre 1574 mit dem Geheimen Rat eine übergeordnete Behörde, die von nun an als unmittelbares Organ des Landesherrn fungierte. Dieser Geheime Rat war in außenpolitischen Angelegenheiten, der Reichspolitik, dem Kriegswesen und den ‚großen’ Religionssachen zuständig. Seit 1574 war die Landesregierung damit auf ihre zu- 161 Vgl. ferner L UDWIG , Entstehungsgeschichte. 162 Vgl. die Kirchenordnung in C OD . A UG ., Sp. 475 ff. 163 K LEIN , Kursachsen, S, 813 f. 164 B LASCHKE , Anfänge, S. 515 ff.; ferner B LASCHKE , Landesregierung L UDWIG , Justitienfürst, S. 34 ff. und jetzt L UDWIG , Herz, S. 38 ff. <?page no="58"?> Einleitung 47 künftigen Aufgaben in Justiz-, 165 Policey- und Lehnsangelegenheiten beschränkt - Aufgabenbereiche, die rasch wuchsen. In Zivilsachen konkurrierte die Landesregierung mit dem Oberhofgericht, dessen Dominanz in zivilrechtlichen Angelegenheiten die Ablage im Hauptstaatsarchiv Dresden eindeutig belegt. In Justizangelegenheiten wurde die Landesregierung nach Ansicht Karlheinz Blaschkes zu einer bloßen „Gerichtsverwaltungsbehörde, indem sie die Prozesse und Straffälle nach einem von den Schöppenstühlen oder Juristenfakultäten eingeholten Urteil entschied.“ 166 Allerdings konnte Ulrike Ludwig zeigen, dass die Landesregierung durchaus eine entscheidende Rolle für die Tätigkeit des Landesherrn als obersten Gerichtsherrn spielte. Dessen Entscheidungen in Justizangelegenheiten lagen oftmals Gutachten der Landesregierung zugrunde. 167 Seit dem späten 16. Jahrhundert oblagen ihr zudem die Konfirmationen der Superintendenten, die Bestätigung der städtischen Räte, die Personalangelegenheiten der Hofgerichte und Schöppenstühle sowie kurzzeitig auch die der Universitäten und Fürstenschulen. Es ist hier nicht auf alle Details der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen der kursächsischen Administration in Strafrechtsangelegenheiten zumal über den gesamten Untersuchungszeitraum einzugehen. Dies ist an anderer Stelle kompetenter geschehen. 168 Auch der übliche Instanzenzug und die Stellung der universitären Spruchgremien können hier vorerst vernachlässigt werden, weil diese in der vorliegenden Untersuchung lediglich eine marginale Rolle spielen. Mit Ulrike Ludwig kann in der Summe festgestellt werden, dass seit den 1550-er Jahren „eine weitgehend funktionsfähige Behördenorganisation auf oberer und lokaler Ebene [bestand], die schrittweise ergänzt wurde.“ 169 Als wichtigste Mittler der Landesherrschaft fungierten die Ämter, die in ihren Bezirken mit den oben bereits genannten Einschränkungen unter anderem die Obergerichtsfunktion des Landesherrn ausübten. Die Ämter waren in die 165 Nach der Verleihung des kaiserlichen ‚Privilegium de non evocando/ appellando’ 1559 an den sächsischen Kurfürsten wurde das Appellationsgericht als oberste gerichtliche Instanz etabliert und der Landesregierung angegliedert. In Strafsachen war eine Appellation rechtlich nicht zulässig. 166 B LASCHKE , Landesregierung. 167 L UDWIG , Herz. 168 K LEIN , Kursachsen, L UDWIG , Justitienfürst, S. 32 ff. bzw. L UDWIG , Herz, S. 38 ff. Die Tatsache, dass die Konstitutionen von 1572 das Thema Selbsttötung nicht behandelten, zeigt zudem an, dass das Thema strafrechtlich nicht als virulent, strittig oder regelungsbedürftig angesehen wurde. 169 L UDWIG , Justitienfürst, S. 30. Siehe auch Ludwig, Herz, S. 49. <?page no="59"?> Einleitung 48 Kreise 170 des Landes integriert. Personell waren die Ämter durch einen Amtmann und einen Amtsschösser organisiert. Im Zuge der Eingliederung einiger Grundherrschaften und der Sequestration von Kirchengütern im 16. Jahrhundert verloren die Ämter ihren ursprünglichen Inselcharakter und wurden zu flächendeckenden Verwaltungsbezirken. Die ‚Verämterung’ Kursachsens war um die Wende zum 17. Jahrhundert abgeschlossen. 171 Über die Ämter konnten die Kurfürsten das Land administrativ durchdringen. Städtische und grundherrschaftliche Gerichte und Behörden flankierten dies. „Die kursächsische Verwaltung [, so Ulrike Ludwig,] kann in dieser Zeit zu den ‚modernsten’ des Reiches gerechnet werden.“ 172 Natürlich ist dieser Befund im Vergleich zu anderen territorialen Administrationen im 16. Jahrhundert zu sehen - schließlich wurde bspw. die extreme Zergliederung der Gerichtszuständigkeiten bereits zeitgenössisch als Problem wahrgenommen und diskutiert und auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts kann noch nicht von einer straff zentralistisch organisierten Verwaltung des Landes gesprochen werden. 173 Entwicklungen im 17. und 18. Jahrhundert An der beschriebenen Verwaltungsstruktur änderte sich im 17. Jahrhundert grundsätzlich wenig. Die während des Dreißigjährigen Krieges angegliederte Oberlausitz blieb außerhalb der landeskirchlichen Organisation. Die Oberamtsregierung in Budissin (Bautzen) vertrat das fehlende Konsistorium. In der Oberlausitz existierten katholische Enklaven wie auch gemischt-konfessionelle Parochien fort. 174 Dieser Landesteil blieb wie auch die ebenfalls angegliederte Niederlausitz Lehen der böhmischen Krone. Für die Niederlausitz agierte in Kirchenangelegenheiten das Konsistorium Lübben. 170 Auf die Kreiseinteilung soll hier nicht näher eingegangen werden, weil diese für die vorliegende Arbeit zu vernachlässigen ist; vgl. hierzu kurz K LEIN , Kursachsen, S. 827 f. Die Kreise waren: 1. Der Meißnische Kreis, 2. Der Erzgebirgische Kreis, 3. Der Leipziger Kreis, 4. Der Kurkreis, 5. Der Thüringer Kreis, 6. Der Neustädter Kreis, 7. Der Vogtländische Kreis. 171 K LEIN , Kursachsen, S. 830. Über die einzelnen Ämter informiert mittlerweile umfassend das unter Leitung von André Thieme auf der Homepage des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. präsentierte ‚Repertorium Saxonicum’, das auch umfassende Informationen zu den Gerichtsverhältnissen bereitstellt. T HIEME , Repertorium; URL: http: / / www.isgv.de/ repsax/ (zuletzt besucht am 30. Januar 2007). Vgl. auch T HIEME , Amtserbbücher. 172 L UDWIG , Herz, S. 50. 173 So zuletzt K ROLL , Soldaten, S. 57. 174 Hierzu S CHUNKA , Oberlausitz, S. 153 ff., mit weiterer Literatur. <?page no="60"?> Einleitung 49 Für das anstehende Thema sind hier lediglich zwei weitere Ereignisse von Bedeutung. Zum einen entstanden mit dem Erbteilungsrezess der Nachkommen Johann Georgs I. 1657 die drei Sekundogenitur-Herzogtümer Sachsen-Zeitz (bis 1718), Sachsen-Merseburg (bis 1738) und Sachsen-Weißenfels (bis 1746). Dieser Vorgang hatte, wenngleich mit ihm eine folgenschwere Teilung Kursachsens verhindert wurde, eine Aufsplitterung der landesherrlichen Gewalt zur Folge. Ausgenommen blieben hiervon lediglich das Steuerwesen, die Außenpolitik und die Kriegführung. Zudem ist auf die Konversion von Kurfürst Friedrich August I. (1694-1733) 175 zum Katholizismus hinzuweisen, in deren Folge der Geheime Rat ab 1697 die landesherrliche Gewalt über das Kirchenwesen übernahm. 176 Für die Kirchenverwaltung des 18. Jahrhunderts sind keine weiteren, im Rahmen dieser Untersuchung bedeutsamen Veränderungen anzumerken. Auch die grundlegende Struktur der zentralen Regierungsbehörden blieb bestehen. 177 Allein die bisweilen unklaren Kompetenzabgrenzungen und die Stellung des unter Kurfürst Friedrich August I. geschaffenen Geheimen Kabinetts lieferten regierungsintern Munition für Auseinandersetzungen. Für das Verständnis dieser Arbeit ist indes entscheidender, dass sich im 18. Jahrhundert die weltlichen Behörden weiter ausdifferenzierten. So waren beispielsweise die Ämter, die in den 1780-er Jahren in Justiz- und Rentämter untergliedert wurden, seit 1710 offiziell angehalten, Personen zu benennen, die ein Amtsphysicat im 175 N EUHAUS , Friedrich August I. 176 Dies drückt sich in den Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs dergestalt aus, dass die älteren Findbücher des Geheimen Rates noch Bestände in Konsistorialangelegenheiten in der Ablage dieser Behörde selbst verzeichnen, während der heutige Benutzer nach der Restrukturierung der Bestände nun oftmals die Bestandsnummer des Oberkonsistoriums anzugeben hat; vgl. hierzu bspw. die im Quellenanhang dieser Arbeit verzeichneten Reskriptsammlungen. Kirchengeschichtlich blieb, von der Oberlausitz einmal abgesehen, der Pietismus eine Randerscheinung, dessen Aktivisten in der zweiten Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts überwiegend nach Halle auswanderten, und dort eine geeignete Wirkungsstätte finden sollten. Die kompromisslose Haltung der lutherischen Orthodoxie personifizierte sich in der Residenz Dresden bspw. in der Person des Superintendenten Valentin Ernst Löscher (1674-1749), der unnachgiebig gegen alle vom orthodoxen Luthertum abweichenden Konfessionen und Lehrmeinungen polemisierte; vgl. K ELLER , Landesgeschichte, 176 f. Zu einer präzisen kirchengeschichtlichen Perspektive auf die Bewertung und Bedeutung von Selbsttötungen im Pietismus siehe K IRN , Suizidverständnis. 177 Schematischer Überblick bei G ROß , Geschichte, S. 133. <?page no="61"?> Einleitung 50 Nebenerwerb ausübten. 178 Bei der Untersuchung von Todesfällen wurden immer häufiger diese Amtsärzte herangezogen. Mit der Errichtung des Collegium medico-chirurgicum (1748) und des Sanitätskollegs (1768) wurden zwei Institutionen geschaffen, die der Professionalisierung des medizinischen Personals in Theorie und Praxis dienten und zugleich das Medizinalwesen im Lande überwachten. Für diese Arbeit ist vor allem die Gründung des Collegium medico-chirurgicum in Dresden wichtig, weil mit dem Ausbau der praktisch-anatomischen Ausbildung für das angehende Medizinalpersonal auch Leichen von ‚Selbstmördern’ an die neu geschaffene Dresdner Anatomie abgeliefert werden mussten. Neben organisatorischen Aspekten der ‚medizinischen Policey’ wurden obrigkeitliche Beobachtungen der Gesellschaft durch ein Berichtswesen etwa über Unglücksfälle sowie Kontroll- und Interventionsversuche auf bevölkerungs- und gesundheitspolitischem Feld ausgeweitet. Diese Entwicklung wird unten anhand von Erlassen zur Rettung Verunglückter und ‚versuchter Selbstmörder’ einerseits und der Administrierung von Selbsttötungen als Ordnungsproblem sowohl der Suizidprävention als auch der Abgrenzung von Jurisdiktionskompetenzen andererseits untersucht. Schließlich ist noch auf das für das späte 18. Jahrhundert wichtige Rétablissement, 179 die umfassende Konsolidierung des Landes durch eine innere Verwaltungs- und Justizreform nach dem Siebenjährigen Krieg und auf die Tätigkeit der 1764 gegründeten Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation zu verweisen. Weitere im Einzelnen wichtige Rahmenbedingungen und -entwicklungen werden an den entsprechenden Stellen dieser Studie beschrieben. 178 K LEIN , Kursachsen, S. 829. 179 Hierzu forscht seit Kurzem Lutz Bannert am Sonderforschungsbereich 804 ‚Transzendenz und Gemeinsinn’ an der TU-Dresden, Projekt G: ‚Gemeinsinndiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770 - ca. 1880)’. Bannert beschäftigt sich unter anderem mit dem Einfluss des Pietismus auf das Rétablissement. <?page no="62"?> Teil A: Warum? 51 Teil A: Warum? Über das Problem einer historischen Rekonstruktion von Suizidmotiven Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, einer Einleitung einen Teil folgen zu lassen, der gewissermaßen einen einleitenden Exkurs bildet und eine Frage zu beantworten versucht, die nicht vorrangig der erkenntnisleitenden Perspektive der Dissertation verpflichtet ist. Auf den zweiten Blick sollte jedoch deutlich werden, dass die folgenden Ausführungen notwendig sind, um die Standpunkte und Perspektiven dieser Studie besser nachvollziehen zu können. Kollegen und Studierende, Verwandte, Freunde und Bekannte, mit denen ich über mein Dissertationsvorhaben sprach, stellten mir in der ein oder anderen Form immer die folgende Frage: ‚Warum haben sich die Menschen denn früher eigentlich umgebracht? ’ Meist erwartete man knappe und eingängige Antworten, die Historikern ohnehin schwerfallen. Selbsttötungen scheinen, so Andreas Bähr und Hans Medick, die Sinnhaftigkeit und den Wert des Lebens grundsätzlich infrage zu stellen und setzen deshalb in besonderem Maß Betroffenheiten frei. 1 Und Adam Soboczynski hat in einem Zeitungskommentar von einer „ohnmächtige[n] Interpretationswut“ gesprochen, mit der die Menschen insbesondere dann konfrontiert sind, wenn die Inszenierung eines Suizids den gesellschaftlichen Normalitätsanspruch negiert. 2 Grundsätzlich scheint also die ‚Frage nach dem Warum’ ein menschliches Bedürfnis zu spiegeln, nach Sinn und Bedeutung von Verhaltensweisen, ja nach dem Sinn des Lebens überhaupt zu fragen. Dieses Bedürfnis bedienen sowohl ein unübersichtlicher Markt an Ratgeberliteratur als auch Internetforen zur Bewältigung von Trauer, insbesondere nach Selbsttötungen von Kindern und Jugendlichen. Das Internet mit seinen neuen Möglichkeiten zur sozialen Ausgrenzung wird zugleich zu einem neuen Katalysator suizidalen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen. 3 Die Frage nach dem ‚Warum? ’ hat tiefe historische Wurzeln. Jenseits individueller oder kollektiver Betroffenheiten hat sich dieser Fragereflex tief in das Repertoire gesellschaftlicher Reaktionen auf Selbsttötungen eingegraben. Über Jahrhunderte hinweg entschied die Antwort auf diese Frage über den Umgang mit Suizidenten, über mögliche Leichnamsstrafen und über die Form des Begräbnisses. Rechtliche Konsequenzen drohen Suizidenten heute nicht mehr. 1 B ÄHR / M EDICK , Vorwort, in: D IES . (Hg.), Sterben, S. VI. 2 S OBOCZYNSKI , Sterben, S. 38. 3 C ASATI , Geh sterben. <?page no="63"?> Teil A: Warum? 52 Ob aber eine Selbsttötung für den Einzelnen nachvollziehbar erscheint und ggf. moralisch gebilligt werden kann, darüber entscheidet noch immer eher eine Antwort auf die Frage nach den Suizidmotiven und -ursachen als eine abstrakte Diskussion über ein Recht auf den eigenen Tod. Der Suizid scheint mir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, obwohl permanent verhandelt und medial präsent, auch weiterhin ein soziales Tabuthema zu sein. Wenn er thematisiert wird, dann im Gefolge anderer Themen. In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland der Fokus der Beschäftigung mit Suizid im Kontext der Auseinandersetzung um aktive und passive Sterbehilfe bspw. auf die besondere Problematik des Alterssuizids gerichtet. Die in einer Vielzahl von Medien geführten Debatten haben trotz moralischer Appelle gezeigt, dass unsere Gesellschaft ebenso wenig wie andere Gesellschaften einen Konsens im Umgang mit dem Thema entwickelt hat. Es ist hier nicht der geeignete Ort, um die Medieninszenierung dieser Debatte inhaltlich zu bewerten, in der die Themen Suizid und Sterbehilfe häufig wenig trennscharf miteinander vermengt werden. Mir kommt es hier lediglich darauf an, dass in Talkshows, Reportagen oder Printbeiträgen neben der Auseinandersetzung darüber, ob eine Selbsttötung als Ausdruck selbstbestimmten Handelns zulässig ist oder ob sie dagegen gar kein selbstbestimmtes Handeln mehr ist bzw. ob sie nach wie vor ein sündhaftes Vergehen gegen Gott, gegen sich selbst und gegen seinen Nächsten ist, immer auch die Frage im Raum steht, welche Ursachen, Anlässe und Motive Menschen zur Selbsttötung bewegen können. 4 4 Für die Printmedien ließe sich exemplarisch auf K OHLENBERG , Schönheit; W AHBA , Chat, hinweisen. Aus der Vielzahl an Reportagen differenziert und einfühlsam, zugleich die besonderen juristischen und seelischen Probleme für betroffene Angehörige und Ärzte bzw. das Pflegepersonal in der Debatte um Sterbehilfe herausarbeitend: ‚Sterbehilfe - Der Streit um den selbstbestimmten Tod’, ein Film von Liz Wieskerstrauch, ausgestrahlt am 18. März 2009 (ARD), 23: 30 Uhr. Ein gelungenes Beispiel, das sich vordergründig als schwarze Komödie begreift, im Finale aber das moralische Dilemma ausweglos erscheinender Situationen sehr gut zur Sprache bringt, ist der viel beachtete Film ‚WILBUR wants to KILL himself/ Wilbur begår selvmord’ (DK/ UK/ S/ F 2002), Regie: Lone Scherfig. Die ARD-Reportage ‚Ich will sterben’ (ein Film von Tina Soliman, ausgestrahlt am 17. Juni 2009, 23: 30 Uhr) verstand sich dagegen eher als moralischer Apell, stärker über das Lebenswerte am Leben nachzudenken und die Problematik des Alterssuizids stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Diesen Reportagen wäre sicherlich eine andere Sendezeit zu wünschen gewesen. Statt dessen ‚diskutierte’ Anne Will am 11. Januar 2009 in einer wirren, höchst problematischen und zurecht viel gescholtenen Talk-Runde im Anschluss an den Suizid des Großunternehmers Adolf Merckle über das ‚Tabu Freitod wer hat das Recht, Leben zu beenden? ‘, 21: 45 (ARD). <?page no="64"?> Teil A: Warum? 53 Allzu häufig lässt diese Frage keine befriedigenden Antworten zu, gerade weil sie auf letztgültige Antworten und gleichsam einen Einblick in die menschliche Psyche zielt. Die Alltags-Frage nach dem ‚Warum’ verkennt das Problem, dass der einfühlende alltagstheoretische Nachvollzug eines Suizids vorrangig über eine rein formale Perspektivenübernahme Antworten generiert und so Zweifel, Irritationen und Betroffenheiten bleiben müssen. 5 Dieser Umstand trägt, ob reflektiert oder nicht, zu einer in letzter Konsequenz nicht aufzulösenden, tendenziellen Rätselhaftigkeit suizidalen Verhaltens bei. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass Interpretationen von Selbsttötungen insgesamt abzulehnen wären. Vielmehr teilt die historische Suizidforschung das allgemeine Interesse an der Aufklärung von Suizidmotiven. 6 Ich argumentiere in diesem Kapitel, dass es aber auf der Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials für die Frühneuzeitforschung einzig darum gehen kann, jeweils plausible Deutungsangebote gegeneinander abzuwägen. Dabei ist stets offen zu legen, was man als Historiker mit Gewissheit aussagen kann und was nicht, denn auf einer Basis von Aussagen, wie sie Historiker frühneuzeitlichen Quellen entnehmen, würde (hoffentlich) kein Mediziner bzw. Psychiater eine endgültige Diagnose wagen. Der Anspruch muss also lauten, die erzählten Geschichten nicht gegenüber alternativen Deutungen zu verschließen, sondern die Alternative stets mitzudenken und zu beschreiben. 7 5 Nach Ansicht von D ÖBERT / N UNNER -W INKLER , Rollenübernahme, S. 323 sind „bloße (formale) Perspektivenübernahme oder ‚-koordination’ keine hinreichenden Bedingungen für interpersonelles Verstehen“. Der Versuch eines subjektiven Nachvollzugs stößt zwangsläufig an Grenzen des Nachvollzieh- und Verstehbaren. Meiner Ansicht nach eines der herausragenden Beispiele, um sich diese Problematik über den Umweg eines Romans bzw. Films vor Augen zu führen: Jeffrey Eugenides ‚The Virgin Suicides’ bzw. die beklemmende Verfilmung im gleichnamigen Debüt von Sofia Coppola (USA 1999). 6 Bspw. H ARTINGER , Selbstmord; L IND , Selbstmord, S. 190 ff. und passim; M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 259 ff.; aufschlussreich zu historisch variablen Interpretationen von Selbsttötungen B REWER , Murder; M ERRICK , Suicide; ferner S CHÄR , Seelennöte, passim; S CHMIDT - K OHBERG , Selbstmord, S. 119 ff.; W ATT , Death, S. 129. Hintergründe für dieses Interesse an Handlungsmotivationen sind die Tradition einer verstehenden Soziologie, die den Sinn sozialen Handelns zu ergründen versucht, und damit auch eine entsprechende Hermeneutik der Geschichtswissenschaft, schließlich die ‚Wiederentdeckung’ des Menschen als handelndes Subjekt in der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren. Exemplarisch L ÜDTKE , Alltagsgeschichte; M EDICK , Missionare; M EDICK , Anthropologie; U LBRICHT , Marionetten 7 Zu warnen ist mithin vor allzu einfach erscheinenden Lösungen, die lediglich eine ‚Statistik der Ansichten’ (D URKHEIM , Selbstmord, S. 157) reproduziert, auf den Einzelfall projiziert und so die Suggestion erzeugt, ein Motiv erklärt zu haben. Tendenziell hermetische Sinn-Angebote sind literarische Darstellungen, die Selbsttötungen durch eine gute und nachvollziehbare Geschichte <?page no="65"?> Teil A: Warum? 54 Anders formuliert: Die historische Erzählung sollte da keine Eindeutigkeiten suggerieren, wo Mehrdeutigkeiten oder Unwägbarkeiten die Quellen prägen. Der amerikanische Soziologe Jack D. Douglas hat in seiner bis heute wegweisenden Studie ‚The Social Meanings of Suicide’ bereits 1967 festgestellt, dass es unabdingbar ist, den situativen Sinn suizidaler Handlungen zu kennen, um eine Selbsttötung bzw. einen Selbsttötungsversuch angemessen verstehen zu können. Dieser situative Sinn, so Douglas, sei allerdings immer an eine konkrete und komplexe Handlungssituation gebunden. 8 Genau diese konkreten Handlungssituationen können Historiker aber häufig nicht hinreichend analysieren, ebenso wenig wie die Genese von Ursachen, Motiven und Anlässen zu einer Selbsttötung, weil sie sich aus den Quellen nur beschränkt rekonstruieren lassen. Vollständige Erklärungen suizidalen Verhaltens in der Frühen Neuzeit können also zwangsläufig nicht erwartet werden. Damit ist die hier zu diskutierende Problematik auf die Quellen zurückgeworfen und wird historisiert. Nur in wenigen Ausnahmen und zudem mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert sind Selbstzeugnisse von Suizidalen bzw. Suizidenten überliefert. 9 Erhalten haben sich dagegen in der Regel Aussagen von Angehörigen, Nachbarn und lokalen Funktionsträgern, die im Zuge der Untersuchungen von Selbsttötungen befragt bzw. um Einschätzungen gebeten wurden. Zum einen wurden deren Beobachtungen und Aussagen protokolliert und für die zentralen Regierungsbehörden summarisch in Berichten zusammengefasst. Zum anderen konnten diese Notizen eventuell auch Erinnerungen an Aussagen der Suizidenten im Vorfeld einer Selbsttötung enthalten. Die methodischen Probleme der historischen Interpretation dieser Überlieferung erörtert dieser Teil der vorliegenden Dissertation. Die Argumentation entfaltet sich zunächst entlang eines analytischen Zangengriffs auf die plausibilisieren wollen. Belletristik, Prosa oder Lyrik unterscheiden sich damit aber nicht prinzipiell von Einzelfalldarstellungen in historischen Arbeiten, die die Motivfrage mit einbeziehen. Mit Blick auf die Literatur zusammenfassend B UHR , Studien, S. 12. Jetzt umfassend N EUMEYER , Anomalien. Kritische Diskussionsbeiträge zur Historischen Anthropologie haben darüber hinaus auf bedenkliche Tendenzen insbesondere von mikrohistorischen ‚Erzählungen’ hingewiesen, die willkürlich mit den Quellen umgehen und die ‚erfundenen’ Geschichten mittels literarischer Strategien gegen Kritik immunisieren; R EINHARD , Pfeife, S. 9. 8 Zusammenfassend D OUGLAS , Meanings, S. 339. Vgl. ferner zur kritischen Einordnung der Methode der ‚psychologischen Autopsie’ W ITTWER , Selbsttötung, S. 31 f. 9 B ÄHR , Richter; B ÄHR , Abschiedsbriefe; S CHREINER , Glück, Kap. 3. Ferner K ÜHNEL , Selbsttötung; K ÄSTNER / K ÜHNEL , Leben; W AGNER -E GELHAAF , Diskurs. Zur Quellen-Problematik von Abschiedsbriefen darüber hinaus anregend G RASHOFF (Hg.), Briefe. <?page no="66"?> Teil A: Warum? 55 summarischen Berichte und pastoralen Gutachten, die für Gerichte und die sächsischen Regierungsbehörden angefertigt wurden. Diese beiden Texttypen sind die wichtigsten Quellen für eine qualitative Untersuchung des Suizidgeschehens in Kursachsen. Es ist zu klären, wie mit den Aussagen von Befragten in den Untersuchungsverfahren und mit den aufsattelnden Deutungen der Untersuchungsführenden methodisch sinnvoll gearbeitet werden kann. Hierzu wird zunächst die Struktur der Untersuchungsverfahren beschrieben, um zu verstehen, in welchen Zusammenhängen welche Texte produziert wurden. Danach sind die deutenden Beschreibungen der an den Untersuchungen beteiligten Personen (Amtleute, Gerichtspersonen, Pfarrer, Nachbarn usw.) genauer zu untersuchen. Diese Form der systematischen Annäherung im Vorgriff auf die spätere Analyse scheint mir auch deswegen sinnvoll zu sein, um dann nicht in jedem Einzelfall aufs Neue die Quellenproblematik diskutieren zu müssen. Auf der anderen Seite erfolgt mein Zugriff über die Frage, welche methodischen Schlussfolgerungen aus den - deutlich seltener überlieferten - Aussagen der Suizidalen und Suizidenten zu ziehen sind. Dabei werden Selbst- Aussagen von Überlebenden eines Suizidversuchs untersucht, die im Verlauf von gerichtsrelevanten Befragungen notiert wurden. Abschließend ist zu diskutieren, inwiefern frühneuzeitliche Begriffe in ‚modernen’, medizinisch-psychiatrischen Sprachregelungen aufgelöst werden sollten und ob darin ein Erkenntnisfortschritt zu sehen ist. Obwohl ich grundsätzlich eine skeptische Haltung einnehme, ist zu konstatieren, dass die Frühneuzeit-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten zu einem weitreichenden Verständnis von über den Einzelfall hinausgehenden Ursachen suizidaler Handlungen sowie von einzelnen Selbsttötungen gekommen ist. An diese Ergebnisse kann die vorliegende Studie anknüpfen. Zugleich sind die grundlegenden Verständnisprobleme konsequenter bewusst zu machen. Es gilt im Folgenden innerhalb des Querschnittsthemas Suizid alternative, nach Möglichkeit genuin historische Perspektiven einzunehmen. Der Aussagewert der vorhandenen Quellen ist zu hinterfragen, deren Charakter systematisch zu beschreiben. Mitunter kann historische Suizidforschung dann aber auch ein möglicherweise unbefriedigender Versuch bleiben, sich dem Leben und Sterben von Menschen in der Vergangenheit zu nähern. 1. Überlegungen zur Quellenkritik 1.1. Struktur und Charakter der Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen Die neuere Forschung hat gezeigt, dass in den Landrechten der einzelnen Territorien des Alten Reichs die nach Selbsttötungen und fehlgeschlagenen <?page no="67"?> Teil A: Warum? 56 Suizidversuchen durchzuführenden Untersuchungen und Strafverfahren nicht immer präzise geregelt waren. 1 Die einzelnen Schritte der gerichtlichen Untersuchungen ergaben sich aus Bestimmungen, die je nach Suizidmethode, Hintergründen, Ursachen und Motiven einer Selbsttötung differenziert unterschiedliche Begräbnisformen, mitunter auch Vermögenskonfiskationen oder Strafen am Leichnam bzw. ab dem 18. Jahrhundert territorial übergreifend die Verbringung der Leichen an die Anatomien vorsahen. Die Untersuchungen nach Selbsttötungen zielten darauf ab, einen strafwürdigen Tatvorsatz zu erhellen. In der Sache ging es darum, vergleichbar den Untersuchungen in sonst üblichen Strafverfahren, ein adäquates Strafmaß zu bestimmen. Die einzelnen Sanktionsmöglichkeiten sind von der Forschung hinreichend analysiert und verglichen worden. 2 Dagegen hat die Forschung die Strukturen der Untersuchungsverfahren in den einzelnen Territorien bislang nicht systematisch miteinander verglichen. Das liegt vor allem daran, dass diese in den meisten Studien nicht systematisch beschrieben sind, was wiederum dadurch bedingt ist, dass die frühneuzeitlichen Normen zur Thematik die Untersuchungsverfahren nicht genau regelten. Der Basler Rechtshistoriker Harald Maihold hat darauf hingewiesen, dass „bei besonders abscheulichen Verbrechen [, und darunter wurden ‚Selbstmorde’ gezählt, Abweichungen] in den materiellen Grundsätzen und im Strafverfahren […] zugelassen waren.“ 3 Die bisherige Forschung hat je nach Quellenlage einzelne Verfahrensschritte detaillierter beschrieben. Auf der Grundlage der überlieferten Dokumente konnte festgestellt werden, dass die Untersuchungen zumindest ‚fest gefügte administrative Verfahren’ waren. 4 Der Rechtshistoriker Karsten Pfannkuchen geht in seiner Untersuchung der Verfahren in Ostpreußen davon aus, „dass, sieht man von der Besonderheit ab, dass es sich bei dem Verfahrenssubjekt um einen Toten handelte, die allgemeinen Grundsätze des ostpreußischen Strafprozesses gegolten haben müssen.“ 5 1 Zuletzt P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 146 ff. für das Herzogtum Preußen. Auch L IND , Selbstmord, S. 351 ff. für die Herzogtümer Schleswig und Holstein; S CHÄR , Seelennöte, S. 40 ff. und 54 ff. für Zürich. Anders der Befund für Württemberg, wo ein ausführliches Reskript von 1621 Verfahren und Sanktionen regelte: S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 142 f. Mithin war die Strafpraxis uneinheitlich. 2 Statt vieler S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 198 ff. Anm. 170 ff.; V ANDEKERCKHOVE , Punishment, S. 43 ff. Für das Mittelalter siehe M URRAY , Suicide Vol. II, S. 10 ff. 3 M AIHOLD , Bildnis- und Leichnamsstrafen, S. 13. 4 Bspw. F RANK , Geduld, S. 166. 5 P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 147. <?page no="68"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 57 Wenn dem so ist, wie können dann die Untersuchungs- und Entscheidungsverfahren sowie die Verfahren der Aushandlung einer Sanktion nach Selbsttötungen systematisch beschrieben und charakterisiert werden, ohne die Besonderheiten jedes Einzelfalls berücksichtigen zu müssen? Und wie sind dabei die Befunde für Kursachsen zu verorten? Karl Härter hat in vielen Beiträgen Praxis und Charakter der Strafverfahren in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten detailliert beschrieben. 6 Er hat gezeigt, dass sich im Verlauf der Frühen Neuzeit ein ‚summarisch-inquisitorisches Verwaltungs- und Policeystrafverfahren’ herausbildete. Karl Härter argumentiert im Anschluss an Hans Maier und Wilhelm Brauneder, dass policeyliche Prinzipien die Entwicklung des Strafrechts sowie die Verfahrens- und Strafpraxis prägten. 7 Seiner Ansicht nach erhellt der Einfluss der ‚guten Policey’ das Bild einer flexiblen Strafgesetzgebung und flexiblen Strafzumessung in der Frühen Neuzeit. 8 Ein für die Diskussion der praktischen Entkriminalisierung des Suizids im Verlauf der späten Frühen Neuzeit wichtiger Punkt scheint mir zudem zu sein, dass dem frühneuzeitlichen Policeyrecht eine „moderne Unterscheidung in Verbrechen, Vergehen und Ordnungswidrigkeiten fehlt.“ 9 Schließlich integrierte die Policeygesetzgebung verschiedene Verfahrensformen und Sanktionsmöglichkeiten. Die Strafandrohungen der Policeygesetze wurden prinzipiell als ‚arbiträre außerordentliche Maximalstrafen’ verstanden. 6 Zuletzt H ÄRTER , Strafverfahren; H ÄRTER , Policeygesetzgebung. Die Forschungen von Karl Härter, das gilt ebenso für große Teile der Historischen Kriminalitäts- und Policeyforschung, wurden bislang in der historischen Suizidforschung nicht berücksichtigt. 7 Etwa H ÄRTER , Policeygesetzgebung, S. 189 f. 8 Hierzu bereits grundlegend H ÄRTER , Disziplinierung. Zum Problem der Abgrenzung von ‚Criminal-’ und ‚Policeyrecht’ vor dem Hintergrund gesetzgeberischer Tätigkeiten im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert K ESPER -B IERMANN , Grenzen. 9 H ÄRTER , Policeygesetzgebung, S. 205. Vgl. auch die Bemerkungen zum Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten bei P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 139 ff., der darauf hinweist, dass das ALR keine materielle Unterscheidung von Verbrechen und Policeyübertretung vornahm. Deswegen ist im Übrigen auch Julia Schreiners Beobachtung zu ergänzen, der Suizid hätte seine Nähe zu den Tötungsdelikten im 18. Jahrhundert verloren und sei in der einschlägigen strafrechtlichen Literatur nur mehr in deren policeyrechtlichen Anhängen aufgetaucht; S CHREINER , Aufgeklärtheit, S. 213. Sie exemplifiziert diese dort unter anderem am Beispiel des sächsischen Juristen Carl August Tittmann (1775-1834), in dessen Grundlinien der Strafrechtswissenschaft (T ITTMANN , Grundlinien, S. 254 ff. § 316) im Anhang aber ja gerade nur jene Policeydelikte aufgenommen wurden, die man zuvor zu den peinlichen Delikten gezählt hatte, die nun aber nicht mehr mit Tittmanns Vorstellung vom Strafrecht vereinbar waren. Tittmann stellte sich dieses als ein Rechtsgebiet vor, das von den ‚Entsetzungen aus dem Freiheitsgebiete’ handelt (ebd., S. 249). <?page no="69"?> Teil A: Warum? 58 Die Strafpraxis des 18. Jahrhunderts, aufgrund der zeitlichen Verteilung der Quellen ist dies für die vorliegende Arbeit entscheidend, sei dann, so Karl Härter, durch folgende Faktoren geprägt gewesen: erstens durch Anwendung arbiträrer außerordentlicher Strafen; zweitens durch den Einfluss policeylicher Strafzwecke; drittens durch eine Erweiterung der Interpretationsspielräume durch Texte der Strafrechtswissenschaft und kriminalpoliceylicher Diskurse (Stichwort: Vielfalt gültiger Rechtsquellen); schließlich viertens durch eine flexible Anpassung der Strafpraxis an Delikt, Täter und staatliche Interessen sowie an den Einzelfall und seine Umstände. 10 Nimmt man zunächst einmal diese Befunde, die sich mit den kriminalhistorischen Studien Ulrike Ludwigs für Kursachsen decken, 11 als gegeben, kann eine vielfältige Straf- und Begräbnispraxis nach Selbsttötungen in der Frühen Neuzeit nicht überraschen. Es sei denn, man will behaupten, dass die Verfahren nach Selbsttötungen grundsätzlich anderen Regeln folgten als die sonst üblichen summarisch-inquisitorischen Verfahren. Diese Erklärungen sind jenen Interpretationen voranzustellen, die zur Erklärung übergreifend beobachtbarer milder Sanktionspraktiken vorrangig regional-kulturelle Einflussfaktoren anführen. 12 Damit wäre der beschriebene Prozess der Entkriminalisierung des Suizids in der Praxis vor der Veränderung der Normen neu zu interpretieren, denn es erscheint nun nicht unwahrscheinlich, dass diese Interpretation auf einer problematischen Deutung des Verhältnisses von Normen und Praktiken beruht. Die vermeintliche Entkriminalisierung des Suizids im ausgehenden 18. Jahrhundert erscheint so als Ausdruck einer umfassend an die Umstände des Einzelfalls angepassten, flexiblen Strafzumessung. Hierbei konnten der gute Lebenswandel 13 oder die soziale Integration „erhebliche Bedeutung für die Strafzumessung gewinnen und [zogen] mildere Sanktionen nach sich“. 14 Die Frage wäre nun, ob die These der Entkriminalisierung des Suizids im 18. Jahrhundert nicht vor allem auf der Vorstellung beruht, dass es diese Differenzierungen in den Jahrhunderten zuvor nicht gegeben hat. Ich argumentiere dagegen in dieser Dissertation, dass die festgestellte uneinheitliche 10 H ÄRTER , Policeygesetzgebung, S. 208. 11 Bspw. L UDWIG , Herz; L UDWIG , Tätigkeit. 12 Auch H OUSTON , Punishing stellt jetzt den Einfluss unterschiedlicher Rechtsregime heraus. 13 Dass auf der Grundlage von Berichten über den Lebenswandel der Betroffenen die Obrigkeiten über die Art des Begräbnisses entschieden, hat für das frühneuzeitliche Zürich bereits S CHÄR , Seelennöte, S. 226, festgestellt. 14 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 478. <?page no="70"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 59 Sanktionspraxis und milde Umsetzung scheinbar undifferenziert harter Sanktionsandrohungen ein genuiner Bestandteil der obrigkeitlichen 15 Gesetzgebungs- und Strafpraxis war. Deshalb sollte die Beobachtung einer differenzierten Praxis eigentlich nicht überraschen. Auch sollte sie nicht länger als willkürliche Strafpraxis etwa in Fällen überlebter Suizidversuche fehlinterpretiert werden. 16 Zumal anders als im heutigen Sprachgebrauch ‚willkürlich’ bedeutete, dass die Umstände eines Einzelfalls genau abzuwägen waren. Hinzu kommt, dass dem betroffenen Umfeld mittels Supplikationen, die ebenso kaum verfahrensrechtlich geregelt waren und nicht immer rechtlichen Kriterien folgten, 17 bewusst die Möglichkeit gegeben war, auf bereits gefällte Urteile einzuwirken. Auch hier lehnen sich die Befunde der historischen Suizidforschung an die allgemeinen Tendenzen an, ohne das dies bislang systematisch berücksichtigt wurde. Wie sah nun die Verfahrenspraxis in Kursachsen aus und welche allgemeinen Entwicklungstendenzen werden sichtbar? Erster Schritt, um eine Untersuchung einzuleiten, war in der Regel die Anzeige des Leichenfundes. Seltener gab es direkte Tatzeugen. 18 Für den weiteren Verlauf der Untersuchung war es entscheidend, bei welcher Instanz entweder der Fund der Leiche und/ oder die vermutete Selbsttötung gemeldet wurden. Neben dem Stadtrat, den Stadtgerichten oder dörflichen Gerichtsträgern, insbesondere Patrimonialgerichten schriftsässiger Adliger und deren Gerichtshaltern, konnte dies beim Amt, örtlichen Schöppengerichten bzw. überhaupt bei traditionellen lokalen Funktionsträgern geschehen. Karl Härter hat darauf hingewiesen, dass die lokalen Gerichte im Verlauf der Frühen Neuzeit zwar sukzessive ihre jurisdiktionellen Kompetenzen verloren hatten. Dennoch nahmen sie weiterhin Funktionen in der Strafverfolgung wahr. 19 Dies zeigt sich auch in den 15 Dagegen meint L IND , Selbstmord, S. 351, dass die Obrigkeit im Prozess der Entkriminalisierung keine aktive Rolle eingenommen habe, diese vielmehr von der Bevölkerung gespielt wurde. Dagegen konnte aber, so wie es auch hier nachfolgend beschrieben wird, David Lederer für Bayern zeigen, dass insbesondere den örtlichen Gerichten und Amtmännern ein erheblicher Einfluss auf die Strafzumessung zukam (L EDERER , Madness, S. 242 ff.), was sich in allgemeine Befunde zur Rolle von Amtleuten in Strafverfahren einreiht (L UDWIG , Tätigkeit). 16 So etwa S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 142, allerdings ohne Aktenbelege. 17 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 479. 18 So auch V ANDEKERCKHOVE , Punishment, etwa S. 81. 19 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 466 und 474 f. Ursächlich für diese Vielfalt waren die komplexen Herrschaftsbeziehungen und Gerichtskompetenzen, die sich im albertinischen Kursachsen lokal sehr differenziert gestalteten. Allgemein L UDWIG , Herz, S. 107 ff.; T RENCKMANN , Geisteskranke. <?page no="71"?> Teil A: Warum? 60 sächsischen Quellen, in denen häufig regionale Instanzen - insbesondere die Ämter - erst durch Aktionen der lokalen Gerichte, Gemeinderichter oder Schultheißen aktiv wurden. Anspruch auf Hoheit über das Verfahren konnten neben den Gerichtsträgern, auf deren Grund die Leiche gefunden bzw. denen der Vorfall angezeigt wurde, auch Gerichtsträger am vorherigen Wohnort der Verstorbenen geltend machen, wenn Wohn- und Fundort räumlich auseinander fielen. Es war möglich, dass Gerichtsträgern und Obrigkeiten im Wohnort von suizidgefährdeten Menschen einfach die Verantwortung zugeschoben wurde, etwa wenn die Unterbringung und weitere Untersuchung des Suizidversuchs erhebliche Kosten verursachte. 20 Anzeigen konnten aber auch an den Ortsgeistlichen oder den Superintendenten gehen, die ohnehin meist hinzugezogen wurden, weil es sich bei Selbsttötungen um ein sog. ‚delictum mixtum’ bzw. ‚crimen mixti fori’ handelte und kirchliche Jurisdiktionskompetenzen, vor allem wegen des Begräbnisses, berührt waren. Aus diesem Grunde gestalteten sich die Untersuchungen vor Ort häufig zweigleisig und wurden sowohl von Ortsgeistlichen als auch von lokalen Gerichtsträgern geführt, die dann an die ihnen jeweils übergeordneten Behörden berichteten. Die Rolle der kirchlichen Instanzen kann für den langen Zeitraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert nicht durchgängig auf gleichem Niveau bestimmt werden. Insbesondere für die Frühzeit geben die Quellen kaum Auskunft. Gleichwohl lässt sich bereits für das 16. Jahrhundert belegen, dass Pfarrer und Superintendenten parallel zu weltlichen Gerichten an den Untersuchungen und Begräbnisurteilen beteiligt waren. Insofern kann für das Delikt des Suizids nur eingeschränkt davon ausgegangen werden, dass kirchliche Kompetenzen sukzessive in die Autorität weltlicher Gerichtsträger übergingen, auch wenn dies im 18. Jahrhundert wiederholt von Kirchenvertretern beklagt wurde. 21 Dieses Nebeneinander und Ineinandergreifen verschiedener Kompetenzen und Ansprüche prägte, soviel lässt sich hier festhalten, die Verfahren nach Selbsttötungen in Kursachsen nachhaltig und beeinflusste wegen der daraus resultierenden Konflikte wesentlich die Gesetzgebungsinitiativen im 18. Jahrhundert. 22 Für die Produktion von Texten über eine Selbsttötung ist das zweigleisige Untersuchungsverfahren vor Ort insofern relevant, als die für diese 20 Vgl. hierzu exemplarisch die von mir ausführlich beschriebenen Streitigkeiten nach dem fehlgeschlagenen Suizid von Sigmund Watzke (Minckwitz 1784) in: K ÄSTNER , Seelen, S. 87 ff. 21 K OSLOFSKY , Säkularisierung; K OSLOFSKY , Suicide; K OSLOFSKY , Body. 22 Dass die Landesgesetze zum Suizid in Preußen die Kompetenzen weltlicher und kirchlicher Jurisdiktionskompetenzen abgrenzten, um Konflikte zu vermeiden, vermutet auch P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 146. <?page no="72"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 61 Arbeit wichtigsten Quellen, mit denen die Umstände einer Selbsttötung annäherungsweise analysiert werden können, summarische Berichte weltlicher Gerichtsträger und pastorale Attestate 23 über Lebensführung und religiöse Einstellungen der Suizidenten sind. Da der einer Anzeige folgende Verlauf der Untersuchungen und Entscheidungsfindungen zumeist einem einheitlichen Schema folgte und die summarischen Berichte keine ihrer Provenienz geschuldeten Unterschiede erkennen lassen, kann die Vielfalt der zuständigen Instanzen in der idealtypischen Darstellung etwas vernachlässigt werden. Im Folgenden werden allein die Verfahren im Zuge vollzogener Selbsttötungen dargestellt. 24 Die eigentliche Untersuchung begann damit, dass ‚Tatort’ und Leiche(n) in Augenschein genommen wurden. Hierbei sollte zunächst geklärt werden, ob der tödliche Vorfall ein fremdverschuldetes Kapitalverbrechen, ein Unfall bzw. ein Unglück 25 oder ein ‚Selbstmord’ war. 26 Nach Art. 149 der Constitutio Criminalis Carolina sollte mindestens ein Sachverständiger bei der Leichenschau zugegen sein. Die neuere Forschung vermutet, dass diese Bestimmung, die auf den Einfluss römischen Rechts zurückzuführen ist, dazu beigetragen hat, die Position von Medizinern bei Untersuchungen nach Selbsttötungen und medizinischen Sichtweisen im Alten Reich im Vergleich etwa zu England zu stärken. 27 Auf der Basis der mir vorliegenden Akten kann allerdings keine Aussage darüber getroffen werden, ob diese Vorgabe im 16. und 17. Jahrhundert so auch umgesetzt wurde. 23 Hierzu bereits systematische Ausführungen in K ÄSTNER , Experten. 24 Zum Verfahren bei Überlebenden siehe K ÄSTNER , Seelen; Lorenz, Körper, S. 315 ff. und P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 193 ff. 25 Für die hier ausgewerteten Archivbestände zeigen die gesammelten Akten der Landesregierung wie auch die Akten der Pirnaer Superintendentur zu gewährten stillen Beisetzungen eine Vielzahl von Fällen, in denen Menschen während Reisen oder der Arbeit auf dem Feld vom Blitz erschlagen wurden, am ‚Schlagfluss’ oder aufgrund ihres Alters einfach verstarben, nachts volltrunken stürzten, erfroren oder im Wasser verunfallten. 26 Beispiele auch bei L IND , Selbstmord, Registerschlagwort ‚Leichenbesichtigung’. 27 H OUSTON , Medicalization, S. 110. Günter Jerouschek geht davon aus, dass die rein äußerliche Leichenschau vorherrschend blieb (er bezieht sich hier allerdings auf französisches Recht) und in den deutschen Städten seit dem 15. Jahrhundert die Leichenschau Wundärzten und Barbieren übertragen wurde, mitunter auch Nachrichter beigezogen wurden; J EROUSCHEK , Leichenschau. Der Z EDLER kennt keinen Artikel Leichenschau. Vgl. statt dessen zu einigen Ordnungsvorstellungen des späten 18. Jahrhunderts dann K RÜNITZ 74, S. 1 ff. (Art. ‚Leichenöffnung’), S. 84 ff. (Art. ‚Leichenschau’), S. 98 (Art. ‚Leichenschauer und Leichenschauamt’); B USCH u. a. (Hg.), EW Bd. 6, S. 501 ff. mit weiteren Hinweisen und zeitgenössischer Literatur. <?page no="73"?> Teil A: Warum? 62 Noch im 18. Jahrhundert wurden nicht immer sachverständige Mediziner beigezogen. Für diesen späteren Untersuchungszeitraum ist jedoch eindeutig festzustellen, dass im Zuge der Physicatsreformen und der vonseiten der Landesherrschaft durchgesetzten Professionalisierung der medizinischen Ausbildung und Kompetenzzuweisungen an die akademischen Mediziner insbesondere die Ämter als direkt verlängerte Arme der Landesregierung die jeweiligen Amts- oder Stadtphysici oder sonst gerade greifbare Chirurgen beizogen. Auch städtische Gerichte zogen in der Regel den Stadtphysicus hinzu. Insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ergab sich dies auch aus der Notwendigkeit zu überprüfen, ob eventuell (seit 1773 gesetzlich vorgeschriebene) Wiederbelebungsmaßnahmen ergriffen werden mussten. Darüber hinaus sollte seit den 1790-er Jahren die Beerdigung von Scheintoten verhindert werden. 28 Wenn über die Behandlung des Leichnams nicht schnell vor Ort entschieden werden konnte oder sich die lokalen Behörden zunächst an Schöppenstühle, Juristenfakultäten, zentrale Regierungsbehörden und im 18. Jahrhundert an die anatomischen Theater wegen Abgabe der Leichen wendeten, wurde am Tatort eine Wache aufgestellt. Mitunter kam es hierüber zum Streit mit den Gemeinden oder Grundherren, die entsprechendes Personal abstellen sollten. Obduktionen oder Sektionen als weiterführende Untersuchungsmöglichkeiten wurden, so wie es Vera Lind auch für die Herzogtümer Schleswig und Holstein festgestellt hat, 29 nur selten vorgenommen. Selbst in Preußen berichteten führende Mediziner noch Ende des 18. Jahrhunderts, dass trotz wiederholt eingeschärfter Gesetze zur Sektionspflicht nur unregelmäßig seziert würde, weil die physischen Todesursachen oft augenscheinlich wären. 30 Dies bestätigen auch die Einträge in den Registern der Dresdner Anatomie, die als Todesursachenbeschreibungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine 28 Zur Scheintodproblematik siehe die entsprechenden Regelungen für Kursachsen in S CHMALZ , Medizinal-Gesetze, S. 486 ff. Zur Forschung R ÜVE , Scheintod; S CHREINER , Glück, S. 161 ff. Populärer Überblick bei K OCH , Geschichte. Kursorisch und ohne Angabe von Quellen und Literatur H AHN , Medizinalgesetzgebung, S. 527, dort zudem mit unbelegten, abwegigen und in keiner Weise dem Forschungsstand entsprechenden Deutungen zur Intention der Gesetzgebung. Mit weiteren Verweisen K LEEMANN , Medizin. 29 L IND , Selbstmord, S. 358. 30 L ORENZ , Körper, S. 320 Anm. 19. Ferner ist für Kursachsen davon auszugehen, dass Obduktionen auch wegen Fehlverhaltens der lokalen Gerichtsträger nicht immer ordnungsgemäß durchgeführt wurden und die Schöppenstühle mitunter deren Ergebnisse nicht anerkannten; siehe exemplarisch die Regelung in C OD . A UG . C ONT . I, Sp. 411 f. <?page no="74"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 63 eigenen Sektionsbefunde, dafür aber die Vermutungen aus den Berichten der Gerichte wiederholten. Schließlich wurden in Sachsen die Leichen von Suizidenten auch nur dann an die anatomischen Institute abgeliefert, wenn die Sachverhaltsermittlungen bereits abgeschlossen waren. Es lässt sich auch ausschließen, dass im 16. oder 17. Jahrhundert ‚Selbstmörderleichen’ an die anatomischen Institute der Universitäten kamen, da diese zunächst ausschließlich Leichen hingerichteter Verbrecher bezogen. In Zuchthäusern sezierten nicht selten angestellte Mediziner zu Übungszwecken die Leichen verstorbener Häftlinge. Gab es Zweifel an der Todesursache, häufig bei Wasserleichen, wurde obduziert bzw. seziert. 31 Die Zweifel wurden dann aber bei Obduktionen oder in der Anatomie häufig einfach dadurch beseitigt, dass Rückschlüsse gezogen wurden, die weniger medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit entsprachen als vielmehr im alltagstheoretischen Deutungshorizont der Sezierenden plausibel erschienen. Der Tod der im April 1802 in einem Teich bei Wilsdruff ertrunkenen Anna Regina Winckler wurde z. B. erst nach der Obduktion als ‚Selbstmord’ deklariert, weil bei ihr eine Schwangerschaft festgestellt wurde und die (männlichen! ) Ärzte deshalb diagnostizierten, die Frau müsse sich wohl aus Verzweiflung über die Schwangerschaft ertränkt haben. 32 Wenn die Leichenbesichtigung abgeschlossen war, dienten in einem zweiten Schritt summarische Befragungen von Familienmitgliedern, Nachbarn, Bekannten und lokalen Funktionsträgern wie bspw. Bürgermeistern, Schultheißen oder Pastoren ebenso der Klärung eines möglichen fremdverschuldeten Ver- 31 Darüber hinaus berichtet L ORENZ , Körper, S. 45 Anm. 49 von der Forderung eines Vaters nach Leichenöffnung seines zwölfjährigen Sohnes (1724; Hirschbach bei Dippoldiswalde in Sachsen), von dem er glaubte, dass er von seinem Dienstherrn zu Tod geprügelt worden war. 32 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086 Leichenbuch, Nr. 1557. Geschlechterstereotype Deutungen offenbart auch der folgende Fall: 1807 soll sich Maria Rosina Krassin bei Leipzig in die Pleiße gestürzt haben. Für einen vorsätzlichen Gang ins Wasser gab es allerdings keine Zeugen, wohl aber Personen, die kurz darauf hinzukamen und die Krassin retteten. Der Leipziger Stadtphysicus Dähne wurde herangezogen, um die Frau zu untersuchen. Ihm gegenüber gestand sie den Vorsatz zum Suizid und Dähne erklärte in seinem Gutachten wortreich, dass Störungen der Monatsblutung Ängste verursacht hätten, die sie zu diesem Schritt bewogen hatten. Die Krassin selbst scheint für sich die Erklärungen des Arztes angenommen zu haben. Warum sie aber nun gerade Angst davor hatte, von den Ratsdienern verprügelt zu werden und sich deshalb ertränken wollte, wird dann gar nicht weiter hinterfragt, denn die geschlechtsabhängige Ursachenerklärung befriedigte augenscheinlich alle Beteiligten; S T A L EIPZIG , Richterstube, Strafakten Nr. 804. <?page no="75"?> Teil A: Warum? 64 brechens oder eines Unglücks. 33 Für den Fall, dass der Suizid erwiesen war, sollte zudem ein möglicher Tatvorsatz geklärt werden. Auf diesen wurde vor allem aus der Rekonstruktion des Lebenswandels und der persönlichen Verhältnisse geschlossen. Bei diesen summarischen Befragungen handelte es sich ebenso wie bei der äußerlichen Leichenschau um eine übergreifende Gemeinsamkeit der Untersuchungsverfahren in allen Territorien des Reiches. 34 Im Vergleich zu anderen Strafprozessen gab es nach vollzogenen Selbsttötungen keine Möglichkeit mehr, in einer Spezialinquisition ein Geständnis zu erlangen, weshalb dieser Verfahrensschritt entfiel. Gleichsam als ein Geständnis konnten Abschiedsbriefe gewertet werden. In den in dieser Studie untersuchten Verfahren gegen Überlebende von Suizidversuchen ließen sich die zentralen Bestandteile der Spezialinquisition, Folter und Konfrontation, nicht nachweisen. Allerdings lagen mir kaum vollständige Prozessakten vor. Das Verfahren blieb insgesamt summarisch und unterschied sich so auch nicht von Verfahren „bei leichten Delikten, die sofort gestanden oder ‚bewiesen’ wurden [… und in denen] das Verfahren summarisch im Rahmen der Generalinquisition mit einem ‚Urteil’ des Untersuchungsbeamten oder der zentralen Regierungs- und Justizbehörde abgeschlossen werden“ konnte. 35 Aufgrund von Kompetenzzuweisungen an verschiedene Träger der Obergerichte mussten nicht wie in einem peinlichen Verfahren sonst üblich, Urteile bei den Spruchgremien eingeholt werden. 36 Vielmehr entschieden die Obergerichtsträger (Ämter, Gerichte schriftsässiger Adeliger, Stadtgerichte) meist in Absprache mit Superintendenten bzw. Ortsgeistlichen über den Umgang mit der Leiche. Das bedeutete nun aber nicht, dass nicht auch Rat oder Urteile bei Schöppenstühlen, Juristenfakultäten, der Landesregierung oder dem Geheimen Rat eingeholt werden konnten. Auch solche Verfahrensweisen lassen sich belegen. Ebenso konnten sich Superintendenten und Konsistorien an das Oberkonsistorium in Dresden wenden. Damit unterscheiden sich die Verfahren 33 Vgl. zum Quellenwert von aufgezeichneten Zeugenverhören allgemein F UCHS / S CHULZE , Zeugenverhöre, besonders S. 32 ff. 34 Darüber hinaus auch für das frühneuzeitliche Genf W ATT , Death, S. 127. 35 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 473. Im Rahmen dieser Studie erwiesen sich einzig die Quellen des Stadtarchivs Leipzig als ergiebiger, wenngleich sie die Ergebnisse der anderen Quellenstudien bestätigten; S T A L EIPZIG , Richterstube, Nachlassakten, Nr. 601, 670, 770, 792; Richterstube, Strafakten, Nr. 444, 656, 671, 740, 767, 771, 778, 779, 804. 36 Zum schematischen Ablauf eines peinlichen Verfahrens in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert siehe L UDWIG , Herz, S. 64 ff. <?page no="76"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 65 nach Selbsttötungen deutlich von peinlichen Verfahren, in denen generell ein Urteil der Spruchgremien, in erster Linie des Leipziger Schöppenstuhls, eingeholt werden musste. Die Vielfalt der sich aus dieser Konstellation ergebenden Verfahrensmöglichkeiten drückt sich auch deutlich in den anhaltenden Kompetenzstreitigkeiten im 18. Jahrhundert aus, denn jede beteiligte Instanz konnte zurecht anführen, in der Vergangenheit bereits einmal legitimerweise die Jurisdiktion über Selbsttötungen ausgeübt zu haben. Dass in Verfahren nach Selbsttötungen über die Jahrhunderte hinweg die Begräbnismodalitäten zwischen weltlichen Gerichtsträgern und kirchlichen Instanzen ausgehandelt wurden, bestätigten die zentralen Regierungsbehörden im 18. Jahrhundert dann auch dadurch, dass sie die Kompetenzkonflikte durch Mahnungen beizulegen versuchten, man solle sich doch wie ehedem vor Ort einigen, wo man die Umstände eines Falles am besten einschätzen könne. 37 Abschließend noch einige Bemerkungen zum Weg der Entscheidungsfindung für ein Urteil über das Begräbnis. Auf mögliche Rechtsmittel in Form von Suppliken wurde bereits verwiesen. Das zweigleisige Untersuchungs- und Entscheidungsverfahren bedingte, dass sich Träger der Obergerichte mit den Konsistorien, Superintendenten oder Ortsgeistlichen verständigen mussten, um einen ordnungsgemäßen Verlauf der Beisetzung zu garantieren. Es kam mitunter sogar vor, dass die weltlichen Gerichtsträger Anweisungen von Konsistorien erhielten und sich daraufhin mit den Geistlichen vor Ort zu einigen hatten. Problematisch wurde es immer dann, wenn beide Seiten zu unterschiedlichen Deutungen eines Falls gelangten oder aber eine Seite die Kompetenzansprüche der anderen ignorierte. Derartige Fälle häuften sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und beförderten den Erlass von Gesetzen, in denen die Verfahrenszuständigkeiten voneinander abgegrenzt wurden. Die Entscheidungsfindung selbst verlief in Form von Relationen, Umfragen und Bestätigungen durch die an einer Entscheidung beteiligten Instanzen. Dieses Vorgehen war aus anderen Strafprozessformen bekannt. Aufgrund glücklicher Überlieferungszufälle lassen sich solche Prozesse der Entscheidungsfindung vereinzelt detailliert nachweisen. Im 18. Jahrhundert setzte sich zunehmend ein System der Kontrolle durch die Landesregierung durch, die nach Vorschlägen der Ämter oder anderer Obergerichte das weitere Vorgehen nach Aktenlage entschied. Zudem versuchte die Landesregierung durchzusetzen, dass sie über alle entsprechenden Entscheidungen vor Ort informiert wird, die sie dann im Nachhinein bestätigte. Das erklärt zugleich, warum für das 18. Jahr- 37 S. u. Teil C, Kap. 10. <?page no="77"?> Teil A: Warum? 66 hundert vermehrt entsprechende Berichte der Ämter und Gerichte in den Akten der Landesregierung und des Geheimen Rats 38 auftauchen. Gleiches gilt für den Instanzenzug der kirchlichen Behörden. Hier mussten die Superintendenten seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts jährliche Listen mit Entscheidungen zu außergewöhnlichen Begräbnissen an das Oberkonsistorium in Dresden senden und sich diese nachträglich bestätigen lassen. 39 Nachdem so die Struktur der Verfahren in groben Zügen umrissen ist, geht es im Folgenden darum, die für die Frage nach den Motiven in dieser Arbeit mengenmäßig bedeutsamsten Quellengruppen genauer zu untersuchen: die summarischen Berichte der Gerichte und Ämter sowie die von Pfarrern ausgestellten Lebenswandel-Attestate. 1.2. Summarische Berichte an die zentralen Regierungsbehörden Amtmänner und Gerichte, die summarisch über ihre Untersuchungen nach Selbsttötungen an die Landesregierung berichteten, fassten die tödlichen Geschehnisse in Form einer knappen Fallgeschichte zusammen. Diese Geschichten boten in der Regel eine Deutung des Vorfalls durch die lokalen Obrigkeiten, waren also ihrerseits bereits ein interpretativer Akt. Mitunter unterstrichen sie auch den Amtseifer der Absender, um zu zeigen, wie gründlich man die Untersuchungen durchführte. Um den Quellenwert in Bezug auf die Frage nach Suizidmotiven konkreter bestimmen zu können, scheinen mir folgende Prämissen unabdingbar: Zunächst muss die Analyse konsequent auf die Beschaffenheit und die inhaltliche Struktur der Quellen zurückgeführt werden. Es ist daher von den Quellen ausgehend zu fragen, wie diese hergestellt wurden. Darauf aufbauend ließe sich meines Erachtens dann fragen, in welchem Verhältnis (Quellen-) Text und Motivfrage zueinander stehen. Die summarischen Untersuchungsberichte - hier in systematischer Absicht als Idealtypus dargestellt - versuchten stets sowohl belastende als auch entlastende strafrechtsrelevante Hintergründe einer Selbsttötung darzustellen. Die allgemeinen Einschätzungen beruhten eher auf lebenspraktischen Erfahrungen 38 Im Archiv des Geheimen Rats sind die entsprechenden Sammelakten allerdings entsprechend der ‚Verlustkartei’ des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden vollständig als Kriegsverlust ausgewiesen. Ursprünglich Findbuch Malefizsachen des Geheimen Rats, Loc. 2161 und 2162 „Selbstmorde, Unglücksfälle, Mordthaten 1750-1805“. Dieser Bestand umfasste insgesamt sieben Bände, darunter auch die Registraturen aus den Ephorien Pirna, Meißen und Hayn. 39 Vgl. exemplarisch E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1038-1042 für den hier interessierenden Zeitraum, für die Zeit danach, ebd., Nr. 1043-1045 (für die Jahre 1820-1931). <?page no="78"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 67 als auf speziell erworbenem Fachwissen. 40 Einer zu einseitigen Berichterstattung wurde vorgebeugt, indem den Berichten die Untersuchungsakten, insbesondere die Befragungsprotokolle, beizulegen waren - unklar ist jedoch, wie intensiv diese von den übergeordneten Instanzen studiert wurden. Immerhin boten die Berichte selbst meist eine für die Zeitgenossen plausible Deutung des Geschehens. Es ist an dieser Stelle noch einmal genauer auf die Befragungen einzugehen. Bei den befragten ‚Zeugen’ handelte es sich im eigentlichen Sinne nicht um Augenzeugen der Selbsttötung bzw. eines gescheiterten Suizidversuchs, bei dem auch der ‚Täter’ verhört werden konnte. Vielmehr wurden Personen befragt, die die Betroffenen gekannt hatten, also Familienangehörige, Nachbarn, Pfarrer und andere Funktionsträger. Es handelte sich also um Personen, die überhaupt etwas über die Verstorbenen aussagen konnten. 41 Die Aussagen aller Befragten wurden hinsichtlich urteilsrelevanter Hintergründe sortiert. Die Art und Weise der Befragung forderte häufig die Darstellung eines Sinnzusammenhangs bzw. eine Deutung von den Befragten ein: „warum er sich erhencket, wüste er nicht“, vermerkte bspw. der Bünausche Gerichtshalter die Aussage eines Richters aus Obermeusegast, der 1736 den Suizid eines Kuhjungen gemeldet hatte. 42 Der Gerichtshalter hatte ihn also konkret gefragt, warum sich der Junge seiner Ansicht nach erhängt habe. Der Gerichtshalter blieb in diesem Fall auch während der weiteren Befragungen bei dieser grundsätzlichen Frage, weil ihm weder der Junge noch das Umfeld näher bekannt waren. Alle Befragten hatten so eher die Chance, eigene Versionen der Geschichte der Selbsttötung erzählen und zu Protokoll geben, als dies bei Befragungen in Strafverfahren sonst üblich war. Gleichwohl entzog sich die Selektion relevant erscheinender Aussagen durch die Obrigkeiten den Befragten auch hier völlig, wurden auch hier die Fragen aus heutiger Sicht häufig ‚suggestiv’ gestellt. 43 In der Regel fragte man ganz allgemein nach Auffälligkeiten im Vorfeld eines Suizids und versuchte, auf diese Weise den vorherigen Lebenswandel der Verstorbenen zu rekonstruieren. Dies zielte darauf ab, etwas über Abweichungen 40 L UDWIG , Tätigkeit. Überhaupt ist das Wissen von den an Untersuchungen nach Selbsttötungen beteiligten ‚Spezialisten’ und Funktionsträgern nicht von allgemein geteilten Vorstellungen über Suizide zu trennen, sondern muss in einem komplexen Verhältnis zueinander gedacht werden; A TKINSON , Reactions. 41 Z EDLER Bd. 62, Sp. 16 ff. (Art. ‚Zeuge’), insbes. Sp. 55 ff.; ebd., Sp. 264 ff. (Art. ‚Zeugniß’), insbes. Sp. 290 ff. 42 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538, fol. 1 r . 43 Eingängig zur Befragung vor Gericht G ÖTTSCH , Konstruktion. <?page no="79"?> Teil A: Warum? 68 sowohl vom sonst üblichen Verhalten als auch von obrigkeitlich sanktionierten Normen ordentlichen Verhaltens zu erfahren. Letztere waren ausführlich in Policeyordnungen und den Fragekatalogen der Visitationsordnungen festgehalten. Dem korrespondierte auf dem Feld medizinischer Gutachten eine biografische Neuorientierung seit dem 17. Jahrhundert, der ein verstärktes Interesse an Fragen der Zurechnungsfähigkeit einherging. 44 Die summarischen Berichte spiegeln solche Fragen unter anderem darin, dass Aussagen berichtet werden, in denen die Verhörten, gezielt gefragt nach auffälligem Verhalten, alle möglichen Verhaltensweisen rückblickend als auffällig deklarierten. Diese alltagstheoretisch begründeten ‚Selbstmordtheorien’ waren für Befragte und Fragende mehr oder weniger plausible Teile eines Puzzles, das, so die Hoffnung, in der Summe seiner Teile die Tat erklären konnte. Entscheidend war die kausale Verknüpfung der Beobachtungen mit der Selbsttötung, selbst wenn im Vorfeld das beobachtete Verhalten gar nicht mit einer Suizidgefährdung verknüpft worden war. Das lässt sich etwa daran erkennen, dass die Befragten nur selten von präventiven Maßnahmen zu berichten wussten, obwohl sie angaben bereits im Vorfeld ein bestimmtes Verhalten als drohende Gefahr eines Suizids wahrgenommen zu haben. 45 Vor allem Äußerungen religiöser Schwermut, insbesondere ein Verzagen am Gnadenstand, deuteten auf eine Suizidgefährdung hin. In solchen Fällen wurden eher Aufsichtsmaßnahmen ergriffen und Pastoren wurden verstärkt seelsorgerlich aktiv. 46 Solche Äußerungen über eine schleichende oder bereits tief verwurzelte Verzweiflung aufgrund des eigenen Sünderstandes scheinen eindeutiger als suizidgefährdend ‚entzifferbar’ gewesen zu sein als andere Verhaltensweisen, weil sie kulturelle Ordnungsvorstellungen bedienten, die in Predigten und Visitationen präsent waren. Hinzu kommt, dass die religiöse Melancholie in einer gefährlichen Nähe zur Verzweiflung stand, die in theologischen Diskursen 44 L ORENZ , Körper, S. 256. 45 Zu diesem Problem quellenkritisch auch L IND , Selbstmord, S. 297 ff. Eine aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierungen fehlende Prävention lässt sich hieraus m. E. nicht ableiten, weil die Aussagen ja retrospektive Deutungen sind und durchaus auch Fälle bekannt sind, in denen aufgrund entsprechender Beobachtungen präventiv eingeschritten wurde. 46 Bspw. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 10530/ 18, o. Pag., Bericht vom 22. Januar 1721. Vgl. auch die kurze Beschreibung dieses Falles in K ÄSTNER , Seelen, S. 89. Weiter K ÄSTNER , Experten; zur religiösen Melancholie auch L IND , Selbstmord, S. 170 ff.; L IND , Mind; S CHÄR , Seelennöte, S. 221 ff. <?page no="80"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 69 konfessionsübergreifend als Ausdruck individueller Hoffnungslosigkeit galt und in metaphysischer Hinsicht Gottes Hoheit über Leben und Tod negierte. 47 Die Ikone des verzweifelten, sich aus Reue sündhaft selbst tötenden Menschen war Judas. Allerdings zeigen gerade die in die Ikonografie des Judas seit dem Frühmittelalter eingeflossenen Diskussionen, dass dessen Figur und die seinen finalen Schritt bedingenden Gründe unterschiedlich gedeutet werden konnten und wurden. Norbert Schnitzler hat im Anschluss an Gabriela Signori zeigen können, wie sich seit dem Spätmittelalter ein in Untersuchungsverfahren sichtbar verstärktes Interesse an den Umständen eines ‚Selbstmords’ auch an bildlichen Darstellungen des Judas spiegelte - und das bis hin zur bildlichen Darstellung der Selbsttötung als „erschreckende Konsequenz einer ‚inneren Krise’ des Menschen Judas.“ 48 Allerdings blieb ein ‚Selbstmord’ aus Verzweiflung über die Frühe Neuzeit hinweg meist Ausdruck eines bösen Todes, wenngleich in unterschiedlicher Bedeutung. Einerseits galten verzweifelte Suizidenten als vom Teufel Getriebene 49 und am Gnadenstand (Ver-) Zweifelnde. Andererseits erkannte man auch schon im 16. und 17. Jahrhundert, dass Menschen wegen schlechter materieller Verhältnisse oder körperlicher Gebrechen an den Umständen des Lebens verzweifelten - für die Betroffenen war diese lebensweltliche Brechung theologischer und juristischer Konzepte allerdings nicht weniger problematisch, weil sie ebenfalls auf die Konstruktion eines Tatvorsatzes hinauslief. Es zeigt sich bereits an diesem Beispiel, dass sehr genau auf kulturell geformte Begriffsfelder geschaut werden muss, sowie darauf, in welcher Weise bestimmte Begriffe jeweils verwendet wurden. Allerdings lassen die Quellen nicht immer zu, dass wir die verwendeten Kategorien auf eine einsinnige Bedeutung zurückführen können. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass retrospektive Charakter- und Verhaltenszuschreibungen, wie melancholisch, schwermütig, manisch, zurückgezogen, grüblerisch bis rasend usw. prinzipiell deutungsoffen waren und die Begriffe eine große Bedeutungsbreite aufwiesen. Nicht nur in Alltagsbeschreibungen während einer Befragung, sondern auch in medizinischen 47 So wiederholt David Lederer. L EDERER , Dead, S. 352 f.; L EDERER , Verzweiflung, S. 257; L EDERER , Madness, S. 243. 48 S CHNITZLER , Tod, S. 238. Zur Figur des Judas in mittelalterlichen Texten jetzt auch M URRAY , Suicide Vol. II, S. 323 ff. 49 Gerade weil sie als vom Teufel Getriebene galten, waren theologische Deutungen ihres Gnadenstandes sowie die Behandlung der Leiche weder unumstritten noch eindeutig. Zu den Diskussionen im 16. und 17. Jahrhundert ausführlich unten Teil B. <?page no="81"?> Teil A: Warum? 70 Fachdiskussionen wurden zudem viele Beschreibungen für Gemütszustände synonym gebraucht. 50 Ein Beispiel: Als der Schuhmacher Johann Andreas Rhein am 7. Dezember 1791 bei Riethnordhausen ins Wasser sprang, wurde er zwar von einigen Einwohnern gerettet. Weitere Hilfsmaßnahmen unterblieben jedoch, weil die Situation zunächst als Unfall und nicht als Suizidversuch gesehen wurde. 51 Folglich ließ man Johann Rhein unbeaufsichtigt. Dieser nutzte seine rasch wieder erlangte Freiheit, um sich in der darauf folgenden Nacht abseits potenzieller Retter in der Helme bei Wallhausen zu ertränken. Erst jetzt erschien den Beteiligten auch die vorherige Rettung als verhinderte Selbsttötung. Der Gerichtsdiener Piller, der den Bericht an die Landesregierung verfasste, sah sich genötigt zu bemerken, dass der Suizid offenkundig „aus einer wahren melancholie“ begangen worden war. 52 Diese Erklärung stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der gerichtlichen Untersuchung des zweiten Vorfalls, in deren Folge der erste als gescheiterter Suizidversuch ‚enttarnt’ wurde. 53 Weniger war hier ‚wahre Melancholie’ die Beschreibung eines Gemütszustandes, der ganz offensichtlich gewesen wäre, denn sonst hätte man Johann Rhein gleich nach dem ersten Suizidversuch bewachen müssen. Vielmehr drückt diese Formulierung aus, dass man Johann Rhein einen unbedingten Wunsch zu sterben zuschrieb, der aber erst durch den zweiten Suizidversuch offenkundig geworden war. Deshalb fungierte der Ausdruck ‚wahre Melancholie’ auch entlastend für die lokale Obrigkeit, weil sie einen unabwendbar krankhaften Zustand Johann Rheins konstruierte. In seinem Bericht musste sich das Gericht vorsorglich gegen den Vorwurf, seine Aufsichtspflicht verletzt zu haben, wehren. Grundsätzlich ist dem Befund von Vera Lind zuzustimmen, dass Gerichtsquellen mehr über „Wahrnehmungsweisen und Einordnungsschemata der Angehörigen und Freunde [… aussagen], als über den seelischen Zustand der Hauptperson“. 54 Zu dieser Einsicht ist prinzipiell auch Jeffrey Watt gelangt, 55 50 Für die Manie bspw. S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 128. Vgl. auch L ORENZ , Körper, S. 257; sowie L EDERER , Madness, S. 145 ff. mit dem Versuch einer kontextualisierenden Begriffsbestimmung verschiedener geistiger Leiden. 51 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079 Loc. 30951 Vol. II, fol. 20. 52 Ebd., fol. 19. Johann Andreas Rhein stammte den Angaben des Berichts zufolge aus Brücken. Dieser Ort unterstand den freiherrlichen Gerichten derer von Werther. 53 Obwohl die Landesregierung (Ebd., fol. 21) auf einer Untersuchung wegen Verletzung der Aufsichtspflichten insistierte, ist zu diesem Fall nichts weiter bekannt. 54 L IND , Selbstmord, S. 155. <?page no="82"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 71 der aber dennoch auf der Basis der in ihren Perspektiven und Zuschreibungen stark verengten Aussagen der Befragten ‚plausible Motive’ erkennen will. 56 Meines Erachtens ist diese Sichtweise Ausdruck der suggestiven Wirkung der zeitgenössischen Aussagen auf Forscher, die, wie ich oben dargelegt habe, ebenso wie die frühneuzeitlichen Zeitgenossen von der Frage nach Motiven angetrieben werden. Die ‚Frage nach dem Warum’ läuft letztlich auf eine symbolische Deutung des Suizids hinaus, die diesen - je nach Perspektive - als Ausdruck bestimmter sozialer, körperlicher oder geistiger Zustände sieht. Es ist nun allerdings ein deutlicher Trugschluss, wenn man annimmt, „man könne sich quasi unter Ausschluss des eigenen Selbst vollständig in eine fremde oder vergangene Kultur einfühlen“, wie es Wolfgang Reinhard formuliert hat 57 - bzw. in einen historischen Menschen, wie zu ergänzen wäre. Der Trugschluss auf vermeintliche Suizidmotive wird dann noch größer, wenn man aus den frühneuzeitlichen Deutungen jene Motivzuschreibungen herauspräpariert, die man selbst für plausibel hält und diese deshalb zu plausiblen Motiven erklärt. Die Aussagen der Quellen sind aber zunächst als das zu nehmen, was sie sind: Motivzuschreibungen - mögen sie plausibel sein oder nicht. Dass darüber hinaus eine sensible und methodisch kontrollierte Interpretation der Quellen Aufschlüsse über subjektive Weltzuwendungen 58 der Betroffenen zu geben vermag, ist damit nicht in Abrede gestellt. Skepsis sollte aber allenthalben angebracht sein. 59 Es gilt weiterhin zu bedenken, dass die Aussagen befragter ‚Zeugen’ nur in der Reformulierung der Berichtenden respektive der Schreiber überliefert sind. Aussagen wurden also nicht nur durch das gezielte Suchen nach einer Schuldbzw. Entlastungsgeschichte sortiert und durchaus ambivalent kategorisiert. Die 55 W ATT , Death, S. 127 ff. 56 Ebd., S. 128 f. Ähnlich äußerte sich Watt später erneut; W ATT , Suicide, hier S. 219 Anm. 4: „I am convinced that explanations for suicides offered by wittnesses and survivors bore some relation to the causes of suicide. The explanations proffered were shaped by contemporary shared values, an understanding of the social changes then at work, and familiarity with the personality and mental and physical health of those who chose death.“ 57 R EINHARD , Pfeife, S. 3. 58 Dazu anregend S PIEKER , Innenansichten. 59 David Lederer zufolge ist auch die Beschränktheit der eigenen Erkenntnismöglichkeiten des Forschers zu berücksichtigen: „we want to understand past states of psychic disturbance and yet find ourselves limited by our own horizons.“ (L EDERER , Madness, S. 146.) Die oft beschworene Standortgebundenheit des Historikers meint hier gerade auch, dass Historiker als Menschen in ihren Verstehensmöglichkeiten, ihrer Erklärungskraft und ihrem Urteil von eigenen geistigen und zugleich lebensweltlich geprägten Horizonten begrenzt werden. <?page no="83"?> Teil A: Warum? 72 Berichte selbst wurden durch Schreiber und Personen, die den Bericht diktierten, komponiert. Diese Komposition hat zwei grundsätzliche Auswirkungen auf den Text; zum einen in Bezug auf die wiedergegebenen Aussagen der befragten Personen, zum anderen auf die Form des Textes selbst, der zumeist auch die Deutung des Berichtenden spiegelt. Die historische Kriminalitätsforschung hat betont, dass in Konfliktfällen „zwischen den mündlichen Aussagen der vor Gericht sprechenden [… Personen] und dem vorliegenden Protokoll ein in seiner Breite und Tiefe kaum bestimmbarer Graben klafft.“ 60 Es ist zu berücksichtigen, wie es Andrea Griesebner eindrücklich vorgeführt hat, dass die protokollierenden Personen vor Gericht die ohnehin ambivalenten Versionen der Beteiligten im Prozess der summarischen Verschriftlichung von mündlichen Aussagen erneut modulieren konnten und dies auch taten. So konnten einzelne Aussagen zusammengefasst, andere betont oder verschwiegen, nicht zuletzt Inhalte neu gruppiert und damit deren Deutung verschoben werden. 61 Die Möglichkeiten zur Modulation der Untersuchungsakten zu einem summarischen Bericht werden im Fall des Suizids von Johanna Eleonore Neumann 1787 in Dresden hinsichtlich des quantitativen Umfangs deutlich. Überliefert sind ein knapp zehnseitiger (und damit an sich schon umfangreicher) summarischer Bericht des Dresdner Rats an den Kurfürsten und ein vierseitiges Inserat des Stadtrichters. Ursprünglich muss ‚die Akte Neumann’ aber mindestens 206 Seiten umfasst haben. Das belegen die Querverweise des Berichts auf die ursprünglich beigefügten Akten. 62 Für die hier untersuchten Quellen ist zu berücksichtigen, dass die umfangreicheren Befragungsprotokolle, die Attestate der Pfarrer und eventuell auch Gutachten medizinischer Sachverständiger den Berichten zwar stets beigegeben waren. Diese Schriftstücke wurden aber mit den Reskripten an die lokalen Instanzen zurückgesandt, in deren archivalischen Ablagen sie in der Regel nicht überliefert sind. Damit ist wahrscheinlich, dass den Deutungen der Berichtenden selbst enge Grenzen durch die mitgeschickten Untersuchungsprotokolle gesetzt waren, für die aber das Modulierungsproblem ebenso gilt. Sodann ist eine Deutungsebene erkennbar, die auf eine ‚Filterfunktion’ der Schreiber hinverweist. Es ist aus den summarischen Berichten allein nicht rekonstruierbar, welche Passagen der 60 P ILLER , Ehestand, S. 451. Auch Piller weist auf die diskursive Formung von Erfahrung und zu Papier gebrachter Wahrnehmung hin und unterstreicht damit die Wirkung zeitgenössischer Topoi. 61 G RIESEBNER , Wahrheiten, S. 144; ähnlich auch F UCHS / S CHULZE , Zeugenverhöre, S. 26; S PIEKER , Innenansichten, S. 221. 62 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024 Loc. 10120/ 6, o. Pag., Nr. 863. <?page no="84"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 73 ausführlicheren Verhörprotokolle nicht mit in die Schilderung des Falles eingeflossen sind. Erkennbar ist jedoch, dass die summarischen Berichte häufig die Perspektive der Berichtenden selbst wiedergeben. Die Einnahme einer deutenden Perspektive ist daher konstitutives Element der summarischen Berichte. Neben konkreten Bewertungen von Suizidfällen, wie sie in nahezu jedem Bericht auftauchen, verrät zuweilen auch der Schreibstil eines Berichts etwas über die persönlichen Einstellungen der Berichtenden. Als sich im Oktober 1810 der 86-jährige Samuel Jaachin in Leipzig ertränkt hatte, beschrieb der Kriminalrichter Stephan Carl Richter in seinem Bericht an die Landesregierung den Fall wie folgt: „Müde des daseyens, das für ihn so gantz freudenleer war, zerriß er selbst seines lebens faden, den die natur, seiner meinung nach zu lang für ihn gesponnen hatte, gewaltsam und suchte in des waßers fluthen befreyung von seiner bürde“. 63 Weniger die stille Beisetzung nach Bitten der Familie, als vielmehr der poetische Ton der Schilderung Richters missfiel aber der Landesregierung: „Wir haben […] die von euch gebrauchte art der darstellung dieses ereignißes mit misfallen wahrzunehmen gehabt, und begehren, ihr wollet euch in euren an uns zu erstattenden berichten künftig lediglich dem jedesmaligen gegenstande denselben angemeßener, mit der richterlichen würde vereinbarlicher und eurer ansicht der sache nicht in ein zweydeutiges licht setzen“. 64 Es bleibt festzuhalten, dass die überlieferten summarischen Berichte in erster Linie etwas über die Deutungsraster und mentalen Prägungen der Befragten und der Berichtenden aussagen. Im Lichte der neueren Forschung ist dies zwar keine bahnbrechende Erkenntnis. 65 Das Ziel meiner Ausführungen war es aber, durch einen Blick auf die Details der Produktion summarischer Berichte eine skeptische Perspektive zu stärken, die die mitunter naiv erscheinende Übernahme von ‚Antworten’ auf die Motivfrage in den Quellen für die ‚Antworten’ der historischen Forschung kritischer hinterfragt als dies bislang geschehen ist. 66 63 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079 Loc. 30951 Vol. II, teilw. o. Pag., Bericht der Stadtgerichte Leipzig an die Landesregierung vom 19. Mai 1810. 64 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079 Loc. 30951 Vol. II, teilw. o. Pag., Reskript vom 13. Juli 1810. 65 Vgl. schon L IND , Selbstmord, S. 155; W ATT , Death, S. 129. 66 Eine solch skeptische Grundhaltung wird m. E. mit dem Argument der lebensweltlichen Plausibilität von ‚Zeugenaussagen’ bisweilen allzu eilfertig übergangen. So etwa Jeffrey Watt: „True, we need to use caution in evaluating the evidence from witnesses on suicide notes. […] The evidence, however, is usually extensive enough, if combined with a little common sense [! ], to give a good idea of what was behind a certain suicide.“; W ATT , Death, S. 128. <?page no="85"?> Teil A: Warum? 74 Wenn wir nach Ursachen und Motiven eines Suizids fragen, vermag jede überlieferte Information unser Wissen um Hintergründe und mögliche Tatmotive zu verändern - das hat der Suizidforscher Thomas Bronisch eingängig vorgeführt. 67 Dass wir aber anhand der überlieferten Quellen nie genau wissen, was wir nicht wissen, ist daher nur eine scheinbar banale Feststellung (die im Prinzip ja auch jede historische Überlieferung betrifft). Das Wissen über diese Problematik und der grundsätzliche Charakter von Geschichtsschreibung als Konstruktionsleistung ihres Autors sollten zur Vorsicht vor allzu schnellen Motivzuweisungen durch den Historiker mahnen - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. 1.3. Attestate der Pfarrer Pastoren, so dürfte bereits deutlich geworden sein, spielten in den Untersuchungen nach Selbsttötungen eine wichtige Rolle. Ihre Mitwirkung an den Untersuchungsverfahren produzierte besondere Quellen, sog. ‚testimonia vitae’. In diesen Zeugnissen des Lebenswandels, denen für die Urteile über Begräbnis und/ oder mögliche postmortale Strafen Beweiskraft zugeschrieben wurde, äußerten sich Pfarrer systematisch zur Lebensführung von Suizidenten, weil aus der Form der Lebensführung (beileibe keine alleinige Besonderheit der Frühen Neuzeit) 68 auf den Bewusstseinszustand während der Selbsttötung geschlossen wurde. Ich fasse in diesem Abschnitt Ergebnisse meiner Forschungen zusammen, die ich an einer anderen Stelle bereits dargelegt habe. 69 Der Fokus liegt auf der Frage, wie die ‚testimonia vitae’ bzw. ‚attestata vitae’ strukturiert waren und welches Wissen bzw. welche Aussagen über Suizidursachen sie transportierten. 67 B RONISCH , Suizid, S. 72 ff. Vgl. auch die Aktenlage bei H ARTINGER , Selbstmord. Hartinger stellt die verschiedenen Deutungen der Zeitgenossen vor und schließt sich nach Abwägung der Umstände einer aus volkskundlicher Perspektive plausiblen Deutung an. Hartingers Vorgehen unterstreicht so auch meine Forderung, durchaus Suizidhintergründe zu interpretieren, zugleich aber eben auch die alternativen Deutungen offen zu legen. 68 Für Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, bei denen in gerichtspsychiatrischen Gutachten aus Beobachtungen über den Lebenswandel Urteile über den Bewusstseinszustand von Delinquenten abgeleitet wurden, siehe bspw. S IEMENS , Forschung. 69 K ÄSTNER , Experten. Diesem Beitrag liegt die Analyse von 160 Selbsttötungen und 56 vollständig oder summarisch überlieferten ‚testimonia vitae’ für den Zeitraum 1700 bis 1815 zugrunde, die auf Erhebungen im Ephoralarchiv Pirna und dem Archiv des Gesamtkonsistoriums Glauchau im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz beruhten. Vgl. zum Thema Pfarrer und Strafjustiz die zusammenfassenden Ausführungen bei W ILBERTZ , Bekehrer. <?page no="86"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 75 Übergreifend ist festzustellen, dass die pastoralen Lebenswandelattestate in ihrer Argumentation innerhalb jenes Beurteilungsraumes zu verorten sind, den die Visitationsordnungen 70 ausgemessen haben. Zentrale Koordinaten waren die tagtägliche Glaubenspraxis und das sittliche Wohlverhalten bzw. der soziale Alltag. An diesen Bezugspunkten orientierten sich Einschätzungen, ob die Lebensführung gottselig, züchtig, eingezogen, mäßig und nüchtern war, ob Predigt und Abendmahl regelmäßig und mit einer entsprechend frommen Einstellung besucht worden waren. Weiter interessierten eventuelle Völlerei, übermäßige ‚Gasterey’ im Wirtshaus 71 oder privatim, sexuelles Verhalten, bspw. Unzucht, überhaupt aber unchristliche Verhaltensweisen wie etwa gotteslästerliches Benehmen oder Reden. 72 Darüber hinaus interessierte das Verhalten gegenüber Familienmitgliedern, Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern: War die Ehe etwa durch Zank und Streit gekennzeichnet? Hatte man in Unfrieden mit den Nachbarn oder der Gemeinde gelebt? Diese Fragen und Kategorien verweisen damit zum einen auf normative Ordnungsvorstellungen, zum anderen aber auch auf geteilte Deutungen und Festlegungen von lebensweltlichen Zusammenhängen, die einen Suizid erklären konnten. Für die Obrigkeiten, das meint zunächst einmal die für einen Begräbnisentscheid zuständigen Gerichte, Superintendenturen und Konsistorien, war eine solche Struktur natürlich von Vorteil, denn die Aussagen der Pfarrer bezogen sich so grundsätzlich auf geltende Normen zurück und wurden in deren Kategorienhorizont verortet. 73 Ausnahmen bildeten lediglich individuelle Äußerungen persönlicher Betroffenheit in einzelnen Fällen, bei denen sich Suizidenten und Pfarrer persönlich und emotional nahe gestanden hatten. Hier ähneln die Aussagen der Pfarrer stark den Aussagen betroffener Angehöriger von Suizidenten. Das Wissen der Pfarrer selbst unterschied sich grundsätzlich in der ihnen zugeschriebenen Autorität, kaum aber inhaltlich, bezogen auf Beobachtungen von Suizidenten, von dem Wissen anderer befragter Zeugen. Alle Aussagen in den Untersuchungen nach Selbsttötungen resultierten aus alltäglichen Kontrollbeobachtungen. Allerdings waren die Sinnbezüge der üb- 70 C OD . A UG ., Sp. 475 ff. (KO 1580), Sp. 619 ff. die Visitationsfragen. 71 Zum Wirtshaus als symbolischen Gegen-Ort des ordentlichen Lebens und der Kirche in der Gemeinde siehe R AU / S CHWERHOFF , Gasthaus-Geschichte(n). 72 Zu Letzterem jetzt ausführlich und mit ‚dichten Beschreibungen’ alltäglicher Gotteslästerungen in der Frühen Neuzeit S CHWERHOFF , Zungen. 73 Gabriela Signori hat darauf hingewiesen, dass im Verlauf von Spätmittelalter und Früher Neuzeit die in den Untersuchungsverfahren akzeptierten Argumente ohnehin zunehmend normiert wurden; S IGNORI , Rechtskonstruktionen, S. 20. <?page no="87"?> Teil A: Warum? 76 rigen Gemeindemitglieder vor allem die sozialen Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinde bzw. Nachbarschaft und allgemeine Ehrvorstellungen. Die pastoralen ‚attestata vitae’ bildeten ebenso wenig wie die summarischen Berichte von Amtsleuten zwangsläufig einen Konsens ab. Aber aus ihrer Amtsfunktion, der Stellung des Pfarrhauses als wichtigem ‚Drehpunkt’ 74 frühneuzeitlichen Gemeindelebens, aus dem Anspruch eines moralisch-sittlichen Vorbildes und aus einer alltagsrelevanten Ökonomie des Seelenheils erwuchs den Pastoren die Rolle eines ‚Experten’ für Fragen des Seelenheils und gottgefälligen Lebenswandels. Die pastorale Expertise über die Lebensführung wurde deshalb nachgefragt, weil sie lebensweltliche Kontrollbeobachtungen in einen allgemeingelehrten und theologischen Begründungszusammenhang stellte 75 und so Justizentscheidungen vorstrukturierte. Alltagswissen diffundierte so, nicht nur bei Untersuchungen von Selbsttötungen, 76 in justizielle Entscheidungsprozesse. Die von frühneuzeitlichen Geistlichen geäußerten Vermutungen über Hintergründe und Motive können durchaus auch uns plausibel erscheinen, denn mitunter nahmen diese ja auf Phänomene wie Schmerz- und Verlusterfahrungen Bezug, die auf den ersten Blick als anthropologische Konstanten erscheinen. Allerdings sind deren Ausdrucksweisen immer auch kulturell geprägt. Für die Frage nach Suizidmotiven ist entscheidend, dass sich Pastoren so wie andere befragte Personen auch, innerhalb eines spezifischen Deutungsrahmens der Kirchen- und Sittenzucht äußerten. Dabei ging es weniger darum, eine individuelle Leidensgeschichte zu entwerfen, als vielmehr eine Vielzahl an Kontrollbeobachtungen in Kategorien zu bündeln, die durch geltende Normen fixiert waren, und diese in einen mehr oder weniger explizit ausformulierten theologischen Begründungszusammenhang zu stellen. Auch die ‚testimonia vitae’ lassen damit - von Besonderheiten einzelner Fälle abgesehen - eher Beobachtungen über pastorale und obrigkeitliche Befindlichkeiten erwarten, als 74 Ich habe den von Georg Simmel geprägten Begriff des ‚Drehpunkts’ (S IMMEL , Soziologie, S. 706 ff.) in K ÄSTNER , Experten, S. 89 in die Diskussion um das Pfarrhaus eingeführt, weil er mir analytisch geeignet erscheint, um Stellung und soziale Funktionen des Pfarrhauses beschreibbar zu machen. Üblicherweise vertritt die Forschung zum Pfarrhaus die Vorstellung, das Pfarrhaus wäre ein kultureller Leuchtturm in einer apodiktisch als kulturlos verbrämten Gesellschaft gewesen; vgl. etwa die Beiträge in G REIFFENHAGEN (Hg.), Pfarrhaus. Vgl. jetzt für eine differenzierte Analyse des frühneuzeitlichen Pfarrhauses D ORNHEIM , Pfarrer. 75 R UBLACK , Priester und unten Teil B. 76 Zu diesen und der hier dargestellten Problematik bereits L EDERER , Madness, S. 242 ff.; L IND , Selbstmord, S. 345 ff.; S CHÄR , Seelennöte, S. 59 ff. <?page no="88"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 77 eine hinreichend präzise Annäherung an das Leben der Suizidalen, die eine eindeutige Motivdiagnose ermöglichen würde. 1.4. Beispiele Ein aufgeschnittener Bauch Im Archiv der Ephorie Pirna ist im Bestand der Pfarrgemeinde Ottendorf unter Nummer 4260 eine Akte abgelegt, die „in p[unct]o selbst-mord“ von Sterben und Begräbnis einer gewissen Elisabeth Nitzschin berichtet. 77 Über diese Frau eines Bauern erfahren wir recht wenig. Der Gemeindepfarrer hatte ein ausführliches Attestat an das Oberkonsistorium in Dresden verfasst. Hierin rapportierte er am 3. Januar 1714, die Nitzschin habe sich tags zuvor mit einem Scheermesser „einen schnitt einer hand lang in ihren leib, daß des gedärme heraus trit[t]“, zugefügt. 78 An dieser schweren Wunde sei die Frau schließlich am Vormittag des 3. Januar „nach großen kämpfen und inbrünstigen gebet vieler frommen christen, derer die stube voll war und nach treulichen zureden“ verstorben. 79 Nimmt man zunächst diese knappe Beschreibung des Falles und den Aktentitel - die Aktenregistratur erfolgte erst 76 Jahre später 80 - scheint es sich offenkundig um eine Selbsttötung gehandelt zu haben und wurde so auch von den Zeitgenossen der Nitzschin gedeutet. Allerdings enthält die Akte weitere Hinweise und Erklärungen zu dem Fall, die Anlass geben, die causa Nitzschin erneut aufzurollen. Gründe finden sich in den vom Pfarrer aufgezeichneten Aussagen der Frau, die ihm gegenüber zu erklären versuchte, warum sie sich den Bauch aufgeschnitten hatte. Diese Aussagen knüpfen an eine knappe Charakterisierung des frommen Lebenswandels der Nitzschin durch den Ortsgeistlichen an. 81 Der Pfarrer hatte in den Aussagen der Frau entlastende Argumente erkannt, die er zusätzlich zu dem positiven Zeugnis über die Lebensführung anbrachte, um abschließend Gott dafür zu danken, dass er der Nitzschin vor ihrem Ableben ihren Verstand wieder gegeben habe. 77 E PH A P IRNA , Ottendorf, Nr. 4260. 78 Ebd., fol. 1 v . 79 Ebd., fol. 2 r . 80 Vgl. hierzu die Ausführungen in W ARTENBERG , Findbuch [EphA Pirna]. 81 E PH A P IRNA , Ottendorf, Nr. 4260, fol. 2 v : „Wenn ich ihr vitam ante actam ansehe, so kann weder ich noch die gantze gemeine ihr ein böses lob oder zeugnis geben, sondern sie ist vor eine fromme, stille frau auch fleißige kirchengängerin iederzeit gehalten worden.“ <?page no="89"?> Teil A: Warum? 78 Dies war insofern von Bedeutung, als der Pfarrer noch einige dramaturgische Elemente guten Sterbens (‚ars moriendi’) berichten konnte. Den Prozess des Sterbens begleitete eine größere teilnehmende Öffentlichkeit („vieler frommen christen, derer die stube voll war“). Diese anwesenden Personen fungierten als Zeugen für die öffentliche Reue der Nitzschin. 82 Neben das Moment der Reue trat ein letztes Glaubensbekenntnis vor dem Tod: „ihren Jesum biß an ihr ende in hertzen behalten“. 83 Da ein ‚Selbstmord’ ja auch deswegen als böser Tod und unverzeihliche Sünde galt, weil der ‚Selbstmörder’ nicht mehr bereuen und Buße leisten konnte, war es wichtig zu betonen, dass die Nitzschin am Ende einen ‚Tod im Herrn’ gestorben war - die Art des Todes zeigte den Lebenden den vermutlichen Zustand der Seele an. Das pastorale ‚testimonium vitae’ entwarf hier die Geschichte eines seligen Todes. Überdies stellt sich die Frage, wie die Aussagen der Nitzschin, die uns vermittelt durch den Pfarrer überliefert sind, gedeutet werden können. Der Pfarrer berichtete: „Uber ihren leib aber hat sie ieder zeit geklaget, und gesprochen, wenn sie nur wißen sollte, was sie in ihrem leibe so brenne. Sie gab auch anfangs auff mein befragen, warum sie ihren leib aufgeschnitten, zur antwort, sie hätte sehen wollen, was in ihren leibe wäre, daß sie so brenne und schmertze“. 84 Sollte man diese Aussage eventuell wörtlich und ernst nehmen und in ihr kein bloß exkulpierende Erzählstrategie der Nitzschin erkennen? Zunächst ist zu beachten, dass das Zitat indirekt ihre Antwort auf die ersten Fragen des Pfarrers spiegelt. Zuvor hatte sie, wegen der Schmerzen und des Blutverlustes besinnungslos im Bett gelegen und konnte nicht befragt werden. Das macht eine reine Entlastungsstrategie der Nitzschin unwahrscheinlich erscheinen, weil ihr die metaphysische und strafrechtliche Tragweite ihrer Tat nicht unmittelbar bewusst gewesen sein muss. Über ihre tatsächliche körperliche und geistige Verfassung zu diesem Zeitpunkt erfahren wir ohnehin nichts Genaueres. Ihr späteres Ringen um Reue und den Glauben an die Gnade Gottes, das der Pfarrer so intensiv beschrieb, scheint eher eine Reaktion auf die den ersten Fragen folgenden Vorhaltungen des Pfarrers gewesen zu sein, der ihr die Ge- 82 Zur teilnehmenden Öffentlichkeit im Prozess des Sterbens siehe auch A SSION , Sterben. Ferner zur ars moriendi K ÜMMEL , Tod. Vgl. auch den Katalog frühneuzeitlicher Kriterien für einen guten ‚Tod im Herrn’ bei M OHR , Tod, S. 49. 83 E PH A P IRNA , Ottendorf, Nr. 4260, fol. 2 r . 84 Ebd., fol. 2 v . <?page no="90"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 79 fahren ihres ‚selbstmörderischen’ Verhaltens für ihr Seelenheil aufgezeigt und zur Reue gemahnt hatte. Wie ist eine solche Aufzeichnung einer Körperwahrnehmung einzuordnen? Die Aussage der Nitzschin kann zumindest dann abwegig erscheinen, wenn man versucht, sie aus der Perspektive eigener Körperwahrnehmungen zu interpretieren. Barbara Duden konnte aber schon 1987 in ihrer viel beachteten Dissertation zeigen, dass allein die Wahrnehmung des eigenen Körpers noch keine historische Körpererfahrung ermöglicht. 85 Konsequenterweise kann man dann jedoch die Aussagen der Nitzschin nicht einfach abtun, nur weil sie einem selbst abwegig erscheinen. Und ebenso konsequent muss dann darauf hingearbeitet werden, dass der aufgezeichnete Ausschnitt der Lebenserzählung Elisabeth Nitzschins nicht einfach hinter der Reduktion obrigkeitlicher Deutungen (in denen dieser Ausschnitt keine Rolle spielte - das Oberkonsistorium ging lediglich auf Lebenswandel und Reue ein) bzw. hinter anderen Plausibilisierungsbemühungen (wie etwa psychopathologischen Deutungen) verschwindet. Damit soll indes, das muss betont werden, noch nicht entschieden werden, welche Interpretation letztlich zu bevorzugen ist. Vielmehr ist hier die Selbstauskunft der Betroffenen ernst zu nehmen und auf ihre Plausibilität im Kontext frühneuzeitlicher Körperwahrnehmungen zu befragen. 85 D UDEN , Haut, S. 60 und passim. Siehe auch ihre Aussagen in D ÖCKER / S VOBODA , Netze. Ähnlich, wenngleich nicht unkritisch gegenüber Dudens Studie, L ORENZ , Körper. Zur Kritik an Duden ebd., S. 21: Die von Duden unterstellte Seinsmäßigkeit frühneuzeitlicher Körpererfahrung, von der sich die Moderne entfernt habe, würde nicht berücksichtigen, dass vorsoziale Körpererfahrung nicht möglich ist. Derart auf eine Perspektive festgelegt, verstehe ich Dudens Studie nicht, weil sie ja stark die sozialen und kulturellen Bedingungen weiblicher Körpererfahrung und ärztlicher Deutung im 18. Jahrhundert reflektiert. In jüngster Zeit wurde durchaus auch in eine andere Richtung diskutiert. Iris Ritzmann hat in mehreren Beiträgen gefordert, wieder verstärkt humanbiologische Konstanten in den Blick zu nehmen, auf denen kulturell geprägte und konstruierte Leidenserfahrungen aufsatteln. Sie geht davon aus, dass diese Konstanten auf eine auch gefühlsmäßige Nähe zu historischen Akteuren verweisen, ohne die weder ein Verständnis noch der Nachvollzug historischer Leidenserfahrungen möglich sei. Die Summe ihrer methodischen Gedanken in R ITZMANN , Leidenserfahrung; ausführliche Studien in R ITZMANN , Sorgenkinder. Vgl. darüber hinaus zu geschlechtertheoretischen Aspekten der Debatte exemplarisch und mit weiteren Verweisen die Überlegungen von Christina Lutter, die in L UTTER , Geschlecht, das Projekt einer konsequenten Historisierung von Emotionen entwirft, um deren soziale Kontexte und Dynamiken erklärbar zu machen (ähnlich auch S PIEKER , Innenansichten). Zugleich verweist sie darauf, dass physische und psychische sowie soziokulturelle ‚Gegebenheiten’ in einem komplexen Wechselverhältnis stets aufeinander bezogen sind und jeweils in diesem Verhältnis verstanden werden müssen, ohne das eine durch das andere auszuschließen. <?page no="91"?> Teil A: Warum? 80 In ihrer ‚Geschichte unter der Haut’ hat Barbara Duden sowohl die praxisleitenden Vorstellungen eines Eisenacher Arztes um 1730 als auch die Modi persönlicher Verarbeitung von Kranksein im 18. Jahrhundert beschrieben. Einige der von ihr vorgetragenen Befunde können dabei helfen, die Aussagen von Elisabeth Nitzschin in einem historischen Kontext zu verorten. Mithilfe dieser Kontextualisierung kann gezeigt werden, inwieweit die Aussagen innerhalb bestimmter lebensweltlicher Horizonte plausibel sind. Der Pfarrer gab an, dass die Nitzschin oft krank gewesen sei und versucht habe, ihr Leiden mit verschiedenen Mitteln, unter anderem einer Badekur, zu lindern. Sie soll längere Zeit über heftige Schmerzen im Bauch geklagt haben. Diese Schmerzen seien ihr zuletzt unerträglich geworden, weshalb sie sich den Bauch aufschnitt, um die Ursache ihres Leidens zu entdecken (und vermutlich auch zu entfernen). Die Nitzschin war vor ihrem Tod ungefähr zwei Monate bettlägrig gewesen - Bettruhe war in der Frühen Neuzeit das Synonym für den Zustand des Krankseins schlechthin. 86 Ihr Mann und vor allem ihre Schwägerin standen ihr während dieser Zeit bei. Zunächst einmal verweisen diese Informationen auf die von Barbara Duden materialreich beschriebene ‚Kultur der Selbstbehandlung’ von Frauen im 18. Jahrhundert, denen in der Regel und zuallererst ihre Familien und andere Frauen beistanden. Diese Personen fungierten zugleich als Instanzen sozialer Kontrolle über die Kranken. 87 Der Pfarrer erscheint in seinem eigenen Bericht als sekundäre Bezugsperson. Seine Aufgabe bestand darin, die seelischen Leiden zu lindern. Er hatte von Zeit zu Zeit gemeinsam mit der Nitzschin gebetet und mit ihr das Abendmahl privatim zelebriert. Diese Form der Seelenarznei ergänzte in der Frühen Neuzeit aus Sicht der Betroffenen notwendig die rein mechanische und/ oder medizinische Behandlung. Zeitgenössische Handreichungen für Pfarrer belegen, dass die Behandlung von Kranken durch Pastoren vor allem auf die Bedürfnisse der Frömmigkeit und religiösen Kommunikation hin ausgerichtet war. 88 Barbara Duden konnte zeigen, dass die von den Betroffenen selbst favorisierten Therapien häufig in ‚Evakuationen’ des Körpers mündeten, d. h. vor 86 J ÜTTE , Ärzte, S. 163. 87 D UDEN , Haut, S. 94. Ähnlich auch J ÜTTE , Ärzte, S. 87: „Selbsthilfe im Krankheitsfall […] bildete im Unterschied zu heute [? ] die tragende Säule des medikalen Verhaltens der Stadt- und vor allem der Landbevölkerung“; ebd., S. 188 zu den unmittelbaren Bezugspersonen als Kontrollinstanzen. 88 R ÖSSLER , Pfarrhaus, S. 246 und passim. Zur frühneuzeitlichen Seelenarznei jetzt umfassend L EDERER , Madness. <?page no="92"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 81 allem in Aderlässen. 89 Aderlässe sollten in der Regel Stockungen im Säftehaushalt beseitigen, wurden aber auch zur Linderung aller möglichen Schmerzen appliziert. 90 In den von Duden ausgewerteten ‚Weiberkrankheiten’ finden sich zudem Beispiele, die das Verhalten Elisabeth Nitzschins plausibilisieren können. Im März 1731 ließ sich bspw. eine Frau im Beisein des von ihr beauftragten Baders von ihrem Arzt erklären, wie ein Schnitt von ihr selbst auszuführen sei, um einen Knoten in der Brust zu entfernen, und wie die Wunde danach wieder gestillt werden müsste. 91 Ebenso wie der Aderlass galt demnach auch das Öffnen des Körpers an der schmerzenden Stelle als Möglichkeit der Selbstbehandlung. Elisabeth Nitzschin scheint nicht von einem akademisch geschulten Arzt behandelt worden zu sein, zumindest berichtet der Pfarrer hierüber nichts. Auch ein Bader, darauf deuten die Geschehnisse nach ihrem Tod hin, war nicht immer unmittelbar zur Hand gewesen zu sein. Nachdem die schwere Verletzung vermutlich am Nachmittag des 2. Januar 1714 entdeckt worden war - Ehemann und Schwägerin waren zur Tatzeit kurz aus dem Haus, entdeckten die Verletzte nach ihrer Rückkehr und riefen Hilfe - kam der herbeigerufene Bader nicht rechtzeitig, um den erst tags darauf gegen 11: 30 Uhr eingetretenen Tod noch zu verhindern. Die medizinisch-chirurgische Versorgung der Landbevölkerung gestaltete sich im 18. Jahrhundert (aus moderner Perspektive) insgesamt problematisch, wenngleich es ein breites Angebot an ‚Heilkundigen’ gab. 92 Aber selbst wenn im Fall von Elisabeth Nitzschin hinreichend Ressourcen zur Verfügung gestanden hätten: Eingriffe in den Körper galten nur vonseiten persönlich nahestehender Personen als legitim, entsprechende Vorschläge von Ärzten wurden nicht selten abgelehnt. 93 Wir wissen allerdings nicht, denn hierüber schweigt der Bericht des Pfarrers, ob Elisabeth Nitzschin schon einmal darum gebeten hatte, ihr den Bauch zu öffnen, um die Ursache ihres Leidens zu entfernen. Wir wissen auch nicht, 89 D UDEN , Haut, S. 92 f. Vgl. auch J ÜTTE , Ärzte, S. 76 ff.; L ORENZ , Körper, S. 258. 90 Auch dies konnte Barbara Duden zeigen: Worte der Heilung sprechen stets vorrangig von einer Verringerung von Leiden; D UDEN , Haut, S. 180. Vgl. darüber hinaus zur Bedeutung von Aderlässen L ORENZ , Gutachtung, S. 208. Bspe. in S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 91 und 30621, Nr. 36; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 10530/ 20, o. Pag. Berichte vom Juni 1746 und 10088, Loc. 2061/ 2, fol. 375b r ff. 91 D UDEN , Haut, S. 117 f. 92 Für Sachsen siehe W ILDE , Heilkunst. Umfassend zu angeboten spiritueller Heilkunde L EDERER , Madness. Zu den Hebammen anstatt vieler L ABOUVIE , Hebamme, mit weiteren Hinweisen. Zu Pfarrern bspw. R ÖSSLER , Pfarrhaus. 93 D UDEN , Haut, S. 104 und passim. <?page no="93"?> Teil A: Warum? 82 welche Rolle ihre Familie bei der Auswahl der angewandten Heilmittel spielte. Wir können aber aus dem Kontext einer frühneuzeitlichen ‚Kultur der Selbstbehandlung’ zumindest schlussfolgern, dass wir nicht ausschließen können, dass es der Wunsch gewesen war, die eigenen Schmerzen zu lindern, der die Nitzschin zum Aufschneiden ihres Bauches bewegte und nicht ein ‚selbstmörderischer Wunsch’ zu sterben. Hierfür würde auch sprechen, dass die Nitzschin nicht wie andere suizidgefährdete und bettlägrige Kranke versuchte, ihrem Lager zu entkommen, um sich an einem abgelegenen Ort das Leben zu nehmen, an dem Interventionen erschwert waren. Mit dieser Perspektive stellt sich die Frage nach den Suizidmotiven in diesem Fall neu, denn es lässt sich nun nicht einmal mehr eindeutig sagen, dass es sich bei diesem tödlich endenden Vorfall um eine Selbsttötung gehandelt hat. Zwei weitere Befunde sprechen zudem dafür, den Tod von Elisabeth Nitzschin vorsichtig zu interpretieren. Zum einen sind im Quellencorpus dieser Dissertation Schnitte oder Stiche in den Unterleib nur in drei weiteren Fällen als Suizidmethoden belegt. Bei diesen handelt es sich ausschließlich um Männer, die harte Suizidmethoden nicht nur häufiger anwandten, sondern in deren Fällen weitere Suizidindikatoren, anders als bei Elisabeth Nitzschin, benannt wurden: Andreas Petzschmann hatte sich, nachdem er bereits einen Knecht schwer verletzt hatte, vor den Augen seines Vaters, mit dem er sich heftig zerstritten hatte, ein Messer in den Bauch gerammt. 94 Christoph Adam Weiße (Torgau 1743) 95 und Christoph Hordt (Großenhain 1786) 96 wurden als äußerst melancholisch und von hitzigen Fiebern und Gemütsbeängstigungen befallen beschrieben. Zum anderen lassen sich weitere Fälle aufzeigen, die zwar als ‚Selbstmorde’ bewertet wurden, bei denen aber nicht auszuschließen ist, dass medizinische Behandlungsversuche fehlgeschlagen sind: so etwa im Fall von Matthias Scheffler (Lichtenhain 1750), der an einem Schnitt in den rechten Arm verblutete, sich aber bereits seit mehreren Jahren selbst zur Ader ließ. Der ‚Selbstmordvorwurf’ wurde erhoben, weil Scheffler bei diesem tödlichen Vorfall nicht, wie er es sonst anscheinend getan hatte, ein spezielles Aderlassinstrument verwendet hatte. 97 94 S T A L EIPZIG , Richterstube, Strafakten Nr. 444. Zu diesem Fall auch unten Teil B, Kap. 6.4. 95 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 10530/ 20, o. Pag. Berichte vom Mai 1743. 96 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. IV., o. Pag. Verzeichnis der ‚Selbstmörder’ von 1786. 97 E PH A P IRNA , Lichtenhain, Nr. 3561, fol. 7 r ff. <?page no="94"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 83 Nicht nur, so lässt sich hier resümieren, dass eine Intention zum Suizid im Fall Elisabeth Nitzschin wenig wahrscheinlich erscheint, wenn man den kulturellen Kontext ihrer Äußerungen, die ‚Kultur der Selbstbehandlung’ im 18. Jahrhundert, erhellt und ähnliche Vorfälle vergleichend heranzieht. Auch die ‚Suizidmethode’ erscheint zumindest der Häufigkeitsverteilung nach als äußerst unwahrscheinlich. Bei der Frage nach Suizidmotiven, so die Pointe dieses Beispiels, wäre im Einzelfall also immer auch zu prüfen, ob überhaupt eine Selbsttötung vorliegt. Nur in den wenigsten Fällen lässt sich das allerdings prüfen und ich habe bereits in der Einleitung für ein pragmatisches Vorgehen plädiert, das den frühneuzeitlichen Zuschreibungen folgt, um die Frage nach den gesellschaftlichen Reaktionen auf Selbsttötungen in den Vordergrund zu rücken. Und zweifelsohne wurde der Fall von Elisabeth Nitzschin als ‚Selbstmord’ verhandelt. ‚Konkurrierende Wahrheiten’ Im Dezember 1737 berichtete der Maxener Pfarrer dem Superintendenten von Pirna von der Selbsttötung eines gewissen Johann George Jungnickel aus dem kleinen Ort Mühlbach. Das ‚testimonium vitae’ enthielt die üblichen Beschreibungen des christlichen Lebenswandels; Jungnickel wäre ein stiller und frommer Christ gewesen, der erst vor zwei Wochen gebeichtet und sich beim Heiligen Abendmahl eingefunden hätte. Wie einige Nachbarn dem Pfarrer zugetragen hatten, soll das üble Betragen seiner Ehefrau und seiner Schwiegereltern Jungnickel „zu solchen desparaten gedancken gebracht haben“. 98 Auch das zuständige Adelsgericht derer von Schönberg, Besitzer des Rittergutes Maxen, berichtete an den Pirnaer Superintendenten, sodass die Protokolle des summarischen Verhörs überliefert sind. Aus diesen gehen zunächst die Fragen hervor, die den Nachbarn und Bekannten gestellt wurden: was denn Jungnickel „bewogen haben müßte, zu dieser that zu schreiten? ob er schwermüthig gewesen, oder ob ihn sonst ein anliegen gedrücket, oder was ihn sonst von seiner bisherigen lebens arth bekannt sey“? 99 98 E PH A P IRNA , Maxen, Nr. 3836, fol. 1 r ; ebd. und f. der Bericht des Pfarrers; fol. 2 r das pastorale Attestat nahezu wortgleichen Inhalts und inklusive Pfarrsiegel. Mühlnickel war Besitzer einer Gartennahrung in Mühlbach gewesen. 1764 zählte Mühlbach einen besessenen Mann, neun Gärtner, sieben Häusler und eine Hufe. Die Einwohnerstruktur und -zahl, die um 1737 trotz Siebenjährigen Kriegs nicht wesentlich anderes ausgesehen haben dürfte, war also insgesamt recht übersichtlich, was die Kenntnis intimer Details, dies zeigt sich auch in den gerichtlichen Befragungen, des Ehelebens seitens der befragten Nachbarn erklären könnte. 99 E PH A P IRNA , Maxen, Nr. 3836, fol. 5 r . <?page no="95"?> Teil A: Warum? 84 Der Schwiegervater, der die Leiche gefunden und dies angezeigt hatte, wurde zuerst befragt, wusste aber keine Antworten. Allerdings gab er an, dass Jungnickel in seiner Ehe acht Kinder gezeugt hatte, wovon fünf noch leben würden. Das ist insofern eine wichtige Information, als im weiteren Verlauf der Befragungen Vorwürfe verweigerten Geschlechtsverkehrs sowohl gegen Jungnickel selbst auch gegen dessen Ehefrau erhoben wurden. Die weiteren Befragungen des Mühlbacher Gerichtsschöppen Höhne und einiger Nachbarn lassen sich wie folgt zusammenfassen: Alle Befragten bestätigten den guten Lebenswandel Jungnickels, und dass mit ihm gut auskommen war. Sie gaben an, dass Jungnickel stets ordentlich seine Arbeit verrichtet hätte. Während dieser ‚Handarbeiten’, die nicht näher erläutert werden, hätte sich Jungnickel allerdings permanent über seine Ehefrau und seine Schwiegereltern beklagt, die hartherzig seien und ihm sogar das Brot verweigern würden. Ein gewisser Tobias Kaufft aus Mühlbach konnte dies abschließend alles bestätigen und wusste dazu noch zu berichten, dass Jungnickels Frau vor einem Jahr gesagt hätte „Er hätte sich nimmer hängen wollen“ 100 - allerdings konnte Kaufft nicht mehr angeben, auf wen und worauf sich diese Aussage bezog. Daraufhin luden die Gerichte die Ehefrau des Verstorbenen, Anna Maria Jungnickelin, vor und befragten diese zunächst gleich den anderen ‚Zeugen’. 101 Sie berichtete, sie hätte an ihrem Mann „offters melancholie, herzens bangigkeit und ein schwärs gemüthe gemercket, so daß es vor angst nicht zu bleiben gewußt, außer dem wäre er trozig und nachläßig gwesen, hätte sich auch um das hauswesen oder die kinder gar nicht gekümmert, sondern wäre auf einer stelle liegen geblieben [… ]. Sie hätte ihn auch kaum zur ehe gehabt, da er schon vom erhencken geredet, derwegen sie in offters zugeredet, daß er doch fleißig bethen und gott um einen gutten sinn anflehen solle“. 102 Nach dieser Schilderung war Jungnickel also seit Jahren melancholisch und hatte offen darüber gesprochen, sich erhängen zu wollen. Inwiefern dies eine bloße Erzählstrategie der Ehefrau war, lässt sich rückblickend nicht ermessen. Auf jeden Fall wurde sie nach dieser Aussage, die doch erheblich von den Aussagen der Nachbarn abwich, mit deren Vorwürfen konfrontiert. Unter Tränen leugnete sie alle Vorwürfe, beteuerte das Gegenteil und erzählte, dass Jungnickel ihr seit Jahren den ehelichen Beischlaf verweigert hätte, was sie ‚vor 100 E PH A P IRNA , Maxen, Nr. 3836, fol. 7 r . 101 Ebd., fol. 7 r ff. 102 Ebd., fol. 7 r f. <?page no="96"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 85 lauter Schreck’ nicht gleich angezeigt habe. 103 Ja, Streit hätte es hin und wieder gegeben. Aber sie hätten sich als gute Eheleute stets wieder vertragen. Sie habe dies alles nie in die Dorföffentlichkeit getragen und ihre Sorgen für sich behalten. In einem Punkt widersprach sie abschließend noch der Schilderung des Pfarrers. Jungnickel wäre nämlich kaum zur Kirche gegangen. Dieser Punkt ist im Rahmen ihrer Erzählung folgerichtig, denn sie schilderte ihren Ehemann als zurückgezogenen, zutiefst melancholischen Grübler. Mit derart widersprüchlichen Aussagen konfrontiert, befragte das Gericht abschließend noch die Nachbarin Margaretha Wiegandtin. Diese sagte aus, Jungnickel sei weder schwermütig gewesen, noch hätte sie sonst eine „maladie“ an ihm gemerkt. Er wäre ein friedlicher Mensch gewesen, gleichwohl aber eigensinnig und halsstarrig. Auch hätte er oft über das Verhalten seiner Frau geklagt, die ihm bereits seit drei Jahren den Beischlaf verweigert und ihn elend liegen gelassen hätte. 104 Wie können die Aussagen eines solchen Befragungsprotokolls bewertet werden? Die Aussagen der Nachbarn sprechen allesamt für ein indirektes Verschulden der Ehefrau und belasten diese stark. Allerdings basieren alle Vorwürfe auf Äußerungen Jungnickels, der sich ihnen gegenüber über seine Frau beschwert hatte - sogar gegenüber einer Nachbarin! Die Ehefrau selbst scheint im Dorf recht isoliert gewesen zu sein, denn aus eigener Erfahrung im Umgang mit ihr konnte keiner der Befragten die Vorwürfe bestätigen bzw. lässt dies das Protokoll nicht erkennen. Selbst die Nachbarin konnte zwar Äußerungen Jungnickels erinnern, nicht aber vergleichbare der Ehefrau. Das könnte natürlich auch an der Struktur der Befragung durch die männlichen Gerichtsträger gelegen haben, die - das scheint mir aus der Abfolge der Befragung und den Notizen hervorzugehen - den Vorwürfen gegen Anna Maria Jungnickelin bereits vor deren Befragung geglaubt hatten und das Verhör und die Relevanzkriterien der Fragen danach ausrichteten. Dass es einen Beziehungskonflikt gegeben hat, lässt sich somit zwar durchaus plausibel feststellen. Welcher der Beteiligten in diesem allerdings welche Rolle eingenommen hat, bleibt eine Frage ‚konkurrierender Wahrheiten’, wie es Andrea Griesebner eingängig formuliert hat. 105 Eine solche Feststellung entzieht sich mithin nicht einer Interpretation des Falls, sondern versucht beiden Kon- 103 E PH A P IRNA , Maxen, Nr. 3836, fol. 8 r . 104 Ebd., fol. 9 v . 105 Zur Modulation ‚konkurrierender Wahrheiten’ vor Gericht siehe G RIESEBNER , Wahrheiten, insbes. S. 144 ff. <?page no="97"?> Teil A: Warum? 86 fliktparteien gerecht zu werden. Der ganzen Befragung liegt eine Selbsttötung als Handlungssituation zugrunde, für deren Beurteilung alle Befragten und das Gericht sowohl auf den Situationskontext als auch auf die Person Jungnickels blickten. Anders als bei normalerweise vor Gericht ausgetragenen Beziehungskonflikten lassen sich hier Akteurs- und Beobachterebene weniger präzise voneinander abgrenzen, sodass sowohl die Nachbarn als auch die Ehefrau ihre Kausalzuschreibungen in einem gleichen Handlungszusammenhang (Ehekonflikt) verorteten, der aber jeweils aus der Perspektive eines der beiden Beteiligten erzählt wurde. 106 Die Schwierigkeit, ‚konkurrierende Wahrheiten’ zu interpretieren, ist damit angedeutet. Das folgende Beispiel verdeutlicht noch einmal eingängiger die Unwägbarkeiten einer Rekonstruktion von Suizidmotiven anhand von Gerichtsakten. Um die grundsätzliche Problematik zu erhellen, spitze ich die bisherigen Argumente zu. Ich schildere zunächst kurz einen von mir bereits an anderer Stelle untersuchten Fall. 107 Johann George Berger überlebte 1788 im sächsischen Weißenfels den Versuch sich zu erhängen. Die Untersuchung förderte ebenfalls ‚konkurrierende Wahrheiten’ zutage. Diesmal jedoch konnte der Beschuldigte persönlich (gegen die Geschichte seiner Ehefrau) aussagen. Die Plausibilitätskonstruktionen und Motivzuschreibungen der Beobachter (Befragte, Amtspersonen und zentrale Landesverwaltung) und des Beschuldigten liegen uns mit den summarischen Berichten und Reskripten vor. Der Tagelöhner Berger wurde, nachdem er sich aufgeknüpft hatte, von seinem Sohn entdeckt und losgeschnitten. Carl Wilhelm Lech, der zuständige Amtmann, befragte Ehefrau und Sohn zu den möglichen Tatmotiven. Diese gaben an, Berger hätte ein sehr liederliches Leben geführt: „hat wenig gearbeitet, und diejenigen […] geräthschaften, mit welchen er sein brod verdienen können, 106 S PIEKER , Innenansichten, S. 221, verdeutlicht im Fazit einer exemplarischen Analyse eines Ehekonflikts, „dass Angeklagte und Zeugen, also Agierende und Beobachtende, in denselben Handlungszusammenhängen systematisch verschiedene Kausalattributionen vornehmen: Während Akteurinnen und Akteure auf die Situation abheben, richten Beobachtende ihr Augenmerk auf die Person des Beobachteten.“ Im Übrigen wurde die Leiche noch am 2. Dezember 1737, also dem Tag der Befragungen, durch einen Fremden für einen Lohn von zehn Talern auf dem Grundstück Jungnickels neben einem Gestrüpp verscharrt. Tags darauf ging das Reskript des Oberkonsistoriums bei der Superintendentur in Pirna ein. In diesem wurde, „auch in ansehung der an ihm zeithero wahrgenommenen melancholie“ eine stille Beisetzung auf dem Kirchhof gewährt. Sollte das Schwierigkeiten bereiten, sollte die Leiche an der äußeren Friedhofsmauer beerdigt werden. E PH A P IRNA , Maxen, Nr. 3836, fol. 11 r ff. 107 K ÄSTNER , Seelen, S. 68 ff. <?page no="98"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 87 verkauffet, und das geld dafür in die brandeweinhäußer getragen“. 108 Ehefrau und Sohn hatten Berger also einen unchristlichen Lebenswandel zum Nachteil der Familie vorgeworfen - ein mit Blick auf die Schuldfrage für Berger problematischer Vorwurf. Ihm drohte nach dem landesherrlichen Suizidmandat von 1779 eine Zuchthausstrafe. 109 Der Fall Berger illustriert auf eine sehr eingängige Art und Weise, wie problematisch die Aussagen Dritter im Einzelfall sein konnten, denn Berger kam während der Untersuchung selbst zu Wort und lieferte zu den Aussagen seiner Familie eine Konkurrenzgeschichte. Zunächst versuchte er sich strategisch zu entlasten und beschrieb seinen Suizidversuch als Gestus, mit dem er seiner Familie einen Streich spielen, sich jedoch nicht wirklich töten wollte. In Anbetracht des Ortes - eine Scheune außerhalb der Stadt - und der Methode erscheint dies im Rückblick zwar unwahrscheinlich und den taktischen Optionen im Verhör geschuldet. Aber der Amtmann glaubte Berger, weil in den gegenseitigen Schuldzuweisungen Bergers und seiner Familie ein Familienkonflikt deutlich wurde, bei dem der Amtmann sich augenscheinlich auf die Seite Bergers stellte. Berger gab zwar zu, von Zeit zu Zeit Alkohol konsumiert zu haben, machte dafür und für sein persönliches Elend aber die Rückkehr seiner Tochter ins elterliche Haus verantwortlich. Mit zwei „hurkindern“ sei diese eingezogen. Danach wäre ihm von seiner ganzen Familie übel mitgespielt worden. 110 So habe er die Wohnstube nicht benutzen dürfen. Er habe im Stall nächtigen müssen und schließlich sei ihm auch ein warmes Essen verwehrt worden. Um an Brot zu gelangen, wäre er gezwungen gewesen, einige Gerätschaften für den Lebensunterhalt als Tagelöhner zu verkaufen, die er altersbedingt ohnehin nicht mehr habe nutzen können. Diese Aussagen Bergers ermöglichen es uns, die Aussagen seiner Familie alternativ zu deuten und das Gesamtbild der Aussagen als ‚konkurrierende Wahrheiten’ zu verstehen. Die divergierenden Erklärungen sind ähnlich wie oben im Fall Jungnickel kaum einsinnig aufzulösen. Der Weißenfelser Amtmann Lech ging nach Abschluss der Befragungen davon aus, und darauf 108 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, o. Pag., Bericht aus Weißenfels vom 6. November 1788. 109 Zur Implementierung dieses Mandats ausführlich unten Teil C, Kap. 10. Das Mandat in C OD . A UG . C ONT . II, P. I, Sp. 757 ff.; Anhang II.5. 110 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, o. Pag., Bericht aus Weißenfels vom 6. November 1788. <?page no="99"?> Teil A: Warum? 88 kommt es mir hier an, Johann George Bergers Aussagen seien tendenziell eher als wahr zu erachten als die seiner Familie: „und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, wenn man die art und weise, wie sich Berger erhencket in erwägung ziehet, daß es Bergern wohl mehr darum zuthun gewesen, den seinigen einen schreck zu machen, und selbige zu einen beßern benehmen gegen ihn zu bewegen, als daß er sich würcklich das leben hätte nehmen wollen“. 111 Augenscheinlich flossen in diese Bewertung die Plausibilitätsvermutungen des Amtmanns ein, der aus der Art und Weise des Suizidversuchs auf einen Appell an das Umfeld schloss. Als Mann erachtete er zudem die Aussagen des befragten Familienvaters tendenziell eher als wahr. Damit ist jene bereits in der Beschreibung der Untersuchungsverfahren angesprochene Deutungsebene erkennbar, die auf die ‚Filterfunktion der Verhörenden und Schreiber’ rückverweist, die Perspektive der Berichtenden. Diese begegnet uns in den Quellen als ein interpretativer Akt zweiter Ordnung, dessen Grammatik es zu befragen gilt, um soziokulturelle Kontexte und Befindlichkeiten zu entschlüsseln. Im Fall Johann George Berger müssen wir uns nicht für oder gegen eine der Versionen der Beteiligten entscheiden. Hier würden wir aufgrund der Quellenlage ohnehin nur spekulieren können. Vielmehr sollte die Gegenüberstellung der Aussagen ein grundlegendes Problem der Rekonstruktion von Suizidmotiven anhand der Aussagen Dritter verdeutlichen. Für den Fall, dass der Suizidversuch Bergers zum Tod geführt hätte, wären lediglich die knappen Aussagen von Bergers Familie aktenkundig geworden. Ein solches Szenario ist ja der aktenkundige Regelfall. Zur Ergründung von Handlungsursachen und Tatmotiven wären dann nur Äußerungen über Trunksucht und schlechten Lebenswandel Bergers überliefert worden. Eine derartige Quellenlage hätte lediglich auf eine nicht näher erklärbare Verzweiflung über die eigenen Lebensumstände als Beweggrund für einen Suizidversuch hingedeutet, ohne dass diese Lebensumstände wiederum näher beleuchtet worden wären. Ein Familienkonflikt, der mit den Äußerungen Bergers für den Amtmann wahrscheinlich war, hätte sich nur vage in den belastenden Aussagen seiner Familie angedeutet. Auch dieser Fall illustriert den bereits angesprochenen Umstand, dass jede vorhandene Information unser Bild von einer Selbsttötung beeinflusst, was ebenso für die untersuchungsleitenden Obrigkeiten galt. 111 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, o. Pag., Bericht aus Weißenfels vom 6. November 1788. <?page no="100"?> Kapitel 1: Überlegungen zur Quellenkritik 89 Die Aussagen aller Beteiligten im vorliegenden Fall können zumindest als retrospektive Sinnkonstruktion ernst genommen werden. Ralf-Peter Fuchs und Winfried Schulze haben darauf hingewiesen, dass an Verhörprotokollen gerade diese Deutungen und die damit verbundenen „Stilisierungen von Handlungen zu Geschichten mitsamt der Konstituierung von Charakteren“ interessieren. 112 In historischer Perspektive muss die einsinnige Auflösung einer solchen Geschichte also gar nicht Ziel der Analyse sein. Überblickt man den Bericht des Amtmanns im Fall Berger vor dem Hintergrund dieser Sichtweisen, ließe sich auch eine Stilisierung des Berichts annehmen, die schlussendlich die Bewertung des Amtmanns gegenüber der Landesregierung legitimieren musste. Hierzu konnte sich der Amtmann augenscheinlich auf lebensweltlich nachvollziehbare Motivvermutungen stützen, indem er auf den für Berger misslichen Beziehungskonflikt mit seiner Familie verwies. Selbst wenn man im Fall von Johann George Berger beiden ‚Parteien’ strategische Absichten unterstellt, so fußten doch auch diese auf alltäglichen Erfahrungswerten. Beide ‚Versionen’ mussten schließlich so konstruiert werden, dass sie beim Amtmann (und über diese Instanz hinaus) überzeugen konnten. Auf der Basis von summarischen Berichten, die auf Gerichtsprotokolle gestützt sind, ist also wenn überhaupt, dann nur von mehr oder weniger plausiblen Motivzuschreibungen, eventuell auch Hintergründen von Suiziden zu sprechen. Jede zusätzliche Information verändert die Perspektive ebenso wie jede verschwiegene. Nun ist aber nicht automatisch durch die Überlieferung des Falles Berger belegt, dass die Aussagen Dritter prinzipiell als ‚falsch’ abzulehnen sind - ein derartig verallgemeinernder Umkehrschluss der ursprünglich kritisierten Auffassung scheint mir nicht zulässig. Nur hat der Fall Berger eines verdeutlicht: Wir wissen nicht genau, welche Informationen die Quellen verschweigen. Und gerade deshalb ist Zurückhaltung bei der Interpretation frühneuzeitlicher Berichte über Selbsttötungen durch den Historiker einzufordern. 112 F UCHS / S CHULZE , Zeugenverhöre, S. 29. <?page no="101"?> Teil A: Warum? 90 2. Retrospektive Diagnose, Biochemie, Suizid und Geschichte In der historischen Suizidforschung ist mit allgemeinen quellenkritischen Überlegungen die Frage eng verknüpft, inwiefern retrospektive Diagnosen im Sinne einer Übertragung frühneuzeitlicher Deutungen und Begriffe in gegenwärtige medizinische bzw. psychoanalytische Kategorien und Modi der Beschreibung einen Erkenntnismehrwert bieten oder nicht. 1 Dabei kann es auch um die Entscheidung gehen, einen Todesfall ggf. als Suizid oder als Mord zu klassifizieren. 2 Ob retrospektive Diagnosen einen Mehrwert bieten, hängt natürlich vom Standpunkt des Betrachters ab. Ich würde daher die Frage so formulieren, ob eine solche Transformation auf der Basis der oben beschriebenen Quellenproblematik methodisch überhaupt zulässig ist. Dabei ist mir bewusst, dass in der Diskussion dieses Problems ab einem bestimmten Punkt eher prinzipielle ‚Glaubensfragen’ von Historikern verhandelt werden als nüchterne Argumente. 3 Dieser Abschnitt versteht sich daher weder als eine grundsätzlich erschöpfende Erörterung retrospektiv-psychohistorischer Ansätze noch als Reduktion der wesentlich breiter angelegten Forschungsdebatten auf diese eine Perspektive. Vielmehr soll gezeigt werden, zu welchen Perspektivverengungen nach meinem Dafürhalten sowohl ein biologischer als auch ein psychohistorischer Reduktionismus führen kann. Dabei versuche ich, gegenteilige Positionen im Blick zu behalten. So hat etwa Iris Ritzmann jüngst ihr Plädoyer für eine reflektierte Verknüpfung humanbio- 1 Dieses Problem ist hier nicht erschöpfend zu behandeln, weil systematische Diskussionen in neueren medizinhistorischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten zur Frühen Neuzeit nicht hinreichend geführt werden, sodass es zunächst einer grundsätzlichen Zusammenschau der vorhandenen Literatur bedurft hätte, was im Rahmen dieses kurzen Abschnitts nicht möglich war. Vgl. grundlegend und gegen die Möglichkeit einer retrospektiven Diagnose argumentierend L EVEN , Krankheiten; L EVEN , Einleitung, insbes. S. 25 ff. und 31 f. Dagegen G RAUMANN , Krankengeschichten, der die retrospektive Diagnose als Phänomen von Kontingenz beschreibt und prinzipiell die Möglichkeit einer solchen nicht ausschließt. Waltraud Pulz hat jüngst retrospektiv diagnostizierende Kommentare in Flugblatteditionen kritisiert und meinte, dass „trotz aller anschaulichen Beispiele dafür, daß sich Krankheitseinheiten als kulturelle Größen in unterschiedlichen Kulturen und Epochen nicht notwendig entsprechen, [...] die retrospektive Diagnose immer noch erstaunlich wenig problematisiert“ wird; P ULZ , Kalkül, S. 14 Anm. 29, Zitat S. 188. 2 Ersteres versucht bspw. K USHNER , Suicide. 3 Entsprechend vorsichtig und abwägend argumentiert deshalb auch L EDERER , Madness, S. 145 ff. <?page no="102"?> Kapitel 2: Retrospektive Diagnose 91 logischer Konstanten und soziokultureller Kontexte erneuert. 4 Sie hat allerdings weniger nachvollziehbar, als sie ihre Einwände gegen ein quasi-religiöses Verständnis vom Menschen als einem rein kulturellen Wesen vortrug, 5 dargelegt, wie dieses Unterfangen systematisch und methodisch kontrolliert umzusetzen ist. Daher sehe ich diese Debatte zwar als eröffnet, jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, dass Ritzmanns Vorschlag hier eine endgültige und tragfähige Lösung bieten kann. Darüber hinaus sehe ich einen deutlichen Unterschied in den Möglichkeiten für eine retrospektive Diagnose körperlicher Krankheiten, wie sie bei Ritzmann im Vordergrund stehen, und einer solchen von Geisteskrankheiten. 6 Mir geht es im Folgenden vor allem um Letztere. Für meine Überlegungen dient eine Studie von Karin Schmidt-Kohberg, in der sie Deutungen zu Suizidursachen und -motiven im Herzogtum Württemberg vorgetragen hat, als Aufhänger für eine weiter gehende Diskussion. 7 Es geht hier nicht darum, Schmidt-Kohbergs Arbeit insgesamt zu disqualifizieren. 8 Es lassen sich aber an ihrer Studie exemplarisch einige grundsätzliche Probleme psychohistorischer Interpretationen verdeutlichen. Schmidt- Kohberg hat die von ihr bearbeiteten Fälle zugegeben nicht durchgängig auf heute geläufige, medizinische Kategorien reduziert. Aber sie hat doch deutlich 4 Iris Ritzmann sprach sich bereits in einem 2001 publizierten Aufsatz und nun wiederholt in ihrer Dissertation 2008 dafür aus, das Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlichem Blick und einer historisch-konstruktivistischen Perspektive dahin gehend produktiv aufzulösen, dass der Blick sowohl auf humanbiologische Konstanten als auch auf soziokulturelle Kontexte gerichtet werden müsse. In Anlehnung an Charles Rosenbergs Modell des ‚Framing Disease’ will sie einige historische Krankheitszuschreibungen plausibel in eine moderne Sprache der medizinischen Diagnostik übersetzen können und andere nicht, weil davon auszugehen sei, dass es stark, weniger stark und kaum kulturell beeinflusste Krankheiten gebe; vgl. R ITZMANN , Sorgenkinder, S 21 f. und 121 ff. Etwas umfassender hatte sie jedoch schon in R ITZMANN , Leidenserfahrung, argumentiert. Zwar kritisiert sie durchaus zu Recht gegen eine dogmatische Ablehnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, argumentiert dann aber m. E. zugespitzt sowie an spezifischem Erkenntnisinteresse etwa einer Historischen Anthropologie (B ÄHR , Einführung; K ÜHNEL , Selbsttötung, S. 50 ff.) und am Problem des ‚Wie’ der Quelleninterpretation vorbei - ein Beispiel, das die Schlussfolgerungen doch deutlich zu weit zieht: „Ein Verzicht auf jede Art von Quelleninterpretation, die Empfindungen zum Ausdruck bringen, wäre wohl die erste Konsequenz einer Verneinung retrospektiver Diagnostik“; R ITZMANN , Sorgenkinder, S. 123. 5 R ITZMANN , Sorgenkinder, S. 122. 6 Ich schließe mich hier M IDELFORT , Eiszeit, S. 242, an. 7 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, hier bes. S. 119 ff. 8 Insbesondere mit ihrer Untersuchung des Umgangs mit Überlebenden von Selbsttötungsversuchen hatte Schmidt-Kohberg ja einen Aspekt in den Vordergrund gestellt, der bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben war; ebd., S. 159 ff. <?page no="103"?> Teil A: Warum? 92 den Standpunkt vertreten, dass die Aussagen frühneuzeitlicher Quellen möglichst auf moderne Kategorien projiziert werden sollten. In einem ersten Schritt werde ich die Argumentation Schmidt-Kohbergs kurz skizzieren. Der zweite Schritt meiner Argumentation schließt die in Kapitel 1 gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf Schmidt-Kohbergs Befunde ein. Drittens ist knapp ein interessanter Vorstoß zur Synthese unterschiedlicher Erkenntnisweisen zu reflektieren, der 1985 von Howard Kushner vorgetragen, aber in neueren Arbeiten nicht berücksichtigt wurde. 9 Anschließend ist viertens mithilfe dieser Erkenntnisse erneut nach dem denkbaren Mehrwert medizinischer, hier in erster Linie neuropathologischer Erklärungen für die historische Suizidforschung zu fragen. Dabei wird zum Fünften auch exemplarisch 10 auf einige fragwürdige Auswüchse psychopathologischer Deutungsversuche eingegangen. Karin Schmidt-Kohberg stellt am Beginn ihrer Untersuchung von Suizidmotiven richtig fest: „Welche Faktoren in seiner Entwicklung einen Menschen disponieren können, sich das Leben zu nehmen, ist in der jüngeren psychiatrischen und psychologischen Forschung umstritten.“ 11 Zudem streicht sie heraus, dass sie die psychische Dynamik innerhalb sozialer Beziehungen, die für die Erklärung suizidalen Verhaltens wichtig ist, anhand ihrer Quellen nicht erfassen kann. Hierin ist zweifelsohne ein übergreifender Befund erkennbar. Auch mit dem Versuch, äußere Einflussfaktoren zu untersuchen, befindet sie sich im Konsens mit der Forschung und ebenso mit der Feststellung, dass Sinn und Zweck der Untersuchungsverfahren nicht im Ermitteln detaillierter Motivbeschreibungen lag, wenngleich diese wie beschrieben latent thematisiert wurden. Aus diesen Befunden leitete sie jedoch, und das ist hier zu kritisieren, den Versuch ab - so würde ich zumindest ihren Beitrag verstehen -, vorhandene Quellenprobleme durch eine Diagnose von „psychischen Krankheitsbildern“ 12 zu umschiffen. Es erscheint zunächst berechtigt, die moderne medizinische Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Und auch David Lederer hat jüngst davor 9 K USHNER , Biochemistry. 10 B LESCH , Selbsttötungen. Unterschiede zwischen neuropathologischen und psychopathologischen Erklärungen werden hier nicht systematisch berücksichtigt. Mir geht es im Folgenden einzig um die methodische Vorgehensweise der einzelnen Autoren im Umgang mit historischen Texten. 11 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 119. Vgl. für einen solchen Befund der Uneindeutigkeit von Einflussfaktoren J OINER u. a., Psychology. 12 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 119. <?page no="104"?> Kapitel 2: Retrospektive Diagnose 93 gewarnt, sich allzu voreilig und unreflektiert von psychohistorischen Ansätzen zu verabschieden. 13 Ob man jedoch auf der Grundlage von - wie Schmidt-Kohberg selbst ausführt - äußerst begrenzten Aussagen in den Quellen zu eindeutigen medizinischen Diagnosen gelangen kann, wie sie es vorgibt, erscheint mir doch fragwürdig. Dies gelingt ihr m. E. nur, um es drastisch zu formulieren, indem sie die zeitgenössischen Erzählungen hinter vereindeutigenden medizinischen Diagnosen zum Verschwinden bringt. Und so wird dann aus einer Melancholie im Wochenbett, über deren nähere Umstände man ebenso wenig erfährt wie über die vorherige Krankengeschichte der betroffenen Frau, eine eindeutig zu diagnostizierende Schwangerschaftsdepression, die von Wahnvorstellungen begleitet wird. Und Alkoholismus wird zu einem Indikator ‚depressiver Verstimmungen mit körperlichen Symptomen’. 14 Wo liegt hier eigentlich das Problem? Die von Schmidt-Kohberg vorgetragene Deutung dürfte, so ließe sich argumentieren, doch eindeutig berechtigt sein, wenn man die Forschung anderer Wissenschaften ernst nimmt. Schmidt- Kohberg hält auch kritisch fest: „Sicherlich kann man heutige psychologische Erkenntnisse nicht ohne Weiteres auf die Vergangenheit übertragen.“ 15 Wieso sie es dann aber dennoch tut, erklärt sich wohl einzig aus dem Bemühen heraus, ein Verhalten dadurch verständlich zu machen, dass es nach Kategorisierungen sprachlich markiert wird, die dem modernen Beobachter geläufig erscheinen. Allerdings liegen diesem Ansatz zwei nicht weiter begründete Annahmen zugrunde: Erstens, dass moderne Kategorien dem Leser wirklich so viel mehr erklären. Zweitens, dass die frühneuzeitlichen Beschreibungen auf moderne medizinische Kategorien transponiert werden können. Die damit verbundenen methodischen Probleme werden außer Acht gelassen bzw. spielen für die Interpretation dann keine Rolle mehr, weil die Diagnose jeweils feststeht - eine Diagnose, die ein heutiger Mediziner (hoffentlich) wohl kaum derart eindeutig auf der Grundlage ähnlich knapper und sprachlich fremd erscheinender Texte fällen würde. 13 L EDERER , Madness, S. 147. Vgl. auch R ITZMANN , Leidenserfahrung. 14 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 122 ff. Ich würde der Vorgehensweise von Schmidt- Kohberg die Forderung eines in der Frühneuzeitforschung sehr häufig zitierten Aufsatzes von Rudolf Vierhaus entgegenhalten. Die Annäherung an das Leben frühneuzeitlicher Menschen über eine Rekonstruktion vergangener Lebenswelten bedeutete für ihn, „vergangene soziale Wirklichkeit und ihre symbolische Deutung durch die Menschen, die ihr angehörten, mit Begriffen und in der Sprache der Gegenwart zu interpretieren und darzustellen, ohne sie festen Erklärungsmustern und Bewertungshierarchien der Gegenwart zu unterwerfen“; V IERHAUS , Rekonstruktion, S. 15 f. 15 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 125. <?page no="105"?> Teil A: Warum? 94 Schmidt-Kohberg kritisiert, dass einige Arbeiten unkritisch die frühneuzeitliche Terminologie übernehmen würden. Weiterführende Erkenntnisse und ein besseres Verständnis würden, so ihr Argument, aber erst dann erreicht, wenn die zeitgenössischen Beschreibungen in heute geläufige Kategorien ‚übersetzt’ würden. 16 Diese Behauptung setzt aber unbegründet voraus, dass dem Leser Erklärungen wie ‚endogene Depression’ usw. immer auch verständlicher sind als die Beschreibungen religiös-melancholischer Niedergeschlagenheit usw. Das bedeutet, es wird vorausgesetzt, dass der moderne Leser auch die Begriffswelt des (Suizid-) Historikers bzw. von medizinisch Sachkundigen - denen ich mich nicht zurechnen würde - teilt, oder dass man sich unter einem zu niedrigen bzw. dysregulativen Serotonin-Spiegel auch etwas Konkretes vorstellen kann. Worin die von Schmidt-Kohberg behauptete weiterführende Erkenntnis liegt, wird weder begründet noch ist sie unmittelbar ersichtlich. Es wird auch unterschlagen, dass in den kritisierten historischen Studien ein Rückgriff auf die zeitgenössische Terminologie gerade deswegen erfolgt, weil diese Begriffe in einem Kontext verortet werden und so die historischen Grundlagen der jeweiligen Bedeutungszuschreibungen und eine zunächst fremde historische Kultur erschlossen werden soll. Kulturhistorisch argumentierende Studien versuchen, das hat David Lederer zuletzt beeindruckend vorgeführt, 17 historische Kontexte und historische Bedeutungszuschreibungen (oder wie oben kurz beschrieben historische Körpererfahrungen) zu erschließen und diese nicht durch anachronistische Deutungen zu verdunkeln. Gerade hierin liegt deren historischer Erkenntnismehrwert. Um nicht missverstanden zu werden, ich werfe psychoanalytischen Retrospektivdiagnosen nicht zwingend vor, dass sie ahistorisch sind. Mein Vorwurf richtet sich vielmehr dagegen, dem Charme und der suggestiven Erklärungskraft unserer eigenen (weder universalen noch unumstrittenen) Kategorisierungen zu erliegen und die Erzählungen der Quellen zielgerichtet zu glätten, weil die historischen Krankheitsgeschichten eigenen Erfahrungen ähneln mögen. Die psychoanalytische Heuristik in der Geschichtswissenschaft blendet (zumindest im vorliegenden Fall) weitgehend aus, dass die historische Psyche eines frühneuzeitlichen Menschen nicht zwingend mit unserer eigenen Psyche, die wir trotz intensiver diagnostischer Verfahren mitunter kaum verstehen, kongruent ist. 16 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 188 f. Anm. 53. 17 L EDERER , Madness. <?page no="106"?> Kapitel 2: Retrospektive Diagnose 95 Wie lassen sich nun aber konstruktiv heutige naturwissenschaftliche und historische Erkenntnisinteressen zusammenführen? 18 Letztlich geht es ja genau um diese Frage, die mit einer persönlichen Entscheidung für oder gegen die Verwendung z. B. einer psychoanalytischen Heuristik verbunden ist. Howard Kushner hat Vorschläge unterbreitet, wie Erkenntnisse aus der Neuropathologie mit historischen Befunden verknüpft werden könnten. Er hat z. B. gezeigt, wie man auf der Grundlage von Untersuchungen über historisches Ernährungsverhalten Rückschlüsse auf die Bildung des Serotoninspiegels ziehen kann. 19 Unabhängig davon, wie man zu diesem Unterfangen steht, sind Kushners selbstkritische Beschränkungen der Reichweite der Thesenbildung interessant. Er argumentiert nachvollziehbar, dass sich mithilfe einer solchen Untersuchung sowohl geschlechter-, als auch schichten- und ethnienspezifische Unterschiede in den Suizidraten eines Landes sowie deren Veränderungen im historischen Verlauf erklären lassen. Gleichzeitig kann eine solche Untersuchung, so Kushner, aber niemals endgültige monokausale Erklärungen liefern. Hinzu tritt ein historischer Einwand: Für das 16. bis 18. Jahrhundert lassen sich für das hier untersuchte Kursachsen weder genauere Suizidhäufigkeiten noch ansatzweise valide Suizidraten erheben. Kushners Anliegen scheitert für die Frühe Neuzeit - sein Augenmerk lag auf dem 19. und 20. Jahrhundert - an den Quellen. Interessant ist jedoch, dass Kushner die von ihm vorgeschlagene Perspektive zur Untersuchung größerer Sozialformationen nicht kurzschlüssig auf Einzelfälle überträgt, weil die Analyse trotz der komplexen Materie auf den individuellen Fall bezogen notwendig unterkomplex bleibt. Auch verrät uns, bezogen auf ein Individuum, die Feststellung eines mit hoher Wahrscheinlichkeit zu niedrigen Serotoninspiegel nichts über die kulturell bestimmten Betroffenheiten und Befindlichkeiten, die uns aber insbesondere als Historiker interessieren. In ähnlicher Weise scheint mir ein ebenso entscheidender Punkt in der Kritik an einer psychoanalytischen Heuristik folgender zu sein: Sie vereindeutigt den Einzelfall durch die kausale Verknüpfung einer Handlung (Selbsttötung, Selbsttötungsversuch) mit einem Bewusstseinszustand, den sie in Kategorien abbildet, zu deren Diagnose ihr die eigentlich notwendigen Untersuchungsobjekte fehlen. 18 Vgl. in einem anderen Zusammenhang auch das Plädoyer Wolfgang Reinhards für eine stärkere Berücksichtigung biologischer Erkenntnisse in der Historischen Anthropologie in R EINHARD , Pfeife. Dagegen kritisch K ÜHNEL , Selbsttötung, S. 50 ff. 19 K USHNER , Biochemistry. <?page no="107"?> Teil A: Warum? 96 Wohin kurzschlüssige Deutungen führen können, möchte ich abschließend anhand einer Studie des Psychologen Werner Blesch demonstrieren, die in der Forschung zu meinem Bedauern große Beachtung gefunden hat. 141 Blesch schrieb über 29 Suizide, die sich im 16. Jahrhundert im kurpfälzischen Oberamt Mosbach ereignet hatten. Blesch reproduzierte plakativ zeitgenössische Stigmatisierungen, indem er etwa einen gewissen Martin Strickholtz aus Hoffenheim als ‚psychopathischen Sonderling’ bezeichnet, weil dieser in den Quellen als ‚armer verrückter Mensch’ beschrieben wurde und sich den sozialen Regeln des Zusammenlebens aus Sicht der Gemeinde und des Amts verweigert hatte. 142 Nicht dass man als Historiker zwingend dazu aufgerufen wäre, gleich zur Ehrenrettung dieses im 16. Jahrhundert stigmatisierten Mannes einzuschreiten. Aber unreflektiert frühneuzeitliche Stigmatisierungen in eine moderne, ebenso stigmatisierende Begrifflichkeit zu gießen und so das (nun psychopathologisierte) Stigma fortzuschreiben, scheint mir fernab seriöser historischer Methode. Dem gleichen Schema folgte Blesch auch, als er einen gewissen Andreas Kessler als schizoid bezeichnete, nur weil diesem soziale Auffälligkeiten wie beispielsweise ein unregelmäßiger Gottesdienstbesuch und mehrfache Ankündigungen des Suizids nachgesagt wurden. 143 Nun mag man hier einwenden, dass Bleschs Ausführungen helfen würden, dem heutigen Leser historische Phänomene verständlich zu machen, weil die Interpretation auf heutige, d. h. dem intendierten Leser verständliche Kategorien abhebe. Dieser mögliche Einwand ist zwar nicht unrichtig, verkennt aber wie gesagt erstens den Anachronismus der Zuschreibung und zweitens die Tatsache, dass Blesch lediglich die Kategorien seiner eigenen Erfahrungswelt (und das bedeutet hier seiner Tätigkeit als Psychologe) in die Quellen hineinliest und damit seine Intention zur historischen Wirklichkeit erklärt. Das wird dann schließlich auch an Bleschs Erläuterung des frühneuzeitlichen Melancholiebegriffs deutlich, den er zur „am häufigsten verwendete[n] Bezeichnung für eine depressive Erkrankung“ erklärt. 144 Dagegen hat bereits die ältere Forschung 141 Vgl. zuletzt L EDERER , Suicide, S. 40 Anm. 17, der die Studie als exzellent bezeichnet. Der Beitrag wurde - auch dies ein Zeichen der Wertschätzung - mehrfach publiziert: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 5 (1993), S. 311 ff.; in: Suizidprophylaxe 20 (1993), S. 303 ff. und zuletzt in: Gunther Wahl/ Wolfram Schmitt (Hg.): Suizid (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Seelenheilkunde; Bd. 3), Reichenbach 1998, S. 63 ff. 142 B LESCH , Selbsttötungen, S. 312. Ähnlich problematische Deutungen auch bei K ÜHNEL , Selbstmord, S. 484 f. 143 B LESCH , Selbsttötungen, S. 313 f. 144 Ebd., S. 313. <?page no="108"?> Schlussfolgerungen (Teil A) 97 gegen eine derart die historische Situation verkennende Sichtweise betont, dass es sich bei Melancholiezuschreibungen um den Versuch handelte, verschiedenste Abweichungen vom angenommenen Normalzustand menschlichen Verhaltens sprachlich fassbar zu machen. 145 Ähnlich verhielt es sich mit alternativ oder parallel gebrauchten Zuschreibungen. Das Attribut ‚unsinnig’ zum Beispiel schloss im zeitgenössischen Verständnis neben dem Verweis auf melancholisches Verhalten auch ‚Raserey’, ‚Wahnwitz’, ‚Verrückung des Verstandes’, ‚Vernunftlosigkeit’ und schließlich ‚Blödsinn’ ein. 146 Allen Attributen war der Umstand gemein, dass sie ein vielfältiges Spektrum auffälliger Verhaltensweisen einrahmten und zugleich auf eine Suizidgefährdung hinweisen konnten. Darüber hinaus liefern sie aber kaum einen konkreten Hinweis auf einen psychopathologischen Befund nach ‚modernen’ Kriterien. Schlussfolgerungen (Teil A) Die Darstellung der Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen hat deren Intentionen verdeutlicht. Im Rahmen einer summarisch-inquisitorischen Untersuchung von Selbsttötungen wollten die frühneuzeitlichen Gerichtsträger strafrechtsrelevante Umstände erhellen. Insbesondere mithilfe einer Rekonstruktion der individuellen Lebensführung sollte der Bewusstseinszustand vor und während einer Selbsttötung bestimmt werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen führten zu einer an die Umstände des Einzelfalls angepassten flexiblen Strafzumessung. Wie gezeigt, fassten die im Verlauf dieser Untersuchungen sowohl von weltlichen als auch geistlichen Behörden angefertigten Dokumente (Befragungsprotokolle, summarische Berichte, ‚testimonia vitae’) unterschiedliche Kontrollbeobachtungen in Kategorien zusammen, die geltenden Normen der Kriminal-, Sitten- und Kirchenzucht entsprachen. Damit bieten diese Quellen einen Zugang zu gesellschaftlichen Wertvorstellungen sowie zu Sinn- und Bedeutungszuschreibungen an suizidales Verhalten. 147 145 Etwa T RENCKMANN , Geisteskranke, S. 10. 146 Hierzu Z EDLER Bd. 49, Sp. 2017 (Art. ‚Unsinnig’), stark von juristischen Erörterungen geprägt; dagegen stärker an religiösen und medizinischen Ideen orientiert ebd., Sp. 2046 ff. (Art. ‚Unsinnigkeit’). Dazu auch V ANJA , Leid, S. 215 ff. Vgl. ferner die literatur- und sprachhistorische Arbeit S TANITZEK , Blödigkeit. 147 In den treffenden Worten von Frank Fätkenheuer formuliert: Das „Einblicken in das subjektive Erleben [frühneuzeitlicher Menschen] ist nicht möglich. Kein Text ist unmittelbarer Ausfluss der Gefühls- oder Erlebniswelt eines Menschen. Immer richtet sich der Schreiber auch nach von außen kommenden Normen und Schreibkonventionen, nicht alles ist aufschreibbar.“; F ÄTKENHEUER , Lebenswelt, S. 42. <?page no="109"?> Teil A: Warum? 98 Ich verstehe daher die in den Quellen zutage tretenden Deutungsversuche als das jeweilige Ringen der Zeitgenossen um Plausibilisierung eines Ereignisses, das die Vorstellungen von Normalität der frühneuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Gewissheiten aufs Äußerste infrage stellte. Mithin kann dieses Ringen als ein Versuch verstanden werden, das Ereignis Selbsttötung wieder in einen Deutungsrahmen zu integrieren, der den Zeitgenossen eine Verständigung über den Vorfall ermöglichte und uns einen historischen Zugang. Der Anspruch an eigene Deutungsbemühungen lautet daher, Ambivalenzen, Widersprüche und unauflösbare Offenheiten da zuzulassen, wo diese sich aus den Quellen selbst ergeben und die eigene Interpretation jeweils als das Ergebnis einer Abwägung jeweils für sich plausibler Deutungsalternativen darzustellen. Der Lohmener Pfarrer Nicolai brachte, nachdem sich im Oktober 1806 sein Knecht auf dem Dachboden des Pfarrhauses erhängt hatte, die gleichwohl auch weiterhin nagende Ungewissheit all dieser Bemühungen um eine möglichst plausible Interpretation einer Selbsttötung auf eine Aussage, die gleichsam als Motto über den hier vorgetragenen Interpretationsversuchen stehen könnte: „Mein gott, was sagen wir dazu? Unser bißchen psychologie giebt uns doch hier gar keinen aufschluß - sollte es eine tiefgehende, aber richtige psychologie thun? “ 148 Weitere ist zu resümieren, dass die Diskussion über die methodischen Möglichkeiten und Folgen retrospektiver Diagnosen Zündstoff birgt. Sicherlich ist sowohl David Lederer als auch Iris Ritzmann zuzustimmen, die aus jeweils unterschiedlicher Perspektive für einen entspannten Umgang mit Erkenntnissen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen plädiert haben. Gleichwohl konnte hier für die historische Suizidforschung gezeigt werden, dass die methodische Auseinandersetzung mit Fragen der retrospektiven Diagnose bisher zu wenig problematisiert wurde und erst am Anfang der Diskussion steht. Wie ich zu zeigen versucht habe, scheitern einige der vorgeschlagenen Zugriffe an den Quellen, andere disqualifizieren sich durch nahezu völliges Fehlen historischkritischer Reflexion. Die Forschung sollte daher zwar einerseits weiterhin offen für die Anliegen von Kushner, Ritzmann u. a. sein und nach Quellen suchen, mit deren Hilfe sich die vorgeschlagenen Zugriffsweisen erproben lassen. Andererseits sollte sie Auswüchse der Interpretation, in denen Menschen ohne jegliche quellenkritische Reflexion rückschauend stigmatisiert werden, vehement kritisieren und an die Verantwortung historischer Interpretation erinnern. 148 E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1041, fol. 76 v . Siehe zu diesem Zitat auch meine Bemerkungen in K ÄSTNER , Experten, S. 96. <?page no="110"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 99 Teil B: ‚Vita ante actam’. Normen und Praktiken im Umgang mit Selbsttötungen im 16. und 17. Jahrhundert Die Stellungnahmen frühneuzeitlicher Autoren, die sich zum Thema Suizid äußerten, sattelten auf einer alten Tradition der Verwerfung und Sanktionierung des ‚Selbstmords’ im christlichen Europa. In diese Traditionen waren auch vorchristliche Deutungen eingeflossen, die den Suizid ablehnten. 1 Aristoteles hatte die Selbsttötung zu einer ehrlosen Handlung erklärt, weil er vom Standpunkt des ‚Staatsrechts’ Selbsttötungen als Vergehen am Gemeinwesen der ‚polis’ gedeutet hatte. 2 Platon wiederum hatte dem Menschen überhaupt das Recht abgesprochen, die volle Gewalt über sich selbst zu haben. Vielmehr befände sich, so das viel zitierte Gleichnis im ‚Phaidon’, ein jeder Mensch gemäß dem göttlichen Willen in einer Art Gewahrsam oder Wartturm, aus dem er nicht das Recht habe eigenmächtig auszubrechen. Der Mensch gehöre zum Besitz der Götter. Darüber hinaus enthielten sowohl Platons ‚Nomoi’ als auch andere vorchristliche Texte Hinweise darauf, dass vorsätzliche Selbsttötungen begräbnisrituell sanktioniert wurden. In der christlichen Tradition war die augustinische Diskussion der Suizidproblematik in ‚De civitate Dei’ prägend. Augustinus (354-430) qualifizierte jede Selbsttötung objektiv als Tötungsdelikt und entwickelte ein geschlossenes Konzept des ‚Selbstmords’ als Sünde und Verbrechen. 3 Greifbar wird die Problematisierung des Suizids im Christentum auch in den Beschlüssen spätantiker und frühmittelalterlicher Konzilien. Seit dem Konzil von Orléans (533) war etwa zurechnungsfähigen ‚Selbstmördern’ ein Begräbnis in geweihter Erde 1 Vgl. zu diesem Komplex K UNZMANN , Selbstmord, S. 3 ff.; L IND , Selbstmord, S. 23 ff. Insgesamt aber RE II, A 1, Sp. 1134 ff. Dort in summa die Verweise zu den relevanten vorchristlichen Autoren, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden sollen. Zum Judentum B RODY , Introduction. Dagegen zu den römisch-rechtlichen Traditionen W ACKE , Selbstmord. 2 Nikomachische Ethik 5.15. 3 De civitate Dei I.17: „qui se ipsum occidit homicida est.“ Vgl. B AUMANN , Recht, S. 16 f.; B LÁZQUEZ , Morallehre, S. 207 ff.; VAN H OOFF , Tod, S. 41, 43 (auch schon VAN H OOFF , Selbstmörder, S. 223). Für die Rezeptionsgeschichte der Frühen Neuzeit sind die Ausführungen bei S UEVUS , Warnung, fol. Bviii v ff. interessant, weil dort neben Augustinus auch die relevanten Auslassungen von Hieronymus, Chrysostomus und Platon sowie weitere antike Rechtstexte referiert werden. Siehe zur völlig anderen Situation für das russisch-orthodoxe Christentum jetzt M ORRISSEY , Suicide, S. 20 ff. <?page no="111"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 100 versagt. Das Konzil von Braga (563) versagte zudem die Leichenfeier. 4 Wilhelm Thümmel hat herausgestellt, dass nicht eindeutig klar sei, warum das Konzil von Braga diese Beschränkung eigentlich beschlossen hat. Möglicherweise könne dies entweder der Abschreckung oder der Reinhaltung der Feier gedient haben. 5 Jürgen Dieselhorst und im Anschluss an ihn auch Vera Lind haben die Verweigerung der feierlichen Beisetzung als infamierenden und auf das Diesseits ausgerichteten Ehrentzug für die Betroffenen interpretiert. 6 In ähnlicher Weise hat Richard van Dülmen - allerdings mit Fokus auf die Frühe Neuzeit - geltend gemacht, dass die Begräbnisverweigerung, gerade und insofern sie auch das soziale Umfeld traf, „ein Maß an Unehre [implizierte], das alle anderen Sanktionsmechanismen überschritt.“ 7 Die Begräbnissanktionierung sollte zwar symbolisch die im Jenseits erwartbare Verdammung der ‚Selbstmörder’ sowie die ablehnende Haltung der Kirche symbolisieren. Aber der Blick auf die sozialen Komponenten des Begräbnisses erweise den Schaden an und den Verlust von Ehre. 8 In der neueren Forschung hat Nicole Zeddies darauf hingewiesen, dass es sich bei den frühmittelalterlichen Einschränkungen der Begräbniszeremonien für Suizidanten zunächst lediglich um rein rituelle Sanktionen gehandelt hätte. Selbst „der rechte Ort des Begräbnisses für einen makellos verstorbenen Christen [wäre] noch nicht genau festgelegt“ gewesen. 9 Karl August Geiger hat überdies gezeigt, dass die kirchlichen Maßnahmen als eine negative Sanktionierung von Selbsttötungen zu verstehen seien, die das Ziel verfolgt hätten, Abscheu gegenüber der Tat Ausdruck zu verleihen, nachdem der ‚Selbstmörder’ sich einer Bestrafung praktisch entzogen hatte. Zugleich hätte die kirchliche Praxis, so 4 R ICHTER (Hg.), Corpus, Sp. 928 ff. Decreti Secunda Pars, Causa XXIII., Quaestio V., III. Pars, Sp. 933 ff. „non licere homini se ipsum occidere […] ‚Non occides,’ nec te, nec alterum“ (Sp. 934); vgl. auch ebd., III. Pars, C. XII die Bestimmungen des Konzils von Braga (563) aufgreifend, nach denen „nulla pro illis [scil. Suizidanten] in oblatione commemoratio fiat, neque cum psalmis ad sepulturam eorum cadauera deducantur.“ (Sp. 935). Vgl. insgesamt für die Entwicklung seit dem Konzil von Karthago 348 auch G EIGER , Kirchenrecht, S. 226 ff. und B LÁZQUEZ , Morallehre, S. 208 ff., der allerdings ausschließlich bewusste Suizide behandelt; zusammenfassend L IND , Selbstmord, S. 21 ff., 26 ff.; W ACKE , Selbsttötung. 5 T HÜMMEL , Versagung, S. 50 ff., hier bes. S. 55 f. 6 D IESELHORST , Bestrafung, S. 73; L IND , Selbstmord, S. 27. In diese Richtung tendierend schon T HÜMMEL , Versagung, S. 109. 7 D ÜLMEN , Mensch, S. 83. 8 Auch Luther hatte bekundet: „ehr[e] sol ym begrebnis gesucht sein“; WA 23, S. 377. 9 Z EDDIES , Verwirrte, S. 68 f. Zur Situation in England M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 18 ff. <?page no="112"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 101 Geiger weiter, mitnichten den Schrecken entfaltet wie die weltlichen Bestimmungen, die, wie er meinte, eine unterschiedslose Malträtierung der Leichname von Suizidenten und ausufernde Vermögenskonfiskationen nach sich gezogen hätten. 10 Grundsätzlich bleibt an dieser Stelle zu bedenken, dass Kirche und Gesellschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht als zwei von einander getrennte Teilsysteme eines übergeordneten Ganzen betrachtet werden können. Die enge Verknüpfung von kirchlicher und weltlicher Ebene in der Vormoderne wird bspw. deutlich, wenn Kirchenvertreter zugleich als weltliche Grund- und Gerichtsherren nach Suizidfällen über eine mögliche Bestrafung zu entscheiden hatten. Überhaupt sind die weltlichen Bestimmungen zu Selbsttötungen in Mittelalter und Früher Neuzeit ohne den kirchlichen und theologischen Kontext nicht denkbar. Der interkulturelle Vergleich zeigt, dass die diffamierende Behandlung von ‚Selbstmördern’ im christlichen Kulturkreis am umfassendsten ausgeprägt war. 11 Der Blick der Frühneuzeitforschung zurück auf das Mittelalter ist nach wie vor von der Vorstellung geprägt, erst die (Frühe) Neuzeit habe einen differenzierten Umgang mit dem Phänomen Suizid ermöglicht und eingeleitet. Für diese Sicht typisch hat Gary B. Ferngren in einem Aufsatz über ‚The Ethics of Suicide in the Renaissance and Reformation’ die These vertreten, erst die Reformationen im 16. Jahrhundert hätten in auffälliger Weise eine qualitativ neuartige Differenzierung der Einschätzung von Selbsttötungen ermöglicht. 12 Hierfür machte er unter anderem humanistische Einflüsse 13 und die Infragestellung der traditionell problematischen Herleitung des Suizidverbots aus der Bibel geltend, in der ein solches explizit nicht enthalten ist. Ferngren spitzte die theologischen Positionen einseitig zu und meinte, dass Neugläubige wie Altgläubige den Suizid zwar weiterhin überwiegend ablehnten, die protestantische 10 D IESELHORST , Bestrafung, S. 62 ff.; G EIGER , Kirchenrecht; G EIGER , Selbstmord, S. 4 ff.; L IND , Selbstmord, S. 31 f. Zur Nachhaltigkeit des ‚Schreckens’ der Leichenmalträtierungen im sozialen Gedächtnis der frühneuzeitlichen Gesellschaft exemplarische Befunde bei F UCHS , Erinnerungsgeschichten, S. 91 und 136 f. 11 L ENZEN , Selbsttötung, S. 194 f. Ein Überblick über kulturvergleichende Aspekte der Suizidforschung kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Vgl. einführend die Beiträge und weiterführenden Hinweise in B ÄHR / M EDICK (Hg.), Sterben. Dort etwa zur komplizierten Forschungslage für den islamischen Kulturkreis K RAWIETZ , Selbsttötung. 12 F ERNGREN , Ethics. 13 Vgl. auch die Argumentation bei M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 78 ff. <?page no="113"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 102 Theologie jedoch anders als die katholische die Möglichkeit der reuevollen Buße und der göttlichen Gnade für den Suizidenten nicht ausschließen wollte. 14 Im Anschluss an Ferngrens These ist in diesem Teil B der Untersuchung herauszuarbeiten, ob und wenn ja wie weit sich eine differenzierte Sichtweise auf Selbsttötungen seit der Reformation im albertinischen Sachsen einerseits in der theologischen und juristischen Publizistik, andererseits in der pastoralen und gerichtlichen Praxis durchgesetzt hat. Die Auffassungen Luthers und Melanchthons prägten Normen und Praxis nachhaltig. Daher sind ihre Ansichten an den Beginn der Analyse zu stellen. Anschließend wird die theologische Debatte anhand von Quellen untersucht, die von der historischen Suizidforschung bislang kaum wahrgenommen wurden - Consiliensammlungen und Predigten. Im Weiteren werden die kursächsische Gesetzesentwicklung und das juristische Schrifttum betrachtet. Eine Diskussion der quantitativen Befunde zum 16. und 17. Jahrhundert leitet dann über zu einer Analyse einzelner Untersuchungsverfahren und Begräbnispraktiken. Anschließend werden exemplarisch lokale Erinnerungen an ‚Selbstmorde’ und den Umgang mit ‚Selbstmördern’ untersucht. Es wird gezeigt, auf welchen Traditionen, Diskussionen und Praktiken die kursächsische Gesetzgebung zum Suizid im 18. Jahrhundert aufbaute, die anschließend in Teil C untersucht wird. Durch diese chronologische Gliederung der inhaltlichen Schwerpunkte wird eine Grundlage dafür geschaffen, mögliche Veränderungen sowohl in der Bewertung suizidalen Verhaltens als auch in der normativen Sanktionierung von Selbsttötungen im 18. Jahrhundert besser einordnen und charakterisieren zu können. 14 Die ablehnende Haltung der katholischen Sittenlehre gegenüber dem Suizid bis ins 20. Jahrhundert bezeugt auch H ILGENREINER , Selbstmord. <?page no="114"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 103 3. Der Teufel führt die Hand der ‚Selbstmörder’. Positionen theologischer Schriften 3.1. Wie Luther einen ‚Selbstmörder’ beerdigt hat „Gott muss Barmherzigkeit sein“, tröstet ein junger Wittenberger Priester ein verzweifeltes Elternpaar. Kurz zuvor hatte der Priester dem Totengräber die Schaufel entrissen und eigenhändig ein Grab auf dem Kirchhof ausgehoben. Im Aushub liegen die Gebeine ehemals an gleicher Stelle Beigesetzter. Am Tor des Kirchhofs hat sich eine erstaunt und zugleich furchtsam blickende Menge versammelt, um das energische Treiben ihres Priesters zu beobachten. Der junge Mörtelträger Thomas, für den der Priester das Grab ausgehoben hat und dessen Eltern er zu trösten versucht, hatte sich tags zuvor auf einer Baustelle erhängt. Der Totengräber weigerte sich entsetzt, ein Grab auszuheben, weil ‚Selbstmörder’ doch nicht in geweihter Erde bestattet werden dürften. Der Priester jedoch - es ist der junge Luther in Aktion - versucht zu erklären, dass der Teufel den Jungen übermannt habe. Damit trage der Junge ebenso wenig Schuld wie ein Reisender, der im Wald von einem Räuber überfallen und ermordet wird. Luther gedenkt der erlösenden Gnade Gottes, setzt den Toten bei und spricht ihn von seinen Sünden frei. Diese dramatische Szene ist freilich durch keine historische Quelle belegt. Es handelt sich vielmehr um eine Sequenz aus Eric Tills Lutherverfilmung, die hier als Einstieg dient. 15 Eine fiktionale Filmsequenz als Einstieg in ein Kapitel einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung, zudem die Sequenz eines umstrittenen Films - wozu? Der unvermeidliche Kritikreflex des Feuilletons 16 bemängelte schon beim Kinostart des Films, Drehbuchautoren und Regisseur hätten wesentliche Botschaften des Films in historisch umstrittene oder gar fiktive Sequenzen verdichtet. Dass Luther als ‚Revoluzzer’ die Leinwand betrete und einem ‚Selbstmörder’ ein christliches Begräbnis verordnete, stieß bspw. Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung als mindestens streitwürdiges Zugeständnis an die Kinodramatik auf. 17 Nun ist es zwar durchaus wichtig und 15 Luther (NFP teleart 2003/ DVD 2004 Universal Pictures und NFP teleart). Regie Eric Till, Drehbuch Camille Thomasson und Bart Cavigan, 18`16-20`53. Vgl. zu dieser Sequenz auch den historischen Roman zum Film: D IECKMANN , Luther (Roman), S. 101 ff. 16 Zu dessen Logik C RIVELLARI , Unbehagen. 17 V AHABZADEH , Himmelhund. <?page no="115"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 104 richtig über die Umsetzung historischer Themen in Spielfilmen zu diskutieren und man mag auch berechtigte Einwände gegen die Verarbeitung des Themas in Eric Tills Lutherfilm - zumal als frustrierter und gescheiterter Ratgeber und Luther-Experte - vorbringen. 18 Allerdings reibt sich die historische Filmforschung schon seit Jahrzehnten nicht mehr im ermüdenden Kleinkrieg gegen fehlerhafte Details auf, sondern fragt bspw. nach der Konstruktion und Wirkung von Geschichtsbildern, die durch Filme geprägt werden bzw. wie Filme ihrerseits von gesellschaftlichen Einflüssen und bestehenden Geschichtsbildern geprägt sind. Aus dieser Perspektive sind Filme und ihre Kritiken gleichsam Quellen, die vom gesellschaftlichen Ringen um Sinnbilder und Werte einer jeweiligen Zeit berichten, in der die Filme produziert, ausgestrahlt und rezensiert werden. 19 Gleichwohl bemängelte der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, der sich durchaus bewusst war, dass ein „von Folianten umgebener Gelehrter, der im Studierzimmer über biblischen Texten brüte, […] nicht zum Filmhelden“ tauge, an der eingangs beschriebenen Sequenz, dass die Inszenierung eines ‚Selbstmörderbegräbnisses’ eine Form fiktionaler Sinnbildstiftung durch „religiöse action“ sei. Zudem sei sie unzulänglich, weil sie, so Graf, eine Pointe lutherischer Theologie, nämlich die reformatorische Unterscheidung zwischen 18 H ENDRIX , Reflections. 19 Dass Geschichtsdarstellungen in audiovisuellen Medien durchaus nicht unter mangelnder Qualität leiden, versucht die Studie L ERSCH / V IEHOFF , Geschichte zu belegen. Vgl. unter den neueren deutschsprachigen Sammelbänden (die ungleich weiter gespannt englische Diskussion ist hier nicht darstellbar) exemplarisch E RLL / W ODIANKA (Hg.), Film; F ISCHER / W IRTZ (Hg.), Alles authentisch? ; L INDNER (Hg.), Drehbuch; M EIER / S LANIČKA (Hg.), Antike; mittlerweile klassisch R OTHER (Hg.), Bilder; R OTHER (Hg.), Mythen. Exemplarisch für den derzeitigen Diskussionsstand und zugleich wunderbar zusammenfassend Z ANDER , Clio, S. 14: „Historia på film är således ett legitimt sätt att ‚göra’ historia på. Därför leder det fel att diskutera om förmedlar historiska fakta eller argumenterar historiskt lika bra som den nedtecknade historien. De väsentliga frågorna är i stället: hur konstruerar filmer en historisk verklighet? Vilka regler, koder, och strategier ger det förflutna liv på den vita duken? Vilken betydelse har dessa filmiska förflutenheter för oss? Vilka förklaringar finns till att tidigare etablerade sätt att skildra historia på film gått ur modet? Vilka är förklaringarna till att vissa historiska perioder såsom antiken heller medeltiden är populära under en viss period för att därefter, mer eller mindre tillfällighet, förlora i inflytande? De är frågor som kan leda vidare till diskussioner om och undersökningar av vad filmen kann tillföra för förståelsen av det förflutna som inte den skrivna historien kan. I nära anslutning därtill kan vi fundera över hur den historiska världen på film relaterar till historievetenskapliga texter.“ <?page no="116"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 105 Werk und Person, nicht verstanden hätte. 20 Man kann diese Szene aber auch, wie es Carola Frey getan hat, als ein bemerkenswertes Beispiel dafür ansehen, wie der Film versucht, über ein hohes Maß an Emotionalisierung (Suizid eines Kindes! ) Authentizität zu erzeugen - ein dem Medium Spielfilm durchaus angemessenes Vorgehen. Zugleich wird ein komplizierter theologischer Sachverhalt in ein massentaugliches Format transformiert. Wie Frey zudem gezeigt hat, scheint das Problem der Rezeption von Eric Tills Lutherfilm eher darin zu bestehen, dass er „nachträglich in wissenschaftliche und kirchliche Erinnerungsdiskurse ein[gebettet] und […] so retrospektiv mit Erinnerungshoheit und Erinnerungskompetenz ausgestattet wurde“. 21 Aus meiner Sicht verweist die eingangs beschriebene Filmsequenz auf zwei Aspekte, die für diese Studie von Interesse sind. Zum Ersten greift der Film - gebunden an medien- und genrespezifische Darstellungskonventionen - das Thema des gesellschaftlichen Umgangs mit Selbsttötung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf, um eine zentrale Botschaft der Reformation Luthers, die rettende Einsicht in die Barmherzigkeit Gottes, zu vermitteln. 22 Bedeutsam ist, dass aus Sicht der Drehbuchautoren die Reaktion Luthers auf den ‚Selbstmord’ eines Jungen überhaupt als Vermittlungsbehelf für eine komplexe theologische Einsicht dienen konnte. Solch eine Form versuchter Sinnbildstiftung setzt nämlich zumindest voraus, dass die Drehbuchautoren ihrerseits davon ausgingen, die theologische Problematik der Bewertung des Suizids würde nicht auf völliges Unverständnis beim Zuschauer stoßen. Daran anknüpfend thematisiert die Filmsequenz zum Zweiten ein konkretes Problem einer konkreten Vergangenheit - die gesellschaftliche Bewertung von Selbsttötungen im frühen 20 G RAF , Lehrjahre. Dabei blendet Graf schlichtweg aus, dass es in der Sequenz um ein aus einer theologischen Erkenntnis resultierendes Handeln geht und die sogenannte theologische Pointe der Unterscheidung von Werk und Person hier gar nicht zu thematisieren war. 21 F REY , Luther, S. 60 ff., Zitat S. 72. Siehe zu den älteren Lutherfilmen auch die Studien von Esther P. Wipfler: W IPFLER , Titan; W IPFLER , Stummfilm; zuletzt W IPFLER , Thesen. 22 Die theologische Tragweite der Sequenz ließe sich noch umfassender ausleuchten, wenn man bedenkt, dass sie von einer anderen Episode eingerahmt wird, in der Luther zunächst mit Karlstadt über Cyprians Anspruch ‚nulla salus extra ecclesiam’ debattiert, danach ein ‚Selbstmördergrab’ schaufelt und diese Begräbnisszene direkt wieder auf die im abgeschlossenen Raum der Universität geführte Debatte zurückverweist, indem Karlstadt der Beisetzung des Jungen beiwohnt und sichtlich beeindruckt erkennen muss, welchen Einfluss Luther auf die umstehende Menge ausübt. Vgl. auch den unkritisch-euphorischen Kommentar bei H UBER , Theologie: „Auch wenn diese Szene historisch nicht belegt ist, macht sie in großer Anschaulichkeit den entscheidenden reformatorischen Durchbruch deutlich, der zur Triebfeder für den Aufbruch in die Moderne wurde. Jedem Menschen wird von Gott eine ebenso unverdiente wie unantastbare Würde zugesprochen.“ <?page no="117"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 106 16. Jahrhundert und Luthers Sichtweise auf dieses Thema. 23 Ob man die filmische Umsetzung für ästhetisch gelungen hält, ist eine Frage, die hier weder gestellt noch beantwortet werden muss. Entscheidend ist vielmehr, dass der Film mit dem Begräbnis eines ‚Selbstmörders’ durch Luther ein zu den vorliegenden fachhistorischen Studien alternatives Bild und mithin eine eigensinnige Interpretation anbietet. Diese dürfte zudem auf einem ‚offenen Geschichtsmarkt’ (Dieter Langewiesche) 24 von einem weitaus größeren Publikum wahrgenommen worden sein als die einschlägigen Fachpublikationen und Feuilletonkritiken. Fachhistoriker misstrauen professionsbedingt der Korrektheit und analytischen Schärfe filmischer Geschichtsdarstellungen. Sie neigen dazu, historischen Spielfilmen den Spiegel von (allerdings ja auch immer unabgeschlossenen) Fachdiskussionen vorzuhalten, und das nicht nur, wenn sie mit dem jeweiligen Thema vertraut sind. Die Frage, die sich nun stellt, lautet nicht, ob Luther nicht doch einen ‚Selbstmörder’ begraben hat, sondern ob Eric Tills Lutherfilm wirklich den Rahmen des Bildes überschritten hat, das die bisherige Forschung von Luthers Ansichten zum Suizid gezeichnet hat. Hierzu ist die bisherige Forschung vor dem Hintergrund der einschlägigen Quellen kritisch zu reflektieren. 3.2. Die Ansichten Luthers zum ‚Selbstmord’ Überblickt man die meist sehr knapp gehaltenen Darstellungen von Luthers Ansichten zum Suizid, könnte man auf den ersten Blick die oben zitierten Kritiken der Filmkommentatoren für gerechtfertigt halten. 25 Luther hätte es zwar gemeinhin abgelehnt, einen ‚Selbstmörder’ zu be- und verurteilen, weil dieser, so das wiederholt von ihm benutzte und auch in Tills Lutherfilm bemühte Bild, als vom Teufel Getriebener wie ein Wanderer im Wald von einem Räuber überwältigt werde. 26 Da das Urteil Gottes ungewiss wäre, sei auch die 23 Zur Problematik der Verfilmung von Geschichte und der Möglichkeit Geschichte zu visualisieren vgl. R OSENSTONE , Geschichte, bes. S. 80. R OSENSTONE , History. 24 L ANGEWIESCHE , Geschichtsschreibung (I); L ANGEWIESCHE , Geschichtsschreibung (II). 25 Ausführlich einzig K RAUSE , Stellung; differenziert zum Thema und ausgreifender jeweils auch M IDELFORT , Selbstmord und T HÜMMEL , Versagung, S. 85 ff. Daneben jeweils knapp D IESEL- HORST , Bestrafung, S. 76 ff.; H IRZEL , Selbstmord, S. 63; F ERNGREN , Ethics, S. 162 f.; G EIGER , Behandlung, S. 186; L EDERER , Madness, S. 243; L IND , Selbstmord, S. 29 f.; M INOIS , Geschichte, S. 72 ff.; N ÖLDEKE , Beerdigung, S. 25 f.; W ATT , Death, S. 73. 26 Vgl. zu diesem Bild L ENZEN , Selbsttötung, S. 208 ff., insbes. S. 208 Anm. 5. Die enge Verknüpfung des Gottes- und Teufelsbildes im Denken Luthers wird besonders deutlich in WATi 1, <?page no="118"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 107 Möglichkeit göttlicher Gnade nicht auszuschließen. Gleichwohl hätte Luther aus präventiven Gründen, so zuletzt Vera Lind, an den traditionellen Sanktionen durch die Kirche festgehalten, zu denen die Verweigerung eines christlichen Begräbnisses in geweihter Erde zählte. 27 Richard van Dülmen vertrat gar die Ansicht, Luther hätte für ‚Selbstmörder’ unnachgiebig die Verweigerung eines ehrlichen Begräbnisses gefordert, weil er sie für überführte Heiden gehalten habe. Von der Beschreibung eines ‚Selbstmörderbegräbnisses’ durch Luther ist die Forschung damit weit entfernt. Also alles nur Erfindung gewitzter Drehbuchautoren? Luther selbst hatte in mehreren Briefen Pfarrern, die sich um Hilfe an ihn gewandt hatten, zugestanden, sie mögen ruhigen Gewissens einen Suizidenten bestatten. Diese wichtige Beobachtung hatte bereits Gerhard Krause deutlich herausgestellt 28 - sie verweist auf eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Handeln von Pfarrern und Vertretern der weltlichen Obrigkeiten im Denken Luthers. Zugleich bedeutet die unbestreitbare Tatsache, dass Luther Pfarrern ein ‚Selbstmörderbegräbnis’ erlauben wollte, dass Eric Tills Lutherfilm ein Verhalten Luthers in Szene setzt, welches zwar fiktiv bleibt, aber nichtsdestotrotz historisch plausibel ist. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, weshalb das Gros der neueren Forschung zu einem völlig gegensätzlichen Urteil gekommen ist? Um diese Frage zu beantworten, ist im Folgenden die Position Luthers zum Suizid in folgenden Schritten auszuleuchten. Zunächst wird dargestellt, wie die Forschung das Thema grob vereinfacht hat und einigen Missverständnissen aufgesessen ist. Anschließend wird die Perspektive erweitert und analysiert, warum Luther für kirchliche Amtsträger einerseits und für weltliche Magistrate andererseits unterschiedliche Handlungskonzepte entworfen hat. Dies schließt eine Darstellung der Bewertung von Suiziden durch Luther ein. Haben sich ‚Selbstmörder’ durch ihre Tat selbst in den Bann gestellt? Am deutlichsten von allen Autoren der Frühen Neuzeit, so Richard van Dülmen, hätte „Luther das Verhältnis der Christen zum Selbstmord ausgesprochen“. Van Dülmen schloss dieser Behauptung folgendes Zitat an: „‚wenn sie gestorben sind, soll sie der Henker in die Schindergrube zur Statt hinaus schleiffen, da soll kein Schuler, kein Caplan zu kommen, weil sie wöllen Heyden Nr. 222, S. 95, wo Luther davon spricht, Gott (! ) richte die Suizidenten „wie er einen durch einen latronem hinweg richtet.“ 27 L IND , Selbstmord, S. 29 f. 28 K RAUSE , Stellung, S. 60. <?page no="119"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 108 sein, wollen wir sie auch als Heyden halten’“. 29 Mit dieser eindeutigen Aussage scheint die Vorstellung bestätigt, Luther hätte für eine schändliche Behandlung von ‚Selbstmörderleichen’ votiert. Allerdings verbirgt sich hinter der von van Dülmen zitierten Aussage Luthers ein anderer Zusammenhang. Die Aussage bezog sich nämlich ursprünglich gar nicht direkt auf das Begräbnis von ‚Selbstmördern’. Ein kurzer Exkurs in die Rezeptionsgeschichte dieses Zitats macht das deutlich. Van Dülmen hatte sich auf die Studie von Jürgen Dieselhorst bezogen, der das Zitat erstmals in der Forschung in den Zusammenhang von Luthers Aussagen über Suizidenten gestellt hat. Unter anderem aus diesem Zitat schlussfolgerte Dieselhorst, dass „die lutherische Kirche den Selbstmord grundsätzlich mit dem von ihr verkündeten Bann [ge]ahndet [hätte].“ 30 Diese eindeutige, zugleich aber auch undifferenzierte Behauptung folgerte Dieselhorst aus einer gedanklichen Verknüpfung mit Aussagen Luthers zum ‚selbst getanen Bann’ und meinte, dass sich Suizidenten durch ihre Tat selbst exkommuniziert hätten (‚excommunicatio ipso facto’). Allerdings werden ‚Selbstmörder’ in den Texten Luthers, die die unmittelbare Selbstexkommunikation behandeln, gar nicht erwähnt. Zunächst stellten sich im Verständnis Luthers und der frühen Reformatoren insbesondere hartnäckige Verächter der Sakramente und generell die den Lastern verfallenen und gegenüber den Botschaften der reformatorischen Predigten unwilligen und belehrungsresistenten Sünder durch ihr Verhalten außerhalb des christlichen Glaubens und damit auch außerhalb der christlichen Gemeinschaft. Solche Personen galten damit als unmittelbar Exkommunizierte. Über sie verhängte die lutherische Kirche ihren geistlichen Bann. In den Texten, in denen Luther eine ordentliche Beisetzung der Leichen von Suizidenten verweigerte, bezog er diesen Handlungsauftrag jedoch - darauf ist unten noch einmal gesondert einzugehen - auf die weltlichen Obrigkeiten und begründete auch das geforderte Vorgehen mit anderen Argumenten. Von einem ‚selbst getanen Bann’ ist nicht die Rede. Es scheint mir in der Schlussfolgerung von Dieselhorst eine Parallelisierung von zwei Phänomenen vorzuliegen, die zwar Schnittmengen aufweisen, jedoch nicht ohne Weiteres gleichgesetzt werden können. Jenseits der theologischen Problematik innerhalb des konstruierten Zusammenhangs von Selbstexkommunikation und Selbsttötung ist zu fragen, wie genau Dieselhorst zu seiner These gelangte. Er stützte sich auf zwei ältere grundlegende Untersuchungen: zum einen die Gottfried Gallis über lutherische 29 VAN D ÜLMEN , Mensch, S. 85. 30 Vgl. D IESELHORST , Bestrafung, S. 76 f., Zitat S. 77. <?page no="120"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 109 und calvinistische Kirchenstrafen und zum anderen auf Wilhelm Thümmels bis heute grundlegende Studie über die Geschichte der Versagung der kirchlichen Bestattungsfeier. Thümmel hatte darauf hingewiesen, dass die Bestattungsversagung bei Luther stets an die kirchliche Ausschließung gebunden war und jene treffen sollte, die sich schon im Leben außerhalb der christlichen Gemeinschaft gestellt hatten, denn eine christliche Bestattungsfeier verdeutliche „die auch durch den Tod nicht unterbrochene Gemeinschaft der Verstorbenen mit Christo“. 31 Die protestantischen Kirchenordnungen verankerten dann kirchenrechtlich die Bestattungsversagung für Sakramentsverächter als Konsequenz der Selbstausschließung. 32 Die Luther nachfolgenden protestantischen Theologen betonten, dass ‚Selbstmörder’, die sich im Leben als Unchristen erwiesen hätten, nicht ehrlich bestattet werden dürften. Sie erhoben überhaupt den Lebenswandel zu einer zentralen Kategorie für ein Urteil zur Form der Beisetzung nach Selbsttötungen. Wenn also das Argument der Selbstausschließung des ‚Selbstmörders’ sowohl zeitgenössisch als auch in der Rückschau des Historikers adäquat verwendet werden soll, dann ist es zunächst auf jene Menschen einzuschränken, die sich das Leben nahmen und denen zugleich ein unchristlicher Lebenswandel vor ihrem Tod nachgewiesen wurde. Wenn man nun noch einmal auf das ‚Heyden-Zitat’ bei van Dülmen und Dieselhorst über diejenigen, die vom Henker schimpflich verscharrt werden sollten, zurückblendet, ist festzuhalten, dass es ursprünglich von Dieselhorst der Arbeit Gottfried Gallis entnommen worden war, sodann von ihm in den Kontext der Suizidbewertung gestellt und unkritisch von van Dülmen rezipiert wurde. Galli hatte seinerseits dem ‚Heyden-Zitat’ mildere Äußerungen Luthers vorangestellt, wonach diejenigen, welche sich im Leben nicht zur Kirche gehalten hatten bzw. ohne öffentliche Versöhnung als Sünder gestorben waren, sowohl ‚extra vel intra coemeterium’ beerdigt werden konnten. Konfessionspolemisch spielte Galli die widersprüchlichen Aussagen Luthers gegeneinander aus, betonte die Irrwege lutherischer Lehren und schloss mit der (an den Leser des 19. Jahrhunderts gerichteten) rhetorischen Frage: „Wer wird von einer solchen Strafe schwerer getroffen, der gestorbene Sünder, oder die unschuldigen Hinterbliebenen? “ 33 Bei Galli ist kein Wort davon zu lesen, dass sich das ‚Heyden-Zitat’ Luthers auf ‚Selbstmörder’ beziehen würde. 31 Vgl. T HÜMMEL , Versagung, S. 85 ff., Zitat S. 85. 32 Ebd., S. 105 ff. Vgl. auch WATi 4, Nr. 4340, S. 233 f.; WATi 5, Nr. 5438, S. 153. 33 G ALLI , Kirchenstrafen, S. 49. <?page no="121"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 110 1965 hat der Theologe Gerhard Krause eine umfassende Studie veröffentlicht, in der er sich in bislang einzigartiger Weise intensiv und differenziert mit ‚Luthers Stellung zum Selbstmord’ auseinandergesetzt hat. 34 Als unzweifelhafter Kenner der Quellen hatte Krause auf einen Kommentar des ‚Heyden-Zitates’ verzichtet. Überblickt man die nun mehrfach erwähnte Aussage Luthers vollständig, die aus den Aufzeichnungen Kaspar Heydenreichs auf uns gekommen ist, stellt man fest, dass Luther die zitierte schimpfliche Behandlung wörtlich nur für „wucherer, schwelger, seuffer, hurntreiber, lesterer und spötter“ eingefordert hatte, welche sich durch ihr lästerliches Verhalten außerhalb der christlichen Gemeinschaft und der Kirche und damit selbst in den Bann gestellt hätten. 35 Davon, dass auch ‚Selbstmörder’ generell schimpflich behandelt werden sollten, weil auch sie sich durch ihre Tat aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen hätten, ist nicht die Rede. Grundsätzlich hat die wiederholt kolportierte Behauptung, ‚Selbstmörder’ hätten sich im Verständnis Luthers selbst in den Bann gestellt, zu einer Verengung der Forschungsperspektive geführt hat. Dies wiegt umso schwerer, als der Beitrag von Krause nicht mit den von ihm aufgezeigten Differenzierungen rezipiert worden ist. 36 Es ist daher unabdingbar, dass die Haltung Luthers zum Suizid noch einmal genauer rekonstruiert wird. Daran anschließend ist erneut danach zu fragen, wie man aus Luthers Sicht mit ‚Selbstmördern’ verfahren sollte. 34 K RAUSE , Stellung. 35 WATi 5, Nr. 5438, S. 153. Das Register der ‚Weimarer Ausgabe’ führt über das Schlagwort ‚Selbstmord’ nicht zu dieser Rede. Zur Quellenproblematik der Tischreden siehe J UNGHANS , Tischreden. 36 Krause nannte drei Voraussetzungen für Luthers neues, sich vom spätmittelalterlichen Umfeld lösendes Verständnis vom Suizid: Erstens habe Luther intensiv die biblischen Suizidberichte studiert und erkannt, dass keineswegs eine eindeutige Verurteilung des ‚Selbst-Mords’ vorlag. Zweitens habe Luther aus persönlicher Erfahrung die Anfechtungen des Teufels gekannt, was ihm einen mitempfindenden Zugriff auf das Thema erlaubte. Drittens schließlich führte Krause einen kritischhistorischen Blick Luthers an, womit er unter anderem ausdrücken wollte, dass Luther den kirchlichen Traditionen - und das gilt dann eben auch in Bezug auf den Umgang mit Suizidanten - kritisch gegenüber stand und diese hinterfragte; K RAUSE , Stellung, S. 51. Krause hatte nicht nur die unterschiedlichen Handlungsoptionen innerhalb der beiden Regimenter behandelt, vielmehr hob er auch auf Aspekte der Seelsorge ab, die sich aus Luthers Verständnis des Suizids ergaben. Insbesondere dieser Aspekt ist in der historischen Suizidforschung vollständig ausgeblendet geblieben und wurde einzig von Uta Mennecke-Haustein weiter untersucht; M ENNECKE -H AUSTEIN , Trostbriefe. <?page no="122"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 111 Liebe und Barmherzigkeit. Strafe und Abschreckung Im Kontext einer allgemein eingeforderten religiös-sittlichen Lebensführung ergab sich für Luther ein Suizidverbot aus dem Gebot zur Erhaltung des eigenen Lebens. 37 Luther hatte in seiner Schrift ‚Ob man vor dem Sterben fliehen möge’ (1527) dieses göttliche Gebot zur Selbsterhaltung betont: „Ja es ist geboten, das ein iglicher sein leib und leben bewahre und nicht verwahrlose“. 38 Dies bezog auch die Vermeidung selbstzerstörerischer Handlungen ein. Wer nämlich seinen Leib verwahrlose, „sehe zu, das er nicht sein selbs moerder [! ] erfunden werde für Gott“. 39 Wer eigenverantwortlich verwahrlost, trägt demnach Schuld am eigenen Tod und hat sein Verhalten vor Gott zu verantworten. Jenseits solcher übergeordneten, normativen Postulate war Luther mehrfach mit der Frage konfrontiert, wie man einzelne Suizidfälle zu bewerten hätte und wie man auf diese reagieren sollte. Schon 1528 hatte Luther eine Witwe getröstet, deren Mann sich das Leben genommen hatte. Der Suizidversuch verlief allerdings nicht unmittelbar tödlich und Luther kommentierte, dass der Mann „durch Gottes Gnade mechtiglich herausgerissen vnd in Christlichem glauben vnd wort entlich erfunden“. 40 In der Verzögerung des Todeseintritts hatte sich also nach Luther die Gnade Gottes gegenüber dem Mann erwiesen. Im Juli 1542 wandte sich Anton Lauterbach (1502-1569), Vertrauter und Freund Luthers, nach Wittenberg. Lauterbach war 1539 kurz nach Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen durch Herzog Heinrich (reg. 1539-1541) zum ersten Superintendenten in Pirna bestellt worden. Er berichtete Luther in einem Brief von drei Selbsttötungen. Leider ist zu dieser Anfrage nur noch das Antwortschreiben überliefert. Bedauerlicherweise schrieb Luther in seiner Antwort nichts darüber, wie mit den Leichen umzugehen wäre. Günther Wartenberg hat 37 Dieselhorst hat darauf hingewiesen, dass die katholische Kirche im Ergebnis ihres Urteils und Umgangs ‚Selbstmörder’ als Exkommunizierte angesehen hat. Dies konnte sie, weil sie im Unterschied zu den lutherischen Kirchen das Suizidverbot als unbedingten Willen göttlichen Gesetzes ansah; D IESELHORST , Bestrafung, S. 68 ff. 38 WA 23, S. 347. 39 Ebd., S. 365. Zur Wortgruppe „sein selbs moerder“ (in der Handschrift abweichend: „sein selbs morder“) B AUMANN , Selbstmord, S. 1 ff.; B OBACH , Selbstmord, S. 52 Anm. 119; L ENZEN , Selbsttötung, S. 12 f.; DW B 10-1, Sp. 485. 40 JA 4, S. 407. Auf diesen Brief verweisen auch P OLLIO , Consiliorum, S. 119 f. und S UEVUS , Warnung, fol. Di v . Suevus (Sigmund Schwab, 1526-1596), war Prediger im oberlausitzischen Lauban. Auch in anderen Zusammenhängen verwiesen Prediger auf diese Quelle. Vgl. etwa für die Parallelisierung dieses Suizidfalls mit einem verzögerten Tod nach einer schweren Verwundung in einem Duell Z IMMERMANN , Trost, fol. C1 v . <?page no="123"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 112 vermutet, die Anfrage Lauterbachs sei den anfänglichen Schwierigkeiten bei der Implementierung der neuen evangelischen Lehre und Frömmigkeit in Pirna in einer Zeit geschuldet gewesen, die stark von Unsicherheiten über die richtige Lehre und Praxis geprägt gewesen war. 41 Lauterbach dürfte sich indes nicht nur wegen seiner Freundschaft zu Luther nach Wittenberg gewandt haben, sondern auch deswegen, weil 1542 im albertinischen Sachsen noch keine Konsistorien eingerichtet waren. Damit konnte für ihn als Superintendent faktisch nur die theologische Mutterfakultät der Reformation kompetente Ansprechpartnerin in Fragen der Lehre und Praxis sein. Luther selbst las den Bericht Lauterbachs mit Schrecken („timore legi“) und deutete die Selbsttötungen als Zeichen, dass „GOtt […] uns Undanckbaren und Verächtern, Vorspiele, seines künftgen Zorns [gibt], indem er den Satan innerhalb unserer Kirche so viele Macht lässet“. 42 Er erklärte, dass man diese Selbsttötungen als Exempel zu verstehen habe, Gott zu fürchten und die Macht des Teufels nicht hochmütig zu verachten. Zuvor hatte Luther im April 1532 erklärt, dass „vns vnser Herrgott damit [scil. mit den Selbsttötungen] weysen will, das der Teuffel ein herr sey, item, das man vleissig sol betten“. Denn wenn solche Beispiele nicht geschehen, so Luther weiter, würden die Menschen sich nicht vor Gott fürchten: Also „mus er [scil. Gott] vns so lernen“. 43 Für Luther war die irdisch-geschichtliche Wirklichkeit des Teufels in der Realität menschlichen Leidens sichtbar. Der Teufel fechte die Menschen an und bringe sie in seine Gewalt. 44 Hier zeigte sich eine traditionelle Vorstellung, wenngleich in Spätmittelalter und Früher Neuzeit umstritten war, inwiefern teuflische Einflüsterungen einen Einfluss auf die Verantwortlichkeit des ‚Selbstmörders’ hatten. 45 Für Luther waren zum Suizid neigende Menschen „ihr selbs 41 W ARTENBERG , Landesherrschaft, S. 248 ff., bes. S. 250. 42 W ALCH , Schriften, Sp. 1494 mit der Übersetzung des lateinischen Originals (WABr 10, Nr. 3773, S. 112). Zur Person siehe W AGENMANN , Lauterbach. Die hier aufscheinende Theodizeeproblematik erhellend L OHMANN , Gott, S. 121 ff. 43 WATi 1, Nr. 222, S. 95: „Nisi enim haec exempla fierent, non timeremus Deum; ergo mus er vns so lernen.“ 44 K RAUSE , Stellung, S. 56. Bspw. WA 52, S. 555 f. (Hauspostille). Luther stand hier in einer langen Denktradition theologisch geschulter Autoren des Spätmittelalters. Konkret rezipierte er zum Beispiel die satanologische Deutung der geistigen Anfechtung von Johannes Gerson (1363-1429). Vgl. zu Luthers Rezeption spätmittelalterlicher Autoren und hierbei auftretenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden M ENNECKE -H AUSTEIN , Trostbriefe, etwa S. 134 ff., zu Gerson hier S. 141 ff. 45 Siehe exemplarisch für das mittelalterliche England S EABOURNE / S EABOURNE , Law, S. 32 f. <?page no="124"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 113 nicht mächtig“. 46 Menschen, die sich selbst das Leben nehmen wollten, sah er von einer äußeren diabolischen Macht zu diesem ‚schrecklichen Verbrechen der Selbsttötung’ angestoßen. Deutlich zeigt sich dies in einem Ratschlag der Wittenberger Theologen aus dem Jahr 1529. Die Autorschaft des Textes ist zwar nicht zweifelsfrei belegt; darauf ist unten noch näher einzugehen. Der Text fand unter anderem Eingang in die Sammlung der Tischreden Luthers. Dort heißt es: „Ideo non possimus aliter iudicare de eis, qui sibi ipsis mortem consciverunt, quam quod sint in potestate diabolica, a quo sunt impulsi ad tantum scelus“. 47 Für Luther bzw. die Wittenberger Theologen war die fehlende Verantwortlichkeit eines ‚Selbstmörders’ somit dadurch erwiesen, dass dieser durch die äußere Gewalt des Teufels zur Selbsttötung angestoßen, getrieben und zu Fall gebracht wurde. Die von Lauterbach geschilderten Suizide bestätigten Luther in seiner Sicht, denn sie schienen technisch unzureichend vorbereitet und die Toten waren in einer ungewöhnlichen Körperhaltung gefunden worden. Einer der Betroffenen hatte sich auf Knien stranguliert, ein anderer mit den Füßen auf dem Boden stehend erhängt. Eine geringe physische Anstrengung hätte demnach den Tod verhindern können, was Luther bewies, dass der Teufel „zu unserer Verachtung den Schein macht, als hätten die Menschen sich selbst aufgehenget, da er dieselben selbst getödtet“. 48 Der Gedanke, dass in Selbsttötungen das Wirken des Teufels offensichtlich werde, stellte eine bloß juristische Bewertung des Suizids konsequent infrage und eröffnete Perspektiven, die für Luther auch als Seelsorger wichtig waren. Für Kirchen und christliche Privatpersonen leitete Luther aus der satanologischen Deutung der Selbsttötung ab, dass für einen Suizid die üblichen moralischen Beurteilungskriterien für einen Menschen und seine Tat nicht gelten könnten. Die satanische Anfechtung bestritt zwar aus Sicht Luthers das Heilswerk Christi und bannte den Menschen in Widerspruch zu Gott. 49 46 WATi 1, Nr. 222, S. 95. Diese Deutung ist keineswegs neu. Spätantike und frühmittelalterliche Vorläufer dieses Denkens sind durchaus bekannt; vgl. Z EDDIES , Verwirrte, S. 70 ff. 47 WATi 5, Nr. 5829, S. 374. TCD I/ 2, S. 805 abweichend: „sint in potestate Diaboli, à quo sint impulsi“; so auch MBW T3, Text 853, S. 662: „sint in potestate diaboli, a quo sunt impulsi“. 48 W ALCH , Schriften, Sp. 1494; vgl. auch K RAUSE , Stellung, S. 55; L ENZEN , Selbsttötung, S. 209. In anderen Fällen und in späterer Zeit wurde eine solche Körperhaltung dagegen als Ausdruck unbedingten Todeswillens und Tatvorsatzes gesehen. 49 Vgl. eingängig WA 23, S. 355 und 357. <?page no="125"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 114 Allerdings schloss die satanologische Deutung der Selbsttötung, so wie sie Luther formuliert hat, einen Willensakt geradezu aus; 50 eine in der Folgezeit nicht unumstritten gebliebene Sicht. Weil es sich bei Selbsttötungen aus der Sicht Luthers nicht um Akte menschlichen Willens handelte, konnte er schlussfolgern, dass die Seele eines Suizidenten nicht einfach verdammt sei („anima non sit simpliciter damnata“). 51 Daher stünde es den Menschen nicht zu, ‚Selbstmörder’ unterschiedslos zu verdammen. Pfarrer sollten diese ruhigen Gewissens bestatten dürfen. 52 In einem Brief an den Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius (1490-1546) hatte Luther bspw. die Beerdigung einer Suizidentin durch einen Pfarrer für gut geheißen. 53 Auch hier lautete seine Begründung, augenscheinlich hätte der Teufel die Frau getötet, denn der ‚Diabolos’ spiele mit den Menschen („tales homines ludificari“) und gaukle ihnen etwas vor. Wiederholt hatte Luther darauf hingewiesen, dass es gerade in Zeiten der Anfechtung schwer sei, Christus und den Weg der Erlösung zu erkennen: „ich kenne des Teufels List und behende, tückische Griffe sehr wohl […; ] er ist wahrlich ein Wundermeister, der es kann, die Sünde sehr groß und schwer zu machen, ja auch Sünde zu machen, da keine ist, und das Gewissen damit zu ängsten“. 54 Im gleichen Brief an Myconius kam Luther jedoch auch auf die Einschätzung der Tat durch die Magistrate und das Handeln der weltlichen Obrigkeiten zu sprechen. 55 Weil ein Suizid immer auch als eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit behandelt werden müsste, hätte die Obrigkeit „von Gott den Auftrag, für Wahrung guter Sitten und Disziplin des zeitlichen Lebens einzutreten. Im Horizont der von ihr zu vertretenden Moral gilt Selbstmord als Unrechtstat, unbeschadet der fragwürdigen Verantwortlichkeit des Täters“, so die Zu- 50 Vgl. zu meinem Argument auch L ENZEN , Selbsttötung, S. 207 f.; L IND , Selbstmord, S. 29; K RAUSE , Stellung, S. 58. 51 WATi 1, Nr. 222, S. 95. 52 K RAUSE , Stellung, S. 60. Bereits die mittelalterlichen Bestimmungen kannten die Möglichkeit, einen Suizidenten durch den Priester bestatten zu lassen, hatten dies aber ausdrücklich von der Genehmigung durch einen Bischof abhängig gemacht; G EIGER , Kirchenrecht, S. 231 bzw. Anm. 1 mit Quellen. 53 WABr 10, Nr. 4046, S. 691 ff. Der Brief ist nicht an Anton Lauterbach gerichtet, wie L ENZEN , Selbsttötung, S. 209 angibt. Zu Myconius L EDDERHOSE , Myconius; L OHMANN , Myconius. 54 WATi 6, Nr. 6629, S. 88; ähnlich ebd., Nr. 6662, S. 104 f. 55 Dies blendet L ENZEN , Selbsttötung, S. 209 aus, die lediglich den ersten Teil des Briefes übersetzt. <?page no="126"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 115 sammenfassung von Gerhard Krause. 56 Daher wollte Luther es erlauben, dass ein Magistrat zur präventiven Abschreckung, also „ad terrorem, vt hos quoque seueritate consueta puniat“ und hierbei recht handeln würde („recte facit“). 57 Trotz der satanologischen Deutung des Suizids und trotz der damit einhergehenden Verneinung der Willensfreiheit bei einer Selbsttötung forderte der Reformator von den weltlichen Instanzen, ‚Selbstmörder’ hart zu strafen. Dieses Spannungsverhältnis blieb bei Luther unausgeglichen bestehen. 58 Es zeigte sich im praktischen Umgang mit Selbsttötungen bereits für Luthers Zeitgenossen, weil sowohl kirchliche als auch weltliche Kompetenzen in der Rechtsprechung berührt waren. Zwar galt der Gewohnheit nach ein ‚Selbstmord’ als strafwürdiges Verbrechen, das die Gerichte zu ahnden hatten. Zugleich aber lagen Begräbnisse unstrittig in der Kompetenz der Kirche. Konnte allerdings ein Pfarrer ohne Zustimmung der weltlichen Obrigkeit einen ‚Selbstmörder’ auf dem Kirchhof bestatten? Diese Frage ist von Luther an keiner Stelle explizit gestellt oder beantwortet worden. Um zu verstehen, warum Luther den weltlichen Obrigkeiten das Recht zugestanden hat, zur Abschreckung hart und nach der Gewohnheit zu strafen, ist Luthers Obrigkeitsverständnis und seine Unterscheidung zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Regiment zu beachten. Zwei unterschiedene Regimenter, die gleichwohl vor dem Hintergrund eines einheitlichen Wirklichkeitshorizonts eng aufeinander bezogen waren. In seiner Auslegung des Römerbriefs sah Luther jegliche weltliche Herrschaft von Gott eingesetzt: „Denn es ist keyn gewallt on von Gott; die gewallt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet“. 59 In ihrer Eigenschaft als von Gott gesetzter weltlicher Obrigkeit kam dieser die Aufgabe zu, den äußerlichen Frieden zu wahren und Böses von der christlichen Gemeinschaft abzuwehren: Die weltliche Obrigkeit sei „dienerynne dyr zu gutt, eyn racherynne uber den, der boeßes thutt“. 60 Obrigkeitliches Handeln fand seine Bestimmung und Legitimierung für Luther demnach im Schutz der Guten und Frommen. Dabei erstreckte sich die Gewalt des weltlichen 56 K RAUSE , Stellung, S. 60. Vgl. auch G ALLI , Kirchenstrafen, S. 42 mit dem Hinweis auf die größere Strafbarkeit öffentlich begangener Sünden. 57 WABr 10, Nr. 4046, S. 692. Vgl. auch M IDELFORT , Selbstmord, S. 301 f. 58 K RAUSE , Stellung, S. 60. 59 WA 11, S. 247 (‚Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei’; 1523). Vgl. Röm. 13. 60 WA 11, S. 257; nach Röm. 13.4. Hierzu und zum Folgenden ähnlich T HÜMMEL , Versagung, S. 89. Vgl. auch WA 11, S. 252 f. <?page no="127"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 116 Regiments auf die irdische Rechtsordnung und blieb auf nicht-geistliche Mittel verwiesen. Der Kompetenzbereich des weltlichen Regiments erstreckte sich nicht auf geistige und Angelegenheiten des Glaubens, denn Gesetz und Evangelium waren bei Luther (anders als etwa für Zwingli) geschiedene Bereiche. In geistigen und religiösen Dingen war allein die Kirche zuständig und sollte, geleitet vom Grundsatz der (Nächsten-)Liebe, die Menschen zu einem frommen Verhalten erziehen und im Evangelium unterweisen. 61 Die weltliche Obrigkeit durfte somit zwar die aus dem Unglauben resultierenden öffentlichen Verbrechen strafen, nicht aber den inneren Unglauben selbst, dessen Bekämpfung der Geistlichkeit unterlag. Die Magistrate durften nach weltlich-juristischen Bewertungskriterien einen ‚Selbstmord’ bestrafen, zum einen als Strafe der Tat, zum anderen zur Abschreckung und damit zum Schutz der übrigen Bevölkerung. Anders die Geistlichkeit: Sie sollte einen ‚Selbstmörder’ nicht einfach verdammen, der ja ein vom Teufel Ermordeter sei und über den das göttliche Urteil überdies ungewiss wäre. Peinlich strafen dürfe sie ohnehin nicht, denn die Scheidung von geistlichem und weltlichem Regiment verneinte, dass „mit den Mitteln des einen das Ziel des anderen verfolgt werde.“ 62 Die Hilfsmittel des geistlichen Regiments waren und sind Unterweisungen im recht verstandenen Christentum, das gemeinsame Gebet mit Betroffenen 63 und brüderlicher Beistand für Angefochtene. Der Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen nahm neben den geistlichen Seelsorgern alle Gläubigen in die Pflicht Angefochtenen beizustehen. Das Ringen um ein Verständnis für Gottes Barmherzigkeit und um den Weg der Errettung durch Jesus Christus war für Luther geistige Therapie. 64 Die Unterscheidung zweier Regimenter „als Reflexion auf die zwei Weisen, in denen der eine Gott die Welt regiert“ 65 und die satanologische Deutung des Suizids eröffneten 61 Die Kompetenz der weltlichen Obrigkeiten erstreckte sich für Luther gleichwohl und insofern auch auf den kirchlichen Bereich - allerdings ohne dort Gewalt und Herrschaft zu sein - als sie falschen Lehren, die vom kirchlichen Bereich ausgehen könnten, vorzubeugen hatte; D IECKHOFF , Lehre, S. 124 ff. und 182 ff. Zur Begrenzung der weltlichen Gewalt im christlichen Verständnis auch M AU , Fürst. 62 D IECKHOFF , Lehre, S. 140. 63 Vgl. zum gemeinsamen Gebet exemplarisch die genauen Anweisungen Luthers an den Pfarrer Severin Schulze in Belgern aus dem Jahr 1545 in: WABr 11, Nr. 4120, S. 111 f. 64 Detailliert K RAUSE , Stellung, S. 62 ff. Beispielhaft WATi 6, Nr. 6622, S. 84 f., Nr. 6637, S. 92. Vgl. auch M ENNECKE -H AUSTEIN , Trostbriefe. 65 L OHMANN , Gott, S. 118 unter Bezug auf die Deutung von Peter Althaus. <?page no="128"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 117 Luther neben einer pastoralen Positionierung zur Begräbnisfrage auch die Möglichkeit, auf Aspekte der Seelsorge einzugehen. Als problematisch für die Rezeption der Ansichten Luthers zum Suizid erweist sich rückblickend, dass seine Äußerungen nicht immer in der gebotenen Vielfalt und Differenziertheit wahrgenommen wurden. Das lag einerseits daran, dass Luther keinen systematischen Traktat über das Thema Selbsttötung verfasst hat. Andererseits sind seine Schriften auch deutlich unterschiedlich rezipiert worden. Das kann an dieser Stelle ein in der Forschung wiederholt bemühtes Zitat aus der berühmten Tischredensammlung Johannes Aurifabers (1519- 1575) verdeutlichen: „VJel von den, so sich selbs vmbs Leben bringen, die werden vom Teufel getrieben vnd von jm getödet. Wie die Leute von Strassenreubern, Sind jr selbs nicht mechtig. Wenn solche Exempel nicht bisweilen geschehen, so fürchten wir vnsern Herrn Gott nicht. Drumb mussen wir in furcht stehen vnd Gott bitten, Er wolt vns fur dem Teufel behuten. Auch mus man hart mit solchen Gehenckten 66 vmbgehen nach Ordnung der Rechte, vnd Gewohnheit, auff das sich die rohen vnd sicheren Leute fürchten, Nicht das sie alle drumb verdamet sind“. 67 Dieser Ausspruch stellte satanologische Deutung und Handlungsvorgabe für die weltliche Obrigkeit unvermittelt nebeneinander. Mit keinem Wort erwähnt dieses Zitat die von Luther selbst geäußerte Möglichkeit, dass Pfarrer jene vom Teufel in den Tod getriebenen Suizidenten beerdigen könnten. Vielmehr stellt die Überlieferung von Aurifaber zugespitzt einen Abschreckungsgedanken heraus, den Luther zwar in seinem Brief an Myconius benannt hatte, der jedoch in anderen Überlieferungen der gleichen Tischrede nicht so deutlich in den Vordergrund gerückt wird bzw. gar nicht erwähnt ist. Die Weimarer Ausgabe vermerkt in dem von ihr bevorzugten Text einzig das Recht der Obrigkeit zur strengen Strafe. Ohne hier näher auf quellenkritische Aspekte der überlieferten 66 Dass die Aurifaber-Ausgabe hier das Bild vom ‚Gehenckten’ bemüht, könnte seine eigene Bedeutung haben. Das Hängen galt im Alten Testament als Strafe für die Feinde Gottes und war mit weiteren negativen Implikationen belastet. Zudem galt Judas als Prototyp des sich selbst erhängenden Frevlers; vgl. L ENZEN , Selbsttötung, S. 84 und zur Selbsttötung des Judas im Neuen Testament sowie zur theologischen Wirkungsgeschichte S. 90 ff. Siehe auch M ÜLLER -B ERGSTRÖM , hängen, bes. Sp. 1442 ff. Norbert Schnitzler weist darauf hin, dass rechtstheoretische Überlegungen zu Strafritualen (Hängen als schändliche Strafe) im Hoch- und Spätmittelalter nicht unerheblichen Einfluss auf die Interpretationen des ‚Judastodes’ gehabt hätten; S CHNITZLER , Tod, S. 230. 67 A URIFABER , Tischreden, fol. 497 v . Vgl. auch WATi 1, Nr. 222, S. 95; WATi 2, Nr. 1413, S. 92; ebd., Nr. 2597, S. 536; D IESELHORST , Bestrafung, S. 77; T HÜMMEL , Versagung, S. 85. <?page no="129"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 118 Tischreden eingehen zu können, zeigt sich an dem von Aurifaber edierten Ausspruch die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte und Popularisierung eines Bildes, das Luther als einen Mann zeigt, der zwar Verständnis für Suizidenten aufgebracht, zugleich jedoch für eine unnachgiebig harte Bestrafung plädiert hat. 68 Nach meinen Beobachtungen gründete sich die Forderung Luthers nach Pönalisierung der ‚Selbstmörderleichen’ auf den spezifischen Kompetenz- und Aufgabenbereich der weltlichen Obrigkeit, den Luther deutlich vom Bereich kirchlicher Gewalt getrennt dachte. Bereits Wilhelm Thümmel meinte, Luther würde „von einer Erziehung und Abschreckung durch die Versagung der Bestattungsfeier nicht viel gehalten haben“. 69 Wenngleich Thümmels Ausführungen in Bezug auf Luther tendenziell apologetische Züge aufweisen, zeigen doch Luthers eigene Äußerungen zum Suizid deutlich die alternativen Handlungsmöglichkeiten in den unterschiedenen Regimentern. Dagegen stellte Galli die Ansicht, dass bereits die widersprüchlichen Äußerungen Luthers zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Kirchenzucht und weltlichen Strafen geführt hätten. Und Jürgen Dieselhorst erkannte in der Forderung Luthers, ‚Selbstmörder’ an den Schinder oder Nachrichter zu übergeben, „die Einbeziehung einer weltlichen Strafe in das kirchliche Strafensystem“. 70 Allerdings vermutete Dieselhorst, wie vor ihm auch schon Nöldeke, dass in „Wirklichkeit […] das von Luther geforderte ‚unehrliche’ Begräbnis eine Konzession an die überkommenen Bräuche [war], denen er sich nicht sogleich widersetzen konnte.“ 71 Unschwer ist hier die Absicht zu erkennen, Luther aus der Schusslinie der Kritiker der Suizidbestrafung zu nehmen. Vera Lind formulierte deshalb im Anschluss an Gerhard Krause die These, Luther habe an der Sanktionierung des Suizids festgehalten, weil er „seine Bewertung des Selbstmords nicht als uni- 68 Vgl. zu den Abschriften die Bemerkungen in MBW T3, S. 658 ff., wo ausgewiesen ist, dass diese Tischrede meist in engem Zusammenhang mit dem bereits erwähnten und unten noch ausführlicher zu behandelnden Gutachten aus dem Jahre 1529 überliefert ist! Eine Abschrift aus Aurifaber etwa bei P OLLIO , Consiliorum, S. 118. Zur Problematik der Sammlung von Aurifaber mit Literatur und Anmerkungen zu den Textentstellungen sowie zu den Intentionen Aurifabers J UNGHANS , Tischreden, S. 155 ff. und R EHERMANN , Exempelsammlungen, S. 589 ff. In WATi 1, Nr. 222, S. 95 eine sprachlich geglättete Wiedergabe von Aurifabers Text. 69 T HÜMMEL , Versagung, S. 98. 70 D IESELHORST , Bestrafung, S. 77 f.; G ALLI , Kirchenstrafen, S. 49 ff. 71 D IESELHORST , Bestrafung, S. 78; N ÖLDEKE , Beerdigung, S. 25 f. Schließlich sollte auch im Luthertum die Form des Begräbnisses Zeugnis über den Glauben und die Rechtschaffenheit des Verstorbenen geben; T HÜMMEL , Versagung, S. 105 ff. <?page no="130"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 119 versale Entschuldigung und automatischen Freispruch von jeglicher Verantwortung mißverstanden wissen wollte.“ 72 Beide Thesen sind nach meinem Dafürhalten in der Perspektive der notwendig unterschiedlichen Handlungslogiken für das geistliche und weltliche Regiment zu relativieren: Luther stellte weder Normen noch Rechtspraxis des weltlichen Bereichs im Umgang mit Selbsttötungen infrage. 73 Vielmehr behauptete er für das geistliche Regiment und damit zunächst einmal für die kirchlichen Amtsträger einen vom Bereich weltlicher Herrschaft unterschiedenen Begründungs- und Handlungszusammenhang. Deswegen beanspruchte er für suizidgefährdete Menschen und durch Selbsttötung Verstorbene eine nachsichtige und milde Behandlung durch die Kirche. In der Konsequenz und hinsichtlich eines auf Gott ausgerichteten einheitlichen Wirklichkeitshorizonts galt dies aber auch und gerade für das Verhalten eines jeden Christen. Es stellt sich damit die Frage, inwiefern diese Differenzierung der hier vorgetragenen rückblickenden Analyse so auch von den Zeitgenossen gesehen wurde. Im folgenden Abschnitt ist daher nach der zeitgenössischen Rezeption der Aussagen Luthers zum Suizid zu fragen. Sodann ist diese Frage in den Kontext der theologischen Consilienliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts einzubetten. 3.3. Vom Teufel und von angemessenen Urteilen ‚Theatrum Diabolorum’ Im 16. Jahrhundert war die Vorstellung, ‚Selbstmörder’ wären vom Teufel in den Tod getrieben worden, weit verbreitet. Luther konnte diese Vorstellung derart prägnant formulieren, weil er in seiner Konzeption des Suizids „die Kraft des Teufels so sehr gestärkt und die remedia ecclesiae geschwächt [hatte], daß der Selbstmord fast ohne oder gegen den eigenen Willen geschehen konnte.“ 74 72 L IND , Selbstmord, S. 30; vgl. auch die Einschätzung bei K RAUSE , Stellung, S. 60 f. 73 Luther kannte etwa die im 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts durchaus übliche Strafe der Verbrennung des Leichnams von ‚Selbstmördern’. Bspw. WATi 2, Nr. 1413, S. 92 („sie verbrennen etc.“); siehe zur Praxis des Verbrennens, die eine vollständige Vernichtung von Körper und Seele intendierte D IESELHORST , Bestrafung, S. 96 f. und die Beispiele in K ÜHNEL , Selbstmord. Vgl. auch die von K ARRAß , Behandlung, S. 33 ff. beschriebene Verbrennungspraxis im Hochstift Würzburg im 15. und 16. Jahrhundert. 74 M IDELFORT , Selbstmord, S. 301. Vgl. zu den Teufelsvorstellungen Luthers auch R OOS , Devil, S. 14 ff. Zu den Teufelsobsessionen protestantischer Theologen im 16. Jahrhundert jetzt auch am Bsp. der Gotteslästerung S CHWERHOFF , Zungen, S. 61 f. <?page no="131"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 120 Erik Midelfort fasste mit dieser Sentenz die Veränderung des Teufelsbildes während der Reformation zusammen und sah hierin einen wichtigen Unterschied zur bis dahin herrschenden katholischen Lehrmeinung. In letzterer war die Ansicht vertreten worden, dass die Kirche mit den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln imstande wäre, die Christen tatkräftig zu unterstützen und eine in einer Selbsttötung endende teuflische Verzweiflung zu verhindern. Zwar war das Wirken des Teufels gerade im Zusammenhang mit Selbsttötungen eine auch vor der Reformation gängige Vorstellung gewesen. Aus der lutherischen Vorstellung, dass Suizidenten „ita occiduntur a Sathana sicut per latrones“, 75 konnten die Zeitgenossen nun aber die Schlussfolgerung ziehen, dass ein Suizident genau dadurch entschuldigt sei. Diese mögliche Konsequenz wurde bereits im 16. Jahrhundert eingehend und kritisch diskutiert. Zunächst einmal war der ‚Selbstmord-Teufel’ eine Figur, die überaus anschlussfähig an die Vorstellung war, der Teufel wirke als polymorphe Gestalt real in der Welt und verführe die Menschen zu allerlei Sünden, stifte zum Mord an oder morde gar selbst. 76 Über die Frage aber, ob das Einwirken des Teufels auf Menschen, die sich daraufhin das Leben nahmen, eine Selbsttötung wirklich entschuldigen könne, herrschte Uneinigkeit unter den zeitgenössischen Autoren. Exemplarisch zeigt dies das von mehreren Autoren verfasste Buch über den „Teufel selbs“. 77 Der dritte und letzte Teil dieses Buches, in dem die Verführungen des Teufels zum ‚Selbstmord’ behandelt werden, war von dem konvertierten Theologen Hermann Hamelmann (1526-1595) verfasst 75 WAT I 2, Nr. 1413. 76 Vgl. folgende Fälle im Katalog von B RÜCKNER / A LSHEIMER , Wirken, Nr. 18, 23, 25, 31, 33, 41, 56, 74, 78, 80, 111 und 112 (versuchter Mord durch Teufel), 125, 127, 166, 179, 196, 203, 226, 227, 228, 229, 231, 232, 233, 234, 275, 279, 284, 286, 295, 313, 318, 336, 387, 411, 415, 418, 419, 420, 422, 423, 427, 428, [S. 472 ff., Nr. 436-504 = Theatrvm], 454, 470, 481, 490, 497, 499, 502, 503 (Suizid - in einem Städtchen bei Frankfurt sagt ein Mann immer „so hole mich der Teufel mit Leib und Seele.“ Er begeht Selbstmord; Theatrvm, fol. 505 v ), 504 (Suizid) [Nr. 503 und 504 aus C HR . O BENHIN , Der Eyd Teuffel], 512, 534, 537, 538, 543, 552, 560, 565, 577, 593, 594, 595, 600, 601, 607 (a) Anstiftung zum Suizid/ d) Teufel stiftet zum Suizid an, arme Witwe in Zwickau ertränkt sich und ihre Kinder in der Elbe 1547, in: Wolfgang Bütner, Epitome Historiarum 1576, 230 r ff.), 609, 610, 612, 613 (d) Suizid), 615, 617 (c) S), 621, 629, 630, 635 (Teufel bringt Melancholiker dazu, Nahrungsaufnahme zu verweigern), 637, 638, 672, 673, 716, 719, 724, 731, 742, 768, 789, 800, 801, 803, 804, 807, 811, 823, 825, 828, 831, 835, 843, 847. 77 Der erste Autor dieses dreiteiligen Werkes war Jodocus Hocker (gest. 1566), lutherischer Prediger in Lemgo. Sein Text wurde posthum zuerst in Ursel im Jahr 1568 publiziert. Zur Person siehe F RANCK , Hocker. Dort zwar nur wenige biografische Details, dafür aber eine Zusammenfassung der Bedeutung der Teufelliteratur für die Kulturgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. <?page no="132"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 121 worden. 78 Hamelmann, ein streitlustiger Theologe, bezog sich wiederholt auf Bestimmungen des kanonischen Rechts. Im „Iudicium von denen, so sich selbst vmbbringen, Ob die auch alle verdampt sind“, 79 unterschied er drei Kategorien von ‚Selbstmördern’: Zunächst einmal waren da die völlig Verzweifelten, für die als Typus Judas bzw. Saul standen. Für sie gab es keine Hoffnung auf Erlösung. Sodann stellte Hamelmann die Frage, wie Selbsttötungen christlicher Märtyrer zu bewerten wären, für die es Hoffnung geben müsse. Drittens diskutierte Hamelmann ob jene Suizidenten „die leiblich dem Teuffel vbergeben sind am leibe vnnd daß die vmbkommen durch seine gewalt, wiewohl sie eines guten Christlichen wandels gewesen. Nu ist die Frage, ob die auch sollten verdampt seyn“. 80 Bereits in der Formulierung des Gegenstands der Frage taucht ein Problem auf, das sowohl in der protestantischen Debatte über Suizid wie auch in dieser Arbeit zentral ist. Eindeutig konnten zwar jene Fälle beurteilt werden, in denen sich offenkundige Sünder das Leben genommen hatten. Hier nun aber ging es um die Frage, wie Suizide zu bewerten waren, in denen rechtschaffene Christen durch den Teufel körperlich überwältigt wurden. Die Einschränkung auf rein physisch überwältigte Personen ergab sich logisch aus der Betrachtung von Menschen, die sich im Leben als Christen erwiesen hätten, denn so „habe ich“, schreibt Hamelmann, „von etlichen gewisse kundschafft, das sie gern Gotteswort gehöret vnd sich wol gehalten haben“. Dies offenbare doch, dass man an ihnen „keine sonderliche verzweiffelung gespühret, Sondern viel mehr [würden sie] dem Teuffel oft widerstreben vnnd [sind] doch also von ihm erwürget, bey welchen auch kein mutwille gefunden“. 81 Das zentrale Argument hat Hamelmann dann in vier Schritten entfaltet: Erstens ließen Christen, die sich rechtschaffen verhielten, keine Verzweiflung verspüren. 82 Das zweite Argument Hamelmanns lautete: Der rechtschaffene, 78 Zum Werk R OOS , Devil, S. 94 ff. Zur Person D IESTELMANN , Hamelmann. 79 F EYERABEND , Theatrvm, fol. 142 ff. 80 Ebd., fol. 142 r . 81 Ebd., fol. 143 r und 145 v . 82 Das bedeutet allerdings nicht, dass in konkreten Fällen verhörte ‚Zeugen’ in ihrer Erinnerung über auffällige Verhaltensweisen mutmaßten, inwieweit diese nicht schon vor der Tat auf eine Suizidgefährdung hingedeutet hätten. Vielmehr unterscheidet sich hier die gewissermaßen laienhafte Beschreibung des Lebens einer Person von einer zunächst vorrangig theologischen Auffassung von Verzweiflung, die als eine spezifische Form geistiger Anfechtung aufgefasst wurde. Sie galt als einzige Form geistiger Anfechtung, die aus Sicht der Zeitgenossen willentliche Selbsttötungen provozieren konnte, was ernsthafte religiöse und soziale Folgen implizierte. L EDERER , Madness, S. 170 f.: „Despair represented a distinct form of spiritual affliction, the only type thought to provoke <?page no="133"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 122 christliche Lebenswandel einer Person bezeuge, dass diese dem Teufel zeitlebens widerstrebt und also der Teufel ihre Seele nicht gewonnen hätte. Hieraus und aus der Vorstellung eines real in der Welt wirkenden Teufels schlussfolgerte Hamelmann sodann drittens, dass der Teufel diese Menschen erwürgt haben müsse. Dies ist nicht allein metaphorisch zu verstehen, denn die Unterscheidung zwischen Leib und Seele, die der Teufel zu überwältigen sucht, machte es notwendig davon auszugehen, dass der Teufel Menschen durch reale physische Gewaltanwendung ermorden könne. An diesem Punkt folgte Hamelmann Luthers Argumentation nach dessen Irritation über jene Erhängten, die man mit „gebogenen Knien vnnd Beinen“ gefunden hatte. 83 Viertens, so Hamelmann, würde sich an solchen Fällen erweisen, dass kein Mutwille und damit kein Tatvorsatz vorliege. Allein aber der vorsätzliche ‚Selbstmord’ zöge unabdingbar ewige Verdammnis und weltliche Bestrafung nach sich. Die Argumentation Hamelmanns lag zwar in der Linie Luthers. Hamelmann wollte die Ansichten des großen Reformators aber lediglich „in ehren vnnd ruhe bleiben“ lassen. 84 In seinen übrigen Ausführungen zeigte sich Hamelmann als ein an Augustinus geschulter, ursprünglich katholischer Theologe, der eine Selbsttötung als Handlungsoption des Menschen insgesamt scharf zurückwies. Hamelmann stellte Melanchthons und Luthers Aussagen Kommentare anderer Autoren und vor allem Einschätzungen von Augustinus gegenüber. Dadurch lehnte er zwar nicht direkt die Haltung der Reformatoren ab, gab jedoch deutlich zu erkennen, dass er eine abweichende Position vertrat. Da nun beide Perspektiven in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander standen, auch wenn Luther selbstredend Selbsttötungen an keiner Stelle gut geheißen hatte, kam es Hamelmann zugute, dass die in diesem Zusammenhang zeitgenössisch zitierten Tischreden Luthers immer auch jene Passagen enthielten, in denen Luther für eine notwendig harte Bestrafung von Selbsttötungen durch Amtspersonen und Gerichte eingetreten war. 85 Die Malträtierung der Leiche verlieh der scharfen Ablehnung des ‚Selbstmords’, für die Hamelmann eintrat, einen konsequenten Ausdruck und überbrückte die argumentative Kluft in den im Detail durchaus verschiedenen Bewertungen. intentionally motivated (‚compos mentis’) suicide, and as such it was a condition with grave metaphysical and social implications.“ 83 F EYERABEND , Theatrvm, fol. 143 r . Siehe bspw. WATi 5, Nr. 6089, S. 480. 84 Ebd., fol. 145 v . 85 Ebd., fol. 145 v . Die dort sehr indirekt wiedergegebene Tischrede Luthers findet sich in WAT I 2, Nr. 1413. Vgl. auch G EIGER , Behandlung, S. 166 Anm. 1. <?page no="134"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 123 Der Text Hamelmanns wurde von Joachim Pollio (1577-1644), Pastor an der Magdalenenkirche in Breslau, in einem 1622 erschienenen ‚Theologisch Fragbuch’ erneut abgedruckt. 86 Die Sammlung Pollios ist ein typisches Beispiel für zeitnah in ähnlicher Form publizierte Sammlungen von theologischen Ratschlägen, Gutachten und Einschätzungen ganz unterschiedlicher, immer aber alltagsrelevanter Sachverhalte. Diese Sammlungen kanonisierten einzelne Schriften oder Textpassagen durch ihren offiziellen Charakter und waren häufig auch getragen von der Autorität einer theologischen Fakultät an einer angesehenen Universität. Sie sorgten dafür, dass sich bestimmte Ansichten verstetigen konnten und verstanden sich selbst als „Ratgeber für Christen, für den pastoralen Nachwuchs sowie für die Amtsträger“. 87 Es ist demnach zu vermuten, dass diese Sammlungen Aufschlüsse darüber geben können, wie sich Theologen und Obrigkeiten die Bewertung des Suizids wünschten bzw. welche Texte als bedeutsam eingestuft und wiederholt abgedruckt wurden. Responsen- und Consilienliteratur Die Spruchtätigkeit theologischer Gremien bzw. einzelner Autoritäten und die daraus resultierenden Gutachten und Urteile waren eine wichtige Quelle des protestantischen Kirchenrechts im 16. und 17. Jahrhundert. 88 In ungedruckten und gedruckten Gutachtensammlungen begegnet auch das Thema Selbsttötung - das ‚Theologisch Fragbuch’ Joachim Pollios wurde bereits genannt. Die entsprechenden Consilien waren auf spezifische Situationen bezogen, für die sie in der Regel als Entscheidungshilfen fungierten. Sie wurden auf gezielte Nachfragen beziehungsweise Bitten hin verfasst. 89 Neben grundsätzlichen Fragen wurden auch Einzelfälle respektive spezielle Anliegen abgehandelt. Die historische Suizidforschung hat dieses Schrifttum bislang nicht beachtet. Das 86 P OLLIO , Consiliorum, S. 119 ff. 87 B RECHT , Consilien, S. 204. 88 Ralf Frassek konnte das für das frühe evangelische Eherecht am Beispiel des Wittenberger Konsistoriums zeigen. Frassek legte dar, wie das veränderte reformatorische Eheverständnis eine Spruchtätigkeit des Wittenberger Konsistoriums evozierte. Die Spruchpraxis entpuppte sich dabei als Teil eines längerfristigen Normgebungsprozesses, der in neuen, gesetzten und ausdifferenzierten Normen mündete, die mithin Ausdruck eines im Unterschied zum Mittelalter neuartigen Rechtsverständnisses waren; F RASSEK , Buch. 89 G ÖßNER , Gutachten, S. 190 f. Die Arbeitsdefinition von Armin Kohnle für die Auswahl der von ihm betrachteten Gutachten lautet: „Als ‚Gutachten’ werden […] nur solche Texte betrachtet, in denen - in der Regel auf Anfrage oder Aufforderung - zu einem vorgelegten Problem oder einer gestellten Frage für den Gebrauch des Adressaten begründet Stellung genommen wird.“; K OHNLE , Autorität, S. 194. <?page no="135"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 124 verwundert, weil der Charakter dieser Texte als „Schatz pastoraltheologischer Erfahrung für die Praxis“ 90 einerseits und andererseits der hohe Stellenwert von Rechtsbelehrungen durch Juristen und Theologen für das landesherrliche Regiment im 16. Jahrhundert von der Forschung wiederholt betont wurde. 91 Die hier nachfolgend betrachteten Consiliensammlungen verstanden sich als Kompilationen von Mustertexten und rechtsrelevanten Lehrmeinungen wie auch Präjudizien. In ihnen wurden daher neben Gutachten auch Auszüge aus theologischen Traktaten, Trostschriften und aus den zeitgenössischen Editionen der Tischreden Luthers abgedruckt. 92 Die Consiliensammlungen stellen demnach einerseits ein recht heterogenes Quellencorpus dar, verdeutlichen dadurch aber zugleich, dass unterschiedliche Textgattungen von den Editoren prinzipiell gleichrangig zur Formulierung von Leitaussagen zu bestimmten Fragen und Problemen herangezogen wurden. Können Menschen über einen ‚Selbstmörder’ urteilen? Oben wurde bereits auf ein wichtiges Wittenberger Gutachten aus dem Jahr 1529 hingewiesen. Die Argumentation dieses Gutachtens wird im Folgenden in einem ersten Schritt nachvollzogen. In einem zweiten Schritt werde ich die Rezeption des Textes nachzeichnen und aufzeigen, dass die Schlussfolgerung des Gutachtens, dass man über den Heilszustand von Suizidenten bzw. über diese selbst nicht urteilen könne, für die konkrete, zumal gerichtliche Bewertung von Selbsttötungen einige Folgeprobleme aufwarf. Zunächst jedoch zur Autorschaft dieses für die Geschichte der Bewertung des Suizids in den protestantischen Territorien zentralen Textes: In den Consiliensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die „Theologorum sententia de iis qui sibi mortem consciverunt vel alias repentina morte obierunt“ (1529) meist der alleinigen Autorschaft Melanchthons zugeschrieben. 93 Bereits der Titel deutet indes auf die Beteiligung mehrerer Autoren hin. Armin Kohnle 90 S TRÄTER , Responsen, S. 295. 91 K OHNLE , Autorität, S. 194 f. S CHORN -S CHÜTTE , Politikberatung. In der Suizidforschung bislang einzig K ÄSTNER , Bewertung, mit einer inhaltlich stark gekürzten Darstellung der folgenden Abschnitte. 92 Z. B. P OLLIO , Consiliorum, S. 118. 93 Mitunter auch „Iudicium quorundam theologorum“. CTW Teil 3, S. 121 a f.; TCD I/ 2, S. 805; MBW T3, S. 658 ff. (nach dieser Edition alle Zitate im Folgenden); P EZEL , Consilia, 2, S. 220 f. mit einer chronologisch falschen Einordnung in das Jahr 1555; P OLLIO , Consiliorum, S. 125 f., der es ebenso wie Hamelmann in F EYERABEND , Theatrvm, fol. 143 r nach der Epistelsammlung von Johannes Manlius auf 1526 datiert.. <?page no="136"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 125 hat darauf hingewiesen, dass es in der Mehrzahl der überlieferten Wittenberger Kollektivgutachten nicht möglich ist, den genauen Anteil der jeweiligen Mitautoren zu ermitteln, auch weil auf vielfältige Weise am Erstellen eines Gutachtens mitgewirkt werden konnte. Wichtig war wohl stets, dass Luther und/ oder Melanchthon beteiligt waren. 94 Für das vorliegende Gutachten von 1529 ist die Mitwirkung Melanchthons durch dessen Signum belegt. Auch scheint die Tatsache, dass der Text zeitgenössisch vor allem der Feder Melanchthons zugerechnet wurde, für dessen führende Autorschaft zu sprechen. Gleichwohl darf angenommen werden, dass Melanchthon den Text im Namen der Wittenberger Theologen verfasst hatte. Hierfür spricht neben der Pluralformulierung Theologen auch, dass die 1664 publizierten ‚Consilia Theologica Witebergensia’ (CTW), in denen das Gutachten ebenfalls abgedruckt wurde, den Druck von Gutachten Melanchthons auf jene Texte beschränkte, die er bis 1546 und in enger Verbindung mit Luther verfasst hatte. 95 Dass Melanchthon eine Luthers Ansichten zuwiderlaufende Einschätzung zu diesem Thema offiziell und schriftlich fixiert hätte, ist überdies abwegig. Der Kommentar der Weimarer Ausgabe der Tischreden Luthers geht indirekt von einer Beteiligung Luthers aus. 96 Und in der Tat scheint hierfür einiges zu sprechen, vor allem das in mehreren, Luther zugeschriebenen Äußerungen aufscheinende Bild von Suizidenten als hilflose, von einer äußeren diabolischen Macht zum Suizid getriebenen Menschen. Dieses Bild ist ein zentrales Argument des Gutachtens von 1529. Die von Richard Wetzel akribisch aufgelisteten zeitgenössischen Abschriften des Gutachtens verweisen darüber hinaus auf den engen Zusammenhang der zwischen diesem Gutachten von 1529 und anderen Texten Luthers hergestellt wurde. Häufig wurden die Abschriften des Gutachtens durch Abschriften anderer Texte Luthers ergänzt. 97 Wiederkehrend taucht dabei eine Tischrede vom April 1532 auf, in der Luther seiner satanologischen Deutung der Suizidursachen konkrete Handlungsanweisungen für die weltlichen Magistrate formulierte, die dem Gutachten von 1529 fehlen. 98 Ich sehe für diese Form der Ergänzung des Gutachtens von 1529 zwei Ursachen: Zum einen waren insgesamt nur vereinzelte Äußerungen Luthers und Melanchthons zu Selbsttötungen überliefert. Zum anderen bot das Gutachten von 1529 keinerlei 94 Vgl. K OHNLE , Autorität. 95 S TRÄTER , Responsen, S. 300. 96 WATi V, Nr. 5829, S. 374 Anm. 1. 97 MBW T3, S. 658 ff. 98 Es handelt sich um WATi I, Nr. 222, S. 95. <?page no="137"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 126 Handlungsoptionen für das Verfahren nach Selbsttötungen bzw. den Umgang mit ‚Selbstmördern’, was daran lag, dass dies nicht die zu diskutierende Frage war. Fasst man diese Befunde zusammen, spricht vieles dafür, in dem hier nachfolgend detaillierter beschriebenen Gutachten trotz wahrscheinlicher Federführung Melanchthons ein Kollektivgutachten der Wittenberger Theologen zu erkennen. Aus dieser Feststellung lässt sich ableiten, dass das Gutachten wesentliche und allgemeine Prinzipien der reformatorischen Bewertung des Suizids vertrat. In diesem 1529 verfassten ‚Urteilsspruch gewisser Theologen über diejenigen, die sich selbst den Tod angetan haben oder sonst durch einen plötzlichen Tod dahingeschieden sind’ wird die Ansicht vertreten, dass kein Mensch über das Schicksal und die Person eines Suizidenten urteilen könne oder brauche. Theologisch begründet legte das Gutachten dar, warum nicht davon auszugehen sei, dass die Seele eines Suizidenten unabwendbar auf ewig verdammt sei. Beide Einsichten repräsentieren Gary Ferngren zufolge die entscheidende Differenz der protestantischen zur katholischen Lehre 99 - dem Gutachten von 1529 kommt demnach insofern Bedeutung zu, als hier erstmals jene Einsichten systematisch entwickelt wurden, die in der Folgezeit allgemeines Gedankengut protestantischtheologischer Bewertungen des Suizids werden sollten. Doch ist hier vor allzu leichtfertigen Verallgemeinerungen zu warnen. Ein systematischer und detaillierter interkonfessioneller Vergleich in dieser Frage ist für die Frühe Neuzeit Desiderat der Forschung. Bislang vorliegende erste Untersuchungen deuten eher darauf hin, dass sowohl die Normen des katholischen Kirchenrechts als auch die Gutachtungs- und Begräbnispraxis in katholischen Territorien vielschichtiger waren, als es ein zugespitzter Vergleich nahe legt. 100 Ausgangspunkt der Argumentation des Wittenberger Gutachtens ist die mit Matthäus formulierte Bedingung, die falschen Propheten an ihren Werken zu erkennen. 101 Als solche Werke falscher Propheten und Einflüsterungen wurden Selbsttötungen gedeutet und das Gutachten schlussfolgerte: „Itaque non possumus aliter iudicare de iis qui sibi mortem consciverunt, quam quod sint in 99 F ERNGREN , Ethics, S. 178: „Whereas Catholic moral theology left no hope for the eternal destiny of a suicide, many Protestants were unwilling to deny absolutely the possibility of repentence and God’s mercy.“ 100 Dies ist schon bei G EIGER , Kirchenrecht erkennbar. Jetzt anhand Bayerns L EDERER , Madness. 101 Matth. 7.16. <?page no="138"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 127 potestate diabolica, a quo sunt impulsi ad tantum scelus“. 102 Es zeigt sich, dass die Wittenberger Theologen mit einem Teufelsbild argumentierten, das vor allem auf Folgendes zielte: Der Teufel erscheint als eine äußere Macht, durch deren Antrieb die Menschen in den Tod getrieben werden. Es ist dies, wie oben bereits betont, keine spezifisch protestantische, sondern vielmehr eine bereits ältere christliche Deutung. Zudem korrespondierte diese Vorstellung mit der die gesamte Frühe Neuzeit durchziehenden Wahrnehmung und Deutung von „körperlichen Beschwerden und seelischen Empfindungen als passive, d. h. erlittene, von außen aufgezwungene Sinneseindrücke“. 103 Lange Zeit über war diese äußere Macht in der Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit der Teufel, wobei weitere, etwa medizinische Erklärungsansätze konstruktiv integriert werden konnten. Gleichwohl war der Teufel in Luthers Vorstellungen zu einer so mächtigen Denkfigur geworden, dass eine Selbsttötung als ohne eigenes Zutun des Menschen vollzogen vorgestellt werden konnte. Genau darauf zielte das Gutachten von 1529: Der Mensch kann für eine Selbsttötung nicht verantwortlich gemacht werden. Weiterhin stellten die Wittenberger in ihrem Gutachten heraus, dass es allein in Gottes unergründlichem Entschluss liege, wem er sich zuwende. 104 Biblische Beispiele würden davon Zeugnis ablegen, dass sich Gott auch offenkundigen Sündern zuwende. 105 Gottes Arm sei weder zu kurz, um zu strafen, noch um reuige Sünder zu retten. In einer diese Sicht stützenden und von Anton Lauterbach überlieferten Tischrede Luthers, die auch auf die sonderbaren Umstände der Selbsttötung eines Bischofswerdaer Studenten abhob, hatte Luther bekundet: „Mihi videntur illi, qui sic pereunt, non pro damnatis habendi. Deus enim animas illorum servare potest“. 106 Allerdings erwuchs bereits für die Zeitgenossen aus der unergründlichen Verborgenheit des göttlichen Urteils und des Potenzials göttlicher Gnade ein Problem. Welche Konsequenzen für den Umgang mit ‚Selbstmördern’ sollte man hieraus konkret ableiten, wenn eine weltliche 102 MBW T3, S. 662: „Und daher können wir über jene, die sich selbst den Tod antun nicht anders urteilen, als dass sie von einer teuflischen Macht überwältigt sind, von der sie zu dieser großen Gottlosigkeit durch äußeren Antrieb angestoßen werden“ (Übersetzungsvorschlag A. K.). 103 L IND , Selbstmord, S. 159. Dort das Zitat, vgl. auch ebd., ff. und S. 38. 104 MBW T3, S. 664 f.; WATi 5, Nr. 5829, S. 375: „non possumus de iudicio Dei esse certi, quia est arcanum et absconditum“. 105 Als Beleg dient die Geschichte des Kerkermeisters von Philippi aus Apg. 16.27-34. Vgl. auch WATi 2, Nr. 2387a, S. 441 und 443 zur Errettung von Sündern. 106 WATi 5, Nr. 6089, S. 480. Das ‚sic’ im Zitat bezieht sich auf die Frage nach der Beurteilung von Suizidenten. Vgl. hierzu auch K RAUSE , Stellung, S. 59. <?page no="139"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 128 Sanktion immer auch das für das Jenseits vorgestellte Schicksal spiegelte. Niemand konnte mit Sicherheit ausschließen, dass Gott sich nicht doch von den ‚Selbstmördern’ abwenden würde. Das Gutachten von 1529 selbst verdichtet die Argumentation schließlich auf die finale, in einer Ich-Perspektive didaktisierten Formel: „Ich kann und brauche nicht zu urteilen“, 107 denn, so das Gutachten, das Urteil liege bei Gott, der allein die Seinen kenne. 108 Genau an diesem Argument hakte in der Rezeption des Gutachtens die Kritik im 16. und 17. Jahrhundert ein. Während 1568 bereits Hamelmann das zwiespältige Urteil Luthers und Melanchthons nur widerstrebend auf sich beruhen lassen wollte, wurde das Gutachten von 1529 in einem anderen Zusammenhang über ein Jahrhundert später ausführlich kommentiert. Im Juli 1644 hatte sich die Stadt Frankfurt an der Oder an die theologische Fakultät der Wittenberger Universität gewandt, um Auskunft zu der Frage zu erhalten, „Ob einer, der in einer ärgerlichen That begriffen und einen schweren Sünden Fall gethan, mit gebräuchlichen Christlichen und ehrlichen Ceremonien zu begraben“ wäre. 109 Die Antwort ging auch auf das Gutachten von 1529 ein und stellte heraus: „ex incerto [über das göttliche Urteil] kan man nichts gewisses schlissen pro honorificâ & solenni sepulturâ illorum hominum“. 110 Zwar ging es in dem vorliegenden Fall um einen Mann, der beim Geschlechtsverkehr mit seiner Stieftochter erwischt und von deren Ehemann erstochen worden war. Die Problemstellung ist jedoch verallgemeinerbar: Die Obrigkeiten hatten darüber zu entscheiden, mit welchem Grad der Abstufung der Kirchenzeremonien und mithin auch bürgerlicher Ehren eine Beisetzung gewährt werden sollte. Es ging also immer auch um das Maß an Ehre bzw. Unehre, mit dem eine Gemeinschaft einen verstorbenen Sünder und dessen Anverwandte bedenken konnte. Die Wittenberger Theologen urteilten in ihrer Antwort an die Stadt Frankfurt an der Oder schlussendlich, dass im konkreten Fall aufgrund des bezeugten guten Leumunds ein stilles Begräbnis auf dem Kirchhof gewährt werden könne. Die Tatsache, dass sich die Wittenberger Theologen auch in anderen Fällen auf das Gutachten von 1529 beriefen, verdeutlicht den enormen Stellenwert und 107 MBW T3, S. 665, Übersetzungsvorschlag A. K.; K RAUSE , Stellung, S. 51 übersetzte mit „darf und kann ich nicht urteilen.“ Meiner Ansicht nach bezieht sich ‚ego’ nicht allein auf Melanchthon als Autor, sondern auch auf den Leser des Gutachtens. 108 2. Tim. 2.19; MBW T3, S. 665; siehe auch WATi 5, Nr. 5829, S. 375: „Dominus novit, qui sint eius“. 109 CTW, S. 69 a ff. 110 Ebd., S. 71b. <?page no="140"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 129 die Wirkung dieses Textes für die lutherische Pastoraltheologie. In der 1664 von den Professoren der Wittenberger Fakultät kompilierten und publizierten Edition theologischer Gutachten, in dem auch das Urteil im Frankfurter Fall von 1644 abgedruckt wurde, stellte es zudem den einzigen systematischen Beitrag des gesamten Textcorpus zur Suizidthematik dar. Im Vergleich zu anderen Consiliensammlungen, die nun eingehender zu untersuchen sind, ist dies bemerkenswert. 111 ‚Vita ante actam’ Auch in dem überregional bedeutsamsten ‚Klassiker der lutherischen Responsenliteratur’ (Udo Sträter), dem ‚Thesaurus Consiliorum et Decisionum’, fand das Wittenberger Gutachten von 1529 als Text Melanchthons Eingang. Diese Sammlung hatte der Hamburger Prediger Georg Dedeken (1564-1628) 112 als kasuistisches Werk angelegt. Das Gutachten steht in der Erstausgabe des Thesaurus von 1623 in einem systematischen Abschnitt zusammen mit 16 weiteren Consilien zu den Themen leibliche und geistige Anfechtung, Besessenheit, Friedhofsschändung, Wahnsinn und Selbsttötung, die Dedeken bewusst zusammengetragen hatte. Einige Consilien hatte er sogar persönlich ‚erfragt’. 113 Drei dieser Gutachten beschäftigten sich direkt mit Fragen der Selbsttötung, darunter jenes bereits ausführlich behandelte aus Wittenberg 1529, ein weiteres der Theologischen Fakultät Leipzig von 1620 und ein undatiertes aus der Feder des Jenaer Theologen Johannes Wigand (s. u.). Nicht nur dass diese Gutachten drei bestimmende Fraktionen innerhalb des theologischen Elitendiskurses jener Zeit repräsentieren. Sie verweisen inhaltlich auch auf drei voneinander unterschiedene Phänomene. Während das Wittenberger Gutachten die Konsequenzen einer Selbsttötung von einem theologischen Standpunkt aus abwägend milde und ganz allgemein beurteilte, beschäftigte sich der Text Wigands mit der Bewertung des Suizids von Wahnsinnigen. Die „Censur“ der Leipziger Theologen von 1620 befasste sich indes mit der von Georg Dedeken der Fakultät gestellten Frage: „Was vom Abscheid desjenigen zu halten, der unter 111 Dies könnte jedoch auch in der Komposition der Sammlung begründet sein. Der Schwerpunkt der Wittenberger Consiliensammlung liegt mit 1078 Seiten deutlich auf Lehr- und Glaubensfragen, während die Moral- und Policeysachen lediglich 166 Seiten umfassen. Zur Ausrichtung der CTW siehe S TRÄTER , Responsen, S. 298 f. 112 B RECHT , Consilien, S. 203 f.; G ÖßNER , Gutachten, S. 193 ff. 113 TCD I/ 2 (pars tertia, membrum tertium, sectio IV: De Ministrorum Verbi erga aegrotos, afflictos, sentatos, maleficos et c. officio), S. 772 ff., hier 805. <?page no="141"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 130 fleissigem beten (da er Christo seine Seele befiehlet) sich selbst vmbs leben bringet“. 114 Dieses Gutachten hat Dedeken dann auch in seinen Thesaurus aufgenommen. Er war also ganz offensichtlich bemüht, das Thema Selbsttötung in den für die Pastoraltheologie relevanten Aspekten (allgemeines Urteil; Suizid von Geisteskranken; Selbsttötung von religiösen Melancholikern) möglichst breit abzuhandeln. Hierzu genügten ihm offenbar die vorhandenen Schriften zum Thema nicht. Vielmehr erwartete er sich von den Leipziger Theologen eine durch deren Autorität legitimierte Antwort auf die Frage zu einer speziellen Fallkonstruktion. Andreas Gößner hat die Sammlung von Dedeken als „unverzichtbare Quelle für die Gutachten der Theologischen Fakultät Leipzig aus dem 16. und 17. Jahrhundert“ bezeichnet. 115 Gößner hat zudem die im Leipziger Universitätsarchiv noch erhaltenen handschriftlichen Gutachten der Theologischen Fakultät Leipzig aus den Jahren 1540 bis 1670 erschlossen. Seine Auflistung zeigt, dass die Zensur von 1620, welche außerdem nur auf gezielte Anfrage Dedekens hin verfasst worden war, das einzige Gutachten zum Thema Selbsttötung überhaupt ist. Zumindest die Leipziger Theologische Fakultät war demnach in ihrer Gutachtungstätigkeit im 16. und 17. Jahrhundert mit Selbsttötungen entweder überhaupt nicht oder aber nur äußerst selten betraut. Die Dauerpräsenz des Themas in den Consiliensammlungen spricht jedoch dafür, dass es sich bei dem Phänomen ‚Selbstmord’ um ein Thema handelte, das fortlaufend Fragen aufwarf. Bezogen auf die von Dedeken gestellte Frage antworteten die Leipziger Theologen, dass der Vorsatz zum Suizid niemals den Geist des Gebets bei sich haben könne. Weil dem unbestreitbar so sei, würde Gott einen vorsätzlichen ‚Selbstmörder’ niemals erhören: „Derwegen wir auch einen solchen nicht können selig sprechen. Denn Gott anrufen, mit dem fürsatz wider seinen [scil. Gottes] klaren willen zu thun, kann auß dem H[eiligen] Geist nicht herkommen vnd derwegen auch nicht erhöret werden“. 116 Gott könne sich vielmehr nur jenen zuwenden, die ihn im wahren Geiste des Gebets ansprechen. Im Verständnis des 16. und 17. Jahrhunderts war es dabei 114 Diese Zensur ist wohl auf den 9. Januar 1620 zu datieren. Datum nach G ÖßNER , Gutachten, S. 221 Nr. 82, dort auch der Beleg, dass Dedeken die Frage selbst gestellt hat. Der TCD datiert sowohl in der Ausgabe von 1623 als auch 1671 auf den 12. Januar 1620. Als Verfasser dieses Kollektivgutachtens könnten, da es mit „Decanus, Senior, vnd andere Doctores vnd Professores“ signiert ist, Vinzenz Schmuck, Polykarp Leyser, Heinrich Höpfner und Christoph Wilhelm Walpurger gelten; vgl. zu den Personen K IRN , Fakultät, S. 68 ff.; Text der Zensur in TCD I/ 2, S. 804 f. 115 G ÖßNER , Gutachten, S. 193. 116 TCD I/ 2, S. 804. <?page no="142"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 131 unstrittig, dass der Vorsatz zum ‚Selbstmord’ nicht dem Willen Gottes entsprechen könne. Würden Menschen also eifrig beten und sich danach töten, so könne dies schlechterdings nicht anders interpretiert werden, so die Leipziger Theologen weiter, als dass in diesem Fall die Selbsttötung durch religiöse Irrlehren hervorgerufen sei und aus Ungeduld über das gottgegebene Schicksal resultiere. Es galt das unumstößliche Prinzip, dass allein Gott den Menschen nach seinem Willen „erlöse vnd abfordere“. 117 Problematisch waren daher jene interpretationsbedürftigen Beispiele, die der Überlieferung heiliger bzw. apokrypher Schriften entstammten. In ihrer Zensur gingen die Leipziger Theologen deshalb auch auf die Selbsttötung des Rasi aus dem zweiten Buch der Makkabäer ein (2. Makk. 14.37-46). Keinesfalls sei dessen Exempel zu loben, wenngleich es, die Leipziger Theologen schlossen sich hier dem Apokryphenkommentar Luthers an, „geduldet vnd wol außgelegt mag werden“. 118 Das Beispiel des Rasi, der sich schwer verletzt unter Anrufung Gottes die Eingeweide aus dem Leib gerissen hatte, um seinen Häschern zu entgehen, erschien den Theologen anfechtbar, weil es nach dem Kanon der Lutherbibel einer apokryphen Schrift entstammte, das heißt nicht den Charakter von Heiliger Schrift und Gottes Wort besaß. Um die Fragwürdigkeit dieses Exempels zu betonen, verwies man auf die ablehnenden Kommentare der Kirchenväter und die Vorrede Luthers zum zweiten Buch der Makkabäer. 119 Die strenge Gläubigkeit Rasis wurde zwar anerkannt, daraus aber wiederum geschlussfolgert, dass Selbsttötungen aus niederen Beweggründen oder einfachem „vberdruß des lebens“ noch viel weniger legitimierbar wären. Abschließend stellten die Leipziger Theologen fest, dass es keinen abscheulicheren Mord geben könne, als sich selbst nicht zu erhalten, weswegen man „einen solchen Beter und thäter in seinem mit Gottes willen streitenden Gebet vnd That nit selig“ sprechen könne. 120 117 Ebd., S. 805. 118 Ebd., S. 805. Vgl. WADB 12, S. 416 und 417. 119 WADB 12, S. 416 ff. und die Randbemerkung S. 484. Zum Exempel Rasis äußerten sich ähnlich auch C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z., S. 275 f.; S IGFRID , Tractat, fol. F4 v ff. und S UEVUS , Warnung, fol. Cvi v . Siehe aber auch L ENZEN , Selbsttötung, S. 88 f., zum Kontext der Makkabäerzeit und zum Modelcharakter von Rasis Suizid für die Donatisten ebd., S. 113 ff. Zur Stellung der Apokryphen bei Luther und in der lutherischen Tradition F RICKE , Apokryphenteil, wo besonders auf den gängigen Druck der Apokryphen in der Wittenberger Tradition und auf eine normativ in den Kalendarien verankerte Apokryphenlektüre hingewiesen wird. Zur im Kontext von Luthers Apokryphenbewertung speziellen Ablehnung des zweiten Makkabäerbuches ebd., S. 58. 120 TCD I/ 2, S. 805. <?page no="143"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 132 Die Frage der Bewertung vorsätzlicher ‚Selbstmorde’ war mit dieser Zensur eindeutig negativ beantwortet. Dabei steht die Einschätzung der Leipziger Theologen exemplarisch für eine Vielzahl ähnlich lautender Urteile. Ein hierfür prominenter Autor ist sicherlich Andreas Celichius (gest. 1599). Celichius war Autor eines im 16. Jahrhundert weitverbreiteten Buches über Verzweiflung und Selbsttötung. Die zentralen Argumente seiner Schriften wurden auch in verschiedenen Auflagen der Consiliensammlung von Felix Bidembach abgedruckt. 121 Auf den Einwand, man könne doch eigentlich nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sich ein ‚Selbstmörder’ mit seinen letzten Gedanken Gott zuwende, erwiderte Celichius, dass da, wo der Teufel sein Regiment führe, da „hat man sich gewißlich des H[eiligen] Geistes vnd seines Liechts vnd Trost wenig zuvermuthen.“ 122 Ganz ähnlich hatten das die Leipziger Theologen gesehen. Und auch Thomas Sigfrid, ein nicht näher bekannter theologischer Autor des 16. Jahrhunderts aus Leipzig, stimmte in diesen Kanon ein: „Wer auff GOTTes Gnade vnnd Barmhertzigkeit sündigen will, der ist ein mutwilliger Sünder vnnd hat sich deß Opffers Christi am Creutze nicht mehr zu trösten“. 123 Offensichtlich versuchten alle diese Texte ein Phänomen wieder in einen wohlgeordneten Deutungshorizont einzuholen, das diesen zu sprengen drohte. Denn - sehr häufig waren gerade tiefgläubige Menschen von suizidalen Anfechtungen betroffen und töteten sich. Von deren nach außen hin sichtbaren Lebensführung mussten zeitgenössische Beobachter eigentlich auf eine tiefe Frömmigkeit schließen. 124 Dem stand häufig ein als vorsätzlich eingestufter ‚Selbstmord’ und damit ein im Verständnis der Zeit zutiefst unchristliches Verbrechen entgegen. Die Leipziger Theologen waren also über die gestellte Frage hinaus aufgefordert, rein äußerlich als christlich erscheinende Verhaltensweisen zu deuten. Diese spielten für sie aber insofern keine Rolle für die Be- 121 B IDEMBACH , Consiliorum V, Nr. VIII und IX; B IDEMBACH , Consiliorum VIII, Decas V, Nr. VIII und IX. Zur ablehnenden Haltung der kursächsischen Geheimen Räte gegenüber dem erbetenen Druckprivileg durch den Magdeburger Buchhändler Johann Francke, der Celichius Werk 1597 erneut auflegen wollte S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 8840/ 2, fol. 41 ff. Bei Francke erschien das Werk dann dennoch 1600. 122 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 641. 123 S IGFRID , Tractat, fol. K3 v . Zur Person DBA, 1185, 41. 124 Schon bei Johann von Staupitz ist diese Beobachtung zu lesen; S TAUPITZ , buchleyn, fol. Biii r : vor allem die Frommen stünden „mit jnn selbs vnd den boesen geysten in einem steten kampff […], der nit allain nit auff hoeret, biß zu der stunde des todes, sunder vilmals groesser wirt im sterben dann er vormals gewesen“. Hierzu auch N ESER , Predigten, S. 10 ff. <?page no="144"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 133 urteilung eines Suizids, weil die einhellige Auffassung bestand, dass sich ein wahrer Christ nicht vorsätzlich das Leben nehmen würde. Grundsätzlich teilte auch Johannes Wigand (1523-1587) 125 diese Ansicht. Allerdings gelangte er zu einer völlig anderen Deutung äußerlicher Verhaltensweisen, als er sich mit der Frage konfrontiert sah: „Ob ein Christ Gottseliges Wandels, wann er sich auß mangel der Sinnen oder in Wahnsinnigkeit vmbs Leben bringet, zu Verdammen sey“? 126 Wie sein undatiertes Antwortschreiben auf diese Frage den Weg in die Sammlung Dedekens fand, ist unklar. In jedem Fall aber scheint sich das Gutachten nicht auf einen konkreten Suizidfall zu beziehen, sondern diente eher einer Beantwortung einer allgemein gehaltenen Frage. 127 Das Bedenken Wigands wurde in der Folgezeit durchaus rezipiert, 128 fehlte jedoch, ebenso wie die beiden anderen Gutachten, in der von Johann Ernst Gerhard (1621-1668) und Christian Grübel (1642-1715) 1671 in Jena besorgten Neuauflage. 129 Wigand sah in zurechnungsfähigen und vorsätzlichen ‚Selbstmördern’ Totschläger, Verzagte und Ungläubige, denen nach der Offenbarung des Johannes der ewige Feuerpfuhl des brennenden Schwefelsees (Offb. 21.8) unabwendbar drohte. In gleicher Weise waren für Wigand jene ‚Selbstmörder’ verdammt, die sich im Leben als ruchlos, hartnäckig unbußfertig, als Hurer, Säufer oder Sakramentsverächter erwiesen hätten, denn diese seien in ihrer ganzen Sündhaftigkeit aus dem Leben geschieden. Hierin stimmte Wigand mit allen Theologen der Frühen Neuzeit überein. Wie aber stand es mit jenen, die sich töteten, während ihr Verstand beeinträchtigt war? Wenn man in diesen Fällen, so Wigand, „vitam ante actam […] examinire“ und es sich herausstellt, dass der 125 Zur Person K AWERAU , Wigand; ausführlich auch schon Z EDLER Bd. 56, Sp. 608 ff. (Art. ‚Wigand’) 126 TCD I/ 2, S. 802 ff. 127 Die Lebensdaten von Wigand und Dedeken machen es unwahrscheinlich, dass Dedeken Wigand selbst die Frage stellte, ein überliefertes Original von Wigands Text ist mir nicht bekannt. G ÖßNER , Gutachten, S. 197 Anm. 40 weist darauf hin, dass Dedeken um weitgehende Anonymisierung der kompilierten Texte bemüht war und deshalb häufig Daten veränderte bzw. wegließ. 128 Etwa D ANNHAUER , Collegium, S. 663 ff. und 734 f.; N EUMEISTER , Betrachtung, S. 17. 129 Die Gründe hierfür sind nicht ganz klar, wenngleich die Neuauflage auf Texte neueren Datums verwies, die dann aber nicht extra mit abgedruckt wurden. Wigands Name taucht im Autorenverzeichnis überhaupt nicht mehr auf. Das könnte daran liegen, dass er während seiner Tätigkeit in Jena mit den dortigen Autoritäten 1561 in einen Konflikt geraten und in Ungnade gefallen war, weil er sich gegen die Errichtung eines Jenaer Konsistoriums ausgesprochen hatte. Daraufhin musste er die Universität Jena verlassen. <?page no="145"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 134 Tote „ein guter Christ gewesen […,] so kann man jhn mit nichten Verdammen“. 130 Entscheidend war in Wigands Einschätzung neben der Bewertung des Geisteszustands also das Leben vor der Tat, das ihm ebenso wie schon Hamelmann als Gradmesser der Christlichkeit diente. Wigand begründete seine Sicht wie folgt: Zunächst könne aufgrund von „Sinnlosigkeit“ oder Wahnsinn kein Wille oder Vorsatz bei der Tat festgestellt werden. Ferner widerspräche ein Vorsatz zum Suizid dem wahren christlichen Glauben und dem Willen Gottes. Wenn diese Bedingungen gelten, müsse sich der Blick auf das vorherige Leben der Verstorbenen richten. Dann könnte die Gottseligkeit (oder Gottlosigkeit) des Toten dadurch festgestellt werden, indem man die näheren Lebensumstände untersucht. Kein „Wahnwitz“, so Wigand, könnte den festen Glauben an Gott aus dem Herzen zu tilgen. In seiner weiteren Argumentation lehnte sich Wigand wörtlich an Luthers Hauspostille an. Gott schaue allein auf das Herz der Menschen und würde so ihren unauslöschlichen Glauben erkennen. Auch erbarme sich Gott dieser armen Menschen mit Sicherheit, die daher auch nicht aus seiner Gnade entfielen. Schließlich wolle Gott die Menschen nicht richten, wenn sie am schwächsten sind. Vielmehr wisse der Allmächtige um den christlichen oder gegebenenfalls unchristlichen Lebenswandel der Menschen vor dem Verlust ihrer Vernunft. 131 Wigand wollte demnach aus den retrospektiv beschriebenen und äußerlich erkennbaren Verhaltensweisen auf die innere Glaubensüberzeugung von Suizidenten schließen. Anders als die Leipziger Theologen 1620 deutete er Glaubenspraktiken im Vorfeld von Selbsttötungen nicht negativ. Zwar handelten beide Gutachten nicht ausdrücklich von der gleichen Frage bzw. argumentierten am gleichen Beispiel (die Leipziger Theologen handelten von einer vorsätzlichen Gnadenschändung), doch scheint es zulässig, hier einen bedeutsamen Unterschied beider Texte zu erkennen, denn Wigand schreibt: „[Wenn ein Suizident das] gezeugniss eines Christlichen Glaubens vnd Gottseeligen Lebens [hat], dass er Gott geliebet vnd gefürchtet hat, so ist gewiss zu erachten, dass er bey solcher seiner Gottseligkeit nimmermehr den willen vnd Vorsatz, ja nimmermehr die geringste gedancken gehabt, jhm selbst dass Leben zu nehmen“. 132 130 TCD I/ 2, S. 802. 131 Ebd., S. 802 ff. 132 Ebd., S. 802. <?page no="146"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 135 Die Pointe der Wigandschen Argumentation lag darin, die „Sinnlosigkeit“ eines Suizidenten aus einem bezeugten positiven Lebenswandel abzuleiten. 133 Das sich daraus ergebende Folgeproblem lag gleichwohl darin, dass „Sinnlosigkeit“ und andere entlastende Gemütszustände von einer näheren Bestimmung ausgespart blieben, weil auf deren Vorhandensein unmittelbar aus der Rekonstruktion der allgemeinen Lebensführung gefolgert wurde und bereitwillig geringste Verhaltensauffälligkeiten entsprechend gedeutet werden konnten. Wigand verknüpfte in seinem Schreiben systematisch zwei Gesichtspunkte, die in der Überlieferung der Untersuchungsverfahren über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg in einem auffälligen Zusammenhang stehen: Beschreibungen von Suizidenten, deren Tat entschuldigt wurde, zeichnen sich häufig dadurch aus, dass neben Mutmaßungen über den Geisteszustand der sonst christliche Lebenswandel betont wurde. Im Falle von ‚Selbstmördern’, denen ein schlechter Lebenswandel nachgesagt wurde, verzichtete man dann vice versa darauf, entlastende Begründungen anzuführen. 134 Diese sich bei Wigand abzeichnenden Befunde lassen sich verallgemeinern. Exemplarisch soll dies hier abschließend an zwei Beispielen aufgezeigt werden. Lorenz Codomann (1529-1590) 135 äußerte sich in einem auf das Jahr 1581 datierten 136 ‚Bedencken’ zu der Frage: „Was von denen zu halten sey, welche aus Kranckheit von sinnen kommen vnd den gebrauch ihrer vernunfft verlieren vnd also sterben, Oder jhnen selbst unwissend am Leben schaden thun“. 137 Codomann selbst hatte Theologie in Wittenberg studiert und war zum Zeitpunkt dieses Berichts als Superintendent im kurpfälzischen Germersheim tätig. Der Text wurde knapp 20 Jahre nach Codomanns Tod von Felix Bidembach (1564-1612), württembergischer Generalsuperintendent, in den fünften Band seiner Sammlung von Consilien aufgenommen, die zunächst in Darmstadt 1609, später erneut 1612 in Wittenberg und ein drittes Mal 1615 in Tübingen 133 Im zeitgenössischen Verständnis konnten sich Wahnsinnige usw. nicht vorsätzlich das Leben nehmen. Diese Sichtweise kann innerhalb der Stellungnahmen zum Suizid in den lutherischen Consiliensammlungen als Konsens gelten und entsprach auch den Normen des kanonischen Rechts; G EIGER , Kirchenrecht, S. 229 und 232. 134 K ÄSTNER , Experten. 135 K NEDLIK , Codomann. 136 Folgt man den im Text des Gutachtens genannten Beispielen, wurde dieses nach dem 22. November 1581 und vor Jahresende verfasst, denn Codomann berichtet von einem Suizid an jenem 22. November. Hierzu unten im Text. 137 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 631 ff. <?page no="147"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 136 publiziert wurde. 138 Er findet sich - das unterstreicht die anhaltende Wirkung von Codomanns Text - ebenso noch als Mustervorlage in Nicolaus Haas’ ‚geistlichem Redner’ von 1701, einer Vorlagensammlung für Predigten. 139 Codomann ging zunächst auf den Umstand ein, dass niemand ausschließen könne, jemals in seinem Leben von „Wahnwitz“ befallen zu werden. Er formulierte diese allen Menschen drohende Gefahr als Mahnung gegen vorschnelle Urteile und versuchte zu verdeutlichen, dass der Verlust der Vernunft nicht zwangsläufig den Verlust des Glaubens bedingen müsse. Der Glaube, so Codomann, werde vom Heiligen Geist mittels Wort und Sakramenten in die Herzen der Menschen eingepflanzt und könne dort auch von ihm erhalten werden. 140 Codomann unterschied strikt zwischen (körperlich) Kranken und jenen Menschen, die ihrer Sinne verlustig sind. Er argumentierte, ganz ähnlich wie z. B. auch Johann Neser (gest. 1621), 141 der Traum der Kranken sei die Wirklichkeit der „Sinnlosen“. Die ‚Wahnsinnigen’ würden demnach unter einem völligen Realitätsverlust leiden - gleich jenen, die in einem Traum wandeln. Damit wäre aber noch nichts über deren Glauben gesagt. Die körperlich Kranken wären indes ihrer selbst durchaus noch mächtig. Daher lehnte Codomann auch strikt eine Selbsttötung von kranken Menschen aus Ungeduld über das eigene Schicksal entschieden ab. Gerade weil diese Menschen noch Herren ihrer Sinne wären, würden sie vorsätzlich und frevelhaft handeln und damit gottlos sterben. Konsequenterweise wären solche ‚Selbstmörder’ dann unter der Türschwelle aus dem Haus zu schleifen oder vom Haus herunter zu werfen; auch müsse man sie unter dem Galgen als dem manifesten Zeichen der obrigkeitlichen Strafgewalt verscharren; ihre Güter würden konfisziert und die Seele ins ewige Höllenfeuer verstoßen. 142 Codomann lehnte also deutlich Selbst- 138 B IDEMBACH , Consiliorum V (1609 und 1615), Nr. VII. Eventuell wählte Bidembach diesen Text aus, weil er ein von ihm selbst in einem, posthum publizierten, eigenen Traktat behandeltes Thema beschrieb, den Umgang mit Kranken und Melancholikern (Felix Bidembach: Kurtzer Bericht, Wie mit Krancken und Sterbenden zu handlen. Sampt einem Bedencken, Wie den Melancholicis, so mit traurigen und schwermütigen Gedancken beladen zu rathen und sie wiederumb auffzumuntern, Leipzig 1613; diese Quelle stand mir nicht zur Verfügung). 139 H AAS , Redner, Cap. 9, Classis IV, § XVII, S. 951 ff. 140 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 633 f. 141 N ESER , Predigten, S. 70. 142 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 634: „Deßgleichen, so ein Krancker auß vngedult sich selbst fürsätzlich vmb das Leben bringt vnd hiemit vermeynt seiner qual abzuhelffen, ist er auch für einen verzweiffelten Menschen zu halten, der nicht gläubet, daß nach diesem ein jüngstes Gericht seyn werde, <?page no="148"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 137 tötungen aus bewusstem Lebensüberdruss und Verzagung wegen einer misslichen Lebenslage ab und benannte klar die Konsequenzen für jene vorsätzlichen ‚Selbstmörder’, die in ihrer Verzagtheit die göttliche Gnade schänden. Ähnlich argumentierte auch der oben bereits erwähnte Andreas Celichius, der Verzagte für überführte Ungläubige hielt. 143 Ganz im Gegensatz zu solchen körperlich Kranken, die vorsätzlich ihren Leiden ein Ende bereiten wollten, 144 seien nun aber Menschen zu beurteilen, die einen christlichen und gottgefälligen Lebenswandel geführt hätten, nach dem Verlust ihrer Sinne jedoch verunglückt oder nach endlosen Qualen gestorben seien. Damit ist Codomann an einer, wie bereits gezeigt, zentralen Stelle der Argumentation lutherischer Theologen zur Beurteilung von Suizidenten angelangt: Nichts könne einen wahren Christen von der Liebe Gottes trennen, auch nicht der jähe Tod. 145 Dagegen werde Gott aber die Heuchler verstoßen, auch wenn die Menschen den Unterschied zwischen Rechtgläubigen und Heuchlern nicht immer zu erkennen vermögen. Das heißt mit anderen Worten (so wie es auch schon Luther und Melanchthon formuliert hatten): Das endgültige Gericht liegt in dieser Sache bei Gott. Um diesen Punkt zu unterstreichen, führte Codomann ein Beispiel aus seiner eigenen Amtspraxis als Superintendent an. Wie andere Autoren seiner Zeit war oder daß die, so Gottlos sterben, nach zeitlicher qual die ewige Pein leiden müssen. Darumb man solche, von denen man gewiß weiß, daß sie fürsetzlich in kranckheit oder sonst auß verzagung jnen selbst den todt gethan vnd an jnen selbst zu Mördern worden sind, nicht werth achtet, daß man sie wie Menschen oder Viehe zur Thür heraus trage oder zu den Christen auff den Gottes Acker begrabe, sondern vnter der Haußschwelle zeucht man sie heraus oder stürtzet sie oben zum Hause herab vnd begräbet sie vnter den Galgen, vnd jhre hinterlassene Güter fallen nach etlichen Rechten der Obrigkeit heim, jhr Leib vnd Seel aber werden am jüngsten Tag inns ewige Hellische Fewer verstossen“. 143 Ebd., S. 642.Vgl. auch C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z., Abschnitt II. insbes. S. 36 ff. 144 Auch Thomas Morus hatte im zweiten Buch seiner Utopia im Kapitel über die Sklaven zwar den eigenmächtigen Suizid von Kranken verurteilt. Diese würden „in paludem aliquam turpiter insepultus abijcitur“; M ORUS , De optime, S. 120. Andererseits (ohne dass diese schwierige Passage hier weiter interpretiert werden könnte) ließ Morus jedoch die Behörden und vor allem die Priester Utopias zu praktischen Euthanasievertretern im Fall von unheilbar und schwer leidenden Kranken werden. Vor allem der Rat der Priester, der ‚interpretes dei’, garantiere dabei (sozialkritisch? ; satirisch? ; zynisch? ) die Gottgefälligkeit des freiwilligen und behördlich genehmigten Suizids. Vgl. zu diesem Problem ausführlich T IMMERMANN , Sterbehilfe, hier S. 8 f. mit einer Übersetzung der Passage; kurz und im Kontext der Zeit sowie mit weiterer Literatur auch L IND , Selbstmord, S. 39 f. Ausführlicher M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 86 ff.; ebd., S. 89 auch mit der Einschätzung: „What More permitted the humanist saints in Utopia to do, he would in no wise permit Christians.“ Umfassend zur Einstellung Morus’ G REEN , Suicide. 145 Hierzu umfassend M OHR , Tod. <?page no="149"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 138 auch Codomann von der Konfrontation mit Suizidalen und Suizidenten in seiner Amtspraxis geprägt. Am 22. November 1581 hatte sich im Kurpfälzischen bei Germersheim ein Mann im Rhein ertränkt. In seiner Funktion als Superintendent musste Codomann über die Form der Beisetzung des Suizidenten mitentscheiden. Weil der Tote, der regelmäßig den Gottesdienst besucht hatte, erst am Tag zuvor das Abendmahl und die Absolution empfangen hatte, ordnete Codomann ein Begräbnis auf dem Friedhof an, nachdem er sich mit den Vertretern der Ortsgemeinde beratschlagt hatte. Der Mann wurde auch dadurch entlastet, dass er bereits seit einigen Tagen über heftige Kopfschmerzen geklagt hatte. Aus Sicht Codomanns war der ‚Wahnwitz’ des Suizidenten damit belegt und ein Vorsatz zum Suizid ausgeschlossen. 146 Lediglich zur Mahnung an die Gemeinde wurde das Begräbnis in der Stille durchgeführt. Die Germersheimer Obrigkeiten wollten allen Untertanen deutlich vor Augen führen, dass das stille Begräbnis bereits ein Zugeständnis der Obrigkeit aufgrund entlastender Indizien war und vorsätzlichen ‚Selbstmördern’ ein grausameres Schicksal drohte. So schloss Codomann seinen Bericht denn auch mit der Empfehlung, bei Gedanken an einen Suizid solle man erschrecken, Gott um Verzeihung anrufen (so wie es auch Luther empfohlen hatte) und Gott bitten, einen selbst vor den Versuchungen des Teufels zu beschützen. 147 Die beschriebenen Beispiele haben verdeutlicht, wie sich pastoraltheologische Erwägungen über die Seligkeit von Suizidenten, die aufgrund geistiger Beeinträchtigungen und eines rechtschaffenen Lebenswandels entschuldigt wurden, auf die Gutachtungspraxis zum Suizid insgesamt bzw. auf die Urteilspraxis bei konkreten Selbsttötungen ausgewirkt haben. Abschließend soll ein zeitlich jüngeres ‚Consilium’ der Jenaer Theologen verdeutlichen, dass die von mir herausgearbeiteten Grundsätze der Bewertung von Suiziden auf Dauer gestellt wurden. Christian Grübel, der Adjunkt der Philosophischen Fakultät Jena, hatte in dem von ihm herausgegebenen Appendix zur überarbeiteten Neuauflage des Dedekenschen ‚Thesauri Consiliorum et Decisionum’ ein Gutachten der Jenaer 146 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 636. 147 B IDEMBACH , Consiliorum VIII, S. 637. Vgl. die Parallele zu Aurifabers Edition der Tischreden Luthers, wo es (um es hier zu wiederholen) heißt: „Drumb mussen wir in furcht stehen vnd Gott bitten, Er wolt vns fur dem Teufel behuten“; A URIFABER , Tischreden, fol. 497 v . M OHR , Protestantische Theologie und Frömmigkeit, S. 403 verweist auf eine weitere Parallelüberlieferung und geht davon aus, der Bericht Codomanns sei eine Leichenpredigt - diese Ansicht kann ich auf der Grundlage der Edition bei Bidembach nicht teilen. <?page no="150"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 139 Theologischen Fakultät zur Frage der Beerdigung eines melancholischen Suizidenten von 1668 abgedruckt. 148 Im März 1668 hatte ein Bote aus einer thüringischen 149 Herrschaft Graf Heinrichs V. von Reuß die Nachricht einer Selbsttötung mit der Bitte nach Jena überbracht, die dortigen Theologen mögen über die Form der Beisetzung entscheiden. Aus den zum Verspruch vom Gerichtshalter mitgeschickten Untersuchungsakten konnte man ersehen, dass der 24-jährige Sohn eines Verwalters, der dem Vernehmen nach seit Weihnachten 1667 an melancholischen Anfällen gelitten hatte, im Haus seines Vaters erschossen aufgefunden worden war. Alle Begleitumstände legten eine Selbsttötung nahe. Der Pfarrer, der 15 Jahre lang der Beichtvater des Toten gewesen war, und die Gemeinde beschieden dem Suizidenten ein ordentliches und christliches Leben. Zwar habe der junge Mann „bißweilen phantasiret und [wäre] im Haupte verruckt gewesen, gleichwohl aber nichts böses oder unchristliches geredet“. 150 Noch am Tage der Selbsttötung soll der junge Mann morgens, mittags und nach dem Essen in Gemeinschaft mit anderen Gemeindemitgliedern gebetet haben. Die Jenaer Theologen schlugen vor, den Toten ehrlich zu bestatten. In ihrem Urteil gingen sie nicht umständlich auf jene theologischen Erwägungen ein, die noch Wigand, Codomann und andere beschäftigt hatten. Nicht die Frage, ob der Tote verdammt sei, stand bei der Abwägung der Sachlage im Vordergrund. Vielmehr interessierte die Form der Beisetzung, auf die sich die schriftlichen Ausführungen konzentrieren. Beide Aspekte konnten natürlich nicht voneinander getrennt gedacht werden, aber die Frage der Verdammung von ‚Selbstmördern’ war im Jahr 1668 bereits seit ungefähr 150 Jahren Gegenstand von Diskussionen protestantischer Autoren. Der Grundsatz, dass die Möglichkeit göttlicher Gnade für Suizidenten nicht auszuschließen sei, wurde mittlerweile kaum noch bestritten. Weniger theoretische als vielmehr praktische Erwägungen bestimmten die Ausführungen der Jenaer Theologen. Es galt bei einer ehrlichen Bestattung eines ‚Selbstmörders’ auch an die Befindlichkeiten des sozialen Umfeldes zu denken, die sich je nach Fall für oder vehement gegen eine solche Beisetzung stellen 148 G RÜBEL , Thesauri, S. 672 f.; TCD 2 I, S. 1172. Dieses Gutachten war als Ergänzung zu den knappen Verweisen der Neuauflage (unter anderem auf Carpzov) im Hauptwerk gedacht. 149 Da die die Gebiete der Grafen von Reuß zum Teil auch nach Kursachsen inkorporiert waren, ist dieser Umstand wichtig, denn kursächsische Fälle durften nicht an einer auswärtigen Fakultät entschieden werden. 150 G RÜBEL , Thesauri, S. 672. <?page no="151"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 140 konnten. 151 Codomann hatte, wie dargestellt, in einem vergleichbaren Fall von einem stillen Begräbnis ohne Leichenpredigt und Leichgangsprozession berichtet. Die Jenaer Theologen gewährten im vorliegenden Fall indes ein ehrliches Begräbnis. Die einzige Bedingung, die sie stellten, lautetet, dass zur Mahnung an die Gemeinde anstelle der üblichen Sterbelieder Bußlieder gesungen werden sollten. „[Von] dem Pfarrer [sollte] in der Predigt eine Erinnerung und Bericht annectiret werden, aus was Bedencken und um welcher Umstände willen die honesta sepultura bey diesem Casu vergönnet worden und wie sich auff dieses Exempel niemand zu beziehen, sondern vielmehr iederman daher Anlaß zu nehmen hätte, das menschliche Elend und Schwachheit zu erkennen und in täglichen Gebet um Erhaltung seines völligen Verstandes und Gedult im Creutz und Abwendung trauriger und Melancholischer Gedancken und Anfechtungen den lieben Gott anzuruffen“. 152 Dem Pfarrer wurde es gestattet, der Beisetzung beizuwohnen. In seiner als Bußpredigt zu haltenden Ansprache sollte er die Gemeindemitglieder davor warnen, sich die Selbsttötung des jungen Mannes zum Vorbild zu nehmen. Darüber hinaus sollte der Pfarrer die Gemeinde darauf hinweisen, dass ein jeder sich seiner eigenen Schwäche bewusst werden und sich in dieser demütigen geistigen Haltung bittend und Hilfe suchend an Gott wenden solle. Ähnlich lautende Entscheidungen und Empfehlungen für die Ortsgeistlichen lassen sich in Kursachsen auch für das 18. Jahrhundert nachweisen. 153 In dem Jenaer Urteil tauchen also schon bekannte Argumentations- und Bewertungsmuster auf. Abschließend ist daher nach Konvergenzen in den Consiliensammlungen zu fragen. 151 Zu sogenannten Friedhofstumulten siehe F RANK , Hiob; L EDERER , Aufruhr; L EDERER , Madness, S. 244 ff. und unten Teil C, Kap. 7. 152 G RÜBEL , Thesauri, S. 672 f. 153 In einem Fall ist das Predigtmanuskript des Pfarrers überliefert. Vgl. E PH A P IRNA , Königstein, Nr. 3226, fol. 37c r : „Wir dancken dem herrn unsern gott, als dem herrn über leben und tod, sowohl für diese gnädige aufflösung, als auch für die gnade, daß er unser gebet gnädiglich erhöhret, daß die seelig verstorbene in ihren lezten 5 lebens=tagen von ihren schwermüthigen gedancken so weit befreyet worden, daß Sie sich ihres verstandes wiederum ordentlich gebrauchen, u. in bußfertiger und gläubiger ergreiffung ihres Jesu sich annoch mit ihrem gott versöhnen, u. christgeziemend mit einer wahren herzens=andacht zu einem seel. ende zubeweinen können. Der herr verleihe dem entseelten cörper eine sanffte ruhe, tröste die leidtragenden und lehre uns alle, daß wir sterben müßen, u. uns zu einer seel. heimfahrt bereit halten, durch Jesum Chr[istum].“ <?page no="152"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 141 Die referierten Consilien erhellen exemplarisch die Kriterien, mit denen im 16. und 17. Jahrhundert kirchliche Amtsträger und Universitätstheologen Selbsttötungen in protestantischen Territorien bewertet haben. Die Texte geben zu erkennen, dass man stets die individuellen Begleitumstände einer Tat in die Bewertungen und Urteile einschloss. 154 Hierzu wurden auf Basis von Berichten über bestimmte Verhaltensweisen retrospektive, alltagspsychologische Diagnosen erstellt. Die erinnerten Verhaltensweisen wurden vor dem Hintergrund einer vollzogenen Selbsttötung als Hinweise auf eine Suizidgefährdung eingestuft und sprachlich entsprechend markiert. Dies geschah nicht zuletzt auch deshalb, weil in den Untersuchungen gezielt danach gefragt wurde. So verwundert es auch nicht, dass eine breite Palette entsprechender Kennzeichnungen (‚rasend’, ‚wahnwitzig’, ‚melancholisch’, ‚unsinnig’ usw.) auf ein letztlich vielfältiges und amorphes Spektrum von Verhaltensauffälligkeiten verwies. 155 Als anerkannte Indizien für einen christlichen Lebenswandel, der häufig ein entlastendes Indiz war, wurden sichtbare Belege der Integration in die durch kirchliche Regeln geprägte Lebenswelt gewertet. Insbesondere die Teilnahme am Gottesdienst und am Abendmahl galt als wichtiges Kriterium eines christlichen Lebenswandels. Das verwundert nicht, denn die Pastoren spielten eine zentrale Rolle bei der Abfassung schriftlicher Einschätzungen der Lebensführung. Sie hatten überdies im Zusammenspiel mit Superintendenten und Konsistorien über eine Beisetzung auf dem Kirchhof zu entscheiden. Daher waren die Geistlichen meist auch dann in die Untersuchungsverfahren eingebunden, wenn diese von weltlichen Gerichten geführt wurden. Schließlich deutet sich an, dass bereits geringe Auffälligkeiten, wie das Klagen über Kopfschmerzen, als (willkommene? ) Anzeichen für eine entlastende Geistesschwäche gedeutet wurden. In der Stellungnahme der Leipziger Theologen von 1620 wurden Gebete vor Selbsttötungen als Ausdruck einer vorsätzlichen Gnadenschändung gedeutet. Diese Einschätzung unterschied sich jedoch systematisch von einer Bewertung summarisch gehaltener, allgemeiner Beschreibungen erwünschten frommen Handelns, weil die an die Leipziger Theologen gestellte Frage einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Gebet und Selbsttötung herstellte, der sich so in konkreten Untersuchungen meist nicht ergab. Das illustriert etwa das Jenaer 154 Vgl. für eine ähnliche Praxis in den nördlichen Territorien des Alten Reiches L IND , Selbstmord; für das katholische Bayern siehe L EDERER , Madness, S. 242 ff. 155 Vgl. nur Z EDLER Bd. 49, Sp. 2017 ff. (Art. ‚Unsinn’) und Sp. 2046 ff. (Art. ‚Unsinnigkeit’). W EBER , Kampf, S. 169 weist darauf hin, dass auch der Begriff der Melancholie in der mittelalterlichen Tradition zunächst noch „ein Sammelbegriff für alle schweren psychosomatischen Erkrankungen unspezifischer Natur” war. <?page no="153"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 142 Urteil von 1668, in dem ein äußerlich ähnlicher Fall verhandelt wurde. Hier hatte der Suizident am Tag seines Todes mehrfach in Gemeinschaft gebetet. Es wurde allerdings kein direkter Zusammenhang mit einer Absicht zur Selbsttötung gesehen. Vielmehr wurden die vielen bezeugten Gebete als Ausdruck seines tief empfundenen Glaubens bewertet. Es erweist sich, dass es in der Frühen Neuzeit nicht unumstritten war, wie man äußerlich erkennbare Verhaltensweisen zu deuten hatte. 156 Die Consilien zeigen insgesamt, dass Theologen vorsätzliche Selbsttötungen scharf verurteilten und ablehnten. Mithin aber diskutierten sie Situationen bzw. waren im pastoralen Alltag mit Fällen konfrontiert, in denen sich Menschen das Leben genommen hatten, die als unzurechnungsfähig und fromm galten. Willig wurden kaum merkliche Anzeichen registriert, um einen Tatvorsatz auszuschließen. In diesem Zusammenhang ist zudem zu beobachten, dass frühneuzeitliche Theologen in ihren Schriften vor allem fromme Menschen durch Anfechtungen gefährdet sahen - auf den Einfluss einer religiös motivierten Melancholie für die frühneuzeitliche Frömmigkeit hat auch die Forschung wiederholt hingewiesen. 157 So spiegeln die vorliegenden Texte, wie Ernst Koch die sich daraus ergebende Spannung zusammengefasst hat, „das Problem einer Theologie und Frömmigkeit, die produziert, was sie bekämpft, und bekämpft, was sie produziert, indem sie einerseits religiös-moralischen Leistungsdruck unterstützt, den sie andererseits wieder abzubauen bemüht ist“. 158 156 V ANJA , Und könnte sich groß Leid antun, S. 215 ff. 157 Klassisch S CHÄR , Seelennöte; W EBER , Kampf, S. 160 ff. und 166 mit Ergänzungen zu Schärs Studie. Jetzt L IND , Mind. Ernst Koch hat nachgewiesen, dass die geistlich-seelsorgerische Literatur des Luthertums bereits frühzeitig auch das Phänomen der stillen Schwermut beschrieben und Melancholie als Krankheit verstanden hat. Vor allem unterschied man zwischen geistigen Anfechtungen, denen durch seelsorgerischen Beistand begegnet werden musste, und leiblicher Melancholie, die bereits im 16. Jahrhundert als heilbar durch Medikation galt. Geistliche, die Suizidalität durchaus differenziert beobachteten, diagnostizierten, dass besonders stille und zurückgezogen lebende Menschen von Schwermut betroffen wurden; K OCH , Gabe. Dieses Fazit von Ernst Koch hat in die neuere Forschung, die sich zumeist auf das 18. Jahrhundert konzentriert, kaum Eingang gefunden. Vgl. die Beispiele bei L IND , Selbstmord, S. 39 ff. für den hier behandelten Zeitraum. Die Studie Linds ist fokussiert auf das 18. Jahrhundert. Das 16. Jahrhundert wird nahezu vollständig ausgeblendet. Das verwundert zumindest im angegebenen Abschnitt, da Lind an anderer Stelle (ebd., S. 411) mit Ernst Koch die Alltäglichkeit der Betroffenheit von Geistlichen im Umgang mit Melancholie andeutet. Ebenso auf das 18. Jahrhundert fokussiert S CHREINER , Glück, S. 122 ff. B AUMANN , Recht, S. 15 ff., beschränkt sich weitgehend auf die Haltung der Kirche in Begräbnisfragen. 158 K OCH , Gabe, S. 242. <?page no="154"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 143 Die Notwendigkeiten der alltäglichen Seelsorge trugen dazu bei, so die Einschätzung Vera Linds, dass in der Praxis des pastoralen Umgangs mit Selbsttötungen eine eher undogmatische und verständnisvolle Haltung die dogmatische Verdammung des ‚Selbstmords’ verdrängt hätte. Das heißt, diejenigen, die mit ihren Anfechtungen zu kämpfen hatten, und ebenso die Angehörigen oder Freunde von Suizidenten sollten bei den kirchlichen Amtsträgern Trost und Zuspruch finden können. 159 So einsichtig dies auf den ersten Blick auch sein mag, hinkt die Argumentation doch an einer entscheidenden Stelle. Der Einschätzung Linds liegt eine tendenziell dichotome Norm-Praxis- Vorstellung zugrunde, die einem unflexiblen theologischen Dogmengerüst eine notwendig flexible und milde Praxis gegenüberstellt. Die hier näher untersuchten Consiliensammlungen legen eine solche Dichotomie nicht nahe. Vielmehr verweisen sie auf erhebliche Schnittmengen von Normen und Praxis. Einerseits lag den Texten ein lebensweltlicher Wirklichkeits-, Erfahrungs- und Handlungshorizont ihrer Autoren zugrunde, der sowohl die Texte als auch den Wahrnehmungshorizont der Leser beeinflusste. Andererseits wurde ihnen durch Aufnahme in die Consiliensammlungen die Funktion einer erwünschten Regel zugewiesen, die mit der Autorität der Verfasser, Herausgeber und Approbatoren legitimiert wurde. Die Consiliensammlungen befinden sich mit anderen Worten direkt an der Schnittstelle zwischen publizistischer Debatte und alltäglicher Praxis im Umgang mit Selbsttötungen. Sie bilden jeweils beide Ebenen ab und verweisen zugleich darauf, wie theoretische und normative Konzeptionen eines Themas immer auch von ihren objektiven Bedingungsmöglichkeiten (Stellung der Verfasser innerhalb der Theologen- und Kirchenhierarchie, Auswahl für publizistische Editionsgroßprojekte, Vernetzung der Autorenschaft untereinander usw.) und den konkreten Entscheidungsnotwendigkeiten, Erfahrungen und lebensweltlichen Prägungen ihrer Verfasser beeinflusst wurden. Genau dieser enge Zusammenhang von pastoraler Praxis und pastoraltheologischer Bewertung des Suizids, der in den Consiliensammlungen aufscheint, trug, so meine These, maßgeblich dazu bei, dass die beschriebenen, für die Gutachtungspraxis relevanten Urteilskriterien wiederholt, bekräftigt und auf Dauer gestellt wurden. Es gilt nun zu prüfen, inwiefern sich erstens die in den Consilien aufscheinenden Kategorien der Beurteilung einer Selbsttötung auch in anderen Texten spiegeln und zweitens, welche Relevanz sie für die Begräbnisentscheide 159 L IND , Selbstmord, S. 412. <?page no="155"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 144 und mögliche Urteile zum Vollzug von Strafen am Leichnam in Kursachsen besaßen. 3.4. Ein atheistisches ‚Mordkind’ Im Januar 1688 erhängte sich am Ufer der Elbe gegenüber Wittenberg der Student Joachim Gerhard Ram. Der Pastor der Wittenberger Marienkirche, Georg Schimmer (1652-1695), 160 gab anlässlich dieses Suizids eine Predigt in Druck, die von dem Vorfall und seiner Vorgeschichte ausführlich berichtete. 161 Für die Überlieferung zur Geschichte der Selbsttötung im 16. und 17. Jahrhundert in Kursachsen ist der Druck von Schimmers Predigt ein außergewöhnlicher Glücksfall, denn uns liegen mit dieser Flugschrift nicht nur eine Beschreibung und Deutung der Selbsttötung Rams vor, sondern auch dessen Abschiedsbrief, den Schimmer mit abdrucken ließ. Der publizistische Erfolg von Schimmers Predigt stellte sich noch im Jahr der Veröffentlichung 1688 ein, in dem sogleich eine zweite Auflage besorgt werden musste. Eine weitere folgte nach Schimmers Tod um 1699. 162 Im Jahr 1688 studierte auch Gottfried Arnold (1666-1714), Autor der ‚Unparteyische[n] Kirchen- und Ketzerhistorie’, in Wittenberg und erfuhr von Rams Selbsttötung. Folgt man einer These des dänischen Kirchenhistorikers Jens Glebe-Møller, dann wurde die Geschichte des Wittenberger „Mord= Kind[s]“ Ram - wie Schimmer titelte - im Zuge der deutschen Übersetzung von Burnets Lebensschilderung des Earls of Rochester (‚Der verzweiffelte Atheist! ’) populär. Arnold druckte daraufhin Rams Abschiedsbrief in seiner ‚Ketzerhistorie’ ab, wenngleich etwas gekürzt. Aus Arnolds Vorlage schöpfte wiederum 160 Zu Schimmer siehe Z EDLER Bd. 34, Sp. 1585 f. (Art. ‚Schimmer’). Der in Annaberg geborene Schimmer war eigentlich auf die Vornamen Johann George getauft, wurde aber von Jugend an allein Georg(e) gerufen und behielt deshalb diesen Namen bei. Vor seiner Magisterpromotion und Predigertätigkeit in Wittenberg war er drei Jahre als Prediger in Dresden tätig gewesen. Er starb am 8. Februar 1695. 161 S CHIMMER , Mord=Kind. Die Predigt ist vollständig digital abrufbar unter URL: http: / / digitale.bibliothek.uni-halle.de/ id/ 172075 (zuletzt abgerufen am 18. August 2009). 162 G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 74. Kurze Einordnung der Quelle bei S CHRÖDER , Ursprünge, S. 422. Jüngste Erwähnung bei I SRAEL , Enlightenment, S. 166. Mögliche Ursachen, weshalb die Predigt Schimmers in der Suizidforschung bislang kaum gewürdigt wurde, sehe ich in zwei Punkten begründet: Erstens führen die maßgeblichen Referenzbibliografien von Rost und Bernardini die Predigt nicht auf. Zweitens ist der weit gespannte theologische Diskurs über Selbsttötung in der Frühen Neuzeit bis heute nicht erschöpfend und zudem mit deutlichen Schwerpunkten auf dem 16. und dem 18. unter Vernachlässigung des 17. Jahrhunderts behandelt worden. <?page no="156"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 145 eine Vielzahl weiterer Autoren bis auf den heutigen Tag. 163 Sowohl das zeitgenössische als auch das anhaltende Interesse der Forschung sind wohl in erster Linie darauf zurückführen, dass Joachim Gerhard Ram einen inhaltlich brisanten Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Weil Schimmer davon ausging, dass dessen Inhalt ohnehin bald publik würde, machte er es sich zur Aufgabe, den Text des Abschiedsbriefes nicht nur zusammen mit einer Bußpredigt abzudrucken, sondern diesen auch ausführlich zu kommentieren. Der Abschiedsbrief offenbart ein von klandestiner Literatur und atheistischen Vorstellungen geprägtes Weltbild, das durch den Abdruck in Schimmers Predigt konserviert wurde. In diesem Abschnitt wird anhand der Predigt Schimmers exemplarisch die Debatte über Selbsttötung in Kursachsen im 17. Jahrhundert beleuchtet. Es ist zu prüfen, inwieweit die in der theologischen Publizistik des 16. und 17. Jahrhunderts präsentierten Kriterien zur Bewertung des ‚Selbstmords’ von Schimmer diskutiert wurden. Da der Kontext, in dem diese Quelle entstand, jedoch außergewöhnlich ist, sind vorab kurz der Fall und dessen Hintergründe zu beleuchten. Joachim Gerhard Ram - allein in Wittenberg? Joachim Gerhard Ram entstammte einer holsteinischen Pfarrersfamilie aus Glückstadt, wo sein Vater als Pastor tätig war. Auch seine Mutter, Anna 163 A RNOLD , Kirchen- und Ketzerhistorie, Th. II. B. XVIII. C. XVI. §. 17., S. 579. G LEBE - M ØLLER , Atheist, S. 72 f. Hier auch Erläuterungen zu den von Arnold ausgelassenen Passagen des Abschiedsbriefes und zu den Folgedrucken. Ebd., S. 78 mit einer Einschätzung der Bedeutung von Rams Abschiedsbrief für die Geschichtsschreibung: „is student Rams afskedsbrev som i den clandestine litteratur i det hele taget rejses for første gang ‚spørgsmålet om mudligketen af at tænke uden Gud eller uden en gud, der svarer til den jødisk-kristne traditions’“. S ALUSTIUS , Melancholini, S. 367 f., präsentierte 1717 eine poetisch freie Übersetzung von Rams Abschiedsbrief, in der die letzten Worte Rams auch in der Wiedergabe der lateinischen Vorlage erweitert wurden (s. u.) und so der Abschiedsbrief als christlicher (! ) Bußprediger fungieren sollte. Salustius wandelte auch die Darstellung der Umstände ab. So soll man bspw. den Abschiedsbrief im Rock des Erhängten und nicht in dessen Studierzimmer gefunden haben. Salustius’ Werk ist allgemein zugänglich unter URL: www.zeno.org (zuletzt abgerufen am 18. August 2009). Originale sind noch in den Universitätsbibliotheken von Berlin, Göttingen und München erhalten. Die Übersetzung des Abschiedsbriefes durch Salustius ist insgesamt der bei P FOH (Hg.), Knutzen, S. 69 f. präsentierten vorzuziehen, weil sie sich erstens am zeitgenössischen Sprachgebrauch orientiert und zweitens vollständig ist. Pfoh hatte sich an der Überlieferung von Jenkinus Thomasius orientiert, die die gleichen Lücken aufweist, wie diejenige bei Arnold. Ich danke für Hinweise und Diskussionen zu den die vorhandenen Vorlagen ergänzenden Übersetzungsmöglichkeiten einzelner Passagen Markus Schürer. <?page no="157"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 146 Katharina, war Tochter eines Pfarrers. Sie finanzierte ihrem Sohn nach dem Tod des Vaters ein Studium an der Meißner Fürstenschule sowie an den Universitäten in Jena und Leipzig. 164 Aus welchem Grund Ram nach Wittenberg gegangen war, lässt sich nicht mehr feststellen. Er hat sich dort anders als in Leipzig und Jena nicht immatrikuliert. Über sein Leben in Holstein und in Sachsen ist nichts Näheres bekannt. In Jena hat ihm ein ebenfalls aus Holstein gebürtiger Student namens Hagedorn, der sich eine Woche nach Ram in Jena immatrikuliert hatte, drei Taler geliehen. Ram verlangte in seinem Abschiedsbrief, dass man diese Schuld aus dem hinterlassenen Vermögen begleichen solle. 165 Wofür er das Geld brauchte, ist nicht ersichtlich, zumal seine Mutter ihm den Studienaufenthalt finanzierte. Über diese Zahlungen der Mutter, die sich im Verlauf seines Aufenthalts in Sachsen 1680 bis 1684 auf knapp 600 Taler belaufen haben sollen, berichtete Schimmer sehr genau. Schimmer gab an, diese Summe anhand von Rams (nicht überliefertem) Tagebuch nachgerechnet zu haben. 166 Für Schimmer war der genaue Betrag der Zahlungen wichtig, weil er so argumentieren konnte, dass es kein materielles Elend gewesen sein konnte, dass Ram in den Tod getrieben hatte. Über den Aufenthalt Rams in Wittenberg schreibt Glebe-Møller, ohne die einseitige Überlieferung Schimmers kritisch zu hinterfragen, dass Ram ins Wirtshaus gegangen sei und für sich blieb. 167 Schimmer hatte berichtet, Ram hätte sich täglich im „Keller“ eingefunden und dort spanischen Wein getrunken. 164 In Leipzig war Ram nach E RLER (Hg.), Matrikel Bd. II, S. 345 sowohl 1680 als auch 1684 immatrikuliert, zeitgleich übrigens an der Fürstenschule St. Afra in Meißen; vgl. K REYßIG (Hg.), Album, S. 187. Ich danke für den Hinweis Wenke Richter. In Jena war Ram im Jahr 1687 immatrikuliert; J AUERNIG / S TEIGER (Bearb.), Matrikel Bd. II, S. 613. Zur Familiengeschichte, die von ständigen Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit geprägt war, siehe G LEBE -M ØLLER , Gud, Kap. V „Præsteslægten Ram“, S. 61 ff., zu Joachim Gerhard Ram S. 67 f. Nur kurz zum Hintergrund dagegen G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 78. Ram könnte in Jena oder Leipzig den späteren kursächsischen Superintendenten Christian Gotthelf Blumberg (1664-1735) kennengelernt (und mit ihm diskutiert? ) haben. Blumberg hatte nach Rams Suizid - offenkundig in Kenntnis entweder von Schimmers Flugschrift oder des originalen Abschiedsbriefes - ein Gedicht auf den bleibenden Schrecken des Falls verfasst. In B LUMBERG , Literatum, o. Pag., eig. Z. S. 3 wird deutlich, dass Blumberg den Text des Abschiedsbriefes kannte, denn er kommentierte Rams Beschreibung seines letzten Tages als zugleich unglücklich und glücklich. 165 „Placidè qviesco, si tres thaleri DN. HAGEDORN Jenae solvantur“; S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B4 r . 166 Ebd., fol. B4 r . 167 G LEBE -M ØLLER , Gud, S. 67: „gik på værtshus og holdt sig for sig selv“. <?page no="158"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 147 Der von Schimmer für Rams Wittenberger Zeit beschriebene Müßiggang steht in krassem Widerspruch zu den Zeugnissen aus Rams Zeit an der Fürstenschule in Meißen und der Universität Jena, die Schimmer ebenso mitteilt und die nahelegen, dass Ram dort fleißig studiert hatte. 168 Ob sich hieran ein möglicher Bruch im Leben Rams herauslesen lässt, muss mangels Quellen Spekulation bleiben. Wichtig für die Argumentation von Schimmers Erzählung waren die täglichen Trinkgelage deshalb, weil er sie metaphorisch gegen den „edlen Wein der Weißheit und Wissenschaft“ ausspielte, den die Wittenberger Professoren ‚ausbauten’. Hätte er diesen ‚Wein’ genossen, so das Fazit Schimmers, dann hätte Ram sich „fröhlich […] mit uns gebehrden können“. 169 Erst zwei Jahre zuvor hatten zwei andere ‚Mord-Kinder’ das unschuldige Wittenberg in Schrecken versetzt. 1686 war es zu zwei Morden gekommen, bei denen ebenfalls Studenten die Täter gewesen waren. Der 1686 noch als Professor der Theologie und als 2. Prediger an der Schlosskirche tätige Johann Friedrich Mayer (1650-1712) hatte zu diesen Vorkommnissen zwei Bußpredigten gehalten, die ebenfalls in Druck gegangen waren. 170 Mit scharfen Worten hatte er die verbreitete Trunksucht und den Müßiggang, mit anderen Worten die Laster- und Sündhaftigkeit der Studierendenschaft gegeißelt. So wie später Schimmer, wollte Mayer die Unschuld der Universität und ihrer Vertreter am Treiben der Studierenden herausstellen. Sowohl dem Titel als auch den Tiraden gegen die Genussucht und das unfromme Verhalten der Studierenden nach bediente Schimmer ähnliche Vorstellungen, die in Wittenberg zudem auch noch präsent gewesen sein mögen. Immerhin hatte der zweifache Mord 1686 auch den Kurfürsten auf den Plan gerufen, der die Einschärfung der Sittenzucht an der Universität sowie ein härteres Vorgehen gegen notorische Unruhestifter unter den Studenten gefordert hatte. 171 Für Schimmer war es jedenfalls vollkommen klar, dass Ram allein deswegen nach Wittenberg gekommen war, um sich symbolisch an dem Ort das Leben zu nehmen, dessen Theologische Fakultät das Wächteramt der lutherischen Orthodoxie beanspruchte, welches sie zur erbitterten Gegnerin naturrechtlicher und - so der Vorwurf gegen Ram - ‚atheistischer Irrlehren’ machte. 172 Als ein An- 168 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B4 v . 169 Ebd., fol. C4 r . 170 M AYER , Mord. 171 M AYER , Mord, Anhang. 172 Schimmer selbst greift in seiner Predigt die ‚Irrlehren’ des Naturalismus und Pufendorf stark an. Allerdings ist nicht nachweisbar, dass Ram die Schriften Pufendorfs studiert hätte. Auf jeden Fall <?page no="159"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 148 hänger dieser sog. ‚atheistischen Irrlehren’ wurde Ram aufgrund seines Abschiedsbriefs (und seines Tagebuchs? ) angesehen. Ram hätte „unser Land [, so Schimmer,] mit seinem Tod […] verunreiniget [… und] das arme Wittenberg […] in üblen Ruff gesetzet“. 173 Schimmer begründete den Vorwurf des zum alleinigen Zweck der Schädigung Wittenbergs verübten vorsätzlichen ‚Selbstmords’ mit folgenden Indizien: Erstens hätte sich Ram nicht ordnungsgemäß immatrikuliert. Allerdings unterschlug Schimmer, dass das eine durchaus gängige Praxis war, weil man sich häufig erst vor Prüfungen immatrikulierte und Ram ja bereits eingeschriebener Student in Jena war. Zum Ausweis seines sozialen und rechtlichen Status hätte es also keiner weiteren Immatrikulation bedurft. Zweitens könne Ram, so Schimmer, niemals nach Wittenberg gekommen sein, um zu studieren, weil er nur drei Bücher (die nicht benannt werden) bei sich gehabt hätte, darunter weder eine Bibel noch ein Gebetbuch. Der Besitz von Bibel und Gebetbuch galt gemeinhin als Ausdruck gelebter rechtgläubiger Frömmigkeit. Schließlich drittens „amicorum & conversationis despectus“, wie Schimmer schreibt. Ram hätte sich demnach mit niemandem in der Stadt bekannt gemacht und Gespräche vermieden. 174 Diese Aussage ist vor dem Hintergrund der spärlichen Äußerungen in Rams hinterlassenem Brief interessant, denn Ram schrieb: „judicium eorum, qvi me nescio qvo relegandum putarint, contemno“. 175 Diese Aussage deutet m. E. daraufhin, dass Ram durchaus Streitgespräche geführt haben könnte - ob in Wittenberg bleibt unklar. In diesen könnte er, der von der lutherischen Orthodoxie deutlich abweichende Ansichten vertrat, auch mit Vorwürfen und Zurechtweisungen konfrontiert worden sein. Die bloße Äußerung solcher Ansichten zog nicht zwangsläufig eine peinliche Bestrafung nach sich. Neuere Forschungen zum Problem devianter Glaubensäußerungen in der Frühen Neuzeit konnten zeigen, dass zwar eine nicht zu unterschätzende Brisanz in solchen mündlich vorgetragenen abweichenden Bekenntnissen lag. Als ‚Atheisten’ Gebrandmarkte, die sich selbst meist gar nicht als solche sahen, mussten derartige Äußerungen aber nicht notwendigerweise mit harter Bestrafung oder gar mit dem Tod nutzte Schimmer die Gelegenheit, um gegen Pufendorf zu polemisieren. Vgl. zum Kontext G LEBE - M ØLLER , Atheist, S. 72 f. 173 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. C3 v . 174 Alle Punkte in S CHIMMER , Mord=Kind, fol. A3 r . 175 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 v . <?page no="160"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 149 büßen. 176 Schimmers Behauptung, Ram hätte sich in Wittenberg sozial isoliert, schließt daher nicht aus, dass Ram nicht auch dort das Gespräch gesucht haben könnte, denn die apologetische Schilderung zielte schließlich darauf ab, die Gemeinde und Universität in Schutz zu nehmen. Die Selbsttötung Rams war möglicherweise die letzte Konsequenz des Versuchs, mit den eigenen abweichenden Ansichten ernst genommen zu werden. Ram tötete sich wenige Tage nach seiner Ankunft in Wittenberg. Sein Abschiedsbrief, den er in seinem Zimmer hinterlassen hatte, datiert auf den 29. Januar 1688. Ein Schäfer fand Rams Leiche einige Tage später, am 2. Februar, erhängt an einem Baum nahe der Elbe. Der Tag des Suizids ist demnach nicht ganz klar, dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit der 29. Januar 1688 gewesen sein. Die Forschung ist sich über die Hintergründe von Rams Selbsttötung nicht einig: Glebe-Møller hat vermutet, Ram sei vielleicht ein Melancholiker wie sein jüngerer Bruder Stephan gewesen. Allerdings bleibt Rams Selbsttötung der einzige ‚Beleg’ für diese Annahme. 177 Es ist bereits fraglich, ob Stephan Ram ein Melancholiker im medizinischen Sinn gewesen ist, bzw. auf welches mögliche Krankheitsbild oder Verhalten sich diese Beschreibung stützte, denn Stephan Ram wurde im Zuge einer amtlichen Untersuchung als melancholisch bezeichnet, weil er von der Kanzel über die Amtskirche lästerte. Auch Rams Aussage, er wolle sich aus Verdruss des Lebens in die Schlinge stürzen, kann die Melancholie-These kaum stützen, denn über die Gründe dieses Verdrusses erfahren wir fast nichts - wenn man einmal davon absieht, dass der gesamte Brief tendenziell das Scheitern einer menschlichen Existenz verdeutlicht, die eine nicht tolerierte abweichende Glaubensüberzeugung vertrat. Ich würde dieses ‚Scheitern’, so man überhaupt davon sprechen sollte, auch darin begründet sehen, dass Ram wohl um eigene Glaubensüberzeugungen gerungen hat, denn sein Brief verdeutlicht ein eher ambivalentes Verhältnis zum Glauben - zwar leugnete Ram die Unsterblichkeit der Seele, und damit ein Fundament christlichen Glaubens, nicht aber die Existenz (eines) Gottes. Völlig abzulehnen sind, wie auch immer man die Ursachen von Rams Suizid interpretieren mag, einseitige und ideologische Deutungen, etwa Barths wenig hilfreiche Einschätzung, der Abschiedsbrief zeuge von einem „gestörten psychischen Zustand des Ver- 176 G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 75. S CHWERHOFF , Auferstehung. Zum breiteren Kontext von Blasphemiekonstruktionen und deren Sanktionierung S CHWERHOFF , Zungen; ferner O LLI , Visioner; O LLI , Blasphemy. 177 G LEBE -M ØLLER , Gud, S. 67. <?page no="161"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 150 fassers“. 178 Ebenso wenig mag ich Pfoh folgen, der davon überzeugt war, Ram wäre wegen seines fortschrittlichen Denkens „bedrängt von der feudalabsolutistischen Halsgerichtsbarkeit“ gleichsam als finaler Fluchtakt aus dem Leben geschieden. 179 ‚Die Religion ist freilich erfunden, um die Menschen zu betrügen’. Rams Abschiedsbrief Wegen der spärlichen Quellenlage zur Person und zum Schicksal Rams ist es nicht möglich, allein auf der Basis des von Schimmer überlieferten Abschiedsbriefs überzeugende Aussagen zu den Suizidmotiven Rams vorzutragen. Der Abschiedsbrief, von dem Winfried Schröder abschätzig schreibt, er sei „ein theoretisch anspruchsloser Text“, 180 kann aber zumindest einige Fragmente der Ramschen Glaubensüberzeugungen erhellen. 181 Was schrieb Ram selbst? Gleichsam im Zentrum des Textes steht eine knappe Aussage, welche die außerordentliche Brisanz seines Denkens verdeutlicht: „Anima namq[ue] nostra mortalis est“. 182 Die Behauptung, die Seele des Menschen sei entgegen der christlichen Auffassung sterblich, war ein Gemeinplatz der klandestinen religionskritischen Literatur der Frühen Neuzeit. 183 Eine Konsequenz dieser Vorstellung benannte Ram deutlich: Er würde mit seinem Tod zu jenem Ursprung zurückkehren, aus dem er gekommen war („Redatusq[ue] in id, ex qvo originem duxi meam“). Eine weitere Schlussfolgerung, die Ram zog, lautete, Himmel und Hölle würden nicht existieren. 184 Georg Schimmer hat genau erkannt, wie sehr ein solches Denken das christliche Glaubensfundamt bedrohte. Eine Pointe seiner Argumentation liegt deshalb in 178 B ARTH , Atheismus, S. 105 unter Verweis auf Mauthners Geschichte des Atheismus im Abendland. Barth schreibt zudem fälschlicherweise, dass der Suizid 1687 geschehen wäre und Ram eine Grabinschrift (zitiert wird allerdings der Abschiedsbrief; ebd. S. 105 Anm. 49) hinterlassen hätte. Barth verweist hier auf Leuckfeld, Der verführerische Atheisten hauffe, S. 84 ff. Barths Darstellung wurde von Adam Weyer in der TRE aufgegriffen, der die Datierung auf 1697 änderte; W EYER , [Art.] Gewissen IV., S. 227. 179 P FOH (Hg.), Knutzen, S. 25. 180 S CHRÖDER , Ursprünge, S. 422. 181 Zur Interpretation von Abschiedsbriefen siehe B ÄHR , Abschiedsbriefe; B ÄHR , Richter, Kap. 3 und die weiterführenden Hinweise in K ÄSTNER / K ÜHNEL , Leben. 182 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 v . 183 G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 77. 184 Ebd., S. 76 f. <?page no="162"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 151 dem Versuch, Ram als ‚verzweifelten Selbstmörder’ darzustellen, der unweigerlich und direkt vom Strick in jene Hölle gefahren sei, an die er nicht glaubte. Eine mögliche und naheliegende Quelle der Inspiration für Rams Vorstellungen könnten die (ebenso wie Rams Brief in den Schriften orthodoxer Kritiker überlieferten) Ansichten Matthias Knutzens (1646-? ) gewesen sein. Knutzen, ebenfalls gebürtig aus Schleswig-Holstein, hatte 1674 in Jena zwei kleine atheistische Traktate publikumswirksam lanciert, woraufhin der Jenaer Theologe Johannes Musäus (1613-1681) die Existenz einer 700-köpfigen Sekte der ‚Gewissener’ verkündete und publizistisch zum orthodoxen Gegenschlag ausholte. 185 Das atheistische Gedankengut, das der „vagabundierende Theologiestudent und schließlich wandernde Atheist“ Knutzen verbreitet hatte, hat Heinz Kittsteiner eindrücklich beschrieben. 186 Knutzen hatte sich gegen die institutionalisierten Religionen und christlichen Konfessionen auf sein Gewissen berufen, dieses Gewissen von der Religion gelöst und sowohl die Existenz Gottes als auch die Existenz des Teufels geleugnet. Wie Kittsteiner ausführt, lag die zündende Sprengkraft aber weniger in diesen atheistischen Vorstellungen Knutzens als vielmehr im gesellschaftlichen „Hintergrund eines latenten Unglaubens der Masse der Bevölkerung“. 187 Dieser fruchtbare Nährboden für deviante Glaubensäußerungen gepaart mit einer Kritik am institutionalisierten Kirchentum erklärt, so Kittsteiner, die scharfe publizistische Reaktion auf Knutzen. Dieser Kontext vermag zum Teil erklären, weshalb Schimmer so heftig und mithilfe einer Flugschrift die Selbsttötung und den Abschiedsbrief Rams angriff. Immerhin attackierten Rams Vorstellungen in direkter Weise das offizielle Christentum - wenngleich Ram sich selbst gegen den Atheismusvorwurf verwahrte und seinen Glauben an einen Gott, im Sinne eines höheren ordnungsstiftenden Wesens, erklärte: „Neq[ue] verò sic sentiens jure videor Atheus. Qvis enim DEum esse sanæ homo mentis neget“? 188 Der Angriff auf kirchliche Dogmen zeigte sich auch in den weiteren Äußerungen Rams: „Religio ad vulgum pertinet, inventa scilicet ad decipiendos homines, eoq[ue] melius regendum mundum“. 189 Dass die Religion für den Pöbel erfunden worden sei, um die Menschen zu täuschen und zu beherrschen, war 185 Vgl. zu den Auseinandersetzungen und zum atheistischen Kontext Knutzens K ITTSTEINER , Entstehung, S. 101 ff. 186 K ITTSTEINER , Entstehung, S. 101 ff., Zitat S. 103. 187 K ITTSTEINER , Entstehung, S. 116. 188 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 v . 189 Ebd., fol. B3 v . Ich folge hier und im Folgenden der Analyse von Glebe-Møller. <?page no="163"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 152 eine wiederkehrende Vorstellung der klandestinen Literatur. Möglicherweise kannte Ram die wenige Jahre zuvor publizierte Flugschrift ‚Idolum principium’, die in einer „nicht fabelhafften Fabel Geschichts-weiß“ unter anderem davon erzählte, dass die weltlichen Machthaber sich aus Gründen der Staatsräson - sie ist der Abgott der Regenten - der Religion und der Priester bedienten, um zu herrschen. 190 Ram formulierte dies so: „Ut verò ea, qvæ vulgò de religione traduntur, à sacerdotibus doceantur; Ratio uti dictum postulat status“. 191 Leser und Multiplikatoren klandestiner Literatur begrüßten diese Vorstellung, deren Brisanz auch ihren Gegnern bewusst war. Deshalb, so Glebe-Møller, verwundere es nicht, dass Schimmer in seiner Entgegnung aus dem zweiten Brief des Paulus an die Korinther zitierte, um zu belegen, dass die Prediger Botschafter anstelle Christi seien und Gott die Menschen durch sie ermahne (2. Kor. 5.20). 192 Schimmer ging aber noch weiter. Nachdem er erklärt hatte, dass der Dienst an Gott seinen göttlich gestifteten Ursprung als gültige Ordnung im Paradies selbst habe, warnte er seine Leser, dass niemand um seiner Seelen willen auf den bösen Gedanken verfallen sollte, Prediger seien Betrüger. 193 Mögliche weitere Einflüsse atheistischen Denkens offenbaren sich auch in jenen Aussagen des Abschiedsbriefes, die vordergründig etwas über die Gemütslage Rams ausdrücken: Zunächst schrieb Ram, der Tag seines Suizids sei sowohl unglückselig als auch der glückseligste Tag seines Lebens. Er fuhr fort: „inq[uam] hac morte, vita inquam sine extremis cordiis [sic! ] angustiis atq[ue] terroribus, diutius, permanere“. 194 Ohne größte Angst und Betrübnis seines Herzens, seiner Seele und seines Verstandes 195 und ohne Schrecken, könne er 190 O. A., Idolum, fol. Aiv v : Dort heißt es, dass die Staatsräson (die bedeute „dem Ding ein Mäntelichen umgeben“) sich der „Conservatio Religionis“ und des „Zelus fidei“ bediene, um zu herrschen. Die Vermutung, dass Ram diese Flugschrift kannte bei G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 76. Vgl. auch G LEBE -M ØLLER , Gud, S. 69 ff.; ferner S CHRÖDER , Ursprünge, S. 216. 191 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 v . 192 G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 76. 193 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. E2 v und (das Zitat nach 2. Kor. 5.20) E3 r . 194 Ebd., fol. B4 r . Darüber hinaus fühlte sich Ram zu seinem Suizid hingezogen, den er als sein Schicksal ansah („Sed trahor ad fata“; ebd.). Dagegen war aus christlicher Sicht das Schicksal eines Menschen ungewiss und lag bei Gott. Jeglicher Wille zur Vorhersage, etwa durch astrologische Mittel, galt als heidnisch; vgl. exemplarisch G LASER , Christen, o. Pag. (Mikrofiche der Bibliotheca Palatina Fiche, H-1 f.). 195 Die Passage „sine cordis angustiis“ ist m. E. in verschiedener Weise übertragbar, denn der Kontext des Abschiedsbriefes würde eine Übersetzung von ‚cordis’ auch mit der Seele bzw. des Verstandes erlauben, da Ram selbst auf diese Phänomene Bezug nimmt. <?page no="164"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 153 nicht länger auf dieser Welt und im Leben verbleiben - ein Leben, das ihm zugleich ein Tod sei. Glebe-Møller vertritt die Ansicht, Ram sei hier möglicherweise von Spinoza beeinflusst gewesen, zumindest wies Rams Brief spinozistisches Gedankengut auf. 196 Das Wortspiel ‚inquam hac morte, vita inquam’ könne, so Glebe-Møller, eine Anspielung auf Spinozas Ethik sein, nach der der freie Mensch über nichts weniger nachdenke als über den Tod; die Weisheit des Menschen sei „nicht ein Nachsinnen über den Tod, sondern über das Leben“. 197 Der Abschiedsbrief Rams gibt überdies Einblicke in seine Sorge um die Hinterbliebenen, um seine Gläubiger und um sich selbst. Der gekürzte Auszug in Arnold Ketzerhistorie verschweigt Rams Forderung, seinen Totengräber, seine Zimmerwirte und diejenigen aus seinem Nachlass auszubezahlen, die sich um ihn gekümmert hatten. Er dankte seiner Familie für die ihm erwiesenen Wohltaten und bat darum, seinen Leichnam menschlich zu behandeln: „IN me sepeliendo velim mecum agatur humaniter“. 198 Für die anfallenden Kosten der Beisetzung würde seine Familie aufkommen. Abschließend kehrte Ram die Bergpredigt gegen seine Feinde im Geiste und damit gegen jene Prediger des Evangeliums, die ihn einen Atheisten schalten: „Nolite nolite itaq[ue] me condemnare, ne ipsi rursus condemnemini“. 199 Die Hölle nimmt auch Atheisten auf Schimmer nahm diesen letzten Gedanken auf und konterte: „will auch hier der Christlichen Bescheidenheit mich bedienen“ und will nicht richten. Schimmer wollte dies aber nicht deshalb tun, weil Ram es gefordert hatte, „sondern aus Liebe zu den Gebothen Christi und Furcht zu dem verborgenen aber doch gerechten Gerichte Gottes“. 200 Allerdings nahm er diese Haltung allein für sich als Privatperson in Anspruch. Als Inhaber eines kirchlichen Amtes und Prediger hätte er 196 G LEBE -M ØLLER , Atheist, S. 77 f.: „selvfølgelig ikke til at vide, om Joachim Gerhard Ram faktisk har læst Spinoza […]. Men der næppe værre tvivl om, at der ligger spinozistik tankegods bag hans testamente.“ 197 S PINOZA , Ethik, vierter Teil, siebenundsechzigster Lehrsatz (in der hier verwendeten Ausgabe S. 254). 198 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 v . 199 Ebd., fol. B4 r . Vgl. Matth. 7.1.; S ALUSTIUS , Melancholini, S. 368, abgewandelte Fassung kennt andere, offenkundig hinzugedichtete letzte Worte, mit denen Ram als Bußprediger erscheint: „Aber, was sage ich? wann ich ohne Verletzung des Gewissens solle einwilligen. Es fassen und verstehen nicht alle diese Wort und werdens auch nicht fassen. Ihr möget euch aber fromm halten.“ 200 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D2 v . <?page no="165"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 154 indes die Verpflichtung, durch das Auslegen der Heiligen Schrift zu urteilen. Und dieses Urteil, schrieb Schimmer sogleich, könne nur lauten, dass Ram aus Mangel an Glauben verdammt und in die Hölle gefahren sei. 201 Dieses Urteil stand für Schimmer unabänderlich fest, sodass hier interessiert, wie er argumentierte und wie er andere Diskussionsbeiträge seiner Zeit in seiner Flugschrift-Predigt verarbeitet hat. 202 Zunächst einmal durchzieht die gesamte Schrift eine satanologische Erklärung der Suizidmotive, die jenen Mustern folgte, die oben bereits ausführlich beschrieben worden sind. 203 Die Beweisführung kann als konventionell gelten. Der Suizid Rams wurde mit dem Exempel des Beraters Ahitofel verglichen, der sich aus Gram erhängt, weil Absalom seinem Rat nicht gefolgt war. 204 Dieses Exempel ist auch von anderen Theologen ablehnend thematisiert worden. 205 Aufgrund des Atheismusvorwurfs gegen Ram und wegen dessen Abschiedsbrief war es allerdings für Schimmer wichtig, die traditionelle Deutung am konkreten Beispiel ‚zu beweisen’, denn damit konnte er zugleich die Amtskirche und die Vorstellungen der lutherischen Orthodoxie gegen Rams Angriffe verteidigen. Wenn Schimmer also in seinem Vorwort an den Leser schreibt: „denck: was diese Blätter zeigen, Kömbt aus erschrocknen Geist, da Furcht die Feder rührt“, so war es wohl weniger, wie Schimmer angab, die Furcht vor dem „Mord=Geschrey“, das durch die Gassen Wittenbergs hallte, als vielmehr die Furcht vor der explosiven Wirkung von Rams Gedanken, die Schimmer dazu bewogen hatte, seine Schrift zu verfassen. Anlass zum Widerspruch dürfte auch das ehrliche Begräbnis gegeben haben, das man Ram zugestanden hatte, um die Ehre und den Ruf der Universität nicht zu beschädigen. 206 201 Ebd., fol. D2 r f. Vgl. auch die für dieses Urteil grundlegende Argumentation und die Verweise bei S UEVUS , Warnung, fol. Fv r ff. 202 Die äußere Form der Predigt lässt vermuten, dass sie allein als Flugschrift gedruckt wurde und ihr keine mündliche Predigt zugrunde lag. Weder ist ein Datum einer möglichen mündlichen Predigt vermerkt, noch erscheint ein ‚Vater unser’ zum Eingang der Predigt. 203 Prominent bereits eingangs S CHIMMER , Mord=Kind, fol. A2 r ff., B2 r f., D v f., E r und E4 r . Vgl. neben den oben beschriebenen Beispielen auch M USÄUS , Teufel, fol. B7 v , C2 r und C6 und S IGFRID , Tractat, fol. Hiii v . 204 2. Sam. 17. 205 Bspw. M USÄUS , Teufel, fol. C4 r ff. und S UEVUS , Warnung, fol. Diiii v . 206 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D4 v . Wenn sich Schimmer hier zur Begründung auch auf den Sachsenspiegel bezog, dann meinte er den vermehrten Sachsenspiegel, der zurechnungsfähigen Suizidenten ein ehrliches Begräbnis im Anschluss an das kanonische Recht verweigert wissen wollte; vgl. G EIGER , Selbstmord, S. 4 f.; s. u. Kap. 4. <?page no="166"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 155 Schimmer kritisierte ex post facto die Entscheidung der Universität, indem er erklärte, ein solch ehrliches Begräbnis sei keineswegs als ein günstiges Zeichen für Rams Seelenheil misszuverstehen. Er übernahm damit die Argumentation von Andreas Celichius, auf dessen in Auszügen in Bidembachs Consiliensammlung (s. o.) verfügbare Abhandlung sich Schimmer mehrfach bezog. 207 Celichius lieferte wohl auch die Vorlage für das Argument, Ram dürfe keinesfalls selig gesprochen werden, auch wenn die Trauer seiner Mutter emotional nachvollziehbar sei. 208 Schimmer beschwor abschließend die Unschuld der Wittenberger Gemeinde, indem er herausstellte, diese hätte weder den Suizid verursacht noch am Begräbnis Rams teilgenommen, um sich nicht schuldig zu machen. Das deutet einerseits darauf hin, dass die Beisetzung ohne größere Öffentlichkeit in der Stille stattgefunden hatte. Andererseits ist dies ein Hinweis darauf, dass auch Schimmer selbstverständlich nicht zugegen gewesen war. 209 Wie bewertete Schimmer einen ‚Selbstmord’ allgemein? Grundsätzlich sah Schimmer im ‚Selbstmord’ eine grausame, abscheuliche und böse Tat, die sich, hier griff er die klassische theologische Argumentation auf, gegen die Natur des Menschen, gegen Gott und gegen das Sittengesetz stelle. 210 Niemand könne, so Schimmer, ernsthaft Gegenteiliges behaupten. Augustinus habe längst alle Apologeten des ‚Selbstmords’ widerlegt. Die Heilige Schrift selbst erweise, dass der Selbsthass unnatürlich sei. Schimmer bezog sich wie andere Autoren auch auf Eph. 5.29. 211 Da allein Gott das Leben nehmen könne, das er gegeben habe, bedeute eine Selbsttötung letztlich nichts anderes als Gott zu schänden. Schimmer war sich mit Celichius, Glaser und Musäus einig, dass der ‚Selbst- 207 B IDEMBACH , Consiliorum V, S. 105, wo es sinngemäß heißt, dass das Glockengeläut der Seele nicht helfe, in den Himmel aufzufahren. 208 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B2 r . Vgl. C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z. S. 335. 209 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D4 v . 210 Vgl. exemplarisch auch die in diesem Punkt in nahezu allen Abhandlungen gleichlautende Argumentation bei S OTO , ivstitia, S. 406, der dann auch entsprechend bei D ANNHAUER , Collegium, S. 689 zitiert wird und Dannhauers Argumentation ebd., S. 691. Allgemein L IND , Selbstmord, S. 26 ff.; S CHREINER , Glück, S. 122 ff. 211 „Denn niemand hat jemal sein eigen Fleisch gehasset, sondern er neeret es vnd pfleget sein, Gleich wie auch der HErr die Gemeine“. Vgl. auch C ARPZOV , Definitiones, Lib. II. Def. 376 n. 6.; H ARSDÖRFFER , Secretarius, S. 60, der einen Trostbrief zitiert, der hier ähnlich argumentiert und Eph. 5.29 heranzieht. Zudem heißt es dort eingangs (ebd., S. 58): „die ihm selbsten den Tod anthun möchten, welches das aller erschröcklichste ist, daß einen Christen könte zu Sinne kommen.“ Ferner P OLLIO , Consiliorum, S. 124. <?page no="167"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 156 mörder’ sein Vergehen im Schwefelpfuhl der Apokalypse büßen müsse. 212 Doch die Bestrafung gehe darüber hinaus, denn der ‚Selbstmörder’ schädige sich an Seele und Leib. Auch dies ist eine konventionelle Sichtweise Und zwar über den engeren Rahmen theologischer Diskussionen hinaus. 213 Und natürlich teilten sich daher Teufel und Schinder den Toten. Während der eine die Seele schinde, malträtiere der andere den Leib. Schimmer legitimierte Schandpraktiken durch einen Rekurs auf Carpzov und illustrierte sie an anderer Stelle mit der von Plutarch überlieferten Geschichte einer Suizidepidemie unter Jungfrauen im antiken Milet, deren Leichen zur Abschreckung öffentlich zur Schau gestellt worden waren. 214 Insgesamt lässt sich festhalten, dass Schimmer mit seiner Bewertung vorsätzlicher Selbsttötungen nicht vom Muster der üblichen Diskussionen abwich. Überdies kannte und zitierte er jene Ansichten, die den Suizid von ‚Wahnsinnigen’ und Melancholikern entschuldigten, wenn diese zu Lebzeiten aufrichtig ihre Sünden bekannt und ihren christlichen Glauben bekräftigt hatten. Zwar berief sich Schimmer auf den Wittenberger Theologieprofessor Friedrich Balduin (1575-1627), der wie Schimmer Prediger an St. Marien gewesen war, doch gleicht die Argumentation ebenso der von Johannes Wigand bzw. der von Johann Conrad Dannhauer (1603-1666). 215 Offenkundig, womit Schimmer sogleich zur Bewertung von Rams Tod überleitete, könne ein solcher Fall christlichen Lebens und traurigen Verlusts des Verstandes in der vorliegenden Situation nicht angenommen werden. Zudem kämen, auch hier zeigte sich Schimmers Kenntnis der durchaus differenzierten Suizidursachen- und Motivdiskussionen seiner Zeit, weder ‚Ungeduld’, empfundene Schande, Furcht vor Gefahr noch Armut oder mangelnde Gelehrsamkeit infrage, um Rams ‚Selbstmord’ zu erklären. 216 Der Abschiedsbrief sei vielmehr eine Schrift voller Lästereien und gekennzeichnet durch das „Gift des 212 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. A4 r ff. Vgl. zu diesen Ansichten auch G LASER , Christen, o. Pag. (Mikrofiche der Bibliotheca Palatine Fiche, E-5); H ARSDÖRFFER , Secretarius, S. 60 f.; M USÄUS , Teufel, fol. B6 r . Vgl. zur Schändung Gottes durch ‚Selbstmord’ aus Verzweiflung C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z. S. 241 ff. 213 Vgl. etwa D AMHOUDER , Praxis, Cap. 90 n. 2. 214 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B v und E4 v . Das Exempel der Milesischen Jungfrauen wurde nach B AUMANN , Recht, S. 116 Anm. 305, im 18. Jahrhundert besonders häufig zitiert. 215 D ANNHAUER , Collegium, S. 695. S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D3 r (der dortige Verweis „l.3.C.C.cap.4.cas.14 p.m. 707“ bezieht sich auf das Balduins ‚Tractatus Luculentus, Posthumus, Toti Reipublicae Christianae Utilissimus, De Materia rarissime antehac enucleata, Casibus nimirum Conscientiae’, Wittenberg 1628 bzw. Frankfurt am Main 1654). 216 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. B3 r ff. <?page no="168"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 157 Naturalismi“ sowie die „Trifft der Atheisten und allerhand Schwermer“. Der Text zeuge vom mangelnden Glauben Rams. 217 Dessen Gebete vor seiner Selbsttötung, und auch hier verwies Schimmer wieder auf Celichius, seien eine „provocation auf die Barmhertzigkeit GOttes“. 218 Schimmers Sicht deckte sich mit der oben beschriebenen Stellungnahme der Leipziger Theologischen Fakultät von 1620, nach der ein Gebet im Bewusstsein eines geplanten Verbrechens Gnadenschändung sei. Gott würde niemals einen solchen Menschen in Gnaden annehmen. Weil Ram damit ein überführter Gnadenschänder und Spötter über Gottes Wort gewesen sei, der Jesus Christus zudem für einen Betrüger gehalten habe, werde Gott wohl, schrieb Schimmer, „geschwiegen haben, wie bey den gottlosen Saul, dem Er in seiner Noth weder durch Träume, noch durchs Licht, noch durch Propheten mehr antworten wolte. (1. Sam. XXIIX, 6)“. 219 Schimmer betonte Rams Unglauben, um die im Abschiedsbrief vorgetragene Behauptung zu widerlegen, die Vernunft könne die eitlen Vorurteile und den Betrug der Religion aufzeigen, die die Welt regieren würden. Schimmer erklärte, dass in christlichen Dingen die Vernunft ohne Glauben nichts bewirken könne und diskreditierte Rams Vernunft metaphorisch als den Esel Ahitofels, als einen dummen Führer und eine blinde Vernunft. 220 Hierin zeigt sich, wie sehr der Wittenberger Prediger bemüht war, jede Aussage aus Rams Abschiedsbrief zu widerlegen, um keine Zweifel an den Grundsätzen des amtlichen Christentums stehen zu lassen. In der Bewertung des Suizids und der Person Rams ließ Schimmers Predigt keine Ausflüchte zu. Aber er musste sich noch mit zwei wichtigen Exempeln befassen, die, ausgehend vom Wittenberger ‚Theologorum sententia de iis qui sibi mortem consciverunt vel alias repentina morte obierunt’ von 1529 (s. o.), den Suiziddiskurs der protestantischen Theologie nachhaltig geprägt hatten: Zum einen das Exempel des Kerkermeisters von Philippi aus der Apostelgeschichte, der von Paulus davor bewahrt wird, sich ins Schwert zu stürzen und 217 Zitate Ebd., fol. D3 r und E r . Vgl. auch die Argumentation bei M USÄUS , Teufel, fol. A6 v f., wonach Irrglauben zur Melancholie führe. 218 Ebd., fol. D3 r . Vgl. B IDEMBACH , Consiliorum V, S. 640. 219 Ebd., fol. C v . Zur Deutung von Sauls Suizid siehe bspw. auch C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z., S. 343 ff.; M USÄUS , Teufel, fol. C3; S IGFRID , Tractat, passim (Thomas Sigfrids Abhandlung ‚Ob König Saul, welcher sich selbst erstochen, selig oder verdammt zu achten sey’, Leipzig 1591 war mir nicht zugänglich); S UEVUS , Warnung, fol. Bv v ff. 220 S CHIMMER , Mord=Kind, fol. C3 r und C2 v ff. <?page no="169"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 158 zum christlichen Glauben findet. 221 Zum anderen das Exempel vom bekehrten Schächer am Kreuz aus dem Lukasevangelium, der noch rechtzeitig den Weg des Glaubens und der Erlösung wählt. 222 Die Errettung des Kerkermeisters wies zwar auch für Schimmer einen Weg zu Buße und Reue, wenn man von seinem tödlichen Vorhaben abgehalten wird. Das sei aber bei Ram ganz klar nicht passiert. Das Beispiel des Schächers könne wiederum, so argumentiert Schimmer, nicht herangezogen werden, um zu behaupten, Ram habe sich im letzten Moment bekehrt und bereut, denn der bekehrte Schächer habe Jesus Christus nicht wie Ram für einen Betrüger gehalten. Daraus zog Schimmer das Fazit, allein der aufrichtige christliche Glaube könne einen mörderischen Fall im Suizid verhindern. Deshalb sollte sich jeder das abschreckende Beispiel Rams zu Herzen nehmen, um sich seines Glaubens zu vergewissern. 223 Atheismus, gottlose Weltmanier und Vernunftdenken ohne Glauben würden unweigerlich in die ewige Verdammnis führen. 3.5. Schnittpunkte der Debatten Dass Schimmer in seiner Mordkind-Flugschrift im Rahmen der gängigen Argumentationsmuster seiner Zeit geblieben war, verdeutlichen nicht nur seine Verweise auf Balduin, Celichius und andere Autoren, sondern auch ein Vergleich mit einer wenige Jahre zuvor 1682 in Wittenberg publizierten Disputation. Unter dem Vorsitz von Adam Erdmann Mirus (1656-1727) hatte der aus Löbau in der Oberlausitz stammende Valentin Gottfried Ulmann an der Leucorea ethische Aspekte der Selbsttötung disputiert und wurde zum Magister promoviert. 224 Die Disputation handelte zunächst von antiken Beispielen. 221 Apg. 16.27-34; S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D2 r . Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei P OLLIO , Consiliorum, S. 127 f. 222 Luk. 23.33-43; S CHIMMER , Mord=Kind, fol. D3 v . 223 Ebd., fol. E2 r und E4 r , passim; siehe auch C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z. S. 281 ff.; G LASER , Christen, passim. N ESER , Predigten, S. 19 ff. Vgl. auch das programmatische Schlussgebet der Sammlung Pollios (P OLLIO , Consiliorum, S. 133): „Der Sohn Gottes Jesus Christus, der die Wercke des Teuffels zerstöret hat, heile vnser Schwachheit vnd behüte vns vor allem Vbel, Amen, Amen.” 224 M IRUS / U LMANN , autocheiria. Ulmann (mitunter auch Ullmann), über den nichts weiter bekannt ist, scheint nach seinem Abschluss wieder nach Löbau gegangen zu sein - die Chronik der Stadt Löbau berichtet für das Jahr 1695 von einer Bitte eines Magisters gleichen Namens. Eventuell war Ulmann der Sohn des Bürgers und Seifensieders Ulmann, von dem die gleiche Chronik in einem Eintrag aus dem Jahr 1663 berichtet; S TADTVERWALTUNG L ÖBAU (Hg.), Chronik, S. 156 und 184. <?page no="170"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 159 Grundsätzlich wurde eine Trennlinie zwischen christlicher und ‚heidnischer’ Ethik gezogen. Letztere bezog sich auf vorchristliche, griechische und römische Texte. Beurteilungskriterien, die für Heiden recht wären, könnten für Christen nicht ohne Weiteres gelten. 225 Schließlich hielten Mirus und Ulmann mit Augustinus und Laktanz fest, dass eine Selbsttötung unter keinen Umständen erlaubt sei, weil sie dem göttlichen Tötungsverbot zuwiderlaufe. Ein Suizid sei keinesfalls durch das Natur- oder Zivilrecht legitimiert. 226 Mirus und Ulmann vertraten, ebenso wie Schimmer, die Ansicht, das sächsische Landrecht würde ein ehrliches Begräbnis verweigern, weil Selbsttötungen generell abzulehnen seien. 227 Ähnlich wie Georg Schimmer sahen auch Mirus und Ulmann in Selbsttötungen einen Ausdruck des Spotts über die Güte Gottes sowie einen Verstoß gegen Prinzipien der Selbstfürsorge und das Gebot der Nächstenliebe. Ebenso wie Schimmer und die oben referierten Consilien beleuchteten sie mögliche Gegenpositionen, die die vorgetragenen Ansichten eventuell ins Wanken bringen könnten. 228 Neben den Ansichten der Stoiker wurden die biblischen Beispiele Samsons (Ri. 16.30), der vom Heiligen Geist zum Einreißen des Tempels mitsamt den Philistern und sich selbst motiviert worden wäre, des Propheten Jona (Jo. 1.12) und das apokryphe Beispiel Razis (2. Makk. 14.37- 46) referiert. Abschließend wurde, weil Mirus und Ulmann einen prinzipiellen Kontrast von Tugend und Selbsttötung herausarbeiten wollten, Augustinus referiert. 229 Praeses und Respondent zogen das Fazit, das Leben könne nicht unter jene Mitteldinge (‚Adiaphora’) gezählt werden, die streitbar sind. Vielmehr Da die Autorschaft frühneuzeitlicher Disputationen grundsätzlich schwer zu bestimmen ist, es aber zumindest bei einem Druck wahrscheinlich ist, dass auch der Praeses Verantwortung für die Inhalte übernahm, wenn er sich diese nicht gar aneignete, werden in dieser Arbeit grundsätzlich sowohl Praeses als auch Respondent als Autoren aufgeführt. Zum Problem der Autorschaft S CHUBART - F IKENTSCHER , Autorschaft; auch A PPOLD , Orthodoxie, S. 80 ff. mit Blick auf die theologischen Disputationen in Wittenberg. 225 Bspw. S IGFRID , Tractat, fol. Iiv v . 226 M IRUS / U LMANN , autocheiria, §. X-XII, fol. B r ff. 227 Ebd., fol. B2 r . Wie oben schon erwähnt, konnte man sich hierbei der Zustimmung älterer Glossen des Landrechts und neuerer Kommentare (wenngleich zeitlich etwas später: W ITZLEBEN / S CHERFF , AYTOXEIRIA, o. Pag., § XV) gewiss sein. Zur Tradition dieser Auslegung durch die Glossen des Sachsenspiegels G ERHARD / K ROMAYER , Selbst=Mord, S. 32. Siehe auch G EIGER , Selbstmord, S. 4 f. 228 M IRUS / U LMANN , autocheiria, fol. B2 v . 229 M IRUS / U LMANN , autocheiria, §. XX, fol. B4 v . <?page no="171"?> Kapitel 3: Der Teufel führt die Hand 160 gehöre das Leben zu jenen guten Dingen, deren Schöpfer allein Gott sei, weshalb man dieses Leben auch nicht ohne Geheiß Gottes aufgeben könne. Abschließend ist hier noch ein Punkt exemplarisch zu benennen, in dem sich die Argumentationen Schimmers und die von Mirus und Ulmann kreuzten und in dem beide Schriften auf den gleichen Referenztext verwiesen. In § VIII des Disputationsdrucks stellten Mirus und Ulmann heraus, dass zwingend zwischen ‚Selbstmördern’ unterschieden werden müsse, die sich aus ganzem Willen und bei gesundem Verstand töteten und Suizidenten, die körperlich vom Teufel übermannt oder von Tristesse, Melancholie oder Delirium befallen seien. Genau wie Schimmer verwiesen sie auf Friedrich Balduins Traktat ‚De casibus conscientia’ und zitierten diesen ausführlich. Das zentrale Argument Balduins, dem sowohl Schimmer als auch Mirus und Ulmann zustimmten und das sich mit Johannes Wigands Bedenken vom Suizid ‚Wahnsinniger’ deckte, lautete, dass es entscheidend sei, ob die Betreffenden vor dem Verlust des Verstandes ihre Sünden erkannt, ihren Glauben an Jesus Christus bekannt und ihre Seele und sich selbst Gott anvertraut und gebetet hätten. Nur dann müsste man im Falle eines Suizids nicht fürchten, auf ewig verdammt zu sein. 230 Ein wichtiges Fazit aus der Betrachtung des theologischen Diskurses ist demnach, dass in den Texten des 16. und 17. Jahrhunderts einerseits zwar der vorsätzliche ‚Selbstmord’ grundsätzlich abgelehnt wurde. Andererseits war man sich durchaus darüber im Klaren, dass nicht alle Suizide in dieses Szenario fielen und entlastende Argumente berücksichtigt werden mussten: Hierzu zählten jene körperlichen und geistigen Zustände, die einen boshaften Willen zum Suizid unwahrscheinlich machten, insofern für die Zeit vor dem geistigen Verfall ein frommer Lebenswandel attestiert werden konnte. Eine weitere entlastende, wenngleich zwiespältige Deutung erklärte Selbsttötungen mit dem Wirken des Teufels. Dies konnte aber nur dann als Entschuldigung gelten, wenn keine Indizien dafür sprachen, dass - wie im Falle des als Atheisten verunglimpften Studenten Ram von Georg Schimmer interpretiert - der Teufel einen seiner Getreuen, also einen gottlosen Menschen, mit dem ewigen Tod ‚belohnt’ hätte. Neben diesen beiden zentralen Aspekten wurden durchaus auch weitere Motive benannt, die eine Selbsttötung zumindest nachvollziehbar erscheinen lassen konnten, wenngleich sie dadurch nicht sogleich auch entschuldigt wurden. Georg Schimmer hatte bspw. auf Armut hingewiesen. Andreas Celichius hat in seinem Bericht über suizidale Angst und 230 Ebd., §. VIII, fol. A4 r . Im Übrigen sind sowohl der Verweis ebd. auf den Römerbrief (es existiert kein 17. Kapitel, gemeint ist wohl Röm. 10.9) als auch einige Verweise auf Augustinus fehlerhaft. <?page no="172"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 161 Verzweiflung ein ganzes Bündel an Ursachen benannt und dies mit durchaus auch sozialkritischen Tönen unterlegt: „Man hat vnd weiß Exempel, da sich dürfftige Eltern beneben jhren Kindern in klammer thewrer zeit sehr jämmerlich ermordet haben vnnd sind sie fürnemlich dadurch verbittert worden, das sie auch bey jhren nechsten Verwandten vnnd besten Bekandten kein Hülff vnd Trost haben finden mögen“. 231 Diese und ähnliche Äußerungen in den hier behandelten Texten zeigen an, dass der Suiziddiskurs immer auch im Rahmen einer umfassenderen Seelsorgepublizistik zu sehen ist. 232 Solche Aussagen verdeutlichen das Bemühen um und die Suche nach Erklärungen durch Autoren, die in ihrer Amtspraxis zwangsläufig mit Selbsttötungen konfrontiert wurden und in diesen Fällen, ausweislich der hier analysierten Texte, die Umstände eines Einzelfalls genau abzuwägen hatten, um zu einem nach außen hin vertretbaren Urteil zu gelangen. 231 C ELICHIUS , Bericht, o. Pag. eig. Z. S. 188. 232 K OCH , Gabe. <?page no="173"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 162 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert Nachdem im vorhergehenden Abschnitt die theologische Debatte ausgeleuchtet wurde, ist nun auf Jurisprudenz und Gesetzesentwicklung in Kursachsen zu blicken, bevor einige Untersuchungsverfahren und die Entscheidungspraxis von kirchlichen und weltlichen Jurisdiktionsinstanzen betrachtet werden. Da mit der Studie von Karsten Pfannkuchen bereits eine umfassende Abhandlung des frühneuzeitlichen juristischen Schrifttums über Selbsttötungen vorliegt, auf die für weiterführende Fragen zu verweisen ist, werden in diesem Kapitel nur jene Aspekte behandelt, die für die Argumentation der nachfolgenden Analyse relevant sind. 1 Jurisprudenz und Gesetzesentwicklung werden aus Gründen der Darstellung getrennt voneinander diskutiert. Zunächst wird die Gesetzesentwicklung in Kursachsen dargestellt. Am Beispiel Benedict Carpzovs werden juristische Positionen im 16. und 17. Jahrhundert erläutert. In den jeweiligen Abschnitten wird unter anderem auf folgende in der Frühen Neuzeit umstrittene Fragen eingegangen: Wie wurden das Problem des Erbes von ‚Selbstmördern’ und die Vermögenseinziehung diskutiert und geregelt? Welche Vorstellungen dominierten die Begräbnisfrage? Schließlich: Forderten Juristen und Gesetze eine postmortale Vollstreckung von Todesstrafen an den Leichnamen? 4.1. Tradition, Recht, Gesetz In den Schriften frühneuzeitlicher Theologen, die ich in den vorhergehenden Abschnitten untersucht habe, sind traditionelle, strafende Umgangsweisen mit den Leichnamen von ‚Selbstmördern’ - etwa das Verbrennen - bereits kurz angesprochen geworden. Solche Maßnahmen entsprangen nicht allein rechtlichen Erwägungen, sondern reagierten, so die Forschung, auch auf Ängste der Bevölkerung vor den Leichen von ‚Selbstmördern’. 2 Richtig ist es deshalb einerseits mit MacDonald und Murphy zu behaupten, die frühneuzeitliche Geistlichkeit „tolerated the rites of desecration as an additional punishment for the heinous sin of self-murder“. 3 Andererseits muss aber die differenzierte Sicht der Geistlichen auf das Phänomen berücksichtigt werden, in der nicht jede 1 P FANNKUCHEN , Selbstmord. 2 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 42 ff.; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 47 ff. 3 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 49. <?page no="174"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 163 Suizid-Handlung als ein strafwürdiger, vorsätzlicher ‚Selbstmord’ gesehen wurde. Die theologische Debatte hat verdeutlicht, dass es im 16. und 17. Jahrhundert kein kursächsisches Landesgesetz im Sinne eines Generalbefehls oder Mandats gegeben hat, auf das man sich im Urteil zu Selbsttötungen hätte berufen können. In Kursachsen wurden territoriale Gesetze, welche die Kompetenzen in Untersuchungen nach Selbsttötungen, die Begräbnisformen und mögliche postmortale Strafen systematisch geregelt hätten, anders als bspw. in Preußen oder Württemberg, 4 bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nicht erlassen. Das hatte sich oben schon in der Analyse von Georg Schimmers Flugschrift zum ‚Selbstmord’ des Studenten Joachim Gerhard Ram 1688 in Wittenberg angedeutet. Schimmer, sonst nie verlegen um eine weiterführende Anmerkung zum Ausdruck seiner Gelehrsamkeit, bezog sich in der Begräbnisfrage einzig auf das sächsische Landrecht (Sachsenspiegel) und auf Benedict Carpzovs Strafrechtskompendium ‚Practica Nova Imperialis Saxonica Rerum Criminalium’, interessanterweise aber nicht zugleich auch auf Carpzovs Kirchenrechtskompendium, die ‚Definitiones ecclesiasticae seu consistoriales’. Es stellt sich damit die Frage, auf welche Regelungen des sächsischen Policey- und Strafrechts man sich bei der Beurteilung von Selbsttötungen stützen konnte. Ossip Bernstein hat in seiner holzschnittartigen Zusammenstellung der territorialen Rechte im Alten Reich die Ansicht vertreten, in Sachsen wäre der Suizid „von jeher straflos“ gewesen. 5 Wie er ausführte, hätten weder Sachsenspiegel noch das Freiberger Stadtrecht im Spätmittelalter den Suizid bestraft. Und auch in der Folge wäre der Suizid weder in den kursächsischen Konstitutionen von 1572, noch in der ‚Erledigung der Landesgebrechen’ (also der Policeyordnung) von 1661 oder in den ‚Decisiones Electorales’ von 1746 thematisiert worden. Lediglich einige in der Fortsetzung des Codex Augusteus abgedruckte Beschwerden der Landstände über die für sie kostspieligen Verzögerungen bei Begräbnisentscheiden der Konsistorien und die Taxordnung von 1661 würden Hinweise enthalten, dass vorsätzliche ‚Selbstmörder’ nach den Urteilen der Konsistorien durch die Scharfrichter verscharrt wurden. 6 Bernsteins Zusammenschau ist jedoch zu ergänzen und zu korrigieren. Auf das 18. Jahrhundert, für dass sich allein in dem von Bernstein zitierten Codex 4 Für Preußen P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 145 ff. Für Württemberg S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 142. 5 B ERNSTEIN , Bestrafung, S. 10. 6 Ebd., S. 10 f. <?page no="175"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 164 Augusteus mehrere landesherrliche Vorschriften zum Umgang mit ‚Selbstmördern’ finden, gehe ich dabei erst unten in Teil C umfassender ein. Zunächst zur Frage, ob das sächsische Recht die Einziehung des Vermögens eines ‚Selbstmörders’ durch die territoriale Obrigkeit kannte. Karsten Pfannkuchen konnte zeigen, dass nicht alle Textfassungen des Sachsenspiegels eine Konfiskation des Vermögens von ‚Selbstmördern’ verwarfen. Und jene Versionen, welche die Konfiskation verwarfen, um die Erben zu schützen, taten dies „in language which may suggest an earlier practice to the contrary“, wie Alexander Murray bemerkt hat. 7 Auch in den Glossen und hier wiederum in den verschiedenen Ausgaben einzelner Glossen wurde diese Frage uneinheitlich behandelt. Einige waren sich die Sachsenspiegelglossen, der Richtsteig Landrechts 8 sowie das Meißner Rechtsbuch aus dem 14. Jahrhundert lediglich darin, dass die Konfiskation des Vermögens von ‚Selbstmördern’, die sich in der Haft aus Furcht vor Bestrafung entleibt hatten, zulässig sei. 9 Aber auch wenn in dieser Frage Einigkeit herrschte, ist nicht unmittelbar auf eine einheitliche Rechtspraxis zu schließen, die diesem rechtstheoretischen Konsens auch gefolgt wäre - bislang sind für Sachsen lediglich vereinzelt Beispiele belegt. 10 Darüber hinaus steckte die ‚Constitutio Criminalis Carolina’ (Art. 135) einen auf der territorialen Strafgesetzgebung basierenden reichsrechtlichen Rahmen ab, der die Vermögenseinziehung nach einem Suizid ausdrücklich an eine mit Vermögenseinziehung zu sanktionierende Vortat knüpfte, aufgrund der sich eine Person aus Furcht vor der erwarteten Strafe das Leben genommen hatte. Gleichwohl, so das Fazit von Karsten Pfannkuchen, blieb umstritten, „bei welchen Vortaten und ab welchem Zeitpunkt eine Vermögenseinziehung 7 M URRAY , Suicide Vol. II, S. 79. 8 Eine zwischen 1325 und 1334 verfasste Ergänzung zur Sachsenspiegelglosse; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 62 mit weiteren Hinweisen. 9 P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 57 ff., zusammenfassend S. 65. Auf die von Pfannkuchen ebenfalls überzeugend nachgewiesenen bewussten Fehldeutungen römischen Rechts, um dieses mit traditionellen Konventionen in Einklang zu bringen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. ferner G EIGER , Selbstmord, S. 4 f. und bereits G ERHARD / K ROMAYER , Selbst=Mord, S. 32; M ECKBACH , Commentar, S. 466. Vgl. auch G ÄRTNER , Sachsen=Spiegel, S. 239 f., der in Fragen der Konfiskation ähnlich argumentiert, anschließend jedoch unter Verweis auf Carpzov eine Bestattung auf dem Kirchhof ablehnt. 10 Ein nicht exakt datierter Spruch der Leipziger Schöppen (ungefähr zwischen 1464 und 1500) belegt etwa, dass im Fall eines Diebes, der sich in der Haft erhängt hatte, die Gerichte das Vermögen einziehen durften; K ISCH (Hg.), Schöffenspruchsammlung, S. 178; der Fall wird auch referiert bei M URRAY , Suicide Vol. II, S. 73 (Anm. 51). <?page no="176"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 165 angeordnet werden durfte.“ 11 Ich gehe beim derzeitigen Kenntnisstand der Forschung und anhand der mir bekannten Quellen davon aus, dass der Vermögenskonfiskation nach Selbsttötungen in Kursachsen keine Bedeutung zukam. 12 Eine zentrale Quelle sächsischen Rechts waren die kursächsischen Konstitutionen von 1572. Im vierten Teil der Konstitutionen „erfolgte für den Bereich des Strafrechts eine nahezu vollständige Bearbeitung des Katalogs peinlicher Delikte“, so Ulrike Ludwig. Dieser Katalog war aber insofern unvollständig geblieben, als vorrangig „‚nur’ die juristischen Streitfragen […], in denen eine divergierende Spruchpraxis einer einheitlichen Regelung zugeführt werden sollte“ traktiert wurden. 13 Selbsttötung als Kriminaldelikt wurde nicht behandelt. Gleiches gilt auch für die nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorschriften der ‚Constitutiones ineditae’. 14 Für dieses Schweigen der wichtigsten Quelle des sächsischen Strafrechts im 16. Jahrhundert lassen sich mehrere Gründe anführen: Zum einen scheinen die traditionellen ‚Strafen’ 15 für ‚Selbstmorde’ wenig umstritten gewesen zu sein. Diese Vermutung schließt sowohl eine gewisse Spannweite möglicher Umgangsweisen mit den Leichen als auch unterschiedliche Begräbnisformen ein. Zum anderen ist ein von Alexander Murray stark gemachtes, rechtshistorisches Argument zu berücksichtigen: Insbesondere das römische Recht hätte in einem Suizid nicht prinzipiell eine Straftat gesehen, sodass die im 16. Jahrhundert verstärkte Rezeption römischen Rechts „should 11 P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 83. Zur Einordnung und Bewertung der ‚Constitutio Criminalis Carolina’ siehe die Hinweise bei L UDWIG , Herz, S. 77 f. und passim sowie P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 76 f., dort auch zu Art. 160 der Bambergensis. Die von mir referierte Auffassung der ‚Carolina’ bestätigten in der Folge diverse juristische Schriften. Vgl. bspw. G ERHARD / K ROMAYER , Selbst=Mord, S. 34. R EHBACH , Bemerkungen, S. 243 am Beispiel von Johann Paul Kreß (1721). Weitere Belege bei B ERNSTEIN , Bestrafung, S. 4. 12 W INCKLER , De mortis, S. 86. Bislang vorliegende Studien, die das Recht und die Praxis von Vermögenskonfiskationen nach Selbsttötungen untersucht haben, lassen vermuten, dass die Konfiskationsmöglichkeit entweder an den in der ‚Carolina’ Art. 135 geregelten Fall (s. o.) anknüpften oder aber kaiserliche Privilegien zur Vermögenseinziehung existierten. Siehe G LÖCKLER , Einziehung; H EFFNER , Strafen; O BSER , Selbstmordfälle. 13 L UDWIG , Herz, S. 78. 14 Zu diesen L UDWIG , Herz, passim. 15 Zur mittelalterlichen Praxis, Leichen von ‚Selbstmördern’ zu behandeln vgl. jetzt M URRAY , Suicide Vol. II, S. 10 ff. <?page no="177"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 166 have made self-murder less of an offence.“ 16 Beide Argumente müssen, den Forschungen von Peter Oestmann folgend, 17 miteinander verschränkt diskutiert werden, denn ohne das jeweils andere Argument (römisches Recht vs. Tradition und lokales bzw. regionales Recht) sind frühneuzeitliche Rechtsentscheidungen nicht zu verstehen. Über die alltägliche Rechtspraxis sagen zwar weder das Schweigen der Konstitutionen noch dessen mögliche Gründe wirklich etwas aus. Aber, so ließe sich argumentieren, auf der Agenda der Landesherrschaft spielte das Thema Suizid zumindest bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts keine Rolle. Das belegt indirekt auch die umfassende Studie von Ulrike Ludwig zur Strafrechts- und Gnadenpraxis in Kursachsen. Über die bisher referierten Rechtsquellen hinaus ist der Hinweis Bernsteins wichtig, dass etwa die landesherrlichen Taxationsregelungen und damit Policeyrecht sowie städtische Rechtsnormen belegen, dass die Scharfrichter mit der Beseitigung von ‚Selbstmörderleichen’ beauftragt waren. In der Taxordnung von 1642 heißt es: „Wegen derer Personen, so ihnen selbsten den Todt, aus bösem Fürsatz anthun, und nicht etwa Kranckheiten oder andere Schwachheiten dabey zu bedencken, Sollen die Gerichts-Herren dem Scharff=Richter, aus des Umbgebrachten Vermögen, nach desselben Beschaffenheit, doch ohne sonderbahr Nachtheil derer Erben, eine Belohnung nach billigen Dingen verordnen“. 18 Entscheidend ist, dass die Scharfrichter anscheinend ausschließlich dann zur Beseitigung von ‚Selbstmörderleichen’ angewiesen werden sollten, wenn der Suizid mit boshaftem Vorsatz begangen worden war. Das war immer dann der Fall, wenn sich Menschen aus Furcht vor einer wegen eines begangenen Verbrechens erwarteten Strafe schuldbewusst in der Haft das Leben nahmen. 19 Zumindest sah die Taxordnung von 1642 keine Entlohnung der Scharfrichter bei anderen Suizidfällen vor. Noch 1612 hatte die Taxordnung überhaupt keine derartige Regelung enthalten. Vielleicht war es wiederholt zu Streitigkeiten über 16 M URRAY , Suicide Vol. II, S. 66. 17 Hier nach L UDWIG , Herz, S. 79 Anm. 290. 18 C OD . A UG ., Sp. 1385. 19 Diese Menschen wurden vom Scharfrichter schändlich, häufig unter dem Galgen, verscharrt B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, passim; M AC D ONALD / M URPHY , Souls, bspw. S. 205 f. und passim; L IND , Selbstmord, passim; L EDERER , Suicide, S. 40; L EDERER , Madness, S. 242 ff.; S CHÄR , Seelennöte, S. 54 ff.; W ATT , Death, S. 67 ff. Zu den Forschungsergebnissen der Richtstättenarchäologie siehe H AHN , Selbstmörder; D UMA , Selbstmord; W OJTUCKI , Bestattungen. <?page no="178"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 167 die Entlohnung der Scharfrichter gekommen, die eine entsprechende Regelung notwendig gemacht hatten. Die Regelung der Taxordnung von 1642 deckte sich mit den Urteilen in der theologischen Publizistik und wurde auch im juristischen Schrifttum ähnlich verhandelt. Der Codex Augusteus enthält über die Taxordnungen hinaus einige weitere Hinweise auf im 16. und 17. Jahrhundert anwendbares Recht bei Selbsttötungen. Auffällig ist, dass weder die Kirchenordnung von 1580 noch die Vorschriften zu Begräbnissen in den Policeyordnungen Verhalten und Verfahren nach Selbsttötungen regelten. 20 Die Kirchenordnung selbst war indes nur ein Teil prinzipiell anwendbaren Kirchenrechts. Daneben müssen die differenzierte Diskussion des Begräbnisrechts in den ‚Definitiones ecclesiasticae’ Benedict Carpzovs (s. u.) und die zeitgenössischen Consiliensammlungen (s. o.) in die Analyse einbezogen werden. Darüber hinaus sind nach meinem Dafürhalten drei im Codex Augusteus abgedruckte Einzelfallentscheidungen zwingend zu berücksichtigen, wenn man auf die ‚Verfahrenspraxis’ nach Selbsttötungen Rückschlüsse ziehen will. In einem Reskript vom 23. August 1624 wurde angeordnet, dass „einem Verächter derer Predigten und des Abendmahls, auch ein ehrlich Begräbniß versagt werden solle“. 21 Zwar wurde hier nicht das Begräbnis eines ‚Selbstmörders’ geregelt. Entscheidend ist jedoch, dass das zu Lebzeiten unchristliche Verhalten hier eine Sanktion nach sich zog und ja die theologische Suiziddebatte den Lebenswandel zu einem entscheidenden Kriterium für ein Urteil zur Beisetzung erhoben hatte. Sakramentsverächter waren auch in anderen Normen von ehrlichen Begräbnissen ausgeschlossen. Das Reskript wurde allerdings erst 1724 im Codex Augusteus abgedruckt. Es war demnach zunächst eine Einzelfallentscheidung, die allerdings als grundsätzlich repräsentativ angesehen werden kann. Weiterhin regelte ein Reskript vom 28. April 1637, dass „die Cörper auf öffentlicher Straße umgebrachter Menschen, wie andere Christen, sollen begraben werden“. 22 Auch in diesem Schreiben wurde zwar kein Suizidfall geregelt, doch verwies die Landesregierung in einem Streitfall im Jahr 1714, in dem es um die Beisetzung eines vermeintlichen Suizidenten ging, genau auf dieses Reskript und erklärte dessen Gültigkeit für den Fall, dass man „nicht weiß, ob er sich selbst umgebracht oder 20 Die Kirchenordnung in C OD . A UG ., Sp. 475 ff.; Begräbnisregelungen der Policeyordnung von 1612 ebd., Sp. 1472 f. 21 Ebd., Sp. 851 f. 22 Ebd., Sp. 859 f. <?page no="179"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 168 von andern ermordet“ wurde. 23 Das Reskript ermächtigte Pfarrer auch dazu, beliebige Personen unter Androhung von Strafe dazu zu verpflichten, bei der Beisetzung der Leiche mitzuwirken. Exemplarisch verdeutlicht dieses Schreiben damit auch, dass in zweifelhaften Fällen zumindest eine Beisetzung unter Ausschluss des Scharfrichters möglich war. Die dritte relevante Einzelfallentscheidung aus dem Jahr 1664 wird im nachfolgenden Abschnitt aus drei Gründen gesondert dargestellt: Erstens verweist sie auf die den Rechtsnovellierungen im 18. Jahrhundert zugrunde liegenden Streitigkeiten zwischen weltlichen und kirchlichen Behörden über die Jurisdiktionshoheit bei ‚Selbstmörderbegräbnissen’. Zweitens sind zu diesem Fall noch archivalische Dokumente erhalten, die die Hintergründe des kurfürstlichen Reskripts aufklären. Zum Dritten ist dieser Fall für die Rechtsentwicklung zum Suizid in Kursachsen von Bedeutung, weil sich spätere Gesetzgebungsverfahren wiederholt auf ihn bezogen. 4.2. Von einer Einzelfallentscheidung zum Gesetz Am 20. April 1664 ging in Cossebaude bei Dresden der Häusler und Salzschenk George Gansauge, nachdem er gebetet hatte, „auff das feld zue spatzieren und sich umbzuesehen“. 24 Offensichtlich aber war dies nur ein Vorwand gewesen, um ohne Begleitung aus dem Haus zu kommen, denn Gansauge erhängte sich abseits an einer Weide. Die Selbsttötung wurde an das Gericht in Cossebaude gemeldet, von wo aus man umgehend die Meldung an den Dresdner Amtmann Michael Leister 25 weiterleitete. Für Leister war die Sachlage eindeutig: „Zweifels ohne [habe sich Gansauge] durch des bösen feindes antrieb an eine weyde geknüpffet“. 26 Der Amtmann befahl dem Dresdner Scharfrichter, die Leiche abzunehmen und zu verscharren. Nach den Artikeln des Dresdner Rates hatte der Scharfrichter die Leichen von ‚Selbstmördern’ ohne Ausnahme zu beseitigen: „dieselben auch sey es geschehen, auff waß maaße es wolle, soll er hinweg thun“, hieß es in der Ordnung. 27 23 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 9. 24 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 9 r . 25 Leister war von seit 1658 Amtmann in Dresden, ab 1666 Oberamtmann und von 1642 bis 1671 zudem Amtsschösser; vgl. H AUG , Amt, S. 76. 26 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 9 r . 27 O. A., Scharfrichter=Geschichte, S. 47 ff. (die Dresdner Scharfrichterordnung), Zitate S. 79. Die Ordnung handschriftlich auch in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 4 ff. Zum Dresdner Scharfrichter jetzt K ÄSTNER , Ikonen. <?page no="180"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 169 Diese klare Regelung war das eine. Der Amtmann sah sich 1664 aber überdies als Zielscheibe umtriebiger Versuche des Dresdner Scharfrichters, Gelder einzuklagen, die ihm für die Entsorgung von Leichen zustanden. 28 Wohl auch deswegen hatte Leister erst gar nicht bei dem in Dresden ansässigen Oberkonsistorium angefragt, wie er die Leiche Gansauges bestatten lassen sollte. Dass er eigenmächtig entschieden hatte, weckte den Unmut der Konsistorialräte. Die hatten durch den Bericht Leisters an den Hof schnell Wind von der Sache bekommen. Das Oberkonsistorium forderte von Leister daher einen Bericht, in dem er sein Verhalten rechtfertigen und gegebenenfalls erklären sollte, wer ihm eine entsprechende Anweisung erteilt hatte. Zugleich belehrte das Oberkonsistorium den Amtmann, ihm hätte „nicht gebühret, ohne unsere anordnung [in] dergleichen [Fällen] und wo er [i. e. Gansauge] hin begraben werden sollen zuverfügen“. 29 Leister aber war sich keiner Dienstwidrigkeit bewusst. Hilfe suchend wandte er sich deshalb an den kurfürstlichen Hof und betonte gegenüber der Hofregierung sein rechtmäßiges Handeln. Der Briesnitzer 30 Pfarrer hätte ihm mündlich von dem bösen und ärgerlichen Leben Gansauges berichtet, der öfter „allerhandt lohse händel angefangen und ausgeübet“ hätte. 31 Pfarrer und Amtmann schlossen deswegen auch Melancholie oder Schwermut als Gründe für die Selbsttötung aus. Vielmehr hätte Gansauge „ex mala desperatione durch des bösen feindes antrieb diese grausame execution, durch mit sich auff das feldt genommenen und noch auffgehabten hutte vollbracht“. 32 Leisters Darstellung erhellt außerdem, dass er sich mit dem Pfarrer verständigt hatte, bevor er dem Scharfrichter die Beseitigung der Leiche befahl. Die satanologische Suiziderklärung wirkte hier nicht entlastend, weil die teuflische Verzweiflung als Ausdruck und Folge eines ohnehin bösen Lebens gedeutet wurde. Darüber hinaus versuchte der Amtmann vor der Hofregierung durch Verweise auf herkömmliche Verfahrensweisen zu untermauern, dass sein Vorgehen legitim und legal gewesen war. So seien im Bereich des Amtes Dresden von jeher „auch solche personen, do mann wegen offenbahrer melancholie und schweermüthigkeit billich dispensiren solten, doch in 28 Vgl. die zahlreichen Beschwerden des Scharfrichters Johann Benedict Wahl und die aufgelisteten Fälle entgangener Gelder in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3. Johann Benedict Wahl (von Dreyßigacker; 1639-1709) war im Jahr 1662 Johann Glöckner als Scharfrichter gefolgt. 29 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 13 r . 30 Cossebaude war bis 1914 nach Briesnitz eingepfarrt. 31 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 10 r . 32 Ebd., fol. 10. <?page no="181"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 170 terrorem aliorum durch den scharffrichter abgenommen, und gehöriges orthes begraben worden“. 33 Leister gab also zu, dass Melancholiker eigentlich nicht vom Nachrichter geschliffen werden sollten. Gleichwohl hätte man in Dresden stets auch Melancholiker schändlich begraben lassen, um abzuschrecken. Hierzu hätte es auch nie einer Anweisung seitens der Landesregierung, des Geheimen Rates oder des Oberkonsistoriums bedurft. Ganz im Gegenteil wäre es stets missfällig aufgenommen worden, wenn bei Selbsttötungen nicht der Scharfrichter zur Beseitigung der Leiche gerufen wurde. Leister versuchte seine Sicht der Dinge mit einer Abschrift von zwei Belegen aus den Jahren 1619 und 1620 aus einem älteren Amtsbuch zu belegen. 34 Das Oberkonsistorium sah die ganze Angelegenheit naturgemäß völlig anders. Übel stieß den Kirchenräten schon auf, dass der Amtmann es gewagt hatte, ihre im Namen des Landesherrn ergangene Aufforderung zu einem Bericht zu ignorieren und sich statt dessen direkt an die Hofregierung zu wenden. Natürlich kannte man im Oberkonsistorium den Bericht Leisters an die Hofregierung, denn die hatte sich ihrerseits an die Kirchenräte gewandt, weil sie den Bericht Leisters als Beschwerde über das Oberkonsistorium aufgefasst hatte. Und so rapportierte das Oberkonsistorium den Fall nun direkt an den Kurfürsten. 35 In dienstfertigem Ton betonte das Oberkonsistorium zunächst, bei der Bearbeitung von Suizidfällen nie Nutzen, stets aber Mühe und Arbeit zu haben. Danach legten sie den prinzipiellen Streitpunkt dar: Nach Selbsttötungen stünde das Recht, über die Form der Beisetzung zu entscheiden, allein den kirchlichen Instanzen zu, „wie die observantia bey diesem judicio tota die bezeuget“. Zudem hätten Städte, Ämter und schriftsässiger Adel von jeher die Gültigkeit dieses landeskirchlichen Rechts bestätigt, indem sie die Konsistorien wegen eines Begräbnisentscheids fragten. 36 Selbst Leister hätte im Gegensatz zu seinen Behauptungen in der Vergangenheit in derartigen Fällen wiederholt das Oberkonsistorium in Dresden befragt. Nun sei zwar die Entscheidung des Amtmanns in der Sache richtig gewesen. Verzweifelte ‚Selbstmörder’, deren schlechter Lebenswandel durch einen Pfarrer bezeugt worden war, sollten durchaus vom Scharfrichter verscharrt werden. Diesem sollte kein materieller Nachteil entstehen. Allein dem Amtmann hätte aber nicht das Recht zugestanden, hierüber zu befinden. Und, damit kritisierten die Kirchenräte in- 33 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 10 v . 34 Ebd., fol. 12. 35 Ebd., fol. 21 r ff. 36 Ebd., fol. 21 v . <?page no="182"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 171 direkt auch den Pfarrer, die möglicherweise doch komplexeren Hintergründe von Gansauges Suizid hätten genauer überprüft werden müssen. Erst nach einer umfassenden Untersuchung könne nach Selbsttötungen individuell entschieden werden, „vndt nicht alßbaldt vnndt allezeit, wie der Ambtmann in seiner schrifft meinet, den scharfrichter die cörper in die hände zu laßen“. 37 Um diesem Standpunkt auch einen normativen Rückhalt zu verschaffen, verwies das Oberkonsistorium auf Benedict Carpzovs Lehrsätze des Kirchenrechts, nach denen die jeweils erfass- und untersuchbaren Begleitumstände einer Selbsttötung genau abgewogen werden müssten. Auch wäre es Aufgabe kirchlicher Amtsträger respektive der Konsistorien, Suizidfälle zu untersuchen. 38 Deshalb, so das Oberkonsistorium abschließend, müsse man das Verhalten Leisters als Affront und Kompetenzanmaßung auffassen, denn weder dem Amtmann noch dem Scharfrichter hätten im Fall Gansauge eine richtergleiche Hoheit zugestanden: Zukünftig „möchte dahero der Ambtmann sich hierinn beßer informiret, bescheidener gegen E[uer] Churf[ürstliches] Ober-Consistorium erweisen, vndt nicht auß eigener gefaßter einbildung newerung vorgenommen haben“. 39 Der Kurfürst ließ am 15. Juli 1664 ein Schreiben an den Amtmann aufsetzen, in dem die Einwände des Oberkonsistoriums erläutert wurden. Mithin erklärte der Kurfürst die Argumente des Amtmanns für unerheblich und betonte, dass dessen eigenmächtiges Vorgehen der „wohlhergebrachten guten ordnung entgegen“ stehe und damit den Prinzipien guter Policey widerspreche. 40 Dieses kurfürstliche Schreiben fand ebenso wie die beiden anderen oben beschriebenen Reskripte Eingang in den von dem Leipziger Kanzlisten Johann Christian Lünig (1662-1740) 41 edierten und im Jahr 1724 publizierten ‚Codex Augusteus’. Auch die Neuauflage des ‚Corpus Juris Ecclesiastici Saxonici’ von 1773 verzeichnet dieses Schreiben und belegt so dessen fortdauernden Geltungsanspruch. 42 Daraus lässt sich ableiten, dass dieses Reskript über den konkreten Einzelfall hinaus rechtswirksame Geltung erlangt hat. Gerhard Lingelbach betont, dass edierte Rechtssetzungen wie der Abdruck eines Reskripts im Codex Augusteus zwar nicht auf unmittelbare Geltung abstellten, gleichwohl aber „dem 37 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 22 v ff. 38 C ARPZOV , Definitiones, Lib. II Tit. XXIV, Def. 378 n. 5-6. 39 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 24. 40 Ebd., fol. 25; auch C OD . A UG ., Sp. 864. 41 Zu Person und Werk siehe L INGELBACH , Codex, S. 253 ff. 42 C OD . A UG ., Sp. 861 ff.; W ALTER , Corpus, S. 638. <?page no="183"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 172 tradierten Rechtsverständnis folgend anwendbares Recht“ waren. 43 Auf das Reskript im Fall Gansauge beriefen sich im 18. Jahrhundert wiederholt die kursächsischen Konsistorien, um ihre Jurisdiktionsrechte nach Selbsttötungen einzuklagen. Der Streit um Michael Leisters eigenmächtiges Vorgehen verdeutlicht, dass die Konsistorien im 17. Jahrhundert zwar bemüht waren, den Anspruch auf Geltung ihrer Rechte hartnäckig zu verfolgen und durchzusetzen. Gleichwohl zeigt gerade der Konfliktfall, dass im Alltag nicht allein die Konsistorien entschieden. Der Umgang mit ‚Selbstmörderleichen’ wurde je nach Hintergründen einer Selbsttötung unterschiedlich gehandhabt. Dies war nicht zuletzt unmittelbare Folge einander widerstreitender bzw. auslegungsbedürftiger Normen. Craig Koslofskys These, das Reskript von 1664 spiegele die Rechtswirklichkeit in Kursachsen und die alleinige Jurisdiktionshoheit der Konsistorien in Suizidfällen, 44 ist daher zu differenzieren. Der kurfürstliche Erlass im Fall Gansauge ist m. E. eher Ausdruck einer umstrittenen Praxis denn Abbild der Rechtswirklichkeit. 4.3. Autorität und Recht Es hat sich bereits angedeutet, dass für das sächsische Recht und die Rechtspraxis den Schriften des Leipziger Juristen Benedict Carpzov (1595-1666) eine herausragende Rolle zukommt. Für die vorliegende Studie ist Carpzov wichtig, weil seinen Schriften ein gesetzesgleicher Rang zugeschrieben wurde. Sowohl Gerichte als auch Konsistorien beriefen sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf ihn, um ihre jeweils beanspruchten Kompetenzen nach Selbsttötungen, etwa die Leitung der Untersuchung und die Entscheidungshoheit über das Begräbnis, zu verteidigen. Überdies edieren sowohl die ‚Practica nova’ als auch die ‚Definitiones ecclesiasticae’, also Carpzovs zentrale Kompendien des Strafsowie des lutherischen Kirchenrechts, Rechtsentscheidungen kursächsischer Behörden (Leipziger Schöppenstuhl, Oberkonsistorium). Sie geben so Einblick in die Spruchpraxis für einen vergleichsweise quellenarmen Untersuchungszeitraum. Die von Carpzov edierten Entscheide werde ich unten (Kap. 6) gesondert mit parallelen Überlieferungen vergleichen, um sie in einem größeren Kontext der Praxis des Umgangs mit ‚Selbstmörderleichen’ zu verorten. 43 L INGELBACH , Codex, S. 250. 44 K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 392; K OSLOFSKY , Suicide, S. 52; K OSLOFSKY , Body, S. 54. <?page no="184"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 173 In diesem Abschnitt werde ich - ohne dass gewissermaßen en passant die Bedeutung Carpzovs in der Rechts- und Kriminalitätsgeschichte auch nur annähernd gewürdigt werden könnte 45 - die grundsätzlichen Ansichten Carpzovs zum Umgang mit ‚Selbstmördern’ knapp und für jene Punkte referieren, die mir für die weitere Argumentation der Arbeit wichtig erscheinen. Dabei werde ich sowohl einige Grundsätze der Bestrafung des Suizids als auch einige Grundsätze der ‚Verfahrenspraxis’ nach Selbsttötungen erläutern. 46 Carpzovs Überlegungen zum Strafrecht spiegeln, so lässt sich mit Karl Härter feststellen, eine für die Zeit „typische Verzahnung von […] Strafjustiz und Sündenzucht […], die eine religiös-konfessionelle Begründung von Strafrecht und Policeygesetzgebung bedingte.“ 47 Strafen sollten dazu dienen, die göttlich gestiftete Ordnung der Gesellschaft zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Damit einher ging die Überlegung, durch Bestrafung den befürchteten Zorn Gottes zu besänftigen. Darüber hinaus sollten durch Strafen Delinquenten unschädlich gemacht und/ oder, so es denn möglich erschien, gebessert werden. Schließlich sollte von öffentlich zu vollziehenden Strafen eine allgemeine Abschreckung und generalpräventive, sozialdisziplinierende Wirkung ausgehen. Die Intention, durch Strafen abzuschrecken, zeigt sich etwa daran, dass Carpzov ebenso wie andere Juristen seiner Zeit das Hindurchziehen von Leichen vorsätzlicher ‚Selbstmörder’ durch Türschwellen oder durch eigens geschaffene Öffnungen in Hausmauern bzw. durch Fenster sowie das Herablassen vom Dach überhaupt nicht unter dem Aspekt diskutierte, potenzielle ‚Wiedergänger’ abzuwehren. Vielmehr befürwortete er diese entehrenden Praktiken deswegen, weil er ihnen eine abschreckende Wirkung unterstellte. 48 Summarisch können hieran anschließend folgende Ansichten Carpzovs festgehalten werden: Durch alles Recht sei der ‚Selbstmord’ verboten: „Optimo 45 Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge von Härter, Landau und Schaffstein in J EROUSCHEK u. a. (Hg.), Benedict Carpzov. 46 Auf zum Teil eigene Vorarbeiten ist hier nur summarisch zu verweisen. Der rechtshistorische Kontext ist umfassend entfaltet in Karsten Pfannkuchens Dissertation ‚Selbstmord und Sanktionen’. Jeweils mit weiterer Literatur P FANNKUCHEN , Selbstmord, passim; K OSLOFSKY , Säkularisierung; K OSLOFSKY , Suicide; K OSLOFSKY , Body; sowie meine Ausführungen in K ÄSTNER , Seelen, S. 77 ff. Vgl. auch schon G EIGER , Selbstmord, passim. 47 H ÄRTER , Verhältnis, S. 184. 48 C ARPZOV , Practica, P. I. Qu. II. n. 30; C ARPZOV , Definitiones, Lib. II Def. 376 n. 11. Vgl. die Diskussion über Einflüsse auf die Kriminalisierung des Suizids in P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 47 ff., zu Carpzov hier bes. S. 50. <?page no="185"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 174 itaque jure autocheiria [i. O. griech.] prohibita est“. 49 Diesen Grundsatz schlussfolgerte Carpzov aus der Behauptung, dass ein ‚Selbstmord’ schlimmeres Vergehen und größere Sünde sei als ein Mord an einem anderen Menschen, weil der ‚Selbstmörder’ zugleich mit seinem Körper auch seine Seele vernichte. 50 Die Diskussion der Strafformen und des Strafmaßes folgte dann im Weiteren wesentlich zwei Gesichtspunkten: zum einen der Idee einer flexiblen Strafzumessung, die sich am Grad des persönlichen Verschuldens orientierte. Die juristische Bewertung hing dabei wesentlich von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen des Suizidenten ab. Zum anderen unterschied Carpzov prinzipiell den Fall einer vollendeten und den Fall einer nicht vollendeten Selbsttötung. Letzterer ist unten schematisch dargestellt (Abb. B.4-1). Carpzov lehnte eine ausnahmslose Bestrafung aller ‚Selbstmörder’ ab. Gleichwohl, so die Schlussfolgerung aus dem Suizidverbot durch das göttliche Recht, wäre niemand - aus welcher Ursache er oder sie auch immer zur Tat geschritten sei - wirklich unschuldig, wenn er oder sie sich das Leben nehme: „Insontes ideoque non sunt mortem sibi inferentes“. 51 Aber: Es sollten diejenigen nicht bestraft werden, die sich in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit, 52 Melancholie oder Raserei getötet hatten bzw. töten wollten. Diesen fehlte der für eine Bestrafung notwendige schuldhafte bzw. der für harte Sanktionen unabdingbare verbrecherische Wille. Grundsätzlich waren unterschiedliche Strafen denkbar. Die aus dem römischen Recht abgeleitete Strafe der Vermögenskonfiskation nach Selbsttötungen wurde, bedenkt man ihre Bedeutung in anderen Diskussionskontexten, von Carpzov nicht erörtert. 53 Das unterstreicht meine Vermutung, dass diese Strafe für die sächsische Rechtspraxis nicht relevant war. Möglicher- 49 C ARPZOV , Practica, P. I. Qu. II. n. 26. 50 Ebd., n. 25. Dies auch einleitend bei P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 1. 51 C ARPZOV , Practica, P. I. Qu. II. n. 29. 52 Der ‚Practica Nova’ fehlte eine klare Bestimmung des Begriffs der Zurechnungsfähigkeit, sodass dieser ein zentraler Streitpunkt war und blieb; H ÄRTER , Verhältnis, S. 204. David Lederer konnte für Bayern zeigen, dass der Geisteszustand und die damit verbundene Vorsatzproblematik auch für den Münchner Hofrat der ausschlaggebende Faktor für Entscheidungen über die Form der Beisetzung war; L EDERER , Madness, S. 254. 53 Einzig C ARPZOZ , Practica, P. I. Qu. II. n. 38 deutet an, dass Carpzov die Vermögenskonfiskation als an eine Vortat gebundene Strafe verstand. Allerdings werden in diesem Abschnitt die Folgen eines gescheiterten Suizidversuchs diskutiert, sodass sich meine Vermutung lediglich indirekt schlussfolgern lässt. Zur Vermögenskonfiskation nach Selbsttötungen jetzt eine ausführliche Darstellung für England, Schottland und Wales in H OUSTON , Punishing. <?page no="186"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 175 weise war dies auch eine Konsequenz aus der Tatsache, dass das sächsische Landrecht - wenn auch nicht in allen Ausgaben und Glossen - das Erbrecht der nächsten Hinterbliebenen von Suizidenten gestärkt hatte. Für diese Annahme würde auch sprechen, dass Carpzov den ‚schlechten Brauch’ des Henkersgeldes einzig dann gelten lassen wollte, wenn er durch Gewohnheitsrecht nachvollziehbar eingeführt worden war. Das Henkersgeld, das Einbehalten von Vermögen der Verstorbenen durch die Scharfrichter, sei, so Carpzov, nur vermeintlich ein Recht, weil es „nequam ipsis competere“. 54 Weitere zu diskutierende Strafformen waren der postmortale Vollzug einer (Todes-) Strafe für eine Vortat, etwa Gotteslästerung, sowie ein schändliches Begräbnis. 55 Carpzov erlaubte den Vollzug von Strafen am Leichnam bei den ‚delictis atrocissimis’, d. h. bei den schweren, peinlich zu ahndenden Delikten. Zwar sei es zweifelhaft, so Carpzov, ob bei einem Angeklagten, der „de crimine confessus, aut convictus, vel etiam condemnatus, in carcere ante executionem sibi manus intulerit“, 56 der Richter eine Bestrafung post mortem anordnen könne. Carpzov erlaubte eine solche postmortale Bestrafung an anderer Stelle jedoch ausdrücklich aus Gründen einer generalpräventiven Abschreckung. Im Gegensatz bspw. zu dem Helmstedter Juristen Eberhard von Speckhan (1550-1627) sah Carpzov diese Möglichkeit jedoch nicht an die Voraussetzung gebunden, dass bereits ein Urteil für die Vortat ergangen war. 57 Im Zentrum sowohl der strafrechtlichen als auch der kirchenrechtlichen Argumentation Carpzovs stand die Frage, ob Suizidenten ein ehrliches Begräbnis zu verweigern sei. Zunächst eindeutig antwortete Carpzov: „sepultura honesta denegatur“. Die Begräbnisverweigerung sollte aber nicht alle Suizidenten gleichermaßen treffen: Die ‚Practica Nova’ nahm diejenigen von einem Schandbegräbnis aus, „qui sine animo fraudulento, ex furore potius, melancholiâ, vel aliâ 54 C ARPZOZ , Practica, P. I. Qu. II. n. 32; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 112 mit weiteren Hinweisen auch zur sächsischen Rechtspraxis. Ferner N OWOSADTKO , Scharfrichter, S. 68 ff. und 81 ff.; S CHEFFKNECHT , Scharfrichter, S. 72 ff. Grebenstein geht davon aus, dass den Leipziger Scharfrichtern diese Anmaßung verboten wurde, weil „das Eigentum des Toten nicht in Staatseigentum überging“; G REBENSTEIN , Scharfrichter, S. 84 f. 55 P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 132 f. und ebd. Anm. 92 hat zu Recht festgestellt, dass ich diese juristisch wichtige Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Strafformen in K ÄSTNER , Leid, nicht genau beachtet habe, was zu Uneindeutigkeiten in meinen früheren Aussagen geführt hatte. 56 C ARPZOZ , Practica, P. I. Qu. II. n. 36, kursiv i. O. 57 Ebd., P. III. Qu. 131; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 123 f. und 136; R EGGE , Kriminalstrafe, S. 259. Vgl. auch M AIHOLD , Bildnis- und Leichnamsstrafen. <?page no="187"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 176 animi impotentiâ, sibi mortem consciverunt“. Aus Mitleid könnten diese Menschen würdig begraben werden. 58 Aus diesem Grundsatz ergaben sich aus mehreren Gründen Folgen für das Begräbnisrecht. Dieses zählte zu den genuinen Kompetenzen der Landeskirchen und daher verwundert es nicht, dass Carpzovs Diskussion der Suizidproblematik in den ‚Definitiones ecclesiasticae’ vorrangig um die Frage der Begräbnisformen kreiste. Carpzov hatte zwar festgestellt, dass eigentlich kein ‚Selbstmörder’ vollkommen ohne Schuld wäre, aber eben Grade von Schuld unterschieden werden müssten. Die Kirchen standen vor dem Problem, dass sie auf keinen Fall den Anschein erwecken durften, eine Selbsttötung gleichsam zu tolerieren, indem sie ein ehrliches Begräbnis mit vollen Zeremonien anordneten. Carpzov fokussierte sodann die Bestrafung des ‚Selbstmords’ auf das entehrende Begräbnis. 59 Da dieses aber den anderen Grundsätzen folgend nicht alle Suizidenten gleichermaßen hart treffen sollte, war es notwendig, ein nach Graden der Ehre und Unehre abgestuftes System der Beisetzungsformen nach Selbsttötungen zu entwickeln. Genau ein solches bildete Carpzov dann in den entsprechenden ‚Definitiones sepulturae’ sowohl in der systematischen Zusammenschau vorliegender Rechtsansichten als auch mit einer Wiedergabe von Begräbnisreskripten des Dresdner Oberkonsistoriums ab. Dementsprechend sollten ‚Practica Nova’ und ‚Definitiones ecclesiasticae’ hinsichtlich der Bestrafung des ‚Selbstmords’ aufeinander bezogen diskutiert werden. Die ‚Practica Nova’ sah als unabwendbare Konsequenz einer vorsätzlichen Selbsttötung ein schändliches Begräbnis an Fehmstätten vor, welches Carpzov als ‚sepultura canina’, Hundsbegräbnis, bezeichnete. 60 Mehrfach betonte er, dass er sich an viele solcher Hundsbegräbnisse erinnere und aus eigener Erfahrung kenne. Mit diesem Hinweis wurden sowohl die rechtspraktische als auch die traditionelle Bedeutung dieser Begräbnisform untermauert. Allerdings wollte Carpzov wohl noch auf einen weiteren Aspekt abheben. In den Abschnitten, in denen er die Möglichkeit einer über das Schandbegräbnis hinausgehenden, postmortalen Bestrafung der ‚Selbstmörder-Leiche’ diskutierte, betonte er, dass das erhoffte Ziel, nämlich durch öffentliches postmortales Strafen wie bspw. das Aufhängen der Leiche am Galgen, abzuschrecken, bereits durch ein Hundsbegräbnis zu erreichen sei. Insgesamt zielte die Argumentation also darauf ab, extreme Malträtierungen der Leichen auf wenige Ausnahmefälle zu begrenzen. 58 C ARPZOZ , Practica, P. I. Qu. II. n. 30; P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 157. 59 B UHR , Studien, S. 57 f. 60 C ARPZOZ , Practica, P. I. Qu. II. n. 30, 31. <?page no="188"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 177 In diese Richtung weisen m. E. auch die Lehrsätze 376, 379 und 380 der ‚Definitiones ecclesiasticae’, zumal insbesondere Def. 376 im Text eng an die Argumentation der oben dargestellten Passagen der ‚Practica Nova’ angelehnt ist; um hier nur einige Stichworte zu nennen: Beurteilung des Suizids im Zivilrecht; „Omne homicidium voluntarium est prohibitum“; das göttliche Recht verbietet den Suizid; ausführliche Zitation des Augustinischen Standpunkts; Selbsttötung ist größere Sünde als Tötung eines anderen Menschen; vorsätzlichen ‚Selbstmördern’ ist ein ehrliches Begräbnis zu verweigern. 61 Anschließend postulierte Carpzov auch hier, dass Selbsttötungen dann als noch verbrecherischer und sündhafter zu bewerten seien, wenn sie von Menschen wegen eines zuvor begangenen Verbrechens begangen würden, um sich der gerechten Strafe und einem belasteten Gewissen zu entziehen. Er schloss die Frage an, wie ein schändliches Begräbnis auszuführen sei. Ein solches nannte er hier alternativ ‚sepultura asina’ (Eselsbegräbnis). Abschließend stellte er den hinreichenden Strafcharakter eines schändlichen Begräbnisses an Fehmstätten fest: „Sepultura hæc satis pœnæ est seipsos necantibus“. 62 Es schließen sich einige Reskripte des Dresdner Oberkonsistoriums an, die den gleichwohl verbliebenen Gestaltungsspielraum für die Begräbnisurteile verdeutlichen. Auf die Urteils- und indirekt die Begräbnispraxis, die in diesen Dokumenten sichtbar wird, ist unten noch näher einzugehen. Die Ausnahmeregelungen brachte dann der folgende Leitsatz (Def. 377) auf den Punkt: „Jenen, die sich selbst aus Melancholie, Raserei oder einem anderen Unvermögen des Geistes den Tod zufügen, ist ein ehrliches Begräbnis nicht wirklich zu verweigern; jedoch sind jene nur mit eingeschränkten Zeremonien zu beerdigen“. 63 Beschränkungen der Bestattungszeremonien zielten darauf ab, dass auch solche Personen, wenn man so will, ‚bestraft’ wurden, aber eben nur mit arbiträren und Extraordinarstrafen. 64 Problematisch bleibt damit trotz eines um den Begriff des Willens zentrierten Verbrechensbegriffs die Bewertung solcher Suizide. Geistesschwache Suizidenten wurden eindeutig nicht frei von Schuld gesprochen, obwohl doch einzig der Wille Schuld auch begründen könnte. 61 C ARPZOV , Definitiones, Lib. II. Tit. XXIV, Def. 376 n. 1-9, Zitat Zusammenfassung n. 5, S. 577, kursiv i. O. 62 Ebd., Def. 376 n. 10-12, Zitat Zusammenfassung von n. 12, S. 577, kursiv i. O.. 63 Ebd., Def. 377: „Non verô privandi sunt honestâ sepulturâ, qvi exmelancholiâ[sic! ], furore, aliavè animi impotentiâ mortem sibi inferunt: ceremoniis tamen moderatioribus sepeliendi.“; Übersetzungsvorschlag A. K. oben im Text. 64 Ebd., Def. 377 n. 13 u. 14. <?page no="189"?> Kap. 4. Suizidgesetzgebung und juristisches Schrifttum 178 Diese Vorstellung lehnte sich an Augustinus an, denn Sünde, Verbrechen und Gottlosigkeit sei ein ‚Selbstmord’ dann, wenn er bewusst durch eigenen Willen herbeigeführt wurde. Fehle aber dieser Wille, dann wäre der Suizid weder Verbrechen noch Sünde: „Ut enim Augustinus ait, usqve adeò peccatum † malum est voluntarium, ut nullo modo peccatum sit, si non sit voluntarium“. 65 Carpzov aber hielt eine Beschränkung der Begräbniszeremonien auch im Fall nichtwillentlicher Selbsttötungen für gerechtfertigt. Diese Beschränkungen erscheinen wegen der Fokussierung der Suizidbestrafung auf unehrliche Begräbnisse somit als Extraordinarstrafe. Auch nach Def. 377 verdeutlichen einige edierte Reskripte des Dresdner Oberkonsistoriums mögliche Spielräume der Urteils- und Begräbnispraxis. Das Thema Begräbnis von Suizidenten beschließt Def. 378, in der die Beschränkung der Begräbniszeremonien von geistesschwachen und melancholischen Suizidenten eindeutig der Aufsicht, Einschätzung und Entscheidung kirchlicher Magistrate bzw. der Konsistorien unterstellt wird. Diese müssten in der Untersuchung von Selbsttötungen klare Beweise etwa für Wahnsinn oder Melancholie erbringen. Diese scheinbar klare Kompetenzzuweisung war allerdings in der Praxis umstritten. Die Kirchenbehörden bestanden nämlich meist darauf, in die Untersuchung aller Selbsttötungen einbezogen zu werden, um eben nach eventuellen Gemütszuständen zu fragen, die ein beschränkt würdevolles Begräbnis ermöglichten. Gerichte und Ämter unterließen dies allerdings häufig, weil sie sich umgekehrt als klar zuständig in allen Fällen verbrecherischen ‚Selbstmords’ wähnten und bereits dann schändliche Beisetzungen anordneten, wenn sich kein Verdacht auf Melancholie usw. eingestellt hatte. Die Kompetenz kirchlicher Behörden erstreckte sich, anders als Bernstein unterstellt hatte, nicht auf Kriminalfälle, die bestimmte Formen von Strafen nach sich zogen, etwa postmortale Malträtierungen der Leiche oder ein Schandbegräbnis, zu dem ein Scharfrichter verordnet werden musste. 66 65 C ARPZOV , Definitiones, Lib. II. Tit. XXIV, Def. 377 n. 9. Ähnlich ja auch der in der Einleitung dieser Arbeit bereits erwähnte Diego Covarruvias y Leyva: „vt voluntarium constituat delictum: involuntarium autem ab eo excuset“; C OVARRUVIAS , Opera, S. 532. 66 Vgl. hierzu auch die Einschränkung kirchlicher Kompetenzen bei C ARPZOV , Definitiones, Lib. I Tit. I., Def. 6. <?page no="190"?> Teil B. ‚Vita ante actam’ 179 Abb. B.4-1: Typen gescheiterter Suizidversuche und Strafen nach Carpzov. 67 Typen Strafe gescheiterter Suizidversuche Todesstrafe Verbannung oder Auspeitschen geringe Gefängnisstrafe Suizidversuch in nicht zurechen-barem Geisteszustand Nein Nein Nein unvollendeter Suizidversuch aus gescheiterter Habgier, Betrügerei o. Bankrottiererei Ja* möglich (? )* möglich (? )* allg. mit schuldhaftem Willen ausgeführte und gescheiterte Suizidversuche Nein Ja** Ja** gescheiterter Suizidversuch von Soldaten i. Ermessen*** i. Ermessen*** i. Ermessen*** * Nach Carpzoz, Practica Nova, P. I. Qu. II. n. 41 scheint die Todesstrafe zunächst unabwendbare Konsequenz. Carpzov unterscheidet gescheiterte Suizidversuche aber nicht nur nach den Motiven, sondern er stellt diese, so wie bspw. Heinrich Rauchdorn, 68 auch der Straflogik bei Totschlagsversuchen gegenüber - ein gescheiterter Totschlagsversuch hat nach allgemeiner Ansicht der Gelehrten (ebd. n. 46) nicht die Ordinarstrafe, sondern eine arbiträre Strafe zur Folge. ** Als mögliche Formen einer Ermessensstrafe. *** Die Strafen für gescheiterte Suizidversuche von Soldaten sind nicht dezidiert aufgeführt. Die Möglichkeit der Todesstrafe wird angedeutet (ebd. n. 42) Carpzov folgt der Ansicht, der Suizidversuch von Soldaten müsse tendenziell härter bestraft werden als der von Zivilisten, denn im Militär wiege der Suizidversuch aufgrund der hohen seelisch-charakterlichen Anforderungen schwerer. 67 Nach C ARPZOV , Practica, P. I. Qu. II. n. 37-50. Es handelt sich hier um eine Präzisierung des Schemas in K ÄSTNER , Seelen, S. 84 f. 68 R AUCHDORN , Practica, 4. Teil LXV, S. 372 f. <?page no="191"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 180 5. Ein melancholisches Zeitalter? Zur Häufigkeit von Selbsttötungen im 16. und 17. Jahrhundert 5.1. Befunde der Forschung In der Forschung wird diskutiert, wie verbreitet gesellschaftliche und individuelle Stimmungen und Mentalitäten waren, die die Häufigkeit von Selbsttötungen in der Frühen Neuzeit beeinflusst haben könnten. Hierbei konzentrierte sich die Diskussion für das 16. und 17. Jahrhundert vor allem auf zwei Aspekte: zum einen auf die Epidemiologie der Melancholie und deren möglichen Einfluss auf eine in frühneuzeitlichen Texten behauptete Zunahme von Suiziden im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts; zum anderen auf den möglichen Zusammenhang von Subsistenzkrisen und Suizidhäufigkeiten. Erik Midelfort hat verneint, dass eine Epidemiologie der Geisteskrankheiten und damit auch eine solche der Melancholie für die Vormoderne geschrieben werden könnte. 1 Hierfür sah er mehrere Gründe ausschlaggebend. Die Begriffe von Geisteskrankheiten und deren Semantiken wären vielfältig, häufig uneindeutig und unterlägen historisch-kulturellen Wandlungsprozessen. Auch lägen präzise Zahlen über das Ausmaß der Verbreitung von Geistes- und Gemütskrankheiten nicht vor und dürften auch zukünftig nicht zu erwarten sein. Angus Gowland konnte diese Sicht in einem überzeugenden Beitrag über das ‚Problem der frühneuzeitlichen Melancholie’ im Wesentlichen bestätigen. 2 Während Midelfort allgemein konstatierte, dass „die Melancholie als wichtiger Bestandteil der frühmodernen Weltanschauung an Bedeutung zunahm“, 3 hat Gowland detailliert nachgezeichnet, wie das Thema Melancholie flexibel in verschiedenen Diskussionszusammenhängen adaptiert und multipliziert wurde. Er benannte unter anderem die Dämonologie. Altbauer-Rudnik hat die Adaption des Themas am Beispiel von Texten über Melancholie aus Liebeskummer illustriert. 4 David Lederer erklärte, in eine ähnliche Richtung wie Gowland weisend, das Interesse frühneuzeitlicher Gelehrter an suizidalen Phänomenen im übergreifenden Kontext von Kampagnen gegen deviantes Verhalten und 1 M IDELFORT , Eiszeit 2 G OWLAND , Problem. 3 M IDELFORT , Eiszeit, S. 243. 4 A LTBAUER -R UDNIK , Love. Vgl. zum Stand der Melancholieforschung die Beiträge in Gesnerus 63, 1-2 (2006), Themenheft ‚Melancholy and Material Unity of Man, 17th-18th Centuries’. <?page no="192"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 181 deviante Gruppen, besonders während der Hexenverfolgungen. 5 Besonders, so Lederer, „die Wahrnehmung der wachsenden Macht des Teuflischen in der Welt der Menschen“ 6 hätte nicht nur Hexen, sondern auch ‚Selbstmörder’ für Wetterschäden und lokale Subsistenzkrisen verantwortlich erscheinen lassen, denn der ‚Selbstmord’ beschwor nach Meinung der Zeitgenossen den Zorn Gottes herauf. Sichtbare Zeichen dieser straftheologischen Deutung konnten Tumulte und Aufruhr gegen die Beisetzung von Suizidenten auf Kirchbzw. Friedhöfen sein. 7 Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Andere Forschungen haben darauf hingewiesen, dass es völlig unklar sei, „ob im Verlauf der Jahrhunderte von einer Eindeutigkeit der Deutungen auszugehen ist: dass es eben Gott war, der die Katastrophen als Strafe verhängte, oder ob wir in der Regel von einer Polyphonie bzw. Diversifikation der Deutungsangebote ausgehen sollten, wobei die theologische und religiöse Ursachenerklärung zunächst von der Suche nach naturwissenschaftlichen Erklärungen ergänzt und später sukzessive durch diese verdrängt worden wäre.“ 8 Angus Gowland beschreibt im Anschluss an Midelfort, wie Melancholie auf verschiedene soziale Gruppen einen Reiz zur Selbstetikettierung (der melancholische Gelehrte bzw. Adlige) aber auch zur Fremdetikettierung (die melancholische alte Frau) ausübte und wie sich das Thema Melancholie eng mit der populären Diskussion über Angst und Traurigkeit verband. Schließlich sei Melancholie auch deshalb so häufig thematisiert worden, weil man die Welt so wahrgenommen hätte, als würden sich gesellschaftliche Harmonien insgesamt auflösen. Gowland gibt somit eine komplexe und überzeugende Antwort auf die Frage, warum im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert derart viele Publikationen über Melancholie erschienen sind, die eine epidemische Verbreitung melancholischer Gemütszustände unter den Menschen behaupteten, 5 Für Kursachsen ist der Forschungsstand referiert bei S CHWERHOFF , Zentren. 6 L EDERER , Verzweiflung, S. 264 ff., Zitat S. 267; weniger überzeugend L EDERER , Selbstmord. 7 Jetzt L EDERER , Madness, S. 244 ff.; siehe ferner L EDERER , Verzweiflung, S. 267; L EDERER , Dead, S. 359 ff.; L EDERER , Aufruhr, S. 201 ff.; S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 147 f.; auch schon H D A 7, Sp. 1628. Siehe zu Friedhofstumulten unten Teil C, Kap. 7. 8 J AKUBOWSKI -T HIESSEN / L EHMANN , Religion, S. 11 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von E CHLE , Denken; zur Welt als ‚mundus symbolicus’ und zur frühneuzeitlichen Weltdeutung vgl. R OECK , Wahrnehmung. <?page no="193"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 182 wenngleich nur wenig empirisch belastbares Material für die historische Realität einer epidemischen Verbreitung melancholischer Gemütszustände spricht. 9 Sowohl Midelfort als auch Gowland teilten die Beobachtung, dass Theologen eine bedeutende Rolle für die frühneuzeitliche Debatte über Melancholie spielten. Midelfort hat zudem in einer früheren Studie darauf verwiesen, dass insbesondere und in großer Anzahl lutherische Theologen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geistige Anfechtungen ihrer Glaubensbrüder und - so ihre Wahrnehmung - ein zunehmendes Ausmaß von Furcht, Schwermut und Verzweiflung diagnostizierten. 10 Die katholische Konfessionspolemik popularisierte zeitgleich ein Bild verzweifelter und übermäßig zum Suizid neigender Protestanten. Midelfort hielt dieses Bild zwar für historisch wenig stichhaltig, erkannte in ihm jedoch die diskursiven Wurzeln einer bis heute gängigen Vorstellung, nach der sich Protestanten häufiger das Leben nehmen würden als Katholiken. David Lederer hat die Forschungen Midelforts um die Beobachtung ergänzt, um 1570 sei eine Zäsur zu erkennen, nach der die Stimmung der nachfolgenden Generation protestantischer Autoren in weitaus stärkerem Maß von einer pessimistischen Welteinschätzung und einem düsteren Weltverständnis geprägt war als zuvor. 11 Mithin illustrierte Lederer „eine merkwürdige quantitative Koinzidenz zwischen den drei Phänomenen: Selbstmord, Hexenverfolgungen sowie zyklischen Subsistenzkrisen“ anhand bayrischer und Augsburger Daten für den Zeitraum von 1570 bis 1635, den herausgehobenen Krisenjahren der sog. ‚Kleinen Eiszeit’. 12 Wolfgang Behringer hat in einem Aufsatz zur Krise von 1570 gezeigt, wie sich in dieser Hungerkrisenzeit ein gesellschaftliches ‚Klima der 9 Gowland selbst behandelt unter anderem Tagebücher und Aufzeichnungen von Ärzten, deren empirische Auswertung jedoch eher gegen eine zunehmende Verbreitung von Melancholie bzw. gegen die Annahme sprechen, es hätte sich hier um ein ausuferndes Massenphänomen gehandelt. Bis in die jüngere Zeit ging die Forschung sogar noch davon aus, dass die sogenannte stille Schwermut oder geistige Anfechtung anders als die Phänomene Wahnsinn oder Tobsucht zunächst von frühneuzeitlichen Autoren kaum thematisiert worden wären; siehe S CHÄR , Seelennöte, S. 92 und S. 307 f. Anm. 76. mit Verweisen auf die ältere Literatur. 10 M IDELFORT , Selbstmord, S. 305 passim. Auch in dieser Studie äußerte sich Midelfort insgesamt skeptisch gegenüber dem Aussagewert quantitativer ‚Daten’. Vgl. auch schon K OCH , Gabe. Mit parallelen Befunden zum lutherischen Diskurs aber mit einem weniger skeptischen Urteil über die Validität quantitativer Befunde L EDERER , Dead, S. 353 Anm. 17. 11 L EDERER , Verzweiflung. 12 Ebd., S. 259; vgl. auch schon Lederers Befunde in L EDERER , Dead, bes. S. 362 f. bzw. für das 17. Jahrhundert in L EDERER , Aufruhr, S. 203. <?page no="194"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 183 Verzweiflung’ entwickelte. Hierzu hat er auch einige Befunde Lederers aufgegriffen. 13 Beim derzeitigen Stand der Forschung ist allerdings unklar, wie sich die von Lederer beschriebenen Phänomene in einen überregionalen Vergleich einordnen - die von mir untersuchten Quellen können Lederers These weder widerlegen noch bestätigen. Für England konnten MacDonald und Murphy keine Korrelation zwischen Subsistenzkrisen und erhöhten Suizidzahlen in diesem Zeitraum feststellen. 14 Auch Stevenson konnte keine Korrelation feststellen, schloss aber ebenso wenig wie MacDonald und Murphy aus, dass es Zusammenhänge gäbe. Wichtig sind Stevensons Hinweise, dass die Auswirkungen andauernder Krisenzeiten nach bestimmten sozialen Kategorien differenziert betrachtet werden müssen. Seine Daten legen nahe, dass es vor allem die Schwächsten der frühneuzeitlichen Gesellschaft waren, die sich dem größten Druck im alltäglichen Überlebenskampf ausgesetzt sahen. Stevensons Befunde lassen daher vermuten - und das ist angesichts des quantitativen Überhangs männlicher Suizidenten erstaunlich -, dass für Frauen ein erhöhtes Suizidrisiko während anhaltender Krisenzeiten bestand. 15 Die in der Forschung präsentierten Daten machen deutlich, dass für das 16. Jahrhundert kaum valide Suizidraten vorgelegt werden können. Probleme ergeben sich häufig schon, wenn absolute Zahlen benannt werden sollen. Für das Alte Reich haben sich bislang allein die Überlieferungen der Reichsstädte Nürnberg und Augsburg als hinreichend umfangreich erwiesen. Für Nürnberg konnten für das 16. Jahrhundert 151 Suizide nachgewiesen werden, 16 eine im 13 B EHRINGER , Krise, insbes. S. 102 ff. Wichtig auch die Angaben ebd., S. 103 f. Anm. 186 zu einer Vielzahl zeitgenössischer theologischer Traktate, die den Zusammenhang von verzweifelten Gemütszuständen und Selbsttötungen thematisierten. Ein Teil der dort angegebenen Quellen war mir nicht zugänglich. 14 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 241 ff.: „between about 1560 and 1640, there was no overall correlation between prices and the suicide rate. And when economic and social conditions were at their very worst, in the mid-1590s and the 1620s, there was no jump in the average suicide rate, either” (ebd., S. 243). 15 S TEVENSON , Contributions, bspw. S. 238 ff. Stevenson differenziert zudem weiter nach Altersklassen. Seine Beobachtung lässt sich durch einen ebenfalls beobachtbaren Anstieg an Kindsmorden ergänzen, wie auch B EHRINGER , Krise, S. 103 ff. darstellt. Zum Zusammenhang von Armut und Suizid, den die Aufzeichnungen der englischen, frühneuzeitlichen Untersuchungskommissionen ebenso abbilden wie allgemeine Kommentare von Zeitgenossen siehe M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 270. 16 Vgl. die Liste von 150 Suiziden in D IESELHORST , Bestrafung, S. 186 ff.; Midelfort hat diesen einen weiteren hinzugefügt; M IDELFORT , Selbstmord, S. 306. <?page no="195"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 184 kontinentaleuropäischen Vergleich dichte Überlieferung. 17 In der Tendenz zeigt sich zwar eine übergreifende Zunahme registrierter Selbsttötungen im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Andere Städte wie etwa Augsburg weisen dagegen für das Ende des 16. Jahrhunderts einen deutlichen Rückgang registrierter Suizide auf. 18 Die Spannweite der quantitativen Befunde ist also erheblich. Bereits innerhalb einzelner Territorien lassen sich kaum sinnvolle Vergleiche ziehen. 19 Die Untersuchungseinheiten sind meist in ihren geografischen, sozialen und administrativen Voraussetzungen so verschieden, dass direkte Vergleiche diese Unterschiede jeweils berücksichtigen müssten, was aber nicht immer geschieht. 20 Schon die Forschungen zu kleineren Territorien legen nahe, dass weniger genaue Suizidraten für die Frühe Neuzeit studiert werden können als vielmehr langfristige Trends im interterritorialen Vergleich. 21 Ein solcher Trend scheint zu sein, dass im 17. Jahrhundert Selbsttötungen sensibler wahrgenommen und genauer registriert wurden. 22 Gleichwohl verzeichnen die Daten nicht immer einen durchgängigen Anstieg. Auch können die bislang vorliegenden Daten zu 17 Markus Schär führt bei insgesamt 511 Züricher Fällen aus den Jahren 1530 bis 1799 lediglich sieben Fälle für das 16. Jahrhundert an. Jeffrey R. Watt benennt für Genf im Zeitraum 1542 bis 1798 bei insgesamt 404 Fällen 14 nachweisliche Suizide im 16. Jahrhundert. Watt verzichtet auch, anders als für das 17. und 18. Jahrhundert, auf die Berechnung einer Suizidrate; W ATT , Death, S. 24. Karraß weist für das Hochstift Würzburg 25 Selbsttötungen aus, dem dann allerdings nur noch sechs weitere für das 17. und 18. Jahrhundert folgen; K ARRAß , Behandlung, S. 100. Karraß hat nur die urkundlich überlieferten Fälle aufgenommen. Das verweist darauf, dass sich die Quellen der Überlieferung, bedingt bspw. durch veränderte Untersuchungsverfahren und Umgangsweisen, im Verlauf der Frühen Neuzeit änderten. Für Kursachsen zeigt sich das, wie unten noch ausgeführt wird, besonders deutlich für das 18. Jahrhundert; s. u. Teil C. 18 L EDERER , Dead, S. 363. Dieser Tendenzbefund deckt sich für die letzten zwei Dekaden des 16. Jahrhunderts mit den Daten für die Grafschaft Kent; vgl. Z ELL , Suicide, S. 309. 19 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 360 ff. 20 Vgl. nur die völlig unsinnigen Zusammenstellungen bei B OBACH , Selbstmord, S. 80 ff. Die bislang einzige Ausnahme, die über den Vergleich reiner Daten auch einen direkten Vergleich der vorgelegten Interpretationen ermöglicht, bilden wohl die Studien Schärs zu Zürich und Watts zu Genf, die sich beide mit der Interpretation des Einflusses des reformierten Weltbildes auseinandersetzen und zu sehr widersprüchlichen Befunden gelangen; so auch P O -C HIA H SIA , [Rez.] Watt, Death. 21 Hierbei spielen allerdings auch die jeweiligen Forschungsinteressen eine Rolle: vgl. für eine soziologische Analyse frühneuzeitlicher Daten bspw. S TEVENSON , Contributions. 22 Vgl. neben den hier mehrfach erwähnten Studien H AIR , Note und O OSTERVEEN , Deaths. <?page no="196"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 185 einzelnen Regionen keinen Anspruch auf Repräsentativität und Vollständigkeit erheben. 23 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Registrierung von Selbsttötungen in der Frühen Neuzeit im Wesentlichen von vier Faktoren abhing: Erstens musste ein ‚Selbstmord’ als solcher erkannt 24 und zweitens nicht vertuscht werden. Drittens musste die Infrastruktur der Verwaltung so ausgebaut sein, dass der Fall aktenkundig gemacht, notiert und archiviert werden konnte. Dieser Prozess war viertens abhängig von der Feinjustierung obrigkeitlicher Wahrnehmungsmodi. 25 Darüber hinaus ist für die Überlieferung der Registraturen ein oftmals kaum näher bestimmbarer Verlust einzurechnen, wie sich bspw. auch in der Überlieferung des schwedischen Hofrats zeigt. 26 Zwar ist davon auszugehen, dass erst im 18. Jahrhundert territorial übergreifend die Voraussetzungen für eine verlässlichere Registrierung und Überlieferung entsprechender Daten bestanden haben. 27 Doch auch hier sind Ausnahmen erkennbar: David Lederers Studie zeigt, dass in Kurbayern nach einer Konjunktur der Aufmerksamkeit und Registrierung vor 1700 dann im 18. Jahrhundert die 23 Etwa Zahlen für Bayern bei L EDERER , Madness, S. 255. Karl Obser konnte nur aufgrund einer außergewöhnlichen Einzelüberlieferung für die Kurpfalz 43 Fälle für das 16. Jahrhundert anführen; O BSER , Selbstmordfälle. Für das Folgejahrhundert liegen keine Daten vor. Vera Lind hat für die Herzogtümer Schleswig und Holstein überhaupt keinen (! ) Fall für das 16. Jahrhundert benannt, ebenso wenig wie Karin Schmidt-Kohberg für Württemberg - daraus aber abzuleiten, es hätte in diesen Territorien im 16. Jahrhundert keine Selbsttötungen gegeben, ist selbstredend abwegig. Für das 17. Jahrhundert konnte Lind immerhin 39 Fälle auf Basis sehr heterogener Quellen nachweisen; L IND , Selbstmord, S. 471 f. Michael MacDonald und Terence R. Murphy haben für den langen Zeitraum 1485 bis 1714 beeindruckende 12.363 Fälle für England nachgewiesen. Sie zeigten sich allerdings von ihren Zahlen insofern unbeeindruckt, als sie nüchtern darauf hinwiesen, dass „even the long-term rise and fall in deaths reported to the central government over the centuries was determined mainly by the vigilance and laxity of the Crown’s efforts to supervise coroners and by cultural change“; M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 241. 24 Es gab „in every era a hermeneutics of suicide, a set of institutions, procedures, and beliefs that identified suicidal deaths and assigned them meanings.“; M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 221. 25 Winfried Schulze hat in einer grundlegenden Deutung die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts als durchzogen von Bewegungen charakterisiert, die sich gegen ein aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts resultierendes „Übermaß an Veränderung, ein Zuviel an Auflösung, ein Zuviel an Ordnungsverlust“ stemmten. Diese nach wie vor überzeugende Interpretation weist darauf hin, dass soziokulturelle Wandlungs- und Anpassungsprozesse die Menschen dieser Zeit, vor allem die Herrschafts- und Funktionseliten, für Krisensymptome wie Berichte über Selbsttötungen besonders sensibilisiert haben könnten; S CHULZE , Geschichte, S. 13. 26 J ARRICK , fråga, S. 109 Anm. zu Figur 1. 27 Diese Punkte bereits bei S CHÄR , Seelennöte, S. 31 ff. <?page no="197"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 186 administrativen Voraussetzungen für eine umfassende Registrierung von Selbsttötungen wegbrachen. 28 Zieht man die hier vorgestellten Unwägbarkeiten und Charakteristika der Überlieferung in Betracht, sollten mentalitätsgeschichtliche Interpretationen des vorhandenen Datenmaterials nur äußerst behutsam vorgenommen werden - für das 16. Jahrhundert verbieten sie sich häufig allein aufgrund mangelnder Daten. Wie ist die Situation der Überlieferung für Kursachsen? 5.2. Überlieferung und Quantifizierung von Suiziden in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert Zunächst einmal überrascht der Befund, dass trotz der vergleichsweise dichten Administrierung des Landes durch Ämter und andere lokale Herrschaftsträger in Kursachsen Selbsttötungen anscheinend nicht systematisch verzeichnet wurden. Das betrifft insbesondere die Ämter. 29 Insgesamt sind auch die Überlieferungsverluste erheblich. Das gilt insbesondere für die Akten des Leipziger Schöppenstuhls, die aufgrund von Kassationen derart lückenhaft sind, dass die neueste Studie zur Rechts- und Kriminalitätsgeschichte Kursachsens von Ulrike Ludwig trotz intensiver Auswertung dieser Quellen keine Urteile zur Behandlung von ‚Selbstmördern’ nachweisen konnte. 30 Es deuten nur noch Einzelfunde darauf 28 L EDERER , Madness, etwa S. 82 ff. und 244 ff. 29 Archivalische Probebohrungen zu den Ämtern Dippoldiswalde (S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10046 Amt Dippoldiswalde), Dresden (S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10047 Amt Dresden), Freiberg (S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10051 Kreisamt Freiberg) und Pirna (S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10062 Amt Pirna) kamen nicht zu weiterführenden Ergebnissen. Der überwiegende Teil der Überlieferung der Ämter bezieht sich auf Zivilrechtsverfahren, zu denen umfangreiche serielle Quellencorpora vorhanden sind. Ähnlich mager auch der Befund für die elektronisch aufbereitete Überlieferung des Amtes Chemnitz (S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30008 Amt Chemnitz). Für das Amt Dresden konnten einige wenige Fälle als separate Akteneinheiten zu Selbsttötungen ausgemacht werden, von denen aber nur der Fall des Postschreibers Thierich vor 1700 datiert und wohl auch nur deswegen eine Einzelfallakte angelegt wurde, weil Thierich sich vergiftet hatte und die Regierungsbehörden als Konsequenz aus dem Vorfall ein Verbot bestimmter Gifte in Dresden erließen (S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10047, Nr. 3984). 30 Zur Überlieferungssituation L UDWIG , Herz, S. 30: „Weiterführende statistische Ansätze sind angesichts der für Kursachsens zu veranschlagenden Lückenhaftigkeit kriminalitätsgeschichtlicher Quellen nicht möglich. Als besonders ungünstig hat die Kassation der Akten des Leipziger Schöppenstuhls, dem wichtigsten Spruchgremium in Strafsachen, zu gelten. Hier wurde vom alphabetisch nach den lokalen Gerichten abgelegten Bestand jeweils ein, immer wieder variierender Buchstabe für die verschiedenen Jahre in den Beständen belassen. Damit sind Aussagen zum quantitativen Umfang der geahndeten peinlichen Delikte in Kursachsen nicht möglich.“ (vgl. auch <?page no="198"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 187 hin, dass der Leipziger Schöppenstuhl, der ja die zentrale Spruchbehörde des Landes war, Urteile zum Begräbnis von Suizidenten verfasst hat. 31 Da die Landesherrschaft erst im 18. Jahrhundert alle regionalen und lokalen Herrschaftsträger dazu verpflichtete, über Unglücksfälle nach Dresden zu berichten, 32 lagen Selbsttötungen vor 1700 meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von Landesregierung und Geheimem Rat. In der Überlieferung des Geheimen Rates konnten nur einige verstreute Einzelfallakten ausfindig gemacht werden. Diese weisen jeweils besondere Umstände auf und verdeutlichen so, dass die Dresdner Regierungsbehörden nur in außergewöhnlichen Fällen über (versuchte) Selbsttötungen benachrichtigt wurden. Einige Beispiele: Der Pfarrer, allein dies schon bemerkenswert, 33 Johann Hertzogk tobte während seiner Haft 1580 in Leipzig und versuchte sich zu erstechen. Der Geheime Rat musste, nachdem der Leipziger Amtsschösser den Vorfall gemeldet hatte, über die weitere Verwahrung entscheiden. 34 Im gleichen Jahr tötete sich der kurfürstliche Kammermeister Hans Harrer in der Dresdner Silberkammer. Nach der Selbsttötung wurde der Vorwurf erhoben, Harrer hätte kurfürstliche Gelder veruntreut. 35 1585 konnte der Suizid der Adligen Sophia von Taubenheim gerade noch verhindert werden, die nach einer Anklage wegen Zauberei gegen den Kurfürsten in Untersuchungshaft saß. 36 Im Zusammenhang dieses Falles tötete sich auch der Zeuge Brosin Heinzschel, dem nach widersprüchlichen Aussagen vorgeworfen wurde, selbst gezaubert zu haben. Er erdrosselte sich mit einem Tuch, in das er ein Holzstück gelegt hatte, um sich die Gurgel abzudrücken. 37 1592 wollte in Leisnig Georg Reichel erneut für das Bürgermeisteramt kandidieren, was aber wegen eines einige Jahre zurückschon L UDWIG , Justitienfürst, S. 26). Beispiele für Sprüche nach Selbsttötungen bei W INCKLER , De mortis, S. 63 ff. 31 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30008, Nr. 527, o. Pag. eig Z. fol. 21. C ARPZOV , Practica, P. I, Qu. II, n. 39, 40 und 47 sowie P. III, Qu. CXXXI, n. 50 und 51. Für das 15. Jahrhundert K ISCH (Hg.), Schöffenspruchsammlung, S. 178, Nr. 205. 32 Hierzu ausführlich unten Teil C. 33 B ÜHLAU , Geistlichkeit, S. 84. Ich danke Stefan Dornheim für diesen Hinweis. 34 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9659/ 9. 35 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9699/ 17. Vgl. für weitere Quellen auch M ÜLLER , Hans Harrer. 36 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9691/ 2. Vgl. hierzu M AI , Fall. Ich danke Melanie Mai für den Hinweis auf diese und den nächsten Fall. 37 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9690/ 6. <?page no="199"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 188 liegenden Suizidversuchs auf Widerstand stieß, weshalb der Streit vor dem Geheimen Rat landete. 38 Die quantitativ unbefriedigenden Befunde auf der zentralen Ebene lassen sich auch durch lokale Tiefenbohrungen nur bedingt erweitern. Für Freiberg machen dies die Gerichtsbücher für den Zeitraum 1539 bis 1623 deutlich, die lediglich einen einzigen Fall verzeichnen: „Die Blasius Schechterin hatt sich zum fernern siechen in ein kleinen kemmerle an einem gürtel selbsten erhenckt. Den 19 septmb: 1566 vor mittag vngefärlich vmb 9 vhr ist durch bgmt. Gero idem den stadtrat vnnd Hanß Buttern vnnd Nicol Hammermüller besichtigt worden, von g[e]richts wegen“. 39 Außer der Tatsache des vollzogenen Suizids, der Suizidmethode und der gerichtlichen Besichtigung erfahren wir reichlich wenig. Um im Folgenden überhaupt zu weiterführenden Aussagen zu gelangen, wurde auf Akten zurückgegriffen, die umfänglicher über die Tätigkeit von Scharfrichtern Auskunft geben. Für Dresden und Freiberg sind zwei Akten überliefert, in denen für das 17. Jahrhundert insgesamt 23 Fälle geschildert werden. Hier wird nicht nur die Beteiligung der Scharfrichter an der Beseitigung der Leichen berichtet. Vielmehr verdeutlichen beide Akten auch die fallweise unterschiedlichen Instanzen, die über die Form der Beisetzung entschieden, unter anderem das Oberkonsistorium in Dresden. 40 Die Überlieferung des Oberkonsistoriums ist für das 16. und 17. Jahrhundert völlig unbrauchbar. Sie verzeichnet keine systematische Ablage zu Beisetzungen oder Unglücksfällen bzw. Selbsttötungen. 41 Relevante Bestände im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden sind zudem anderen Behörden zugeordnet, thematisch unsortiert und mitunter nicht zugänglich. 42 Auf drei Wegen wurde 38 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 8835/ 2, fol. 239 r ff. 39 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10686, Nr. 420, fol. 40. Ulrike Ludwig hat in ihrer Dissertation die Freiberger Gerichtsbücher für den genannten Zeitraum ausgewertet. Ihr verdanke ich den Hinweis auf diesen Fall. 40 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3 und 10686, Nr. 1. 41 Findbücher S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088 Oberkonsistorium als Kirchenrat [ehemals Magd. Rep. A 28 I und Rep. A 28 II, (Nr. 2)]; 5 Bde. 42 Findbuch S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025 Geheimes Konsilium, ‚Consistorialsachen’. Mit der Neustrukturierung der Bestände wurde den entsprechenden Akten allerdings wieder die nun neue Bestandsnummer des Oberkonsistoriums zugewiesen; einzelne Probebestellungen förderten überhaupt keine Akten zutage, weil diese nicht am angegebenen Standort lagen. <?page no="200"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 189 versucht, dieses Defizit der kirchlichen Überlieferung auszugleichen. Erstens wurde als Stichprobe eine systematisch abgelegte Sammlung von Reskripten an das Konsistorium in Leipzig für den Zeitraum 1602 bis einschließlich 1778 vollständig ausgewertet. 43 Zweitens wurde im Ephoralarchiv Pirna eine regionale 43 Die ausgewertete Reskriptesammlung des Oberkonsistoriums liegt in 47 Bänden für den benannten Zeitraum von 1602 bis 1830 nahezu geschlossen vor. Die Sammlung bildet demnach als serielles Quellencorpus den größten Teil des Untersuchungszeitraums ab und wurde für den Zeitraum von 1602 bis einschließlich 1778 (37 Bände) vollständig ausgewertet. Diese Einschränkung wurde vorgenommen, weil sich die Fallzahl der in diesem Zeitraum gefundenen Selbsttötungen bzw. als suizidgefährdet eingestuften Personen als äußerst gering erwies. In den ausgewerteten Bänden, die mehrere Tausend Reskripte umfassen, konnten anhand der Register lediglich 19 Selbsttötungen erhoben werden. Eine genaue Zählung war nicht möglich, weil die Register unsystematische Dopplungen enthalten, die einen Fall z. T. sowohl unter dem Ortsnamen als auch unter dem Namen der betreffenden Person verzeichnen. Darüber hinaus sprengte das Feld der in den Reskriptesammlungen behandelten Themen selbst den weiteren Rahmen dieser Arbeit, sodass nicht alle Reskripte systematisch erfasst wurden. Die Reskripte sind meist knapp gehalten, beziehen sich stets auf konkrete Anfragen an das Oberkonsistorium, verweisen aber zum Inhalt der behandelten Fälle in nahezu allen Fällen auf die ursprünglich beigefügten Akten und Beschlüsse, die wiederum nicht abschriftlich aufbewahrt wurden. Dieses Quellencorpus deckt nur einen begrenzten räumlichen Ausschnitt Kursachsens ab. Die Vollständigkeit der Ablage scheint intendiert gewesen zu sein, gleichwohl deuten einige Indizien auf Unvollständigkeit hin. Die Signaturen der ausgewerteten Bände lauten: S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2056/ 1, Loc. 2056/ 2, Loc. 2056/ 3, Loc. 2057/ 1, Loc. 2057/ 2, Loc. 2057/ 3, Loc. 2058/ 1, Loc. 2058/ 2, Loc. 2059/ 1, Loc. 2059/ 2, Loc. 2059/ 3, Loc. 2059/ 4, Loc. 2060/ 1, Loc. 2060/ 2, Loc. 2060/ 3, Loc. 2060/ 4, Loc. 2061/ 1, Loc. 2061/ 2, Loc. 2061/ 3, Loc. 2062/ 1, Loc. 2062/ 2, Loc. 2062/ 3, Loc. 2063/ 1, Loc. 2063/ 2, Loc. 2063/ 3, Loc. 2064/ 1, Loc. 2064/ 2, Loc. 2064/ 3, Loc. 2065/ 1, Loc. 2065/ 2, Loc. 2065/ 3, Loc. 2123, Loc. 2066/ 1, Loc. 2066/ 2, Loc. 2066/ 3, Loc. 2066/ 4, Loc. 2067/ 1, Loc. 2067/ 2. Die in den Akten erkennbare Zunahme an Quellen verdeutlicht die Ausweitung des Tätigkeits- und Zuständigkeitsspektrums der Territorialkirchenleitung im Untersuchungszeitraum. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts scheint das Oberkonsistorium nahezu ausschließlich mit Personalangelegenheiten und speziellen Heiratsanliegen beschäftigt gewesen zu sein. Hinzu kamen testamentarische Schenkungen an Kirchen und, ab 1613 in der untersuchten Reskriptesammlung nachweisbar, Beschwerden über einzelne Instanzen sowohl der weltlichen als auch der kirchlichen Administration. Es fehlt die Überlieferung zu den Jahren 1615 bis 1624. Der jedoch ab 1625 wieder rekonstruierbare Schriftverkehr verweist auf die sprunghaft angestiegene Arbeitsbelastung der zentralen Kirchenleitung und das damit verbundene Ablageproblem. Während zuvor die meisten Fälle noch ausführlich dokumentiert sind, wurden nun meist nur noch die Reskripte abschriftlich notiert. Die bis dahin gängige Praxis, den gesamten Schriftverkehr einschließlich der beim Oberkonsistorium eingegangen Berichte und Protokolle zu archivieren, wurde faktisch eingestellt. Damit ist das bereits angesprochene Problem verbunden, dass oftmals die Inhalte der behandelten Themen nicht mehr erkennbar werden, weil in den Reskripten oft lapidar auf angefügte „beyschlüsse“ oder Begehren verwiesen wurde. Insofern sind die Reskripte für sich genommen oftmals ohne größeren Aussagewert. <?page no="201"?> Kap. 5: Ein melancholisches Zeitalter? 190 Tiefenbohrung vorgenommen, die drittens mit gedruckten Quellen, Carpzovs Straf- und Kirchenrecht 44 sowie drei von Pastoren verfassten, regionalen Chroniken, 45 verglichen wurde. Ziel war es weniger, ein Fundament für retrospektiv-statistische Erörterungen zu legen, als vielmehr eine geeignete Datengrundlage zu schaffen, auf deren Basis abgesicherte Aussagen über die Verfahrensweisen nach Selbsttötungen getroffen werden konnten. Die erwähnte Reskriptesammlung hat für das 17. Jahrhundert lediglich zwei Suizidfälle zutage befördert. Indirekt zeigt sich, dass die Verfahren nach Selbsttötungen auf der regionalen und lokalen Ebene verhandelt wurden, also in den Superintendenturen, Stiftskonsistorien, dem Konsistorium Leipzig, den Ämtern, städtischen und Patrimonialgerichten, deren Überlieferung für die Frühzeit dieser Untersuchung aber, wie erwähnt, unbefriedigend ist. 46 Für den unmittelbaren Einzugsbereich des Oberkonsistoriums, in dem dieses als regionales Konsistorium agierte, fehlt eine der Reskriptesammlung an das Leipziger Konsistorium vergleichbar systematische Ablage von Schreiben im Sächsischen An der Überlieferungsdichte ist ein administrativer Einbruch in den Kriegsjahren 1634 bis 1640 feststellbar; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2059/ 3; dieser Band umfasst mit lediglich ca. 260 Blatt nur knapp ein Drittel des durchschnittlichen Umfangs der Akten und das für einen vergleichsweise großen Zeitraum von sechs Jahren. Beschwerden über defizitäre Amtsführungen usw. nahmen in den letzten Kriegsjahren seit 1640 signifikant zu; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2059/ 4 ff. Nach dem Krieg erweitert sich das Themenspektrum der Bescheide hin zu allen denkbaren Fällen, wie etwa dem Einsatz von Musik bei liturgischen Handlungen, Hochzeitsfesten bzw. generell dem umstrittenen öffentlichen Musizieren, später vielfach auch zu offenen Besoldungsfragen. Mitunter wurden umstrittene nächtliche Beisetzungen von Adligen verhandelt; vgl. hierzu auch K OSLOFSKY , Schande. 44 C ARPZOV , Definitiones, Def. 376-378 überliefert in den ausführlich zitierten Sprüchen des Oberkonsistoriums neun Fälle. C ARPZOV , Practica, P. I, Qu. II, n. 39, 40 und 47 sowie P. III, Qu. CXXXI, n. 50 und 51 überliefern fünf Sprüche. 45 F RENTZEL , Schau=Platz; L EHMANN , Schauplatz; M ELTZER , Historia. Zu den beiden letzteren D ORNHEIM , Pfarrhaus. 46 Die Überlieferung zu Suiziden im Dresdner Bestand des Konsistoriums Leipzig erschöpft sich mit der Ablage von vier Briefwechseln zwischen weltlicher und kirchlicher Administration in puncto Verfahrensweisen nach Selbsttötungen im 18. Jahrhundert; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10089, Nr. 142. Vgl. zudem die mittlerweile elektronisch aufbereiteten Findmittel zu den Stiftskonsistorien S ÄCHS HS T A D RESDEN , 13018; 13019, 13020 sowie die Bestände der Sekundogenituren 10117, 10118, 10119, die jeweils für das 17. Jahrhundert relevant erscheinende Akten aufführen. Diese wurden allerdings wegen der in der Einleitung angedeuteten territorialpolitischen Problematik nicht berücksichtigt. <?page no="202"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 191 Hauptstaatsarchiv, sodass keine Gegenprobe möglich war. 47 Die Sichtung des Ephoralarchivs Pirna förderte eine umfangreiche Überlieferung für das ausgehende 18. Jahrhundert zutage. Für das 17. Jahrhundert konnten dagegen nur 15 Fälle erhoben werden; für die Zeit vor 1600 fand sich kein Fall. Die gesichteten Akten deuten nicht darauf hin, dass die Kirchenverwaltung vor der Mitte des 18. Jahrhunderts Selbsttötungen systematisch aufgezeichnet hat. In der Summe erweist sich, dass verschiedene Herrschaftsträger die Kompetenz besaßen, nach Selbsttötungen über die Form des Begräbnisses zu entscheiden, sodass die Überlieferung von Suiziden und Suizidversuchen für das 16. und 17. Jahrhundert sehr zersplittert ist. Aus diesem Grund wird hier auch darauf verzichtet, die erhobenen Fälle grafisch darzustellen. Es ist nicht möglich, auch nur annähernd eine Entwicklung der Suizidhäufigkeit in Kursachsen für den genannten Zeitraum abzubilden oder zu beschreiben. Und weil die Akten der infrage kommenden zentralen Spruchbehörden (Leipziger Schöppenstuhl und Oberkonsistorium Dresden) kaum Informationen enthalten, kann für Kursachsen auch keine Aussage darüber getroffen werden, ob sich im 17. Jahrhundert die Muster der Ursachenzuschreibungen und Begräbnisentscheidungen im Vergleich zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts prinzipiell geändert haben. 47 Die ursprünglich im Bestand des Geheimen Konsiliums im S ÄCHS HS T A D RESDEN abgelegten Konsistorialangelegenheiten datieren frühestens auf die 1680-er Jahre. Wohl aufgrund der Revision in diesen Beständen konnten die von mir bestellten Akten nicht ausgegeben werden. Nach Sichtung der Bestandsübersichten zu den Superintendenturen im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden und im Landeskirchenarchiv Dresden habe ich mich aus pragmatischen Gründen (Erreichbarkeit, Öffnungszeiten, Erschließung der Bestände) für eine Untersuchung des Ephoralarchivs Pirna entschieden. Weitere Archive, wie das der Dresdner Superintendentur, weisen erhebliche Kriegsverluste auf bzw. verzeichnen keine relevanten Informationen. Vgl. bspw. Ev.-Luth. Kirchgemeindenverband Dresden. Kirchenbuchamt: Bestand (4-seitiges Typoskript) bzw. die im LKA D RESDEN vorhandenen Repertorien. Die Bestände der Dresdner Superintendenturen in den Struktureinheiten des Landeskirchenamtes weisen erhebliche bis völlige Kriegsverluste auf. Für weiterführende regionale Untersuchungen, die hier nach ersten Sichtungen und Gesprächen nicht zielführend erschienen, würden sich das Ephoralarchiv Freiberg sowie die im Landeskirchenarchiv Eisenach abgelegten Bestände der Inspektion des Kirchenkreises Neustadt an der Orla anbieten. Für Hinweise zu den Beständen der Ephoralarchive und des Landeskirchenarchivs Eisenach danke ich Stefan Dornheim. <?page no="203"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 192 6. Begräbnispraxis und Verwahrung suizidgefährdeter Menschen Zuletzt wurde in der Forschung am Beispiel Bayerns analog zum englischen Beispiel herausgestellt, dass für das 17. Jahrhundert ein deutlicher Anstieg der Diagnosen unzurechnungsfähiger Geisteszustände zu verzeichnen ist. Folglich sei auch von einer tendenziellen Abnahme entehrender Schandbeisetzungen auszugehen, die in der Regel an die Konstruktion eines Tatvorsatzes geknüpft waren. 1 Für Kursachsen stellt sich anhand der erhobenen Fälle, bei denen die Form der Beisetzung überliefert ist, das Verhältnis der Begräbnisformen für die Zeit vor 1700 wie folgt dar: 35 Schandbegräbnissen und fünf stillen Beisetzungen außerhalb des Friedhofs stehen 20 stille Beisetzungen auf dem Friedhof sowie sieben ehrliche Beisetzungen mit Zeremonien gegenüber. Aussagen über Entwicklungstendenzen sind hier nicht möglich. Zumindest aber scheint mir die Behauptung zulässig, dass diese Befunde die große Spannweite gerichtlich-administrativer Einschätzungen von Selbsttötungen und des Umgangs mit ‚Selbstmörderleichen’ in Sachsen im 16. und 17. Jahrhundert verdeutlichen. Dies und weitere Einzelbefunde zu untersuchungs- und entscheidungsrelevanten Faktoren werden in diesem Kapitel dargestellt. Die für Kursachsen gewonnenen Ergebnisse werden überdies in einen größeren Zusammenhang von Diskussionen und vergleichbaren Verfahrensweisen in anderen Territorien eingebettet, um einzuschätzen, inwiefern sie repräsentativ sind. 6.1. Begräbnisreskripte des Dresdner Oberkonsistoriums Der nachfolgend zitierte Entscheid des Oberkonsistoriums aus dem Jahr 1636 mag vor dem Hintergrund der bis hierhin referierten Befunde zunächst überraschen. In dem Schreiben, das über die zulässige Beisetzung eines gewissen Johann Bräsel informiert, heißt es: „[Es ist] vnser begehren, ihr wollet gestalten sachen vndt vmbständen nach, zumahl weil Bräsel das zeugnüß hat, daß er sonsten eine[n] christlig eingezogenen leben vndt wandel geführet, nach verlesung dieses die verordnung thun, damit der tode cörper mit ezligen schüllern vndt bußgesängen auch dem kleinen geläuthe biß vff den gottesacker begleithet vndt alda an einem absonderligen orth begraben werde“. 2 1 L EDERER , Madness, S. 255 ff. 2 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30008, Nr. 527, fol. 1. Vgl. auch K ÄSTNER , Bewertung, S. 75 f. <?page no="204"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 193 Die Beisetzung Bräsels sollte also durch Glockengeläut und Gesänge begleitet werden - Zeremonien und Rituale, die bei ‚Selbstmörderbegräbnissen’ eigentlich nicht stattzufinden hatten. Die Kenntnis dieser Entscheidung verdankt sich einem Überlieferungszufall, weil das Reskript des Oberkonsistoriums in einer Einzelfallakte des Amtes Chemnitz, die eigentlich zu einem anderen Fall angelegt worden war, enthalten ist. Wenngleich wir nichts Näheres zum Fall selbst erfahren, wird doch deutlich, dass der christliche Lebenswandel Bräsels für das Oberkonsistorium entscheidungsrelevant war. Wenn man bedenkt, wie differenziert die Diskussion über mögliche Beweggründe und Suizidursachen bereits im 17. Jahrhundert war, ist es zwar wahrscheinlich, dass nicht allein der christliche Lebenswandel, der ja häufig betont wurde, für das ehrliche Begräbnis Bräsels ausschlaggebend war, sondern ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Weitere entscheidungsrelevante Umstände gibt das Reskript jedoch nicht preis. Fest steht aber, dass Bräsels Leiche, begleitet von Geläut und Bußgesängen, auf dem Gottesacker begraben werden sollte. Das Oberkonsistorium entschied nicht ausdrücklich, an welcher Stelle des Friedhofs die Beisetzung stattfinden sollte. Überhaupt wurde diese Frage in der Regel nicht vom Oberkonsistorium entschieden und bot somit Verhandlungs- und Interpretationsspielraum. Es ist nicht auszuschließen, dass man Bräsel trotz Zeremonien abseits der normalen Reihe und eventuell sogar in einer Malefikantenecke begraben hat. Da das milde Reskript des Oberkonsistoriums der Formulierung nach jedoch kein solches Anliegen des Amtes oder des Pfarrers sondern vielmehr deren Bitte um ein ehrliches Begräbnis voraussetzt, ist selbst ein Begräbnis in der Reihe nicht auszuschließen. Wenngleich die noch vorhandenen Quellen zeigen, dass diese Entscheidung eher ungewöhnlich ist, sind es deren Umstände und die Tatsache einer Beisetzung auf dem Kirchhof keineswegs. Mir sind für das 17. Jahrhundert 20 Reskripte des Oberkonsistoriums zur Beisetzung von Suizidenten bekannt. In 14 Fällen entschied die oberste Kirchenbehörde, dass die Leiche still auf dem Kirchhof beizusetzen sei. In mehreren Fällen wurden einschließlich der Beisetzung Bräsels Zeremonien zugelassen bzw. einfach vollzogen. Meltzer berichtete in seiner ‚Historia Schneebergensis renovata’ von zwei Begräbnissen mit kleinen Schul- und Bußliedern nach Selbsttötungen, die als Folge eines krankhaften Anfalls bzw. Deliriums interpretiert wurden. 3 Carpzov gibt eine Entscheidung des Oberkonsistoriums im Fall eines Adligen aus Meißen wieder. Nachdem Umstände und mögliche Motive des Suizids gründlich untersucht 3 M ELTZER , Historia, S. 1045 f. <?page no="205"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 194 worden waren und sich die Kirchenräte, wie sie ausdrücklich schrieben, mit den weltlichen ‚Justitien-Räthen’ beraten hatten, wurde eine Beisetzung mit halben Zeremonien und einer Bußpredigt anstelle der üblichen Leichenpredigt zum Ehrengedächtnis gestattet. 4 1664 beschwerte sich der Dresdner Scharfrichter Benedict Wahl beim Kurfürsten, dass ihm kurz vor Ostern 1663 zehn Taler Lohn entgangen waren, weil ein Meißner Seifensieder, der sich erhängt hatte, auf Anordnung des Oberkonsistoriums vom Gesang einiger Schüler begleitet und ordentlich beigesetzt worden war. Der Beschwerde zufolge war dies auf Bitten der Meißner Seifensieder geschehen - vermutlich um Ruf und Ehre der Handwerker vor dem Scharfrichter zu schützen. 5 Demselben Scharfrichter waren im Dezember 1663 weitere sieben Taler Lohn entgangen, als der Suizident George Sanisch aus Goppeln auf Anordnung des Oberkonsistoriums ausdrücklich nicht durch den Nachrichter still auf dem Kirchhof beigesetzt wurde. 6 In der Regel ordnete das Oberkonsistorium stille Beisetzungen an. Die eben beschriebenen Beispiele belegen, dass mitunter bei Begräbnissen von Suizidenten gesungen und Glocken geläutet wurden. Hierfür bedurfte es aber jeweils besonderer Umstände. Das Oberkonsistorium kontrollierte zudem das Verhalten anderer Behörden. 1658 hatte man in Delitzsch die Witwe eines ehemaligen Bürgermeisters, die sich laut Bericht vorsätzlich in einen Brunnen gestürzt hatte, auf Anweisung des Leipziger Konsistoriums „mit völligen und christlichen ceremonien […] zur erden bestattet“. 7 Das Oberkonsistorium zeigte sich hierüber irritiert, auch weil der Delitzscher Superintendent für die Verstorbene eine Leichenpredigt, in der er ihr „bey tractirung der personalien ein gutes zeugknüs gegeben“, gehalten haben soll. 8 Um diese Vorwürfe zu überprüfen, verlangten die Dresdner Kirchenräte eine erneute Untersuchung des Lebenswandels der Frau 4 C ARPZOV , Definitiones, Def. 578, S. 581 f. 5 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 19 r . 6 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9841/ 3, fol. 18 v . 7 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 2, S. 167 [einziger Band der Reihe ausdrücklich mit Seitenzählung]. Trotz des Abtritts von Delitzsch an die Sekundogenitur Sachsen-Merseburg im Jahr 1657 blieb das Konsistorium Leipzig zuständig. 8 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 2, S. 167. Diese Leichenpredigt konnte mithilfe des Marburger GESA nicht ausfindig gemacht werden; es handelt sich nicht um die in der Universitätsbibliothek Göttingen überlieferte auf das Jahr 1658 datierende Leichenpredigt für eine Delitzscher Frau (UB Göttingen, Sign. II.135,15). <?page no="206"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 195 sowie eine Feststellung möglicher körperlicher wie geistiger Gebrechen. Über das weitere Verfahren ist nichts bekannt. 9 Dieser Fall informiert uns über die eigentliche Begräbnisproblematik hinaus darüber, dass das Oberkonsistorium ursprünglich nicht in den Entscheid über die Beisetzung einbezogen war. Vielmehr hatten das Leipziger Konsistorium und der Delitzscher Superintendent entschieden. Insgesamt belegt die äußerst geringe Anzahl von Anfragen an das Oberkonsistorium, die in der Reskriptesammlung an das Konsistorium Leipzig überliefert sind, dass über die Verfahrensweisen bei Selbsttötungen üblicherweise vor Ort ein Übereinkommen gesucht wurde. Das bestätigt den aus den gedruckten Consiliensammlungen gewonnen Eindruck. Aus den an das Konsistorium Leipzig gerichteten Schreiben geht deutlich hervor, dass man in Dresden bemüht war, die im Kompetenzbereich des Leipziger Konsistoriums vorkommenden Fälle auch in Leipzig, besser aber noch vor Ort durch Aushandlung zwischen Superintendenten, Amtleuten und Gerichten entscheiden zu lassen. 1699 hatte beispielsweise Urban Caspar von Feilitzsch um ein öffentliches Begräbnis seiner Mutter ersucht. Das Oberkonsistorium verwies, ohne in der Sache zu entscheiden, in seiner Antwort lediglich darauf, dass die Zuständigkeit beim Leipziger Konsistorium liege. 10 Lediglich in drei Fällen hatten das Leipziger Konsistorium bzw. Behörden aus dessen Zuständigkeitsbereich im 17. Jahrhundert nach Dresden berichtet, damit das Oberkonsistorium über das Vorgehen nach Selbsttötungen entschied. Der Schneeberger Rat schrieb 1680, um eine Anweisung zur Beisetzung eines Kapitänleutnants namens Kieselstein zu erhalten, der sich erschossen hatte. Das Reskript des Oberkonsistoriums richtete sich an Rat und Superintendenten zugleich, denen eine schändliche Beseitigung der Leiche durch den Totengräber oder Scharfrichter außerhalb der Stadt auferlegt wurde, „daferner von unserm Consistorio zu Leipzig nicht dergleichen verordnung bereits geschehen“. 11 In Dresden ging man also davon aus, dass das Leipziger Konsistorium ohnehin mit dem Fall beschäftigt wäre bzw. zu konsultieren sei. 9 Weshalb und von wem ursprünglich wegen dieses Falles nach Dresden berichtet wurde, ist nicht ersichtlich. Das Rückschreiben sagt lediglich: „Wir werden glaubwürdig berichtet“; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 2, S. 167. 10 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 3, fol. 57. 11 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 4, fol. 333 v . Vgl. auch die Schilderung des Falles bei M ELTZER , Historia, S. 1045. <?page no="207"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 196 In den ebenfalls nicht zahlreichen Fällen der Reskriptesammlung aus dem 18. Jahrhundert zeigt sich ein ähnliches Bild. Das Oberkonsistorium verwies jeweils direkt auf die Zuständigkeit der regionalen Superintendenten oder Konsistorien. Im August 1707 hatte bspw. der Amtmann aus Grünhain wegen der Beerdigung von Dorothea Canckersdörffer, von der man vermutete, dass sie sich ertränkt hatte, nach Dresden geschrieben. 12 Er wurde ebenso an das regionale Konsistorium verwiesen wie der Meißner Kreisamtmann im März 1711, in dessen Amtsbezirk im Dorf Pulsitz sich der Hirte Hanns Merzdorff an einer Weide erhängt hatte. Für dieses Dorf zeichnete das Stiftskonsistorium zu Wurzen verantwortlich. 13 Überliefert sind jedoch auch Begräbnisentscheide des Oberkonsistoriums für dessen unmittelbaren Zuständigkeitsbereich als regionales Konsistorium. Eine wichtige Quelle ist Benedict Carpzov. In den neun von Carpzov zitierten Oberkonsistorial-Reskripten zur Beisetzung von Suizidenten war in sechs Fällen auf ein stilles bzw. ein Begräbnis mit eingeschränkten Zeremonien entschieden worden, einmal auf die oben schon erwähnte, ehrenvolle Beisetzung eines Meißner Adligen mit halben Zeremonien. Lediglich in zwei Fällen erfolgte ein schändliches Begräbnis. 14 Einmal im Fall eines Töpfergesellen aus Crossen, über dessen Suizid nichts Näheres gemeldet worden war und in dessen Fall die vergleichsweise große Entfernung zum Amt Leisnig eine rasche Bearbeitung der weiteren Nachforschungen nicht wahrscheinlich machte. Möglicherweise hatte es auch an einflussreichen Bittstellern gefehlt. Zum anderen Mal sollte 1618 die Magd eines Meißner Schulmeisters durch den Nachrichter vom Strick abgenommen und außerhalb des Gottesackers begraben werden. Das Schreiben erklärt, dass die Entscheidung auf der Grundlage eines Berichts des Meißner Stadtrats zu den näheren Umständen der Tat basierte. 15 Dieser Bericht dürfte, folgt man dem Urteil, keine entlastenden Indizien zutage gefördert haben. Im letzten Fall schließlich erging ein Reskript an den Pirnaer Superintendenten. Dieser sollte den Freunden eines Steinbrechers, der sich das Leben genommen hatte, erlauben, dass sie selbst den Toten außerhalb des Kirchhofs ohne Zeremonien beisetzen bzw. beisetzen ließen. Auch in diesem Fall wurde zwar ein ehrliches Begräbnis verweigert. Allerdings gelang es der hinterbliebenen Freund- 12 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2061/ 3, fol. 254. 13 Ebd., fol. 543 r ff. Gleichwohl gehörte Pulsitz seit 1547 zum Verwaltungsbezirk des Erbamtes Meißen. 14 Vgl. jeweils die Anhänge zu C ARPZOV , Definitiones, Def. 376-378. 15 Ebd., Def. 376, S. 578. <?page no="208"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 197 schaft, mittels Supplikation eine schimpfliche Schleifung der Leiche durch den Nachrichter zu verhindern. In den Akten des Stadtgerichts Freiberg sind die Untersuchungen nach dem Suizid einer gewissen Anna Klem detaillierter und inklusive des Begräbnisentscheids des Dresdner Oberkonsistoriums überliefert. Anna Klem, Ehefrau des Bergschmieds Georg Klem, hatte sich im Mai 1643 das Leben genommen. Am Morgen ihres Todestages war sie den Angaben ihres 70-jährigen Ehemannes zufolge „frühe vmb vier vhr auffgestanden [und] hette fleissig gebetet“. 16 Kurze Zeit später fand Georg Klem seine Frau „im vntern eingang des kellers, mit dem halbentheil des leibes, auff der stuffe, mit den beinen aber druntten im keller auff der lincken seitte liegend welche ein weiß tüchlein vmb den halß geschlungen gehabt“. Anna Klem hatte sich erdrosselt. Die herbeigeholten Gerichtspersonen befragten den Bergschmied, ob er wohl bemerkt hätte, dass seine Ehefrau schwermütig gewesen sei. Dieser verneinte und gab stattdessen zu Protokoll, dass er „nie kein böses wortt von ihr gehöret“. Der ebenfalls befragt Pfarrer beschrieb Anna Klem als ehrbare und fromme Frau. 17 Gefragt, warum sich seine Frau wohl getötet hätte, antwortete Georg Klem, dass knapp eine Woche zuvor der Marktmeister erschienen wäre und von seiner Frau die üblichen Gebühren für einen Marktstand verlangt hätte. Daraufhin hätte sie über ihre materiellen Sorgen und Nöte gewehklagt. Sowohl das Stadtgericht als auch der Superintendent, der mittlerweile informiert worden war, berichteten daraufhin an das Oberkonsistorium nach Dresden. Den Berichten fehlte anscheinend das Attestat des Pfarrers, denn das Oberkonsistorium entschied, die Tote früh oder abends still auf dem Freiberger Gottesacker beisetzen zu lassen, „wenn sie denn ihres christlichen gefurten lebens vnd wandels halber, gutes zeugniß“ hat. 18 Im Fall Anna Klem hatte man die Gemütsverfassung ihres altersschwachen Ehemannes, der als Bergschmied zur ehrbaren Bürgerschaft gehörte, berücksichtigt. Gleichwohl war dieses Vorgehen nicht die Regel. Nach Suiziden von Kriminellen, Unbekannten und Menschen, für die keine mildernden Umstände in Betracht zu ziehen waren, kommunizierten die Stadtgerichte nicht zum Oberkonsistorium. In den anderen mir bekannten sieben Freiberger Fällen, 19 in denen das Stadtgericht oder das Amt die Beisetzungsform festlegten, wurden 16 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10686, Nr. 1, o. Pag., Registratur vom 28. Mai 1643. Dort auch das folgende Zitat. 17 Ebd., o. Pag., Schreiben vom 27. Mai 1643. 18 Ebd., o. Pag., Reskript vom 29. Mai 1643. 19 Ebd. <?page no="209"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 198 sämtliche ‚Selbstmörderleichen’ schändlich auf Fehmstätten verscharrt. Dreimal erging die Anweisung, die Leichen unter einem Galgen zu vergraben. Bezeichnend für die Ausnahmestellung des Falles Anna Klem und des Oberkonsistorial-Entscheids ist daher auch, dass diese Frau als einzige Suizidentin auf dem Friedhof beigesetzt wurde. Gleichwohl ist die Überlieferung hier verzerrt, weil die Quelle eine Akte des Stadtgerichts ist, in der verschiedene Vorgänge abgelegt wurden, bei denen eigentlich der für Freiberg zuständige Scharfrichter einzubeziehen war. 6.2. Lebensumstände Die Untersuchungen zu den Hintergründen einer Selbsttötung und die Begräbnisentscheidungen des Dresdner Oberkonsistoriums zeugen davon, dass man bemüht war, mildernde Umstände zu berücksichtigen. Dieses Bemühen zielte aber weniger darauf, vorhandene Normen zu unterlaufen. Auch ist dieses Bemühen kein Ausdruck eines nachlassenden Willens zur Bestrafung von Selbsttötungen, wie Daniela Tinková ein vergleichbares Agieren böhmischer Magistrate im 18. Jahrhundert interpretiert hat. 20 Die Fragen, die Amtleute und Gerichtspersonen, jeweils stellten, um sich Klarheit über einen Fall zu verschaffen, waren keine ‚Suggestivfragen’, wie Tinková annimmt, um möglichst viele ‚Selbstmörder’ für geistig unzurechnungsfähig zu erklären. 21 Vielmehr folgte die summarische Befragung der Spannweite normativer Vorgaben und war Ausdruck des Prinzips einer flexiblen Strafzumessung, die sich an individuellen Fallumständen orientierte. Dass die Kirchenbehörden nun auffällig häufig in jene Entscheidungen über Suizidentenbegräbnisse involviert waren, nach denen eine (stille) Beisetzung auf dem Gottesacker genehmigt wurde, ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass eine solche Beisetzung nicht ohne Zustimmung der Kirche stattfinden konnte. Die Frage, die sich hieran anschließend stellt, lautet: Lässt sich auch dann, wenn die Kirchenbehörden weder vorrangig an der Untersuchung von Suizidursachen noch an der Entscheidung über die Form der Beisetzung beteiligt waren, eine flexible Entscheidungspraxis belegen? Da uns die meisten Quellen über die eigentlichen Untersuchungen nicht näher informieren und wir nur die Ergebnisse kennen, kann lediglich exemplarisch argumentiert werden. Gleichwohl stehen die Beispiele nicht für sich allein, sondern ergänzen die bisher gewonnenen Erkenntnisse. 20 T INKOVÁ , Suicide, insbes. S. 303 ff. 21 Ebd., S. 305. <?page no="210"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 199 Im Juli 1646 berichtete der Wittenberger Amtsschösser Michael Schneider dem Kurfürsten vom „cläglichen fall“ des Reitknechts Abraham Schotter. Dieser hatte sich, ohne dass es vorher Anzeichen einer Suizidgefährdung gegeben hatte, im Stall seines Dienstherrn, des Wittenberger Hofrichters Hans Christoph von Ebeleben auf Wartenburg (1578-1651), 22 mit einem Messer das Leben genommen. 23 Die Ehefrau des zu dieser Zeit abwesenden Hofrichters, Agnesa geb. von Dohrstadt, bat beim Amt darum, dass sie die Leiche Schotters auf dem Gut der Familie (in Wartenburg) bestatten dürfe. Ganz ausdrücklich wollte die Frau des Hofrichters verhindern, dass der Leichnam „durch den scharffrichter beschimpffet“ würde. 24 Nachdem der Kutscher der Familie die Selbsttötung Schotters entdeckt und gemeldet hatte, bestellte die von Ebeleben den Amtsadjunkt Benedict Strauß ein. Dieser befragte die Frau des Hofrichters und den Kutscher. Agnesa von Ebeleben sagte aus, dass der Reitknecht Schotter ihrer Familie stets treu gedient hätte „vnndt diese böse that sonderzweifell aus melancholie verübet hatte, wollte sie nicht hoffen das vffm Chur.Sächß. hause, ihme, alß einem des herrn hoffrichters, diener einige beschimpfung geschehen solte“. 25 Über das Leben Schotters befragt, gab sie weiter an, der Reitknecht hätte regelmäßig die Predigten besucht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit gebetet und am Abendmahl teilgenommen. Überdies hätte er „gegen dem nechstenn ohne zank vnndt ärgernüß gelebet“. Kurz vor seiner Selbsttötung hätte er sogar noch eine Dienerin auf dem Schlosshof freundlich gegrüßt. Alles in allem blieben die Gründe der Selbsttötung rätselhaft. Den Aussagen seiner Dienstherrin zufolge war Schotter ein ehrbarer Christ gewesen. Die Vermutung, er habe sich aus Melancholie umgebracht, drückte daher hier wie so häufig vor allem aus, dass man sich die Tat nicht wirklich erklären konnte und Melancholie ein sowohl deutungsoffenes als auch gängiges und akzeptiertes Erklärungsmuster war. Das geht auch aus der Anfrage des Amtsschössers hervor, der das Gesuch der Frau des Hofrichters an die Juristenfakultät in Wittenberg weiterleitete. Er gab dabei an, selbst keine Bedenken gegen den Wunsch um eine Beisetzung auf Gut Wartenburg zu haben. Allerdings wollte er sich der Rechtmäßigkeit seines Vorgehens vergewissern. Auch er referierte die Vermutung, Schotter hätte sich 22 Auch Johann oder Johannes Christoff bzw. Christoph von Ebeleben. Dieser war neben seiner Tätigkeit als Hofrichter seit 1635 Amtshauptmann und seit 1645 Mitglied der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft’. 23 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9700/ 24. 24 Ebd., o. Pag., Bericht an die Juristenfakultät Wittenberg vom 14. Juli 1646. 25 Ebd., o. Pag., Bericht des Amtsadjunkten Benedict Strauß vom 14. Juli 1646. Dort auch die folgenden Zitate. <?page no="211"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 200 wohl aus Melancholie umgebracht. Dabei ergänzte er die Information, der Reitknecht habe „noch vor wenigen tagen vber trüken in der seitten vnndt im rücken geclaget“. Woher diese Information stammte, ist unklar, vermutlich aus der Befragung der Frau des Hofrichters und ihres Gesindes. Aus der Struktur der zwei Amtsberichte, d. h. des Berichts des Adjunkten sowie des Schreibens des Amtsschössers an die Juristenfakultät, lässt sich schlussfolgern, dass die Frau des Hofrichters zunächst von sich aus die Vermutung geäußert hatte, Schotter habe sich aus Melancholie das Leben genommen. Diese Begründung unterstützte ihr Anliegen, den Scharfrichter vom Begräbnis fernzuhalten. Daraufhin wurden sie und der Kutscher gefragt, welche Indizien für diese Vermutung sprechen würden, sodass sich rückblickend plausibel verschiedene Äußerungen Schotters in die vorgetragene Deutung integrieren ließen. Der Juristenfakultät lagen zur Begutachtung demnach verschiedene Argumente vor, um dem Gesuch der Frau des Hofrichters zuzustimmen: erstens Rang und Stellung des Dienstherrn. Zweitens das untadelige Dienstverhalten Schotters und drittens dessen friedfertiges Verhalten. Viertens das von hochrangigen Zeugen bestätigte fromme Leben Schotters, wenngleich ein Attestat des Pastors fehlte. Fünftens die daraus resultierende Schlussfolgerung, Schotter habe sich in einem melancholischen Anfall das Leben genommen. Die Juristenfakultät bildete aus diesen Argumenten eine eigene Summe und bezeichnete den Suizid als „vnfall“. 26 Da die Umstände also nicht gegen das Anliegen, die Leiche auf Gut Wartenburg beizusetzen, sprechen würden, erklärten die Wittenberger Juristen, der Amtsschösser sei dazu befugt, die Leiche in Beisein der Amtsgerichte zu besichtigen und ‚aufheben’ zu lassen. Danach dürfe sie „ohne beschimpfung“ - wie es ausdrücklich heißt - nach Wartenburg überführt werden. 27 Auch wenn in diesem Fall sicherlich eine Rolle gespielt haben dürfte, dass mit der Familie Hans Christoph von Ebelebens ein angesehenes Adelsgeschlecht betroffen war, geht doch aus der Untersuchung hervor, dass der bloße Hinweis auf den Status der Familie des Dienstherrn nicht ausgereicht hätte, um ein Schleifen der Leiche durch den Scharfrichter zu verhindern. Vielmehr beförderte die Untersuchung hinreichende Informationen zutage, die genügten, um eine stille Beisetzung zu genehmigen. 26 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9700/ 24, o. Pag., Reskript der Juristenfakultät Wittenberg vom 15. Juli 1646. 27 Ebd., o. Pag., Reskript der Juristenfakultät Wittenberg vom 15. Juli 1646. <?page no="212"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 201 Ein vergleichbarer Fall liegt mit der Untersuchung der Selbsttötung des Untergardisten Martin Seyfried Deckert 1654 in Dresden vor. 28 Deckert hatte sich im Morgengrauen des 2. Januar auf der Wache erschossen. Die Besichtigung durch den Schultheißen, einige Offiziere und einen Feldscher offenbarte einen schrecklichen Anblick, denn der Musketenschuss hatte Deckert die obere Schädelhälfte weggesprengt. Der Hauptmann der Festung Dresden und Kommandeur der Untergarde, Oberst Claus von Taube 29 (Bruder des Oberhofmarschalls Dietrich von Taube), unterrichtete den Geheimen Rat von dem Vorfall und schloss seinen ersten kurzen Bericht damit, dass er sich dafür aussprach, Deckert still auf einem Winkel eines Kirchhofs zu bestatten, wenn die Untersuchung ergäbe, dass er ein gottesfürchtiger Mensch gewesen war - „iedoch müste man vor die vmbstände seines lebens wißen“. 30 In Kooperation mit den städtischen Gerichten wurden deshalb Soldaten und Bedienstete befragt, die Deckert, der aus Nürnberg stammte, entweder persönlich gekannt oder mit ihm zusammen auf Wache gestanden hatten. 31 Dabei stellte sich heraus, dass Deckert „vorm halben ihare […] ziemblich melancholiret“. 32 Die melancholischen Anfälle Deckerts, die nicht genauer spezifiziert wurden, wären seitdem aber wieder abgeklungen. Es gab keine Klagen darüber, dass Deckert seinen Dienst nicht ordentlich versehen hätte. Wie üblich wurde auch danach gefragt, ob Deckert regelmäßig den Gottesdienst besucht hatte. Wie es heißt, war er immer „fleißig zur kirchen gangen“. Es fanden sich sogar zwei Zeugen, die während der Neujahrspredigt am Tag vor der 28 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9121/ 14. Zum Forschungsstand zum Suizid im frühneuzeitlichen Militär siehe meine Ausführungen in K ÄSTNER , Desertionen. Auch dieser Fall verdankt sich einer glücklichen Überlieferung, denn selbst in umfangreicheren Beständen von Militärgerichtsakten finden sich allenfalls vereinzelte Fälle. Eine im Zusammenhang eines DFG-Forschungsprojektes zur Geschichte des Duells in der Frühen Neuzeit gemeinsam mit Ulrike Ludwig durchgeführte Sichtung der Bestände des Königlichen Kriegsarchivs in Stockholm, das über eine vergleichsweise dichte Überlieferung an Militärgerichtsprotokollbänden verfügt, hat bei mehreren Dutzend untersuchten, z. T. recht umfänglichen Bänden lediglich einen Fall zu Tage gefördert; KKS, Domböcker 34, o. Pag., Begräbnisentscheid vom Januar 1701. 29 Claus von Taube auf Hartha, Goldbach, Frankenthal, Oberster der Festung zu Dresden und Amtshauptmann der Ämter Chemnitz, Augustusburg, Lichtenwalde, Frankenberg, Sachsenburg und Neusorge. Er hatte im 30-jährigen Krieg Meriten als Kommandeur eines berittenen Leibregiments erworben und starb wenige Monate nach diesem Vorfall im August 1654. 30 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9121/ 14, fol. 1 v . 31 Ebd., fol. 2 r ff. (Befragung der Kameraden) und fol 4 (Befragung des zivilen Umfeldes, insbes. der seinerzeit im Hause Deckert tätigen Hebamme). 32 Ebd., fol. 4 r . Dort auch die folgenden Zitate. <?page no="213"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 202 Selbsttötung neben Deckert gestanden und mit ihm zusammen „fleisigk gebetet“ hatten. Deckert hätte auch zu Hause immer viel von den Predigten wiedergeben können, wie die Hebamme der Familie aussagte. Gerade in jüngster Zeit hätte „er gar gottesfürchtige reden geführet“, während seine Frau noch im Wochenbett lag. Die älteren Kinder hätte er stets „zum gebeth angemahnet“. Allerdings kam es der Hebamme nun sonderbar vor, dass Deckert wenige Tage zuvor gesagt hätte „es speiete ihn baldt iedermann ahnn, er sehe ein hauffen kazen vmb sich lauffen“. Welche Suizidmotive sich möglicherweise hinter dieser Aussage verbargen bzw. ob sie überhaupt so gefallen war, interessierte in der Untersuchung dann allerdings nicht mehr. Es lagen hinreichend Indizien vor, um den Leichnam still auf einem Gottesacker zu bestatten. Die Entscheidung des Geheimen Rates ist allerdings nicht überliefert. Die Untersuchungen der Selbsttötung von Martin Deckert gestalteten sich exemplarisch. Neben den summarischen Befragungsprotokollen ist das Gutachten des Feldschers überliefert, das in der Essenz allerdings nur die absolute Tödlichkeit des Schusses bestätigte und keine eigenständigen Deutungen des Vorfalls enthält. In die Untersuchung waren keine Kirchenbehörden involviert. Gleichwohl war dem Festungskommandeur klar, dass eine stille Beisetzung des Gardisten - die wohl auch die kollektive Ehre der Untergarde weniger beeinträchtigt hätte als die Beseitigung der Leiche durch den Scharfrichter - nur dann erfolgen konnte, wenn dem Suizidenten eine zu Lebzeiten christliche Lebensführung nachgewiesen werden konnte. Die Untersuchungsverfahren und Themen der Befragung nach den Selbsttötungen von Abraham Schotter und Martin Deckert belegen so, dass übergreifend der Lebenswandel von Suizidenten gründlich erforscht wurde. Diese ‚Gründlichkeit’ hatte jedoch ihre Grenzen. Keinesfalls ging es darum, die Lebensgeschichten und -umstände von Betroffenen detailliert offen zu legen. Viel wichtiger war ein stimmiges Gesamtbild, dass eine grundsätzliche Aussage darüber erlaubte, ob es sich bei den Verstorbenen um Menschen gehandelt hat, die vor ihrem Suizid gottesfürchtig und friedlich gelebt hatten, d. h. regelmäßig Gottesdienst und Abendmahl besucht hatten und weder durch lasterhafte Reden noch sonst durch liederliches oder streitsüchtiges Verhalten aufgefallen waren. Typischer Ausdruck solcher verallgemeinernden Einschätzungen sind Protokollnotizen wie im Fall Deckert, die vermerkten, dass die befragten Zeugen ganz schlicht ‚nichts Böses’ gehört hatten bzw. über die Betreffenden aussagen konnten. Für ein stilles Begräbnis Deckerts hatte sich, wie ich oben dargelegt habe, der Festungshauptmann Oberst von Taube ausgesprochen. In einer anderen An- <?page no="214"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 203 gelegenheit hatte von Taube einige Jahre zuvor massiv beim Oberkonsistorium in Dresden wegen der Beisetzung eines Suizidenten aus Helbersdorf auf dem Kirchhof von St. Nikolai in Alten-Kemnitz protestiert. 33 1647 hatte sich der Helbersdorfer Richter Vettermann in einem Wäldchen erhängt. Der Superintendent, der den Richter anscheinend persönlich gut kannte, sah in diesem Suizid die Folge eines traumatischen Ereignisses während des Krieges. 1632 hätten kaiserliche Truppen den Richter gefoltert und mehrfach eine Hinrichtung durch Erhängen inszeniert, sodass Vettermann seit dieser Zeit nicht mehr richtig im Kopf gewesen sei. 34 Sowohl der zuständige Superintendent als auch der Kemnitzer Amtmann sowie alle zunächst befragten Zeugen und schließlich der Pfarrer von St. Nikolai hatten dem Richter überdies ein christliches Leben und eine langjährige Krankheit bescheinigt. Der Superintendent wollte sogar Gesänge und das Läuten der kleinen Glocke erlauben. Das Amt untersagte dies jedoch. Weil sich weder Verwandte noch die Freundschaft Vettermanns dazu bereitfanden, die Leiche in einen Sarg zu legen, schnitt der Kemnitzer Scharfrichter Schulze schließlich die Leiche los. Ohne dass Superintendent und Amtmann dem vorher zugestimmt hätten, verscharrte der Nachrichter die Leiche auch gleich selbst auf dem Kirchhof von St. Nikolai. Nach St. Nikolai waren auch andere umliegende Gemeinden eingepfarrt, die sich nun wenig erfreut über einen ‚Selbstmörder’ auf ihrem Kirchhof zeigten. Gegen den Schimpf und die Entehrung des Kirchhofs gingen die Einwohner von Neustadt unter dem Gut Höckericht vor. Besitzer dieses Gutes war Claus von Taube, vor dem der Fall referiert wurde. 35 Über die Gemeinde sei der Spott anderer Gemeinden hereingebrochen, weil der ‚Selbstmord’ des Richters in der Gegend für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Der Superintendent hätte die Einwände der Neustädter Gemeinde barsch ignoriert, ja sie sogar ex cathedra gescholten. Claus von Taube und sein Bruder Reinhardt (zu dieser Zeit Festungskommandant in Dresden) trugen daraufhin die Beschwerde beim Oberkonsistorium vor, welches eine Rechtfertigung des Superintendenten sowie eine Exhumierung der Leiche verlangte. Ein endgültiges Ergebnis in dieser Angelegenheit ist leider nicht überliefert. Superintendent und Amtmann verfassten jedoch ein in seiner Ausführlichkeit einzigartiges ‚testimonium vitae’ Vettermanns. Sie verwiesen darauf, dass für eine Exhumierung der Scharfrichter 33 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30008, Nr. 527, fol. 10. Helbersdorf bzw. auch Halbersdorf, heute Chemnitz OT Helbersdorf. Alten-Kemnitz, heute Chemnitz. 34 Ebd., fol. 16 r . 35 Ebd., fol. 11 r ff. <?page no="215"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 204 erneut den Kirchhof betreten müsste. Dies aber könne wohl kaum gewollt sein. Es wäre eine weitere „contagion“ zu befürchten. 36 Meiner Einschätzung nach zeichneten zwei Ursachen für die Unruhe der Neustädter Einwohner und für den Streit über das Grab Vettermanns verantwortlich. Zum einen waren die Beurteilungen der Todes- und Lebensumstände wohl weniger eindeutig als es Superintendent und Amtmann Glauben machen wollten. Die Neustädter Einwohner sowie Claus und Reinhardt von Taube sprachen sich vor allem deswegen gegen eine stille Beisetzung Vettermanns aus, weil sie davon ausgingen, der Richter wäre weder melancholisch noch ‚unsinnig’ gewesen, sondern hätte vielmehr „auß verzweiffelung vnd durch des bösen feindes antrieb mit dem strange sich vmbs leben“ gebracht. 37 Sie stellten also nicht prinzipiell infrage, dass Melancholiker usw. auch still auf dem Kirchhof beigesetzt werden konnten, wofür Claus von Taube wenige Jahre später nach dem Suizid des Untergardisten Deckert ja auch persönlich plädierte. Zum anderen, und das scheint mir ausschlaggebend gewesen zu sein, hatte der Superintendent die Neustädter Einwohner brüskiert, als er deren Einwände schroff abtat. Auch der Amtmann hatte verschnupft auf eine Nachfrage derer von Carlowitz auf Schloss Kemnitz reagiert, die wissen wollten, weshalb denn eigentlich eine Beisetzung auf dem Kirchhof erlaubt worden wäre und was der Scharfrichter dort zu suchen gehabt hätte. In der Regel waren alle Beteiligten vor Ort bemüht, einen Konsens in der Begräbnisfrage herzustellen. Dagegen hatten sich Superintendent und Amtmann (wohl im Bewusstsein ihrer Position und aus persönlicher Betroffenheit) im Fall Vettermann über vorgetragene Bedenken hinweggesetzt und so Widerstand provoziert. Vermittelt über die Brüder von Taube wurde der Fall alsbald in der Residenz verhandelt. Gleichwohl ist diese Form des Widerstands gegen Suizidentenbeisetzungen auf Kirchhöfen nach Aktenlage für die Zeit vor 1700 in Sachsen ein Einzelfall. Es handelte sich bei dem Widerstand gegen die Beisetzung Vettermanns auch deswegen um einen singulären Vorfall, weil die Beschwerde der Neustädter Einwohner für sich stand. Andere Gruppen der Pfarrgemeinde hatten entweder keine eigenen Einwände gegen das geplante Begräbnis oder verhielten sich passiv. In sonst vergleichbaren Fällen wurde mögliches Widerstandspotenzial über Wege der Konsensfindung meist im Vorfeld einer Beisetzung niedrig gehalten. 36 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30008, Nr. 527, fol. 19 v . 37 Ebd., fol. 10 r . <?page no="216"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 205 6.3. Erinnerungsgeschichten Die Präsenz eines Scharfrichters auf dem Kirchhof hatte, wie eben gezeigt, nach dem Suizid des Richters Vettermann aus Helbersdorf Aufsehen erregt. Das schändliche Verscharren oder das Verbrennen von ‚Selbstmörderleichen’ waren, so Ralf-Peter Fuchs, Herrschaftspraktiken, die im Vollzug eine mahnende Erinnerung stifteten. Entsprechende ‚Erinnerungsgeschichten’ sind in Verhörprotokollen ablesbar, denn Obrigkeit und obrigkeitliches Handeln waren in der Frühen Neuzeit grundlegende Ordnungskategorien und Bezugspunkte von individueller und kollektiver Erinnerung. Dabei symbolisierten insbesondere das Ausüben von Gerichtskompetenzen und öffentliche Strafen den Rang und die ‚Gewalt’ der Obrigkeiten. 38 Die Erinnerung an solche Ereignisse wurde aber nicht nur durch Erzählungen bzw. gerichtliche Protokollnotizen konserviert. Vielmehr ist eine große Fülle an gedruckten Ortskunden aus der Frühen Neuzeit überliefert, deren Autoren entsprechende, durchaus auch zur Unterhaltung gedachte Geschichten sammelten und kommentierten, um mit ihrer Hilfe zu belehren, zu mahnen, zu warnen sowie im rechten Glauben und rechten Moralvorstellungen zu unterweisen. Schaurige Geschichten von ‚frevelhaften Selbstmördern’ und deren Sterben fanden allerdings nicht immer die Gunst des Lesers, wie Stefan Dornheim bemerkt hat. Denn diese von individuellem Leid und Abgrund kündenden Geschichten waren zwar sonderbar und versuchten durch Grauen zu entzücken. Aber sie konnten aus Sicht einer Gemeinde, die zugleich Objekt der Darstellung und Leserschaft war, nicht der günstigen Außendarstellung des Gemeinwesens dienen. 39 Mich interessieren solche Geschichten, weil Ortskunden aus der Feder von Pfarrern Exempel von Selbsttötungen konservierten, die einerseits im Kompositionszusammenhang einer theozentrischen Geschichte nacherzählt wurden und andererseits das gleichsam volkskundliche Interesse ihrer gelehrten Verfasser an regionaler Tradition und ‚eingewurzeltem Volksglauben’ bezeugen. Solche Aufzeichnungen prägten das Bild, das nachkommende Generationen von der Vorstellungswelt und dem Alltag ihrer Vorfahren entwarfen. Die aus dieser Literaturgattung zugleich hervorgegangenen und um Abgrenzung von ihr bemühten Diskursfelder der aufklärerischen Publizistik 40 fanden in diesen Ortskunden düstere Kontrastfolien und ergiebiges Material, um ihre 38 F UCHS , Erinnerungsgeschichten, etwa S. 91, 100, 127, 133 f. 39 D ORNHEIM , Pfarrhaus, S. 150. 40 Siehe die Hinweise bei Ebd., passim. <?page no="217"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 206 Erzählungen von einer aufgeklärten Gesellschaft und einem humaneren Strafsystem zu entwerfen. Zu den bedeutendsten sächsischen Ortskunden zählen Christian Lehmanns (1611-1688) 1699 posthum erschienene, erzgebirgische Chronik ‚Historischer Schauplatz’ und Christian Meltzers (1655-1733) aus einem Predigtexempeldruck hervorgegangene ‚Historia Schneebergensis renovata’ von 1716. 41 Diesen beiden Chroniken werden hier exemplarisch die Erzählungen der jüngeren und wesentlich knapperen Ortskunde der oberlausitzischen Stadt Hoyerswerda gegenübergestellt. Diese wurde vom Pfarrer Salomon Gottlob Frentzel (1701- 1768) verfasst, 1744 publiziert und gilt als die zentrale heimatgeschichtliche Quelle der Region um Hoyerswerda. 42 Der Scheibenberger Pastor Christian Lehmann hatte eigenen Angaben zufolge seine Chronik „mit grossem Fleiß aus alten Schriften und Documenten, meistentheils aber mühsamer eigener Erfahrung“ kompiliert, darunter auch merkwürdige Geschichten wie Unglücksfälle. Er berichtete für die Jahre 1548 bis 1691 von 13 Selbsttötungen. In keinem dieser Fälle erwähnt er eine stille Beisetzung auf einem Friedhof. Zu vermuten ist, dass er dies aus didaktischen Gründen tat, denn dem Leser sollten Fälle vorgestellt werden, die allesamt Zeugnis ablegten von der „Furchtsamkeit wegen der auf den Wäldern Erhenckten oder auf dem Feld Begrabenen“, wie es in der entsprechenden Kapitelüberschrift heißt. Die von Lehmann berichteten Fälle sind keine repräsentative Auswahl an überlieferten Selbsttötungen und lassen auch keine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Differenzierung von Begräbnispraktiken zu. Sie bestätigen dagegen das Bild einer (vormodernen) Gesellschaft, die mit den Körpern von ‚Selbstmördern’ und den Orten ihrer Beisetzung vielfältige Glaubensvorstellungen und magische Rituale verband. Spannend ist, dass Lehmann im letzten der von ihm referierten Fälle ein gewisses Verständnis für den Suizid einer Bäuerin zeigte, die sich nach dem Tod ihrer verkrüppelten Tochter, für den sie sich selbst verantwortlich machte, aus Schwermut (wie Lehmann eigens hervorhebt) erhängt hatte. 43 Es ist dies der einzige Fall, der von Lehmann so geschildert wurde, dass die Tat emotional vom Leser nachvollzogen werden konnte. Lehmann schwieg sich in diesem Fall auch über die Form des Begräbnisses aus. Da er aber in der Regel angab, wie mit den Leichen der ‚Selbstmörder’ umgegangen wurde und 41 L EHMANN , Schauplatz; M ELTZER , Historia. Zu diesen beiden Chroniken und ihren Autoren siehe die Ausführungen bei D ORNHEIM , Pfarrhaus. 42 F RENTZEL , Schau=Platz. 43 L EHMANN , Schauplatz, S. 72. <?page no="218"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 207 wegen der didaktischen Absicht des Textes, ist zu vermuten, dass er in diesem Fall einfach die stille Beisetzung auf dem Gottesacker, die plausibel anzunehmen ist, unterschlagen hat. 44 Lehmann bezog jeweils die knappen Charakterisierungen der ‚Selbstmörder’ und die Formen der Beisetzung aufeinander. Für sieben von 13 Personen berichtet Lehmann von einem schlechten Charakter oder offenkundiger Verzweiflung. So soll ein Joachimsthaler Witwer und Apostat 1666 kurz vor seinem ‚Selbstmord’ im Ratswald seine Tochter an einige Juden verkauft haben und sich wegen der deshalb anstehenden Kriminaluntersuchung erhängt haben. Lehmann kommentiert diesen legendenhaft anmutenden Fall mit den Worten: „Dergleichen verzweiffelte Selbstmörder sind offt aufs Feld oder im Wald begraben worden“. 45 Auch im Fall von Balthasar Baum, einem Richter aus Unterwiesenthal (1610), war die Sache anscheinend schnell geklärt: Er sei ein ausgemachter Trunkenbold gewesen und soll, bevor er sich erhängte, seine schwangere Frau vergiftet haben. In diesem äußerst frevelhaften Fall von Mord und ‚Selbstmord’ besorgte der Scharfrichter das Verscharren der Leiche und zog den Toten unter der Türschwelle seines Hauses heraus auf ein Feld, wo er den Mörder und ‚Selbstmörder’ eingrub - „darbey es viel Leute hat erschrecket“, wie Lehmann anfügte. 46 Eine Frau, die sich aus Geiz das Leben genommen haben soll, wurde 1647 ebenfalls vom Scharfrichter an einem Berg eingescharrt, nachdem ihre Leiche geschunden worden war. In fünf weiteren Beispielen erzählte Lehmann die Geschichten so, als seien die Suizide plötzlich und unerwartet geschehen. In der Tradition lutherischer Sinngebungen des Suizids deutete Lehmann an, dass eine teuflische Macht ihre Hand im Spiel gehabt haben müsse, die die armen Menschen mit plötzlicher Gewalt übermannt habe. So habe bspw. Barthel Vogel 47 aus Zwönitz, der sich auf dem Rückweg von Joachimsthal befand, von wo er einige Töpfe geholt hatte, im Wald einfach seine Töpfe niedergelegt, sei davon gerannt und habe sich an einer anderen Stelle des Waldes erhängt. Die Leiche wurde hängen gelassen und sollte ohne Begräbnis im Wald verwesen. Einige ‚Selbstmorde’ 44 Der betreffende Abschnitt ist verhältnismäßig kurz. Alle Aussagen im Folgenden beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf L EHMANN , Schauplatz, S. 70 ff. 45 Ebd., S. 71. 46 Ebd., S. 71. 47 Die Suizidenten wurden von Lehmann alle mit Namen genannt, d. h., er kannte sie entweder persönlich oder aber sie waren in den ihm zur Verfügung stehenden Dokumenten namentlich erwähnt. Anders als in den offiziellen Reskripten der kursächsischen Spruchbehörden, die Carpzov zitiert hatte (s. o. Kap. 4), verzichtete er auf eine Anonymisierung. <?page no="219"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 208 werden auch so geschildert, als ob sie offenkundig Folge eines bösen Tatvorsatzes gewesen waren und deshalb hätten bestraft werden müssen. In diesen Fällen wurden die Leichen alle schändlich behandelt, in Löcher im Wald geworfen, hängen gelassen bzw. auf einem Feld oder im Wald verscharrt. Wie Lehmann am Beginn seiner Aufzählung vermerkte, würden alle diese Beispiele belegen, wie die Waldteufel ein Gelächter anstoßen würden, wenn Menschen im Wald erschlagen oder sich selbst umbringen würden. Auch seien die Orte des Todes oder der Beisetzung unheimliche Orte. 1649 hätte zum Beispiel „der Satan den Ort sehr unheimlich gemacht“, an dem die Leiche des „desparaten“ Borkenwirckers Michael Lorentz verscharrt worden war. Und auch von einer Wiedergängerin wusste Lehmann zu berichten und komplettierte so die Aufzählung wundersamer Begleiterscheinungen von Selbsttötungen. Am 15. August 1672 hatte sich in Mittweida Catharina Singer, eine junge Ehefrau, auf dem Oberboden ihres Hauses erhängt. Zwei Schinderknechte stießen sie von dort aus dem Haus herunter und verscharrten ihre Leiche am Waldesrand, wo die Tote „hernach die Leute auff dem Kirchsteig offt bethöret hat“. 48 Lehmann beschrieb vor allem einen bestimmten Typus von ‚Selbstmördern’. Bis auf eine Ausnahme nahmen sich in allen seinen Beispielen Menschen vorsätzlich und aus verwerflichen bzw. teuflischen Beweggründen das Leben. Weitere Erläuterungen erübrigten sich damit. Deshalb spiegeln sich in Lehmanns Chronik weder die häufig sehr akribischen Untersuchungen von Tatumständen und ‚Täterbiografie’ noch der durchaus unterschiedliche Umgang mit Suizidenten, wie ich ihn bereits herausgearbeitet habe. Differenzierter zeigt sich dagegen die Schneeberger Chronik Christian Meltzers, was dem tendenziell anderen didaktischen Anspruch Meltzers an seinen Text geschuldet ist. Meltzer wollte zur Warnung darstellen, dass Gott selbst aus unterschiedlichen Gründen das Gericht eines ‚Selbstmords’ bzw. Unglücks verhänge - und ebenso unterschiedlich wie Umstände und Gründe konnten auch die Konsequenzen sein. 49 Christina Müllerin, Ehefrau eines Fuhrmanns, ertränkte sich zwar 1715 ebenso wie eine andere Frau, deren „Brandeweinsichtige Gurgel“ allseits bekannt gewesen sei. Aber im Gegensatz zu dieser „detestablen“ Frau, deren Schandbegräbnis der Leser sich vorzustellen hatte, hätte die Müllerin „Sontags vorhero im Hauß communiciret […] wie sie 48 L EHMANN , Schauplatz, S. 72. 49 M ELTZER , Historia, explizit gleich am Beginn des entsprechenden Abschnitts S. 1044. Vgl. für die folgenden Ausführungen ebd., S. 1044 ff. <?page no="220"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 209 dann Sontags Abends auff dem Grießbächer Kirchhoff“ bestattet wurde. 50 Meltzer bestätigt hier, wenngleich mit einem Beispiel aus dem frühen 18. Jahrhundert, dass Suizidenten, denen ein christlicher Lebenswandel beschieden wurde, still auf Friedhöfen beigesetzt wurden. Für die Jahre 1566 bis 1715 berichtete Meltzer von insgesamt 17 (mutmaßlichen) Selbsttötungen, zwei Begräbnissen mit kleinen Zeremonien, vier stillen Beisetzungen, die alle nach 1695 datieren, und fünf Schandbegräbnissen. In fünf Fällen ist nichts über das Begräbnis ausgesagt und in einem Fall wurde die Leiche einer ‚Selbstmörderin’, die sich ertränkt hatte, wieder fortgeschwemmt, weil sich die Gerichte nicht darüber einigen konnten, wer für die Beisetzung zuständig sei. Einen Fall, den Meltzer beschrieb, konnte ich anhand von Dokumenten des Oberkonsistoriums archivalisch verifizieren. 1680 hatte sich Johann Bartholomaeus Bardarini von Kieselstein, ein kroatischer Rittmeister in kurfürstlichen Diensten, im Gasthof zum Goldenen Löwen in Schneeberg mit einer Pistole erschossen, die er mit drei Kugeln geladen hatte. Zur Erinnerung an den Vorfall beließ man die drei Einschusslöcher in der Wand des Gasthofraums. Für diese Selbsttötung ist das Reskript des Oberkonsistoriums an den Zwickauer Superintendenten und an den Rat von Schneeberg überliefert. 51 Vermutlich hatten sich diese nach Dresden gewandt, weil es sich um den aufsehenerregenden Suizid eines hochrangigen Militärs handelte. Das Oberkonsistorium entschied, der Leichnam solle durch den Totengräber oder Nachrichter nachts aus der Stadt geschafft und dort abseits verscharrt werden. Aus dem Reskript selbst geht nichts über die Umstände des Falles hervor. Meltzer berichtete aber, der Rittmeister wäre wegen des Todes von Kurfürst Johann Georg II. in eine tiefe Verzweiflung gefallen und hätte sich aus diesem Grund erschossen. Ferner belegte Meltzer, dass die Anweisung des Oberkonsistoriums auch befolgt wurde. Die Leiche wurde nachts aus der Stadt geschleift und am sogenannten Wolfsberg eingescharrt - Meltzer kommentierte lakonisch: „so denckt man darbey billich, dieser greuliche Wolff habe nichts bessers verdienet“. 52 Ähnlich knapp und eindeutig fallen auch andere Kommentare aus. Am Schluss der ‚Selbstmord’- Exempel werden dann die mahnende Absicht und Bußpredigerfunktion des Textes noch einmal deutlich: „Vor solche und dergleichen andere grausame 50 M ELTZER , Historia, Zitate S. 1048 f. 51 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10088, Loc. 2060/ 4, fol. 333 v . 52 M ELTZER , Historia, S. 1045. <?page no="221"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 210 Versuchung wolle der fromme GOtt alle getaufte Christen bewahren durch Christum“. 53 Weniger belehrende Absichten verband dagegen Salomon Gottlob Frentzel mit seiner Auflistung merkwürdiger Begebenheiten in der oberlausitzischen Erb- und Standesherrschaft Hoyerswerda. Er berichtete von 17 Selbsttötungen im Zeitraum von 1657 bis 1742, die sich entweder in der Stadt Hoyerswerda oder in einigen umliegenden Dörfern ereignet hatten. Seine Aufzeichnungen weisen damit bereits weiter über den Untersuchungszeitraum dieses Kapitels hinaus auf die Entwicklung im 18. Jahrhundert. Frentzel wollte vor allem die Geschichte seiner Heimatherrschaft in einem umfassenden Sinn, zugleich aber so knapp wie möglich dokumentieren. 54 Seine und die Ortskunden von Lehmann und Meltzer unterscheiden sich, abgesehen vom zeitlichen Abstand ihrer Entstehung, vor allem im unterschiedlich ausgeprägten Dokumentationsanspruch, der bei Frentzel weniger umfassend war. Dies erkennt man zum einen an folgender Erklärung Frentzels in seiner Vorrede an den Leser: „In de[m] Capitel von merckwürdigen Sachen, sind mit Fleiß einige Casus mit Stillschweigen übergangen, oder nur die Anfangsbuchstaben derer Personen, mit denen etwas vorgegangen, gesetzet worden, damit deroselben hinterlassene Familiæ nicht gekräncket werde[n]“. 55 Anders als Lehmann und Meltzer versuchte Frentzel also, die Vorgänge aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen zu anonymisieren. Allerdings war er hier aus unterschiedlichen Gründen nicht konsequent. Neben einigen offensichtlich wendischen Nachnahmen nannte er ausdrücklich im letzten Fall den vollen Namen: Der Strumpfstricker Christian Vetter hatte sich 1742 erhängt und war zuvor wegen misslungener Suizidversuche, dem Verdacht seine erste Ehefrau erschlagen zu haben und einem insgesamt liederlichen Lebenswandel, der ihm mehrfach Rügen der Geistlichkeit eingebracht hatten, aufgefallen. 56 Sein Vater, der als Ratsverwandter sowie Kirchen- und Hospitalvorsteher eine ranghohe Person in Hoyerswerda gewesen war, hatte sich 1714 aus Melancholie, wie Frentzel berichtete, ebenfalls erhängt. 57 Dessen Namen hatte Frentzel zwar durch die bloße Nennung der Anfangsbuchstaben unkenntlich gemacht, dann aber in einer Anmerkung zum Fall Christian Vetter, auf den Suizid des Vaters 53 M ELTZER , Historia, S. 1049. 54 F RENTZEL , Schau=Platz, Vorrede an den Leser, o. Pag. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 300 ff. 57 Ebd., S. 298. <?page no="222"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 211 verwiesen und so doch noch den Familiennamen verraten. Möglicherweise hatten Frentzel persönliche Verwicklungen in diesen Fall zu diesem Vorgehen verleitet, denn die Charakterisierung Vetters legt nahe, dass Frentzel diesen selbst wegen dessen Lebenswandel gerügt hatte. Zum anderen lässt sich an Frentzels Ortskunde, stärker noch als an Meltzers ‚Historia Schneebergensis’, eine Entwicklung anhand der unterschiedlichen Begräbnisformen nach Selbsttötungen beobachten. Mit Hilfe von Frentzels Aufzeichnungen lässt sich zwar das Ausmaß des Suizidgeschehens in der Herrschaft Hoyerswerda nicht darstellen - die Lückenhaftigkeit seiner Ortskunde hatte Frentzel selbst benannt. Aber ihm ging es eben darum, Typisches aufzuzeichnen und damit Verallgemeinerbares zu bewahren. Er berichtete jeweils von sechs Hundsbegräbnissen und sechs stillen Beisetzungen auf dem Kirchhof. Auffällig ist, dass bei fünf von sechs Schandbeisetzungen die Leichen vom Scharfrichter unter dem Galgen verscharrt wurden, nur einmal an der Flurgrenze zweier Ortschaften. 58 Auch hier war also das Wirken des Scharfrichters das eigentliche Spektakel gewesen, an das man erinnerte. Bei den stillen Beisetzungen ist ein zeitlicher Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erkennen. Lediglich ein stilles Begräbnis datiert Frentzel vor 1700. 1686 wurde in Tätschwitz bei Hoyerswerda die Leiche von Simon Mahro (auch dieser Name ist nicht anonymisiert) den Hinterbliebenen zum stillen Begräbnis übergeben. Über die Umstände der Selbsttötung berichtete Frentzel noch weniger als in ‚seinen’ anderen Fällen. Dieser Vorfall war für ihn vor allem deswegen der Aufzeichnung wert, weil das Begräbnis „auf Churfürstlichen Befehl“ geschehen sein soll und Ehefrau und Vater des Toten trotz des stillen Begräbnisses, das sie selbst zu besorgen hatten, die vollen Stolgebühren an die Kirche bezahlen mussten 59 - eine im Übrigen gängige Praxis in Sachsen im 18. Jahrhundert immer dann, wenn Untertanen aus Armut um die stille Beisetzung natürlich verstorbener Verwandter supplizierten. 6.4. Suizidgefährdete Menschen im 16. und 17. Jahrhundert Vor ein Problem eigener Qualität sahen sich frühneuzeitliche Gemeinwesen gestellt, wenn vermutet wurde, dass ein Mensch suizidgefährdet war. Suizidgefährdete galten als Bedrohung sowohl für sich selbst als auch für ihre Umgebung. Dies resultierte aus einer Beobachtung von Verhaltensweisen, die zunächst einmal allgemein als auffällig wahrgenommen wurden. Gradmesser der 58 F RENTZEL , Schau=Platz, S. 163 f, 171 f., 178, 272 ff., 300 ff. 59 Ebd., S. 272. <?page no="223"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 212 Beobachtung war einerseits die Erwartung eines Verhaltens, das als normal definiert wurde. Andererseits waren Beobachtung und Wahrnehmung nie losgelöst von, obgleich individuell verarbeiteten, kulturell geprägten Eindrücken und Nöten der beobachtenden Menschen. Die vormoderne Gesellschaft kannte ein entsprechend umfangreiches, differenziertes, vor allem aber flexibles Vokabular, um entsprechende Wahrnehmungen innerer Leiden auszudrücken. David Lederer hat das auf der Grundlage von beeindruckenden 1.500 Fallbeispielen aus Bayern dargestellt. 60 Lederer hat die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten systematisch in sechs Kategorien zusammengefasst: Wahnsinn, somatische Störungen, Ängste und Panik, Gemütskrankheiten (darunter Schwermut), teuflische Einflüsterungen bzw. Verzweiflung sowie dämonische Anfechtungen und Besessenheit. 61 Grundsätzlich konnten ab einem bestimmten Grad nahezu alle Typen innerlicher Leiden suizidales Verhalten implizieren. Wichtig für die Analyse sind daher die jeweils situationsabhängigen Deutungen, von denen auch die Form der Intervention abhängig war und damit auch, ob entsprechende Fälle überhaupt aktenkundig wurden. 62 Ein grundlegendes Ergebnis von Lederers Studie ist nun aber weniger ein Kategorienraster innerer Leiden, sondern die Erkenntnis, dass sich zwischen dem frühneuzeitlichen Verständnis dieser Phänomene und der retrospektiven Diagnose des Historikers eine erkenntnistheoretische Schlucht erstreckt. Einzig eine am Einzelfall orientierte, präzise historische Kontextualisierung der verwendeten Begriffe könne, so Lederer, helfen, Tiefe und Weite dieser Schlucht zu bestimmen und ansatzweise zu überwinden. Aus diesen Befunden der Forschung 60 Vgl. L EDERER , Madness, insbes. S. 145 ff. 61 Lederer konnte allerdings zeigen, dass die überwältigende Mehrheit physisch-psychischer Leiden im frühneuzeitlichen Mitteleuropa nicht in direkter Verbindung mit dem Wirken des Teufels gesehen wurde, sondern weltliche Leiden die Diskussion beherrschten. L EDERER , Madness, S. 151. Lederer bestätigt hier im Wesentlichen die Ergebnisse der ebd. angegebenen Studien von H. C. Erik Midelfort. 62 Zur entscheidenden Rolle der Deutungen von Familien und Verwandten für die Form der Intervention siehe L IND , Selbstmord, S. 297 ff. Bei Lederer ist der Begriff der Verzweiflung stark an die theologische Bedeutung vom (Ver-)Zweifeln an der Gnade Gottes gekoppelt (bspw. L EDERER , Madness, S. 170 ff.). Hinsichtlich der Bewertung von Selbsttötungen war dies ein wichtiger Punkt, galten Verzweifelte doch als ‚compos mentis’ und damit schuld- und straffähig. In den sächsischen Quellen ist jedoch ein breiteres Bedeutungsspektrum zu erkennen; v. a. seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff der ‚Verzweiflung’ auch synonym für eine schwere, mithin nachvollziehbare und entschuldbare Betrübtheit über die jeweiligen Lebensumstände verwendet, was den Begriff der ‚Verzweiflung’ eng an die Bedeutung einer aus Trübsinn über die Lebensumstände resultierenden, schweren ‚Melancholie’ anlehnte. <?page no="224"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 213 ergeben sich für die vorliegende Studie folgende Fragen: Welche Quellen berichten über die Wahrnehmung einer potenziellen Suizidgefährdung von Menschen in Sachsen im 16. und 17. Jahrhundert? Über welche Sachverhalte wird in diesen Quellen berichtet? Wie reagierten Familien, Gemeinden und Obrigkeiten auf eine bekannt gewordene Suizidgefährdung von Menschen? Können wir das Ausmaß von Suizidalität in Kursachsen bestimmen? Die letzte Frage wurde bereits klar mit Nein beantwortet. Diese Dissertation kann auf der Basis des bearbeiteten Schriftgutes keine Aussagen über die Quantität suizidalen Verhaltens treffen. Auch über die Konsequenzen innerlicher Leiden in Kursachsen im 16. und 17. Jahrhundert kann nur bedingt etwas ausgesagt werden. 63 Weder die Möglichkeit zur relationalen Einordnung der Befunde noch eine verlässliche Bestimmung absoluter Zahlen sind möglich. Ebenso wenig ist ein Vergleich mit den Ergebnissen der Studie von Lederer und damit ein von der Forschung eingeforderter interkonfessioneller Vergleich möglich. 64 Für das frühneuzeitliche Kursachsen existiert keine vergleichbare Quellengrundlage, weil anders als in Bayern religiöse Zentren spiritueller Heilkunde nicht existierten und physische und psychische Leiden nicht zentral administrativ erfasst wurden. Mögliche Aussagen sind durch den Charakter der von mir ausgewerteten Quellen beschränkt. Das Quellencorpus dieser Dissertation besteht überwiegend aus Berichten über vollzogene Selbsttötungen und deren retrospektive Ursachenerforschungen. Nach 95 Selbsttötungen zwischen 1548 und 1699 wurde lediglich in sechs Fällen vermerkt, dass bereits im Vorfeld des Suizids eine Suizidgefährdung als eindeutig erkannt und interveniert worden war. Diese Beispiele sind zu unterscheiden von der Mehrzahl der übrigen Fälle, in denen erst rückblickend das Verhalten als mögliche Hinweise auf eine Suizidgefährdung gedeutet wurden. Was also lässt sich überhaupt aussagen und vergleichen? Zunächst einmal belegen die wenigen Beispiele für das 16. und 17. Jahrhundert einige Praktiken des Umgangs mit Suizidalen, die auch in anderen Studien festgestellt worden sind, sodass diese zumindest auch für Kursachsen belegt werden können. Über den Gebrauch volksmagischer Praktiken oder geistig-seelischer Arznei bzw. spiritueller Heilkunde, wie sie Lederer für das katholische Bayern beschrieben hat, kann mit den mir vorliegenden Quellen kaum etwas ausgesagt werden. Nur in einem Fall begegnet die Suche nach einem Wunderheiler, der eine schwer- 63 Hierfür fehlen auch grundlegende Vorarbeiten zu Kursachsen, wie sie für das 18. Jahrhundert vorliegen (s. u. Teil C, Kap. 10), auf die hätte zurückgegriffen werden können. 64 S IEBENHÜHNER , [Rez.] Lederer, Madness, S. 327. <?page no="225"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 214 mütige Frau heilen sollte. 1699 hatte sich in Ratewalde Catharina Mitreutherin vor einer Gespenstererscheinung so sehr erschrocken, dass sie fortan schwer melancholisch war. Ihre Verwandten suchten und fanden (vielleicht im nahen Böhmen? ) einen Wunderheiler, den der Ortspfarrer als katholischen Religionsfeind beim Pirnaer Superintendenten denunzierte. 65 Ein wichtiger übergreifender Befund, der auch das weitgehende Fehlen administrativen Schriftgutes für die Zeit vor 1700 erklärt, ist, dass eine Behandlung vor allem Angelegenheit der Familien und Gemeinden, hier vor allem der Gemeindepfarrer, war. 66 Quellen und Beispiele für die Fürsorge durch Familienangehörige finden sich immer dann, wenn es entweder zu Streitigkeiten über die Versorgungspflichten und die Kosten der Versorgung kam oder trotz Intervention ein Suizidversuch bzw. eine Schädigung Dritter vorlag. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall aktenkundig wurde. So hatte sich beispielsweise im Jahr 1674 die Mutter der 26-jährigen Sabina Schneiderin intensiv um ihre schwer melancholische Tochter gekümmert. Die Schneiderin glaubte, aufgrund ihrer Sünden nicht selig werden zu können. Der Pfarrer bemühte sich, nachdem die Mutter ihn darum gebeten hatte, um intensive Gespräche, betete und sang gemeinsam mit Sabina Schneiderin, die jedoch in ihrer Verzweiflung verharrte. Sie soll mehrfach geäußert haben: „ihr gebeth were zu nichts nütze, hette keine krafft […] Sie würde ihrer sünde wegen nicht selig werden. Sie solle gott fluchen; item: Sie müßte sich ersäuffen.“ 67 Sabina Schneider erdrosselte sich später kniend in einer Kammer, als sie kurzzeitig unbeaufsichtigt war. Seelsorge durch Pfarrer und darüber hinaus gemeinsames Singen und Beten im Kreis der Familie sind auch in anderen Fällen belegt. 68 Sabina Schneiderins Fall verdeutlicht gleichsam das Szenario gescheiterter Seelsorge, weil die Hilfestellungen die Betroffenen nicht erreichen konnten. Gleiches gilt für den Fall von Maria Weise aus Oberschlema. Dies hatte, bevor sie sich im November 1670 erhängte, bereits vier Jahre lang an melancholischen Gedanken gelitten und ein Jahr lang das Abendmahl und seelsorgerische Ge- 65 E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1009, fol. 37. 66 Die Familien waren durch alltägliche Bezüge permanent mit den Betroffenen und deren Verhalten konfrontiert; L IND , Selbstmord, S. 306. Zur Rolle der Gemeinden siehe die Bspe. in L EDERER , Madness, Kap. 4 und 6; ebd., S. 190 auch der Hinweis, dass über die spirituelle Heilkunde in den bayrischen Gemeinden kaum etwas bekannt sei; weiter L IND , Selbstmord, S. 297 ff. Für die Kolonie Massachusetts J IMENEZ , Madness. 67 E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1009, fol. 57 r . 68 Ebd., fol. 107 f. M ELTZER , Historia, S. 1048. Vgl. darüber hinaus für die Zeit nach 1700 unten Teil C, Kap. 10. <?page no="226"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 215 spräche verweigert „mit [dem] Vorgeben, daß ihr Seele schon dahin und zu lang geharret wäre.“ 69 Maria Weise litt neben trübsinnigen Gedanken unter der Vorstellung, in ihr wohne ein böser Geist, der „sie bedienete“. 70 Aus diesem Grund durfte ihr Mann sie auch nicht berühren. Diese Verweigerungshaltung machte im Rückblick des Buchholtzer Pfarrers Christian Meltzer eine Intervention unmöglich. Weitergehende Eingriffe, etwa eine Inhaftierung oder das mehrfach belegte ‚Schließen’ (Anketten), 71 hätten der Diagnose einer akuten Suizidgefahr oder Gefährdung Dritter bedurft. Anscheinend aber hatte Maria Weise eine auffällig lange Zeit mit ihren Vorstellungen gelebt, ohne dass man sie mit mechanischen Zwangsmitteln hätte ruhigstellen müssen. Sie erhängte sich in ihrer Stube mit der Peitsche eines Knechtes und wurde einige Tage später von den Knechten des Scharfrichters unter den Galgen geschleift und verscharrt. Neben der offenen Verweigerung durch die Betroffenen scheiterten seelsorgerische Gespräche mitunter vielleicht auch zwangsläufig an der Konstellation der Gesprächssituation zwischen Betroffenen und Pfarrern. Karin Schmidt- Kohberg gibt hierzu Folgendes zu bedenken: „Ein freies Gespräch, daß zunächst die Möglichkeit des Suizids akzeptierte, wird es wahrscheinlich nicht gegeben haben. Dadurch, daß die Lebensmüden die Ablehnung und Strafandrohungen der Pfarrer fürchten mußten, konnte das Gespräch nur in begrenztem Maß entlastende Funktion entwickeln. Die heutige Psychiatrie ist sich einig, daß allein das Aussprechen der Ängste, die Möglichkeit, offen den Selbstmord in Gedanken durchzuspielen, den Suizidalen hilft. Eben das wird den Lebensmüden in der Frühen Neuzeit in der Regel nicht möglich gewesen sein, weil die Geistlichen die dazu notwendige Grundhaltung nicht mitbrachten.“ 72 Aus den Berichten von Pfarrern gehen einige der von Schmidt-Kohberg benannten Folgeprobleme dieser Konstellation eindeutig hervor. Bisweilen verloren sich die Angefochtenen aufgrund der pastoralen Seelsorge in seelischen Anstrengungen, die ihre Schuldgefühle noch vergrößerten und denen sie nur noch durch einen Suizid entkommen zu können glaubten. Denn das seelsorger- 69 M ELTZER , Historia, S. 1047. 70 Ebd. Zu dämonischer Besessenheit vgl. auch L EDERER , Madness, S. 172 ff. 71 Exemplarisch E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1009, fol. 47; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9659/ 9; ferner die Bspe. unten Teil C, Kap. 10. 72 S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 166 f. <?page no="227"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 216 liche Gespräch bestand immer auch darin, den Betroffenen die Gefahr vorzustellen, die ein ‚Selbstmord’ für ihr Seelenheil bedeutete. 73 Soweit mag einiges für die Überlegung Schmidt-Kohbergs sprechen, die seelsorgenden Gespräche seien aus moderner psychiatrischer Sicht geradezu kontraproduktiv gewesen. Allerdings stimmen einige Annahmen und die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Thesenbildung skeptisch. Schmidt-Kohberg setzt in ihrer Argumentation nämlich erstens voraus, dass die meisten Suizidalen in der Frühen Neuzeit von schweren endogenen Depressionen geplagt gewesen seien, weshalb sie krankheitsbedingt empfindungsunfähig gegenüber Gespräch, Gebet und religiös-erbaulicher Lektüre gewesen wären. Mit dieser nicht unproblematischen Übertragung frühneuzeitlicher Diagnosen und Semantiken in moderne medizinische Begrifflichkeiten betritt die Geschichtsschreibung aber den Bereich der Spekulation. Überhaupt vernachlässigt der vorgetragene Einwand Schmidt-Kohbergs die kulturelle Bedingtheit psychischer Dispositionen und medizinischer Praktiken, 74 geht von einer undifferenzierten Grundeinstellung der Geistlichen aus und verleiht einigen Ansichten der modernen Psychiatrie das Signum überzeitlicher Geltung. So aber wird unbewusst unser Blick auf die historischen Phänomene verstellt, die in ihren Eigenheiten und historischen Zusammenhängen aus dem Blick geraten bzw. disqualifiziert werden. Beide Perspektiven weisen ihrerseits Blindstellen auf. Nicht immer vermag etwa die penible Rekonstruktion historisch-kultureller Umstände ein Verständnis des modernen Beobachters zu befördern - und immerhin vermag die Argumentation Schmidt-Kohbergs dem modernen Betrachter plausibel zu erklären, weshalb die Gespräche von Pfarrern mit den Betroffenen oftmals nicht fruchteten. Zugleich aber entgeht Schmidt-Kohberg der Verlegenheit, eben auch die Erfolgsfälle frühneuzeitlicher Interventionsversuche erklären zu müssen nur dadurch, dass sie in diesen Fällen die Betroffenen für weniger depressiv erklärt. Eine solche Deutung wird aber weder den Akteuren, deren individuelle Befindlichkeiten zu einer spekulativen Depressionsdiagnose summiert werden, noch der historischen Situation gerecht. Diese war häufig ja gerade dadurch geprägt, dass selbst von schweren Anfechtungen Betroffene gezielt Hilfe im 73 Vgl. S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 167 ff. und insbesondere die ebd., Anm. 337 (S. 212 f.) genannte Literatur. 74 Diese kulturelle Bedingtheit sowohl von ‚spiritual afflictions’ als auch ‚spiritual physic’ ist letztlich der eingängige Befund von L EDERER , Madness. <?page no="228"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 217 Gespräch bzw. in religiösen Übungen in der Gemeinschaft mit anderen Menschen suchten. Das folgende Beispiel illustriert, welche Folgen dagegen eine soziale Isolation haben konnte. Mitte der 1690-er Jahre führte der militärisch minderbegabte sächsische Kurfürst Friedrich August I. (Kf. 1694-1733) 75 den Oberbefehl über die kaiserlichen Truppen, die in Ungarn gegen die Türken kämpften. Von diesem Unternehmen erhoffte sich der noch junge Kurfürst den Glanz glorreicher Siege, die sich aber bekanntlich nicht einstellten. 76 1696 wurden für dieses Unternehmen landesweit gewaltsame Rekrutierungen durchgeführt. Ein Opfer dieser Zwangsrekrutierung wurde Christian Naumann, ein Bauer aus der Niederlausitz. Da er nicht freiwillig zur Ruhmesmehrung seines geliebten Landesherrn beitragen wollte, verschleppten ihn Soldaten gewaltsam, während er gerade auf dem Feld zur Arbeit war. Er musste seine schwangere Frau und seine kleinen Kinder zurücklassen, kam ins Quartier nach Pirna und erhängte sich einen Tag vor dem geplanten Abmarsch seines Regiments. Naumann hatte dem Pirnaer Superintendenten seine Geschichte erzählt. Nach dessen Bericht konnte sich Naumann nicht damit abfinden, von Frau und Kindern getrennt worden zu sein und war deswegen sehr betrübt. Wir können uns nur schwer das Leid dieses Mannes vor Augen führen, das dem Superintendenten offenkundig auch persönlich nahe ging. Der Geistliche intervenierte nach dem Suizid Naumanns persönlich gegen die Position der Generalität und des städtischen Rats beim Oberkonsistorium im nahen Dresden. Militärische und städtische Obrigkeit wollten Naumanns Leiche auf dem Schindanger verscharren lassen, wogegen der Superintendent „in solches procedere nicht consentiren und stille schweigen können“. 77 Naumanns traurige Geschichte verdeutlicht gerade in ihrer nicht singulären 78 Tragik, wie wichtig soziale Netzwerke jenseits der seelsorgerischen Betreuung durch Geistliche waren. Fernab seiner Heimat blieben ihm nur die tröstenden Worte des Superintendenten, die aber weder seinen Schmerz lindern noch seine Selbsttötung verhindern konnten. Das Auseinanderbrechen vertrauter lebensweltlicher Bezüge führte auch im abschließenden Fall zu einem dramatischen Suizidversuch. Im September 1636 rammte sich in Leipzig Andreas Petzschmann vor seinem fast blinden Vater ein 75 Zur Person N EUHAUS , Friedrich August I. 76 Vgl. die süffisante Schilderung ebd., S. 178. 77 E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1010, fol. 9 r . 78 Siehe etwa S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10057, Nr. 479, Mit der Geschichte des Suizidversuchs eines ebenfalls gewaltsam angeworbenen Mannes in Mockritz bei Dresden. <?page no="229"?> Kap. 6: Begräbnispraxis 218 Messer in den Bauch. 79 Drei Jahre zuvor hatte der Rat Petzschmann wegen ungebührlichen Verhaltens gegenüber dem Vater und wegen dessen Drohung, seine Schwester erschießen zu wollen, vorübergehend inhaftiert. Petzschmanns Vater hatte ihn nach diesem Vorfall des Hauses verwiesen, woraufhin er seine Existenz als Bettler in den Straßen Leipzigs fristete. Als ihm dies unerträglich geworden war, wollte er nach eigenen Angaben seinen Vater zur Rede stellen und mithilfe eines Akts der Verzweiflung seine Rückkehr erzwingen. Dabei verletzte er nicht nur sich schwer, sondern ging kurz zuvor auch noch auf einen Knecht des Vaters los, den er mit seinem Messer schwer an den Genitalien verletzte, „also das er zeit seines lebens gebrechlich bleiben muß“. 80 Dieses überaus aggressive Verhalten kam aufgrund der Vorgeschichte anscheinend weder für die Familie noch für die Stadtgerichte überraschend. Dass Petzschmann das Messer aber auch gegen sich richtete dagegen schon. Während der Untersuchung ist an keiner Stelle die Rede von einer vorher wahrgenommenen Suizidgefährdung. Nach seiner schweren Selbstverletzung wurde Petzschmann inhaftiert und durch einen Chirurgen medizinisch versorgt. Allerdings gelang es zunächst nicht, Petzschmann während der Haft ruhig zu stellen. Vielmehr setzte sich dessen selbstschädigendes Verhalten fort. Petzschmann zerbiss sich selbst Fingergelenke und Nerven. Zudem versuchte er, das angekettete Bein auszurenken. Während das Bein gerettet werden konnte, musste der Chirurg allerdings den kleinen Finger der linken Hand „midt einer schere“ abtrennen. 81 Der Leipziger Schöppenstuhl verurteilte Petzschmann zu Staupenschlägen und öffentlichem Landesverweis. Das Urteil wurde jedoch nach Fürbitten des Vaters abgemildert. Nach dem Schwur der Urfehde wurde Petzschmann dann im Dezember 1637 wieder auf freien Fuß gesetzt. Was weiter mit ihm geschah, wird aus der Akte nicht ersichtlich. Im Bestand der Richterstube des Leipziger Ratsarchivs tritt er als ‚versuchter Selbstmörder’ nicht noch einmal in Erscheinung. Immerhin wissen wir, dass er zwei Jahre später noch lebte, denn sein Vater, um einen christlichen Abschied bemüht, söhnte sich mit ihm aus und bedachte ihn testamentarisch. 82 Zwar wollte der Vater ohne Rachsucht im Herzen von der Welt Abschied nehmen. Die Formulierung des Testaments legt jedoch nahe, dass der Streit bis zum Schluss geschwelt hatte. Ebenso wie vor dem Suizidversuch finden sich aber neben den Anschuldigungen des Übel- 79 S T A L EIPZIG , Richterstube Strafakten, Nr. 444. 80 Ebd., fol. 2 r . 81 Ebd., fol. 1. 82 S T A L EIPZIG , Richterstube, Testamente Rep. V Paket 67, fol. 4 v f. <?page no="230"?> Teil B: ‚Vita ante actam’ 219 hausens keine konkreten Hinweise darauf, dass Andreas Petzschmann als suizidal eingestuft wurde. Schlussfolgerungen (Teil B) Die bisherige Untersuchung konnte zeigen, wie sich in Kursachsen bereits im 16. Jahrhundert eine differenzierte Bewertung suizidalen Verhaltens und vollzogener Selbsttötungen durchgesetzt hat. Diese Differenzierung basierte zum Teil auf mittelalterlichen Vorstellungen, ging aber da über diese hinaus, wo Intentionen und Motive, vermittelt über eine Rekonstruktion und Deutung des Lebenswandels, dominierend waren. Dieser Schwerpunkt der Debatte und die systematische Berücksichtigung des Grads an persönlichem Verschulden können als spezifisch frühneuzeitliche Entwicklung angesehen werden. 83 Bereits im Mittelalter wurden zwar melancholische Gemütszustände vor der Tat berücksichtigt. 84 Anders wären die kirchenrechtlichen Begräbnisvorschriften kaum umzusetzen gewesen. Allerdings scheint die Bewertung noch eher an der Tat selbst orientiert gewesen zu sein. Sara Butler hat gezeigt, dass vor allem lokale Gerichte, die Suizidenten und deren Umfeld kannten, zu milderen Urteilen neigten - die persönliche Nähe spielte hier eine zentrale Rolle. Dagegen hätten andere Gerichte deutlich eher härtere Sanktionen verhängt. 85 Der Grad der Nähe spielte natürlich auch in frühneuzeitlichen Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen eine wesentliche Rolle, etwa wenn es um den Leumund der Betroffenen ging. Die Urteilskategorien waren aber offensichtlich sowohl für lokale als auch für territoriale Gerichtsinstanzen eher gleich als verschieden. Deutliche Unterschiede in der Urteilspraxis fallen nicht auf. Ausgangspunkt meiner Betrachtungen waren Texte Luthers und Melanchthons. Die Behauptung Ferngrens, die protestantische Theologie habe die Möglichkeit zur reuevollen Buße und der göttlichen Gnade für Suizidenten nicht ausschließen wollen, konnte anhand von Briefen und eines auch in der Rezeptionsgeschichte frühen und bedeutsamen Ratschlags der Wittenberger 83 Vgl. dagegen noch zu den mittelalterlichen Annäherungen M URRAY , Suicide Vol. I, S. 295 ff. und 318 ff. (Kap. 13 und 14); M URRAY , Suicide Vol. II, S. 441 ff., wo er herausstreicht, dass die Handlung selbst entscheidend für die Verurteilung war und die Intention bzw. der Geisteszustand zur Tatzeit keine Rolle spielte. Siehe aber ebd., S. 446 f., wo er am Bsp. Frankfurt am Mains darauf hinweist, dass in spätmittelalterlichen städtischen Statuten vereinzelt Regelungen begegnen, in denen die Körper geistig unzurechnungsfähiger Suizidenten ‚milder’ behandelt wurden als die ‚gewöhnlicher Selbstmörder’. 84 Beispiele in S EABOURNE / S EABOURNE , Suicide. 85 B UTLER , Concerns. <?page no="231"?> Schlussfolgerungen (Teil B) 220 Theologen bestätigt werden. Ebenso ließ sich bestätigen, dass das reformatorische Verständnis von Macht und Wirken des Teufels in der Welt eine diabolische Suiziderklärung zuließ, in der die Suizidenten als unschuldige Opfer einer übernatürlichen Gewalt konstruiert wurden. Über die Bestätigung und Präzisierung des bisherigen Forschungsstandes hinaus zeigte sich aber, dass eine Reihe von alltagsrelevanten Fragen zum Umgang mit den Leichen der Suizidenten aufgeworfen wurden, wenn im 16. und 17. Jahrhundert diese theologischen und straftheoretischen Überlegungen in der Praxis umgesetzt werden mussten. Luther ging dieses Problem auf zwei Ebenen an: zum einen auf der Ebene des weltlichen und zum anderen auf der des geistlichen Regiments. Weltlichen Magistraten erlaubte Luther zum Zweck der Abschreckung eine öffentliche Malträtierung der Leiche ebenso wie den postmortalen Vollzug von Strafen am Leichnam. Auf der Ebene des geistlichen Regiments und verstanden als Aufforderung an alle Christen, insbesondere an alle amtlichen Seelsorger, argumentierte Luther aber, dass die Leichen von unschuldig durch die Hand des Teufels getöteten Suizidenten auf dem Kirchhof bestattet werden könnten. Für die innertheologische Debatte der Folgezeit spielte diese Unterscheidung nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch war sie in der Praxis nur schwer umzusetzen, weil an dem ‚delictum mixtum’ einer Selbsttötung sowohl kirchliche als auch weltliche Behörden und Gerichte Jurisdiktionsansprüche anmeldeten. Indirekt bedeutsam blieb sie aber in den fortlaufenden Auseinandersetzungen zwischen weltlichen und kirchlichen Amtsträgern über die jeweiligen Befugnisse bei den Untersuchungen von Selbsttötungen sowie bei Konflikten über die jurisdiktionelle Hegemonie, über ‚Selbstmörderbegräbnisse’ entscheiden zu können. Wie die Rezeption der Texte Luthers und Melanchthons in der Teufels- und Consilienliteratur des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts gezeigt hat, widmete sich die Diskussion in der Folge verstärkt einer um Differenzierung bemühten Einbindung individueller Begleitumstände einer Selbsttötung in das Urteil über die Suizidenten und deren Begräbnis. Diese Begleitumstände - allen voran der Lebenswandel einer Person - waren Kategorien, über die sowohl kirchliche als auch weltliche Behörden miteinander verhandeln konnten, um zu einem Begräbnisentscheid zu gelangen. Dieses individualisierende Moment wurde von einer Kategorisierung und Kanalisierung der retrospektiven Erinnerungen der als ‚Zeugen’ befragten Personen beschränkt. Hierdurch wurde eine Fülle an Einzelbeobachtungen und -erinnerungen zu einem stimmigen Bild von einer entweder christlichen oder unchristlichen Lebensführung eines Menschen zusammengefügt. Aus den gewonnenen Erkenntnissen wurde wiederum auf einen schuldfähigen oder einen schuldunfähigen Geisteszustand geschlossen. In der Regel versuchte die frühneuzeitliche Diskussion über Selbst- <?page no="232"?> Schlussfolgerungen (Teil B) 221 tötungen konkrete individuelle oder als Falltypen konstruierte Umstände eines Suizids zu berücksichtigen, um zu einem Urteil zu gelangen. Nicht jede Selbsttötung war zugleich ein zu bestrafender ‚Selbstmord’. Insgesamt hat die Analyse des theologischen Diskurses gezeigt, dass die Deutung rein äußerlich beobachtbaren Verhaltens keinem zwingenden Konsens folgte. Vielmehr bestanden Interpretationsspielräume. Der auch aus dieser Beobachtung resultierende Eindruck, dass bereits geringe Indizien für eine Entlastung der Suizidenten bereitwillig aufgegriffen wurden, um zumindest eine stille Beisetzung gewähren zu können, konnte bei der Analyse der Begräbnispraktiken bestätigt werden. Mitunter hatten auch weitere Faktoren, wie etwa ein Bittgesuch von Familienangehörigen, der soziale Rang und der Grad der Integration in die Gemeinschaft oder die Rücksichtnahme auf die gemeinschaftliche Ehre von Korporationen Einfluss auf den Begräbnisentscheid. Anders als Daniela Tinková annimmt, beruhte die differenzierte Begräbnis- und Sanktionierungspraxis weder auf einem tendenziell mangelnden Willen zur Bestrafung noch auf Suggestivfragen behördlicherseits. Die von der bisherigen Forschung vertretene Ansicht konstruiert einen Norm-Praxis-Gegensatz, der einem nicht angemessenen Verständnis vom Charakter frühneuzeitlicher Normen folgt. Auch wird, sieht man von den Arbeiten David Lederers und Karsten Pfannkuchens einmal ab, 86 unterschlagen, dass die differenzierte Begräbnispraxis nach Selbsttötungen kein neuartiges Phänomen des 18. Jahrhunderts war, sondern bereits vor 1700 zu beobachten ist. Die als Normen zu verstehenden Texte waren durch eine komplexe Diskussion über eine Vielzahl möglicher Strafen und Begräbnisformen gekennzeichnet. Die als Höchststrafen diskutierten Ordinarstrafen waren stets durch eine Vielzahl arbiträrer Sanktionsmöglichkeiten ergänzt. Im konkreten Einzelfall erwiesen sich die Normen zudem als interpretationsbedürftig und verhandelbar. Die Obrigkeiten sahen in den notwendigen Aushandlungsprozessen vor Ort keinen Widerspruch zu normativen Vorgaben. Vielmehr konnten nur genaue Untersuchungen und Abwägungen der Umstände der Intention der Normen überhaupt gerecht werden, wonach Selbsttötungen eben nicht unterschiedslos hart zu sanktionieren waren. Unter Normen, die als potenziell anwendbares Recht zu verstehen sind, wurden mithin nicht ausschließlich Gesetze verstanden, die im Namen des Kurfürsten erlassen wurden und auf unmittelbare Geltung im Land abstellten. Ein solches Gesetz, das im 16. und 17. Jahrhundert Untersuchungsverfahren 86 L EDERER , Madness; P FANNKUCHEN , Selbstmord. <?page no="233"?> Schlussfolgerungen (Teil B) 222 nach Selbsttötungen oder die Begräbnisfrage systematisch und präzise geregelt hätte, existierte weder als Bestandteil der Kirchenordnung, der umfassenden Policeyordnungen, der kursächsischen Konstitutionen noch als eigenständiger Generalerlass. Selbsttötung war kein Thema umfassender Erörterungen durch die zentralen kursächsischen Behörden im 16. und 17. Jahrhundert. Deswegen fehlt auch der Versuch, systematische Vorschriften zu implementieren. Die vorliegende Untersuchung hat daher den Fokus der Analyse auf bislang wenig beachtete Texte mit normativem Geltungsanspruch wie bspw. die theologische Responsenliteratur gelenkt. Im Anschluss an die grundlegende Studie von Karsten Pfannkuchen wurde die vielschichtige Diskussion der frühneuzeitlichen Jurisprudenz exemplarisch an Benedict Carpzovs Erörterung sowohl der strafrechtlichen als auch der kirchenrechtlichen Implikationen des Suizids herausgearbeitet. Eine systematische Zusammenschau der hier vorgestellten Quellen lag bislang nicht vor. Die Diskussion Carpzovs in der ‚Practica Nova’ hat weiterhin vor Augen geführt, dass in der sächsischen Strafrechtstradition insbesondere ein schändliches Begräbnis als hinreichende Bestrafung des ‚Selbstmords’ angesehen wurde. Andere Praktiken wie bspw. das Verbrennen von Leichen oder der postmortale Vollzug von Todesstrafen am Leichnam wurden zwar in der zeitgenössischen Diskussion angesprochen, ließen sich aber weder in der archivalischen Überlieferung noch in den exemplarisch untersuchten Ortschroniken nachweisen. Vielmehr resultierte aus dem Fokus auf eine Bestrafung des ‚Selbstmords’ durch entehrende Begräbnisse eine Diskussion über die Abstufung von Ehrgraden im Begräbnis. Die Konsequenz war eine Feinjustierung unterschiedlicher Begräbnispraktiken. Dabei zeigte sich für Sachsen, dass die Leichen von Häftlingen, die sich ‚ob conscientiam criminis ac metu poenae’ selbst getötet hatten, ebenso wie in anderen Territorien schändlich geschliffen und an Fehmstätten verscharrt wurden. Gleiches gilt für die Beisetzungen von ‚Selbstmördern’, denen ein verwerflicher und unchristlicher Lebenswandel nachgesagt wurde oder die als Sakramentsverächter galten. Ebenso hart traf das Urteil randständige Gruppen wie Bettler oder unbekannte ‚Selbstmörder’. Der Normalfall in den gerichtsnotorischen Aussagen über Suizidenten war jedoch deren friedfertiges sowie ein bedingt frommes, den religiösen Pflichten entsprechendes Verhalten. Darüber dürfen die vielen in den Kriminalakten überlieferten Konflikte nicht hinwegtäuschen. Die Beurteilung des Lebenswandels hatte sowohl der normativen Diskussion entsprechend als auch durch die aus ihr abgeleitete, indirekte Bestimmung des Geistes- und Gemütszustands einen enormen Einfluss auf die Entscheidung über die Form der Beisetzung. Daraus erklärt sich eine differenzierte Begräbnispraxis vor 1700. Eine unter- <?page no="234"?> Schlussfolgerungen (Teil B) 223 schiedslose schändliche Behandlung aller ‚Selbstmörder’ hat es in Sachsen in der Frühen Neuzeit nicht gegeben. An diese Traditionen, Diskussionen und Praktiken knüpften im 18. Jahrhundert dann Gesetzgebungsinitiativen, gesetzgebende Debatten sowie die exekutiven Bemühungen um Durchsetzung der neu erlassenen Normen an, die im folgenden Teil C ausführlich zu untersuchen sind. Damit kann auf der Grundlage der gewonnenen Einsichten abgeschätzt werden, worin eventuelle Neuerungen im 18. Jahrhundert überhaupt bestanden bzw. inwieweit bestehende Traditionen, Verhaltens- und Verfahrensmuster in neuen Gesetzen fortgeschrieben wurden. <?page no="236"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 225 Teil C: Die Implementierung von Normen zum Suizid in Kursachsen im 18. Jahrhundert 7. Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 1702-1763 Dieses Kapitel schildert Anlass und Publikation eines landesherrlichen Befehls, der 1719 die Kompetenzen von weltlichen Gerichtsträgern und Kirchenbehörden nach Selbsttötungen voneinander abgrenzte. Da es in den Auseinandersetzungen um Kompetenzen in der Rechtsprechung sowie in den gerichtlichen Untersuchungsverfahren immer auch um den Status von ‚Selbstmördern’ ging, erschließen sich sowohl Einsichten in obrigkeitliche Bewertungen von Selbsttötungen als auch Sichtweisen und Einstellungen der in die Untersuchungen ‚einbezogenen’ Untertanen. Zu zeigen ist, dass die neu erlassene Norm weder die Behandlung von ‚Selbstmördern’ noch die Bewertung von Selbsttötungen verändern konnte, weil sie lediglich auf die klare Abgrenzung von Jurisdiktionskompetenzen zielte - eine normative Abgrenzung, die sich mithin an die bestehenden Konventionen und Praktiken anlehnte. 7.1. Ein Leipziger Disput über die Hoheit bei ‚Suizidverfahren’ zu Beginn des 18. Jahrhunderts Ein außergewöhnliches Ereignis? Ende März 1702 erhängte sich in Taucha bei Leipzig eine gewisse Anna Altner, die als fromme und zurückgezogen lebende Frau beschrieben wurde. Die Frage, wer nach dem Suizid Anna Altners über die Form der Beisetzung entscheiden dürfe, mündete in einen jahrelangen Streit zwischen dem Leipziger Stadtrat und dem Konsistorium Leipzig. Zwischen 1702 und 1706 trugen beide Konfliktparteien wiederholt ihre Kompetenzansprüche dem Kurfürsten vor und erhofften sich jeweils eine endgültige Entscheidung zu ihren Gunsten. Craig Koslofsky hat diese Auseinandersetzung als Ausdruck einer Säkularisierung der Selbsttötung am Beginn des 18. Jahrhunderts gedeutet. Unter Säkularisierung versteht Koslofsky einen Prozess, in dessen Verlauf nicht nur Suizidursachen zunehmend jenseits religiös geprägter Moralvorstellungen gedeutet wurden, sondern einen Prozess, in dessen Verlauf die Jurisdiktionshoheit nach Selbst- <?page no="237"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 226 tötungen sukzessive auf die weltlichen Behörden überging. 1 Der Streit über das Begräbnis Anna Altners könne, so Koslofsky, als ein außergewöhnliches Ereignis betrachtet werden, das schlaglichtartig zentrale Probleme des administrativen Umgangs mit Selbsttötungen erhellt. Die Befunde meiner bisherigen Analyse lassen den Schluss zu, dass derartige Auseinandersetzungen über die Jurisdiktionshoheit keineswegs selten waren. Das Außergewöhnliche des ‚Leipziger Disputs’ ist vielmehr darin zu sehen, dass in ihm eine Reihe weiterer Streitigkeiten ihren Ausgangspunkt nahmen und der Konflikt mit besonderer Vehemenz von beiden Parteien geführt wurde. Am Ende der jahrelangen Auseinandersetzungen stand schließlich ein landesherrlicher Befehl, der die Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen nach Selbsttötungen regeln sollte. Zugleich war dieser Befehl der erste landesherrliche Erlass, der gleichsam als ein Landesgesetz zur Selbsttötung begriffen werden kann. In diesem Abschnitt greife ich die Annahmen und Thesen von Koslofsky auf und überprüfe sie kritisch. Ich argumentiere, dass Koslofsky einen Hintergrund der Auseinandersetzungen gezeichnet hat, auf den sich die Auseinandersetzungen in Leipzig nur bedingt bezogen. Koslofsky ging davon aus, dass ein gelehrter Disput unter Theologen und Juristen in Halle und Leipzig über die sog. ‚Mitteldinge in Kirchensachen’ (Adiaphora) Anlass für den heftigen Konflikt in Leipzig gab. Dagegen stelle ich die These, dass die Auseinandersetzung in Leipzig als ein Glied einer längeren Kette ähnlicher Streitigkeiten über die Form von ‚Selbstmörderbegräbnissen’ anzusehen ist, die auch schon vor 1700 zu beobachten waren. In Leipzig wurde der Konflikt wegen bereits vorhandener Spannungen zwischen Rat und Konsistorium zusätzlich aufgeladen. Im Anschluss an diese Neubestimmung des Charakters des Konflikts werde ich den Prozess analysieren, der dazu führte, dass 1719 ein landesherrlicher Befehl erlassen wurde, der die Kompetenzen von Konsistorien einerseits sowie Schöppenstühlen und Gerichten andererseits voneinander abgrenzte. Der unbestreitbare Erkenntnisgewinn von Koslofskys Perspektive gegenüber der älteren Forschung liegt darin, den Blick auf die lokalen Entscheidungsträger in Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen und deren Interessen gerichtet zu haben. Ausgangspunkt von Koslofskys Argumentation ist die Dissertation ‚De jure principis evangelici circa solennia sepultura’, die 1702 im benachbarten Halle veröffentlicht worden war. Diese Schrift basierte auf einer Disputation 1 K OSLOFSKY , Säkularisierung; K OSLOFSKY , Suicide; K OSLOFSKY , Body. Die drei Aufsätze sind mit Blick auf die hier interessierenden Fragen inhaltlich nahezu und in den zentralen Thesen völlig identisch. Am umfangreichsten ausgearbeitet K OSLOFSKY , Suicide. <?page no="238"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 227 unter dem Vorsitz von Christian Thomasius (1655-1728). 2 Koslofsky hat nun versucht nachzuweisen, wie diese Schrift und die Einstellungen von Thomasius die Auseinandersetzungen in Leipzig beeinflusst haben könnten. Allerdings wird in seiner Argumentation nicht ersichtlich, welches Ereignis eigentlich das jeweils andere beeinflusst hat. Einmal erscheinen bei Koslofsky die Einlassungen von Thomasius als Reaktionen auf die Ereignisse in Leipzig. Ein anderes Mal erklärt Koslofsky den Zeitpunkt der Auseinandersetzungen in Leipzig mit dem Erscheinen von ‚De jure principis’. Thomasius hatte in seinen Schriften eine stärkere systematische Trennung von kirchlicher und territorialstaatlichfürstlicher Herrschaftsgewalt in den ‚Adiaphora’ 3 gefordert. Diese Forderung war wie Person und Schriften Thomasius’ bei der lutherischen Orthodoxie Kursachsens auf heftige Ablehnung gestoßen. An dieser Stelle war für Koslofskys Argumentation entscheidend, dass Thomasius für eine zweifache Säkularisierung von Suizidverfahren plädierte: Erstens sprach sich Thomasius für die weltliche Autorität bei Begräbnissen aus. Zweitens wandte er sich gegen strafende Entweihungsrituale bei Beisetzungen, ohne zugleich ein Recht auf Selbsttötung zu propagieren. Insbesondere der Leipziger Rat beharrte in dem Konflikt mit dem Leipziger Konsistorium auf seinen Kompetenzen als Gerichtsträger, die sich - so der Anspruch des Rates - auch auf die Jurisdiktionshoheit nach Selbsttötungen erstrecken würden. Koslofsky gelingt nun aber nach meinem Dafürhalten keinesfalls der Nachweis, dass die Vorstellungen von Thomasius einen konkret bestimmbaren Einfluss auf den Leipziger Disput hatten. Weder lässt sich zeigen, dass das Leipziger Konsistorium die Hallenser Dissertation über Begräbnisfragen zum Zeitpunkt des Beginns der Streitigkeiten 1702 bereits zur Kenntnis ge- 2 Als Respondent trat Nikolaus Peter Giedda in Erscheinung. 1705 erschien eine deutschsprachige Übersetzung dieser Arbeit, die Christian Thomasius als Autor nennt. Das deutet darauf hin, dass Thomasius die Arbeit als seine eigene angesehen hat. Hierzu K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 394 Anm. 21. Koslofsky bezieht sich hier maßgeblich auf S CHUBART -F IKENTSCHER , Autorschaft. Mit Hilfe der von ihr herausgearbeiteten Bewertungskriterien ist zu sagen, dass bei Dissertationen, die rechtspolitische Ziele wie im vorliegenden Fall verfolgten, tendenziell eher von einer Autorschaft des Präses als des Respondenten auszugehen ist; S CHUBART -F IKENTSCHER , Autorschaft, S. 72. 3 Auf das Problem der ‚Adiaphora’ (Mitteldinge; Kulthandlungen und Riten, die für die Frage des Seelenheils unerheblich sind) kann hier nicht näher eingegangen werden. Grundsätzlich unterschied Thomasius in Religionsfragen einen ‚cultus internus’ und einen ‚cultus externus’, wobei er alle äußerlichen Angelegenheiten dem Kompetenzbereich der fürstlichen Herrschaftsgewalt zuschrieb, weil er auch die Jurisdiktionsgewalt der protestantischen Konsistorien aus der Herrschaftsgewalt der Landesfürsten abgeleitet sah. Deshalb bestritt Thomasius die Notwendigkeit einer weltlichen Gerichtsbarkeit der Konsistorien vehement. Hierzu ausführlich DE W ALL , Staat. <?page no="239"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 228 nommen hatte. Noch bemerkten die kursächsischen Konsistorien in der Folgezeit, dass die bestehenden Verfahrenspraktiken bei Selbsttötungen durch die Schriften von Thomasius herausgefordert wurden - auf Thomasius nimmt überhaupt kein an den Disputen in Kursachsen Beteiligter direkten Bezug. Selbst der Rat der Stadt Leipzig berief sich in seinen Schriften gegen die Vorwürfe des Konsistoriums nicht auf Thomasius, was zugegeben auch nicht möglich war, weil wichtige Schriften von Thomasius in Kursachsen zensiert worden waren. 4 Von der zeitlichen Koinzidenz der Veröffentlichung von ‚De jure principis’ in Halle und dem Leipziger Disput einmal abgesehen, spricht insgesamt aber nichts für einen inhärenten Zusammenhang beider Ereignisse. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Leipziger Disput als ein für die Frühe Neuzeit nicht ungewöhnliches Gerangel um Kompetenzen. 5 Die aus meiner Sicht fehlgehende Annahme Koslofskys, der Leipziger Rat hätte intellektuelle Bruchlinien zwischen einander befehdenden universitären Eliten instrumentalisiert, ergibt sich daraus, dass er dem Leipziger Disput eine singuläre Stellung beimisst, die so aus den Quellen heraus nicht ablesbar ist. Zum einen waren vergleichbare Streitigkeiten über Jurisdiktionskompetenzen kein neues Phänomen. Zum anderen waren Entscheidungen über ein ‚Selbstmörderbegräbnis’ auch schon vor 1700 dadurch geprägt, dass örtliche Pfarrer und Superintendenten zusammen mit Ämtern und Gerichten den Lebenswandel der Suizidenten untersuchten und in der Regel gemeinsam über das Begräbnis entschieden. Die Annahme, erst eine schleichende und dann um 1700 virulent gewordene Säkularisierung des Suizids hätte den energischen Widerstand des Leipziger Konsistoriums hervorgerufen, scheint mir daher weniger die Form der Auseinandersetzung erklären zu können, als vielmehr selbst erklärungsbedürftig zu sein. Bedeutsam scheint mir vielmehr, dass die Beschwerde des Konsistoriums über die Einmischung des Rates in Beisetzungsfragen an eine weitere Beschwerde gekoppelt war. Der Leipziger Rat wurde nämlich bezichtigt, sich in Fragen der Besetzung geistlicher Amtsstellen unrechtmäßig einzumischen. 6 Dies deutet an, 4 Thomasius’ Schrift ‚De jure principis circa adiaphora’ (1695) wurde in Kursachsen auf Betreiben der Leipziger Theologen beschlagnahmt und ein Druckverbot erlassen; S CHUBART -F IKENTSCHER , Autorschaft, S. 92. 5 So schon S CHLUMBOHM , Gesetze, S. 655. Gerhard Lingelbach verwies etwa für ein frühes Beispiel darauf, dass schon den kursächsischen Konstitutionen von 1572 mitursächlich dauerhafte Streitigkeiten über die Spruchpraxis der Konsistorien zu Grunde gelegen hatten; L INGELBACH , Codex, S. 259. 6 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 6 f. <?page no="240"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 229 dass der Suizid Anna Altners und die Ansprüche des Leipziger Rates eher einen willkommenen Anlass boten, die Zerwürfnisse zwischen Rat und Konsistorium in einer aus Sicht des Konsistoriums strategisch günstigen Konstellation vor den Geheimen Rat zu tragen, weil die Begräbnisfrage genuin kirchliche Kompetenzen berührte. Ich werde im Folgenden zeigen, dass sich insbesondere der Leipziger Rat bis in die 1740-er Jahre im Vergleich zu anderen regionalen und lokalen Obrigkeiten als besonders renitent gegenüber landesherrlichen Erlassen zeigte und wiederholt versuchte, bestehende Normen zu seinen Gunsten zu revidieren. Von der kursächsischen Residenz aus betrachtet, unterschieden sich die Vorgänge in der ‚Leipziger Provinz’ nicht prinzipiell von ähnlichen Auseinandersetzungen andernorts. Wie man unschwer erkennen kann, hatte das Beharren des Leipziger Rats auf seiner gerichtlichen Zuständigkeit nichts mit der Frage des Begräbnisses oder mit Vorstellungen einer Kompetenzhierarchie zu tun, in der der Landesherr als überkonfessionelle Autorität die absolute Spitze des Territorialstaats verkörperte und der Rat als Vertreter dieser Herrschaftsgewalt erschien. Entscheidend war in Leipzig wie auch in anderen Orten vielmehr die juristisch relevante Frage, wer für den Fundort der Leiche und damit, so der Anspruch, auch für den Umgang mit der Leiche selbst zuständig sei. Erst im Anschluss gewann überhaupt die Frage, wer ein Begräbnis auf dem Friedhof anordnen durfte, an Bedeutung. Solche Auseinandersetzungen waren in Sachsen zu einem erheblichen Anteil strukturell bedingt. Im Unterschied zu kleineren Territorien schuf die bisweilen selbst von den Zeitgenossen nicht durchschaubare Diversifizierung von obrigkeitlichen Kompetenzzuweisungen ein hohes Potenzial für Konflikte. 7 Kein frühneuzeitlicher Träger von Herrschaftsrechten verzichtete freiwillig auf subjektiv wie objektiv zugewiesene oder beanspruchte Kompetenzen. Streitigkeiten über ‚Selbstmörderbegräbnisse’ konnten allerdings schneller entstehen als bei anderen Delikten, weil hierzu in Kursachsen keine präzisen Regelungen existierten, die sowohl die Untersuchungsverfahren als auch mögliche Sanktionen 7 Zu kleineren Untersuchungsräumen: Unter Verweis auf die Studien von Dieselhorst (Nürnberg), Karraß (Hochstift Würzburg) und Schär (Zürich): K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 390, Anm. 10. Vgl. darüber hinaus W ATT , Death, S. 67 ff.; auch für Genf scheinen übergreifend keine systematischen Konfliktlinien zwischen einzelnen Autoritäten bei den Verfahren nach Selbsttötungen auf. Vgl. ferner für die preußischen Regelungen P FANNKUCHEN , Selbstmord, S. 146 ff. Pfannkuchen vermutet, dass in diesen ein Vorrang der weltlichen Obrigkeiten zum Ausdruck komme und dies dadurch motiviert gewesen sein könnte, Kompetenzkonflikte wie in Kursachsen qua Norm auszuschließen. <?page no="241"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 230 und die Jurisdiktionskompetenzen präzise geregelt hätten. Aus dieser Situation lässt sich die Frage ableiten, ob und wenn ja wie die Landesherrschaft versuchte den permanenten Streitigkeiten durch den Erlass von Normen vorzubeugen. Reaktionen des Geheimen Rates In seiner Funktion als Gerichtsherr von Taucha entschied der Leipziger Rat 1702 nach dem Suizid von Anna Altner, die Leiche still auf dem örtlichen Friedhof beisetzen zu lassen. Diese Form der Beisetzung war an sich üblich. Eine vorherige Untersuchung des Lebenswandels hatte nichts Negatives zutage befördert, sondern gezeigt, dass Anna Altner eine fromme und melancholische Frau gewesen war. 8 Der Leipziger Rat hatte aber den zuständigen Pfarrer wegen der Beisetzung nicht konsultiert. Der Tauchaer Pastor, Johann Gottlieb Hoffmann, wiederum hatte den Suizid Anna Altners beim Leipziger Konsistorium angezeigt und so den jahrelangen Streit ausgelöst. 9 Durch die Meldung des Pastors auf den Fall aufmerksam geworden, fragte das Leipziger Konsistorium Ende Mai 1702 beim Rat nach, mit welcher Begründung dieser in dem Fall überhaupt judiziert hatte und wie der Rat sein eigenmächtiges Vorgehen rechtfertige. Der Rat hatte es mit einer Antwort nicht wirklich eilig und überzog die vom Konsistorium gesetzte Frist erheblich. In seiner Replik führte der Leipziger Rat erstmals drei Argumente an, die er in den folgenden Jahrzehnten wiederholt und unverändert vortrug, um seine Position zu untermauern. Zum Ersten wäre der Rat als Gerichtsherr von Taucha zu dem vom Konsistorium monierten Vorgehen befugt gewesen. Zweitens würde keine ‚lex prohibitiva’ existieren, welche die Entscheidungsbefugnisse des Rates an diesem Punkt einschränke. Drittens schließlich würde der Ratschlag der Konsistorien traditionell lediglich dann eingeholt, wenn Zweifel über die Form der Beisetzung bestünden. Ob aber überhaupt Zweifel bestünden, darüber hätten allein die weltlichen Gerichte zu befinden. 10 Das erste Argument, wonach die Gerichtsherrschaft über den Ort, auf dem Leiche eines ‚Selbstmörders’ lag, über die Hoheit des weiteren Verfahrens entscheide, sollte ein bestimmender Streitpunkt der kommenden Jahrzehnte bleiben. Das entscheidende Problem war, dass sich (nicht nur) im vorliegenden Fall mehrere Kompetenzebenen und Jurisdiktionsbereiche überschnitten. Auf der einen Seite stand der städtische Rat, der traditionell den Scharfrichter mit 8 K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 396; K OSLOFSKY , Suicide, S. 56. 9 K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 397. 10 Ebd., S. 397; K OSLOFSKY , Suicide, S. 57. <?page no="242"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 231 der Entsorgung von ‚Selbstmörderleichen’ beauftragen konnte, die im Gerichtsbezirk des Rates gefunden wurden. 11 Der Leipziger Rat berief sich auch bei späteren Streitereien auf eine entsprechende Tradition und zitierte Präzedenzfälle. Auf der anderen Seite standen die Vertreter der Landeskirche (Pfarrer, Superintendent, Konsistorium), die prinzipiell in die Verhandlungen über ein Begräbnis einzubeziehen waren. Diesen Umstand überging das Argument des Rats, es würde kein Prohibitivgesetz existieren, schlichtweg. Das dritte Argument setzte voraus, dass dem Rat grundsätzlich immer eine Art Erstentscheidungsrecht zustand, was aber wegen der begräbnisrechtlichen Kompetenzen der Landeskirche ebenfalls nicht zutraf. Nach diesem Beginn des Begräbnisdisputs 1702 in Leipzig vergingen weitere 17 Jahre bis zu einer landesherrlichen Regelung der Kompetenzabgrenzungen. Hierfür war es entscheidend, dass der Leipziger Streitfall vor die Regierungsbehörden in Dresden getragen wurde. Grundsätzlich bestand das Konsistorium Leipzig darauf, dass ausnahmslos alle Begräbnisfragen von ‚Selbstmördern’ der geistlichen Gerichtsbarkeit unterworfen seien. Der Leipziger Rat argumentierte dagegen stets, dass er in keiner Weise dazu verpflichtet wäre, das Konsistorium zu unterrichten. Im November 1702 rapportierte das Leipziger Konsistorium den Fall nach Dresden, wo er im Geheimen Rat respektive dem Geheimen Konsilium verhandelt wurde. 12 Diese Behörde vertrat seit 1697 infolge der Konversion Kurfürst Friedrich August I. die landesherrliche Hoheit über das Kirchenwesen. Der Geheime Rat entschied am 13. November 1702 grundsätzlich, weltliche Behörden hätten zwar Lebenswandel der Toten und Umstände der Tat zu untersuchen. Danach aber sollten sie sich wegen des Entscheids über die Art der Beisetzung an das jeweilige Konsistorium wenden und dessen Entschluss abwarten. Die weltlichen Obrigkeiten hätten sich auch weiterhin keine Autorität 11 Zum Verhältnis von Scharfrichter und Rat in Leipzig siehe G REBENSTEIN , Scharfrichter. 12 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 6 ff. Mit der Einrichtung des Geheimen Kabinetts durch Kurfürst Friedrich August I. (als König von Polen August II.) 1704-1706 wurden die Kompetenzen des bisherigen Geheimen Rates eingeschränkt. Dieser erhielt nun zur besseren Unterscheidung vom älteren Geheimen Rat die Bezeichnung Geheimes Konsilium, in dessen Bestand sich auch die entsprechende Akte zum Leipziger Disput befindet. Siehe hierzu die knappen Behördengeschichten in F ÖRSTER u. a. (Bearb.), Bestände Bd. 1, Teil 1, S. 20 ff. Da das Geheime Kabinett erst nach den Streitigkeiten des Leipziger Konsistoriums mit dem Leipziger Rat (1702-6) vollständig als oberste Aufsicht führende Behörde ‚institutionalisiert’ wurde (K LEIN , Kursachsen, S. 827), ist es verständlich, dass die Dispute nicht vor dem Geheimen Kabinett verhandelt wurden. Auf das Fehlen diesbezüglicher Akten im Archiv des Geheimen Kabinetts verweist auch K OSLOFSKY , Suicide, S. 68 Anm. 59. <?page no="243"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 232 über die Begräbnisse von ‚Selbstmördern’ anzumaßen. 13 Die Geheimen Räte gingen also davon aus, dass über Bestattungen nach Selbsttötungen stets im ‚Forum ecclesiasticum’ entschieden wurde. Diese Stellungnahme war prinzipiell eindeutig und nicht diskutabel. Indes sah das der Leipziger Rat anders und handelte entsprechend. Ende Mai 1703 beschwerte sich deshalb das Konsistorium Leipzig erneut beim Geheimen Konsilium. 14 Die Kirchenräte zeigten sich nun auch erstaunt darüber, dass der Leipziger Rat die kirchenrechtlichen Lehrsätze Benedict Carpzovs herangezogen hatte, um die Rechtmäßigkeit seiner Position zu untermauern. Aus Sicht des Konsistoriums hatte der städtische Magistrat mit dem Versuch, die eigene Rechtsposition durch einen Verweis auf die Ikone sächsischer Rechtsgelehrsamkeit zu belegen, der Gegenseite in die Hände gespielt. Und an sich unstrittig belegte bspw. einer der vom Rat aufgeführten Punkte die Autorität des Dresdner Oberkonsistoriums in Begräbnisfragen. Die weltlichen Instanzen erschienen bei Carpzov explizit als ausführende Organe der Dezisionen der kirchlichen Zentralbehörde. 15 Der entscheidende Punkt sei aber, so die Konsistorialräte weiter, dass die Position des Rats an keiner Stelle als geltendes Recht fixiert wäre. Vielmehr läge es ohne Unterschied allein im Ermessen der Konsistorien, über das Begräbnis von ‚Selbstmördern’ zu entscheiden. 16 Nun hatte der Rat bereits früher argumentiert, dass kein Landesgesetz ihn an seinem beanspruchten Recht, Begräbnisse anzuordnen, hindern würde. Da also kein explizites Verbot existierte, wollte der Rat auch über Begräbnisse entscheiden. Dagegen führte nun das Konsistorium an, es würde gar „kein landesgesetz [… existieren], darinne solch recht[e] denen gerichts obrigkeiten, als zu derer jurisdiction diese sache nicht gehörig, gegeben wäre, folglich auch nicht nöthig, daß es eben durch gewisse landes verordnungen, als eine ihnen ohnehin nicht zukommende sache verbothen werden sollen“. 17 13 K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 399; K OSLOFSKY , Suicide, S. 60. Verweis auf diesen Entscheid in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 12 und 21. 14 Ebd., fol. 17 ff. 15 C ARPZOV , Definitiones, Def. 373 n. 17 (S. 573 f., der Fall: „Consistorium supremum ad requisitionem Caspari E. zu Detzschen die 23. Martii Anno 1613“. Eine adlige Frau wollte ihren verstorbenen Sohn nicht beerdigen lassen, wurde hierzu aber unter Androhung von Strafe vom Oberkonsistorium aufgefordert, „und in Verweigerung wird sie von der Obrigkeit darzu billig angehalten“; S. 574.) 16 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 18. 17 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 18 f. <?page no="244"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 233 Die vom Rat angeführte kirchenrechtliche Argumentation Carpzovs (genauer dessen Lehrsätze 373, 376 und 377) würde stattdessen klar für die Hoheit der Konsistorien in Begräbnisfragen sprechen. Auch das Argument, die Entfernungen der Ratsdörfer erzwinge bisweilen schnelle Entscheide vor Ort, könne nach Lage der zum Rat gehörigen Gemeinden nicht gelten. 18 Im Namen des Kurfürsten ließ der Geheime Rat daraufhin dem Leipziger Stadtrat am 20. Juni 1703 folgenden Beschluss zukommen: „wann wir aber die von euch gemachte distinction ohne grund, und dahero nur einwenden, von keiner erheblichkeit befinden; Als laßen wir es auch bey obangezogenem befehl nochmals bewenden, hiermit gnädigst begehrende, ihr wollet solchen gehorsamst nachkommen und euch gebührend achten“. 19 Die Geheimen Räte in Dresden stellten damit einerseits fest, dass die Argumente des Leipziger Rats unerheblich wären. Andererseits verwiesen sie auf eine gleichlautende Anweisung vom November 1702, in der dem Stadtrat bereits auferlegt worden war, sich zu bescheiden und mit dem Konsistorium zu kooperieren. Der Disput hätte damit beendet sein können. Doch eine weitere Selbsttötung in Leipzig entfachte den Konflikt aufs Neue. Am 13. Juni 1703 erhängte sich der Lehrling eines Leipziger Töpfers. Die Hinterbliebenen supplizierten beim Rat um ein ehrliches Begräbnis. 20 Der Rat erwog kurz, deswegen zum Konsistorium zu kommunizieren. Bevor es jedoch dazu kommen konnte, zogen die Angehörigen ihre Bitte wieder zurück. Deshalb wurde die Leiche nun, ohne dass das Konsistorium vorher konsultiert worden wäre, nachts auf dem Johannisfriedhof an einem abgesonderten Ort beigesetzt. Offenbar hatte der zuständige Pfarrer nicht widersprochen. Im Konsistorium war man darüber wenig erbaut. Und so erging am 25. Juni 1703 eine dritte Anweisung des Geheimen Rates an den Leipziger Rat, es nun endlich bei der „ertheilten wohlbedächtigen verordnung“ vom November 1702 bewenden zu lassen und dieser Folge zu leisten. Der Stadtrat stellte daraufhin in einem Brief an das Oberkonsistorium die Position des Leipziger Konsistoriums infrage, hielt sich aber mit weiteren Protesten bis zum Dezember zurück. 18 Ebd., fol. 19; zumal das Konsistorium ebenso schnell wie der Rat entscheiden könne und auch aus weiter entfernt gelegenen Ortschaften die Berichterstattung zum Konsistorium bislang kein Problem gewesen wäre. 19 Ebd., fol. 12. 20 K OSLOFSKY , Säkularisierung, S. 400. <?page no="245"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 234 Pünktlich vor Weihnachten 1703 traf dann ein Schreiben des Leipziger Rats an den Geheimen Rat in Dresden ein, in dem alle bereits ausgetauschten Argumente erneut vorgebracht wurden. Der Brief schloss mit der Bitte an den Kurfürsten, auch weiterhin die Rechte des Rats „landes-väterlich“ zu schützen und das hiesige Konsistorium zu mehr Bescheidenheit zu ermahnen. Besonders diese neue Schlusspointe war wohl für die nun folgende, von den bisherigen Entscheiden abweichende Reaktion verantwortlich. Der Landesherr wies das Oberkonsistorium an, die Position des Leipziger Rats anzuerkennen, weil „nun gedachten rathes anbringen, wenn es sich also vorhült, allerdings erheblich und gegründet“. Zugleich bestätigte der Kurfürst aber den Konsistorien die „cognition und decision“ in jenen Fällen, in denen Zweifel über die zeremoniellen Fragen herrschten. 21 Das Dresdner Oberkonsistorium antwortete umgehend: 22 Bereits 1664 hätte der selige Kurfürst Johann Georg II. in einem vergleichbaren Fall den Konsistorien die Kompetenz in Suizidverfahren zugesprochen und zugleich die Kompetenzanmaßung des damaligen Dresdner Amtmanns Michael Leister gerügt. 23 Wie interpretationsfähig solche Entscheide waren, zeigt sich allerdings schon daran, dass der Leipziger Rat 1702 auf genau den gleichen Fall verwiesen hatte, um sein Verhalten im Fall Anna Altner zu rechtfertigen. 24 Leipziger Rat und Oberkonsistorium argumentierten nun, die Jurisdiktionshoheit bei Begräbnissen sei ein wichtiger Bestandteil eigener Herrschaftsrechte. Die Haltung der Kirchenräte war deshalb unmissverständlich: „denn wie ja unstreitigen rechtens, daß das jus sepultura ad cognitionem episcopalem, welche nicht per judicem secularem, sondern bey denen protestirenden ständen in denen consistoriis exerciret wird, gehörig“. 25 Gegenüber dem Geheimen Rat konnte nicht oft genug betont werden, dass das Begräbnisrecht in Kursachsen durch die Konsistorien ausgeübt werde, übte dieser doch die landesherrliche Kirchenhoheit aus. Eine Revision des vorangegangenen landesherrlichen Entscheids zugunsten des Leipziger Rats ist nicht überliefert. Da die Situation damit weiterhin offen und diffus blieb und 21 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 1. 22 Ebd., fol. 2 ff. 23 Es handelte sich hierbei um den oben (Teil B, Kap. 4) schon geschilderten Fall von Johann George Ganßauge (Dresden 1664). 24 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 3 v . Dieser Umstand ist auch insofern interessant, als das Reskript zu diesem Fall ja eigentlich den Dresdner Raum betraf und zudem erst 1724 im Codex Augusteus publiziert wurde. 25 Ebd., fol. 3 r . <?page no="246"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 235 auch der Leipziger Rat sein Verhalten nicht änderte, ließen erneute Beschwerden der Geistlichkeit nicht lange auf sich warten. Bevor jedoch die weiteren Streitigkeiten geschildert werden können, ist eine kurze Bilanz zu ziehen. Die bisherige Darstellung der Auseinandersetzungen erscheint reichlich verworren und es ist kaum erkennbar, wie die strittigen Argumente dauerhaft tragfähig ausgehandelt werden sollten. Auf der einen Seite sehen wir die Konsistorien, die auf ihrer Autorität über sämtliche Begräbnisse bestanden. Auf der anderen Seite erleben wir einen städtischen Magistrat, der überaus hartnäckig die von ihm beanspruchten gewohnheitsmäßigen Rechte verteidigte. Der bis hierhin letzte Lösungsansatz vom Dezember 1703, faktisch beiden Parteien Recht zu geben und sowohl die vom Leipziger Rat beanspruchten Rechte zu verteidigen und zugleich die Rechte der Konsistorien zu stärken, irritiert nicht zuletzt wegen der zuvor gegen den Leipziger Rat gefällten Entscheidungen. Die Klausel, den Konsistorien die Hoheit in zweifelhaften Fällen zuzugestehen, ließ zudem die Frage offen, wer darüber befinden sollte, ob es Zweifel gab. Erklärbar erscheint mir die Revision mit einem taktisch geschickten Vorgehen des Leipziger Rates, der in seinen wiederholten Bemühungen auf den landesväterlichen Pflichten des Kurfürsten insistierte. Fortsetzung der Streitigkeiten und Normsetzung Am 12. Februar 1705 beschwerte sich das Konsistorium Leipzig erneut beim Dresdner Oberkonsistorium, von wo aus die Beschwerde an das Geheime Konsilium weitergeleitet wurde. 26 Erneut hätte sich der Leipziger Rat nicht an die landesherrlichen Anweisungen gehalten und eigenmächtig einen Mann beerdigen lassen, der volltrunken auf dem Weg von Leipzig nach Taucha verstorben war. Im Juli 1706 beschwerten sich die geistlichen Räte darüber, dass sich der Gerichtshalter in Holzhausen nach der Selbsttötung eines Knechts an den Leipziger Schöppenstuhl und nicht an das Konsistorium gewandt hatte. Der Aktenversand und die Arbeitsleistung des Schöppenstuhls hätten ungerechtfertigt hohe Kosten in Höhe von 19 Talern verursacht - „Wir auch nicht befinden können, wie denen schöppenstühlen in dergleichen fällen die cognition zustehe“. 27 Die bei Annahme einer gewissen Regelmäßigkeit von Selbsttötungen und Unglücksfällen durchaus wenigen Streitfälle zeigen an, dass es in und um Leipzig nicht bei jeder Beisetzung von Menschen, die eines nichtnatürlichen 26 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 26 f. und 33 f. 27 Ebd., fol. 40. <?page no="247"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 236 Todes gestorben waren, zu Auseinandersetzungen gekommen ist. 28 Dies festzustellen relativiert die geschilderten Kompetenzstreitigkeiten, die sich in den Folgejahren fortsetzten und in zwei landesherrlichen Entscheiden 1713 und 1719 gipfelten. Es wird deutlich, dass die hier geschilderten Kompetenzkonflikte zu einer grundsätzlichen normativen Regelung auf Landesebene führten, obwohl sie eher nicht den Normalfall konsensualen Einvernehmens über die Begräbnisse nach Selbsttötungen abbildeten. Am 18. August 1713 erging an die Leipziger und Wittenberger Juristenfakultäten sowie an die jeweiligen Schöppenstühle ein Entschluss, nach dem sich nach Selbsttötungen von Melancholikern die weltlichen Spruchbehörden jeglicher Anweisungen zu enthalten hätten und derartige Fälle an die Konsistorien überweisen sollten. 29 Das Oberkonsistorium selbst scheint erstaunlicherweise von diesem Befehl nichts mitbekommen zu haben. 30 Noch in einem Brief vom 30. August 1713, also zwölf Tage nachdem der Befehl an die juristischen Spruchbehörden versandt worden war, forderten die Oberkonsistorialräte das Geheime Konsilium unter Berufung auf die 1706 geführte Beschwerde auf, die Schöppenstühle zu maßregeln. 31 Das Geheime Konsilium bemühte sich rasch um Klärung. Ein Schreiben an das Oberkonsistorium zitierte den bereits publizierten Entschluss. 32 Zugleich verschärfte das Geheime Konsilium den Ton gegenüber den Konsistorien: Bestimmte Fälle von Selbsttötung, allen voran die ‚freventlichen Selbstmorde’ von verurteilten Verbrechern und Strafgefangenen, unterstünden allein der peinlichen Gerichtsbarkeit und müssten demnach vor weltlichen Gerichtsträgern verhandelt werden. Die Konsistorien hätten sich hierbei jeglicher Anmaßungen und Ansprüche zu enthalten. Andernfalls könnten den Konsistorien selbst „beschwerliche irregularitäten“ entstehen, denn in bestimmten Fällen sei ein kirchliches Begräbnis von Rechts wegen versagt. Außerdem würden in Belangen der Blutgerichtsbarkeit die Rechtskollegien seit jeher Recht 28 Überdies finden sich im Bestand ‚Richterstube’ des Stadtarchivs Leipzig keine Akten, die belegen würden, dass die städtischen Gerichte nach Selbsttötungen in irgendeiner Form an den Urteilen beteiligt gewesen wären. Dieser Bestand wurde von Annette Scherer und mir für eine Untersuchung des Umgangs mit Gotteslästerern in Leipzig im Rahmen des Teilprojekts F des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ ausgewertet. 29 C OD . A UG ., Sp. 1010 ff.; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 42 und 10089, Nr. 142, fol. 39. 30 Der Befund ist nicht nur wegen der räumlichen Nähe der Zentralbehörden in Dresden überraschend, sondern auch wegen der personellen Verflechtungen in den Behörden. 31 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 43 f. 32 Ebd., fol. 47. <?page no="248"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 237 sprechen. 33 So wurden also einerseits Rechte der Konsistorien bestätigt. Andererseits stellte man die Eigenständigkeit weltlicher Gerichte in peinlichen Gerichtsfällen fest. Erstmals wurde hier 1713 in einer Weisung durch die oberste Landesbehörde die Unterscheidung zwischen Selbsttötungen, die allein der peinlichen Gerichtsbarkeit unterstanden und solchen Fällen, in denen allein die kirchlichen Behörden zu entscheiden hatten, geltend gemacht. Darin kann man den Versuch sehen, das Verhältnis kirchlicher und weltlicher Instanzen hinsichtlich der strittigen Verfahrensfragen nach Selbsttötungen einvernehmlich zu regeln. Wie stellt sich dieser Befund zu Koslofskys These, der ‚Leipziger Disput’ zeige, dass ein allgemeiner Trend zur Säkularisierung von Suizidverfahren kirchliche Gegenreaktionen ausgelöst hat. 34 Koslofsky sah den behaupteten Säkularisierungstrend unter anderem in den Argumenten des Leipziger Rats bestätigt, der auf eine Tradition eigener, explizit weltlicher Kompetenzen hingewiesen hatte. Dieses Argument ist gleichwohl nicht schlüssig, denn wenn es eine solche Tradition gegeben hat, wie sie der Leipziger Rat behauptete, dann ist um 1700 nicht ein Trend zur Säkularisierung der Jurisdiktionskompetenzen zu beobachten, sondern die Fortsetzung einer Praxis, die bis dahin wenig Anlass zum Streit gegeben hatte. Die auf die Streitigkeiten in Leipzig reagierenden Entschlüsse der Konsistorien und Geheimen Räte, so Koslofsky weiter, würden deutlich anzeigen, dass der Trend zur Säkularisierung der Verfahren nach Selbsttötungen zeitweilig in eine ‚Desäkularisierung’ dieses Trends umgekehrt worden sei. Insgesamt wäre die Hoheit der Konsistorien über Begräbnisfragen nach Selbsttötungen bestätigt worden. Wie ich dagegen gezeigt habe, lässt sich das Ergebnis der Auseinandersetzungen in Leipzig nicht sinnvoll in einer Dichotomie von Säkularisierung und Desäkularisierung von Jurisdiktionskompetenzen beschreiben. Unter- 33 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 47: „sondern denjenigen selbstmördern, welche ex conscientia delictorum und aus furcht der ihnen bereits dictirten oder doch erst zu gewarten habenden lebens strafe, zumahl in atrocioribus, ihnen selbst das leben nehmen, ihre cörper mit der hinausschaffung auf dem schinder karn oder schleife u[nd] der verwürckung in die erde unter dem galgen oder auch öffters noch mit galgen rade u[nd] feuer gestrafet werden, welche strafe allerdings zur peinlichen gerichtsbarkeit zu ziehen, u[nd] also niemand anders, als der weltlichen obrigkeit zukommen kan; Hingegen die consistoria mit denen, welchen die sepultura ecclesiastica von rechts wegen versaget wird, so wenig zu thun haben, als es verbothen ist, daß die clerici sich in die weltlichen händel und sonderlich die causas sanguinis nicht mengen sollen, auch sonsten viele unanständige u[nd] denen consistorien selber beschwerliche irregularitäten, daraus entstehen würden, die rechts collegia auch von undencklichen zeiten […] alleine in dergleichen dingen zu sprechen befugt sind“. 34 K OSLOFSKY , Säkularisierung; K OSLOFSKY , Suicide; K OSLOFSKY , Body. <?page no="249"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 238 suchungen und Entscheidungen nach Selbsttötungen lagen bereits vor 1700 an der Schnittstelle zwischen sich überschneidender Kriminal- und Kirchenzucht, sodass die Vermengungen formal unterschiedener Handlungslogiken und Kompetenzbereiche nicht verwundert, auch wenn die Kompetenzen als verschieden betrachtet wurden. 35 Der Entscheid von 1713 ist demnach das Ergebnis einer in den Beschwerden an die Regierungsbehörden herangetragenen Forderung, Zuständigkeiten entweder auf Grundlage bestehender Normen eindeutig festzulegen bzw. bei Fehlen solcher Normen, so die implizit enthaltene Forderung, die Zuständigkeiten zu regeln. Die 1713 gefundene Lösung erklärte die Träger der peinlichen Gerichtsbarkeit für zuständig bei peinlich zu ahndenden ‚Selbstmorden’ von Untersuchungs- und Strafgefangenen bzw. verurteilten Delinquenten. Darüber hinaus aber blieb eigentlich alles unklar. Zwar wurde den Konsistorien das Recht zugesprochen, in Fällen von Suizid aus Melancholie über das Begräbnis zu entscheiden. Doch schon diese Gemütszuschreibung war deutungsbedürftig. Und was die Zuständigkeiten der Konsistorien anging, regelte der Erlass keinen wirklich neuen Sachverhalt: „Moderatio ceremoniarum in funere eorum qvi dementes, vel ex animi impotentiâ mortem sibi intulerunt, cognitioni & arbitrio Magistratûs ecclesiastici seu Consistorii est committenda“. 36 Zu den von Benedict Carpzov angesprochenen ‚animi impotentia’ zählten auch melancholische Gemütszustände, die ebenso wie ‚Wahnsinn’ bewiesen werden müssten: „melancholia pariter & furor ante omnia probari debet“. 37 Die Beweisführung erfolgte in der Praxis durch eine Untersuchung des Lebenswandels, in die zugleich kirchliche und weltliche Behörden involviert waren. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Juristenfakultäten, Schöppenstühle und Konsistorien in der Anweisung von 1713 wurde im März 1719 durch einen allgemeinen Befehl des Kurfürsten noch einmal bestätigt. 38 Wahrscheinlich sollte der 1713 getroffenen, und zunächst lediglich an die Juristenfakultäten und an das Oberkonsistorium adressierten Regelung landesweit durch einen allgemeingültigen und entsprechend publizierten Befehl Geltung verschafft wer- 35 C ARPZOV , Definitiones, Lib. III. Tit. I. Def. VI: „Jurisdictio Consistorii; se non extendit ad causas criminales, qvae poenam merentur capitalem vel corporis afflictivam.“ Vgl. auch meine Ausführungen und die Literaturhinweise in K ÄSTNER , Experten. 36 Zit. nach W INCKLER , De mortis, S. 61. 37 Vgl. C ARPZOV , Definitiones, Def. 378, n. 9. 38 C OD . A UG ., Sp. 1009 f.; siehe auch Anhang II.1. In S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4660, fol. 5 v wird dieser Befehl als ‚Kirchenratsverordnung’ bezeichnet. <?page no="250"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 239 den. Der Codex Augusteus von 1724 führte beide Erlasse zusammen auf und unterstrich so ihren unmittelbaren Zusammenhang. 39 Aber weder der Erlass von 1713 noch der Befehl von 1719 regelte die Zuständigkeiten nach Selbsttötungen, die sich nicht in das vorgegebene bipolare Muster, melancholischer Suizid hier - ‚Selbstmord’ mutmaßlicher Delinquenten da, einordnen ließen. Wer sollte nach welchen Grundsätzen entscheiden, wenn sich Nicht-Inhaftierte vorsätzlich und damit strafwürdig selbst töteten? Solche Fälle waren ja eigentlich ebenso erwartbar wie die Situation, dass eine Selbsttötung nicht zweifelsfrei oder ohne unterschiedliche Positionen beurteilt werden konnte. Genau diese Fragen waren aber kein Gegenstand der Auseinandersetzungen in Leipzig gewesen, ebenso wenig wie Fragen der Beurteilung von Selbsttötungen. Da die landesherrlichen Erlasse wiederum allein auf den engstirnigen Problemfokus der Auseinandersetzungen abhoben, wurden diese Fragen keiner normativen Regelung zugeführt. Im Folgenden ist nach den Wirkungen des Befehls von 1719 zu fragen. Dazu werden einzelne Untersuchungsverfahren nach Selbsttötungen näher untersucht. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, ob und wenn ja wie sich die jeweils beteiligten kirchlichen und weltlichen Amtsträger vor Ort auf die Bewertung von Selbsttötungen und den Umgang mit ‚Selbstmördern’ einigten. 7.2. Auseinandersetzung und Kooperation in Suizidverfahren Neue Konflikte - Alte Argumente Im Februar 1731 ordnete das Dresdner Oberkonsistorium nach dem Suizid eines unbekannten Müllers aus der Nähe von Oschatz an, der Scharfrichter solle die Leiche vom Strick abschneiden und anschließend schändlich verscharren. Diese Anordnung entfachte eine erneute Debatte über die Befugnisse der Konsistorien. 40 Der Müller hatte sich aus Sicht des Oberkonsistoriums vorsätzlich und damit frevelhaft das Leben genommen. Die Landesregierung, die der Deutung des Oberkonsistoriums zwar nicht widersprach, kritisierte, dass die Kirchenräte eigenmächtig und unbefugt dem örtlichen Scharfrichter Anweisungen erteilt hatten. Die Kirchenbehörden konnten aus Sicht der Landesregierung zwar Begräbnisse verweigern, nicht aber die Ausführung peinlicher 39 C OD . A UG ., Sp. 1009 ff. 40 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4660, fol. 1 v f. weist aus, dass das Schandbegräbnis auch so ausgeführt wurde. Die Quelle ebenfalls bei K ÄSTNER , Leid, Appendix C. <?page no="251"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 240 Strafen befehlen, und darunter zählte man auch das Schleifen durch den Nachrichter. Landesregierung und Geheimes Konsilium ersuchten daher im März 1731 den Kurfürsten um eine eindeutige Regelung für den Umgang mit vorsätzlichen Selbsttötungen, die nicht von bereits verurteilten oder mutmaßlichen Straftätern begangen wurden und bei denen Melancholie auszuschließen war: „Es kömmt aber dabey hauptsächlich auf die frage an: Ob, wenn eine person, ausgeübter boßheit und frevels halber, der beerdigung auf dem kirchhofe nicht würdig geachtet werden mag, sondern dagegen durch den nachrichter unter dem galgen, oder an einem andern infamen [Einschub: oder sonst entlegenen] orth zu verscharren, solcherley verfügung von denen consistoriis oder nicht viel mehr vom judice seculari zu ertheilen sey“. 41 Das Geheime Konsilium wolle, so das Gesuch weiter, nicht die Rechte des Oberkonsistoriums beschneiden. Der Landesherr solle aber definitiv erklären, dass die Konsistorien nicht über jene ‚Selbstmörder’ zu befinden hätten, denen ein kirchliches Begräbnis von Rechts wegen zu versagen war, also allen vorsätzlichen, nicht-melancholischen ‚Selbstmördern’. 42 Eine Antwort des Kurfürsten ist nicht überliefert. Da jedoch anderthalb Monate später eine Aufforderung an das Oberkonsistorium erging, sich zu diesem Problem zu äußern, steht zu vermuten, dass der Kurfürst zunächst auch dessen Position hören wollte, ehe er zu entscheiden gedachte. Allerdings liefern die Akten zu diesem Fall keine weiteren Informationen. Die Beschwerde der Landesregierung und des Geheimen Konsiliums verdeutlicht allerdings, dass die Wahrnehmung von problematischen, weil nicht eindeutig geregelten Fällen dazu führte, dass klare Verfahrensnormen eingefordert wurden. Sachlich ging es hierbei der tendenziell um Präzision und Effizienz bemühten Verwaltung um klare Regeln, weil die tradierte Verfahrenspraxis zu Reibungsverlusten führte. 43 Das belegen auch andere Vorgänge. Am 6. Juni 1732 wandte sich die Landesregierung erneut an die Geheimen Räte. Der Plauener Amtmann Carl Ebelt hatte sich zuvor bei der Landesregierung über die seiner Ansicht nach zu lange Bearbeitungszeit eines Suizidver- 41 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4660, fol. 3 r-v . 42 Ebd., fol. 7 v . 43 Die Geheimen Räte verwiesen darauf, dass man selbst bisher stets das Oberkonsistorium in die Beratungen zu solchen Fälle einbezogen habe, um „schädliche collision“ unter den Kollegien zu verhindern; ebd., fol. 2 v . <?page no="252"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 241 fahrens im Leipziger Konsistorium beschwert. 44 Nachdem sich eine Frau im August 1732 getötet hatte, hätte er zehn Tage auf einen Entscheid warten müssen, was erhebliche Probleme bei der Bewachung des Leichnams nach sich gezogen hatte. 45 Worin genau die Probleme bestanden, ist unklar. Vermutlich haben sich nicht genügend Personen für eine dauerhafte Bewachung gefunden, zumal der Leichnam im Sommer bei warmem Wetter bereits nach kurzer Zeit starke Verwesungsspuren gezeigt haben dürfte. Um in Zukunft Ähnliches zu verhindern, fragten die landesherrlichen Räte beim Leipziger Konsistorium an, ob es nicht möglich wäre, entsprechende Vorschriften für ein geregeltes Verfahren als Handreichung an die subordinierten Superintendenten und Kircheninspektoren zu geben: „Allermaßen nun hierbey in vorschlag gekommen, ob nicht denen superintendenten und inspectoribus in denen von euch weit entfernten Diocesen ein gewißes regulativ, wie es mit beerdigung derer selbst-mörder […] vorgeschrieben und ertheilet werden kann“. 46 Eindeutig ist ein Bemühen der landesherrlichen Ebene zu erkennen, für den jeweils lokalen Verwaltungsalltag praktikable Lösungen zu finden, wenngleich auch hier kein Ergebnis der Diskussion überliefert ist. 47 Die lokalen Kirchenvertreter sollten durch klare Regulative zum unmittelbaren Handeln befähigt werden. Das hätte aus Sicht der Landesregierung zwei Vorteile gehabt. Einerseits hätte man so Streitigkeiten wegen Verzögerungen von Entscheidungen vorbeugen können. Andererseits wären die Regierungsbehörden entlastet worden. Das Fehlen einer Ablage von Berichten in den Beständen der Landesregierung und die in den überlieferten Fällen geschilderten Aushandlungsprozesse zeigen, dass die Ämter und lokalen Gerichte wohl größere Handlungsspielräume besaßen als die Pfarrer und Superintendenten. Die überlieferten Akten lassen nicht erkennen, dass der Landesherr forciert hätte, die Kompetenzgerangel in 44 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10089, Nr. 142, o. Pag., Schreiben vom 8. September 1732. 45 Dagegen hatte noch in der Auseinandersetzung mit dem Leipziger Rat das Konsistorium Leipzig am 8. November 1702 betont, dass man keine Probleme mit dem Entscheid von Fällen hätte, die aus entlegenen Gebieten kommen würden und es daher üblich sei, dass Boten selbst aus Thüringen oder dem Vogtland nach Leipzig geschickt würden; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 9 v . Zu Auseinandersetzungen über die Bewachung von ‚Selbstmörderleichen’ siehe auch S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 3799 und 3800. 46 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10089, Nr. 142, o. Pag., Schreiben vom 8. September 1732. 47 Das Geheime Konsilium erkundigte sich noch beim Leipziger Konsistorium, wie man es handhaben würde, wenn es sich bei den Suizidenten nicht um Melancholiker gehandelt hätte und ihre Körper durch den Nachrichter zu verscharren wären; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10089, Nr. 142, o. Pag., Schreiben vom 1. Juni 1734. <?page no="253"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 242 Begräbnisangelegenheiten nach Selbsttötungen durch klare Regeln zu lösen. Es fehlen nicht nur Dokumente, die über weitere Verhandlungen insbesondere über die Vorschläge der Landesregierung berichten, wie sie für die letzten Jahrzehnte des Untersuchungszeitraums vorliegen. Es sind auch bei späteren Streitigkeiten und in den später erlassenen Normen keine Bezüge auf Regelungen, die möglicherweise aus den hier geschilderten Ereignissen resultierten, zu erkennen. Im April 1742 erregte der Leipziger Rat erneut Unmut. Diesmal beschwerte sich das Stiftskonsistorium in Merseburg. 48 Dieses warf dem Leipziger Rat vor, wiederholt eigenmächtig die Beisetzung der Leichen von Suizidenten und anderen verunglückten Personen angeordnet zu haben. Im Juli 1741 war bspw. Gottlieb Cramer „in dem waßer bei Lindenau, die Luppe genannt, worinnen er sich baden wollen“ ertrunken. 49 Der Leipziger Rat, der über Lindenau die Ober- und Erbgerichtsbarkeit ausübte, hatte den Toten an einem abgesonderten Ort des Kirchhofs still beerdigen lassen. Die gleiche Form der Beisetzung hatte der Rat auch für einen Theologiestudenten angeordnet, der sich im August des gleichen Jahres in einem Waldstück nahe Lindenau erhängt hatte. Obwohl der Lindenauer Pfarrer Gottfried Michaelis dagegen protestiert hatte, ließ der Rat den Theologiestudenten an der Mauer des Kirchhofs bestatten. 50 Daraufhin beschwerte sich der Pfarrer beim Stiftskonsistorium in Merseburg, welches vom Leipziger Rat eine Stellungnahme einforderte. Der Leipziger Rat berief sich wie schon in der Auseinandersetzung mit dem Leipziger Konsistorium auf gewohnheitsmäßige Rechte, die vom Merseburger Stiftskonsistorium zuvor nie angezweifelt worden wären. So hätte man bspw. einen Leinweber, der sich aus Melancholie erhängt haben soll, ohne Widerspruch der Konsistorien auf einem Kirchhof bestatten lassen. 51 Im Übrigen nahm der Leipziger Rat die bereits früher verwendete Argumentation auf und berief sich auf die kirchenrechtlichen Lehrsätze Benedict Carpzovs. In der früheren Auseinandersetzung war diese Argumentation gescheitert, sodass sich der wiederholte Versuch plausibel so erklären ließe, dass man aus dem Ratsarchiv Vorgänge mit gleichem Sachverhalt herausgesucht und die Argu- 48 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 1 ff. Der Fall kam vor die Landesregierung, weil diese die Appellationsinstanz für die Stiftsregierung und das Stiftskonsistorium Merseburg war; dazu K LEIN , Kursachsen, S. 812. 49 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 2 r . 50 Ebd., fol. 2 v . 51 Ebd., fol. 3 v . <?page no="254"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 243 mentation einfach übernommen hatte. Zumindest gleichen die entsprechenden Textstellen einer wörtlichen Abschrift der bereits 1702-3 vorgebrachten Argumente. 52 Die Hartnäckigkeit, mit der der Leipziger Rat erneut die gleichen Argumente vortrug, sollte sich diesmal auszahlen. Die Landesregierung unterstützte nun die Position des Rates, wenngleich sie nicht unmittelbar bestätigte, dass die Argumentation an sich schlüssig sei. Vielmehr führte sie ein mehr als einhundert Jahre altes kurfürstliches Reskript an, um die Position des Leipziger Rates zu untermauern. In einem Schreiben aus dem Jahr 1637 war einem Pfarrer auf Anfrage beschieden worden, alle tot aufgefundenen Personen, deren Todesursache nicht eindeutig geklärt werden konnte, ehrlich zu bestatten und hierzu entweder den Totengräber oder verfügbare Amtsuntertanen zu verpflichten. 53 Dieses Reskript fand Eingang in den Codex Augusteus, weshalb es (spätestens) mit dessen Veröffentlichung 1724 als prinzipiell anwendbares Recht galt, das zudem leicht zugänglich war. Es lässt sich an diesem Vorgehen der Landesregierung ebenso wie im Fall des bereits beschriebenen landesherrlichen Reskripts von 1664 nachvollziehen, dass landesherrliche Antwortschreiben, die zunächst reine Einzelfallentscheidungen waren, nach ihrer Publikation über den jeweils konkreten Kontext hinausgehende Wirkung erzielten. Auf das Reskript von 1637 wurde bis zum Zeitpunkt der Auseinandersetzungen des Stiftskonsistoriums Merseburg mit dem Leipziger Rat in keinem weiteren mir bekannten Begräbniskonflikt Bezug genommen. Doch der Codex Augusteus erhob nicht nur einen allgemeinen Anspruch auf Geltung dieses Reskripts. Indem die Landesregierung sich explizit auf diese offizielle Sammlung sächsischen Rechts berief, konnte sie den Geltungsanspruch schließlich auch durchsetzen. Ein landesherrliches Dekret an das Stiftskonsistorium Merseburg gab am 17. Mai 1745 der Landesregierung Recht und 52 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 6 f.; zum Vergleich der Textstellen S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 4571, fol. 13 ff. 53 Eine solche Bestattung sollte geschehen, damit die Körper nicht von wilden Tieren gefressen würden. Dadurch sollte der Zorn Gottes abgewendet werden. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 9: „dahingegen dergleichen berichts-erstattung in fällen, wo einer in waßer ausgeworffen worden, oder auf der strasse todt gefunden wird, und man nicht weiß, ob er sich selbst umgebracht oder von andern ermordet, weil dergleichen cörper nach dem reskript de anno 1637 vid: pag: 859 Cod: Aug. part: 1 an ort und stelle, wo sie befunden werden, begraben werden sollen, auch in solchen falls keine ermäßigung der sepultur, und deren ceremonien, als worinnen lediglich das wesentliche stücke derer consistorien bestehet erfordert wird, unvonnöthen sey dürfte“. Zum Vergleich des Wortlautes C OD . A UG ., Sp. 859 f. <?page no="255"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 244 erklärte, tot aufgefundene Personen (ausgenommen melancholische Suizidenten) dürften ohne Anweisung des Konsistoriums beigesetzt werden. 54 Zugleich sprach das Geheime Konsilium dem Leipziger Rat als Inhaber der „criminaljurisdiktion“ das Recht zu, ein Schandbegräbnis nach Selbsttötungen, die aus Verzweiflung oder Furcht vor Strafe geschehen waren, anzuordnen. Zuvor sollte der Rat allerdings auch Urteile der Merseburger Stiftsregierung einholen, insofern diese ebenfalls Rechte am Fundort der Leiche besaß. 55 Die geschilderten Auseinandersetzungen der 1730-er und 1740-er Jahre verdeutlichen zum einen, dass im 18. Jahrhundert eine weitere Institution für die administrativ-policeyliche Behandlung von Selbsttötungen an Bedeutung gewann - die Landesregierung. Seit Februar 1740 mussten alle Verwaltungsbehörden Unglücksfälle an die zentralen Landesbehörden berichten. 56 Einhergehend ist eine systematischere Registratur von Selbsttötungen und anderen Unglücksfällen bei der Landesregierung zu erkennen, die für die Ämter die übergeordnete Instanz in Policeyangelegenheiten war. 57 Zum anderen war es wiederholt ein fehlendes Einvernehmen vor Ort, etwa der Protest des Lindenauer Pfarrers, welches dazu führte, dass die zentralen Regierungsbehörden überhaupt mit Auseinandersetzungen über die Begräbnisfrage nach Selbsttötungen in der Provinz beschäftigt waren. Gleichwohl waren es nur wenige Streitfälle, die vor die Landesregierung oder das Geheime Konsilium getragen wurden. Der Regelfall scheint die Kooperation vor Ort gewesen zu sein. Kooperation in gerichtlichen Untersuchungen nach Selbsttötungen Die Überlieferung der zentralen Verwaltungs- und Regierungsbehörden weist in der Tendenz eher Schreiben zu Problemen und/ oder Konflikten vor Ort auf als 54 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 12 f.; abgedruckt als „Decret An das Stiffts- Consistorium zu Merseburg, die Beerdigung derer Selbstmörder betreffend, d. d. Leipzig, den 17. May 1745“, in: C OD . A UG . Cont. I, P. II, Sp. 235 f.; unvollständig zitiert bei W INCKLER , De mortis, S. 66. 55 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 12 v f.: „[A]uch endlich die veranstaltung der sepulturae caninae bey denen selbst-mördern die sich entweder aus desparation oder ex conscientia delicti oder aus furcht der strafe entleiben, vor den rath als die weltliche obrigkeit so die criminaljurisdiction zu exerciren hat, gehörig iedoch, daß derselbe vorher iederzeit bescheid von der stiffts=regierung zu Merseburg einzuholen habe.“ 56 „Generale, wegen derer sich begebenden Unglücks- und anderer außerordentlichen Fälle; den 20. Febr. 1740“, in: C OD . A UG . C ONT . I, P. II, Sp. 661 f.; Siehe auch S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. I. 57 Hierzu und zur faktischen Unselbstständigkeit der Ämter B LASCHKE , Behördenkunde. <?page no="256"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 245 Berichte über einen reibungslosen Ablauf der Untersuchungsverfahren und Begräbnisse. Nur in strittigen Fällen ergab sich eine Notwendigkeit zu rapportieren und es bestätigt sich der Grundsatz, dass Konflikte Quellen produzieren. Hinzu kommt, dass die an sich geltende, allgemeine Verpflichtung der Ämter und Gerichte, alle vorkommenden Unglücksfälle an die Landesregierung zu berichten, während des gesamten 18. Jahrhunderts nur punktuell umgesetzt wurde. Einen Einblick in Verfahrensabläufe und den gerichtlichen Arbeitsalltag jenseits von Konflikten bieten andere Quellen. Zunächst sollen exemplarisch zwei Fälle aus dem Bestand des Appellationsgerichts Dresden analysiert werden. Hierbei handelt es sich erstens um den Suizid des Kuhjungen George Heinrich Rügner (Niedermeusegast 1736) und zweitens um den Fall des Gemeindemannes George Nitzschmann (Friedrichswalde 1741). 58 Die Überlieferung zu diesen beiden Fällen umfasst jeweils mehrere Berichte, die summarischen Verhörprotokolle sowie Entscheide und Spezifikationen der angefallenen Kosten. Sie sind deswegen im Bestand des Appellationsgerichts überliefert, weil der örtliche Gerichtsherr zugleich Appellationsrat war. Als Behörde war das Appellationsgericht selbst nicht involviert. Ferner werden die im Bestand des Gesamtkonsistoriums Glauchau überlieferten Selbsttötungen untersucht. Dieses Konsistorium war zuständig für die nach Kursachsen inkorporierten Schönburger Herrschaften. 59 Damit wird zugleich ein Sonderherrschaftsraum innerhalb Kursachsens betrachtet. Dies ermöglicht, die Verfahrenspraxis in den Erblanden mit denen der Schönburger Herrschaften zu vergleichen, um überregionale Praktiken und regionale Besonderheiten zu bestimmen. Dem ‚Toback’ ergeben Am Nachmittag des 18. Mai 1736 erhängte sich in Niedermeusegast der Kuhjunge George Heinrich Rügner mit einer Geißelschnur an einem Pflaumen- 58 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538 und 2539; vgl. darüber hinaus für Konflikte ebd., Nr. 3799 und 3800 sowie 10084, Nr. 6251. Für die Appellationsgerichte liegt im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden ein umfangreich bearbeitetes Findbuch vor. Es ist davon auszugehen, dass diese und andere Fälle im Bestand des Appellationsgerichtes überliefert sind, wenn der gerichtsführende Appellationsrat jeweils zugleich Grundherr der betreffenden Gemeinden war, denn in den Quellen selbst ist von einer speziellen Tätigkeit des Appellationsgerichtes nicht die Rede, dafür aber von den Gerichtshaltern der Grundherrschaft. 59 Immer noch S CHLESINGER , Landesherrschaft. Zumindest für das Amt Hartenstein jetzt W ETZEL , Hartenstein. Dort auch ein Überblick über die vorliegenden, meist älteren Forschungen zu den Schönburger Territorien. <?page no="257"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 246 baum im Garten seines Dienstherrn Samuel Gottschich. 60 Der Fall verursachte einige Aufregung und wurde auf Schloss Weesenstein verhandelt. Die dort residierenden von Bünau waren Gerichtsherren über Niedermeusegast. Der Obermeusegaster Richter George Grahle hatte den Vorfall gemeldet und das Alter des Jungen vage mit 13 bis 16 Jahren angegeben. Der denen von Bünau dienende Gerichtshalter 61 August Wilhelm Haubold lud, um sogleich Näheres zur Person Rügners und zum Fall zu erfahren, den Dienstherrn Gottschich vor. Gottschich selbst konnte oder wollte nichts zum Suizid des jungen Rügner aussagen. Er wusste noch nicht einmal den Namen seines Dienstjungen: „wüste auch nicht so genau, wie er heiße“: 62 Um keinen Verdacht gegen sich als Dienstherrn aufkommen zu lassen, sagte er aus, Rügner hätte gewiss noch gegen Mittag seine Arbeit ordentlich verrichtet und wäre „lustig und guter dinge gewesen“. 63 Gottschich kannte den Jungen erst seit Ostern 1736. Er hätte ihn damals, weil dessen Eltern darum gebeten hatten, mit zum Heiligen Abendmahl genommen. In dieser erst kurzen Zeit, während der der Junge in seinem Dienst gestanden hatte, habe er ihn noch nicht näher kennenlernen können, so Gottschich, der auch forderte, das Gericht möge schnellstmöglich die Leiche aus seinem Garten entfernen, weil er als Bauer dort täglich arbeiten müsse. Im Anschluss an die Befragung Gottschichs schrieb der Gerichtshalter Haubold an den Pfarrer von Dohna, wohin Niedermeusegast eingepfarrt war, und an den Pfarrer von Dobra, der Pfarrgemeinde der Eltern. Haubold hoffte, „wegen des sich erhenckten v[nd] deßen eltern zustaende v[nd] lebens wandels“ nähere Informationen zu erhalten. 64 Bis zum Eintreffen der Antworten gingen die normalen summarischen Befragungen weiter. Einen Tag nach der Befragung des Dienstherrn standen der Knecht und die Magd Gottschichs vor dem Gerichtshalter. 65 Die Struktur der Fragen, die das Verhörprotokoll erkennen lässt, deutet darauf hin, dass Haubold Streitigkeiten des Jungen mit seinem Dienstherren als Suizidursache vermutete. Eine entsprechende Frage hatte Haubold dem Bauern Gottschich nicht gestellt. Er stellte sie dafür nun dem Knecht und der Magd. Beide gaben an, am Tag der Selbsttötung keinerlei Trübsinn an 60 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538 61 Die Gerichtshalter rekrutierten sich in der Regel aus dem vor Ort verfügbaren, juristisch geschulten Personal. 62 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538, fol. 1. 63 Ebd., fol. 2. 64 Ebd. 65 Ebd., fol. 3 f. <?page no="258"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 247 Rügner bemerkt zu haben, der stets ein lustiger Mensch gewesen sei. Überhaupt aber könne man gar nicht davon reden, dass Gottschich dem Jungen etwas Übles angetan hätte, „vielmehr wäre Samuel Gottschigs diesen sehr gewogen gewesen, weil er niemahls nichts böses gethan“. 66 Der Knecht vermutete, Rügner müsse sich vorsätzlich und mutwillig das Leben genommen haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Gesinde entweder von Gottschich unter Druck gesetzt worden war, belastende Aussagen zu vermeiden oder sie von sich aus ihren Dienstherrn schützen wollten. Dem Protokoll nach stimmten die Aussagen von Knecht und Magd überein. Ein mögliches Indiz für eine konzertierte Entlastungsstrategie könnte sein, dass zwar alle bis dahin Befragten aussagten, Gottschichs Verhältnis zu Rügner wäre sehr gut und fürsorglich gewesen. Allerdings hatte Gottschich noch nicht einmal den Namen des Jungen nennen können. Dies merkte Haubold auch in seinem späteren Bericht an das Oberkonsistorium an. Daraus lässt sich zwar nicht unmittelbar schlussfolgern, Gottschich hätte den Suizid des Jungen verursacht. Die Ergebnisse der weiteren Untersuchungen legen aber zumindest nahe, dass Gottschich genügend Anlass dazu gehabt hätte, sich durch entsprechende Aussagen vor Gericht entlasten zu lassen. Mittlerweile war Haubolds Anfrage beim Dohnaer Pfarrer angelangt, der sich allerdings ein ‚Testimonium vitae’ vom eigentlich zuständigen Börnersdorfer Pfarrer schicken lassen musste. 67 Das pastorale Gutachten beschied dem jungen Rügner einen überaus schlechten Lebenswandel. Gegenüber seinen bisherigen Dienstherren hätte sich der Junge stets als unwillig und trotzig erwiesen, weshalb er immer nur für kurze Zeit gedient hatte. Gottschich könnte von den bisherigen Dienstproblemen Rügners gewusst haben. Auch mag sein Verhältnis zu dem Jungen nicht zwingend besser gewesen sein. Der Pfarrer erwähnte, um die negative Charakterisierung zu ergänzen, weiter, Rügner wäre „dem toback ergeben gewesen“. 68 Das Verhältnis zu den Eltern ist ebenfalls Inhalt des Gutachtens. Der Vater, der als bescheiden, christlich und arbeitsam lebender Mann beschrieben wird, der stets und eifrig den Gottesdienst besuchte, hätte Rügner immer wieder bei sich aufgenommen, wenn es Probleme mit den Dienstherren gab. Aus Sicht des Pfarrer hätte er aber wegen seiner väterlichen Herzensgüte „hierbey die nöthige kinderzucht unterlaßen, ihm [scil. Rügner] den Rücken gehalten […], 66 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538, fol. 3. 67 Ebd., fol. 13. 68 Ebd., fol. 13. <?page no="259"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 248 verzärtelt, vielen Muthwillen zugelaßen“. 69 Nach dem Tod der leiblichen Mutter hatte der Vater anscheinend ein besonders inniges Verhältnis zu seinem Sohn. Er verbot seiner neuen Frau, Rügner ernsthaft zu bestrafen. Das konnte der Pfarrer nur wissen und schreiben, wenn ihm über die Frage der innerfamiliären Zucht und Erziehung Rügners Differenzen bekannt waren. Ein weiterer Knecht Gottschichs überbrachte den Eltern die Nachricht vom Tod George Rügners: „und hätte ihnen solches hinterbracht; habe aber nicht viel von selbigen gehöret, als er es ihnen gesagt, sondern der Vater hätte angefangen zu zittern und kein Wort gesagt, die [Stief-]Mutter habe dergl[eichen] angefangen zu zittern, wäre erschrocken und darbey angefangen es ist mein Kind gewesen und nicht mehr, wir haben kein Geld, und was geschehen ist, das ist geschehen“. 70 Da sich die Befragungen und schriftlichen Gutachten hinzogen, hing die Leiche mehrere Tage im Garten Gottschichs. Nachdem der Gerichtsverwalter alle ihm notwendig erscheinenden Informationen erhalten hatte, bat er das Oberkonsistorium über die Art der Beerdigung zu entscheiden. In dem Schreiben nach Dresden mutmaßte Haubold, „daß der sich erhenckte von denen bisher in kurzen [scil. innerhalb kurzer Zeit] [in] hiesigen [Streichung: alhier] gegenden erfolgten verschiedenen selbstmorden gehöret, und hierbey, wer weiß was vor impression sich gemacht haben möge“. 71 Der Gerichtshalter tippte also darauf, dass die Nachricht von anderen Suiziden in der Gegend, Rügner zur Tat veranlasst haben könne. Im Archiv der zuständigen Ephorie in Pirna ist für den relevanten Zeitraum allerdings nur die Selbsttötung eines unbekannten Mannes vom Juni 1735 überliefert. 72 Das Oberkonsistorium ordnete an, die Leiche durch eine zu verdingende Person abschneiden und außerhalb des Kirchhofs an dessen Mauer bestatten zu lassen. 73 Die Dohnaer Gemeinde wollte dies aber nicht zulassen und verwehrte die Beisetzung mit der Begründung, das Gelände außerhalb der Kirchhofsmauer sei Teil des Gemeindefeldes, dessen ‚Verunreinigung’ man nicht dulden könne. 74 Offenkundig sah man die kollektive Ehre der Gemeinde bedroht. Auf ähnliche 69 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538, fol. 13. 70 Ebd., fol. 3 f. 71 Ebd., fol. 6. 72 E PH A P IRNA , Dohna, Nr. 2452, fol. 1 f. 73 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2538, fol. 8. 74 Ebd., fol. 9. Vgl. auch die Parallelüberlieferung in E PH A P IRNA , Dohna, Nr. 2452, fol. 3 ff. <?page no="260"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 249 Fälle kollektiven Widerstands gegen die Beisetzung von Suizidenten ist unten noch näher einzugehen. Um weiteren Streit und Verzögerungen zu vermeiden, engagierte das Weesensteiner Gericht einen Mann, der die Leiche nachts abschneiden und in einem nahen Gebüsch verscharren sollte. Dies würde, so Haubold, auch weniger Kosten verursachen. Die Eltern Rügners hätten die Kosten mangels Vermögen nicht tragen können. 75 Der Vater wollte auf keinen Fall selbst die Leiche seines Sohnes verscharren. Das Oberkonsistorium billigte kurz darauf das Vorgehen des Gerichts. 76 Der Dohnaer Pfarrer drängte auf eine baldige Bestattung, weil der verwesende Körper mittlerweile übel roch. Es ist davon auszugehen, dass die Leiche Rügners dann auch rasch verscharrt wurde. Dem Trunk ergeben Im August 1741 notierte August Wilhelm Haubold, immer noch Gerichtshalter auf Weesenstein, das Erscheinen von Gottlob Meyer, dem Richter der Gemeinde Friedrichswalde. Meyer meldete, dass sich ein gewisser George Nizschmann nachts in seiner Wohnung im Friedrichswalder Gemeindehaus erhängt hatte. 77 Meyer wusste sogleich einiges über Nizschmanns Leben zu berichten, denn er hatte sich bereits mit dem Gemeindepastor in Verbindung gesetzt. Der Pastor hatte seinerseits am gleichen Tag an die zuständige Superintendentur in Pirna wegen der Begräbnismodalitäten kommuniziert. 78 Über das Leben Nitzschmanns und die vermuteten Suizidmotive erfahren wir Folgendes: Nizschmann hatte seinen Unterhalt unter anderem als Tagelöhner in einem nahe gelegenen Steinbruch verdient. Nach dem Tod seiner Ehefrau 79 hätte er mit seinem schlechten Lebenswandel zunehmend Missfallen erregt, wenngleich er auch zuvor nie sehr ordentlich gewesen wäre. So hätte sich, das gaben einzelne Gemeindemitglieder kund, Nizschmann mehr und mehr dem Trunk ergeben. Hab und Gut hätte er deshalb verkauft. 80 Daraus schloss 75 Ebd., fol. 10. 76 Ebd., fol. 11. 77 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 1 r und 7 r . 78 Ebd., fol. 6. Vermutlich hielt die Superintendentur Rücksprache mit dem Oberkonsistorium - hierzu ist jedoch nichts überliefert, ebenso wenig eine Antwort der Superintendentur an den Friedrichswalder Pfarrer. Im Ephoralarchiv Pirna ist keine Nachricht zu diesem Fall überliefert. 79 Die Quelle macht zum Zeitpunkt des Todes der Ehefrau widersprüchliche Angaben von 16 Wochen vor dem Suizid Nizschmanns (Angabe des Pfarrers; ebd., fol. 6 r ) bis zwei Jahre vor dem Suizid Nizschmanns (Angaben des Richters fol. 1 r ). 80 Ebd., fol. 3 r . <?page no="261"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 250 Haubold, der wie schon im Fall Rügner an das Oberkonsistorium rapportierte, „daß also nicht eine melancholie sondern eine desparation denen umbständen nach den selbst-mord causiret“. 81 Diese Interpretation macht deutlich, dass eine mögliche Zuschreibung von Melancholie daran gebunden war, dass ein miserables Leben, anders als in Nizschmanns Fall, nicht selbst verschuldet war. Nizschmann hätte jedoch sein Leben durch permanente Trunkenheit vorsätzlich zerrüttet. Deshalb galt er auch als verantwortlich für die daraus resultierenden Konsequenzen. Jenseits der Motiv- und Begräbnisfrage ist in diesem Fall der Ablauf des Verfahrens ausführlich greifbar. Der Leichnam Nizschmanns wurde zuerst vom Knecht des Gemeinderichters, Hans Michael Teubrich, entdeckt, als dieser versuchte, die Tür zum Gemeindehaus, die Nizschmann von innen verriegelt hatte, zu öffnen. Eine gewisse Anna Maria Rehnin hatte den Knecht gerufen, weil sie ebenfalls im Gemeindehaus wohnte und vor verriegelter Tür gestanden hatte. Der Knecht meldete die Selbsttötung Nizschmanns umgehend seinem Dienstherrn, dem Gemeinderichter Meyer, der wiederum den örtlichen Pfarrer George Richter und den Gerichtshalter der Grundherrschaft auf Weesenstein informierte. Der Pfarrer wandte sich seinerseits sofort an den Superintendenten in Pirna. 82 Der Weesensteiner Gerichtshalter Haubold zog das weitere Verfahren an sich und besichtigte umgehend das Friedrichswalder Gemeindehaus. Dort fand er den Toten unberührt vor. Nizschmann hatte sich mit einer Lederschnur erdrosselt, die an einem niedrig hängenden Balken befestigt war. Der Tote kniete wegen der geringen Höhe des Balkens mit beiden Beinen auf dem Boden; die Hände lagen auf einer vor ihm stehende „back-dose“, über deren Inhalt jedoch nichts gesagt wird. 83 Die Körperhaltung Nizschmanns bestätigte für den Gerichtshalter den unheimlichen Willen und Vorsatz zu sterben. Von einem realphysischen Wirken des Teufels, wie Luther noch ähnliche Fälle gedeutet hatte, war indes keine Rede. Nachdem er sich einen Überblick über den Tatort verschafft hatte, befragte Haubold den Friedrichswalder Gemeinderichter und einige Einwohner. Wie üblich zielten die Fragen vorrangig auf den Lebenswandel Nizschmanns. Darüber hinaus fragte Haubold den ortsansässigen Bruder des Toten, ob er sich bereit erklären würde, die Bestattung zu übernehmen. Der Bruder lehnte es 81 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 7 v . 82 Im Archiv der Ephorie Pirna existiert auch zu diesem Fall keine Parallelüberlieferung. 83 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 5 r . <?page no="262"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 251 jedoch ab, Nizschmann zu bestatten. Im Hintergrund deutet sich ein Erbstreit der beiden Brüder an. 84 Interessanterweise hatte Haubold bereits am Tag zuvor seinen Bericht an das Oberkonsistorium in Dresden verfasst. Diesem fügte er noch Ergebnisse seiner Untersuchung vor Ort und das Attestat des Pfarrers bei und verschickte die gesamte Akte einen Tag nach seiner Lokalbesichtigung. Die Entfernung nach Dresden war nicht sehr groß und so erging die Antwort des Oberkonsistoriums noch am gleichen Tag. 85 Die Kirchenbehörde ordnete an, die Leiche durch eine speziell hierfür anzustellende Person abschneiden und abseits in einem tiefen Loch verscharren zu lassen. Der Scharfrichter sollte diese Aufgabe explizit nicht übernehmen. Diese Anweisung reagierte offenbar darauf, dass die Gemeinde Friedrichswalde über keine eigene Fehmstätte verfügte, sodass man die Leiche für ein Schandbegräbnis unter dem Galgen durch die Fluren mehrerer Gemeinden zur Weesensteiner Richtstätte hätte schleifen müssen. 86 Haubold leitete die Anordnung des Oberkonsistoriums weiter: Die Gemeinde Friedrichswalde solle eine entsprechende Person anstellen, um Nizschmann vom Strick abzunehmen und zu verscharren. Kurz darauf rapportierten zwei Friedrichswalder Gerichtsschöppen vor dem Gericht in Weesenstein den Vollzug der Anordnung. Man habe einen Böhmen, namens George Walther von Wezzel, 87 angestellt, der im Beisein aller Einwohner der Gemeinde - gemeint sind wohl die männlichen Haushaltsvorstände - die Leiche abgeschnitten und verscharrt hatte. 88 Damit stand lediglich noch die Begleichung der angefallenen Personal-, Verwaltungs- und Materialkosten aus, die sich aus folgenden Teilsummen in Talern und Groschen (1 Tlr. = 24 G) zusammensetzten: 89 84 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 5 v . Auch der Bruder berichtete vom unchristlichen Lebenswandel Nizschmanns, was aber vor dem Hintergrund eines Familienzwistes weniger überrascht. 85 Das Datum des Berichts (ebd., fol. 7 r ff.) weist aus: „Weesenstein am 26 Aug: 1741. den 27. Aug. 1741 cum actis eingegeben.“ Der Bericht verweist (ebd., fol. 6) auf das mitverschickte Attestat des Friedrichswalder Pfarrers über den Lebenswandel Nizschmanns. 86 Ebd., fol. 7 v ff. 87 Ob es sich hierbei um einen verarmten böhmischen Adeligen handelte, oder aber das ‚von’ lediglich auf die Herkunft des Böhmen verwies, konnte nicht geklärt werden. Sollte es sich allerdings um einen Adeligen handeln, wäre dies äußerst bemerkenswert. 88 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 11. 89 Nach S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 12 r . <?page no="263"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 252 „5 Tlr. 5g 4 Tlr. 1 Tlr. 8g 1 Tlr. 1g 21g 6g 6g 4g 3g 2g Oberkonsistorium George Walther von Wezzel für das Verscharren der Leiche Gerichte in Friedrichswalde Superintendentur Pirna einen Schiebebock eine Keilhaue Pfarrer zu Friedrichswalde eine Schaufel eine Kanne Brandwein Kerzen“ Auf die ‚Tätigkeit’ des Oberkonsistoriums entfiel der größte Einzelposten mit mehr als fünf Talern. Die Superintendentur in Pirna erhob Anspruch auf Entlohnung, wobei nach Aktenlage nicht ersichtlich ist wofür genau. Der gedungene Böhme erhielt vier Taler - ein durchaus beachtlicher Lohn, nimmt man den einen Taler zum Vergleich, den der Scharfrichter für den gleichen Dienst laut Taxordnung erhalten hätte. 90 Eine dagegen recht bescheiden ausfallende Entlohnung erhielt der Pfarrer für sein Attestat und einige kleinere Summen mussten schließlich für den Erwerb von Werkzeugen aufgewendet werden, die man extra angeschafft hatte, um die Leiche zu verscharren. Die zur Beseitigung von ‚Selbstmörderleichen’ benutzten Gerätschaften wurden nach dem Verscharren meist entsorgt. Ihre Anschaffung war deshalb notwendig gewesen, weil niemand in Friedrichswalde bereit war, eigene Werkzeuge für diese unehrliche Tätigkeit zur Verfügung zu stellen. Schließlich wurden auch Kerzen benötigt, da sich das Begräbnis bis in den Abend hinzog. Mit einer Kanne Branntwein wurde mindestens der gedungene Böhme versorgt. Möglicherweise goutierten aber auch die anwesenden Gemeindemitglieder ein wenig Alkohol, um sich während dieses schaurigen ‚Events’ zu erwärmen. 91 90 C OD . A UG ., Sp. 1385. 91 Im Übrigen scheinen nicht umgehend alle Kosten beglichen worden zu sein. Im August 1750 wurde die Gemeinde Friedrichswalde zur ‚Liquidierung’ noch ausstehender Beträge in Höhe von einem Reichstaler und zwölf Groschen aufgefordert, hauptsächlich die Kosten für die Superintendentur in Pirna; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 2539, fol. 12 v f. <?page no="264"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 253 Der Ablauf von Meldung, Befragung und Entscheidungsfindung nach den Suiziden von George Rügner und George Nizschmann erhellt geregelte Verfahrensabläufe. In beiden Fällen wurde der Gerichtshalter der zuständigen Grundherrschaft derer von Bünau auf Weesenstein informiert. Dieser führte die Befragungen durch, verfasste die Protokolle und berichtete an das Oberkonsistorium nach Dresden. Dessen Weisung hatten auch Superintendent und Pfarrer zu folgen. Wichtig für den konfliktfreien Verlauf des Verfahrens war also erstens, dass das Bünauische Gericht auf Weesenstein das Oberkonsistorium in Dresden für zuständig und autorisiert hielt, über die Begräbnisform zu entscheiden. Genau an dieser Einsicht war in Leipzig wiederholt der reibungslose Verfahrensablauf gescheitert. Zweitens hätten weder der Pfarrer noch der Superintendent gegen die Weisung des Oberkonsistoriums anders entscheiden können. Untersuchungsverfahren in den Schönburger Herrschaften Die Reichsgrafen von Schönburg konnten bis zu den sogenannten Rezessen 1740 eine weitgehend eigenständige Landeshoheit innerhalb Kursachsens behaupten. Auch nach der 1740 erfolgten Mediatisierung behielten sie eine obrigkeitliche Gewalt, die nicht von der kursächsischen abgeleitet war. Sie besaßen unter anderem das Recht auf eine eigene Regierung, die eine Mittelinstanz in allen Verwaltungs- und Rechtsprechungsangelegenheiten bildete, sowie auf ein Unterkonsistorium. 92 Hier interessiert vor allem die Tätigkeit dieses für die Schönburger Rezessherrschaften zuständigen ‚Gesamtkonsistoriums Glauchau’, dessen Überlieferung im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz für die 1720-er bis 1740-er Jahre eine Vielzahl informativer Einzelfallakten enthält. Das Konsistorium setzte sich personell aus der Schönburgischen Regierung sowie den Superintendenten zu Glauchau und Waldenburg als geistlichen Beisitzern zusammen. 93 92 Diese Rezess-Verträge, die der eigenständigen Herrschaft derer von Schönburg ein Ende bereiteten, betrafen die drei böhmischen Reichsafterlehensherrschaften Glauchau, Waldenburg und Lichtenstein sowie die sächsischen Reichsafterlehensherrschaften Hartenstein und Stein; S CHLESINGER , Landesherrschaft, S. 154. 93 Das Gesamtkonsistorium Glauchau war nach 1740 zuständig für die fünf Rezessherrschaften Glauchau, Waldenburg, Lichtenstein, Stein und Hartenstein; es bestand aus den Superintendenturen Glauchau und Waldenburg, darüber hinaus aus der Inspektion bzw. Superintendentur Lößnitz; vgl. hierzu die einleitenden Bemerkungen im Findmittel 30574 des Sächsischen Staatsarchivs Chemnitz. <?page no="265"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 254 Die hier interessierenden Akten des Glauchauer Gesamtkonsistoriums enthalten nicht nur einzelne Berichte und Reskripte, sondern lassen in Einzelfällen auch erkennen, wann und wie innerhalb des Konsistoriums Meinungsbilder eingeholt wurden und wie im Einzelfall bereits getroffene Entscheidungen aufgrund neuer Erkenntnisse revidiert werden konnten. Die Akten des Glauchauer Gesamtkonsistoriums deuten zudem darauf hin, dass sich das Schönburger ‚Judicium ecclesiasticum’ vornehmlich für solche Fälle zuständig erachtete, in denen eine Beisetzung auf dem Gottesacker möglich war. Über ‚Selbstmörder’, die vom Scharfrichter in der offenen Flur oder den Fehmstätten verscharrt werden sollten, entschied die Gesamtregierung meist eigenständig auf Grundlage von Berichten der Amtleute, ohne dass das Konsistorium hieran Anstoß nahm. In der Praxis bedeutete dies, dass die nichtgeistlichen Mitglieder des Konsistoriums ohne Hinzuziehung der Superintendenten aus Waldenburg und Glauchau entschieden. Wohl aufgrund der engen räumlichen und personellen Verflechtung sind aber auch diese Entscheide im Archiv des Gesamtkonsistoriums Glauchau überliefert. Ein erstes Beispiel zeigt, dass auch in den Schönburger Rezessherrschaften ein zweigleisiges Untersuchungsverfahren durchgeführt wurde. Im April 1736 erhängte sich in Jüdenheyn die hochschwangere 21-jährige Catharina Pfeiffer. 94 Sowohl der Gerichtsverwalter der zuständigen grundherrlichen Gerichte als auch der Pastor sandten am 29. April 1736 einen Bericht an das Gesamtkonsistorium Glauchau. Der Gerichtsverwalter rapportierte zunächst den eigentlich fehlgeschlagenen Suizidversuch der Pfeifferin, der dann aber aufgrund tragischer Umstände dennoch zu ihrem Tod geführt hatte. Catharina Pfeiffer hatte versucht, sich zu erhängen. Allerdings löste sich während des Suizidversuchs die Schlinge des Seils und sie stürzte so unglücklich zu Boden, dass sie tot liegen blieb. Der Tod wurde dennoch als ‚Selbstmord’ eingestuft. Die vom Gericht befragten Zeugen gaben an, dass die Verstorbene „von jugend auf fromm [sich] aufgeführet, ehrlich gelebet“ habe. Nach ihrer Hochzeit wäre sie zusehends melancholischer geworden. 95 Das örtliche Gericht hatte sich direkt an das Konsistorium gewandt. Der Pfarrer informierte seinerseits den Superintendenten Schultze, der zugleich Mitglied des Konsistoriums war. In seinem Bericht ließ der Pfarrer erkennen, dass er von der Selbsttötung Catharina Pfeif- 94 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 96. Alle von mir gesichteten Akten des Bestandes 30574 Gesamtkonsistorium Glauchau sind nicht paginiert; im Folgenden erfolgen die Anmerkungen zu diesem Bestand in eigener Zählung, wenn nicht anders angegeben. Vgl. zum Folgenden auch K ÄSTNER , Experten. 95 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 96, fol. 2 r f. <?page no="266"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 255 fers auch persönlich tief betroffen und besorgt war: „Es werden meine gedancken hierbey faßt irre, daß ich gedencke, hat gott ein solches [Gericht] an dieser persohn verhänget; wie will es mit den anderen werden, gegen welche diese persohn in ihrem leben fromm war“. 96 Die Beweggründe zur Tat waren für den Pastor nicht nachvollziehbar: „Ich erstaune über diese gerichte um so viel mehr, ie stiller und eingezogener ihr äuserlicher Wandel unter uns gewesen“. 97 Über die Ehe der Pfeiffers weiß der Pfarrer weiterhin zu berichten, dass sie wenngleich kurz so doch vergnügt gewesen sei. Mit Blick auf die Beisetzung führte er an, dass man auch das Schicksal des ungeborenen Kindes bedenken solle, welches mit der ‚Selbstmörderin’ zusammen beerdigt werden müsse. Catharina Pfeiffer war im siebenten Monat schwanger gewesen. Das Glauchauer Konsistorium entschied schließlich, dass der Pfarrer veranlassen solle, dass die Freunde der Pfeifferin die Leiche im Morgengrauen still auf dem Kirchhof beisetzen dürften. Dabei sei die Leiche durch eine Nebenpforte auf den Kirchhof zu tragen. Im Anschluss sollte der Pfarrer „in nechst zu haltender predigt seine zuhörer behörigermaaßen unterrichten, wie sie bey dergleichen versuchungen sich zu verhalten, und in glauben und gebeth dieselbigen überwinden sollen“. 98 Das Konsistorium folgte in seinem Entscheid dem Vorschlag des Superintendenten. Das Gericht wurde zeitgleich von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt. Auch ein weiterer Suizidfall aus dem Jahr 1736 lässt erkennen, dass der Pfarrer persönlich tief betroffen war. 99 Im September 1736 berichtete der Waldenburger Superintendent Adam Weiß, dass sich der Posamentiermeister George Ernst Sahr erhängt habe. Seine ganze Gemeinde könne, so Weiß, dem Toten ein überaus gutes Zeugnis seines Leben geben und er selbst könne dies als Pfarrer der Gemeinde nur bekräftigen. Noch am Tag vor der Selbsttötung hätte er den Handwerksmeister „in seiner grosen melancholie besuchet und in die hände gottes treulich empfohlen, da er auch unter dem gebete von selbsten auf die Knie niedergefallen“. 100 George Sahr war seelsorgerlich betreut worden, wobei sich Weiß bemüht hatte, die trüben Gedanken Sahrs durch gemeinsames Gebet aufzuhellen. Der Entscheid des Konsistoriums fiel dem Bericht entsprechend aus 96 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 96, fol. 3 r . 97 Ebd., fol. 3 r . 98 Ebd., fol. 1 r . 99 Hierzu auch L IND , Selbstmord, S. 407 ff. Ihrer Ansicht kann die persönliche Betroffenheit von Pfarrern auch dadurch erklärt werden, dass diese eng mit ihren Gemeinden zusammenlebten. 100 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 97, fol. 1 r . <?page no="267"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 256 und man veranlasste, dass der Tote still und in der Nacht auf dem Kirchhof beigesetzt werden solle. Eine parallele Untersuchung durch weltliche Gerichte ist nicht überliefert. Damit bestätigt sich, dass eine stille Beisetzung vom Zeugnis eines ehrbarfrommen Lebenswandels abhing. Positiv nahmen Konsistorien und Gerichte auch auf, wenn man dem oder der Toten bescheinigen konnte, dass sie in der ein oder anderen Weise trübsinnig gewesen waren. Ein weiteres Beispiel belegt, dass dieser Grundsatz zugleich von mehreren und unabhängig voneinander in einem gleichen Fall urteilenden Instanzen befolgt wurde. Im Mai 1737 hatte sich der Fleischhauermeister Gottlieb Naumann aus Waldenburg erhängt. Weil der Waldenburger Superintendent abwesend war, berichtete der Archidiakon direkt an das Glauchauer Konsistorium: Naumann sei ein frommer Christ gewesen, der noch am Tag vor seiner Selbsttötung die Sonntagsmesse besucht hatte, „doch sich iemmer eine vergebliche furcht eingebildet, man werde kommen, und ihn gefänglich abhohlen“. 101 Worauf sich diese Furcht Naumanns gründete, erschließt sich aus den Quellen nicht. Um seinen Bericht zu stützen, legte der Archidiakon noch ein Attestat bei, das der Waldenburger Bürgermeister und Rat verfasst hatten. Die Witwe Naumanns und ihre Kinder hatten den Bürgermeister um dieses Attestat gebeten. Es bescheinigte, dass Naumann ein frommer, gottesfürchtiger und mithin melancholischer Mensch gewesen sei. 102 Das Glauchauer Konsistorium urteilte sogleich, als der Bericht des Archidiakons einging, Naumann sei still an einem abgesonderten Ort des Friedhofs beizusetzen. Vier Tage später berichtete der inzwischen zurückgekehrte Superintendent, dass es Verzögerungen mit der Ausführung des Urteils gegeben habe. Der Waldenburger Amtmann hatte sich aus unersichtlichen Gründen an das Konsistorium in Leipzig gewandt, um den Fall dort entscheiden zu lassen. Der Superintendent bedauerte, dass die Angehörigen die Leiche nun bereits fünf Tage lang unbestattet liegen lassen mussten. Da das Leipziger Konsistorium aber nahezu wortgleich wie das Glauchauer Konsistorium entschieden hatte, könne die Beisetzung, so Weiß, nun endlich vollzogen werden. 103 Der Fall wurde von beiden Konsistorien demnach unabhängig voneinander gleichermaßen beurteilt. Entscheidend für die Urteile war jeweils, dass Naumann ein christlicher Lebenswandel bezeugt worden war. 101 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 97, Nr. 101, fol. 1 r . 102 Ebd., fol. 2 r . 103 Der Entscheid des Leipziger Konsistoriums S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 101, fol. 6 r f. <?page no="268"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 257 Allerdings zeigt sich im Fall Naumann auch, wie groß der Interpretationsspielraum bzw. wie fein die Nuancen der Interpretation durch die Zeitgenossen sein konnten. In seinem Bericht hatte der Archidiakon Christian Hanke hervorgehoben, dass die Melancholie Naumanns sich vor allem auf Sorgen wegen finanzieller Schulden gründete 104 - vielleicht liegt hierin auch der Grund für dessen Furcht vor einer drohenden Inhaftierung. Schulden als materielle Hintergründe von Selbsttötungen wurden nicht immer zugunsten der Betroffenen interpretiert. Vielmehr achtete man sehr genau darauf (und hier würde sich ein Parallele zum zeitgenössischen Armutsdiskurs zeigen), 105 ob Suizidenten vor ihrer Tat selbst verantwortlich in Schulden gestürzt waren oder nicht und wenn ja, ob die Verschuldung das Resultat eines ruchlosen Lebenswandels war. Darüber hinaus suchte man auch häufig nach weiteren Erklärungen, um vorschnellen Urteilen vorzubeugen. Mitunter konnte es geschehen, dass bereits getroffene Entscheidungen noch einmal revidiert wurden, wenn neue ‚Fakten’ die Bewertungsgrundlage änderten. Wenn ein guter Lebenswandel und Anzeichen einer trübsinnigen Gemütsverfassung entlastend wirkten, gilt umgekehrt natürlich, dass ‚Selbstmörder’, denen man ein verderbtes Leben nachsagte, kaum mit einem stillen Begräbnis rechnen durften. Im März 1727 hatte sich der Zeugmacher Immanuel Köhler in seinem Haus erhängt. Der Konsistorialrat Schilling gab auf Grundlage des eingegangenen Berichts zu Protokoll: „Uber beykommenden selbstmord Immanuel Köhlers will hohe resolution […] ausgebethen haben, und wie mir […] mündl[ich] berichtet, daß vita ante acta übel geweßen seyn sollte, so hielte er [scil. Schilling] dafür, daß ein exempel einmahl statuiret, und der Cörper sepultura asinina beerdiget würde“. 106 Die Leiche sollte dem Willen Schillings nach also schändlich geschliffen und unter dem Galgen verscharrt werden. Der Fall war indes nicht so eindeutig, wie es dem Konsistorialrat zunächst schien. Am Tag seines Votums war auch der Bericht des Waldenburger Amtmanns eingegangen. Diesem zufolge könne man nicht genau ermessen, ob Köhler „diese that aus bößen vorsatz und bey guter vernunfft oder previa melancholia vollbracht“ hatte. 107 104 Ebd., fol. 1 r . 105 Hierzu jetzt im Überblick und am sächsischen Beispiel B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 43 ff. Dort auch Hinweise auf die neuere Forschung, für Sachsen insbesondere die Forschungen von Helmut Bräuer. 106 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 81, fol. 7 r . 107 Ebd., fol. 1 v . <?page no="269"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 258 Wegen dieser Unsicherheit wurde von dem zuständigen Superintendenten ein Gutachten eingefordert, in welchem das weitere Vorgehen dargelegt werden sollte. Da die bisherige Untersuchung die Frage nach den Hintergründen der Tat nicht hinreichend beantwortet hatte, so der angesprochene Superintendent Gohrm, sei es nun unabdingbar, alle verfügbaren Personen, die um Köhlers Leben wussten, zu befragen, insbesondere dessen Beichtvater. 108 Die Begründung lieferte der Superintendent gleich mit. Die Amtsträger, die die Untersuchungen leiteten, hätten, so Gohrm, „nunmehr wegen der arth der sepultur hauptsächlich auf vitam ante actam und vornehmblich, wie er sich in den leztern zeiten vor seinem selbstmord in seinem christentumb bezeiget“, Erkundigungen einzuziehen. Kleinste Indizien für eine „profunctio melancholia oder impotentia animi“ sollten genügen, damit der Tote „nicht inhonesta obwohl minus solenniter abscissis ordinariis solenitatis, in coemeterio, doch separato loco beerdiget werden“ könne. Es zeigt sich an diesem Consilium sehr deutlich, wie sehr man bestrebt war, kleinste Anzeichen für eine Schuldunfähigkeit anzuerkennen, um ein stilles Begräbnis zu ermöglichen. Dagegen, betonte Gohrm aber auch, wären „dergleichen favorabilis vor den selbst-mörder nicht zu finden, daß man nach der liebe obigem modum mit fug adhibiren könnte, so wäre er [scil. Köhler] canina sepultura auch nach seinem tode zu bestraffen“. Würden sich keine Unschuldsindizien finden lassen, sollte die Leiche also unehrlich behandelt und schändlich verscharrt werden. Ein weiterer Konsistorialrat schloss sich daraufhin dem Votum seines Kollegen Schilling an und plädierte ebenfalls für ein schändliches Begräbnis, weil er wiederum gehört hatte, dass Köhler ein ruchloser Säufer gewesen sei. 109 Einen Tag später lief aber ein zweiter Bericht des Amtmanns im Konsistorium ein, der wiederum eine neue Sachlage vorstellte. Köhler hätte sich, so der zweite Bericht, eigentlich deswegen das Leben genommen, weil er sich geschämt hatte, wegen seines privaten Finanzbankrotts dem Schimpf und Spott seiner Mitbürger ausgesetzt zu sein. 110 Der Waldenburger Amtmann bat denn auch, den ersten Entscheid zu revidieren. Ein Konsistorialrat plädierte nun für ein ehrliches stilles Begräbnis, denn es sei doch offenkundig geworden, „daß der selbst-mord in angst und sorge meistentheils ex melancholia geschehen“. 111 Diesem Votum schloss sich 108 Das Gutachten des Superintendenten S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 81, fol. 4 r . Dort auch die folgenden Zitate. 109 Ebd. 110 Ebd., fol. 3 r-v . 111 Ebd., fol. 4 v . <?page no="270"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 259 der Superintendent an und stimmte noch am gleichen Tag, obwohl er nicht einmal persönlich Einsicht in die Akten genommen hatte, für diesen „beliebten [! ] modo sepulturae“. 112 Sowohl aus dem Verfahrensratschlag des Superintendenten als auch aus der Urteilsrevision geht hervor, dass Anzeichen verminderter Schuld oder Schuldunfähigkeit zugunsten der Betroffenen ausgelegt wurden. Das spiegelt ein übergreifendes Verhalten wieder. Der Revision des zunächst getroffenen Urteils lag indes keine wirklich neue Sachlage zugrunde. Finanzielle Schulden als Hintergrund wurden gar nicht bestritten. Vielmehr stellte der zweite Bericht die vermutete Scham und Furcht Köhlers wegen der unterstellten Reaktionen des Umfelds auf seine finanzielle Situation als wahrscheinliche Auslöser des Suizids heraus. Auch sprach der zweite Bericht ausdrücklich von einer daraus resultierenden Verzweiflung, was hier eher eine bedrückte Gemütslage meinte als ein religiös aufgeladenes Argument einer Verzweiflung am eigenen Gnadenstand. Überdies hatte das ursprüngliche Urteil allein auf mündlichen Berichten über die Trunksucht und Spielleidenschaft Köhlers und damit auf informellen Beurteilungen seines Lebenswandels gefußt. Das revidierte Urteil zeigt damit, dass das mutmaßliche persönliche Empfinden Köhlers über seine Schulden Anlass zur Revision gegeben hatte. Die explizit benannte Verzweiflung wurde als Melancholie gedeutet. Der Superintendent beeilte sich dem revidierten Votum beizupflichten, um ein stilles Begräbnis zu ermöglichen. Ja er schrieb sogar, dass es sich hierbei um eine sehr beliebte Form der Beisetzung handle, wie sie in derartigen Fällen üblich sei. Diese Aussage und die rasche Revision des ersten Urteils lassen darauf schließen, dass stille Beisetzungen nach Selbsttötungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer dann die Regel waren, wenn entlastende Indizien vorlagen. Diese stillen Beisetzungen wurden zumindest im Einzugsbereich des Gesamtkonsistoriums Glauchau in der Regel nachts vollzogen. Dabei wurden die Verwandtschaft oder Freunde zunächst gefragt, ob sie selbst die Beisetzung übernehmen würden. Verweigerten sie dies, wurden Arme verdingt, die die Toten gegen ein geringes Entgelt bestatteten. Im Zeitraum zwischen 1721 und 1741 sind in den Akten des Gesamtkonsistoriums Glauchau 15 Selbsttötungen überliefert. In acht Fällen wurde eine stille Beisetzung auf dem Kirchhof angeordnet. Diesen Anordnungen lagen jeweils in sechs Fällen Berichte über einen christlichen Lebenswandel und/ oder eine melancholische Verfassung zu- 112 Ebd. <?page no="271"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 260 grunde. 113 Wie für Kursachsen insgesamt zeigt sich auch für die Schönburger Herrschaften, dass Selbsttötungen, bei denen man einen boshaften Tatvorsatz unterstellte, kriminalisiert und geahndet wurden. Insgesamt sind in den Glauchauer Konsistorialakten sechs Schandbegräbnisse für solche Fälle zwischen 1721 und 1741 überliefert. 114 Einmal bleibt die Form der Beisetzung unklar. 115 Es kann demnach wohl nicht davon ausgegangen werden, in Kursachsen hätten sich stille Beisetzungen von ‚Selbstmördern’ bereits um 1740 überwiegend durchgesetzt, wie dies Vera Lind für die Herzogtümer Schleswig und Holstein festgestellt hat, wenngleich stille Beisetzungen durchaus häufig in einer Vielzahl unterschiedlicher ‚casu fortuito’ Verstorbener angeordnet wurden. 116 Im Januar 1732 hatte sich der Bauer Hanß Müller aus Gersdorf im Amt Lichtenstein mit einem Schnitt in den Hals das Leben genommen. 117 Er überlebte die Tat zunächst und konnte vor seinem Ableben noch verhört werden. Für die hinterbliebene Witwe und Müllers Kinder war dies ein höchst verdrießlicher Umstand, denn Müller gestand, mit einer gewissen Justine Schmieder die Ehe gebrochen zu haben. Obwohl die Familie einen Advokaten damit beauftragt hatte, eine Gnadensupplik zu verfassen, stand damit das Urteil eigentlich schon fest. Der durch den Ehebruch bezeugte ruchlose Lebenswandel des Bauern und die Tatsache, dass Müller die Tat wohl nicht bereut hatte, ließen für das Konsistorium einzig den Schluss zu, Müller wäre „in verstockung und unbußfertigkeit dahin gefahren [… und] ihr wollet, gestalten sachen nach, gedachten Hannß Müllers cadaveri durch den scharffrichter in beyseyn derer gerichten aufheben, und an einen vom dorffe abgesonderten orthe von demselben einscharren laßen“. 118 In Verbindung mit einem schlechten Ruf führte, das wurde bereits mehrfach betont, die Feststellung eines Tatvorsatzes dazu, eine ehrenvolle oder stille Bestattung zu versagen. Entsprechende Beispiele lassen sich für alle Regionen 113 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 71, 72, 77, 81, 94, 96, 97, 101. 114 Ebd., Nr. 73, 74, 75, 88, 89, 91. 115 Ebd., Nr. 84. 116 Eingängige Beispiele für den hier betrachteten Zeitraum in S T A D RESDEN , B.XVI.3. 117 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 89. 118 Ebd., o. Pag. eig. Z. fol. 5 r f. Die Supplik ebd., fol. 3 r ff., in der Reue als Begründung für ein mildes Urteil gemäß Carpzov und Covarruvias angeführt sowie ein entsprechender möglicher Bescheid des Konsistoriums bereits vorformuliert und um dessen Vollzug gebeten wurde. Für den Begräbnisentscheid spielte hier überhaupt keine Rolle, dass nach sächsischem Recht ein Ehebruch dann milde beurteilt werden konnte, wenn der Ehepartner dem ehebrechenden Partner verzieh. <?page no="272"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 261 Sachsens aufzeigen. Im Juni 1752 hatte sich der 74-jährige, pensionierte und ehemals kurfürstliche Kutscher Matthes Ulbricht an der Allee von Dresden nach Radeberg an einer Kiefer erhängt. Sein Leichnam sollte auf der Grundlage der im Amtsbericht geschilderten Umstände durch den Knecht des Scharfrichters abgeschnitten und verscharrt werden. In dem Bericht schilderte das Amt Dresden, dass Ulbricht „dem brandwein truncke aber dermaßen ergeben gewesen, daß er zeithero fast keinen tag nüchtern geblieben, auch sonst ein unchrist[liches] leben geführet“. 119 Alkoholismus galt den Zeitgenossen als Indikator für manisches Verhalten von Männern, 120 das als enthemmt und selbstzerstörerisch angesehen wurde. Im Zusammenhang mit Entscheidungen über das Begräbnis von ‚Selbstmördern’ ist zu beobachten, dass die sonst in Kriminalverfahren durchaus gängige Entlastungsargumentation eines trunkenen Zustands nicht griff, weil der Grundsatz galt, dass der permanente Alkoholkonsum Ausweis eines verderbten Lebens sei. Zudem konnte man Alkoholismus als Form eines ‚subtilen Selbstmordes’ deuten, welcher „ist, da man zwar nicht selbst Hand an sich leget; noch die Absicht hat, sich um das Leben zu bringen; gleichwohl aber Anlaß giebet, daß die Gesundheit verderbet und das Leben verkürzet wird“, wie der Zedler formulierte. 121 Auf den frevelhaften Vorsatz zur Tat schloss der Amtmann zudem aus dem Umstand, dass Ulbricht „mit denen füßen auf der erde stehend angetroffen worden, und die hände frey gehabt, mithin er sich noch selbst helfen können, wenn er von seinen bösen vorhaben abstehen wollen“. 122 Ganz klar erkannte man wie schon im Fall von George Nitzschmann (s. o.) in den äußerlichen Begleitumständen der Tat kein Wirken des Teufels, sondern einen unheimlichen Willen und Vorsatz zu sterben. Schließlich äußerte sich auch der Wirt Ulbrichts nur schlecht über das Leben des Kutschers und sagt überdies aus, Ulbricht hätte angekündigt, sich das Leben gewaltsam nehmen zu wollen. 119 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 37. 120 H OUSTON , Madness, S. 322. Vgl. auch R ABIN , Drunkenness, die neben einer Erörterung zeitgenössischer Diskussionen zum Problem der Zurechnungsfähigkeit unter Alkohol zeigt, dass insbesondere bei Amtsträgern der Alkoholismusvorwurf besonders schwer wog. 121 Z EDLER Bd. 36, Sp. 1600 (Art. ‚Selbst=Mord’); siehe schon R ÖHRENSEE / B IECK , doctrina, fol. A3 r : „§ VII. Subtilis [i. O. kursiv] avtochiria est crimen, quo homo mortem qvidem per se non intendit, vitae tamen suae rationem sciens ac volens aut temerarie ita institutur, ut interitus necessario subseqvatur.“; daran anschließen auch W ALCH , Lexikon, Sp. 2357 (Art. ‚Selbst=Mord’); ferner S IENA , Suicide, S. 56. 122 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 37 v . <?page no="273"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 262 Parallelen in der Beurteilungsgrundlage weist der folgende Fall auf, der zeigt, wie für die Konsistorien die Berichte der Ortsgeistlichkeit einen tendenziell höheren Stellenwert besaßen als die der lokalen weltlichen Amtsträger. 1733 hatte sich im Schönburgischen Meerane Samuel Reichardt erhängt. 123 Auch ihm wurde ein übermäßiger Alkoholkonsum nachgesagt, der jedoch vom Ortsdiakon und von der Bürgerschaft recht unterschiedlich bewertet wurde. Bürgermeister und Rat bescheinigten Reichardt einen friedfertigen, ehrlichen und frommen Lebenswandel. Auch hätte sich Reichardt wegen seines offensichtlichen Alkoholproblems und permanenter Angstzustände in medizinische Behandlung gegeben und war, so die Bürgerschaft, durchaus bemüht gewesen, vom Alkohol Abstand zu nehmen. Der Bürgermeister berichtete, dass Reichardt sich der gefährlichen Folgen seiner Alkoholexzesse durchaus bewusst gewesen war. Gegenüber dem Bürgermeister hatte sich Reichardt mehrfach wie folgt geäußert: „[W]enn er nur um 3 d. brandewein getruncken, so wären gleich 3 teuffel um ihn herum, der eine so ein langer wäre und ihm hinter den rücken stünde, habe einen schnabel, und redete ihm über die achsel hinein, also an: Du säuffer! Du must mit mir. Der andere wäre gantz rauch und kurtz, gienge ihm nur bis an die knie, und zwickte ihn in die beine, und wenn er von ihm abließe, kräche er hinein in das kammfutter. Der 3te stünde vor ihn, wäre lang und spräche immer: mit ihm fort, mit ihm fort“. 124 Reichardt sah sich in diesen protokollierten, vom Bürgermeister erinnerten (! ) Aussagen zufolge einer für ihn äußerst realen Bedrohung ausgesetzt, die sich als imaginierte Gewalterfahrung interpretieren ließe. Der Bürgermeister wies zudem darauf hin, dass Reichardt diese „maladie“ vor ungefähr acht Jahren bekommen habe. Damals hätte ihm nachts auf dem Rückweg von einer Schenke „etwas“ (! ) ein Messer zugesteckt, mit dem er sich dann einige Jahre später in verwirrtem Zustand in den Bauch stach. Am Abend vor der für den Toten günstigen Aussage des Bürgermeisters hatten zwei Bürger zwar noch bestätigt, dass Reichardts Alkoholkonsum bereits öfters für Missfallen bei der Ortsgeistlichkeit gesorgt hatte, die ihn auch mehrfach deswegen ermahnt hätte. Gleichwohl attestierte die Gemeinde Reichardt eine insgesamt friedliche und fromme Lebensführung. Noch am Tag seines Suizids hätte Reichardt mehrere Stunden mit seiner Frau zusammen gebetet und bei seiner Nachbarin in einem frommen Buch gelesen. 123 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 91. 124 Ebd., o. Pag. eig. Z. fol. 9 r f. <?page no="274"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 263 Der Ortsgeistliche sah die Sache indes ganz anders und widersprach der Darstellung der Bürgerschaft, indem er klarstellte, dass Reichardt in dauertrunkenem Zustand und kaum einen Tag nüchtern gewesen wäre. Auch hatte er ja, was aus Sicht des Diakons für eine vorsätzliche Selbsttötung sprach, vor einigen Jahren bereits einen Suizidversuch unternommen. Seine Versuche, Reichardt darüber aufzuklären, dass er mit seiner Lebensführung massiv sein Seelenheil gefährde, wären allesamt gescheitert. Das Konsistorium entschied darauf, Reichardt sei „einfolglich keine melancholicus, vielweniger ein geistlich angefochtener gewesen, nicht anders zuschließen, alß daß der gerechte gott, denselben in ein scharfe gerichte der verlaßung dahin gegeben, der propricida aber, die rührungen seines gewißens durch verzweifelung zutilgen gesuchet und nun leider! in unglauben dahin gefahren sey“. 125 Reichardts Leiche wurde vom Scharfrichter schändlich verscharrt. Dass der Scharfrichter oder dessen Knecht in solchen Fällen mit der Beseitigung der Leiche beauftragt wurden, entsprach auch noch im 18. Jahrhundert der Vorstellung, vorsätzliche Selbsttötungen seien nicht nur Sünde, sondern auch ein strafwürdiges Verbrechen. 126 Mitunter untersuchten lokale Magistrate einzelne Selbsttötungen nicht näher, sondern beauftragten sofort den Scharfrichter mit dem Verscharren von ‚Selbstmörderleichen’. So hatte beispielsweise der Rat der Stadt Zittau im März 1760 den Leichnam des Stadtsenators Friedrich Gustav Vollhart, der sich ohne erkennbaren Grund in seiner Wohnung erhängt hatte, durch den Scharfrichter verscharren lassen. Dazu wurde die Leiche in einen Sack eingebunden 127 und gegen Mitternacht durch ein Fenster der Wohnung auf die Straße hinabgelassen. Vorab hatte der Scharfrichter die Leiche mit seinem Degen vom Strick abgeschnitten. Die Aktion wurde auf einen nächtlichen Zeitpunkt gelegt, um einen öffentlichen Auflauf zu vermeiden. Vermutlich schleifte der Nachrichter die Leiche mit dem Sack durch die Gassen der Stadt. Anschließend verscharrte er den Toten im sogenannten ‚Pfeffergraben’ vor der Stadt. Erst nachdem die Leiche beseitigt worden war, berichtete der Zittauer Rat nach Dresden. 128 125 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 91, o. Pag. eig. Z. fol. 15 v . 126 Zu den Sinngebungen allgemein und mit Blick auf die Veränderungsprozesse im 18. und 19. Jahrhundert, mitunter allerdings etwas zu pauschal, T INKOVÁ , Suicide. 127 Vgl. zum Einbinden in einen Sack das parallele Vorgehen im Fall des Bautzener Fronknechts Zipser (1756) bei M EFFERT , Fronfeste. 128 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, H.St.A. 565/ 3, o. Pag., Berichte vom 22. März 1760. <?page no="275"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 264 Selbsttötungen von Inhaftierten Im Grunde genommen und von Ausnahmen abgesehen erwog man nach Selbsttötungen sehr genau die jeweiligen Umstände, um über eine Einschätzung des Lebenswandels auf den Geisteszustand schließen zu können. Dagegen wurden vorsätzliche ‚Selbstmorde’ von Inhaftierten nahezu ausnahmslos bestraft. 129 Cum grano salis kann davon ausgegangen werden, dass diese ‚Selbstmorde’ als faktisches Schuldeingeständnis gewertet wurden und die ‚Täter’ mithin als überführte Delinquenten galten. Die wiederkehrende Formel lautete, der ‚Selbstmord’ sei ‚ob conscientiam criminis ac metu poenae’ begangen worden. Auch für Inquisiten, verurteilte Verbrecher und andere Zuchthausinsassen galt jedoch der Grundsatz, dass ein Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit - so er denn diagnostiziert wurde - eine stille Beisetzung ermöglichen konnte. Im Dezember 1748 wurden zwei Selbsttötungen aus Colditz und Pirna an die Landesregierung und an das Oberkonsistorium in Dresden berichtet. In beiden Fällen ist keine Antwort des Oberkonsistoriums überliefert. 130 Die Amtleute aus Colditz und Pirna gingen in ihren Berichten zwar jeweils von einem vorsätzlichen Suizid aus, womit das Urteil eigentlich feststand. Im Rahmen der summarisch-inquisitorischen Verfahren nach Selbsttötungen hätten sie eigentlich im Einvernehmen mit den örtlichen Geistlichen ein Begräbnis anordnen können. Die Ämter waren aber gegenüber den zentralen Regierungsbehörden stärker weisungsgebunden, sodass es nicht verwundert, wenn diese hin und wieder auch nach Selbsttötungen bei der Landesregierung um Anweisung ersuchten. Zunächst hatte der Colditzer Amtmann am 3. Dezember 1748 den Suizid einer Dienstmagd auf dem Rittergut Schönbach gemeldet. Der jüngste Sohn des Rittergutspächters hatte die Magd, Maria Gehlofin, unehelich geschwängert, was allerdings nicht als Tatmotiv bewertet wurde. Auch hätte niemand „eine traurigkeit noch desparation an derselben wahrgenommen“. 131 Die Landesregierung entschied daher, der Amtmann solle die Leiche durch den Nachrichter an einem 129 Vgl. aber jetzt auch H OUSTON , Punishing, S. 246 ff., der für Schottland zeigt, dass aufgrund der dortigen Anatomieregelungen, die Furcht vor der Anatomie ein Beweggrund zum Suizid sein konnte, mit dem man sich dieser Form von zusätzlicher Bestrafung entziehen konnte. Zur Diskussion, ob das Anatomieren menschlicher Körper als Strafe verstanden wurde s. u. in dieser Arbeit Kap. 8.2. 130 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 15 ff. 131 Ebd., fol. 18. <?page no="276"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 265 abgesonderten Ort außerhalb des Kirchhofs einscharren lassen. 132 Ausschlaggebend war, dass der uneheliche Geschlechtsverkehr in den Augen der männlichen Entscheidungsträger den schlechten Lebenswandel der Gehlofin bezeugte. Ungefähr drei Wochen später ging bei der Landesregierung ein Bericht des Pirnaer Amtmanns ein. Darin wurde angezeigt, dass sich der ehemalige Soldat Bernhard Büchelmeyer während eines Untersuchungsarrests aus Verzweiflung erhängt hatte. 133 Auch in diesem Fall hatte der Amtmann einen zweiten Bericht an das Oberkonsistorium gesandt. Warum er das tat, erschließt sich nicht unmittelbar aus dem Bericht, zumal eine Kommunikation zur örtlichen Superintendentur naheliegender gewesen wäre. Zudem galt hier eigentlich die Regelung des Befehls von 1719, wonach eine Selbsttötung von Inhaftierten allein der weltlichen Gerichtsbarkeit unterstand. Hinzu kommt, dass Büchelmeyer eigentlich einer neuen Regelung für die Leichenversorgung des Dresdner Collegium medico-chirurgicum folgend (s. u. Kap. 8) an die dortige Anatomie hätte abgeliefert werden müssen. Wie im Fall von Maria Gehlofin entschied die Landesregierung, der Pirnaer Amtmann solle den Leichnam an einem abgesonderten Ort durch den Nachrichter einscharren lassen. Falk Bretschneider konnte in seiner Untersuchung des sächsischen Gefängniswesens zeigen, dass dies das übliche Vorgehen war, wenn sich Inhaftierte bzw. Züchtlinge das Leben nahmen. 134 Gleiches geschah dann auch nach der Selbsttötung des Künstlers und Uhrmachers Johann Samuel Fischer aus Zethau. Fischer hatte heimlich Silber geschmolzen und abgetrieben. Er saß deswegen im Mai 1750 in Untersuchungshaft im Lehngericht der Schönbergischen Grundherrschaft zu Dörntal. 135 Er schnitt sich in Ketten gelegt auf dem Abort der Lehngerichtsstube mit einem alten Messer, das er bei sich trug, die Kehle durch, während eine Wache vor der Tür wartete. 136 Der Tod Fischers war nicht mehr zu verhindern. Der Leichnam wurde in das Bett des Arrestzimmers gelegt und bewacht. Dort fanden die Richter einen Zettel, auf dem Fischer einen Bader aus Groß- 132 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 15. 133 Ebd., fol. 17; Reskript ebd., fol. 16. 134 B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, vgl. den Registereintrag ‚Suizid, Selbstmord’ sowie ergänzend S. 84, 117 und 120. 135 Der Fall in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 20 ff. Vgl. für einen parallelen Fall 1750 meine Beschreibung des Suizids der inhaftierten Gänsediebin Justine Pöhler in der Zwickauer Amtsstube in K ÄSTNER , Leid, S. 108 ff. 136 Es scheint üblich gewesen zu sein, Inhaftierten ein Brotmesser zu belassen; jedenfalls tauchen derartige Vorkommnisse häufiger auf. <?page no="277"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 266 hartmannsdorf für die Selbsttötung verantwortlich machte. Wieso ist nicht ersichtlich, und über die Motive der Tat wagte auch das Gericht nicht zu spekulieren. Die Dorfgemeinde attestierte dem Uhrmacher Fischer eine sonst fromme und christliche Lebensweise. Die Landesregierung wies die Schönbergischen Gerichte an, die Leiche durch den Nachrichter verscharren zu lassen. Ein spektakulärer Fall ereignete sich 1770 in der Schönburgischen Rezessherrschaft Lichtenstein. Dort wurde ein aus Schlesien flüchtiger Diener namens Rosnowsky mit 1900 Dukaten Diebesgut gefasst. 137 Rosnowsky erdrosselte sich, nachdem er festgenommen worden war, mit einem seidenen Schnupftuch in der Fronfeste. An das Amt erging der Entscheid: „Jhr wollet diesen benahmten dieb- und selbstmörder, durch den caviller abnehmen, und den cörper, unter den galgen einscharren laßen“. 138 Mit dem Verscharren unter dem Präsenzsymbol obrigkeitlicher Strafgewalt sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass der Inquisit unzulässig versucht hatte, sich der legitimen Bestrafung durch die Obrigkeit zu entziehen. Diese ereilte ihn nun nach seinem Tode. Hierbei handelte es sich um eine territorial übergreifende Praxis. Diese zumindest in Kursachsen schärfste Form der schändlichen Behandlung 139 einer ‚Selbstmörderleiche’ wurde gleichwohl ausschließlich dann angewendet, wenn sich Inhaftierte das Leben nahmen. Damit spiegelt die Praxis in diesem Punkt die zeitgenössischen normativen Debatten, in denen solche Selbsttötungen als eine eigene Kategorie, nämlich als im eigentlichen Sinn ‚freventliche Selbstmorde’ angesehen wurden. Allerdings wurde häufig auch ‚nur’ das Verscharren auf dem Schindanger oder einem entlegenen Flurstück angeordnet, wie man es auch bei vorsätzlichen Selbsttötungen von Nicht-Inhaftierten praktizierte. Ab 1723 wurde es zudem üblich, das ist im folgenden Kapitel noch ausführlich darzustellen, die Leichen vorsätzlicher ‚Selbstmörder’ an die anatomischen Theater abzuliefern. 137 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30590, Nr. 736. Der Inquisit war mit seinem Diebesgut seinem Dienstherrn, dem Grafen von Schlegenberg aus Schlesien, entflohen. Rosnowsky hatte als Friseur des Grafen gedient. 138 Ebd., fol. 15 r . 139 Das Verbrennen oder das ‚Rinnen’ von ‚Selbstmördern’, also das Wegschwemmen von Leichen in Fässern, wie es für andere Territorien bekannt ist, konnte als Praxis für Kursachsen nicht festgestellt werden und scheint eher ein Phänomen in süddeutschen Territorien gewesen zu sein. Vgl. für entsprechende Befunde K ÜHNEL , Selbstmord; L EDERER , Dead; L EDERER , Selbstmord. Ferner B RÜCKNER , Leichenbestrafung; G EIGER , Selbstmord, S. 11 ff. sowie, wenngleich etwas undifferenziert, L INDEMANN , Eselsbegräbnis. Allerdings kannte der kurfürstliche Befehl von 1719 entsprechende Praktiken, die die weltlichen Gerichte theoretisch anordnen konnten: C OD . A UG ., Sp. 1009 f. Ein Aufhängen an Galgen scheint in Sachsen ebenso unüblich gewesen zu sein, wie in England (H OUSTON , Punishing, S. 190) <?page no="278"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 267 Zusammen mit den von Falk Bretschneider 140 erhobenen Daten sind mir für die Zeit zwischen 1714 und 1772 fünfzehn Selbsttötungen von Inhaftierten bekannt; für den gesamten Untersuchungszeitraum sind es 48. In der Mehrzahl der Fälle wurde wie beschrieben verfahren. Abweichende Umgangsweisen waren und blieben spektakuläre Einzelfälle. Florian Kühnel hat minutiös die Untersuchungen zum Suizid des Kabinettsministers von Hoym in der Festungshaft auf dem Königstein 1736, die Verhandlungen zu dessen Begräbnis und zur (sonst nicht üblichen) Konfiskation seines Vermögens sowie die publizistische Ächtung von Hoyms untersucht. 141 Von Hoym hatte wegen Hochverrats in Haft auf dem Königstein gesessen, sich dort erdrosselt und versucht mithilfe eines Schreibens an seinen Diener den Suizid zu vertuschen. Die Leiche von Hoyms wurde durch hierzu angestellte Personen in einer Ecke des Königsteiner Garnisonsfriedhofs 142 beigesetzt. In einem anderen Fall konnte sogar eine ehrenvolle Bestattung auf einem Friedhof nachgewiesen werden. Allerdings handelte es sich dabei um die außergewöhnliche Geschichte eines jüdischen ‚Selbstmörders’. Ein als „Judas Pollack“ bezeichneter Jude 143 war im Dezember 1771 wegen mutmaßlicher Beteiligung am Verkauf gestohlener Gegenstände in der Dresdner Amtsfronfeste inhaftiert worden. 144 Dort schnitt er sich mit einem Brotmesser, das ein Mithäftling liegen 140 Ich danke Falk Bretschneider für das großzügige Überlassen von Exzerpten. 141 Vgl. zu diesem Fall ausführlich K ÜHNEL , Selbsttötung; K ÜHNEL , Öffentlichkeit. Ferner K ÄSTNER / K ÜHNEL , Leben. 142 Siehe zu diesem Friedhof die Beiträge in SSFK, WB H. 1 (1994). 143 „Judas Pollack“ dürfte nicht der wirkliche Name des Toten gewesen. Vielmehr verwies diese Bezeichnung von Amts wegen stereotyp auf die Herkunft des Toten, d. h. „Judas Pollack“ bezeichnete zunächst einmal einen Juden aus dem slawischen Raum. Zur Problematik der Namensgebung vgl. H ÜTTENMEISTER , Erfassung, S. 35 f. Mangels Alternativen soll jedoch dieser ‚Name’, trotz des Einwandes, es handele es sich um eine diskriminierende Zuschreibung der kursächsischen Obrigkeiten, im Folgenden gebraucht werden. Vgl. A LBRECHT , Namen. 144 Zu den Haftbedingungen für Juden in der Frühen Neuzeit W ESTPHAL , Umgang. Für Sachsen bislang einzig der knappe Hinweis auf Koppels ‚Vorgeschichte des Waldheimer Zuchthauses’ bei B RETSCHNEIDER , Individuum, S. 46. Dieser Hinweis ist nicht mehr enthalten in B RETSCHNEIDER , Gesellschaft. Vgl. für Dresden weiter S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31012 Vol. V, fol. 175 f.: Im März 1766 supplizierte die Dresdner Judenschaft bei der Landesregierung um die Erlaubnis, einem jüdischen Inquisiten zum Pessach-Fest durch einen jüdischen Knaben und unter Aufsicht des Fronknechts ungesäuertes Brot, Kuchen, frisches Wasser und neues Geschirr bringen zu lassen. Dieses Anliegen wurde positiv beschieden. Zur rechtlichen Stellung von Juden in der Frühen Neuzeit siehe H ÄRTER , Juden. Zu Haftbedingungen in Kursachsen neben den Studien von Falk Bretschneider auch L UDWIG , Ansichten. <?page no="279"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 268 gelassen hatte, die Kehle durch. Die Leiche kam zur Anatomie, wurde von dort aber durch die jüdische Gemeinde 145 Dresdens freigekauft, die zudem einen ‚Begräbnispass’ erwarb und die Leiche auf ihrem Friedhof bestattete. 146 Die hier im Detail nicht nachzuzeichnenden Verwicklungen in diesem Fall 147 lassen drei Umstände erkennen. Erstens unterschieden sich die jüdischen Auffassungen vom Suizid 148 im Detail von denen der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Das ermöglichte zusammen mit der engen Solidarität der jüdischen Gemeindemitglieder untereinander eine ehrenvolle Bestattung auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Dresden. Zweitens stellte die Selbsttötung eines Juden die christlichen Magistrate vor die Frage, wer überhaupt kompetent sei, über die Form des Begräbnisses eines Juden zu entscheiden, da das Oberkonsistorium als allein für die Angelegenheiten von Christen zuständig erachtet wurde. Drittens offenbaren die Nachforschungen der Landesregierung, die unter anderem gegen das städtische Gouvernement wegen Bestechlichkeit ermittelte, erhebliche Differenzen sowohl zwischen einzelnen landesherrschaftlichen Institutionen als auch zwischen diesen und dem Dresdner Rat bezüglich des Umgangs mit den Juden in der Stadt. Einzig diese besonderen Umstände hatten es in diesem Einzelfall ermöglicht, dass der Leichnam eines Inhaftierten, der sich selbst getötet hatte, ehrenvoll beigesetzt werden konnte. Es lässt sich insgesamt festhalten, dass Personen, die sich in der Haft das Leben nahmen, durch Scharfrichter oder Abdecker geschliffen und verscharrt wurden. Handelte es sich nicht um Inhaftierte, die man für irrsinnig oder ‚unsinnig’ hielt, ging man davon aus, dass sich die Betroffenen aus Furcht vor der erwarteten Strafe oder im Bewusstsein ihrer Verbrechen das Leben nahmen. Damit galt die Selbsttötung als vorsätzlich vollzogen, was als Geständnis der 145 Zur Geschichte der Dresdner Juden B ÜRGELT , Berend Lehmann, S. 49 ff.; B UTTE , Juden. Ferner K ÖLTZSCH , Kursachsen; A LBRECHT , Konzessionen. 146 HAT I KVA (Hg.), Friedhof; L IEBSCH , Geschichte; S TEIN , Friedhof. Vgl. zum Prozedere einer jüdischen Beisetzung L IEBSCH , Geschichte, S. 124. Frühneuzeitliche Darstellung aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für ein christliches Publikum mit Bildern bei B UXTORF , Synagoga, S. 677 ff. 147 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 42 ff. Vgl. jetzt P AWLOWITSCH / K ÄSTNER , Zerstückeln. 148 Grundlegend hierzu P ERLS , Selbstmord. Religionspolemisch R OTH , Selbstmord. Ferner B RODY , Introduction; C OHN , Selbstmord; C OHN , Suicide; H ARRAN , Suicide ; H EADLEY , Suicide. Vgl. weiter die Beiträge in K APLAN / S CHWARTZ (Hg.), Approaches, vor allem R OSNER , Suicide. <?page no="280"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 269 begangenen Verbrechen gewertet wurde. 149 Zu dieser Deutung trug auch bei, dass es sich in der Regel ja auch ‚wirklich’ um Kriminelle handelte und dadurch kein christlicher Lebenswandel zur Sprache kam bzw. der kriminelle Hintergrund des Täters die Bewertung der Umstände dominierte. 150 Das erklärt, weshalb mitunter auch ‚natürlich’ verstorbene Inhaftierte durch den Nachrichter verscharrt wurden, wenngleich das nicht der Regelfall gewesen sein dürfte. 151 Diese Befunde für Kursachsen decken sich mit den Ergebnissen einer Untersuchung für das frühneuzeitliche Amsterdam, die Machiel Bosman vorgelegt hat. Bosman konnte nachweisen, dass über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg Selbsttötungen von Inhaftierten kriminalisiert blieben und schändliche Beisetzungen nach sich zogen. 152 Eine eigene Kategorie bildeten schließlich Arretierte, die wegen Raserei und ähnlicher selbstgefährdender und allgemeingefährlicher Verhaltensweisen unter Arrest gestellt bzw. in Ketten gelegt worden waren. Ein Beispiel soll dies hier illustrieren. Ende Oktober 1745 ertränkte sich der Musketier Wendler in einem Teich nahe Pirna, nachdem er seinen Wächtern entwischt war. 153 Wendler war längere Zeit an einem hitzigen Fieber krank niedergelegen, hatte sich sonderbar verhalten und wurde deshalb bewacht. Der Rat der Stadt Pirna verweigerte nach der Selbsttötung jegliche Unterstützung bei der Bergung des Leichnams und musste erst mit Nachdruck von der Dresdner Regierung zur Hilfe angewiesen werden. Weil der Suizid aus Sicht der Landesregierung schuldlos in einem wahnhaften Anfall geschehen sei, sollte die Leiche still auf dem Gottesacker beerdigt werden. 149 Das auch schon bei G EIGER , Selbstmord, S. 16 f.; L EDERER , Selbstmord, S. 179; L IND , Selbstmord, S. 261 ff.; S CHÄR , Seelennöte, S. 61, 73, 83 ff.; T INKOVÁ , Suicide, S. 307; W ATT , Death, S. 129 f. 150 Hierzu auch C ARPZOV , Practica, P. III Qu. 131 n. 49: „Absurdum namque esset, a poena eximi Reum; qui propterea quod mortem sibimet ipsi intulerit, graviori supplicio plectendus esset. Et si unquam in exemplum & terrorem aliorum, adversus cadavera defunctorum animadvertendum est, hoc casu, quo delictum delicto cumulatur, id fieri debere, nemo negaverit.“ 151 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 33 f.; hier der Fall der wegen Brandstiftung inhaftierten und vermutlich an einem epileptischen Anfall verstorbenen Regina Stange (1751). Auch bei Inhaftierten spielte die Frage nach dem Lebenswandel bisweilen eine wichtige Rolle, obwohl den Zeitgenossen bewusst war, dass der Häftlingsstatus an sich bereits kein gutes Zeugnis vom Lebenswandel gab; vgl. hierzu S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 93, 95 und 102 mit Entscheiden zu stillen Beisetzungen auf dem Kirchhof. 152 B OSMAN , Treatment. 153 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 6300, o. Pag. Berichte vom 1. November 1745. <?page no="281"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 270 Widerstände gegen Beisetzungen auf dem Kirchhof Stille Beisetzungen verliefen in der Regel ohne größeres Aufsehen. Zumeist wurden die Leichen an einem Ort abseits der ordentlichen Gräberreihe beerdigt, in Nordengland und Schottland nicht selten auf der als weniger sakral geltenden Nordseite der Kirchhöfe. 154 Doch erregte die räumliche Nähe von ‚Selbstmörderleichen’ zu den Gräbern ehrbarer Gemeindemitglieder mitunter Protest und Widerstand einzelner Gemeinden oder Personen. Diese forderten die obrigkeitliche Autorität mit bisweilen erstaunlichem Erfolg heraus. 155 Markus Schär hat Widerstandsakte einzelner Dorfgemeinden gegen Beschlüsse des Züricher Rats beschrieben, die von Tumulten und Aufruhr im Vorfeld bis hin zur heimlichen nächtlichen Exhumierung der Leichen nach der vollzogenen Bestattung reichten. 156 Schär hat dieses widerspenstige Verhalten als Konsequenz einer grundlegend unterschiedlichen Beurteilung von Selbsttötungen durch die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten auf der einen und die jeweiligen Gemeinden auf der anderen Seite gedeutet. Er resümierte: „Die Untertanen in den Dörfern scheinen […] zu spüren, dass sich die Selbstmörder durch ihren Entscheid über das eigene Leben aus der Gemeinschaft gelöst haben“. 157 Diese Verallgemeinerung erscheint zunächst plausibel, birgt jedoch einige Fallstricke. Erstens ist einzuwenden, dass aktiver Widerstand gegen die stille Beisetzung von ‚Selbstmördern’ vergleichsweise selten überliefert ist. Zwar ist es unbestritten zu vereinzelten Tumulten bis ins 19. Jahrhundert hinein gekommen. Mitunter resultierten diese aus Vorstellungen, ein ‚Selbstmördergrab’ entehre andere, nahe gelegene Gräber, verunreinige in einem übernatürlichmagischen Sinn die nähere Umgebung oder lasse es dort spuken. 158 Auch hat die Forschung beschrieben, dass sowohl die Einschränkung von Begräbniszeremonien als auch diverse Schandpraktiken nach Selbsttötungen populäre Vorstellungen über die Gefährlichkeit von ‚Selbstmörderleichen’ spiegeln 154 H OUSTON , Punishing, passim. 155 L EDERER , Madness, S. 248 f. Exemplarische Studien bei F RANK , Geduld; L EDERER , Aufruhr; S TUART , Berufe, S. 218 ff. 156 S CHÄR , Seelennöte, S. 66 ff. 157 Ebd., S. 70. 158 Hierzu Beispiele bei S CHMIDT -K OHBERG , Selbstmord, S. 144 ff. Für ein spätes sächsisches Beispiel aus dem Jahr 1806 siehe auch S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. V, o. Pag., Bericht vom 8. Mai 1806. <?page no="282"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 271 würden und apotropäische Funktionen hätten. 159 Daraus ergibt sich das weniger explizit formulierte Argument, stille Beisetzungen von ‚Selbstmördern’ auf Friedhöfen wären in der Vorstellungswelt des ‚gemeinen Mannes’ keine Handlungsoption gewesen. Aber weder teilte die gesamte Bevölkerung derartige Vorstellungen noch ist ein tumultuarischer Widerstand gegen ein Begräbnis von Suizidenten auf dem Kirchhof der Regelfall gewesen. In der Relation zu den Beisetzungen, die ohne Auseinandersetzungen verliefen, ereigneten sich sogenannte Friedhofstumulte eher selten. 160 Der zweite Einwand gegen Schärs Verallgemeinerung resultiert aus dessen eigenen und den Ergebnissen neuerer Forschungen zu jenen Faktoren, die stille Beisetzungen von Suizidenten auf dem Kirchhof erst ermöglichten. Einzelne Widerstandsakte dürfen deshalb nicht ohne diesen Zusammenhang betrachtet werden. So konnte bspw. gezeigt werden, dass die Bevölkerung selbst mit ihren Supplikationen und häufig unterstützt von der Ortsgeistlichkeit zu differenzierten obrigkeitlichen Reaktionen auf Selbsttötungen beitrug. 161 Es waren die Familien oder Freunde der Toten sowie zum Teil ganze Gemeinden, die häufig um eine stille Beisetzung auf den Kirchhöfen baten, wenn der oder die Tote zuvor als ehrbares Mitglied der Gemeinde gelebt hatte. Verwandte und Freunde konnten sowohl eine ehrliche Beisetzung verweigern als auch eine solche hartnäckig einfordern. Das lässt sich auch am Beispiel der Ablieferung von Leichen an die anatomischen Theater zeigen. Die Verhaltensoptionen reichten vom offenen Widerstand gegen die ‚Leichenfledderei’ der Anatomien bis hin zur mit Nachdruck auch vonseiten der Familien betriebenen Ablieferung der Toten an die Anatomien. Letzteres traf unter Umständen auch honorige Personen. 1766 hat bspw. die Familie des Sebnitzer Bürgermeisters Ruinello, der sich in einem Schuppen erhängt hatte, darum gebeten, die Leiche zur Anatomie zu schaffen. Die Familie Ruinellos befürchtete unnötiges Aufsehen bei einer Beisetzung im Ort. Ruinello war eigentlich ein christlicher Lebenswandel bestätigt worden. Auch hatte man Melancholie als Ursache vermutet. Das 159 Zuletzt etwa (unter Berufung auf Dieselhorst) W ATT , Death, S. 86. Dazu jetzt grundsätzlich skeptisch H OUSTON , Punishing, S. 206 (dort das folgende Zitat) und passim: „If staking was apotropaic, why was it inflicted on certain types of suicide or at specific time periods and geographical areas, and why were alternatives not used? “ 160 Vgl. bspw. die Ausführungen bei L IND , Selbstmord, S. 457 ff. 161 Hierzu ausführlich ebd., S. 345 ff.; H OUSTON , Punishing, Kap. 3 passim. <?page no="283"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 272 Oberkonsistorium hatte erklärt, dass die Leiche still auf dem Kirchhof beerdigt werden könnte. Dennoch kam der Leichnam zur Anatomie. 162 Grundsätzlich ist damit von einer Pluralität möglicher Sinngebungen und Handlungsoptionen auszugehen. Akte des Widerstands sind nicht allein durch die ‚superstitiones’ der Bevölkerung zu erklären, zumal sich in den Quellen hinter diesem Argument nicht selten obrigkeitliche Etikettierungen verbergen. Weil Verweigerungshaltungen sowohl bei Beisetzungen unbekannter Fremder, bei Angehörigen örtlicher Randgruppen als auch bei Honoratioren sowie in Bayern vor allem bei Frauen 163 zu beobachten sind, spiegeln sich in diesen zwar zunächst immer auch allgemeine Wert-, Standes- und Ehrvorstellungen. 164 Darüber hinaus, im Einzelfall allerdings nur vage angedeutet, dürfte eine Vielzahl von Widersetzlichkeiten gegen Beisetzungen von ‚Selbstmördern’ auf Friedhöfen die Folge übergeordneter sozialer Konflikte gewesen sein. Die Gemeinde von Börnersdorf im Erzgebirge wehrte sich 1744, als die Leiche einer gewissen Anna Ludwigin auf Anordnung des Oberkonsistoriums entweder inmitten des Dorfes an einem Teich oder aber an der äußeren Mauerseite des Friedhofs verscharrt werden sollte. Anna Ludwigin war zuvor des Ehebruchs überführt und von ihrem Mann mehrfach hart geschlagen worden. Daraufhin hatte sie sich im Dorfteich ertränkt. Zwischen dem hinterbliebenen Ehemann, der Gemeinde und dem Ortspfarrer eskalierte parallel eine Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Gemeinde dem Pfarrer die Wasserzufuhr zum Pfarrhaus kappte. Um die Beisetzung der Ludwigin zu verhindern, erschienen allein sechzehn Personen im Pfarrhaus, um auch durch eine entsprechende körperliche Präsenz ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. 165 162 E PH A P IRNA , Nr. 5422, fol. 2 ff. und S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 327. 163 L EDERER , Madness, S. 248 f. 164 L IND , Selbstmord, S. 462. 165 E PH A P IRNA , Superintendentur Pirna (vormals Börnersdorf), Nr. 1915. Der Fall auch bei K ÄSTNER , Experten, S. 90 f. Beispiele für den Widerstand von Privatpersonen gegen das Verscharren von ‚Selbstmördern’ finden sich auch in anderen Quellen: In Freiberg beschwerte sich 1747 ein gewisser Gottlob Köhler, dessen Besitz bis an die Kirchhofmauer reichte, wo die Leiche eines ‚Selbstmörders’ eingescharrt werden sollte; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11023, Nr. 6251. Im Juni 1777 beschwerte sich in Grimma der Schneider Limprecht gegen das nächtliche Verscharren eines Fürstenschülers in seinem Garten. Der Schuldirektor bestand jedoch darauf, dass das Grundstück noch zur Schule gehörte, weshalb für diesen Fall ein Plan des Grundstücks und der anliegenden Gebäude angefertigt wurde, mit dessen Hilfe sich die Grabstelle noch heute verorten lässt; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 106 ff., der Lageplan fol. 117. <?page no="284"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 273 Über den Ausgang des Konflikts berichten die Quellen zwar nichts, doch ist aufgrund des massiven Protests und der schwachen Stellung des Pfarrers wohl davon auszugehen, dass die Leiche weder wie geplant am Dorfteich noch an der äußeren Mauer des Kirchhofs beigesetzt werden konnte, sondern an einen abgelegeneren Ort verbracht wurde. 1735 regte sich Unmut einiger Gemeindemitglieder von Dennheritz im Schönburgischen. 166 Dort sollte eine Frau, die sich erhängt hatte, auf dem Kirchhof beigesetzt werden. Der Schulmeister sprach beim Gesamtkonsistorium Glauchau vor und führte an, dass auf dem räumlich äußerst begrenzten Friedhof keine wirklich separate Stelle vorhanden sei, an der die Leiche sichtbar getrennt von den Gräbern der ehrbaren Gemeindemitglieder bestatten werden könnte. Der Schulmeister behauptete ferner, die Holtzmannin sei gar keine echte Melancholikerin gewesen, sondern an ihren materiellen Sorgen verzweifelt und „ungläubig“. 167 Das sah das Konsistorium Glauchau nach Auswertung aller Berichte anders und ordnete an, dass die Freunde der Holtzmannin die Leiche still beisetzen sollten. Es sind keine weiteren Proteste überliefert. Das Beispiel verdeutlicht, dass innerhalb der Gemeinden auch mit gegensätzlichen Positionierungen gerechnet werden musste, denn die konsistoriale Anordnung machte ja nur Sinn, wenn der Schulmeister nicht für alle Mitglieder Gemeinde gesprochen und die Freunde der Holtzmannin eine stille Beisetzung unterstützt hatten. Die Obrigkeiten zeigten sich prinzipiell kompromissbereit und waren an einem Konsens vor Ort interessiert, der mithin dazu beitrug, die Akzeptanz von Herrschaft zu erhöhen. Allerdings musste - anders als im Fall der Holtzmannin - die Sachlage wenigstens in Teilen für die Beschwerdeführer sprechen. Im Juli 1722 hatte sich in der Waldenburger Papiermühle der Tagelöhner Michael Pohlers erhängt. Das Glauchauer Konsistorium befand, die Leiche könnte still auf dem Kirchhof bestattet werden. Dabei waren für das Konsistorium prinzipiell zwei Wege möglich. Entweder die Freundschaft Pohlers zahlte zehn Taler je zur Hälfte an Kirche und Rentamt und bestattete die Leiche selbst still auf dem Friedhof. Oder aber zwei Armenmänner sollten damit beauftragt werden, wie es ausdrücklich heißt, die Leiche „ehrlich ab[zu]nehmen […] und an einen besondern, und abgelegenen Ort in der stille des Abends [zu] begraben“. 168 Pohlers hatte vorübergehend in der unbenutzten Waldenburger Papiermühle 166 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 94. 167 Ebd., o. Pag. eig. Z., fol. 1 r . 168 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 73, o. Pag. eig. Z., fol. 5 r . <?page no="285"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 274 gelebt, weil er nirgendwo anders eine Unterkunft hatte. Seine Lebensumstände deuten darauf hin, dass er ein von der Gemeinde ausgeschlossener Armer war. Dies dürfte ein Grund dafür gewesen, dass die konsistoriale Anordnung den Widerstand der Waldenburger Bürgerschaft provozierte, die es nicht einmal zulassen wollte, dass die Leiche in der durchaus vorhandenen Malefikantenecke des Friedhofs verscharrt würde. Die Bürgerschaft kommunizierte ihren Protest über den Amtmann an das Glauchauer Konsistorium und hatte damit Erfolg. Zwei Tage nach dem ersten Entscheid änderte das Konsistorium seine Meinung und ließ den Toten nun vom Nachrichter an einem abgelegenen Ort außerhalb des Kirchhofs verscharren. 169 Ähnlich ablehnend verhielt sich die Pfarrgemeinde Lößnitz im Mai 1732. In der Nähe von Lößnitz hatte sich ein aus dem nahen Alberode stammender und nicht zur Pfarrgemeinde gehörender Kuhjunge erhängt. Der Beichtvater des Jungen, Georg Christoph Gläser, hatte diesem einen guten Lebenswandel attestiert. Auch stünde eine Melancholie unzweifelhaft fest, weil Gläser vor einiger Zeit von einem tollwütigen Hund gebissen worden war. Der mit dem Vorgang befasste Superintendent meinte, dass „dem cadaveri nach einer vor dem hochlöblichen judicio bey dergleichen fällen beständigst gehaltenen observantz, ein stilles begräbniß auf einem abgesonderten ort des Lößnitzer gottes ackers, meinem geringen voto nach, nicht zu denegiren“ sei. 170 Deshalb entschied das Konsistorium, die Leiche durch den Scharfrichter still auf dem Lößnitzer Gottesacker beisetzen zu lassen. Um den darauf folgenden Protest der Gemeinde einordnen zu können, ist der Hinweis des Superintendenten wichtig, man hätte bei ähnlichen Fällen stets eine stille Beisetzung erlaubt. Gängiges Verfahren hin oder her; es regte sich Widerstand in Lößnitz und verzögerte die angeordnete Beisetzung. Wegen der warmen Witterung wurde der Leichnam Gläsers daher zunächst an Ort und Stelle verscharrt, womit man, wie sich noch zeigen sollte, endgültige Fakten geschaffen hatte. Die Weigerung der Gemeinde, die die Beisetzung verhindern wollte, wurde damit begründet, dass Gläser nicht aus Lößnitz stammte. Auch hatte er sich nicht in der Lößnitzer Flur erhängt. Überdies biete der Friedhof, der überhaupt erweiterungsbedürftig sei, keinen Platz für eine Beisetzung an abgesonderter Stelle. Das wurde durch den Lößnitzer Pfarrer bestätigt. 171 Das Konsistorium in Glauchau blieb zunächst bei seinem Beschluss, weil das Hartensteiner Amtsgericht den Fundort der Leiche 169 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 73, o. Pag. eig. Z. fol. 6 r . 170 Ebd., Nr. 88, o. Pag. eig. Z. fol. 1 r-v . 171 Ebd., o. Pag. eig. Z. fol. 7 r f. und 9 r . <?page no="286"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 275 zur Lößnitzer Parochie zählte. Allerdings sollte Gläsers Leiche nun wegen bezeugter Melancholie nicht durch den Scharfrichter, dessen potenzieller Auftritt auf dem Gemeindefriedhof für zusätzlichen Unmut gesorgt hatte, sondern nach der Exhumierung durch einige arme Leute vor den Kirchhof geschleift werden. 172 Aber auch dieses Vorgehen fand weder die Zustimmung des Lößnitzer Pfarrers noch des Rats und so entschied das Konsistorium, die Leiche Gläsers verscharrt zu lassen. Unter anderem bedachte man, dass der Leichnam zwar problemlos an der Außenmauer des Friedhofs begraben werden könnte. Da der Begräbnisplatz aber in absehbarer Zeit erweitert würde, läge das Grab dieses ‚Selbstmörders’ dann wieder auf dem Kirchhof. Auch hygienische Bedenken gegen eine Exhumierung wurden vorgetragen. 173 Der bisherige Grabort im Wald sollte daher belassen und zusätzlich mit Erde, Gestrüpp und Dornen bedeckt werden, um ihn möglichen Blicken zu entziehen und unzugänglich zu machen. In den letzten, hier geschilderten Protestfällen gab es vor Ort keine einflussreichen Fürsprecher, die sich mit Nachdruck für ein stilles Begräbnis hätten einsetzen können. Zwar zeigt sich, dass der Protest nicht immer mit Erfolg rechnen durfte. Doch standen die Erfolgschancen gut, wenn man lokale Gerichte, Gemeinderäte oder den Pfarrer für die Partei der Protestierenden gewinnen konnte und die ‚Selbstmörder’ zu den Randständigen der Gesellschaft zählten. Wirkliche Tumulte oder heimliche nächtliche Exhumierungen von ‚Selbstmörderleichen’ auf Friedhöfen sind mir zumindest für den hier untersuchten Zeitraum nicht bekannt. Erst für spätere Jahre sind gewaltsame Tumulte überliefert, durch deren Umstände sich die Obrigkeit jeweils in besonderer Weise herausgefordert sah. 174 7.3. Schlussfolgerungen Dieses Kapitel hat gezeigt, wie eine an sich zunächst alltägliche Auseinandersetzung über die Jurisdiktionskompetenzen nach Selbsttötungen in Leipzig zu einem jahrelangen Streit eskalierte. Der Konflikt nahm einen solch grundsätzlichen Charakter an, dass Landesherr und Regierungsbehörden mit einer gesetzlichen Regelung reagierten. Diese Reaktion war in der Form etwas qualitativ 172 Gleichwohl lassen sich auch Situationen belegen, in denen Scharfrichter die Leichen von Suizidenten auf Kirchhöfen verscharrten, und dies ohne das geringste Anzeichen von Protest geduldet wurde; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 31501. 173 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 88, teilw. o. Pag. eig. Z. fol. 16 r f . . 174 Hierzu ausführlich unten Kap. 10.3. <?page no="287"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 276 Neues, weil die Landesherrschaft hier erstmals versuchte, für die Verfahren nach Selbsttötungen, Konflikten durch die Abgrenzung von Kompetenzen in der Rechtsprechung vorzubeugen. In der Umsetzung des Befehls von 1719 zeigt sich dann aber auch schon das Dilemma einer Norm, die einzig auf die konkrete Problemlage jener Konflikte abhob, auf die sie reagierte. Da sie auf einer abstrakteren Ebene nicht das Gesamtphänomen behandelte, blieb der administrativ-gerichtliche Umgang mit Selbsttötungen auch in der Folge von einer Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten und Kompetenzkonflikten geprägt. Doch ein Maßstab, der das Einebnen von Vielfalt und Komplexität durch Regelung als Erfolg interpretiert, ist anachronistisch. Der landesherrliche Befehl von 1719 drückte keine Veränderung in der Bewertung des Suizids aus, weil eine solche in Kursachsen um 1700 nicht erkennbar ist. Vielmehr zog der Befehl allein administrative Konsequenzen aus (fort-) bestehenden differenzierten Bewertungen und Reaktionen auf Selbsttötungen. Auch das Beharren weltlicher Gerichtsträger auf eigenständigen Jurisdiktionskompetenzen war kein Novum. Ein solches Verhalten hat sich ebenfalls für das 17. Jahrhundert nachweisen lassen (s. o. Teil. B). Neu war hingegen die Wahrnehmung von Landesherr und zentralen Regierungsbehörden, es würde sich hier um ein grundsätzlich das gesamte Territorium betreffendes Problem handeln und bedürfe deswegen einer allgemein verbindlichen Regelung. Damit kommt diesem Befehl eine grundsätzlich andere Bedeutung zu als bspw. den in etwa zeitgleichen Regelungen in Russland. Dort wurde die Konstruktion von Selbsttötungen als Verbrechen überhaupt erst 1716 und 1720 durch zwei Statuten festgeschrieben. 175 Auf die Praxis selbst hatte der Befehl von 1719 nur geringe Auswirkungen. Selbsttötungen, das hat dieser Abschnitt für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts und zum Teil darüber hinaus gezeigt, wurden nach wie vor differenziert und nach Kriterien bewertet, die so auch schon vorher gegolten hatten. Die sozialen und obrigkeitlichen Reaktionen waren vielschichtig. Zugleich zeigt sich in der übergreifend differenzierten Berücksichtigung der fallweisen Umstände einer Selbsttötung bis in die 1770-er Jahre, dass die Weisungspraxis der zentralen und regionalen Regierungs- und Spruchbehörden einheitlichen Bewertungskriterien folgte. Aus Berichten über die Lebensführung der Suizidenten wurden Einschätzungen über deren vorherigen Geisteszustand und persönliche Frömmigkeit abgeleitet, die für ein Begräbnisurteil ausschlaggebend waren. 175 M ORRISSEY , Suicide, S. 42. <?page no="288"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 277 Tumulte, die sich bisweilen auf und vor Friedhöfen ereigneten, um die Beerdigung von ‚Selbstmördern’ zu verhindern, belegen indirekt die differenzierten Bewertungen und Begräbnisurteile. Sie sind, so habe ich argumentiert, nicht bloß Ausdruck einer magischen Weltanschauung oder bedrohter Ehrempfindungen. Sie sind vielmehr auch der Gegenpol eines Verhaltens der potenziell gleichen Akteure, das sonst häufig zu beobachten ist. Diese Akteure konnten ebenso, wie sie gegen ‚Selbstmörderbegräbnisse’ Widerstand leisteten, bei den Obrigkeiten um die stille Beisetzung von Suizidenten auf Friedhöfen bitten. Wie ich gezeigt habe, und dieser Befund deckt sich mit der bisherigen Forschung, waren Friedhofstumulte immer durch besondere soziale Konstellationen bedingt und damit kein Regelfall. ‚Selbstmorde’ von Inquisiten, verurteilten und inhaftierten Delinquenten sowie Zuchthausinsassen wurden, insofern nicht in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit geschehen, durch eine schändliche Beisetzung bestraft. Hier hatte sich nichts gegenüber dem 16. und 17. Jahrhundert geändert. Auch sonst wurden vorsätzliche ‚Selbstmörder’ meist durch den Scharfrichter oder dessen Knecht an einem abgelegenen Ort außerhalb des Kirchhofs verscharrt. Melancholiker und andere, für geistig unzurechnungsfähig erklärte Suizidenten wurden dagegen nach wie vor still beigesetzt. Nicht selten übernahmen Verwandte und Freundschaft der Toten diese Aufgabe. Quantitativ lässt sich allerdings im Vergleich für die Zeit vor 1700 nicht exakt bestimmen, inwieweit stille Beisetzungen relativ zugenommen haben, wie das zum Beispiel für Schweden behauptet wurde. 176 Das liegt vor allem daran, dass die Quellen für die betrachteten Zeiträume unterschiedlicher Provenienz sind und über unterschiedliche Aspekte berichten. Für die Begräbnisformen belegen die Daten gleichwohl, dass sowohl vor als auch nach 1700 sehr differenziert geurteilt wurde. Den hier aufgearbeiteten Fällen lassen sich bis 1700 insgesamt 36 Schandbegräbnisse und fünf stille Beisetzungen außerhalb des Friedhofs zuordnen. Dagegen stehen aber immerhin auch 21 stille Beisetzungen auf dem Friedhof (in der Regel außerhalb der Reihe) - und weitere sieben Beisetzungen, bei denen sogar einige Zeremonien gewährt wurden. In acht Fällen bleibt die Form der Beisetzung unklar. Zwischen 1700 und 1770 konnte ich 36 Schandbegräbnisse, sieben stille Beisetzungen außerhalb des Kirchhofs sowie 42 stille Beisetzungen auf Friedhöfen nachweisen. In 36 Fällen ist die Form der Beisetzung unklar. 176 J ARRICK , fråga, S. 107 sowie S. 108 Tabelle 4, aus der ich eine solche Tendenz allerdings nicht ablesen kann. <?page no="289"?> Kapitel 7: Dispute und Kompetenzstreitigkeiten 278 Vera Linds Beobachtung, stille Beisetzungen hätten sich als Regelfall frühneuzeitlicher Begräbnispraxis nach Selbsttötungen bereits vor den theoretischen Debatten im Zuge der Aufklärung durchgesetzt, 177 ist daher in mehrfacher Hinsicht zu ergänzen. Hinsichtlich des Umgangs mit geistig unzurechnungsfähigen Suizidenten ist die Beobachtung durchaus richtig. Wie ich aber im vorhergehenden Kapitel ausführlich dargestellt habe, ist dies mindestens schon für das 17. Jahrhundert anzunehmen. Daneben steht der eindeutige Befund, dass vorsätzliche Selbsttötungen nach wie vor durch unehrliche Begräbnisse bestraft wurden. Über das tatsächliche Verhältnis beider Phänomene zueinander lässt sich anhand der Überlieferung kaum etwas aussagen. Lediglich einige Hinweise, etwa die Einschätzung des Superintendenten Gohrm, stille Beisetzungen wären beliebt und gängige Praxis, 178 deuten darauf hin, dass stille Begräbnisse überwogen haben könnten. Allerdings würde ich solche weitreichenden Schlussfolgerungen auf der Basis der vorgetragenen Quellenbelege nicht mittragen, die in der Summe doch eher schmal sind. Für die möglichen Reaktionen auf Selbsttötungen und die Begräbnisfrage sind außerdem auch die Fälle einzubeziehen, bei denen die Leichen von ‚Selbstmördern’ an die anatomischen Theater abgetreten, dort zu Lehrzwecken anatomiert - also zerstückelt - und die körperlichen Überreste auf gesonderten Begräbnisplätzen beigesetzt wurden. Dieses Schicksal ereilte in den Jahren 1700 bis 1770 immerhin mindestens 72 Personen. Diese Praxis und die ihr zugrunde liegenden Normen werden im folgenden Kapitel ausführlich analysiert. Dabei wird sich zumindest für die Residenzstadt Dresden und deren regionalen Einzugsbereich ihrer Anatomie zeigen, dass ein erheblicher Anteil von ‚Selbstmördern’ weder vom Scharfrichter schändlich verscharrt, noch still auf dem Kirchhof beigesetzt, sondern zur Anatomie verbracht wurde. 177 L IND , Selbstmord, S. 359. 178 S ÄCHS S T A C HEMNITZ , 30574, Nr. 81, fol. 4 v . <?page no="290"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 279 8. Der zergliederte ‚Selbstmörder’. Anatomie und Gesellschaft in Kursachsen Fragen nach der Form des Begräbnisses für Suizidenten und die traditionellen Debatten über juristische und theologische Aspekte von Selbsttötungen bestimmten auch im 18. Jahrhundert den ‚Suiziddiskurs’. Hinzu traten nun Entwicklungen auf dem Feld der Medizinalpolicey - d. h. der guten Ordnung eines vonseiten ‚des Staates’ wohlgestalteten Medizinalwesens. Medizinalpoliceyliche Erwägungen bestimmten zunehmend den Umgang mit Suizidenten. Hieran sind grundsätzlich zwei Phänomene geknüpft, die in diesem und im folgenden Kapitel untersucht werden. Auf der einen Seite entwickelte sich die Anatomie als medizinische Teilwissenschaft und Institution im 18. Jahrhundert rasant fort. Diesem Prozess gingen medizinalpoliceyliche Ordnungsbemühungen der Landesherrschaften einher, die Ausbildung von Medizinern über eine Verbesserung der anatomischen Lehre und Praxis zu professionalisieren. Die toten Körper der Suizidenten sollten so einen Nutzen für die Gesellschaft stiften. 1 Seit 1723 mussten nach einem landesherrlichen Befehl ‚Selbstmörderleichen’ in Kursachsen an die anatomischen Theater 2 in den Universitätsstädten Leipzig und Wittenberg abgeliefert werden; ab 1748 regelte ein Mandat diese Praxis auch für die neu eingerichtete Anatomie in Dresden. In diesem Kapitel werden die Entstehung, die Ein- und die Umsetzung dieser Regelungen untersucht. Es wird zu zeigen sein, dass die Begräbnisfrage, die sich nach Selbsttötungen stellte, schrittweise von der Nutzung der ‚Selbstmörderleichen’ für medizinische Ausbildungszwecke überlagert wurde. Auf der anderen Seite nahmen die medizinalpoliceylichen Debatten, das ist Inhalt des folgenden Kapitels, Einfluss auf die Vermeidung von unnatürlichen Todesfällen. Dieses Thema rückte in den Fokus der Gesetzgebung in vielen Territorien des Alten Reiches. Praktische Exerzitien an menschlichen Körpern sollten die Ausbildung von Medizinalpersonen 3 verbessern. Hieran und am 1 Diese Entwicklung hatte jedoch nur einen bedingten Einfluss auf die Erforschung körperlicher Ursachen von Selbsttötungen, weil hierfür die Anatomieleichen, die für die praktische Ausbildung des medizinischen Nachwuchses gebraucht wurden, faktisch nicht verwendet wurden. Deshalb gehe ich im Folgenden auf diesen Aspekt nicht näher ein. Siehe statt dessen S CHREINER , Aufgeklärtheit, S. 219 f.; S CHREINER , Glück, S. 31 ff. und die weiteren Hinweise hier unten im Text und in den Anmerkungen. 2 Zum Begriff E CKART , Theater. 3 E CKART , Medizinalpersonen. <?page no="291"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 280 Beispiel von Lebensrettungserlassen (s. u. Kap. 9) sowie der gesetzlich geregelten Fürsorge (s. u. Kap. 10) gegenüber suizidgefährdeten Menschen lässt sich das Programm der frühneuzeitlichen Medizinalpolicey zur „Erhaltung der Gesundheit und des Lebens der Untertanen“ untersuchen. 4 Mit dem Themenfeld ‚Anatomie und Gesellschaft’ wird ein neues Kapitel einer Geschichte der Selbsttötung in Kursachsen aufgeschlagen. Zunächst ist knapp der Forschungsstand zu umreißen. Danach werden die normativen Bestimmungen zur Anatomie und zur Ablieferung von Leichen in Kursachsen und deren Veränderungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert dargestellt. Dabei ist auch zu untersuchen, welche Personengruppen und Institutionen Prozesse der Normgebung beeinflusst und vorangetrieben haben. Anschließend ist zu erklären, wie und in welchem Umfang ‚Selbstmörderleichen’ an die anatomischen Theater in Kursachsen tatsächlich abgeliefert wurden. Dabei wird die Umsetzung der Normen wie in den vorangegangenen Kapiteln zum einen qualitativ überprüft. Hierbei werden in erster Linie Konflikte analysiert, die aus differenten Vorstellungen über Zustand und Würde des menschlichen Körpers sowie aus kreativen Aneignungen geltender Normen resultierten. Zum anderen lässt sich mithilfe einzigartiger Quellen für die Dresdner Anatomie die Umsetzung der Leichenverordnungen auch quantitativ überprüfen. Die nachfolgenden Geschichten über die kursächsische Anatomie im 18. Jahrhundert erzählen vorrangig eine Sozialgeschichte der Sezierten und Anatomierten, z. T. auch der Hinterbliebenen und des anatomischen Lehrpersonals. 5 Auf einer grundsätzlicheren Ebene, so die Idee dieses Ansatzes, soll erklärt werden, wie Menschen historische Strukturen (bspw. Normen) einerseits hervorbrachten und wie sich diese Strukturen zugleich in den Erfahrungshorizont, in das Verhalten und schließlich, hier nur indirekt darstellbar, in die Körper von Menschen einprägten. 8.1. Zur historischen Entwicklung der Anatomie im albertinischen Sachsen Forschungsstand Anatomie und Gerichtsmedizin haben nicht nur in der medialen Inszenierung des Pathologenalltags und auf dem Lehrstellenmarkt Konjunktur. Publikationen zur Geschichte der Anatomie, zumal zur Neubegründung dieser Wissenschaft in der italienischen Renaissance, sind zahlreich vorhanden. Einen vollständigen 4 P AHLOW , Medizinalpolizei, Sp. 293. 5 Diese Perspektive lehnt sich vor allem an die Studien von Karin Stukenbrock (S TUKENBROCK , Cörper) und Richard Cobb (C OBB , Tod) an. <?page no="292"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 281 Forschungsabriss zur Geschichte der Anatomie geben zu wollen, erscheint daher hier nicht sinnvoll. 6 Vielmehr sind jene Studien zu referieren, die für die Perspektiven und Fragen der vorliegenden Arbeit vorrangig relevant sind. Karin Stukenbrock hat über die Sozialgeschichte der frühneuzeitlichen Anatomie in protestantischen Universitätsstädten eine grundlegende und spannende Arbeit vorgelegt. 7 Da sie auch den Forschungsstand umfassend referiert, ist für weitergehende Fragen auf ihre Arbeit zu verweisen. Zur Geschichte der sächsischen Anatomie liegen einige kleinere Arbeiten vor. Eine erschöpfende Gesamtdarstellung existiert nicht und auch meine Überlegungen können lediglich einen bescheidenen Beitrag leisten. Über die frühe Dresdner Anatomiekammer, die ein Bestandteil der kurfürstlichen Sammlungen war, hat Helen Watanabe-O’Kelly zwei Aufsätze verfasst, in denen sie insbesondere die in zeitgenössischen Reiseberichten enthaltenen Schilderungen der Anatomiekammer ausgewertet hat. 8 Grundständig erforscht sind die Geschichten der universitären Anatomien in Leipzig 9 und Wittenberg. 10 Petra Richter hat diese in den weiteren bildungs- und universitätspolitischen Kontext in Sachsen im 6 Unverzichtbar und instruktiv für die Geschichte der Anatomie in der italienischen Renaissance, für die Unterschiede in der Körperwahrnehmung nördlich und südlich der Alpen und für die daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrnehmungen und Vorstellung von der Zerteilung und der anatomisch-medizinischen Sektion menschlicher Körper sind die Studien von Katherine Park: P ARK , Secrets; P ARK , Body, P ARK , Life. Kurz und mit Verweisen auf die ältere deutsche Forschung J EROUSCHEK , Leichenschau. Zur Bedeutung des Leichnams für die Anatomie aus medizinhistorischer Sicht informiert knapp S CHOTT , Leichnam. Zum Überblick über den Stand der Gerichtsmedizin im albertinischen Sachsen der Frühen Neuzeit vgl. den kursorischen Überblick bei K LEEMANN , Medizin, mit weiteren Literaturhinweisen und Quellen. Allgemeiner Überblick über die Online-Datenbank der U. S. National Library of Medicine (PubMed) unter den Suchbegriffen ‚dissection/ history’ sowie in den Beiträgen in C LARK / C RAWFORD (Hg.), Legal Medicine; ferner auch W ATSON , Medicine; W ECHT , History; mittlerweile klassisch F ISCHER -H OMBERGER , Medizin. Neuere Studien zur Frühen Neuzeit sind überdies bspw. B UKLIJAŠ / F ATOVIĆ -F ERENČIĆ , Practices; D E R ENZI , Witnesses. Über forensische ‚Wahrheit’ und deren Prägung durch Geschlechternormen in der Frühen Neuzeit jetzt instruktiv R UDOLPH , Gender. Aus der Perspektive des ausgehenden 18. Jahrhunderts informieren bereits K RÜNITZ Bd. 74, S. 1 ff. (Art. ‚Leichenöffnung’), S. 84 ff. (Art. ‚Leichenschau’), S. 98 (Art. ‚Leichenschauer’). 7 S TUKENBROCK , Cörper. 8 W ATANABE -O’K ELLY , Garten; W ATANABE -O’K ELLY , Management. 9 Grundlegend R ABL , Geschichte. Daten und Kurzbiografien der Anatomen für die späte Neuzeit und Moderne bei B ECKER u. a., Institut; ebd., S. 31 auch zu Carl Rabl, der von 1904 bis 1917 Ordinarius für Anatomie in Leipzig war. 10 Für die Frühzeit Wittenbergs bis 1719 Überblick bei K OCH , Anatomie. Weiter L ÜCK , Rechtspraxis; N UTTON , Wittenberg. Zum 18. Jahrhundert mit Fokus auf den Anatomen Vater auch H ELM , Vater. <?page no="293"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 282 frühen 18. Jahrhundert eingebettet. 11 Darüber hinaus liegt mit der Arbeit von Volker Klimpel ein wenig tiefenscharfer Überblick zur Geschichte des Dresdner Collegium medico-chirurgicum vor, aus dem sich Rang und Stellenwert des anatomischen Theaters in Dresden innerhalb des Medizinalkollegs bestimmen lassen. 12 Aufgrund der vergleichsweise besseren Forschungslage zur universitären Anatomie und der reichhaltigen, bislang für das Thema dieser Dissertation von der Forschung nicht ausgeschöpften Quellen zur Dresdner Anatomie wird der Fokus im Folgenden auf eben diesen anatomischen Lehr- und Arbeitsbereich im Collegium medico-chirurgicum (im folgenden CMC) in Dresden gelegt. Neue Quellen Zentrale Quelle dieses Kapitels ist ein Register der Dresdner Anatomie, das in der Forschung bislang weder erwähnt noch ausgewertet wurde. 13 In diesem Register, das ich im Folgenden als Leichenbuch bezeichne, wurden die an das anatomische Theater in der Dresdner Neustadt von 1754 bis 1817 abgegebenen Leichen eingetragen. Darunter befinden sich 459 Einträge von Personen, die sich selbst getötet haben und deren Leichen auch tatsächlich abgeliefert wurden. Überdies sind weitere 19 Selbsttötungen verzeichnet, für die zwar die Meldungen registriert wurden, nach denen die Leichen aber bspw. wegen zu warmen Wetters und der damit verbundenen raschen Verwesung oder wegen eines Einspruchs von Verwandten nicht abgeliefert worden sind. Hinzu treten 61 Wasserleichen, deren Tod auf einen Unfall zurückgeführt wurde. Darüber hinaus konnten weitere Selbsttötungen exemplarisch mit Hilfe von zwei im 11 R ICHTER , Absolutismus, S. 87 ff. 12 K LIMPEL , Collegium. Hierzu die kritische Besprechung von H EIDEL , [Rez.] Klimpel, Collegium. Siehe auch schon K LIMPEL , Vorgeschichte; K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 61 ff.; F RÖLICH , Collegium; S CHLENKRICH , Leichen-Buch. Die von Ute Schwarz (S CHWARZ , Geschichte) vorlegte medizinhistorische Dissertation zur Geschichte der Anatomie in Dresden und Sachsen verfehlt (zumindest für den hier interessierenden Zeitraum) formal und inhaltlich den Anspruch auf eine eigenständige historische Arbeit und liefert keinen Erkenntnismehrwert im Vergleich zu den älteren Arbeiten. In dieser Studie kann bestenfalls eine Kompilation älterer Forschungsergebnisse gesehen werden. Besonders irritieren in Bezug auf die Geschichte des Collegium medico-chirurgicum und die frühneuzeitliche Anatomie die inhaltlichen Parallelen und Überschneidungen zu der Darstellung von Klimpel. Im Folgenden wird deshalb auf eine weitere Zitation dieser Arbeit verzichtet. 13 Das Leichenbuch ist im Bestand „10114: Collegium medico-chirurgicum, Sanitätskollegium“ im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden abgelegt: S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086 „Nachrichten über die an das Theatrum anatomicum abgelieferten Cadaver in den Jahren von 1754- 1817“ (im Folgenden ‚Leichenbuch’). Das Locat 2086 besitzt keine Strichnummerierung, so dass hier zunächst in den Anmerkungen auch die vollen Titel der Anatomiedokumente zitiert werden. <?page no="294"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 283 Findbuch des medizinisch-chirurgischen Kollegs verzeichneten Anmelderegistern ermittelt werden, die für die Jahre 1777 bis 1787 und 1806 bis 1810 jeweils die kompletten Verwaltungsvorgänge der einzelnen Fälle dokumentieren. 14 In der Summe weisen das Leichenbuch und die beiden noch vorhandenen Anmelderegister 511 Selbsttötungen aus. Schließlich wurden Quellen einbezogen, die die Abgabe von Leichen an die universitären anatomischen Theater in Leipzig und Wittenberg exemplarisch verdeutlichen. 15 Das Leichenbuch der Dresdner Anatomie ist eine außergewöhnliche Quelle, scheint doch vergleichbares Material für die wesentlich besser erforschte universitäre Anatomie im 18. Jahrhundert nicht vorzuliegen. 16 Die bisherige Forschung zur Dresdner Anatomie kannte das im Hauptstaatsarchiv Dresden überlieferte Leichenbuch nicht. Vielmehr nahm man an, dass ein im Ratsarchiv Dresden lagerndes Leichenregister des Lazaretts, welches die von dort an die Anatomie abgegebenen Toten verzeichnete, das Leichenbuch der Anatomie sei. 17 Nach dem Verzeichnis des Lazaretts, welches ergänzend für die Analyse herangezogen wurde, gelangten zwischen 1748 und 1800 insgesamt 608 Leichen vom Dresdner Lazarett in die Anatomie. 18 Wie ungenau aber das Leichenbuch des städtischen Lazaretts vor allem in Bezug auf die registrierten Selbsttötungen ist, belegen die Vergleichszahlen des Leichenbuches der Anatomie. Das Lazarett 14 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, „Acta, Anmeldung derer Cadaver von 5ten November 1777 bis utto Decembr. 1787. Vol. I. fol.1-288“ (im Folgenden ‚Anmelderegister 1’) und Loc. 2086, „Acta, Anmeldung derer Cadaver von 1806.1807.1808.1809.1810. Vol. IV.“ (im Folgenden ‚Anmelderegister 2’). In dem Locat befinden sich ausweislich des Findbuchs ‚Medicinalsachen’ beim Geheimen Kabinett neun weitere Aktenfaszikel, die sich vor allem mit Personalangelegenheiten des Collegium medico-chirurgicum beschäftigen. 15 Bspw. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12; 10079, Loc. 31059 Vol. I. Auch die neuere historische Suizidforschung hat auf die Abgabe von ‚Selbstmörderleichen’ nach Leipzig hingewiesen, ohne dies jedoch näher zu spezifizieren; S CHREINER , Glück, S. 38 Anm. 25. Für Leipzig stehen die entsprechenden Findmittel mit groben Inhaltsangaben zu den Akten online. Im Rahmen einer Edition und Kommentierung des Dresdner Leichenbuches plane ich eine vergleichende Analyse der Leipziger Akten: UAL Med. Fak. A I 88; Med. Fak. A I 01, Bd. 10; Med. Fak. A IIIa 11, Bde. 01 und 02 (die entgegen den Angaben bei Rabl durchaus Material für den Zeitraum vor 1784 verzeichnen, nämlich von 1723 bis 1815); Med. Fak. urkundliches Material B 39. Im für Wittenberg relevanten Universitätsarchiv in Halle/ Saale. haben sich trotz Unterstützung durch die dortigen Archivarinnen keine vergleichbaren Bestände finden lassen. 16 Vgl. nur die bei S TUKENBROCK , Cörper, S. 17 geschilderten Quellenprobleme: Im „17. und 18. Jahrhundert [gab es] an keiner der untersuchten anatomischen Anstalten detailliert und akribisch geführte Aufzeichnungen über die abgelieferten und sezierten Leichen […], wie sie aus dem 19. Jahrhundert überliefert sind.“ 17 S T A D RESDEN , F.XXI.16.d. 18 S CHLENKRICH , Sterbestroh, Tabelle S. 173. S CHLENKRICH , Leichen-Buch. <?page no="295"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 284 registrierte für den Zeitraum 1748 bis 1800 lediglich 15 Suizidenten, deren Leichen an das CMC abgeliefert wurden, 13 davon bereits zwischen 1749 und 1773. 19 Elke Schlenkrich, die das Leichenregister des Lazaretts umfassend ausgewertet hat, geht in ihrer Studie zur Sozialgeschichte obersächsischer Lazarette für Dresden davon aus, dass „dem Lazarett eine Schaltstellenfunktion für die Belieferung des Theatrum anatomicum zukam: Hingerichtete, Suizidenten und die auf den öffentlichen Plätzen und Gassen Dresdens aufgefundenen Toten wurden zunächst ins Lazarett gebracht, und von dort aus erfolgte deren Transport zur Anatomie.“ 20 Volker Klimpel vermutet dagegen in seiner Studie zum Dresdner CMC, dass weitaus mehr Leichname in die Anatomie gelangt sein dürften und begründet diese Vermutung damit, dass in den ihm vorliegenden Akten die in den Hospitälern und umliegenden Orten Verstorbenen nicht aufgeführt wären. 21 Elke Schlenkrich warf Klimpel in diesem Punkt Unkenntnis der stadtarchivalischen Überlieferung vor, 22 deren unzweifelhafte Kennerin sie ist, versäumte es aber selbst die Überlieferung des Hauptstaatsarchivs Dresden mit in ihre Überlegungen einzubeziehen. Diskussionswürdiger als der Streit über die Quellen(un)kenntnis verschiedener Autoren scheint mir Schlenkrichs These zu sein, das städtische Lazarett hätte eine Art Schaltstellen- und Umschlagfunktion für die Anatomie 19 S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 2 r Nr. 15, 3 v Nr. 35, fol. 5 v Nr. 53, 6 v Nr. 59, 8 r Nr. 79, 8 v Nr. 82, 9 r f. Nr. 89, 9 v Nr. 90, 10 r Nr. 96, 11 r o. Nr., 13 r Nr. 122, 23 r Nr. 235, 26 v Nr. 280, 40 r Nr. 419 und 47 v Nr. 505; S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 173. Zum Vergleich: Allein für den Zeitraum 1754 bis 1779, d. h. bis erneuten Novellierung der Anatomieleichenverordnung, verzeichnet das Leichenbuch des Theatrum anatomicum Dresdensis bereits 119 ‚Selbstmörder’, deren Leichen abgeliefert wurden; vgl. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, die entsprechenden Fälle in den Nr. 228-824. 20 S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 168. Siehe auch die knappen Ausführungen in S CHLENKRICH , Leichen-Buch. 21 K LIMPEL , Collegium, S. 73 f. 22 „An diesem Beispiel zeigt sich die ins Gewicht fallende Quellenunkenntnis des Autors, der insbesondere die einschlägigen Archivalien des Stadtarchivs Dresden ‚übersehen’ hat, so daß es verwundert, wenn die Rezensentin die Monographie allen Interessenten der Dresdner Medizingeschichte empfiehlt und auch auf deren größeren Wert für den (Medizin-) Historiker hinweist.“; S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 169. Schlenkrich verweist hier auf die Rezension von Caris-Petra Heidel, in: NASG 67 (1996), S. 382 ff., wobei interessant ist, dass die gleiche Rezensentin Klimpels Studie ein Jahr später in NTM 5 (1997), S. 285 f. noch einmal besprochen hat. <?page no="296"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 285 übernommen. 23 Diese These bedarf m. E. einiger Einschränkungen, denn sie basiert auf einer Auswertung der stadttopografischen Informationen zu den ins Lazarett abgelieferten Personen. Meine eigenen Befunde sprechen jedoch dagegen, dass Leichen vor ihrer Ablieferung an die Anatomie generell zunächst an das Dresdner Lazarett gingen, wo sie registriert und weitertransportiert wurden. Im Dezember 1777 erschoss sich Carl la Chapelle, der Stallmeister des Administrators Xaver (Adm. 1763-1768), in seiner Wohnung. 24 Zuvor hatte er seiner Geliebten, der Kammerdienerin Friederike Birnbaum, mit der er ein Verhältnis hatte, die Kehle durchgeschnitten. Zunächst war ein Doppelsuizid vermutet worden. Friederike Birnbaum war jedoch dem Hausdiener La Chapelles in der Tatnacht mit den Worten: „Adolph hilf mir“, in die Arme gefallen. La Chapelle selbst hatte eine Abschiedsnachricht hinterlassen: In diesem „vermuthlich kurz vor der entsetzlichen that geschriebenen confusen aufsatz, / : dem eine von der Birnbaumin geschriebene und besiegelte, mit den größten eydschwüren angefüllte contestation d’amour beygelegt war : / gibt er [i. e. La Chapelle] rache, haß und jalousie als die ersten ursachen dieser schrecklichen begebenheit an, und versichert dabey in romanhaftem ton, daß sie beyde für und mit einander zu sterben entschloßen gewesen“. 25 Der Amtmann selbst schenkte den Ausführungen La Chapelles keinen Glauben, sondern ging davon aus, dass La Chapelle die Tat geplant und seine Geliebte am Abend des 27. Dezember 1777 in seinem Gemach mit dem Wunsch zu sterben überrascht hatte. Der wirkliche Ablauf lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ist hier aber auch nicht von Interesse, da die Deutung des Amtmannes ausschlaggebend für die Behandlung der beiden Leichen war. Friederike Birnbaums toter Körper wurde zwei Tage später, ohne vorherige Sektion, auf dem Friedrichstädter Friedhof ordentlich, wenngleich still beigesetzt. La Chapelles Leiche wurde am Morgen des 28. Dezember 1777 direkt 26 zur Anatomie gebracht und zwei Tage später auf dem Friedhof der Anatomie 23 S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 169. S CHLENKRICH , Leichen-Buch, S. 472. 24 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9703/ 5 und Loc. 10120/ 6; 10114, Loc. 2086 Leichenbuch, Nr. 776. 25 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 9703/ 5, o. Pag. eig. Z. fol. 3 v . Die letzten Worte der Birnbaumin ebd., fol. 2 r . Die im Zitat angesprochene Abschiedsnachricht La Chapelles ist nicht überliefert. 26 Das Lazarettregister verzeichnet diesen Fall deshalb auch nicht; vgl. S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 29 r ff. <?page no="297"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 286 eingescharrt. Es ist unklar, ob man an ihm noch anatomische Übungen vollzogen hat. 27 Oftmals wurden Tote einfach auch an Ort und Stelle des Fundes verscharrt oder auf Befehl lokaler Obrigkeiten rasch beigesetzt. Dieser Befund ließe sich mit Karin Stukenbrock in Einzelfällen auch als subtile Form des Widerstands gegen die Anatomie deuten. Sofortige Begräbnisse bzw. die Duldung heimlicher Bestattungen waren hierbei kein unübliches Mittel. Darauf wird unten noch anhand einiger Beispiele zurückzukommen sein. 28 Zwar kann Schlenkrichs These der Schaltstellenfunktion des Lazaretts für den unter Hoheit des Rats stehenden städtischen Raum Dresdens eingeschränkte Geltung beanspruchen. Aber sowohl das Leichenbuch als auch die beiden hier exemplarisch ausgewerteten Anmelderegister des CMC weisen darauf hin, dass Klimpels Vermutung, auch wenn er sie nicht durch Quellen belegen konnte, in die richtige Richtung wies. Immerhin sind etliche Fälle verzeichnet, bei denen außerhalb Dresdens gelegene Orte, Herrschaften oder Ämter (z. B. Bischofswerda oder recht häufig auch Frauenstein) Leichen anmeldeten, die dann direkt durch den Aufwärter der Anatomie, und einen vom Amt zu stellenden Fuhrknecht (einen sogenannten Kommissariatsknecht) abgeholt wurden. 29 Auch Leichen aus dem Findelhaus wurden häufig direkt abgeholt. 30 27 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086 Leichenbuch, Nr. 776. Die Zeitangaben weichen hier vom Bericht des Amtmannes ab. Nebenbei bemerkt liefert dieser Fall interessante Parallelen zu einem Fall, der nicht nur die Vorlage für Gottfried Kellers ‚Romeo und Julia auf dem Dorfe’ abgab, sondern auch die lange Dauer der im Fall La Chapelle aufscheinenden Praktiken belegt. Am 16. August 1847 hatten nahe Sellerhausen bei Leipzig Gustav Heinrich Wilhelm seine mutmaßliche Geliebte Johanne Auguste Abicht erschossen und sich danach selbst gerichtet. Während der Abichtin nach den Untersuchungen eine stille Beisetzung gewährt wurde, die auch in einigen Predigten kommentiert wurde, kam Wilhelms Leichnam zur Leipziger Anatomie. Der Fall in S ÄCHS S T A L EIPZIG , 20009 Amt Leipzig, Nr. 3599, fol. 245 r ff. 28 Hierzu S TUKENBROCK , Cörper, S. 263 ff. 29 Der Knecht erhielt für diese Tätigkeit stets zwei Groschen; der Aufwärter acht bis 16 Groschen. 30 Die Findelmütter erhielten Prämien für die Meldungen, hätten demnach gar kein Interesse gehabt, die Leichen erst beim Lazarett anzumelden, von wo aus sie der Anatomie rapportiert worden wären. Vgl. hierzu die Einträge in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1 und 2. Allerdings weist Elke Schlenkrich darauf hin, dass gerade die nachlässige Praxis der Abgabe verstorbener Kinder aus dem Waisenhaus der Grund war, dass im Lazarett ein entsprechendes ‚Leichenbuch’ angelegt wurde; S CHLENKRICH , Leichen-Buch, S. 471. <?page no="298"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 287 Konjunkturen der Anatomie in Kursachsen Um die Besonderheiten der Entwicklung der Anatomie im 18. Jahrhundert und damit den Stellenwert der ausgewerteten Quellen insgesamt besser einordnen zu können, ist zunächst ein knapper historischer Rückgriff auf die Geschichte der Anatomie vor 1700 notwendig. Anatomie als Lehrfach hat in Sachsen seit dem 16. Jahrhundert Tradition. Philipp Melanchthon und sein Umkreis förderten die Lektüre sowohl antiker als auch zeitgenössischer Texte. Dies hat u. a. Andrew Cunningham als einen zentralen Faktor für eine besondere ‚Protestant Anatomy’ bestimmt, die er (durchaus nicht konfessionsgebunden) als eine neue Form anatomischer Erkenntnisgewinnung und Wissensvermittlung verstand. Diese sei von dem Verständnis getragen worden, dass eine Erkenntnis der Seele ohne Wissen von deren körperlichen Instrumentarien nicht möglich sei. 31 Damit trugen Humanisten und Reformatoren, so das eindeutige Urteil der Forschung, zur Vertiefung theoretischer anatomischer Kenntnisse etwa an der Universität Wittenberg bei. 32 Die anatomische Praxis ist in der Frühzeit des Untersuchungszeitraums jedoch kaum greifbar. Das liegt nur bedingt an der Qualität der Überlieferung sondern ist auch einer im Vergleich zu Italien stärker ausgeprägten Abneigung gegen Sektionen zu medizinischen Zwecken geschuldet. 33 Überdies dominierten im 16. Jahrhundert in Sachsen Krankheitslehren, die nicht auf anatomischen Kenntnissen beruhten, weshalb sie auch nicht durch Lehranatomien zu demonstrieren waren. 34 Für die Zeit von 1500 bis 1550 sind für Leipzig lediglich eine 35 und für Wittenberg drei anatomische Sektionen durch Quellen belegt, obwohl etwa die Wittenberger Statuten seit 1508 regelmäßige Lehrana- 31 C UNNINGHAM , Anatomy, hier S. 46. 32 K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 61 mit der euphorischen Einschätzung, schon Melanchthon habe den allgemeinen Nutzen anatomischer Kenntnisse für jedermann betont. Den Kontext und das konkrete Wirken Melanchthons in diesem Punkt erhellend H ELM , Religion, S. 54 ff. K OCH , Anatomie, S. 167 und 176 ff. Knapp hierzu auch E CKART , Anatomie, Sp. 363. 33 Katherine Park hat herausgearbeitet, dass dagegen in Italien die Abscheu vor einer rituellen Zergliederung der Leichen (etwa zum Zweck der Leichentranslation an Heimatorte oder der ‚Herstellung’ von Körperteilen zur Multiplizierung von Fürbittmöglichkeiten) größer war. In Italien wurden wiederum frühzeitig private Autopsien für Hinterbliebene durchgeführt, die sich schnell zu teilöffentlichen Ereignissen auswuchsen. Park führt die Differenzen im Umgang mit den Leichen innerhalb des spätmittelalterlichen Europa auf unterschiedliche Vorstellungen vom Zustand und vom Verhältnis des toten Körpers zur Seele eines Menschen zurück; vgl. zusammenfassend P ARK , Life. 34 Hierzu S TEFFENELLI , Ablehnung. 35 Zu dieser belegten Anatomie im Jahre 1525 reisten wohl auch einige Wittenberger Professoren an; vgl. R ABL , Geschichte, S. 14. <?page no="299"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 288 tomien vorsahen. 36 1542 ordnete Herzog Moritz (Hz. 1541-1557/ Kf. 1547- 1553) die Anstellung eines Chirurgen an der Universität Leipzig an. Zudem sollten die Universitätslehrer einen Anatomiedozenten bestimmen, der für die Lesung des anatomischen Stoffes 20 Gulden erhielt. 37 1543 sollte nach einem landesherrlichen Erlass erstmals eine öffentliche anatomische Sektion durchgeführt werden. Allerdings erteilte die Artistenfakultät der Universität Leipzig erst 1555 die Erlaubnis, öffentliche Sektionen durch entsprechend approbierte Mediziner auch wirklich durchführen zu lassen. 38 Die Universitätsordnung von 1580, in der das erste Ordinariat für Chirurgie und Anatomie verankert wurde, bestimmte schließlich, dass der Leipziger Professor für Chirurgie seine theoretischen Ausführungen auch praktisch in einer „publica Anatomia […] in einem humano corpore, wann es vorhanden“, demonstrieren sollte. 39 Von diesem Zeitpunkt an waren jährlich ein bis zwei öffentliche anatomische Vorlesungen mit Demonstrationen an Leichen durchzuführen. Hierzu hatte der städtische Magistrat in Leipzig, so wie es seit dem Spätmittelalter in anderen europäischen Universitätsstädten bereits üblich war, der Universität die Leichen hingerichteter Malefikanten zu überlassen. 40 Erstmals ist dies vermutlich 1585 geschehen. Carl Rabl hält es zwar für unwahrscheinlich, dass es sich in diesem Fall um einen enthaupteten Übeltäter handelte, wie es die Leipziger Annalen berichten. 41 Allerdings begegnet uns eine solche Praxis etwas später im Jahr 1627, als die die medizinische Fakultät den Landesherrn bat, einen zum Tod durch den Strang und anschließendes Rädern verurteilten Straßenräuber allein zum Strang zu begnadigen und die Leiche anatomieren zu dürfen. Der 36 K OCH , Anatomie, S. 164. Zum rechtshistorischen Hintergrund jetzt L ÜCK , Rechtspraxis. 37 CDS II, 11 Nr. 420, insbes. S. 547: „Dieweyl auch inn dysenn lanndenn nit kleiner gebrauch ann denn die der wuntertzney recht erfarenn, ordenenn und wollenn wyr, das nhun hinfurder einem chirurgo hundert und dreyssick guldenn sollenn gebenn werdenn. Es sal auch ierlich die anetohmia in unnser universitet gelesenn werdenn, und sollenn vorgemelte doctores einenn, der die anethomia list, welenn, derselbe sal nebenn dem chirurgo die notturftig weysen und ides ihar zwantzick guldenn zu besoldung habenn.“ 38 K ÄSTNER , Ausbildung, S. 10. 39 Zitiert nach L ÜCK , Rechtspraxis, S. 456. K OCH , Anatomie, S. 172 verweist in diesem Zusammenhang auf die unter Kf. Christian II. erlassene neue Ordnung von 1606 und damit Erneuerungen der Bestimmungen von 1580. 40 Zum Kontext S TUKENBROCK , Cörper, S. 26 f. 41 R ABL , Geschichte, S. 15 oben und Anm. 1. Der Fall wird auch erwähnt bei G REBENSTEIN , Scharfrichter, S. 88. <?page no="300"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 289 Delinquent wurde zum Tod durch das Schwert begnadigt und anschließend der Anatomie zugeführt. 42 Insgesamt scheint im 16. und 17. Jahrhundert wenig an den kursächsischen Universitäten anatomiert worden zu sein. Gleichwohl sahen Universitäten und auf deren Begehren hin auch die Landesherren wiederholt Regelungsbedarf, um die anatomischen Lehrstühle ausreichend mit Leichen zu versorgen. 1614 folgte Kurfürst Johann Georg I. (reg. 1611-1656) 43 einer Eingabe der Wittenberger medizinischen Fakultät und erließ eine Verordnung, die die Abgabe von Leichen hingerichteter Malefikanten an die dortige Anatomie befahl. 44 1666 schlossen in Leipzig der Rat und die medizinische Fakultät einen Rezess über die Abgabe von Leichen. 45 Das gesellschaftliche Interesse an Themen der Anatomie ist neben der universitären Ausbildung auch an anderen Institutionen abzulesen. 1616 ließ Kurfürst Johann Georg I. eine ‚Anatomiekammer’ im Dresdner Schloss errichten. Die archivalischen Bestände zu dieser Einrichtung gelten als verschollen. 46 Gleichwohl existieren Beschreibungen der Anatomiekammer, die zeitgenössische Besucher angefertigt hatten. Diese Berichte belegen, dass die Anatomiekammer für eine begrenzte Öffentlichkeit zugänglich war und sowohl im Sinne einer naturwissenschaftlichen Lehrstätte als Schule als auch als moralisch-ethische Lehrstätte zur Vergegenwärtigung der ‚vanitas’ fungierte. 47 42 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 8860/ 1, fol. 85 r ff. Ich danke Ulrike Ludwig für den Hinweis auf diesen Fall. 43 Zur Person G OTTHARD , Johann Georg I. 44 K OCH , Anatomie, S. 173. 45 Der Leipziger Rat achtete in diesem Rezess zwar peinlich genau auf seine Vorrechte und forderte eine devote Haltung der Mediziner ein. Prinzipiell erklärte er sich aber dazu bereit, Leichen zu liefern. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 11 v f mit einer Abschrift des Rezesses von 1666: „Nemliche es verbeut sich die medicinische facultät hiermit vor sich, und ihre nachkommen, daß sie iedesmahl, und soofft sie von […] rathe, einige cadaver zur anatomie suchen und begehren werden, solches durch zwey candidatos, wie es vor diesen gehalten werden, freundlich und precario suchen wollen, erklären sich auch hierbey, daß wofern eines oder das andere mahl etwas erhebliches bey der abfolgung des cadaveris, es betreffe die malefiz: person selbst oder dero anverwandten, zubedencken seyn möchte, warum das cadaver abzufolgen, und zur öffentlichen section nicht wohl zulaßen, und solches der facultät zuerkennen gegeben wird, sie selbiges mahl sich weisen laßen, und anderer gelegenheit erwarten wollen.“ Der vollständige Text nach einer Edition von Wustmann bei R ABL , Geschichte, S. 15 f. 46 Davon geht zumindest K LIMPEL , Collegium, S. 72 aus. 47 Helen Watanabe-O’Kelly hat diese Beschreibungen ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass Errichtung und Ausgestaltung der Anatomiekammer in Dresden ganz wesentlich von den Italienerfahrungen des jungen Kurprinzen Johann Georg beeinflusst waren. Ohne hier auf die Bedeutung Paduas, Bolognas oder Veronas (hier verweilte der spätere Kurfürst unter anderem) für <?page no="301"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 290 Der Raum der Anatomiekammer war einer italienischen Landschaft nachempfunden - „Der Besucher der Dresdner Anatomiekammer […] wandelte in einem Garten des Todes.“ 48 Neben anatomierten Tieren waren von Beginn an auch menschliche Leichname ausgestellt. In einem Bericht des Augsburger Patriziers Philipp Hainhofer von 1617 heißt es: „Von Anathumierten stuckhen stehn gleich, wie man hinein gehet, ein Mann vnd ein Weib, der Mann ist Anno 1590 geknüpft, vnd das weib geköpft worden, darum, daß Er dises weibs mann erschossen vnd sie ihr khündt vmgebracht.“ 49 Die Anzahl der ausgestellten menschlichen Skelette und Leichenteile, hierunter solch bizarr anmutende Präparate wie ein „paar handschuh von einer weiber brust haut“, erhöhte sich in der Folge geringfügig, wie ein Inventar zeigt, das vor der Schenkung der kurfürstlichen Anatomiekammer an die Wittenberger Universität 1733 angelegt worden war. 50 Teilöffentlich zugängliche Anatomiekammern, öffentliche Sektionen und deren ‚gesellige’ Erscheinungsformen 51 sind von gerichtsmedizinischen Sektionen bzw. Obduktionen, die von Chirurgen oder Physici ausgeführt wurden sowie von der Herstellung anatomischer Präparate zu Unterrichtszwecken an Universitäten und medizinischen Kollegien bzw. ausbildungsnotwendigen Sektionen durch Studierende (wie sie hier interessieren) zu unterscheiden. Sie haben nach Ansicht der Forschung aber gleichwohl dazu beigetragen, den geistigen Boden für das anatomische Denken des 18. Jahrhunderts mit zu bereiten und verweisen auf dessen außeruniversitäre Wurzelbildung. 52 die Anatomie der Frühen Neuzeit eingehen zu können, lässt sich zumindest ein Transfer anatomischen Interesses konstatieren; W ATANABE -O’K ELLY , Garten. Kurz hierzu auch W ATANABE - O’K ELLY , Management, S. 62 ff. 48 W ATANABE -O’K ELLY , Garten, S. 32. 49 Zit. nach ebd., S. 26. 50 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 895/ 10, Zitat fol. 67 v . Das Inventar entstand vermutlich 1728 nach der Ernennung von Johann Jacob Meise zum Anatom. 51 Zu den Zusammenhängen von öffentlichen Sektionen und Geselligkeitsformen in der Frühen Neuzeit vgl. zusammenfassend U LBRICHT , Sektion. Ulbrichts zentrale These lautet, dass die Feierlichkeiten bei öffentlichen Sektionen ein funktionales Äquivalent zum Tabubruch der Zergliederung der Toten darstellten und diesen Tabubruch so wieder integrierten. Zu öffentlichen und privaten Sektionen auch S TUKENBROCK , Cörper, S. 123 ff. Zum Zusammenhang von Kunst, Kultur und Anatomie siehe auch die Beiträge von B ERGEN- GRUEN , Missgeburten und S OBOTH , Tränen. Insgesamt gilt die enge Verknüpfung von Kunst und anatomischer Präparation der Leiche als unumstritten; E CKART , Anatomie, Sp. 366. Er weist ebd., Sp. 365 darauf hin, dass bspw. gehäutete Menschen ein wiederkehrendes Motiv anatomischer Ausstellungen waren. 52 K LIMPEL , Collegium, S. 71 f.; H ELM , Vater, S. 22 f. <?page no="302"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 291 Der Nutzen der Anatomie wurde zeitgenössisch für alle Wissenschaften betont. 53 Nach und nach wurde die Anatomie zu einem Schlüsselfach des wissenschaftlichen Renommees der universitären Medizin stilisiert. Zudem zählte die Anatomie zu jenen Fächern, in denen praktische Exerzitien für die Studierenden die Vorlesungen sinnvoll ergänzen sollten. Diese Anstrengungen waren indes von einem latenten Mangel an Leichen begleitet, der, folgt man den unablässigen Klagen vieler Anatomen, nie wirklich befriedigend behoben werden konnte. Karin Stukenbrock hat freilich gezeigt, dass die Anatomieprofessoren oftmals allein deswegen und so vehement über fehlende Leichen klagten, weil sie die Schwelle zur Aufmerksamkeit der Landesherren überschreiten wollten, um deren Blick auf die Tätigkeit an den anatomischen Lehrstühlen zu lenken. Mitunter ging es auch darum, die eigene Bedeutung entsprechend herauszustreichen. 54 Beschwerdeschriften waren also immer auch Tätigkeits- und Nützlichkeitsnachweise. Auf den permanent von Studierenden und Lehrenden beklagten Leichenmangel reagierten die frühneuzeitlichen Obrigkeiten, indem sie einerseits die räumlichen Einzugsgebiete der anatomischen Einrichtungen ausweiteten und andererseits die Zeitspanne ausdehnten, innerhalb der Sektionen durchgeführt werden durften. Trotz dieser zeitlichen Ausdehnung blieb es aber üblich, vornehmlich während der kühlen Jahreszeiten zu anatomieren, weil bei Wärme die Leichen mangels hinreichend kühler Lagerungsmöglichkeiten rasch verwesten. Wie die wenigen noch vorhanden Akten zu den Anmeldungen von Leichen bei der Dresdner Anatomie zeigen, wurden Leichen während der Ferienzeit oder bei ungünstiger Witterung trotz eingegangener Meldung gar nicht erst abgeholt. 55 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts sollten schließlich immer mehr Leichen an die Anatomien abgeliefert werden. Das hatte zur Folge, dass neben hingerichteten Malefikanten auch anderweit Verstorbene betroffen waren. Karin Stukenbrock hat hierzu präzise herausgearbeitet, wie von dieser Maßnahme ausschließlich Randgruppen und innerhalb dieser wiederum vorrangig jene erfasst wurden, die am „unteren Rand der jeweiligen Gruppen“ angesiedelt waren. 56 Wie Ursula Baumann für das 19. Jahrhundert herausgestellt hat, das 53 Z EDLER Bd. 2, Sp. 82 ff., hier Sp. 88 f. (Art. ‚Anatomia’). 54 Zu diesen Klagen kritisch S TUKENBROCK , Cörper, S. 181 ff.; auch H ELM , Vater, S. 21 55 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1 und Anmelderegister 2. Zur Nutzung von ‚Sommerleichen’ durch die Anatomie an norddeutschen Universitäten siehe auch S TUKENBROCK , Cörper, S. 137 ff. 56 Ebd., S. 28 f. und 41 ff., Zitat S. 78. Unter den knapp 1.800 Fällen des Dresdner Anatomieleichenbuches befinden sich denn auch nur insgesamt drei Adelige, die allerdings völlig verarmt und vereinsamt gestorben waren. Sie selbst oder Bekannte bzw. Verwandte hatten nicht für eine <?page no="303"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 292 gleiche Argument gilt m. E. bereits für das 18. Jahrhundert, bestand ein Dilemma der Anatomie bei der Leichenbeschaffung prinzipiell darin, dass sie frühzeitig auf die Leichen sozial deklassierter oder devianter Menschen beschränkt und dadurch grundsätzlich eine Ausweitung auf andere Gruppen erschwert war, wenn nicht gar verhindert wurde. 57 Die bereits angesprochenen Leichenverordnungen für die Universitäten und die Abkommen in den Universitätsstädten wurden im Verlauf der Frühen Neuzeit erneuert oder aber der Landesherr erteilte, wie im Falle Wittenbergs am 19. Januar 1700, 58 weitere Hilfsprivilegien zur Versorgung der anatomischen Institute mit Leichen. Mit dem Anwachsen der Universitäten und dem weiteren Aufblühen der anatomischen Wissenschaft stieg auch der Bedarf an Leichen. Eine Direktive vom 6. Juli 1716 regelte erstmals auf Landesebene für beide Universitäten die Abgabe von Leichen an die medizinischen Fakultäten. Suizidenten wurden hier noch nicht erwähnt. Die angesprochenen regionalen Obrigkeiten hatten lediglich „die Cörper der justificirten Ubelthäter, auf Verlangen, zur Anatomie [zu] liefern“. 59 Diesem Erlass war eine gemeinsame Bitte der Deputierten der Landesuniversitäten auf dem Landtag von 1716 vorausgegangen, auf dem sie um ein entsprechendes Dekret gebeten hatten. Carl Rabl vermutete wohl richtig, dass dieser Vorgang in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Eröffnung des neuen anatomischen Theaters in Leipzig im Jahre 1704 stand, in deren Folge der Bedarf an Leichen rasch gestiegen war. 60 Der Erlass sah zunächst nur die Abgabe hingerichteter Delinquenten vor, weil die Landesregierung gegen eine unterschiedslose Ablieferung von Verstorbenen Bedenken geäußert hatte. Die Regierungsräte befürchteten, dass etwa bei tot gefundenen Personen vorschnell Honoratioren abgeliefert werden oder generell die Gefühle der Hinterbliebenen verletzt werden könnten. 61 Dies ist ein interessantes Argument, konstatiert die Forschung doch eine zunehmende Beisetzung (vor-) sorgen können. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 276, 461, 657; ferner ebd., Nr. 776 und der Fall eines vorgeblichen Adligen von Friclitz, der sich in einer Amtsfronfeste das Leben genommen hatte (ebd., Nr. 1699). 57 B AUMANN , Recht, S. 178. 58 C OD . A UG ., Sp. 379; hierzu auch R ICHTER , Absolutismus, S. 89. 59 C OD . A UG ., Sp. 947-950; K ÜHN , Medicinal-Gesetze, S. 63 f.; S CHMALZ , Medizinal-Gesetze, S. 504 f. Im Kurkreis betraf dies die Orte bzw. Ämter Wittenberg, Gräfenhainichen, Gommern, Belzig, Annaburg, Seida, Schweinitz, Schlieben und Liebenwerda; im Leipziger Kreis waren Leipzig, Düben, Eilenburg, das Erbamt Grimma, Leisnig, Colditz, Rochlitz und Mutzschen betroffen. Vgl. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 15. 60 R ABL , Geschichte, S. 49; dort auch eine Edition der Verordnung von 1716. 61 Zu dem Gesuch der Universitäten auf dem Landtag 1716 und dem folgenden Schriftverkehr auf Regierungsebene siehe S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 1 ff. <?page no="304"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 293 Rücksichtnahme auf die Hinterbliebenen bislang vor allem für das 19. Jahrhundert. 62 Insgesamt offenbart sich in den Stellungnahmen der kursächsischen Landesregierung eine verbreitete Skepsis gegenüber der unterschiedslosen Zergliederung menschlicher Leichen. Bereits vier Tage nach dem Erlass von 1716 begrüßte der Wittenberger Anatom Brandeld diesen ausdrücklich in der Hoffnung, der Leichenmangel könne nun endgültig beseitigt werden. Im gleichen Atemzug zeigte er allerdings auch schon erste Verstöße an. So säßen in den Ämtern Schweinitz und Liebenwerda zum Tode verurteilte Häftlinge. Bereits ante mortem hätten die Amtleute erklärt, dass sie deren Leichen nach vollstrecktem Urteil nicht abliefern würden. 63 Ähnliche Beschwerden gab es aus Leipzig und auf dem Landtag 1718. 64 Es war daher nur zwangsläufig, dass eine Initiative einflussreicher Personen eine Revision der eben erst getroffenen Erlasse bewirken musste. Am 11. Januar 1722 wandte sich der Wittenberger Anatom Abraham Vater (1684-1751) an Kurfürst Friedrich August I. 65 Vater schrieb dem Kurfürsten, zum Ruhme der Wittenberger Anatomie und mithin zur Verbesserung der Ausbildung benötige man weitaus mehr Leichen als bislang. Der Landesherr solle verfügen, dass auch Tote abzuliefern seien, deren Beisetzung ohnehin auf Kosten der Obrigkeit geschehen oder um deren Beisetzung sich niemand bemühen würde, wie etwa im Fall verarmter Lazarettinsassen. Karin Stukenbrock hat die wiederkehrende und häufig gleichlautende Argumentation der Anatomen in ihren Eingaben an die frühneuzeitlichen Höfe analysiert. Ihre Untersuchungen zeigen, dass Vaters Argumente denen verwandter Suppli- 62 B AUMANN , Recht, S. 161 ff. 63 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 16 f. 64 Ebd., fol. 18 ff. 65 Zum Vorgang ebd., fol. 25 ff. Vgl. auch K ÄSTNER , Ausbildung, S. 12; R ICHTER , Absolutismus, S. 89 f. Vater war zum Zeitpunkt seiner Eingabe beim Landesherrn noch mit der eigenen Profilierung beschäftigt, denn er war lediglich Substitutprofessor. Formal, wenngleich nicht aktiv, hatte der Hof- und Leibarzt Johann Heinrich Heucher die dritte Professur der Fakultät (eben jene für Anatomie und Chirurgie) inne. Zwischen 1719 und 1732 zeigte Vater auch eine rege Publikationstätigkeit, die seine Karriere bis zur Berufung als Ordinarius im Jahr 1732 fördern sollte. Mit Verweisen auf die ältere Literatur, zur Person Vaters, seinem akademischen Werdegang sowie wissenschaftlichem Werk und Wirken vgl. in der Zusammenschau und Kontextualisierung H ELM , Vater. Der Kurfürst schenkte Vater 1733 größere Teile der kurfürstlichen Anatomiekammer und unterstützte das Wittenberger ‚Museum anatomicum’ finanziell; R ICHTER , Absolutismus, S. 90. Richter meint, dass im Gegensatz zur Wittenberger Anatomie der Fortschritt in Leipzig wesentlicher von der auch finanziellen Eigeninitiative der dortigen Professoren abhängig gewesen sei. Zum Wittenberger Anatomiemuseum vgl. auch den Katalog von V ATER , Regii, der in den öffentlichen Teil der kurfürstlichen Bibliothek integriert war. <?page no="305"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 294 kationen ähneln: Stets galt es, den Ruhm der Universität und damit den Ruhm des Landesherrn zu mehren. Immer sollte die medizinische Ausbildung verbessert werden. Diesem Argument kam wegen der bevölkerungspolitischen Aktivitäten der frühneuzeitlichen Territorialstaaten im 18. Jahrhundert ein besonderes Gewicht zu, denn die Landesherren machten es zu einem entscheidenden Movens ihres Regierungshandelns, die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu verbessern. 66 Im Gesuch Vaters findet sich jetzt erstmals der Vorschlag, die Leichen „derer Selbst-Mörder, welche nicht aus notorischer melancholey hand an sich geleget“, 67 der Anatomie zu übergeben. Der Kurfürst bekräftigte infolge dieses Schreibens ein halbes Jahr später gegenüber der Landesregierung seinen Willen, die Anatomie an den Universitäten zu fördern und unterstützte deshalb inhaltlich auf ganzer Linie die Forderungen Vaters. 68 Zwischenzeitlich hatten sich auch die Leipziger Mediziner über Vaters Vorstoß beim Landesherrn erfreut gezeigt, diesen unterstützt und zugleich eine Ausdehnung ihres Einzugsgebietes gefordert. Im April 1723 wurde schließlich ein Befehl erlassen, in dem, den Forderungen Vaters und der Leipziger Mediziner entsprechend, die alten Vorschriften ausgeweitet wurden. Der Befehl wurde in einer Stückzahl von 1821 Exemplaren publiziert. 69 Petra Richter resümiert, diese Order habe die Lehre und Forschung auf anatomisch-chirurgischem Gebiet vorangetrieben, indem sie stärker an der Praxis orientiert wurden. Der Befehl sei daher in seiner Bedeutung der Gründung eines neuen Lehrstuhls gleichzustellen. 70 Es mag zu diesem euphorischen Urteil der zeitgenössische Beifall der Mediziner nicht unwesentlich beigetragen haben. In jedem Fall war dieser Erlass ein wichtiger Schritt in der landesherrlichen Privilegierung der Anatomien. Gemäß dem neuen Befehl sollten die „Cadavera der Enthaupteten, Gesäckten, Gehangenen, Ertrunckenen und desparaten Selbst=Mörder“ zur Anatomie ab- 66 S TUKENBROCK , Rolle, S. 92 f. Sie konstatiert ein generell großes Interesse der Höfe an der geregelten Versorgung ihrer anatomischen Theater mit Leichen und stellt fest: „Mir ist kein Fall bekannt, wo die Herrscher den Erlaß der Verordnungen verweigert hätten.“ (ebd., S. 92). Zum Vorfeld entsprechender Verordnungen und dem Mitwirken verschiedenster Instanzen auch S TUKENBROCK , Cörper, S. 30 ff. Zum weiteren Kontext auch ebd., S. 171 ff. sowie S TUKENBROCK , Primat. 67 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 27 r f. 68 Ebd., fol. 23 f. 69 Ebd., fol. 28 ff. und 38 ff. Edition des vorangegangen gleichlautenden Dekrets an die medizinische Fakultät in Leipzig bei R ABL , Geschichte, S. 50. 70 R ICHTER , Absolutismus, S. 88 f. <?page no="306"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 295 geliefert werden. 71 Daneben waren die Leichen der in den Hospitälern und Krankenhäusern Verstorbenen an die medizinischen Fakultäten der Universitäten Leipzig und Wittenberg auf deren Verlangen und Kosten abzuliefern. Mit der differenzierten Regelung von 1723 reagierte die Landesherrschaft auf die Forderung der Universitätsmediziner all jene Toten abzuliefern, die ohnehin auf Kosten der Obrigkeit beigesetzt worden wären. Für die entsprechenden Begräbnisse sollten nun die anatomischen Institute sorgen, ebenso mussten sie für die Transportkosten aufkommen. Die Gruppe der verzweifelten ‚Selbstmörder’ wurde, ganz wie es Abraham Vater vorgeschlagen hatte, von den Melancholikern abgegrenzt, die ausdrücklich von der Regelung ausgenommen wurden. 72 Damit reiht sich die Regelung für die Anatomie in die übergreifend zu beobachtende nachsichtige Haltung gegenüber Melancholikern ein. Unabhängig vom sozialen Stand sollten Dispense für Kriminelle ausgeschlossen sein. Überdies sollten die in Hospitälern oder Krankenhäusern Verstorbenen ausschließlich zur Sektion und Besichtigung abgeliefert werden. Das verhinderte das Herstellen anatomischer Präparate aus Leichenteilen und ermöglichte eine Beisetzung der vollständigen Leiche. 73 Mit Karin Stukenbrock kann dies als ein Zugeständnis der Landesherrschaft an allgemeine Vorbehalte unter der Bevölkerung gegen die künstliche ‚Zerstückelung’ des Körpers interpretiert werden. Kurz nach dem Erlass der neuen Order kam Abraham Vater nicht umhin, den kurzfristig deutlich sichtbaren und für ihn auch persönlich überwältigenden Erfolg des Erlasses seinem Landesherrn devot zu vermelden: „Wie sich der effect dero obangezogenen vorneuerten allergnädigsten mandats schon mercklich verspüren läßet, annerwegen ich, da man sonsten manchesmahl in 5 und mehr jahren allerhier zu keiner section gelangen können, nur letztverwichenen winter über bereits 3 cörper und darunter nur kürtzlich eine sich selbst erhenckte schwangere weibes-person, über deren section ich annoch begriffen, […] mit ungemeinen applause einige tage her demonstriret, auf das theatrum anatomicum bekommen habe“. 74 71 Anhang II.2. 72 C OD . A UG ., Sp. 995 f.: „ferner auch auf die Maleficanten, so im Gefängnisse sterben, und auf Leuthe, die aus Verzweyfelung und Ruchlosigkeit, nicht aber aus Melancholie, sich selbst entleiben, zu extendiren, und daß solche Cörper auch aus anderen Creyssen der Universität, so am nechsten gelegen und darum ansuchet, unweigerlich abgefolget.“; siehe auch Anhang II.2. Zu dieser Regelung und ihrer Einordnung kurz auch H ELM , Vater, S. 20 f. 73 C OD . A UG ., Sp. 993. Vgl. auch H ELM , Vater, S. 20 f.; K ÜHN , Medicinal-Gesetze, S. 83 ff.; S CHMALZ , Medizinal-Gesetze, S. 505 f.; ferner auch Z EDLER Bd. 2, Sp. 89 (Art. ‚Anatomia’). 74 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 37 r . <?page no="307"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 296 In unmittelbarer Folge des neuen Erlasses kann übergreifend ein kurzzeitig normkonformes Handeln lokaler Amtleute beobachtet werden. Allerdings weisen die Querelen der folgenden Jahrzehnte nicht darauf hin, dass die Umsetzung der Regelung dauerhaft den Intentionen von Landesherr und Anatomen folgte. 75 Zumindest aber hatte der Erlass Abraham Vater das für ihn freudig erregende Erlebnis der öffentlichen Sektion einer schwangeren ‚Selbstmörderin’ verschafft, bei der man ihm, aus seiner Sicht natürlich völlig zu Recht, kräftig applaudiert hatte. In einem Brief an den Kurfürsten aus dem Jahr 1736 sollte sich Vater dann gleichfalls dankbar darüber zeigen, dass er seit 1719 insgesamt 40 Sektionen durchführen konnte. 76 Wenn man die oben beschriebenen geringen Zahlen öffentlicher Anatomien im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert zum Vergleich nimmt, wird deutlich, dass hier eine Veränderung zu erkennen ist und das Lehrfach Anatomie nun wesentlich stärker von praktischen Demonstrationen geprägt war, für die entsprechendes Körpermaterial beschafft werden musste. Bevor die Konflikte der Folgezeit untersucht werden, ist im Vorgriff kurz die exzeptionelle Behandlung von Melancholikern in dem Befehl von 1723 zu bewerten. Zum einen drückt sie die Nachsicht gegenüber jenen aus, die keinen vorsätzlichen Suizid, also keine Straftat, begangen hatten. Zum anderen ist diese erste Regelung bedeutsam, weil sie in den folgenden Verordnungen der Jahre 1748, 1749 und 1763 für die Dresdner Anatomie entfiel, ohne dass sich die juristische oder alltagsweltliche Einstellung gegenüber melancholischen Suizidenten insgesamt geändert hatte. 77 Kursachsen scheint hier unter den protestantischen Territorien einen zeitweiligen Sonderweg eingeschlagen zu haben. Erst im November 1779 und erneut im Juli 1794 wurden Melancholiker 75 Die entsprechende Akte im Bestand der Landesregierung im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden macht zwar hier einen großen zeitlichen Sprung, der detaillierte Aussagen nicht immer zulässt. Allerdings sind die Indizien und die Befunde der Literatur in diesem Punkt eindeutig. Vgl. aber für die Zeit ab 1798 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 56 ff. sowie für die unmittelbare Folgezeit die Ausführungen im weiteren Text. 76 H ELM , Vater, S. 20. Unter anderem nutzte Vater bei seinen Demonstrationen präparierte Leichen, bei denen durch spezielle Wachse etwa der Blutkreislauf sichtbar gemacht worden war. So beispielsweise zu Neujahr 1731; vgl. V ATER , Demonstration. 77 Auf die Verordnungen 1748 und 1749 verweist ein Postskriptum zum Erlass von 1763: „Nota: in simili ist bereits sub d[ato] den 17. May 1748, 16. Nov. 1748 und 20. Jun. 1749 Verordnung ergangen.“; hier nach C OD . A UG . C ONT . II, P. II, Sp. 866. Siehe auch S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11237, Nr. 1500, fol. 6 r und 8 v . Vgl. auch die Verweise auf die Dresdner stadtarchivalische Überlieferung bei S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 168. Die Anweisungen von 1748 und 1749 wurden 1752 auch auf einige Orte des Markgrafentums Ober- und Niederlausitz ausgedehnt; C OD . A UG . C ONT . I, P. III, Sp. 146 f.; S TA F I A B AUTZEN , 50009, Nr. 5793. <?page no="308"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 297 normativ wieder von den Ablieferungen ausgenommen, wenngleich deren Leichen in der Praxis auch weiterhin abgeliefert wurden. 78 Mit den Dispensregelungen sind die Fragen verbunden, ob die Obrigkeiten mit der Überführung von Leichen zur Anatomie eine Form von Bestrafung intendierten. Darüber hinaus ist zu fragen, ob die Bevölkerung in der Sektion oder Anatomierung toter Körper eine Strafe sah. 8.2. War die anatomische Sektion eine Strafe? Die zeitgenössischen Auseinandersetzungen über Leichenlieferungen an die Anatomien, die Ängste weiter Bevölkerungskreise und vielfältige Dispensregelungen haben in der Forschung die Frage aufgeworfen, ob die anatomischen Sektionen als Mittel der Disziplinierung randständiger Bevölkerungsgruppen und als Form einer postmortalen Strafe verstanden wurden. 79 Karin Stukenbrock konnte in ihrer Untersuchung der Regelungen in protestantischen Universitätsstädten feststellen, dass die bereits erwähnten Ausnahmeregelungen für Melancholiker usw. prinzipiell über das gesamte 18. Jahrhundert und darüber hinaus Bestand hatten. Die fortdauernde Beschränkung der Anatomieleichen auf einflusslose Randgruppen, ‚Selbstmörder’ und Kriminelle führte auch deshalb zu latenten Engpässen in der Versorgung der Anatomien mit Leichen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschwerte man sich bspw. in Jena darüber, dass zu wenige ‚Selbstmörderleichen’ abgeliefert wurden. Infolge der ausgedehnten Forschungen auf dem Gebiet der geistigen Erkrankungen hätten Ärzte immer häufiger Geistesstörungen als Suizidursache diagnostiziert, weshalb die Leichen der Anatomie vorenthalten werden konnten. 80 Ursula Baumann vertritt für Preußen die Ansicht, dass die Dispenspraxis für Anatomieleichen im späten 18. und vor allem dann im 19. Jahrhundert hauptsächlich von der zunehmenden Rücksichtnahme auf die Familien der besser Situierten und weniger von Unzurechnungsfähigkeitshypothesen bestimmt gewesen sei. 81 Für die USA ist festgestellt worden, dass Dispense vor allem 78 K ÜHN , Medicinal-Gesetze, S. 362-364; S CHMALZ , Medizinal-Gesetze, S. 507 f. 79 P AUSER , Sektion; S TUKENBROCK , Cörper, S. 225 ff. Als Strafe unter Berücksichtigung zeitgenössischer Wahrnehmungen auch behandelt bei S CHREINER , Aufgeklärtheit, S. 207 f. Siehe jetzt auch die Diskussion bei H OUSTON , Punishing, S. 246 ff. zu den Verhältnissen in Schottland, wenngleich nicht unter der von mir genannten Fragestellung. 80 S TUKENBROCK , Cörper, S. 41 ff.; die Jenaer Beschwerde ebd., S. 45 Anm. 124. 81 Baumann geht zudem davon aus, dass die im Vergleich zur übergreifenden Begräbnissanktionierung nur beschränkte Nutzung von Suizidleichen in der preußischen Anatomie darauf <?page no="309"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 298 zugunsten weißer Mittel- und Oberschichten erteilt wurden und nahezu ausschließlich die Leichen von Schwarzen, völlig Verarmten und von Immigranten zur Anatomie kamen. 82 Grundsätzlich ist wohl auch davon auszugehen, dass die Entwicklung nicht in allen Territorien gleich verlief. In einigen Territorien war es einfach nicht üblich, Leichen zur Anatomie abzutreten. So haben es etwa Fürst Ludwig Günther II. (reg. 1767-1790) und das fürstliche Ratskollegium in Schwarzburg-Rudolstadt nach dem Suizid eines Schlosshauptmanns im Juni 1785 betont, obwohl es eine Vereinbarung mit der Universität in Jena gab, ‚Selbstmörder’ an die dortige Anatomie abzuliefern. 83 Beschwerden über mangelnde Leichenlieferungen gab es zeitlich übergreifend bis in das 19. Jahrhundert auch in Sachsen. 84 Das Leichenbuch der Dresdner Anatomie verweist auf eine deutliche Kontinuität eines überproportionalen Anteils von Verstorbenen, die Sozialformationen angehörten, aus deren Mitte heraus kaum Widerstand zu erwarten war: Festungsbaugefangene, Findelkinder und verarmte Lazarettinsassen; wenngleich für die letzte Gruppe in der jüngeren Forschung durchaus Handlungszurückzuführen sei, dass für diese Praxis weder eine entsprechende Tradition noch vergleichbare kollektive Interessen gegriffen hätten. Überdies habe mit der Kirche für die Begräbnissanktionierung eine soziale Institution anderen Maßstabs eingestanden; B AUMANN , Recht, S. 174 u. 179. 82 H UMPHREY , Dissection. Humphrey zeigt auch, dass diese Praxis in den USA bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatte und sich wegen des permanenten und gravierenden Leichenmangels ein florierendes und organisiertes, kriminelles Geschäft mit dem Raub und Verkauf von Leichen entwickelte, das die Grenzen der einzelnen Bundesstaaten überschritt. Zu ethischen Fragen bezüglich der Beschaffung von Anatomieleichen (auch in den USA) H ILDEBRANDT , Punishment. In den dort referierten historischen Leichenverordnungen für die Anatomien verschiedener Territorien sind keine Angaben zu Kursachsen enthalten. 83 T H S T A R UDOLSTADT , Geheimes Ratskollegium Rudolstadt, E I 1b Nr. 16, fol. 7 v . Zu diesem konkreten Fall und seinem Kontext K ÄSTNER / K ÜHNEL , Leben. Zu den Gründen für das Aussetzen des Anatomierens in der Oberherrschaft der Schwarzburger Fürsten siehe auch B IEDERMANN , Anatomieunterricht und B IEDERMANN , Geschichte. 84 Vgl. die Beispiele in diesem Kapitel. Zum 19. Jahrhundert siehe S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 200 ff. (für die 1820-er Jahre). Mitunter gab es ganz praktische Umsetzungsprobleme, so dass etwa in der Oberlausitz einige Lokalobrigkeiten immer noch glaubten, Suizidenten u. a. nicht an die Anatomien abliefern zu müssen, weil ihre Herrschaften von älteren Regelungen nicht erfasst worden waren; vgl. hierzu exemplarisch die Vorgänge in S TA F I A B AUTZEN , 50009, Nr. 5793, fol. 16 ff. Allgemein V IEBIG , Leichenbeschaffung; sowie R EDIES u. a., Herkunft, zur Beschaffung von Leichen während der NS-Zeit, wo unter anderem herausgestellt wird, dass eine Vielzahl von Opfern der verbrecherischen NS-Justiz zwangsweise an die Anatomien abgeliefert wurden. <?page no="310"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 299 strategien des Sich-Entziehens beschrieben wurden. 85 Die sächsischen Quellen zeigen ganz ähnlich wie in Preußen, dass man immer dann Rücksicht auf die Verstorbenen und deren Familien nahm, wenn sie zur Honoratiorenschicht gerechnet wurden. Robert Houston hat jüngst am Beispiel Schottlands gezeigt, dass bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Leichen von Suizidenten überhaupt nur dann zur Anatomie kamen, wenn der ‚vorsätzliche Selbstmord’ unzweifelhaft feststand und niemand Anspruch auf die Leiche erhob bzw. die Begräbniskosten nicht gedeckt waren. 86 Die Frage, ob Sektionen auch als Strafe oder Mittel der Strafverschärfung dienten, kann auf Grundlage der sächsischen Quellen nicht eindeutig beantwortet werden. Weder vonseiten der Landesherrschaft, d. h. des Landesherrn oder der Regierungsbehörden, noch im anatomisch-medizinischen Alltag scheint dies in Sachsen explizit so formuliert bzw. intendiert worden zu sein. Allerdings war den Regierungsbehörden in anderen Zusammenhängen die abschreckende Wirkung der ‚Leichenzerstückelung’ auf potenzielle ‚Selbstmörder’ durchaus bewusst. 87 Benedict Carpzov hat einen entsprechenden Zusammenhang von Anatomie und Strafe verneint. 88 Für den Juristen Reinhold Sahme war dies 1712 eher eine Frage der Häufigkeit und des Grades der ‚Zerstückelung’. 89 Wahrnehmung und Intention medizinisch orientierter Bildungs- und Herrschaftseliten waren andere als die jener Personengruppen, die von einer Ablieferung an die Anatomien auch tatsächlich betroffen waren und von denen die Quellen ganz andere Wahrnehmungen und ‚Erregungszustände’ berichten. Diese legen den Schluss nahe: Eine drohende postmortale Zerstückelung des eigenen Körpers wurde von den Betroffenen als Strafe angesehen. 90 Insbesondere nicht-kriminelle Arme und Bedürftige sahen sich von einem sozialen Stigmatisierungs- und Entmoralisierungsszenario bedroht. So rapportierte bspw. der Lazarettadjunkt Richter im Oktober 1792 an den Dresdner Rat, das hiesige Lazarett sei mittlerweile in den Ruf geraten, Begräbnisdispense abschlägig zu 85 Irmtraud Sahmland hat kollektive und individuelle Widerstandsakte von Hospitalinsassen anhand des Hohen Hospitals Haina in Hessen beschrieben: S AHMLAND , Körperspende; S AHMLAND , Fordern. 86 H OUSTON , Punishing, S. 247. 87 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10025, Loc. 6555, fol. 65 v . Siehe auch unten Kap. 10. 88 Hinweis bei P AUSER , Sektion, S. 529. 89 S AHME , Versagung, Kap. XXV, S. 37 f. 90 Hierzu jetzt auch ein eingängiges Beispiel bei H OUSTON , Punishing, S. 249 ff., wo allerdings auch gezeigt wird, dass nicht allein die Anatomie eine Institution der Malträtierung von Leichen war, die man fürchtete, sondern verschiedene Schändungsrituale auch Bestandteil popularer Praktiken waren. <?page no="311"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 300 bescheiden, nur um die Lieferung von Leichen an die Anatomie nicht zu gefährden. Gegen diese Ablieferungspraxis sprach sich Richter dann auch gleich noch aus, „weil der gedancke, nach dem tode auf diese art behandelt zu werden, den meisten armen diese wohltat [scil. die Aufnahme und Verpflegung im Lazarett] gar sehr verbittert; die krancken beunruhiget und ängstet, und deshalb ihr uibel vermehret, ja gewiß schon manche selbst das leben gekostet hat, mithin dem wohltätigen zwecke dieser milden stiftung auf allen seiten entgegen würcket, und also mit demselben auf keine weise zu bestehen scheint.“ 91 Die Leichenmandate beschränkten sich zwar auf jene sozialen Gruppen, von denen ein geringes Widerstandspotenzial erwartet wurde, weil deren unvorteilhaft geringes ökonomisches Kapital, geringes soziales Prestige und deren aus Sicht der Obrigkeiten kaum nennenswertes symbolisches Kapital der Ehre es erlaubten. 92 Dass sich Obrigkeiten hier aber durchaus auch täuschen und heftige Unruhen provozieren konnten, hat Peter Linebaugh anhand von Unruhen in London im 18. Jahrhundert eindrucksvoll gezeigt. Dort sorgte solidarisches Handeln der latent von einer anatomischen Sektion bedrohten Bevölkerungsgruppen und die Sorge Verurteilter wie Verwandter und Freunde gleichermaßen um den toten Körper und ein ordentliches Begräbnis für massive Unruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen um die Leichen von Hingerichteten. 93 Ursula Baumann weist darauf hin, dass eine zusätzliche Stigmatisierung von Suizidenten durch eine anatomische Sektion indes eher ein „Nebeneffekt der Maßnahme [war], zu deren mentaler Voraussetzung gleichwohl die kollektive Ächtung des Suizids gehörte.“ 94 Prinzipiell gilt dies auch für die Leichen hingerichteter Malefikanten, bei denen die Abgabe zur Anatomie ebenfalls an die 91 S T A D RESDEN , B.XV.64, fol. 11 r . Vgl. auch die ähnlich lautenden Stellungnahmen in den von Irmtraud Sahmland untersuchten Suppliken Hainaer Hospitalinsassen: S AHMLAND , Fordern, S. 48; S AHMLAND , Körperspende, passim. Auch für Göttingen ist die heftige Ablehnung der Bevölkerung gegen die Praxis der Lieferung von Leichen an die Anatomie beschrieben worden: W AGENER , Anatomie. 92 Weil man im ausgehenden 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert insgesamt mehr auf Familien und Angehörige und damit auf individuelle Befindlichkeiten Rücksicht nahm, schuf dies Anreize auch für sozial Deklassierte der Anatomie zu entgehen, indem man etwa Gelder beschaffte, um eine normale Beisetzung zu ermöglichen. 93 L INEBAUGH , Riot. 94 B AUMANN , Recht, S. 161 f. Dort fortfolgend auch zu den Veränderungen im 19. Jahrhundert in Preußen. <?page no="312"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 301 mit der Todesstrafe einhergehende Verweigerung eines ordentlichen Begräbnisses verknüpft war. 95 Schließlich bemerkt Baumann völlig zu Recht, dass eine etwaige und latente Kriminalisierung jeglicher Menschen, deren Körper zur Anatomie kamen, nicht in der Eigenlogik dieser Institution liegen konnte. Dieser ging es zumindest der publizistischen Verkündung nach um Fortschritt auf den Gebieten der theoretischen und praktischen Medizin. Zudem lässt der meist unbefangene Umgang der zum Transport der Leichen verordneten Personen, Bedienstete der Anatomie aber auch ehrpusselige Studenten, darauf schließen, dass in Teilen der Gesellschaft derartige Tätigkeiten längst nicht mehr als ehrenrührig galten. Vielmehr zeigt sich ein recht pragmatischer, dem medizinischen Nutzungskontext geschuldeter Umgang mit den Leichen. Damit unterscheiden sich tendenziell die mit dem Umgang mit ‚Selbstmörderleichen’ im Kontext der Anatomie verbundenen Vorstellungen von der durch kirchlichen und strafrechtlichen Einfluss geprägten Begräbnisdiskriminierung. Ein uneinheitliches und widersprüchliches Bild zeichnet hingegen Julia Schreiner. Die von ihr herangezogenen Beispiele verdeutlichen, wie notwendig es ist, die bisherigen Befunde präzise nach den jeweiligen regionalen Verhältnissen zu differenzieren. So konstatiert sie etwa, dass die Straffunktion von Anatomien im 18. Jahrhundert von abnehmender Bedeutung gewesen sei: „es blieb das Interesse am Innenleben des menschlichen Körpers.“ 96 Schreiners These unterstellt damit allerdings, dass die Anatomie in ihrer Frühzeit durchaus eine strafende Funktion erfüllt hätte. Dies scheint mir jedoch keineswegs so eindeutig belegt, wie die Forschung bisweilen annimmt, bzw. erscheint die häufig als Beleg angeführte Praxis im angelsächsischen Kontext doch deutlich von den im Reich herrschenden Verhältnissen abgewichen zu sein. Überdies sind einige Thesen wohl auch dem suggestiven Charme aufklärerischer Eigengeschichten geschuldet. Selbst Josef Pauser vertritt die These, erst mit der Aufklärung habe die anatomische Sektion den Schrecken einer Strafverschärfung verloren. 97 Sowohl Schreiner als auch Pauser beziehen sich auf einige ausgewählte Protagonisten der bildungsbürgerlichen Publizistik. Inwieweit deren Ansichten aber repräsentativ für größere Teile der frühneuzeitlichen Gesellschaft sprechen, wäre erst einmal zu diskutieren. Die bisherigen Forschungsbefunde resultieren also auch aus einer unterschwelligen Polarisierung von Popular- und Elitenkultur. 95 P AUSER , Sektion. 96 S CHREINER , Glück, S. 31 ff., Zitat S. 35. 97 P AUSER , Sektion. <?page no="313"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 302 Ambivalent sind in diesem Punkt auch die Befunde von Karin Stukenbrock. Sie hat ebenfalls betont, dass der Umgang mit den Leichen differenziert war. Sie fordert deshalb (und hier trifft sie sich mit meinen Überlegungen zur Urteilspraxis bei ‚Selbstmörderbegräbnissen’), stärker soziale Einflussfaktoren wie den Lebenswandel der Betroffenen zu beachten. 98 Letztlich kommt Stukenbrock für das späte 18. Jahrhundert zu dem Schluss: „Die Ablieferung einer Leiche an die Anatomie verstand man nach wie vor als postmortale Bestrafung für ein wie auch immer geartetes Fehlverhalten zu Lebzeiten verbunden mit der sich daraus ergebenden negativen Haltung gegenüber den Toten und ihren Familien.“ 99 Zugleich geht Stukenbrock aber davon aus, dass aus Sicht der Obrigkeiten die Ablieferung gerade nicht mit einem System der Bestrafung in Zusammenhang gebracht, sondern vielmehr der Strafaspekt als ein nachgeordneter Vorgang erachtet wurde. 100 Immerhin aber habe man aufseiten der Obrigkeit einen disziplinarischen Effekt gesehen. 101 Julia Schreiner hat weiter darauf hingewiesen, dass in der Publizistik des späten 18. Jahrhunderts vor allem ein Aspekt immer wieder betont wurde: Sektionen von ‚Selbstmörderleichen’ würden der Gesellschaft einen allgemeinen Nutzen bringen: Einen Nutzen für das Gemeinwohl sollten jene noch erbringen, deren Körper „nicht den Vorstellungen vom ‚guten Leben’ entsprochen“ hatten. 102 Karin Stukenbrock konnte allerdings zeigen, dass lediglich die obrigkeitliche Verfügungsgewalt über die Körper von Kriminellen unstrittig war und für andere Personengruppen und Sozialformationen erst entsprechende Argumentationsmuster aufgebaut werden mussten. So postulierte man die Verwendung von Leichen verarmter Menschen als Gegenleistung für im Vorfeld gewährte Unterstützungen aus öffentlicher Hand. 103 Auf diese Besonderheiten in der Legitimierung von Sektionen bestimmter Leichengruppen ist zu achten, 98 S TUKENBROCK , Cörper, die bes. S. 225 ff., 275 f. und 278. 99 Ebd., S. 240. Aufgrund der differenzierten Antworten Stukenbrocks würde ich auch nicht Andreas Renner zustimmen, der als ein Ergebnis von Stukenbrocks Studie herausstellt, sie habe die Foucaultsche These von der ‚Zerstückelung’ des Körpers als Strafe beiläufig widerlegt; vgl. hierzu R ENNER , [Rez.] Stukenbrock, Cörper. 100 S TUKENBROCK , Cörper,S. 39. 101 S TUKENBROCK , Rolle, S. 93. 102 S CHREINER , Glück, S. 36. 103 B AUMANN , Recht, S. 162 und 175 ff. für das 19. Jahrhundert in Preußen. S TUKENBROCK , Cörper, S. 211 ff., hier S. 223. Stukenbrock weist in ihrer gesamten Studie immer wieder auf die mit der Ausweitung der ‚Zielgruppen’ verbundenen Widerstandspotenziale von Seiten der Bevölkerung gegen die Anatomie hin. <?page no="314"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 303 wenn über den Strafaspekt von Sektionen diskutiert wird. Ferner sind die Sektion und Besichtigung von Leichen, wie sie der sächsische Erlass von 1723 für die toten Lazarett- und Hospitalinsassen vorsah, von der Zerstückelung einer Leiche, etwa um anatomische Präparate herzustellen, zu unterscheiden, da im letzteren Fall eine Beisetzung des vollständigen Leichnams unmöglich wurde. Die Perspektiven von Bildungs- und Funktionseliten, die im Medizinalwesen tätig waren, und Bevölkerung unterschieden sich in ihrer Bewertung der potenziellen Ehrenrührigkeit von Sektionen und Anatomien. Mithin bestanden aber auch innerhalb (! ) einzelner Bevölkerungsgruppen und Sozialformationen unterschiedliche Ansichten. Deshalb ist vor pauschalen Interpretationen und Polarisierungen zu warnen. Popular- und Elitenkultur differierten wohl weniger als von der Forschung unterstellt. Die Dispensregelungen für Honoratioren verweisen vielmehr darauf, dass die Zergliederung der Leiche auch von jenen Bevölkerungsgruppen als ein Vorgang betrachtet wurde, der inkongruent mit bestehenden Vorstellungen von einer würdevollen Behandlung des Leichnams und den damit verknüpften Ehrvorstellungen war, die sich eher nicht zu den ‚gemeinen Untertanen’ zählten, von diesen aber zugleich ‚notwendige Opfer’ für den Fortschritt der Medizin zum Nutzen der Gesellschaft einforderten. Zusammenfassend kann zumindest unterstrichen werden, dass die Vorstellung von der Sektion als Strafe, wenn überhaupt, dann eher als Sekundäreffekt des Anatomierens verstanden wurde und zum Teil wohl auch dem Umstand geschuldet war, dass neben den Universitätsmedizinern traditionell die Scharfrichter Präparate wie bspw. Menschenfett für magisch-medizinisch Zwecke aus Leichen gewannen. 104 Die Voraussetzung, Sektionen überhaupt als sekundären Strafeffekt zu denken, lag in den bereits bestehenden sozialmoralischen Verdikten gegen einzelne deviante Gruppen. Von einem allgemeinen Strafanspruch, der in der anatomischen Sektion zum Ausdruck gekommen wäre, kann aber schon allein deswegen nicht ausgegangen werden, weil eben auch nicht-deviante Gruppen betroffen waren. Deswegen halte ich auch Irmtraud Sahmlands These für wenig überzeugend, die Anatomie sei in der Vorstellung vieler Menschen weniger deshalb ein ‚unmoralischer Ort’ gewesen, weil Assoziationen zu „eine[r] überkommene[n] Rekrutierungspraxis von Anatomieleichen“ geknüpft worden wären, sondern vielmehr deshalb, weil die Anatomie in die zeitgenössischen Überlegungen zur 104 Beispiele bei P AUSER , Sektion, S. 528 f.; Pauser bezieht sich dort konkret auf N OWOSADTKO , Scharfrichter, S. 168 ff.; K OSLOFSKY , Suicide, S. 50; S TUART , Berufe, S. 172 ff. Allgemein auch H D A Bd. 5, Sp. 1037 ff. [Art. Leiche] und Sp. 1093 f. [Art. Leichenschändung]. Dazu insgesamt und mit plausiblen Argumenten skeptischer W ILBERTZ , Medizin. <?page no="315"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 304 ‚Sozialdisziplinierung’ mit einbezogen worden sei. 105 Dieser Einbezug scheint mir zum einen nicht unmittelbar auf der Hand zu liegen, sondern ist zunächst einmal eher eine Behauptung. Zum anderen ersetzt diese These lediglich den Begriff der Strafe durch den durchaus nicht unproblematischen der ‚Sozialdisziplinierung’. Es scheint mir insgesamt keine gewinnbringende Perspektive zu sein, davon auszugehen, dass das Abliefern von Leichen deklassierter Bevölkerungsgruppen an die anatomischen Theater ein Mittel sozialer Disziplinierung gewesen sei - nur weil es sich um obrigkeitliche Anordnungen handelte. Denn die Leichenmandate waren vor allem sozialregulative Akte, die auf ein Bedürfnis von Medizinern reagierten und damit ein medizinalpoliceyliches Anliegen der Landesherrschaft verbanden. 106 Schließlich wird auch nicht wirklich ersichtlich, was der Zielpunkt einer behaupteten Disziplinierung durch Anatomierung gewesen sein soll. Die Ablieferung von Leichen an die Anatomien sollte den Normen nach weitestgehend unabhängig vom Lebenswandel der betroffenen Verarmten (anders als bei Suizidenten! ) geschehen. Und die blanke Terrorisierung randständiger Gruppen dürfte wohl kaum im Sinn einer Obrigkeit gewesen sein, die mit medizinischen Sektionen, zumindest galt dies im Alten Reich, 107 keinen expliziten Strafanspruch verband. 8.3. ‚Selbstmörder’ als Anatomieleichen 1748-1779 Die Dresdner Anatomie. Eröffnung, Krieg, Wiedereröffnung Im 18. Jahrhundert sollten in Kursachsen, darauf wurde bereits hingewiesen, neben hingerichteten Malefikanten weitere Gruppen von Leichen an die anatomischen Einrichtungen abgeliefert werden. Als Ursache für diese Ausweitung und die einhergehende Androhung von Geldstrafen für den Fall einer Nichtbeachtung der Leichenmandate ist neben dem latenten Bedarf der medizinischen Fakultäten an den Landesuniversitäten die Gründung des CMC in Dresden zu sehen. Mit der Errichtung dieses Medizinalkollegs schwoll der Bedarf an Leichen zu anatomischen Lehrzwecken enorm an. Vorausgegangen waren der Gründung neben älteren Initiativen zur Errichtung einer medizinischen Lehranstalt in Dresden die Erfahrungen des zweiten Schlesischen 105 S AHMLAND , Körperspende, S. 79. 106 Zu der ja schon bei Oestreich wichtigen Differenz zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, die häufig unterschlagen wird, wenn sich Sozialdisziplinierungsthesen mehr oder weniger direkt auf Oestreich beziehen siehe K RÜGER , Policey. 107 Im frühneuzeitlichen England war die Situation allerdings verschieden. Dort hatte der ‚Murder Act’ von 1752 mit Sektionen einen obrigkeitlichen Strafanspruch über Mörder formuliert. In Massachusetts galt ähnliches auch für Duellanten; P AUSER , Sektion, S. 531. <?page no="316"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 305 Krieges mit seinen zahllosen Verwundeten, denen gegenüber die sächsischen Militärärzte überfordert gewesen waren. Zeitgenössische Kritiker konstatierten eine mangelhafte Ausbildung des medizinischen Personals. In der Folge dieser Defizitdiagnose, so lässt sich hier etwas verkürzt festhalten, wurde das CMC gegründet. 108 Bereits im Juli 1710 war in Sachsen angeordnet worden, dass in jedem Verwaltungsbezirk ein Amtsarzt (Amtsphysikus) anzustellen sei. Dessen Ausbildung wie auch die der Stadt- und Landphysici wurde in den 1750-er Jahren im Zuge der Gründung des CMC in Dresden neu geregelt. 109 So konnten etwa Bader- und Barbiergesellen durch ein Examen am CMC das Meisterrecht erlangen. Ein Mandat vom 29. Juli 1750 regelte die zu beachtende Qualifizierung in anatomischen Kenntnissen. Weil Kriminalprozesse oftmals durch „Ungeschicklichkeit, Wissenschaffts=Mangel, und Inadvertenz in Beurtheilung der Todes=Arten“ verzögert würden, seien Ärzte nur noch mit einem nachweislich absolvierten „Cursum anatomicum“ einzustellen. 110 Bereits praktizierende Ärzte müssten zur Nachschulung. Während der Ausbildung sollten nun nicht mehr allein anatomische Demonstrationen besucht und der Lehrstoff theoretisch erfasst werden. Vielmehr waren während des Studiums Sektionen „an einem mit eigener Hand zergliederten Cadavere selbst behörig“ durchzuführen. 111 Dass sich dadurch der Bedarf an Leichen zwangsläufig steigerte, liegt auf der Hand. In Leipzig fanden jedoch Sezierübungen für Studierende, folgt man der Forschung, anders als in Dresden aufgrund weiterhin gravierenden Leichenmangels erst seit 1785 und auch dann nur unregelmäßig statt. 112 Die Verordnungen zur Leichenabgabe in Dresden folgten dem kurfürstlichen Reskript zur Gründung des CMC 108 K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 63, hatte schon darauf hingewiesen, dass die ältere Forschung dem CMC vor allem wegen seiner umstrittenen Gründungsautorität Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Er schloss sich der schon in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11237, Nr. 1500, fol. 7 r f. formulierten Aussage an, wonach der fürstlich-weißenfelsische Leibchirurg Günther mit seinem Entwurf den letzten Ausschlag gegeben hat. F RÖLICH , Collegium und W UNDERLICH , Collegium, geben über die näheren Hintergründe und tragenden Figuren Auskunft; vgl. auch K LIMPEL , Collegium, S. 44 ff. Ähnliche Gründe, wie die oben genannten, beförderten die Gründung eines chirurgischen Kollegs in Berlin 1713; hierzu B AUMANN , Recht, S. 165. 109 C OD . A UG ., Sp. 1766. K LEEMANN , Medizin, S. 7; K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 57. 110 SLUB, H.Sax.K17, fol. 209 f. und 407 ff., Zitate fol. 407 r f. 111 Ebd., fol. 408 v . 112 K ÄSTNER , Ausbildung, S. 10 ff. R ABL , Geschichte, S. 67 f. zu den Problemen der Einführung dieser studentischen Sezierübungen. Ebd., S. 50 f. zum Fall von illegalem Leichenhandel 1720, um die Sezierbedürfnisse der Studenten zu befriedigen. Zum illegalen Leichenhandel in London im 18. Jahrhundert auch L INEBAUGH , Riot; über die Beschaffung von Leichen für die Hallenser Universität informiert P IECHOCKI , Leichenversorgung. <?page no="317"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 306 vom 8. Mai 1748 und gingen der Eröffnung am 18. November des gleichen Jahres voraus. 113 Mit Friedrich Lebegott Pitschel (1714-1785) besaß das Dresdner Collegium einen bei der Beschaffung von Leichnamen zu anatomischen Zwecken äußerst engagierten Lehrer. 114 Pitschel verfolgte, wie noch zu sehen sein wird, die Nachrichten über Todesfälle in Dresden sehr genau. Über seine Person ist nur wenig bekannt. Er offenbart sich in den Quellen als vielseitiger, von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugter, von den Kompetenzen Anderer mithin wenig angetaner Anatom. Er studierte und promovierte in Leipzig mit einer Arbeit über Gelenkknorpel, neben der und weiteren Arbeiten zur Anatomie auch literarische Werke von ihm bekannt sind. Wenige Jahre nach seiner Promotion nahm er als Leiter eines Feldlazaretts aktiv an den Schlesischen Kriegen teil. Die dort gemachten Erfahrungen begründeten seinen praxisnahen Bezug zu Chirurgie und Anatomie. Als Garnisonsmedikus unterstand ihm der Lehrfächerstand der Anatomie innerhalb des CMC, dessen Mitbegründer er war und zu dessen wichtigsten Protagonisten er sich vor allem selbst zählte. 115 Damit war Pitschel (wie andernorts auch) als Anatomielehrer der direkte Adressat für Leichenlieferungen. Er selbst schrieb rückblickend, „an todten Körpern mangelte es nie“. 116 Diese Aussage könnte im Kontext seiner Lobhudelei 113 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11237, Nr. 1500, insbes. fol. 8 v . Für Anweisungen an den Dresdner Rat siehe S T A D RESDEN , B.XV.64, fol. 1 r . Der Eröffnung ging ein Generale vom 18. September 1748 voraus; SLUB, H.Sax.K17, fol. 209 f. Zudem wurde in den ‚Curiosa Saxonica’ über die Eröffnung des Collegiums berichtet. Hierzu auch P ITSCHEL , Anmerkungen, S. 24 f., der die erstmalig in Dresden öffentlich durchgeführte Sektion eines Frauenleichnams beschreibt und nicht umhin kommt zu bemerken: Die Sektion „gefiel allen so, daß ich den andern Tag […] noch für eine ziemliche Anzahl Damen demonstrieren muste, von welchen einige so dreist wurden, und selbst in den Körper griffen“ (ebd., S. 25). 114 K LIMPEL , Collegium, S. 72. Ähnlich S TUKENBROCK , Cörper, S. 177 ff. 115 Zur Person: K LIMPEL , Ärzte, S. 116 f.; H IRSCH (Hg.), Lexikon Bd. 4, S. 621; DBA I, Nr. 962, S. 15. Vgl. auch P ITSCHEL , Anmerkungen, S. 15 ff.; hierzu süffisant O. A.: [Rez.] Pitschel, Anmerkungen. Trotz seiner literarischen Werke verzeichnet ihn K LIMPEL , Schriftsteller-Ärzte, nicht. Daher liste ich im Folgenden Pitschels Werke auf, die in den einzelnen biografischen Artikeln nicht verzeichnet sind: ‚Ein Gedichte, worinnen gezeiget wird, Daß ein Weiser bey seinem Mangel glücklicher sey als ein Unverständiger bey seinem Überflusse’, Leipzig 1737; ‚Antiquitates plantarum feralium’, Leipzig 1738; ‚Ex Hygiene de Sphaeristerio’, Leipzig 1740 [eine Laudatio auf einen Verwandten (? ), Theodor Leberecht Pitschel, zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophie]; ‚De axungia articulorum’, (Diss.) Leipzig 1740; ‚Darius, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen’, in: Die deutsche Schaubühne zu Wienn 4 (1753) [seine Autorschaft ist durch den Autorenindex des Wiener Theaters nachgewiesen]; ‚De Hydrocephalo interno’, Lausanne 1757; Bekannt ist vor allem sein Werk ‚Anatomische und Chirurgische Anmerkungen […]’, Dresden 1784. 116 P ITSCHEL , Anmerkungen, S. 25. <?page no="318"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 307 auf die Verdienste der Landesherren für die Dresdner Anatomie und deren reibungsloses Funktionieren als stilisiert interpretiert werden. Dass die Einschätzung Pitschels aber durchaus der Realität entsprach, belegen die Zahlen der abgelieferten Leichen. Für den Gründungszeitraum liegt eine gesonderte Liste vor, für die Jahre 1754 bis 1817 ein fortlaufendes Register (Leichenbuch). Von November 1748 bis April 1749, also der Zeit der Vorlesungen, wurden 30 Leichen abgeliefert. Hierunter befanden sich zwei ‚Selbstmörder’ und zwei Wasserleichen, bei denen nicht klar ist, ob es sich um Unfallopfer handelte. 117 Abbildung C.8-1 (unten) verdeutlicht die von Umbrüchen geprägte ‚Kindheit’ der Dresdner Anatomie. Für das Jahr 1754 ist die unvollständige Überlieferung im Leichenbuch der Anatomie zu berücksichtigen, die erst im Lauf dieses Jahres einsetzte. Weiterhin müssen für eine Vorlesungszeit stets Herbst und Winter des einen und das Frühjahr des darauf folgenden Jahres als eine Einheit gesehen werden. Das ist durch den Beginn der anatomischen Sektionen im Spätherbst bedingt. 118 Die während warmer Witterung oder der Ferienzeit gemeldeten Leichen wurden häufig nicht im Leichenbuch verzeichnet, weil sie in der Regel nicht abgeholt bzw. abgeliefert wurden. 119 Da die Anmelderegister jedoch nicht mehr durchgängig für den kompletten Überlieferungszeitraum des Leichenbuches vorhanden sind, konnte dies nur exemplarisch für die Jahre 1777-1787 und 1806-1810 überprüft werden. Der witterungsabhängige 117 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11237, Nr. 1499, o. P.: „Specification Derer Cadaverum so in das König. Collegium Medico Chirurgicum von 1. Novembr: 1748 bis elt: Aprill 1749 eingeliefert worden“. Es folgt die Auflistung von 30 Fällen. Darunter befanden sich (Nr. 12) Anna Christina Thielin, ein 14jähriges Mädchen, das sich erhängt hatte. Sie stammte aus Neukirch bei Nossen und wurde am 29. Januar 1749 abgeliefert; (Nr. 13) Christoph Schultze, 46-jähriger invalider Soldat, der sich ebenfalls erhängt hatte und am 9. Februar 1749 abgeliefert wurde. Zu den Wasserleichen zählen (Nr. 22) ein unbekannter Mann, der im Mühlgraben ertrunken war. Die Leiche wurde am 18. März 1749 abgeliefert. Daneben noch (Nr. 23) Johann Paul Kellner, der in der Weißeritz ertrunken war und dessen Leiche am 19. März 1749 abgeliefert wurde. Aufgrund des eingeschränkten Überlieferungszeitraums ist der Fall von Anna Sophia Auerin, die (S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 2 r ) im November 1749 an die Anatomie abgeliefert wurde, nicht mit aufgelistet. Vgl. auch W UNDERLICH , Collegium, S. 190 Anm. 27. Bei F RÖLICH , Collegium, S. 8 Anm. 1, die Angabe, dass 1748 zwei und 1749 lediglich siebzehn Leichen an die Anatomie gingen. Allerdings stützte sich Frölich nur auf das Leichenbuch des Dresdner Lazaretts (vgl. S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 1 r ff.). Ebenso ‚falsch’ ist die Darstellung bei S CHLENKRICH , Leichen-Buch, S. 471. 118 Dies ist der Schwerpunkt der zeitlichen Überlieferung. Allerdings scheinen auch Sommerkurse oder Sektionen in kleinerem Rahmen im Sommer abgehalten worden zu sein, wie einige Sommerleichen belegen. 119 Einer handschriftlichen Notiz Pitschels über den Lehrbetrieb folgend auch K LIMPEL , Collegium, S. 75. Vgl. auch die in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1 und 2 verzeichneten Anmeldungen während der vorlesungsfreien Zeit der Anatomie. <?page no="319"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 308 Lehrbetrieb in der praktischen Anatomie war von Mai bis Oktober eingeschränkt. Schließlich zeigt der Verlauf in Abbildung C.8-1 auch, dass der Lehr- und Anatomiebetrieb während des Siebenjährigen Krieges dauerhaft gestört war. Der Lehrbetrieb ruhte bis zum November 1763. 120 Die Ehefrau eines Stallknechts, die sich im März 1761 erhängte, nachdem sie in Abwesenheit ihres Mannes ein uneheliches Kind geboren haben soll, wurde zwar nach Auskunft des Lazarettleichenbuches an die Anatomie abgeliefert. In deren Verzeichnis fehlt jedoch ein entsprechender Vermerk. Vermutlich wurde der Leichnam ohne ‚Nutzung’ direkt auf dem Friedhof der Anatomie begraben. 121 Abb. C.8-1: Anzahl der im Zeitraum 1754-1763 an die Dresdner Anatomie abgelieferten Leichen 122 0 5 10 15 20 25 30 35 40 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763 abgelieferte Leichen nach dem Leichenbuch der Anatomie darunter Suizidenten Parallelüberlieferung des Lazarettleichenbuches: an die Anatomie abgegebene Leichen Suizidenten unter den 'Lazarettleichen' Ein anderes Beispiel verweist auf einen weiteren Aspekt: Im Dezember 1748 hatte sich Bernhard Büchelmeyer in der Haft in Pirna erhängt und wurde auf Anordnung der Landesregierung unehrlich verscharrt. Der Fall zeigt, dass eine lückenlose Umsetzung der Bestimmungen für die Ablieferung von Leichnamen an die Anatomie auch durch die Existenz konkurrierender Normen erschwert wurde. Büchelmeyer wurde gemäß dem Befehl von 1719 begraben, der die 120 S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 168. 121 S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 9 v , Nr. 90. 122 Insofern nicht anders vermerkt beziehen sich die grafischen Darstellungen in diesem Kapitel auf S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086 Leichenbuch. Für die Überlieferung des Dresdner Lazaretts in dieser Abbildung siehe S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 7 r ff., Nr. 82-94. <?page no="320"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 309 schändlichen Beisetzungen vorsätzlicher ‚Selbstmorde’ während der Haft geregelt hatte. Dieser Befehl war mit den Bestimmungen für die Anatomie keineswegs aufgehoben. 123 Ein anderes Beispiel verdeutlicht, dass nicht einmal aus der unmittelbaren Umgebung Dresdens vorsätzliche ‚Selbstmörder’ an die Anatomie geliefert wurden. Im Mai 1763 hatte sich in Bannewitz bei Dresden der Bauer Peter Schumann erhängt, woraufhin die Landesregierung, der der Fall gemeldet worden war, entschied, die Leiche durch den Scharfrichter abnehmen zu lassen, der sie danach an einem besonderen Ort verscharren sollte. Seine Ehefrau und sein Vater hatten Schumann übermäßige Trunksucht und liederlichen Lebenswandel vorgeworfen. Damit war er den geltenden Bestimmungen nach geradezu prädestiniert für die Anatomie gewesen. 124 Nach der Wiedereröffnung der Dresdner Anatomie im Herbst 1763 wurden die alten Regelungen zur Abgabe von Leichen umgehend erneuert. 125 Mit dieser Novelle der früheren Verordnungen verfolgte man das Ziel, wieder geordnete Verhältnisse herzustellen und an die bestehenden Normen zu erinnern, deren Umsetzung durch den Krieg verhindert worden war. Konkret ging es um die geregelte Versorgung des anatomischen Theaters in Dresden mit Leichen. Hierzu heißt es in dem entsprechenden Befehl: „Da nun die bey dem Collegio Medico-Chirurgico allhier, wegen derer seitherigen Krieges=Unruhen ausgesetzten Lectiones und Demonstrationes mit dem 1. Nov[ember] h[ujus] a[nni] wiederum ihren Anfang nehmen werde, und dann daß die zeithero unterbliebene Abgebung dergleichen cadaverum vor das Künftige geschehe“. 126 Die Begründung des Befehls zeigt an, dass es zu kurz greifen würde, für die Wiederholung solcher Anatomieleichenverordnungen undifferenziert einen steten Leichenmangel als Grund anzugeben. 127 Vielmehr gilt für Kursachsen, dass die Revisionen der Jahre 1763 und 1779 in ihrem jeweiligen Kontext gesehen werden müssen: Das Jahr 1763 war von allseitigen Bemühungen geprägt, die Wirren des Krieges zu überwinden; 1779 wurde die Leichenverordnung dann als Paragraf eines allgemeinen Mandats zum Verfahren nach Selbsttötungen erneuert. Abbildung C.8-2 (unten) stellt die Anzahl der zur Dresdner Anatomie abgelieferten Toten zwischen 1764 und 1782 dar. Allgemein ist abzulesen, dass die 123 Der Fall in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I, fol. 16 f. 124 Der Fall in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10047, Nr. 3161. 125 C OD . A UG . C ONT . I, P. II, Sp. 865 f. 126 Ebd., Sp. 865. 127 So etwa S CHREINER , Glück, S. 38. <?page no="321"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 310 Anzahl der aus der Umgebung Dresdens abgelieferten ‚Selbstmörder’ auf gleichbleibendem Niveau blieb - auch im erweiterten Krisenzeitraum 1770-1774, für den eine generelle Zunahme der abgelieferten Leichen zu verzeichnen ist. In den Jahren der schweren Hungerkrisen und Seuchen 1771-2 ist zwar ein eindeutiges Hoch an abgelieferten Leichen insgesamt zu verzeichnen. Eine konkrete Auswirkung der 1770-er Krisenjahre auf das Suizidgeschehen in Sachsen lässt sich aber, das wäre ein paralleler Befund zu anderen Territorien, 128 weder aus dem Leichenbuch noch aus anderen Quellen ableiten. Die Novelle der Leichenverordnung im Rahmen des ‚Selbstmord-Mandats’ 1779 beeinflusste nicht unmittelbar die Menge der abgelieferten ‚Selbstmörderleichen’. Der Anteil der Leichen aus dem Lazarett folgte den allgemeinen Konjunkturen und blieb in den meisten Fällen unter 50 Prozent. Abb. C.8-2: Anzahl der im Zeitraum 1764-1782 an die Dresdner Anatomie abgelieferten Leichen 129 0 20 40 60 80 100 120 1764 1768 1772 1776 1780 abgelieferte Leichen darunter ‚Selbstmörder' Anteil der Leichen aus dem Dresdner Lazzarett an den insgesamt abgelieferten Leichen Konflikte Wie bereits angedeutet wurde, generierte die Ausweitung der Leichenverordnungen unterschiedliche Konfliktpotenziale. Diese werden im Folgenden exemplarisch an drei unterschiedlichen Konfliktkonstellationen beteiligter Behörden veranschaulicht: erstens anhand eines Disputs zwischen 128 L IND , Selbstmord, S. 242 für die Herzogtümer Schleswig und Holstein; S CHÄR , Seelennöte, S. 75 für Zürich. In Genf wurden 1793 nach der Revolution die meisten Selbsttötungen verzeichnet; W ATT , Death, S. 25. 129 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 285-888. Abzugleichen wäre eigentlich noch, hier fehlen allerdings die entsprechenden Anmelderegister, ob sich auch die Anzahl der gemeldeten aber nicht abgelieferten Leichen insgesamt bzw. die der Suizidenten signifikant erhöht hat. Zum Vergleich der Zahlen des Lazaretts siehe S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 10 r ff. Nr. 95-358. <?page no="322"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 311 Amt und Anatomie, zweitens zwischen Superintendentur und Amt und drittens zwischen adliger Grundherrschaft und Anatomie. Wenngleich diese Auswahl nicht alle denkbaren Konfliktkonstellationen abdeckt, verweisen die Beispiele doch jeweils auf die verschiedenartige Wahrnehmung und Interpretation von gegebenen Normen und auf differierende Sichtweisen im Umgang mit ‚Selbstmördern’. Zudem wird auch hier wieder deutlich: Jede Instanz mit Herrschaftsrechten achtete peinlich genau auf die Wahrung ihrer (angenommenen) Rechte und verteidigte diese im Fall erkennbarer Eingriffe hartnäckig und unabhängig vom jeweiligen Konfliktanlass. Das bedeutet zugleich, dass Auseinandersetzungen über den Umgang mit ‚Selbstmörderleichen’ nicht allein deswegen häufig sehr hart geführt wurden, weil Selbsttötungen an sich in der vormodernen Gesellschaft heftige Reaktionen hervorriefen, sondern weil sie ein mögliches Streitthema in einem ohnehin von vielfältigen Spannungen geprägten Feld waren. Streitigkeiten konnten z. B. entstehen, wenn die Anatomie Leichen abholen ließ, ohne dass die Gerichte vor Ort bereits geklärt hatten, ob es sich um Mordopfer oder ‚Selbstmörder’ handelte. In einem solchen Fall war der ordnungsgemäße Ablauf einer gerichtlichen Untersuchung gestört. Eine gerichtliche Leichenschau durfte dem geltenden Recht nach ausschließlich in eindeutigen und unzweifelhaften Fällen unterbleiben. 130 Nachdem sich in der Nacht vom 13. auf den 14. September 1766 ein Reitknecht in den Brühlschen Pferdeställen erhängt hatte, ordnete dessen Dienstherr, der Hauptmann von Seebach, eigenmächtig und ohne dass er das Amt informiert hatte, an, die Leiche von den Bediensteten des anatomischen Theaters abholen zu lassen. Dies provozierte eine Beschwerde des Dresdner Amtmanns Jacob Heinrich Reinhold bei der Landesregierung, weil er seine Rechte verletzt sah. Reinholds Eingabe blieb jedoch ohne Konsequenzen, weil die weitere Untersuchung einen Mord ausschloss und das Vorgehen von Seebachs nachträglich gebilligt wurde. Reinhold hatte ohnehin nicht die Rechtmäßigkeit der Überführung der Leiche an die Anatomie infrage gestellt. Vielmehr hatte sich aus seiner Sicht der Hauptmann von Seebach ihm nicht zustehende Entscheidungskompetenzen angemaßt. Der Amtmann sollte sich, so entschied die Landesregierung, mit einer Entschuldigung der Anatomie (sic! ) zufriedengeben. 131 130 C OD . A UG . C ONT . I, P. II, Sp. 411 f. 131 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. II, o. Pag., Registratur vom 16. September 1766, Bericht vom 16. September 1766, Notiz vom 22. September 1766, Bericht vom 30. September 1766, Reskript vom 7. Oktober 1766, Bericht vom 18. Oktober 1766 und Reskript vom 25. Oktober 1766. <?page no="323"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 312 Wiederholt ging es bei den Streitfällen um zunächst rein formale Fragen der Zuständigkeit. Diese Zuständigkeiten verwiesen ihrerseits auf eine differenzierte Bewertung und Typologie von Selbsttötungen zurück. Am 22. Januar 1772 hatte sich in Dresden die Fuhrmannswitwe Anna Catharina Pezoldin erhängt. Die Stadtgerichte hatten den Leichnam an die Anatomie abgeliefert, so wie diese es „jedesmahl verlanget“. 132 Der örtliche Superintendent hatte von dem Vorfall gehört. Weil als Ursache des Suizids Schwermut vermutet worden war, hatte er an das Oberkonsistorium berichtet, dessen Mitglied er als Superintendent Dresdens war. Der Landeskirche stand nach dem Befehl von 1719 die Jurisdiktionshoheit bei Suizidfällen aus Melancholie zu. 133 Hier stellte sich das Problem, dass einerseits Pfarrer, Superintendent und Oberkonsistorium über den Verbleib und die Beisetzung der Leiche zu entscheiden hatten. Dies war 1719 festgelegt und 1766 ausdrücklich bestätigt worden. 134 Andererseits war, wie oben beschrieben, 1763 auch die Verordnung erneuert worden, die Körper melancholischer Suizidenten zur Dresdner Anatomie abzuliefern. Das Oberkonsistorium wandte sich nach der Eingabe des Superintendenten umgehend an den Dresdner Rat. Die Kirchenräte übergingen die Neuordnung im Leichenmandat von 1763 und argumentierten, die (ältere) Leichenverordnung vom 20. Januar 1749 für die Dresdner Anatomie würde sich keineswegs auf „personen, welche bey hiezigen kranckheiten, unsinnigkeit oder melancholie sich ums leben bringen“ erstrecken. 135 Vielmehr wären allein vorsätzliche ‚Selbstmörder’ gemeint. 1723 war das so auch noch ausdrücklich in der Verordnung für die Universitäten formuliert worden. Daher, so das Oberkonsistorium weiter, habe sich der städtische Rat bei Selbsttötungen aus melancholischen Gemütszuständen mit dem hiesigen Superintendenten über Behandlung und Beisetzung der Leiche zu einigen. Der Rat argumentierte hingegen vor der Landesregierung, das Mandat vom Januar 1749 erstrecke sich durchaus „generaliter“ auf alle ‚Selbstmörder’. Und da nach der Ablieferung an die Anatomie der Rat auch nicht mehr für das Begräbnis zuständig sei, erübrige sich zudem eine Kommunikation zur Super- 132 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 18. Februar 1772. Der Eingang der Leiche ist verzeichnet in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 534. Siehe auch die Parallelüberlieferung in S T A D RESDEN , B.XV.64, fol. 4 ff. 133 S. o. Kap. 7. 134 C OD . A UG . C ONT . I, P. II, Sp. 243 f. 135 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 18. Februar 1772. Nebenbei bemerkt war der Befehl von 1719 bis zum ‚Suizidmandat’ von 1779 formal gültig und wurde auch in den hier behandelten Anatomieverordnungen weder explizit noch implizit aufgehoben. <?page no="324"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 313 intendentur, welche dann „unnöthig und ohne nuzen seyn würde“. 136 Im Übrigen blieb dies kein Einzelfall, denn noch während der Streit über die Leiche der Pezoldin nicht beigelegt war, handelte sich der Rat eine weitere Beschwerde des Oberkonsistoriums ein, denn man hatte auch die Leiche des melancholischen Bürgers Friedrich Magnus im Februar 1772 direkt an die Anatomie abgeliefert. 137 Die Landesregierung ging in ihrer Antwort gar nicht auf die Problemlage konkurrierender Normen ein, sondern verwies den Rat lediglich auf die Existenz und den Wortlaut jener Anweisungen, welche die Versorgung der Anatomie mit Leichen regelten - auf welche sich der Rat bereits berufen hatte. Das hier unterschiedliche Normen für sich genommen interpretierbar und ihr Geltungsvorrang umstritten waren, problematisierte die Landesregierung hingegen nicht. Vielmehr impliziert die Antwort, dass die Regierungsräte nicht von der Notwendigkeit ausgingen, diese Gesetze erläutern zu müssen. Ein Fortgang der Auseinandersetzungen ist nicht überliefert. Das dritte Beispiel verdeutlicht, welchen Einfluss der Garnisonsmedikus und Anatomielehrer Friedrich Lebegott Pitschel ausüben konnte, um die Ablieferung von Leichen an die Anatomie durchzusetzen. Zudem wird die geringe alltagsweltliche Akzeptanz der Ablieferung von Toten in die Anatomie erkennbar, insbesondere weil im nachfolgenden Fall die Betroffene während ihres Lebens sozial integriert und angesehen gewesen war. 138 Am 12. Oktober 1772 wandte sich Pitschel mit einer Anzeige an die Landesregierung: Vor dem Beginn seiner morgendlichen Vorlesung habe ihm der Aufwärter des CMC die Selbsttötung einer gewissen Anna Rosine Adamin, Ehefrau des Leubener Gastwirts Adam, gemeldet. Diese Frau, so Pitschel, hätte sich am vergangenen Samstag erhängt. Ihr Suizid sei aber unerhörterweise der Anatomie nicht gemeldet worden. Er, Pitschel, habe daraufhin sogleich befohlen, den Stadtrichter Fleischer aufzusuchen „und sich, in meinem namen nach der sache selbst, und der nicht geschehenen meldung des cadaveris zu erkundigen“. 139 Interessant ist der Umstand, dass das Gerücht von der samstäglichen Beisetzung einer ‚Selbstmörderleiche’ bereits am Montag aus Leuben ins Neustädter Zentrum zur Anatomie (Entfernung ca. 9km) gedrungen war - auf welchem Wege ist allerdings unklar. Deutlich spielte auch das finanzielle Eigeninteresse des Aufwärters Uhlemann eine Rolle, der besonders sensibel auf entsprechende Gerüchte reagierte. Zu den 136 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 18. Februar 1772. 137 S T A D RESDEN , B.XV.64, fol. 3. 138 Gleicher Befund bei L IND , Selbstmord, S. 380. 139 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Anzeige vom 19. Oktober 1772. <?page no="325"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 314 Aufgaben des Anatomieaufwärters zählte es unter anderem, die gemeldeten Leichen abzuholen. Je nach Entfernung erhielt er für diese Tätigkeit acht bis 16 Groschen. Der Stadtrichter Fleischer beschied den Aufwärter Uhlemann, wie wir aus Pitschels Beschwerde erfahren, mit den Worten: „Man hätte geglaubt, weil 1) die frau alt und mager gewesen, und ich [i. e. Pitschel] sie nicht viel würde nutzen können, 2) sie allezeit einen sehr christlichen wandel geführet, und 3) die leute […] ein hübsches vermögen hätten, sie ohne meldung in der stille begraben lassen zu können“. 140 Mit dem ehrbaren Lebenswandel der Betroffenen zu argumentieren war ein in allen Territorien des Reiches anzutreffendes Muster und trug maßgeblich zur differenzierten Praxis der Leichenabgabe an die Anatomien bei. 141 Auch der Hinweis auf das hinterlassene Vermögen war nicht unwichtig, denn es wurden vor allem solche Personen abgeliefert, aus deren Hinterlassenschaft kein Begräbnis finanziert werden konnte. Pitschel selbst sah allerdings seine Autorität infrage gestellt und erkannte die angegebenen Gründe als nichtig an. Er bat die Landesregierung zu vermitteln, um derartige Fälle für die Zukunft zu regeln. Die Landesregierung forderte daraufhin von den Gerichten der zuständigen Grundherrschaft eine Erklärung ein. Einige Tage später erhielt die Landesregierung eine ausführliche Antwort und Schilderung der Hintergründe, bei der sie es schließlich (wie in den oben beschriebenen Fällen auch schon) und unter Hinweis, die Gesetze zukünftig zu beachten, bewenden ließ. Der Stadtrichter Christian Fleischer, der zunächst auf einen Bericht vom 11. Oktober an die Landesregierung verwiesen hatte, 142 schilderte die mitleiderregenden Umstände der Selbsttötung von Anna Adamin. Sie und ihr Mann, die beide als Auszügler in der Schenke zu Leuben gewohnt und stets ein unbescholtenes Leben geführt sowie ein ausreichendes Einkommen besessen hatten, seien von einem „in dasiger gegend herumgegangenen fieber sehr hart und gefährlich kranck darnieder gelegen“. 143 Wahrscheinlich, so deutete es zumindest der Stadtrichter im Nachhinein, sei die Adamin wegen der Krankheit in eine „gemüths-verwirrung“ gefallen und habe sich deshalb getötet. Daraus 140 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Anzeige vom 19. Oktober 1772. 141 S TUKENBROCK , Cörper, S. 228 ff., mit Blick auf den Lebenswandel S. 232 ff. Siehe auch S AHMLAND , Körperspende, S. 77 ff. 142 Dieser Bericht ist nicht überliefert. 143 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 20. Oktober 1772. <?page no="326"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 315 schloss der Stadtrichter, dass sie „also unter die selbst-mörder, in eigentlichem verstande nicht zu rechnen seyn möchte“. 144 Wahrscheinlich handelte es sich bei der vom Stadtrichter beschriebenen Erkrankung um ein Faulfieber (Typhus), welches zu jener Zeit in Dresden und Umgebung grassierte. Daher konnte der Stadtrichter auch mit Hygienevorschriften argumentieren, denn die medizinalpoliceylichen Verordnungen sahen vor, die Leichen Fieberkranker rasch zu bestatten. 145 Die offenkundig schwere Erkrankung sei aber, so der Stadtrichter weiter, nur ein Grund für die rasche und stille Beisetzung gewesen (wenngleich ein mit Blick auf die Brisanz epidemischer Erkrankungen gewichtiger). Entscheidender war für den Stadtrichter, dass die Adams in Leuben sehr beliebt gewesen waren. Das Abliefern der Leiche an die Anatomie hätte, so die Befürchtung, im Ort für „außerordentliches aufsehen“ gesorgt. Auch hatte der hinterbliebene, noch immer kranke Ehemann „um die beerdigung in der stille wehmüthigst [… gebeten], dabey aber zu befürchten war, daß er bey abschläglicher antwort vor kummer und schrecken in die vorige schwere kranckheit verfallen möchte“. 146 Das Gericht argumentierte hier äußerst geschickt mit den obrigkeitlichen Fürsorgepflichten gegenüber dem hinterbliebenen Ehemann und dem Sozialkapital des Ehepaars. 147 Für die Gemeinde wäre es, so der Richter, ein Affront gewesen, die Tote an die Anatomie abzuliefern. Die Landesregierung ließ es in ihrer Antwort dabei bewenden. Vor dem Hintergrund des grassierenden Faulfiebers war die rasche Beisetzung ohnehin nachvollziehbar gewesen. Eine Exhumierung hätte eine umfassende Kommunikation des Falls zum Oberkonsistorium notwendig gemacht und wäre mit einem erheblichen administrativen Aufwand verbunden gewesen. Ob die Leiche dann überhaupt noch für die Anatomie zu gebrauchen gewesen wäre, ist überdies fraglich. Die Analyse der Konflikte hat gezeigt, dass die Norm, ‚Selbstmörderleichen’ an die Anatomie zu liefern, in einem Feld konkurrierender Zuständigkeiten und Regelungen, finanzieller Interessen und sozialer Befindlichkeiten umgesetzt werden musste. Anders formuliert: Die Konflikte verraten uns etwas über die lebensweltlichen Brechungen des normativ intendierten Idealzustands. Aber: Diese Brechungen bilden nur einen Teil der Realität ab. Es stellt sich die Frage, wie repräsentativ diese Konflikte waren? Pitschel selbst hatte in seiner Be- 144 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 20. Oktober 1772. 145 Zu den legislatorischen Maßnahmen gegen das Faulfieber K ÜHN , Medicinal-Gesetze, S. 241 ff.; S CHMALZ , Medizinal-Gesetze, S. 189 ff. 146 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht vom 20. Oktober 1772. 147 Ähnlich mit Blick auf die Verwandtschaft S TUKENBROCK , Cörper, S. 232. <?page no="327"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 316 schwerde über die rasche Beisetzung der Adamin von einem wiederholten Vorfall gesprochen. Damit rückt die Äußerung des Stadtgerichts im Fall der Anna Pezoldin, man habe stets die Leichen abgeliefert, wie die Anatomie es „von uns jedesmahl verlanget“, in ein anderes Licht. Verlangen konnte die Anatomie das Abliefern ja nur, wenn ihr die Fälle auch gemeldet wurden. Gegen eine lückenlose Berichterstattung an die Anatomie sprechen indes die Praxis in anderen Territorien 148 und die überlieferten Beschwerden der Anatomien. Wirklich gravierend scheint das Problem allerdings aus zwei Gründen nicht gewesen zu sein. Erstens verfügte das CMC über eine Vielzahl anderer ‚Bezugsquellen’, die das anatomische Theater in Dresden mit Leichen versorgten. Zweitens lässt sich für Dresden empirisch feststellen, so viel hier zum Stellenwert einzelner Beschwerden, dass in dichter Folge Leichen an das CMC gemeldet und geliefert wurden. Dieses vergleichsweise engagierte Mitwirken der lokalen Obrigkeiten in der Residenz und ihrer Umgebung sticht noch mehr hervor, wenn man daneben die erheblich größeren Probleme der universitären Anatomien bei der Leichenbeschaffung sowie die Einträge des Anatomieleichenbuches mit der Registratur der Landesregierung vergleicht. Zwischen 1772 und 1805 wurden von den beim CMC mindestens gemeldeten 302 Selbsttötungen nur 37 zugleich an die Landesregierung rapportiert bzw. sind in deren Ablage noch überliefert. Dieser quantitative Vergleich ist trotz möglicher Überlieferungsverluste zulässig, weil die Landesregierung in diesem Zeitraum spezielle Listen gemeldeter Selbsttötungen angelegt hatte und die Berichtspflicht allgemein eingeschärft worden war. Eine Tendenz, Selbsttötungen zwar amtlich zu melden aber nicht unbedingt an die Landesregierung zu berichten, lässt sich somit wohl kaum bestreiten. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang auch, das belegen die beiden noch überlieferten Anmelderegister der Anatomie, dass selbst während der warmen Sommermonate an das CMC gemeldet wurde, also zu einer Zeit, in der nur ein geringer bzw. überhaupt kein Bedarf an Leichen im CMC bestand. Entsprechende Anfragen wurden mit nicht nachlassender Hartnäckigkeit an die Anatomie gestellt, obwohl sie in der Regel abgelehnt wurden. 148 U LBRICHT , Sektion, S. 371 vermutet, dass Stadtobrigkeiten mit der Herausgabe von Leichen gezögert und auch Pastoren um Ritual und Einnahme aus Begräbnissen (Stolgebühren) gefürchtet haben könnten. S TUKENBROCK , Cörper, zeigt auf, dass die Abgabe von Leichen an die Anatomie in vielseitige Beziehungsgeflechte, Interessenzusammenhänge und organisatorische Strukturen eingebettet war, so dass sich die Praxis hier wie auch andernorts vielgestaltig zeigt. <?page no="328"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 317 8.4. ‚Selbstmörder’ als Anatomieleichen 1779-1817 Kontinuität und Wandel Nach 1779 wurden die sächsischen Leichenverordnungen bis in das 19. Jahrhundert hinein mehrfach neu aufgelegt bzw. revidiert. In diesem Abschnitt ist zunächst auf einer quantitativen Ebene zu fragen, welche konkreten Auswirkungen die Gesetzesnovellen und Revisionen auf die Ablieferungspraxis hatten. Dabei sind sowohl Kontinuitäten als auch Veränderungen in den Blick zu nehmen. Für den Zeitraum 1763 bis 1786 lässt sich noch eine recht gleichmäßige Verteilung der Ablieferungsquantitäten an die Anatomie in Dresden ablesen. Allein die Hunger- und Seuchenkrisenjahre um 1771 bilden eine Ausnahme. Nach 1787 schwankten die jährlichen Ablieferungszahlen erheblicher. Abbildung C.8-3 zeigt, dass auch weiterhin ein beträchtlicher Anteil der Anatomieleichen ‚Selbstmörder’ waren. Ursula Baumann konnte diesen Befund am preußischen Beispiel für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigen - für Sachsen fehlen entsprechende Forschungen zu diesem Zeitraum. Ein Vergleich dieser beiden Befunde muss die zeitliche Differenz (Baumann legt Zahlen für 1839 und 1840 vor) und die wesentlich schmalere Datenbasis Baumanns berücksichtigen. Sie schätzt grob, dass im Durchschnitt 30 Prozent aller Suizidentenleichen zur Anatomie kamen. 149 Vergleichbare Aussagen sind für Kursachsen weder für das 18. noch für das frühe 19. Jahrhundert möglich. In der wichtigsten Quelle für eine grobe quantitative Annäherung an das Suizidgeschehen in Kursachsen - den Jahreshauptberichten der Kommerziendeputation - fehlt zudem die Oberlausitz, die Einzugsgebiet der Dresdner Anatomie war. Für die 1780-er und 1790-er Jahre ließe sich immerhin fragen, ob und wie die für die Anatomie gültigen Ablieferungsregelungen in den ‚Selbstmord- Mandaten’ 1779 und 1794 die Häufigkeit von Meldungen einerseits und die Anzahl tatsächlich abgelieferter ‚Selbstmörderleichen’ andererseits beeinflusst haben. Auch diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das Leichenbuch der Dresdner Anatomie verzeichnet kaum Leichen von Suizidenten, die zwar gemeldet, dann aber weder abgeliefert noch vom Aufwärter abgeholt wurden. 150 Das Verhältnis von Meldungen und tatsächlichen Ablieferungen 149 B AUMANN , Recht, S. 170. 150 Gemeldete und eingetragene, dann aber nicht abgeholte Fälle in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1432, 1473, 1474, 1534, 1563, 1564, 1574, 1575, 1622, 1623, 1624, 1658, 1665 und 2011. Die Einträge stammen nahezu alle aus der Zeit nach 1799, als der Sekretär der Anatomie, Johann Gottlieb Dropisch, das Leichenbuch führte und zum Teil sehr detaillierte Einträge, d. h. z. T. vollständige Abschriften der Gerichtsberichte, hinterlassen hat. <?page no="329"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 318 zueinander lässt sich lediglich für den Zeitraum November 1777 bis Dezember 1787 und die vollständigen Jahre 1806 bis 1810 überprüfen. Nur für diese Jahre sind noch die Anmelderegister überliefert. Es ist damit nicht möglich, die Entwicklung der Meldepraxis und -disziplin von Gerichten und Ämtern genauer zu beschreiben, weil Daten für einen längeren Zeitraum fehlen. Überdies weisen beide Anmelderegister jeweils Besonderheiten auf. Zwischen 1777 und 1787 verzeichnete das Leichenbuch fünf Selbsttötungen, die nicht im entsprechenden Anmelderegister überliefert sind. 151 Dagegen weist das spätere Anmelderegister wesentlich mehr gemeldete als abgeholte Suizidentenleichen auf (im Jahr 1806 zwölf, 1807 acht und 1809 sechs). Ursachen dafür, dass diese Leichen nicht zur Anatomie kamen, waren warme Witterungsverhältnisse, Ferien in der Anatomie, logistische Probleme bei der Bereitstellung der Kommissariatsfuhre oder bereits erfolgte Beisetzungen. Warum allerdings nur in den Jahren 1806, 1807 und 1809 die Anzahl der gemeldeten die der abgeholten Leichen wesentlich deutlicher als in den anderen Jahren übersteigt, ist nicht unmittelbar ersichtlich. Die Zahlen für die Jahre 1813 und 1814 spiegeln, parallel zu den Verhältnissen während des Siebenjährigen Krieges, eindrücklich die Auswirkungen der Befreiungskriege auf die Tätigkeit des CMC wieder. Die Einträge abgelieferter ‚Selbstmörderleichen’ enden zunächst abrupt Mitte Februar 1813. Das Leichenbuch vermerkt hierzu: „Bis zum monat decbr. 1814 ist der anatomische saal geschloßen, von dieser zeit an aber von der von dem General Gouvernement des Königreichs Sachsen interimistisch eingerichteten medicinisch chirurgischen lehr anstalt in den zum vormalig Herzog Curländischen Palais gehörigen stallgebäude auf der Kleinen Schiesgaße wieder eröfnet worden“. 152 Hier deutet sich bereits die institutionelle Umformung des alten CMC nach 1813 an, dass de jure am 1. Oktober 1814 aufhörte zu existieren. Am 23. Dezember 1814 wurde dessen Privileg auf den Erhalt von Leichen auf die neue, zunächst provisorisch eingerichtete Lehranstalt übertragen. 153 Wie Abbildung C.8-3 andeutet, wurden nach dem institutionellen Umbruch Leichen an die 151 Es handelt sich um S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 776, 785, 814, 816 und 818, die in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1 fehlen. 152 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, o. Pag., das Zitat folgt dem Eintrag Nr. 1989. 153 K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 104. <?page no="330"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 319 neue Lehranstalt geliefert, für die zunächst noch das alte Leichenbuch weitergeführt wurde. 154 Abb. C.8-3: Anzahl der im Zeitraum 1778-1817 an die Dresdner Anatomie abgelieferten Leichen 155 0 10 20 30 40 50 60 1778 1783 1788 1793 1798 1803 1808 1813 an die Dresdner Anatomie insgesamt abgelieferte Leichen darunter ‚Selbstmörder' Die Daten belegen im Vergleich zum Zeitraum vor 1779 (s. o. Abb. C.8-2) einen Anstieg der absoluten Zahlen abgelieferter Leichen. Damit lässt sich erstmals auch empirisch die von einem gewissen Landespatriotismus getragene Behauptung der Forschung belegen, in Kursachsen habe man im späten 18. Jahrhundert anatomischen Sektionen und Operationsübungen viel Aufmerksamkeit geschenkt. 156 Allerdings ist dies keine Sonderentwicklung Sachsens. Die Forschung geht davon aus, dass sowohl gerichtsmedizinische als auch praktische Lehr- und Übungssektionen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts territorial übergreifend gefördert wurden. 157 1794 wurden die bestehenden Regelungen für die Anatomie erneuert und verschärft. Diese Novelle war eine direkte Konsequenz aus einem Abkommen mit dem Herzog von Sachsen-Weimar bzw. dem Anatomen der Jenaer Universität (s. u.). In dem Mandat von 1794 wurden erneut die abzuliefernden 154 Vgl. zu der provisorischen Lehranstalt für Medizin und Chirurgie K LEINE -N ATROP , Dresden, S. 87 ff. Zum Ende des CMC K LIMPEL , Collegium, S. 165 ff. 155 Für die Jahre 1783 und 1784 wurden die Daten des Leichenbuches anhand des Anmelderegisters für diesen Zeitraum um je einen Fall ergänzt; vgl. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1, fol. 136 r und 160 r . 156 W UNDERLICH , Collegium, S. 186. 157 L IND , Selbstmord, S. 401; vgl. auch die Befunde ebd., S. 379 f., dort allerdings ohne eigene quantitative Belege für den norddeutschen Raum. Ferner S TUKENBROCK , Cörper; kurz hierzu auch S TUKENBROCK , Rolle. Auf die Gründe für die von Universität zu Universität unterschiedlichen Ablieferungszahlen und das Übergewicht bestimmter Gruppen (etwa Frauen und Kinder) unter den Leichen geht näher ein S TUKENBROCK , Primat. <?page no="331"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 320 Leichengruppen charakterisiert. Ausnahmen von den definierten Gruppen galten, wenn Strafverschärfungen am Leichnam von Kriminellen vorgenommen werden sollten, aber auch bei gerichtlich notwendigen Sektionen vor Ort bzw. hygienischen Bedenken. Insbesondere bei Gefahren für die öffentliche Hygiene mussten Verstorbene schnell bestattet werden. Als Frist, die gemeldeten Leichen an die Anatomien abzuliefern, waren drei Tage angesetzt. Wenn es, etwa aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten oder des Wetters, nicht möglich war, diese Frist einzuhalten, sollten die Toten ohne weitere Diskussionen beerdigt werden. Nach wie vor waren vorsätzliche ‚Selbstmörder’ an die anatomischen Theater in Dresden, Leipzig und Wittenberg abzuliefern. Melancholiker blieben, die älteren zwischenzeitlichen Regelungen hatte bereits das ‚Selbstmord-Mandat’ 1779 aufgehoben, verschont. 158 Allerdings wich die Praxis von dieser Ausnahmeregelung ab. Melancholiker Nach 1779 mussten Melancholiker und andere für unzurechnungsfähig erklärte Suizidenten nicht mehr in die Anatomie abgeliefert werden. Vorsätzliche ‚Selbstmörder’ sollten überhaupt nur auf ausdrückliches Verlangen der Anatomie abgeliefert werden. Deswegen, und weil die Forschung insbesondere die erheblichen Widerstandspotenziale gegen die Anatomie in der frühneuzeitlichen Bevölkerung betont hat, ist zu vermuten, dass die Anzahl der abgelieferten Leichen von Melancholikern deutlich sank. Wie sehen die empirischen Befunde zu dieser Hypothese aus und was lässt sich aus ihnen schlussfolgern? Zwischen 1754 und 1779 wurden von den in diesem Zeitraum abgelieferten 124 Suizidenten sieben als melancholisch eingestuft. Das entspricht einem ungefähren Verhältnis von 1: 18. Unter diesen sieben Fällen befand sich auch Catharina Pezold, deren Suizid oben beschrieben wurde. Das Leichenbuch der Anatomie weist die Pezoldin aber gar nicht als Melancholikerin aus. 159 Es ist müßig zu spekulieren, in wie vielen weiteren Fällen das Leichenbuch hier weniger instruktiv ist, als die dem Register zugrunde liegenden Berichte. Gleichwohl dürfte dieses Beispiel unterstreichen, wie unscharf die Daten des Leichenbuchs insgesamt sind. Daneben ist der Fall von Johann Georg Schieckel erwähnenswert. Schieckel galt zwar als melancholisch, hatte vor seiner Selbsttötung aber seinem Kind die Kehle durchgeschnitten. Das dürfte die Ab- 158 C OD . A UG . C ONT . II, P. I, Sp. 259; K ÜHN , Medicinal-Gesetze, S. 362; S CHMALZ , Medizinal- Gesetze, S. 507 f. 159 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 534. <?page no="332"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 321 lieferung an die Anatomie erklären, denn er war damit nicht nur ein ‚melancholischer Suizident’, sondern vor allem ein Kindsmörder, der sich selbst gerichtet hatte. 160 Von den zwischen 1763 und 1779 aus der Ephorie Pirna an die Anatomie gelieferten vier ‚Selbstmördern’ waren zwei Melancholiker. Im Fall des Sebnitzer Bürgermeisters Ruinello, dem ein tadelloser Lebenswandel und Melancholie bescheinigt worden war, hatten die Hinterbliebenen explizit darum gebeten, dass die Leiche zur Anatomie gebracht wird, um ‚Aufsehen’ im Dorf zu vermeiden. 161 Die Verwandtschaft hatte also genau entgegengesetzt der üblichen Suppliken um Begräbnisdispense argumentiert. Dies zeigt auch, wie kontextgebunden die Argumente jeweils waren und nicht voreilig verallgemeinert werden sollten. Der Uhrmacher Gottfried Kunze hatte sich 1767 in Pirna das Leben genommen. Obwohl eine besondere Schwermut diagnostiziert worden war, hatte das Oberkonsistorium dem Superintendenten freigestellt, Kunzes Leiche entweder still beizusetzen oder zur Anatomie zu überführen, was schließlich auch geschah. 162 Zwischen 1780 und 1800 betrug das Verhältnis von Melancholikern zur Gesamtsumme der an die Anatomie abgegebenen Suizidenten ungefähr 1: 9 (19: 167). Obwohl also seit 1779 ‚melancholische Suizidenten’ nicht mehr ausdrücklich an die Anatomien abgeliefert werden sollten, verdoppelte sich ihr Anteil im Verhältnis zur Gesamtzahl von ‚Selbstmörderleichen’. Auch hier ist allerdings auf den Einzelfall zu schauen. So handelte es sich zwar bei dem im September 1781 an die Dresdner Anatomie abgelieferten Gottheld Bretschneider um einen augenscheinlichen Melancholiker. Zugleich war er aber ein wegen Aufruhrs inhaftierter Inquisit und als solcher wurde sein Leichnam an die Anatomie abgegeben. 163 Auch ist nicht immer ganz eindeutig, wonach sich die Bewertungskriterien für den geistigen Zustand richteten bzw. warum in einigen Fällen im Leichenbuch entsprechende Charakteristika vermerkt wurden, in der Mehrzahl der Fälle aber nicht. So wurde beispielsweise in der Meldung zur 160 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 367; S T A D RESDEN , F.XXI.16.d., fol. 13 r Nr. 122. Im Übrigen belegt dieser Fall auch die Ambivalenz der Melancholiezuschreibung, die zwar einerseits einen traurigen (und krankhaften? ) Antrieb zu sterben umschreiben konnte, hier aber auch im Zusammenhang eines ruchlosen ‚Mitnahme-Selbstmords’ erwähnt wird. 161 E PH A P IRNA , Sebnitz, Nr. 5422, fol. 2 ff.; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 327. 162 E PH A P IRNA , Pirna St. Marien, Nr. 4569, fol. 3 ff.; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 352. 163 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 859 sowie Anmelderegister 1, fol. 80 r . <?page no="333"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 322 Selbsttötung von Christian Friedrich Dietrich aus Frauenstein im November 1800 der Landesregierung berichtet, Dietrich habe vor seinem Tod über „aengstlichkeit und bangigkeit geklaget“. 164 Ein vergleichbarer Hinweis fehlt im Leichenbuch der Anatomie. 165 Der Fall ist überhaupt nur etwas ausführlicher dokumentiert, weil sich der Aufwärter der Anatomie ungebührlich verhalten hatte, als er den Leichnam in Frauenstein abholte und ihm dies eine Rüge der Landesregierung eintrug. Für die Jahre 1801 bis 1817 beträgt das Verhältnis Melancholiker zu Suizidentenleichen insgesamt ungefähr 1: 16 (11: 171). Auch hier gelten die gleichen Bedenken und Einwände gegen die Zuverlässigkeit des Datenmaterials, wie sie eben vorgetragen wurden. Insgesamt fallen unter die von mir registrierten, zwischen 1754 und 1817 tatsächlich an die Anatomie abgelieferten 466 Suizidenten 37 ausgewiesene Melancholiker (ca. 1: 13). Die Frage lautet nun, welche Schlussfolgerungen aus solchen Zahlen zu ziehen sind? 166 Die erste Antwort lautet ganz klar: Eine umfassende Quellenkritik ist unabdingbar. Betrachtet man die Kompilation des Leichenbuchs etwas genauer, ist im Abgleich mit den Anmelderegistern festzustellen, dass in das Leichenbuch die Angaben zu den Toten in der Regel erst eingetragen wurden, nachdem die Anmeldung gesichtet und der Eingang der Leichen bestätigt worden waren. Die Einträge ins Leichenbuch waren in ihrem Umfang zudem eindeutig vom Arbeitseifer des jeweiligen Schreibers abhängig. Inhaltlich folgten sie den Informationen der eingesandten Berichte. Gerichte und Ämter schickten summarische Berichte an das CMC, die denen an die Landesregierung adressierten vergleichbar sind. 167 Bisweilen wurden in das Leichenbuch diese Berichte auch als Abschriften eingefügt. 168 Fast immer weist das Leichenbuch aus, wer die Leiche gemeldet und über Form und Hintergründe des Todes berichtet hatte. Die Anzahl der als Melancholiker ausgewiesenen Suizidenten hing also stark davon ab, inwiefern in diesen Berichten auf vermutete Motive und Gemütszustände eingegangen wurde. 164 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 94 r . 165 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1485. 166 Zukünftig wären diese Tendenzbefunde mit den Daten der Leipziger Anatomie zu vergleichen. Dies soll im Rahmen einer Edition und Kommentierung des Leichenbuches des CMC an anderer Stelle geschehen. 167 Nur in 37 Fällen konnte allerdings, wie oben schon erwähnt, eine parallele Überlieferung von Selbsttötungen beim CMC und bei der Landesregierung festgestellt werden. 168 Bspw. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1619, 1623 und die Einträge für das Jahr 1807. <?page no="334"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 323 Eine grundsätzliche Quellenkritik dieser amtlichen Berichte ist bereits in Kapitel 1 erfolgt. Hier soll daher lediglich die Frage interessieren, in wie vielen Berichten die Motivlage überhaupt erörtert wurde. Da nicht mehr alle Berichte vorliegen und vor allem im Bestand der Landesregierung viele Fälle lediglich summarisch in Tabellen überliefert sind, lässt sich diese Frage nur mithilfe weiterer Quellen beantworten. Für das letzte Jahrzehnt des 18. und für das frühe 19. Jahrhundert lässt sich das Verhältnis grob schätzen, weil für diesen Zeitraum die Jahreshauptberichte der Kommerziendeputation zu den Jahren 1793, 1795, 1800 und 1804 bis 1811 vorliegen. Diese enthalten neben einer allgemeinen Liste von Unglücksfällen auch Auflistungen von berichteten Selbsttötungen. Ab dem Jahr 1791 lässt sich aufgrund vorhandener Vergleichszahlen, die in den Berichten der Folgejahre repetiert wurden, die Quantität von Selbsttötungen nach den eingegangenen Berichten und Kreisen vorsichtig einschätzen. In der nachfolgenden Abbildung C.8-4 sind die Daten aus den zusammenhängend registrierten Jahrgängen 1804-1811 der Jahreshauptberichte verzeichnet. Die Darstellung zeigt die insgesamt registrierten Selbsttötungen und gibt Aufschluss darüber, wie oft den zentralen Landesbehörden kein Motiv gemeldet wurde oder werden konnte. Zumindest von 1804 bis 1809 ist dies in einer signifikanten Anzahl der Berichte der Fall. Die Werte übertreffen die von Arne Jarrick für Stockholm (zw. 1700 u. 1788) und Västergötland (zw. 1634 u. 1821) ausgewerteten Daten, in denen nur in vergleichsweise wenigen Fällen (ca. 11-13 Prozent) das Motiv unklar blieb, mit Werten von z. T. über 50 Prozent zum Teil deutlich. 169 Abb. C.8-4: Verzeichnis der bei der LÖMKD 1804-1811 gemeldeten Selbsttötungen und deren Verhältnis zu den registrierten Melancholikern sowie zu den Suizidenten mit unbekanntem Tatmotiv 170 0 20 40 60 80 100 120 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810 1811 registrierte Selbsttötungen davon ausgewiesene Melancholiker davon keine Motive bekannt 169 J ARRICK , Fråga, S. 184 Tabelle 5. 170 Die Darstellung beruht auf S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10078, Nr. 251 (vormals Loc. 11143); Nr. 252 (vormals Loc. 11146); Nr. 253 (vormals Loc. 11147); Nr. 254 (vormals Loc. 11151). <?page no="335"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 324 Im Vergleich zu den Daten der Dresdner Anatomie sind zunächst anteilsmäßig wesentlich mehr Melancholiker erkennbar. Daraus zu schlussfolgern, dass deren Leichen mit starker Tendenz von der Abgabe an die anatomischen Institute ausgenommen wurden, verbietet sich aufgrund der oben gegen die Zuverlässigkeit der Quellengrundlage erhobenen Einwände. Es wäre zudem, was nicht durchgängig möglich ist, jeweils zu überprüfen, ob sich die Selbsttötung eines Melancholikers im Einzugsgebiet einer der drei Anatomien ereignet hat oder außerhalb von deren Zugriffsbereichen. Für die Annahme, Melancholiker seien eher von der Ablieferung an die Anatomie ausgenommen worden als andere Gruppen von Suizidenten, spricht die Überlieferung von Begräbnisentscheiden der Superintendentur Pirna, die im direkten Einzugsgebiet der Dresdner Anatomie lag. Diese weisen eine eindeutige Tendenz zu stillen Beisetzungen für Melancholiker aus. 171 Weitere besondere Konstellationen, die zur Ablieferung von Melancholikern an die Anatomie führten, sind im Leichenbuch selbst erkennbar. Die Leiche des melancholischen Musketiers Johann Lebrecht Frank wurde beispielsweise an die Anatomie abgegeben, 172 weil das in und um Dresden stationierte Militär zur Leichenlieferung an das CMC angehalten war. In anderen Fällen sind wiederum nur Spekulationen möglich. Am 13. April 1788 wurde der tote Tagelöhner Johann Friedrich Voigt zur Anatomie nach Dresden gebracht. Voigt war ein verabschiedeter Kanonier und hatte „immer eine stille melancholie an sich spüren laßen, […] eingezogener erkundigung nach [war er] mit dem malo hypochondriae behaftet gewesen, und über hertzensangst geklaget, auch seit 10 wochen das bette nicht verlaßen“. 173 Voigts Leiche kam wahrscheinlich deshalb zur Anatomie, weil entweder keine Verwandten oder Bekannten existierten, die sich um die Beisetzung hätten kümmern können. Oder es gab Angehörige und diese verweigerten eine stille Beisetzung bzw. befürworteten eine Abgabe an die Anatomie. Solche Reaktionen sind aus anderen Fällen bekannt. Die Leiche des 22-jährigen Johan Gottlieb Böhm kam am 6. Januar 1802 auf Wunsch des Vaters zur Anatomie. 174 Und auch im Falle der ungefähr 60-jährigen Johanna Kästnerin verweigerte die auf 171 E PH A P IRNA , Generalia, Nr. 1038-1042. Vgl. für Dresden auch S T A D RESDEN , B.XVI.3. Ausführlich unten Kap. 10; L IND , Selbstmord, passim. 172 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 970. 173 Ebd., Nr. 1066. 174 Ebd., Nr. 1534. <?page no="336"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 325 ein mögliches Begräbnis angesprochene Familie ausdrücklich nicht den Abtransport der Leiche zur Anatomie. 175 Trotz der seit 1779 bestehenden Normen waren Melancholiker also von der Ablieferung an die Anatomie betroffen. Über die Melancholievermutung hinaus bedurfte es weiterer Gründe (Sozialkapital, Lebenswandel) und des Engagements der Familien, mitunter auch der Interventionen lokaler Obrigkeiten, um eine Ablieferung an die Anatomie zu verhindern. Ein solches Handeln beschreiben die folgenden Fällen. ‚Zur Beerdigung überlassen’ Für die Zeit nach 1779 ist in einigen Fällen nachzuweisen, dass Anatomieleichen nicht auf dem Friedhof der Anatomie bestattet, sondern Verwandten und Freunden für ein ordentliches Begräbnis zurückgegeben wurden. So zum Beispiel die Leiche des 78-jährigen Sattlers Christian Bretschneider. Bretschneider hatte sich im Januar 1793 in Königsbrück erhängt und seine Leiche war umgehend an das anatomische Theater abgeliefert worden. Nach den Sektionsübungen notierte Johann Gottlieb Dropisch, der Sekretär des CMC: „Der körper des obstehenden sich selbst entleibten Bretschneiders ist zwar auf das Theatrum Anatomicum gebracht, auf befehl aber, nach beendigten operationen denen anverwandten deßelben gebetener maaßen zur beerdigung überlaßen worden“. 176 Der Fall war an sich wenig konfliktträchtig, denn man hatte zunächst die anatomischen Übungen vorgenommen, gegen die die Verwandten augenscheinlich nicht interveniert hatten, bevor der Leichnam Bretschneiders wieder übergeben wurde. Dies geschah auf Befehl, wobei unklar ist, ob dieser vom Oberkonsistorium oder, was wahrscheinlicher sein dürfte, von der Landesregierung stammte. Auch in einem weiteren Fall ist davon auszugehen, dass anatomische Übungen durchgeführt worden waren und erst danach die Leiche wieder herausgegeben wurde. Im Januar 1797 wurde der Leichnam von Friedrich Lebrecht Dietrich „aus besonderer rücksicht auf das dringende bitten der hinterbliebenen“ wieder abgetreten. 177 Ähnlich verhielt es sich in einem dritten Fall. Im Dezember 1806 hatte sich ein Jägervolontär namens Knecht bei den Moritzburger Teichen erhängt. „Obgleich die annahme des obiges cadavers schon resolviret war, so wurde demnach ex post wegen den dringenden bitten einiger 175 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1354. 176 Ebd., Nr. 1216. 177 Ebd., Nr. 1325. <?page no="337"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 326 anverwandter des sich selbst entleibten, daßelbe zur beerdigung überlaßen“. 178 Wenn man berücksichtigt, dass die Einträge im Leichenbuch in dem hier interessierenden Zeitraum sehr umfassend und präzise waren, zumal Besonderheiten immer eine Notiz wert waren, handelte es ich bei diesen drei Beispielen klar um Ausnahmen von der Regel. Das bestätigen auch die Anmelderegister. Ein im Ephoralarchiv Pirna überlieferter Vorfall verdeutlicht, wie man in den Gemeinden anders auf Selbsttötungen reagieren konnte, als es die Leichenverordnungen für die Anatomien vorschrieben. 1778 erhängte sich Johanna Elisabeth Kircheisen in Sebnitz. Ihr Tod ist ebenfalls im Leichenbuch der Dresdner Anatomie überliefert. 179 Der Pirnaer Superintendent war nach der Selbsttötung bemüht, ein mögliches Begräbnis für den Fall abzuklären, dass die Anatomie die Leiche nicht annehmen würde. Die Selbsttötung wurde also, und das gilt cum grano salis für alle Anatomieleichen, regulär untersucht. Familie und Nachbarn der Toten wurden befragt. Aus der Untersuchung selbst, die der Intention gemäß schnell und vor dem Entscheid der Anatomie beendet sein musste, ergaben sich keine Einwände der Angehörigen gegen eine Ablieferung zur Anatomie. Eine gerichtliche Untersuchung von Selbsttötungen konnte nicht einfach unterbleiben, nur weil die Leichen zur Anatomie geliefert werden sollten. Vielmehr illustriert das Vorgehen im Fall Kircheisen eine gängige Praxis. Damit aber würde sich die Vermutung erhärten, bei den oben beschriebenen Beispielen wieder abgetretener Leichen habe es sich um Ausnahmen gehandelt. In diesen Fällen hatten die Hinterbliebenen bereits im Vorfeld einer Ablieferung an die Anatomie, also zum Zeitpunkt der gerichtlichen Untersuchungen, darum gebeten, die Leiche selbst bestatten zu dürfen. Derartig engagierte Initiativen waren aber nach Selbsttötungen und unabhängig von der Option eines Transports der Leiche zur Anatomie augenscheinlich nicht der Regelfall. 180 Sie schlugen sich nur dann in der behördlichen Überlieferung nieder, wenn Widersetzlichkeiten vor Ort nicht schon vor einer möglichen Überführung der Leiche an die Anatomie eine andere ‚Lösung’ herbeigeführt hatten. Wie hoch daher das 178 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1, fol. 70 f., Zitat fol. 70r. 179 E PH A P IRNA , Sebnitz, Nr. 5422, fol. 14 ff. und 26; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 785. Im Leichenbuch ist die Art des Suizids nicht erwähnt, die Akte der Ephorie Pirna gibt aber an, dass sich die Frau erhängt hatte. 180 Für das Jahr 1821 ist noch ein solcher Fall nachzuweisen. Ein gewisser Gottfried Thieme hatte einer Dienstmagd seines Vaters die Liebe gestanden und womöglich bedrängt. Die Magd fiel bei diesem Gespräch in einen Brunnen (warum ist unklar). Thieme hatte sich daraufhin erhängt, während die Magd nicht tot war und sich befreien konnte. Die Eltern Thiemes hätten, so die Beschwerde bei der Landesregierung, der chirurgisch-medizinischen Akademie 20 Taler gezahlt, damit die Leiche nicht abgeliefert werden musste. Statt dessen wurde sie bestattet; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 1079, Loc. 31059 Vol. I, fol. 200 ff. <?page no="338"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 327 tatsächliche Ausmaß des Widerstands gegen das Abliefern von Leichen an die anatomischen Einrichtungen war, lässt sich anhand der Quellen der Dresdner Anatomie nicht einschätzen. Dazu sind vielmehr Aushandlungsprozesse vor Ort in den Blick zu nehmen, um die Gründe für das erfolgte oder nicht erfolgte Melden von Leichen präziser bestimmen zu können. Gerade die lokalen Instanzen bewegten sich in einem vielschichtigen Spannungsfeld von Interessen und mussten immer auch die Befindlichkeiten v. a. der Angehörigen berücksichtigen. 181 Konflikte Eine verschwundene Leiche (Ottendorf bei Pirna 1783) Im Oktober 1783 erhängte sich in der Nähe von Ottendorf bei Pirna ein 17jähriges Mädchen. Das Leichenbuch der Dresdner Anatomie vermerkte den Fall ohne Kommentar unter der Nr. 916. 182 Tatsächlich aber ist die Leiche nie in Dresden angekommen. Hierüber erzählt ein glücklicher Überlieferungszufall. 183 Was war geschehen? Um diese Frage beantworten und den Ausgang der Geschichte besser nachvollziehen zu können, ist eine kurze Gesamtschilderung hilfreich. Diese gibt zudem Auskunft darüber, wie die Tote von ihrer hinterbliebenen Familie und von Nachbarn wahrgenommen wurde. Aus diesen Informationen lassen sich wiederum Rückschlüsse auf das ‚Verschwinden’ ihrer Leiche ziehen. Am Abend des 28. Oktober 1783 betrat Anne Rosine Döringin, tragische Protagonistin dieser Geschichte, die Ottendorfer Schenke. Sie war, wie wir aus einem Bericht der örtlichen Gerichte über ihre Selbsttötung erfahren, gekommen, um zu tanzen und soll sich dabei „sehr wild aufgeführet und sehr mit denen manns personen eingelassen“ haben. Der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe ist nicht überprüfbar, zumindest aber wurden sie der Mutter während des Gottesdienstes am folgenden Tag zugetragen. Nach dem Kirchgang machte die Mutter ihrer Tochter deswegen ernsthafte Vorwürfe und ermahnte sie, „künftighin 181 Ausführlicher hierzu S TUKENBROCK , Cörper, S. 97 ff. und S. 197 ff. Allgemein B RAKENSIEK , Amtsträger. 182 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 916. 183 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Bericht der Adelig Carlowitzschen Gerichte zu Ottendorf an die Landesregierung vom 30. Oktober 1783. Alle Zitate im Folgenden sind, insofern nicht anders angegeben, diesem Bericht entnommen. Im E PH A P IRNA ist der Fall in der Abteilung Ottendorf nicht überliefert. Die Ablage der einzelnen Parochien ist insgesamt äußerst lückenhaft. Die systematische Registratur und Archivierung einzelner Vorgänge durch die Superintendentur setzte erst 1790 ein. <?page no="339"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 328 sittsamer sich aufzuführen, damit die leute nicht ursache hätten, übel von ihr zu reden“. Anne Rosine soll darauf geantwortet haben: „wenn die Leute sie hätten, dann hätten andere Friede“. Deutlich zeigt sich an der Reaktion des Mädchens, in welch engen Bahnen gegenseitiger sozialer Kontrolle das dörfliche Leben in der Frühen Neuzeit verlief. Die soziale Kontrolle des Dorfes fand stets ein Objekt ihrer Zuwendung. Zugleich verdeutlicht Anne Rosines Reaktion, wie beengend sie selbst diese Kontrolle empfand. Es sollte an diesem Tag indes nicht bei einer Vorhaltung der Mutter und dem Aufbegehren der Tochter bleiben. Als im Verlauf des weiteren Nachmittags ein „braut- oder cammer-wagen“ durch den Ort fuhr, habe die Mutter ihrer Tochter gesagt, „wenn sie sich hübsch aufführte, sie auch einmal einen cammer-wagen bekommen könnte“. Ohne zu antworten, entfachte Anne Rosine daraufhin das Feuer im Ofen und ging den Angaben der Mutter zufolge am späten Nachmittag - die Quelle spricht hier sehr präzise von 17: 00 Uhr - die Treppe des Hauses hinauf. Als Anne Rosine ihrer Mutter einige Zeit später bei der Fütterung des Viehs zur Hand gehen sollte, reagierte sie nicht auf die Rufe der Mutter. Daraufhin ging diese - in der Annahme, die Tochter würde ob des vornächtlichen Ausflugs schlafen - auf den Dachboden, um etwas von dem dort lagernden Heu zu holen. In einer dunklen Ecke des Bodens fand sie ihre Tochter vermeintlich schlafend an einem Heuhaufen. Als sie die Tochter anstieß, um sie zu wecken, fing der Körper an „durch den stoß zu paumeln“. Anne Rosine Döringin hatte sich erdrosselt. Schenkt man den protokollierten Aussagen der Mutter Glauben, so versuchte diese sofort den Körper von Anne Rosine anzuheben, jedoch reichten ihre Kräfte nicht. Johann Döring, der Vater, war zu diesem Zeitpunkt außer Haus. Also rief die Mutter nach der jüngeren, gerade elfjährigen Tochter Eva Rosine. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Tote anzuheben und den Strick zu zerschneiden. Da der Körper Anne Rosine Döringins noch nicht erkaltet war, versuchte die Mutter ihn durch das Reiben mit ihrer Schürze weiter zu erwärmen. Sie tat dies, obwohl sie, wie sie später vor Gericht angab, keine äußerlichen Lebenszeichen mehr an der Tochter wahrgenommen habe. 184 Der Versuch, den leblosen Körper der Tochter in die untere Stube zu transportieren, scheiterte an fehlenden Kräften und so beließ man ihn zunächst auf dem Dachboden. Ein gewisser Gottfried Sitte, Nachbar der Familie Döring, war aufgrund des entstandenen Tumults herbeigeeilt. Allerdings wollte er wegen des offensichtlich toten Mädchens keine Mühen auf sich nehmen und nahm die passive Rolle 184 Auf die möglichen Hintergründe dieser Aussage, die das Gericht wegen der seit 1773 geltenden Vorschriften zur Lebensrettung hier möglicherweise machte, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu ausführlich unten Kap. 9. <?page no="340"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 329 eines ‚Schaulustigen’ ein. Die Mutter schickte ihre beiden kleinen Söhne los, um den Vater, der Holz sammelte, zu benachrichtigen. Johann Döring ließ, nachdem auch er nur noch den Tod seiner Tochter feststellen konnte, sofort den Richter Johann Christoph Gottschalch holen und trug in dessen Beisein „die tochter herunter in seine schlaf kammer“, wo er sie auf die Dielen legte. Der Richter und die Eltern fragten sich nach den Ursachen für Anne Rosine Döringins Selbsttötung. Vor Gericht gab der Vater an, er könne sich die Tat nicht erklären, denn es habe seiner Tochter an nichts gefehlt. Er mutmaßte, eine plötzliche Schwermut könnte seine Tochter zum Suizid verleitet haben. Doch berichtet der Gerichtshalter an die Landesregierung, Anne Rosine habe „fur ihre eltern, besonders fur ihren vater viel furcht gehabt“. Worauf sich diese Aussage stützt, ist unklar, da die Verhörprotokolle nicht überliefert sind. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich die Eltern selbst bezichtigt hatten. Eher dürfte dieser indirekte Vorwurf an die Eltern aus einer Befragung des sozialen Umfeldes resultiert sein. Welche Gründe letztlich für den Suizid Anne Rosine Dörings verantwortlich gemacht werden können, bleibt offen. Der Bericht erweckt den Eindruck, die Selbsttötung wäre Folge der Furcht der Tochter vor ihren Eltern. Als Auslöser erscheint der Streit mit der Mutter. So zumindest die Interpretation des Berichterstatters, die auf eine zeitgenössische Plausibilisierungsleistung verweist. Im vorliegenden Fall war dem Schreiber des Berichts, dem verpflichteten Gerichtshalter Friedrich Gottlob Schreiber, die Aussage über die Furcht Anne Rosine Döringins vor ihren Eltern so bedeutsam für die Erklärung des Falles an die Landesregierung, dass er sie eigens im Bericht hervorhob. In der Begräbnisfrage wollte das Gericht nicht eigenmächtig entscheiden und verwies in seinem Bericht auf die verschiedenen Optionen, die das ‚Selbstmord- Mandat’ von 1779 (entweder abgesondertes und stilles Begräbnis oder Ablieferung in die Anatomie nach Dresden) eröffnete. Die Entscheidung hierüber wurde der Landesregierung übertragen. Das Gericht nahm die Bitte Johann Dörings, seine tote Tochter nicht an die Anatomie abzuliefern, in den Bericht auf: „inzwischen könnte es zur beruhigung derer eltern, besonders des vaters, […] gereichen, wenn seine tochter nicht an die anatomie abgegeben werden dürfte, darum er sehr bittet“. Dagegen reskribierte die Landesregierung unmissverständlich: Gemäß wiederholter landesherrlicher Generalverordnungen seit 1749 solle der Tod von Anne Rosine Döringin an die Dresdner Anatomie gemeldet werden. Nur dann, wenn die Anatomie den Leichnam nicht verlange, könne man diesen durch speziell zu diesem Zweck zu verdingende Personen an einem abgesonderten Ort beerdigen lassen. 185 185 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. III, o. Pag., Reskript vom 1. November 1783. <?page no="341"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 330 An dieser Stelle wird der Fall über die geschilderten Details hinaus für eine Sozialgeschichte frühneuzeitlicher Anatomie spannend, die Wahrnehmungen und Verhalten der Bevölkerung gegenüber der Anatomie in ihre Überlegungen einbezieht. Die Überlieferung der Landesregierung selbst gibt keine Auskunft über den Ausgang des Falls. Im Leichenbuch der Anatomie ist wie schon gesagt, der Fall Döringin ohne weitere Notizen verzeichnet. Die Betrachtung allein dieser Quellen würde nahe legen, dass die Leiche tatsächlich zur Dresdner Anatomie kam und nach anatomischen Übungen und Demonstrationen auf dem Friedhof der Anatomie verscharrt wurde. Allerdings ist für das Jahr 1783 ein Anmelderegister überliefert, in dem die Bestätigungen für das Aushändigen und Abholen von Leichen aus den betreffenden Ortschaften aufgezeichnet wurden. Nach Auskunft dieses Registers entwickelte sich der Fall ganz anders, als es die Landesregierung befohlen hatte. Am 2. November 1783 bestätigten und besiegelten die Gerichtsschöppen Feller und Kneus sowie der Richter Gottschalch, eben jener Richter, den Johann Döring nach dem Suizid seiner Tochter hatte benachrichtigen lassen, dass der Aufwärter der Anatomie ohne Leiche wieder von Ottendorf abgezogen sei. 186 Obwohl der Auftrag nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden war, erhielten sowohl der Aufwärter als auch der Fuhrknecht den vollen Lohn für einen Leichentransport. Wer diesen bezahlte ist nicht klar. Normalerweise kam das CMC für die Transportkosten auf. Wahrscheinlicher aber ist, dass im vorliegenden Fall Johann Döring für die Kosten aufkam, um einen Konflikt mit dem Aufwärter der Anatomie zu vermeiden, der ja ohne Leichnam wieder abzog. Anne Rosine Döringins Leiche konnte, so stellte sich heraus, nicht abgeholt werden, weil sie bereits beerdigt worden war. Warum allerdings im Leichenbuch der Anatomie hierzu kein Vermerk eingetragen wurde, verwundert dann aber doch. Dies zumal in anderen entsprechenden Fällen, in denen Leichen nicht abgeholt oder nach der Sektion zurückgefordert wurden, entsprechende Vermerke nachgetragen wurden. Allerdings ist es an dieser Stelle müßig, über eine schlampige Buchführung oder ein konspiratives Verhalten vor Ort als Ursache zu spekulieren. Für eine ungenaue Schriftführung im Leichenbuch just während der hier relevanten Tage spricht, dass der nächste Fall des Anmelderegisters 187 überhaupt nicht im Leichenbuch verzeichnet ist, das doch mit großer Wahrscheinlichkeit, folgt man den Formulierungen und vergleicht die Inhalte, auf Basis der registrierten Meldungen und Abholbelege kompiliert wurde. 186 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Anmelderegister 1, fol. 133 r . 187 Ebd., fol. 136 r . Es handelt sich um den Sergeanten Johann Traugott Geudtner, ein gelernter Perückenmacher, der sich am 25. Dezember 1783 das Leben genommen hatte und noch am gleichen Abend abgeholt worden war. <?page no="342"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 331 Zusammenfassend lässt sich erneut eine aus Sicht der lokalen Instanzen uneindeutige Rechtslage konstatieren. Die Gerichte fragten deshalb bei der Landesregierung an, wie sie handeln sollten. Darüber hinaus ist eine deutliche Abwehrhaltung vor Ort gegen das Abliefern der Leiche Anne Döringins an die Anatomie erkennbar. Das schließt sowohl das Verhalten der Eltern als auch der lokalen Gerichte ein. Insbesondere der Vater, der vom Tod seiner Tochter tief bestürzt war, und der Dorfrichter könnten die treibenden Kräfte des Widerstands gewesen sein. Ohne weitere Quellen bleibt dies alles allerdings bloße Vermutung. Schließlich bezeugt die kreative Aneignung des Entscheids der Landesregierung durch die örtlichen Instanzen ein renitentes Verhalten gegenüber den Anweisungen der landesherrlichen Obrigkeit, deren Order in Ottendorf konsequent unterlaufen wurde. Bei einem stillen Begräbnis am Rande des Kirchhofs müsste schließlich auch der Pfarrer involviert gewesen sein, wenn man eine Auseinandersetzung mit den Kirchenbehörden vermeiden wollte. Verhinderte Leichenablieferungen in Wittenberg (1798-1800) Mit Widersetzlichkeiten waren auch die anatomischen Institute der beiden Landesuniversitäten konfrontiert. Sowohl aus Leipzig als auch aus Wittenberg trafen regelmäßig Beschwerden in Dresden ein, die über Widerstände in der Bevölkerung und mangelhafte Leichenablieferungen berichteten. 1798 suchten die Wittenberger Mediziner Unterstützung beim kursächsischen Kirchenrat Heinrich Ferdinand von Zedelwitz, der sich bei der Landesregierung für die Wittenberger verwenden sollte. 188 Wie schon in den Jahren zuvor sah sich die Anatomie und Chirurgie massiv in ihrer Arbeit eingeschränkt, weil trotz mehrfacher Aufforderung keine Leichen von den Behörden in Wittenberg und Niemegk geliefert worden waren. Von Zedelwitz vertrat vor der Regierung die Ansicht, dass die „eingegangene anzeige und bitte mehrbesagter facultät vorzügliche aufmerksamkeit verdient“ 189 und schnellstmöglich eine taugliche Lösung gefunden werden müsse. Um dem akuten Leichenmangel zu begegnen, befürwortete er die Bitte der Wittenberger Mediziner, verstorbene Almosenempfänger, die keine direkten Verwandten mehr hätten, und Züchtlinge aus Torgau zur Wittenberger Anatomie bringen zu lassen. Nachdem dann im Dezember 1798 auch Leonhardi, der königliche Leibarzt und Rat im Sanitätskolleg, in dieser Sache persönlich beim Kurfürsten intervenierte, konnte nach einigem Hin und Her mit dem Torgauer Zuchthaus eine 188 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 56 f.; die ursprüngliche Beschwerde der Wittenberger ebd., fol. 79 ff. 189 Ebd., fol. 56 v . <?page no="343"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 332 einvernehmliche Lösung gefunden werden. Die Landesherrschaft sah sich unter Druck, denn Leonhardi verwies auf ein Abkommen, das der herzoglichsächsischen Anatomie in Jena Leichen kursächsischer Untertanen zusicherte. Dieses Abkommen begünstigte so formal - über die tatsächliche Praxis wird unten noch zu reden sein - eine auswärtige Universität, während der anatomische Lehrbetrieb in Wittenberg zum Nachteil der dortigen Universität und des ganzen Landes wegen Leichenmangels ruhen müsse. 190 Mit der Direktion der allgemeinen Kommission für die Armen-, Waisen- und Zuchthäuser kam die Landesregierung im März 1800 überein, die Leichen aller Schwerverbrecher, die zu mindestens acht Jahren Zuchthaus in Torgau verurteilt und während ihrer Haftzeit verstorben waren, nach Wittenberg abzuliefern. 191 Dieser Entscheid war unter anderem deswegen notwendig geworden, weil nur noch in seltenen Fällen Todesstrafen vollzogen wurden. Vielmehr wurden im Zuge der Reformen des Strafrechts und der Strafinstrumente in zunehmendem Maße längere Freiheitsstrafen verhängt, 192 sodass immer weniger Hingerichtete für die Anatomien zur Verfügung standen. Die Zuchthauskommission hatte eingewendet, der Torgauer Zuchthausarzt müsste - so wie es durchaus seit längerer Zeit üblich war - 193 auch selbst Sektionen durchführen, um seine Fertigkeiten zu verbessern. Das Abkommen schloss demnach nicht alle in der Haft Verstorbenen ein. Während man nach längeren Verhandlungen eine tragfähige Lösung fand, war die Sachlage in der Auseinandersetzung mit den denunzierten Wittenberger und Niemegker Stadträten durchaus komplizierter. Auf die Beschwerde der medizinischen Fakultät hin forderte die Landesregierung beide Stadträte auf, das ihnen jeweils angelastete Fehlverhalten zu erklären. Der Wittenberger Rat rapportierte drei Fälle: Im ersten Fall war die ertrunkene Tochter einer Kaufmannsfamilie nicht abgeliefert worden, weil die Familie nach Ansicht des Rates zu den städtischen Honoratioren zählte. Im zweiten Fall hatten die hinterlassenen Möbel einer an Altersschwäche und einsam verstorbenen Frau die Begräbniskosten gedeckt. Im dritten Fall hätten schließlich die Eltern eines jungen Inquisiten der Ablieferung ausdrücklich widersprochen. 194 Diese drei 190 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 63 v . 191 Ebd., fol. 90 r f. 192 Zum Kontext dezidiert H ÄRTER , Entwicklung; H ÄRTER , Praxis. Für Kursachsen B RETSCH- NEIDER , Gesellschaft, S. 226 ff. 193 In Waldheim sezierten Hausärzte seit 1726 verstorbene Insassen; B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 165 Anm. 545. 194 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 60 v f. <?page no="344"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 333 Beispiele verdeutlichen die Bandbreite möglicher Widerstände gegen die Anatomie. Während im ersten Fall das Argument des Sozialkapitals der Betroffenen bemüht wurde, lässt das zweite Beispiel erkennen, dass der Rat nicht grundsätzlich bereit war, Leichen abzuliefern, wenn alternative Handlungsoptionen offen standen. Eher noch, so scheint es, nahm man einigen administrativen Aufwand in Kauf, um durch den Erlös aus den Hinterlassenschaften einer einsamen alten Frau noch deren Begräbnis zu finanzieren. Die genaueren Umstände des dritten Beispiels sind zwar nicht bekannt. Der Bericht aus Wittenberg erweckt allerdings nicht den Eindruck, als ob es dem Rat schwergefallen ist, dem Einspruch der Eltern gegen die Ablieferung ihres Sohnes zu folgen. Der Niemegker Rat musste dagegen erklären, warum eine ‚Selbstmörderin’ nicht abgeliefert worden war. Bei der Toten handelte es sich um die Witwe eines Bürgermeisters, namens Schönin, die aus Neustadt bei Stolpen nach Niemegk gekommen war. Die Schönin hatte sich im Alter von ungefähr 80 Jahren ertränkt. Nach eigenem Bekunden hielt sich der Rat nicht für zuständig, weil in dem Fall das Amt die Gerichtshoheit hätte. 195 Das Amt Belzig, dem die Obergerichtsbarkeit in Niemegk zustand, hatte zusammen mit dem Belziger Superintendenten die stille Beerdigung der Toten auf dem Gottesacker veranlasst. In der Zwischenzeit war jedoch ein neuer Amtmann eingesetzt worden. Dieser erklärte das Vorgehen seines Amtsvorgängers nach Aktenlage damit, dass die Schönin „sich nicht aus verzweiflung, sondern, da sie einen guten lebenswandel geführet, blos bei einer anwandlung einer bei ihrem hohen alter ganz natürlich gewesenen geistes-schwäche ersäufet hat“. 196 Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, schloss der positive Lebenswandel in der Argumentation des Amtes eine Verzweiflungstat und damit den boshaften Tatvorsatz aus. Vielmehr wurde eine bei dem hohen Alter der Frau ganz natürliche Geistesschwäche als Ursache für die Selbsttötung angegeben. Der Suizid wurde damit als ‚casus tragicus’ qualifiziert. Die Landesregierung ließ es, wie zuvor schon im Wittenberger Fall, bei der Erklärung des Belziger Amtmanns bewenden. Die Argumentation des Amtes Belzig und die Entscheidung zum stillen Begräbnis sind indes nicht prinzipiell verallgemeinerbar. Eine Krankheit oder melancholisches Verhalten konnten nicht per se die Ablieferung an die Anatomie verhindern. Als sich im November 1800 in Frauenstein bei Dresden der 38-jährige Schuhmachermeister Christian Friedrich Dietrich erschoss, wurde die 195 Vorsichtshalber merkte der Niemegker Rat noch an, die ganze Aufregung nicht verstehen zu können, denn der Leichnam wäre „bis auf haut und knochen abgezehret“ gewesen. Was also hätte die Anatomie mit solch einer Leiche anfangen können. S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 66 v . 196 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 71 r f. Eigene Hervorhebung im Zitat. <?page no="345"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 334 Leiche zur Dresdner Anatomie abgeholt, obwohl der Vater des Entleibten erklärt hatte, dass Dietrich seit einigen Wochen über „aengstlichkeit und bangigkeit geklaget“ hatte. 197 Selbst die Medizin, die ihm ein Arzt verordnet hatte, konnte den Gemütszustand nicht aufhellen: „ohngeachtet der unausgesetzt gebrauchten medicin, [war Dietrich] von dieser Krankheit nicht zu curiren gewesen“. 198 Ein Dispens war demnach nicht zwingend von der bloßen Bescheinigung krankhafter Zustände abhängig, was nach den entsprechenden Mandaten 1779 und 1794 eigentlich zu vermuten wäre. 199 Vielmehr erweist sich an der Gegenüberstellung der beiden letzten Fälle, dass der Lebenswandel und die soziale Reputation der Betroffenen die wesentlichen Faktoren waren, das diesseitige Schicksal der Leichen zu beeinflussen. Beide Faktoren sagten etwas über die persönliche Frömmigkeit und die Integration in die lokale Gemeinschaft aus, die sich um ihre Toten ‚sorgte’. Diesen Befund hat Karin Stukenbrock systematisch herausgearbeitet. Schließlich legen die hier diskutierten Beispiele die Vermutung nahe, dass die Normdurchsetzung in den westsächsischen Regionen weitaus weniger reibungslos funktionierte als in der Umgebung der Residenzstadt Dresden. In deren dichte Kommunikationswege und obrigkeitlichen Kontrollmöglichkeiten war die Dresdner Anatomie eingebettet, deren Vertreter sich im Konfliktfall direkt an die Landesregierung wenden konnten, um ihre Interessen gegenüber lokalen Magistraten in noch laufenden Streitigkeiten durchzusetzen. Dagegen war es den Medizinern der Landesuniversitäten maximal möglich, in langwierigeren Beschwerdeverfahren nur begrenzt wirksame Rügen gegen renitente Magistrate in ihrem Einzugsbereich zu erwirken. Die Rache des Schneiders Lindemann (Jüterbog 1803) Offene Ablehnung und Gleichgültigkeit gegenüber den Leichenverordnungen für die Anatomien, die sowohl Magistrate als auch Teile der Bevölkerung an den Tag legten, verhinderten mitunter, das haben die eben beschriebenen Konflikte 197 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 94 r . Dieser Fall ist umfangreicher dokumentiert, weil der Aufwärter der Dresdner Anatomie die Flinte des Verstorbenen, der Mitglied des ansässigen Schützenvereins war, mit sich genommen und für sich und den mitgereisten Amtsknecht unberechtigterweise diverse Begünstigungen eingefordert hatte; vgl. ebd. fol. 93 r ff . und den Eintrag in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1485. 198 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 94 r . 199 Hinzu kommt, dass nicht immer kurzschlüssig von Krankheitszuweisungen der Zeitgenossen auf die Argumentation theoretischer Melancholiediskurse zu schließen ist. Auch wenn diese Debatten zunehmend von medizinischen Deutungsmustern geprägt waren. Hierzu ausführlich S CHREINER , Glück, S. 183 ff. <?page no="346"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 335 gezeigt, dass Verstorbene an die Anatomien abgeliefert wurden. Die Geschichte dieses Abschnitts zeigt dagegen, dass der Umgang mit ‚Selbstmördern’ auch von persönlichen Konflikten geprägt sein konnte. Diese Konfliktlagen waren gewissermaßen ein lebensweltliches Korrektiv eingeforderten Normalverhaltens. Im November 1803 erregte eine Selbsttötung in Jüterbog allgemeines Aufsehen, vor allem aber die Gemüter des Jüterboger Bürgermeisters und der Wittenberger Mediziner. Ein ortsansässiger Schneider namens Lindemann hatte sich - symbolträchtig - im Garten des Bürgermeisters erhängt. Die Behandlung der Leiche gab zu Streitigkeiten Anlass und es kam der Verdacht auf, dass Bürgermeister und Stadtrat persönliche Rechnungen begleichen wollten, indem sie anordneten, die Leiche unter dem Galgen zu verscharren. 200 Die schändliche Sepultur Lindemanns bot den Wittenberger Medizinern Anlass, sich bei der Landesregierung über das Verhalten des Jüterboger Rates zu beschweren. 201 Nach Auskunft der Wittenberger hatte der in Jüterbog praktizierende Arzt Ettmüller am 18. November 1803 die Leiche Lindemanns mit der Bemerkung an die medizinische Fakultät gemeldet, der Körper sei frisch und könnte bis zur Abholung auch sicher aufbewahrt werden. Daraufhin wurden zwei Studenten entsandt, um die Leiche abzuholen. Dieser Umstand ist wichtig, weil er zeigt, dass man für diese früher mindestens ehrenrührige Tätigkeit, für die sonst Bettler oder Scharfrichter angestellt worden waren, ehrpusselige Studenten einsetzen konnte, ohne dass das Diskussionen oder öffentliche Aufregung nach sich gezogen hätte. Mithin ist diese Praxis natürlich auch ein Hinweis auf die knappen Finanzen der medizinischen Fakultät. Während die Studenten anreisten, entschied der Jüterboger Rat, die Leiche Lindemanns durch den Scharfrichter unter dem Galgen verscharren zu lassen. Dem Bericht aus Wittenberg zufolge wollte der Arzt Ettmüller dies verhindern und die Leiche in der Scheune des Scharfrichters lagern. Dagegen widersetzte sich anscheinend der Scharfrichter. Dieser schleifte die Leiche auf eine nahe gelegene Straße und ließ sie dort in aller Öffentlichkeit liegen. Die aus Wittenberg deputierten Studenten stellten Nachforschungen über den Toten an und kamen zu dem Ergebnis, dass Lindemann ein rechtschaffener und fleißiger Mensch gewesen sei, den kurz zuvor im September 1803 die „unordentliche lebensart seines eheweibes“ zum Wegzug genötigt hätte, weil der Jüterboger Rat nicht in eine Trennung der Ehegemeinschaft einwilligen wollte. 202 Der Ort der Selbsttötung, der Garten des Bürgermeisters, kann damit als symbolischer 200 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 123 r ff. 201 Ebd., fol. 123 r ff. 202 Ebd., fol. 126 v ff. <?page no="347"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 336 Hinweis auf jene Person verstanden werden, die Lindemann als den Schuldigen an seiner Lebensmisere ausgemacht hatte. 203 In dieser Weise interpretierten zumindest die Wittenberger Mediziner den Fall. Sie sahen in der Anordnung zum Verscharren von Lindemanns Leiche unter dem Galgen einen Racheakt der städtischen Obrigkeit. Auch wenn der Vorwurf nicht explizit erhoben wurde, rückte die Argumentation den Toten doch in die Position eines Justizopfers. Immerhin sei er ganz offensichtlich kein ‚freventlicher Selbstmörder’ gewesen, der sich im Bewusstsein eines begangenen Verbrechens getötet hat, so die Mediziner. Die Leiche hätte daher zur Anatomie geschafft werden müssen. Das sah der Jüterboger Rat natürlich grundlegend anders und präsentierte eine Konkurrenzgeschichte, die sowohl den Toten als auch den Arzt Ettmüller, der den Vorfall in Wittenberg angezeigt hatte, diskreditierte. 204 Zunächst einmal wäre Lindemann überhaupt kein rechtschaffener Bürger gewesen. Vielmehr habe er sich zu Lebzeiten eine Menge „bosheiten und vergehungen“ gegen Obrigkeit und Ehefrau geleistet. Lindemann habe seine Frau und drei kleine eheliche Kinder schändlich im Stich gelassen, bevor er sich nach einigem Umherstreifen mittels „selbstermordung durch den strang und zwar zum eckel und äußersten prostitution unseres bürgermeisters“ das Leben nahm. 205 Der Rat widersprach also gar nicht der Darstellung, der Ort von Lindemanns Selbsttötung hätte den Bürgermeister auf das Äußerste entehrt. Aber er interpretierte die Ursachen des Suizids anders. Wegen Lindemanns insgesamt auffälligen Lebenswandels, so schlussfolgerte und verteidigte sich der Rat, habe man den Toten als einen „selbstmörder, als einen solchen, welcher sich aus furcht vor einer zu gewarten habenden bestrafung das leben genommen, gleich zu achten“. 206 Aus diesem Grund habe der Rat auch beschlossen, die Leiche schändlich verscharren zu lassen. Dieser Behandlung hätte Dr. Ettmüller im Übrigen persönlich zugestimmt. Allein ein weiterer Arzt namens Strauß habe sich dagegen verwahrt. Und falls 203 Nach übereinstimmenden Angaben war Lindemann zuvor wochenlang in der Umgebung Jüterbogs herumgeirrt, ehe er sich im Garten derjenigen Person erhängte, die er für sein Schicksal maßgeblich mitverantwortlich sah. Leider ist über eine derart symbolische Wahl des Ortes von Selbsttötungen in der Regel wenig in Erfahrung zu bringen und auch hier bedingte allein die zufällige Überlieferung genau dieses Konfliktes zwischen Wittenberger Anatomie und Jüterboger Rat, dass die konkurrierenden Berichte ein wenig Licht auf die Lebensumstände des Schneiders Lindemann werfen konnten. Vgl. zur symbolischen Wahl von Suizidorten ferner L IND , Selbstmord, S. 270 ff.; S CHÄR , Seelennöte, S. 79 ff. Zum antiken Motiv der ‚exsecratio’ als Rache der Schwachen an symbolischen Orten siehe auch schon VAN H OOFF , Suizid in der Antike, S. 31 f. 204 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 132 ff. 205 Ebd., fol. 133 r . 206 Ebd., fol. 133 r . <?page no="348"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 337 sich Ettmüller, so der Rat weiter, wirklich nach Wittenberg gewandt hatte, so habe er damit eindeutig seine Kompetenzen überschritten und illoyal gehandelt. Wer in diesem Fall recht hatte, ist hier nicht zu entscheiden, wenngleich die Argumentation des Jüterboger Rates einige Ungereimtheiten aufweist. Warum sollte Ettmüller beispielsweise erst für ein Eselsbegräbnis der Leiche Lindemanns gestimmt haben, um im Anschluss die Leiche an die Wittenberger Anatomie zu melden? Wie auch immer, die Landesregierung stellte sich auf die Seite der Mediziner und verwies den Jüterboger Rat, der zudem die Unkosten für die deputierten Studenten und die Beschwerden der Anatomie zu tragen hatte. 207 Konflikte um Normen. Kursachsen und die Anatomie in Jena In den vorhergehenden Abschnitten sind exemplarisch Auseinandersetzungen um potenzielle Anatomieleichen untersucht worden. Doch nicht nur im Alltag kam es wiederholt zu Konflikten über die Auslegung und Umsetzung der Leichenverordnungen. Vielmehr waren diese selbst, wie oben beschrieben, nicht unumstritten. Die Normen und deren Umsetzung waren das Ergebnis einer gezielten ‚Lobbyarbeit’ einerseits und einer am gesellschaftlichen Nutzen orientierten Legitimationsrhetorik andererseits. Problematisch wurde es also mindestens dann, wenn dieser Nutzen für das eigene Land nur schwer zu vermitteln war und sich zugleich einflussreicher Widerstand formierte. Dies war in den 1790-er Jahren der Fall, als der umtriebige Anatom der Salana Jenensis, Justus Christian Loder (1753-1832), Abkommen mit verschiedenen umliegenden Territorien abschloss, um die Versorgung seines Lehrstuhls mit Leichen zu sichern. Das konnte in Kursachsen vor dem Hintergrund permanenter Klagen über den Mangel an Leichen, insbesondere vonseiten der Universitäten, nicht ohne Verwicklungen bleiben. Die Entwicklung der Anatomie folgte auch an der Universität Jena den eingangs beschriebenen Konjunkturen. An der Salana, der gemeinsamen Universität der ernestinischen Herzogtümer, mangelte es in der Frühen Neuzeit ebenso an Leichen für die jährlichen Lehrsektionen wie andernorts. Konnte man allerdings in Flächenterritorien wie Kursachsen pragmatisch auf den gleichen Missstand reagieren, indem man die Einzugsgebiete der anatomischen Theater ausdehnte, stießen ähnliche Versuche in Jena rasch an die territorialen Grenzen der ernestinischen ‚Zwergstaaten’, insbesondere Sachsen-Weimars. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Herzog Carl August von Sachsen-Weimar (reg. 1775- 1828) ein Gesuch Loders, der zugleich Hofrat in Weimar war (wo er auch Goethe in der Anatomie unterrichtete), unterstützte, mit dem dieser sich 1790 207 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31059 Vol. I., fol. 137 r . <?page no="349"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 338 an den sächsischen Kurfürsten wandte. 208 In seinem Schreiben erbat der Herzog für Loder das Privileg, die Leichen kursächsischer Untertanen nach Jena überführen zu dürfen. Hierunter waren ‚Selbstmörder’ und auf öffentlichen Straßen gefundene Leichen ebenso einbegriffen wie die Körper Hingerichteter oder verarmter Menschen, für deren Beisetzung niemand aufkam. Als Einzugsräume sollten die nahe der Grenze gelegenen kursächsischen Ämter Eckartsberga, Tautenburg und das Gebiet der Ritterordensgerichte um Zwötzen (bei Gera) dienen. Eventuell, so der Herzog, könne man auch noch aus Naumburg Anatomieleichen nach Jena liefern. Vergleichbare Abkommen waren bereits zu Beginn der 1770-er Jahre mit den Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt geschlossen worden, ebenso mit den ernestinischen Herzögen zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Gotha und Altenburg. 209 In diesen Abkommen war im Gegenzug vereinbart worden, das hatten die angesprochenen Landesherren und ihre Regierungsräte verlangt und das sollte so auch für Kursachsen gelten, dass ausgesuchte Landeskinder dieser Territorien kostenlos am anatomischen Theater der Salana unterrichtet werden. 210 Die früheren Abkommen scheinen indes nicht sehr fruchtbar gewesen zu sein, wiederholten sich doch die Anfragen aus Jena in regelmäßigen Abständen. Fürst Ludwig Günther II. von Schwarzburg-Rudolstadt teilte 1785 persönlich mit, 208 Loder wandte sich, unterstützt durch seinen Landesherrn, im April 1790 direkt an den Dresdner Hof und nicht erst 1791 und auch nicht zuerst an die Universität Leipzig, wie S TUKENBROCK , Cörper, S. 28 annimmt. Vgl. hierzu S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 1 f. 209 T H S T A R UDOLSTADT , Geheimes Ratskollegium Rudolstadt, C IX 3n Nr. 5, fol. 1 ff. Im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt war 1751 ein anatomisches Theater erreichtet worden, dass nicht lange bestanden hat. Hierzu T H S T A R UDOLSTADT , Geheimes Ratskollegium Rudolstadt, C IX 3n Nr. 1; B IEDERMANN , Anatomieunterricht und B IEDERMANN , Geschichte, bes. S. 234 f. zu den Gründen für das Aussetzen anatomischer Lehrübungen in Rudolstadt. 210 Wenn man so will, sollte sich für die Salana ein mehrfacher Gewinn ergeben. Zum einen hätte man über die Abkommen die dringend benötigten Leichen erhalten. Zum anderen hätte man mit den Studierendenzahlen auch die Ausstrahlung der Universität steigern können. Zum dritten sollte, so eine These von Karin Stukenbrock, durch die Ausdehnung der Leichenmandate auf Auswärtige „gewissermaßen als Nebeneffekt [… der] Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegen die Ablieferung an die Anatomie verminder[t]“ werden; S TUKENBROCK , Cörper, S. 28. Ein solcher Nebeneffekt mag im Rückblick als plausible Annahme erscheinen. Aber ebenso wenig, wie sich die Erwartungen Loders an die Überführungsabkommen erfüllt haben, ist aus den überlieferten Jenaer Dokumenten oder aus sächsischen Quellen eine solche Intention abzulesen. Zudem dürfte die Abgabe von Leichen an ‚auswärtige Zerstückelungseinrichtungen’ bei der jeweils betroffenen Bevölkerung nicht gerade Stürme der Begeisterung ausgelöst haben. Man mag zwar die Ablieferungen auswärtiger und damit fremder (! ) Menschen an die eigene Anatomie begrüßt haben - verringerte dies doch die Wahrscheinlichkeit selbst einmal betroffen zu sein. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, davon auszugehen, dass sich die Vorbehalte der inländischen Bevölkerung parallel dazu verringert hätten. <?page no="350"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 339 dass die Abgabe von Leichen nach Jena völlig unüblich sei. Loder wiederholte gleichwohl im Oktober 1790 sein Angebot für ein wechselseitiges Abkommen mit dem Rudolstädter Hof, als eine Antwort aus Dresden noch auf sich warten ließ. 211 In Dresden wurde die Anfrage Loders zunächst im ‚Etranger Departement’ des Geheimen Kabinetts bearbeitet. Dieses leitete den Fall, nachdem der Kurfürst in Kenntnis gesetzt worden war, an das Geheime Konsilium weiter, welches wiederum die Bearbeitung an die Landesregierung verwies. Die Landesregierung erkundigte sich ihrerseits bei den grenznahen Lokalbehörden und der Universität Leipzig, wie diese die Sache beurteilten und die Möglichkeiten einschätzten, Leichen nach Jena zu melden und zu liefern. Die Ergebnisse der Befragungen wurden in einem Vortrag für den Kurfürsten zusammengefasst. 212 Weder die Ämter Eckartsberga und Tautenburg noch die Ordensgerichte in Zwötzen äußerten Bedenken. Ganz im Gegenteil sprach aus deren Sicht ganz praktisch auch die geringere Entfernung für Jena. Der Eckartsbergaer Amtmann berichtete zudem, der medizinischen Fakultät in Leipzig häufig Leichen angeboten zu haben, die man dort dann aber gar nicht benötigt und deswegen auch nicht abgeholt hätte 213 - ein hinsichtlich der permanenten Klagen über einen Mangel an geeigneten Leichen interessanter Einwurf. Wie nicht anders zu erwarten, zeigten sich die Leipziger Mediziner hingegen gar nicht erfreut über den Eifer ihres Jenaer Professions-Kollegen und listeten einige Bedenken auf. So wäre „die gewährung des mehrerwehnten Loderschen gesuchs dem flor und guten rufe der akademie zu Leipzig höchstnachtheilig […] mithin sey die erlangung solcher körper zu erhaltung des ruhms des Leipziger anatomischen theaters unentbehrlich“. 214 Darüber hinaus wären auch die Leipziger Anatomiekurse öffentlich zugänglich, weshalb kein kursächsischer Untertan extra nach Jena gehen müsse. Überhaupt zeige sich die unzweifelhaft höhere Qualität der kursächsischen Landesuniversitäten darin, dass des Öfteren Studierende Jena verließen, um sich 211 Zu den wiederholten Anfragen an den Rudolstädter Hof siehe T H S T A R UDOLSTADT , Geheimes Ratskollegium Rudolstadt, C IX 3n Nr. 5; zur paraphrasierten Aussage des Fürsten ebd., E I 1b Nr. 16, fol. 7 v . 212 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 9 ff. Dort auch das Folgende. 213 Die einzelnen Antwortschreiben und die nachfolgend aufgeführten Bedenken der Leipziger Universität, respektive das Promemoria des dortigen Anatomen Hase in S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 21 ff. 214 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 11 v ff. <?page no="351"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 340 in Leipzig zu immatrikulieren. 215 Das Angebot Loders, die anfallenden Transportkosten zu übernehmen, würde sich von selbst verstehen, denn den kursächsischen Anatomien war dies grundsätzlich auferlegt. Daher zeige Loders Angebot keinen wirklichen Vorteil. Für den Fall aber, dass ein solches Abkommen nicht abgewendet werden könnte, schlugen die Leipziger Mediziner vor, Loders Kompetenzen einzuschränken. Die Landesregierung schloss sich diesem Votum an und wollte der Universität Leipzig ein ‚ius quaesitum’ einräumen, d. h. ein gesichertes Vorgriffsrecht auf anfallende Leichen. Dieses sollte dadurch gesichert werden, dass die Lokalbehörden zunächst in Leipzig anfragen sollten, bevor sie nach Jena rapportierten. Die Leichen Hingerichteter sollten dabei immer zuerst der Leipziger Anatomie offeriert werden. Für die übrigen, potenziellen Anatomieleichen sollte das Leipziger Vorgriffsrecht für den Vorlesungszeitraum Oktober bis März gelten. In den (warmen! ) Sommermonaten könne man dagegen die Leichen gleich nach Jena schaffen. Allerdings wären dabei Gefahren für die öffentliche Hygiene zu vermeiden. Je nach Sachlage müssten auch gerichtliche Sektionen vor Ort weiterhin möglich sein, um etwa bei Mordverdacht die Ermittlungen nicht zu behindern. Schließlich hätte Loder nicht nur die Transportkosten allein zu tragen, sondern sollte für sämtliche anfallende Kosten aufkommen. Hierzu zählten Verwaltungskosten etwa für Botengänge oder Transportgebühren für einzelne Herrschaftsträger in Gebieten, die zu durchqueren waren - gleichsam eine Art Leichenzoll. Ferner sollten die Gebühren für den kostenlosen Unterricht je einer Frau aus dem Ämtern Eckartsberga und Tautenburg am Jenaer Hebammeninstitut durch Loder finanziert werden. Es erscheint völlig einsichtig, dass diese Bedingungen in Jena für wenig Begeisterung sorgten. Mit den von der Universität Leipzig und der kursächsischen Landesregierung geforderten Einschränkungen, denen der Kurfürst weitgehend gefolgt war, stand nicht zu erwarten, dass sich die anatomische Lehrpraxis in Jena verbessern würde. Durch das ‚ius quaesitum’ und die zeitraubenden Kommunikationswege hätte man Loder erst zu einem Zeitpunkt benachrichtigen können, an dem die Beisetzung der Leichen aus hygienischen Gründen und wegen der geltenden medizinalpoliceylichen Vorschriften unabwendbar gewesen wäre. Nachdem 1791 der herzogliche Hof in Weimar von der Antwort des sächsischen Kurfürsten unterrichtet worden war, versuchte es Loder mit einem erneuten Anlauf. Auch Herzog Carl August warb erneut bei seinem kurfürstlichen Verwandten für Loders Anliegen. 216 Loder selbst hatte mittlerweile verzweifelt erklärt, seine Vorlesung selbst dann für bedürftige 215 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 13 v . 216 Ebd., fol. 57 ff. <?page no="352"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 341 kursächsische Landeskinder zu öffnen, wenn er aus Kursachsen keine Leichen bekäme. Abgesehen davon ist aus einem persönlichen Schreiben Loders an seinen Landesherrn die Enttäuschung über die Antwort des Dresdner Hofes deutlich abzulesen. 217 Letztlich war die für Loder unbefriedigende Antwort der Abwehrhaltung und dem Vorstoß des Leipziger Anatomen Hase bei der Landesregierung geschuldet. Die Landesregierung schloss sich dessen Bedenken an und konnte den Kurfürsten entsprechend beeinflussen. Der Konflikt erscheint in der Rückschau als Auseinandersetzung unter konkurrierenden Anatomieprofessoren. In der Auseinandersetzung wurde mit Argusaugen über eigene Privilegien gewacht und die Leipziger Mediziner beharrten augenscheinlich auf Rechten, die sie, glaubt man den Aussagen der involvierten Ämter, kaum wahrgenommen hatten. Doch noch gab man in Jena nicht auf. Herzog Carl August wandte sich in gleicher Sache im Juli 1791 erneut nach Dresden. Der Kurfürst beauftragte seine Geheimen Räte damit, eine modifizierte Antwort auszuarbeiten. 218 Möglichkeiten, innerhalb träger Verwaltungsstrukturen Unwillen auszudrücken, boten sich viele. Und so schleppte sich die Ausformulierung der Antwort zweieinhalb Jahre bis zum Mai 1794 hin. Mit der Novelle des Abkommens konnten Leichen nun auch sofort nach Jena gebracht werden, wenn eine längere Lagerung den lokalen Behörden bedenklich erschien oder das Abliefern nach Leipzig nicht binnen drei Tagen möglich war. Loders Ersuchen, die anfallenden Transportgebühren auf die Ämter und Gerichte umzulegen, beschied man jedoch abschlägig, denn sonst wäre nach Ansicht der Geheimen Räte die Universität Jena gegenüber Leipzig und Wittenberg ohne nachvollziehbaren Grund privilegiert worden. 219 Für die Rechtslage in Kursachsen war der erneute Vorstoß Loders insgesamt von Bedeutung, weil die Universität Leipzig im Zuge der erneuten Verhandlungen darum bat, die bestehenden Leichen-Mandate einzuschärfen. Die Mediziner bemängelten ein weithin undiszipliniertes Verhalten der zur Ablieferung von Leichen verpflichteten Behörden. Wenn man die beschriebenen Kontexte und Konflikte kurz resümiert, ohne noch einmal auf die analysierten Problemlagen im Einzelnen einzugehen, zeigt sich, dass über ‚Selbstmörder’ als Anatomieleichen in unterschiedlichen Feldern und mit unterschiedlichem Engagement verhandelt wurde. Die praktische 217 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10026, Loc. 528/ 12, fol. 59 ff. 218 Ebd., fol. 63 ff. 219 Vgl. zu dem gesamten Verfahren und dem Entscheid nach dem zweiten Vorstoß Loders ebd., fol. 69 ff. <?page no="353"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 342 Umsetzung der Verordnungen für die Anatomieleichen wurde exemplarisch und zugleich quantitativ verdeutlicht. Dabei haben sich nicht nur die üblichen Durchsetzungsdefizite sowie deren strukturelle und alltagsweltliche Hintergründe gezeigt. Diese Konflikte und Defizite erwiesen sich vielmehr als Teile eines Puzzles, das in der Gesamtschau zumindest für die Dresdner Anatomie eine durchaus als gelungen zu bezeichnende Umsetzung der Leichenverordnungen ergibt. Dies belegt die Anzahl der jährlichen Anatomieleichen einerseits. Andererseits fehlen für Dresden umfänglichere Beschwerden über einen Mangel an Anatomieleichen. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass die Anatomie nicht auf bekannt gewordene Verstöße gegen die Leichenverordnungen reagierte. Die Situation an den Universitäten scheint dagegen grundsätzlich eine andere gewesen zu sein, denn die medizinischen Fakultäten hatten ein weitaus geringeres Einfluss- und Drohpotenzial. 220 Das lag m. E. wesentlich an zwei Dingen. Erstens der Lage der Universitäten. Im Vergleich zu diesen konnte die Dresdner Anatomie räumlich und zeitlich unmittelbarer die relevanten Regierungsstellen mobilisieren, um ihre Ziele durchzusetzen. Zweitens der unterschiedliche Charakter der Institutionen. Das medizinisch-chirurgische Kolleg in Dresden war neben seinem allgemeinen medizinischen Ausbildungsanspruch insbesondere eine Einrichtung zur Ausbildung von Militärärzten. Darüber hinaus war es personell eng mit dem Sanitätskolleg, der zentralen Medizinalpoliceybehörde, verflochten. Damit war auch eine personelle Nähe zur Ebene der Regierungsbehörden gesichert. Es verwundert also nicht, wenn das CMC in Dresden und Umgebung einen unvergleichlich besseren Zugang zu entsprechenden Ressourcen hatte, während etwa die Wittenberger Anatomie noch um 1800 um das Überlassen von Leichen aus dem Torgauer Zuchthaus kämpfen musste. Dieser Umstand zeigt sich etwa an dem von Beginn an hohen Anteil von Festungsbaugefangenen und Militärs unter den Anatomieleichen in Dresden. Gleiches gilt für randständige Personen, die auf dem Gelände der Dresdner Kasernen verstarben und ‚Selbstmörder’, die einen erheblichen Anteil der Dresdner Anatomieleichen ausmachten (s. o.). Im Folgenden ist deshalb genauer auf jene Menschen zu blicken, die ihre Körper (in der Regel) unfreiwillig dem medizinischen Fortschritt zur Verfügung stellen mussten. Der Fokus liegt auf den ‚Selbstmördern’ unter den Anatomieleichen. In den Analysen von Konflikten oben sind einzelne Menschen in den 220 Allerdings steht eine umfassende Untersuchung der Leipziger Verhältnisse, für die hinreichend Quellenmaterial im Universitätsarchiv bereit liegt, noch aus. Dieses Desiderat soll im Rahmen einer Publikation zur Sozialgeschichte der Anatomie in Kursachsen behoben werden. <?page no="354"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 343 Blick geraten. Darüber hinausgehend wird nun das Sozialprofil jener Menschen untersucht, die sich töteten und anschließend zur Anatomie gebracht wurden. 8.5. Sozialprofile Für die Dresdner Anatomie lohnt eine genauere quantitative Auswertung der vorhandenen Quellen, weil die Dichte der im Leichenbuch und den Anmelderegistern verzeichneten Daten es erlaubt, neben individuellen Lebenswirklichkeiten auch gesellschaftliche Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Weniger werden dabei valide Aussagen über Suizidhäufigkeiten Ergebnis der Analyse sein als vielmehr Erkenntnisse über Alters-, Geschlechter- und Beschäftigungsstrukturen. Ziel ist es, sich dem Sozialprofil jener frühneuzeitlichen ‚Selbstmörder’ im 18. Jahrhundert anzunähern, die zur Anatomie kamen. Dazu habe ich die im Leichenbuch des CMC verzeichneten Suizidenten anhand ausgewählter sozialer Kategorien typisiert. 221 Die Auswahl der Kategorien orientierte sich dabei an den relevanten Forschungsdiskussionen zum Suizid in der Frühen Neuzeit. Dadurch konnten die sächsischen Daten in Bezug zu anderen Forschungen gesetzt werden. Geschlechterverhältnisse und Altersstrukturen werden, weil hierzu die Datensätze am größten sind, zunächst einzeln untersucht. Anschließend werden Alter, Berufsstand und sozialer Status in ihren jeweiligen Zusammenhängen und Verschränkungen diskutiert. Geschlechterverhältnis Von den insgesamt 478 ‚Selbstmördern’, die das Leichenbuch der Dresdner Anatomie und die Anmelderegister verzeichnen, waren 382 Männer und Jungen sowie 96 Frauen und Mädchen. 222 Das Geschlechterverhältnis von männlichen zu weiblichen Suizidenten beträgt fast 4: 1. Männliche ‚Selbstmörder’ sind damit deutlicher überrepräsentiert, als dies in anderen Studien festgestellt wurde. Vera Lind hat die Ergebnisse der neueren historischen Suizidforschung vergleichend zusammengetragen. 223 Deren Befunde schwanken von einem Verhältnis männlicher zu weiblichen Suizidenten von 2: 1 bis 3: 1, was sich mit den insgesamt für diese Arbeit erhobenen Daten deckt. Es ist allerdings nicht 221 Alle im Folgenden aufgeführten Daten beziehen sich, wenn nicht anders benannt, auf S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch sowie Anmelderegister 1 und 2. Alle Daten wurden in einzelnen Pro-Cite-Datenbanken aufbereitet. Dieses ursprünglich zur Verwaltung von Literatur konzipierte Datenbanksystem wurde den Anforderungen einer sozialhistorischen Analyse angepasst, so dass über die Funktionen miteinander kombinierbarer Gruppenzuordnungen und Schlagwortlisten ein hinreichender Zugriff auf einzelne aggregierte Befunde erfolgen konnte. 222 Anhang I.1. 223 L IND , Selbstmord, S. 190 ff. <?page no="355"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 344 möglich, ein ‚real-historisches’ Geschlechterverhältnis für Kursachsen zu bestimmen, weil die Quellen das Verhältnis jeweils nur verzerrt abbilden. Gleichwohl lässt sich der Schluss ziehen, dass männliche ‚Selbstmörder’ tendenziell eher und häufiger als Frauen zur Anatomie gebracht worden sind. Die möglichen Erklärungen für zeitwie kulturübergreifend beobachtete Unterschiede geschlechtsspezifischer Suizidhäufigkeit können hier nicht umfassend referiert werden. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass viele Erklärungsversuche der modernen Suizidforschung als Anachronismen für die Frühe Neuzeit keine Geltung beanspruchen können. David Lederer hat neue Erkenntnisse der Forschung kommentiert und auf die Notwendigkeit hingewiesen, historische Erklärungsansätze für die zum Teil kontraintuitiven Befunde (bspw. höherer Anteil weiblicher Suizidenten im modernen China) zu finden, die sich stärker an den kulturellen Prägungen der jeweils untersuchten Populationen orientieren. 224 Vera Lind hat überzeugend aufgezeigt, dass keineswegs davon ausgegangen werden kann, Selbsttötungen von Frauen wären in der Frühen Neuzeit tendenziell eher verheimlicht worden als die von Männern. Für eine solche Verheimlichungstendenz wurde zuvor das Argument angeführt, dass die Ursachen der Suizide von Frauen stärker in innerfamiliären Faktoren gesucht wurden. 225 Dagegen, so Lind, folgten die Untersuchungen durch die Obrigkeiten meist geschlechterindifferenten Modi und Befragungsschemata. 226 Für das frühneuzeitliche Genf hat Jeffrey Watt dichtes Zahlenmaterial vorgelegt. Watt plädiert dafür, die Frühe Neuzeit nicht einfach als eine homogene Epoche zu verstehen und das Geschlechterverhältnis in den Suizidhäufigkeiten nicht übergreifend ohne chronologische Einschnitte zu vergleichen. Vielmehr seien 224 L EDERER , Suicide, S. 34. 225 In einer früheren Untersuchung habe ich dagegen darauf hingewiesen, dass im Deutungshorizont frühneuzeitlicher Menschen eine solche Ursacheninterpretation auch für Selbsttötungen von Männern denkbar war; K ÄSTNER , Seelen. 226 L IND , Selbstmord, S. 198. Zum Vergleich der von Lind kritisierten Annahme siehe D OUGLAS , Meanings, S. 215, der davon ausgeht, dass vor allem die vergleichsweise stärkere soziale Integration von Frauen Einfluss auf die Geschlechterdifferenz in den Suizidraten nimmt. Allerdings spitzt Douglas, ebd., S. 215 f. Anm. 61, seine Argumentation weiter zu und argumentiert, „that the meanings of male suicides and of female suicides are different in Western societies. Male suicides are generally perceived as being caused by extra-familial ‚strains’, though information on intra-familial ‚strains’ can change this general expectation. Female suicides, on the contrary, are perceived as being caused by intra-familial ‚strains’. When a female commits a suicidal action, then, her significant male others, especially her husbands, who is seen as more responsible (i. e., more the cause) of her actions than anyone else, have a much greater incentive in this respect than a female in the same situation to attempt to conceal the suicidal action. […] The official statistics on these matters cannot be accepted as reliable until evidence demonstrates the suspicion invalid or valid only with certain, specifiable limits.“ <?page no="356"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 345 relevante Zeitabschnitte und Zeiteinschnitte zu unterscheiden. Er zeigt, dass in Genf erst nach 1750 eine signifikante Differenz in den geschlechtsspezifischen Suizidhäufigkeiten aufbrach. Watt erklärt dies mit einer zunehmenden Säkularisierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen, insbesondere mit einer rasanten Bedeutungszunahme emotional begründeter Sozialbeziehungen im calvinistischen Genf. Erst die zunehmende kulturelle Bedeutung diesseitiger Werte, die ebenso zunehmende Verfügbarkeit von Schusswaffen und veränderte ökonomische Problemlagen hätten zu einem deutlichen Anstieg der Suizidrate einerseits und zu einem Auseinanderdriften der geschlechtsspezifischen Suizidhäufigkeiten andererseits geführt - von einem Verhältnis männlich-weiblich nahe 1: 1 zu einem Verhältnis von ca. 2,7: 1. 227 Das Fehlen ähnlich dichter und serieller Quellen, wie sie Watt zur Verfügung standen, lässt einen entsprechenden Zugriff und Vergleiche für Sachsen nicht zu. Watts Befunde können mithilfe der sächsischen Quellen auch nicht sinnvoll kommentiert werden. Das ist insofern schade, weil Watt seine Daten mit einer sozial- und mentalitätshistorischen These verknüpft hat, die darauf abzielt, die Veränderung des Suizidgeschehens im historischen Verlauf übergreifend zu erklären. Eine Gegenüberstellung mit dem mir zur Verfügung stehenden Material würde an dieser Stelle vor kaum zu lösenden methodischen Problemen stehen. Für Schweden liegen aber immerhin aggregierte Daten vor, die zwar Watts mentalitätshistorische These nicht an sich vorbehaltlos stützen können, aber eine ähnliche Entwicklung wie in Genf auch für Schweden andeuten. Während von 1749 bis 1770 ein Geschlechterverhältnis von ungefähr 2: 1 bestand, pegelte sich der Quotient danach bei ungefähr 3: 1 ein und blieb bis weit in die Moderne auf diesem Niveau konstant. 228 Das Geschlechterverhältnis der ‚Selbstmörder’ unter den Dresdner Anatomieleichen schwankt sowohl im 18. Jahrhundert als auch im ersten Jahrzent des 19. Jahrhunderts erheblich. Diese Beobachtung ist wesentlich auf die geringe Fallzahl zurückzuführen - das Verhältnis pendelt zwischen den extremen Werten 0,67: 1 und 12: 0. In der Summe sind Männer deutlicher über- 227 Vgl. Table 6 in W ATT , Death, S. 34. Ich halte beide Befunde jedoch für zumindest fragwürdig, denn Watts Daten legen nahe, dass die Qualität der Überlieferung für den Zeitraum vor 1750 ungleich schlechter ist und sich zwar eine Tendenz ermitteln lässt, die aber vermutlich die reale Entwicklung aufgrund von Überlieferungslücken stark zuspitzt. Vgl. hierzu Table 1 in ebd., S. 24 mit der Gesamtanzahl erhobener Selbsttötungen 1542-1798. 228 L INDELIUS , Trends, S. 299. Vgl. die leicht abweichenden Totalwerte bei L IND , Selbstmord, S. 277. Lind bezieht sich ihrerseits auf O HLANDER , Suicide, S. 36, die den Anstieg der männlichen Suizidrate im 19. Jahrhundert vor allem auf die prekären Lebensverhältnisse allein lebender Männer über 50 Jahren zurückgeführt und darüber hinaus eine Vielzahl von sozio-ökonomischen und religiösen Veränderungen diskutiert hatte, die die Entwicklung der Suizidraten beeinflussten. <?page no="357"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 346 repräsentiert als in anderen Untersuchungen gezeigt wurde oder bereits zeitgenössische Erhebungen ergaben. 229 Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Erhebungen aus den Jahreshauptberichten der Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation für die Jahre 1800 und 1804 bis 1811 vergleichend heranzieht. Diese sind im Anhang (I.1.) aufgelistet. Für die Dresdner Anatomie ist festzustellen, dass Frauen innerhalb bestimmter sozialer Gruppen deutlich unterrepräsentiert sind, etwa, was erwartbar war, im Militär (0: 32) aber auch, ebenso erwartbar, unter den Inquisiten, die sich in der Haft das Leben nahmen (1: 18). Weitere Erklärungen zeigen sich, wenn man die Befunde der Forschungen zur Anatomie und zum Suizid in der Frühen Neuzeit miteinander verknüpft. Karin Stukenbrock hat festgestellt, dass weitaus mehr Tote an die Anatomien abgeliefert wurden, die Unterschichten und sozialen Randgruppen zuzurechnen sind. 230 Für diese niederen Sozialformationen haben MacDonald und Murphy zugleich eine signifikante Überrepräsentierung von Männern unter den Suizidenten festgestellt. 231 Wenn man also davon ausgeht, dass innerhalb der Zielgruppen der frühneuzeitlichen Anatomie stärker jene Gruppen vertreten waren, in denen männliche Suizidenten ohnehin deutlich überwogen, dann liefert dies eine weitere Erklärung für das beschriebene Geschlechterverhältnis. Exemplarisch zeigen das die Daten aus dem Jahr 1812: Unter den in diesem Jahr abgelieferten zwölf ausschließlich männlichen Suizidenten waren fünf Auszügler, zwei Tagelöhner, ein Inquisit, ein Häusler und ein Weißgerber. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch auffällig, dass mehr ‚Selbstmörderleichen’ unbekannter Männer als unbekannter Frauen (24: 6) abgeliefert wurden. Damit ist festzuhalten, dass sich die insgesamt höhere Suizidrate von Männern in den Daten der Dresdner Anatomieleichen spiegelt. Zugleich sind Männer unter den Anatomieleichen deutlicher überrepräsentiert als in anderen Quellen. Dieser Befund lässt sich mit dem Charakter der ‚Zielgruppen’ der Anatomie erklären. Altersverteilung In 374 von 478 Suizidfällen sind Altersangaben zu den Toten verzeichnet. Damit ist die Überlieferungssituation im Vergleich zu anderen Studien als 229 Wegen der Sonderrolle des Militärs gilt diese Aussage nicht für die Erhebungen Moehsens in Berlin im 18. Jahrhundert; M OEHSEN , Betrachtungen. Auch MacDonald und Murphy haben vergleichsweise hohe Quotienten, die sie zudem nach Sozialformationen aufgeschlüsselt haben; M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 248 Table 7.1. 230 S TUKENBROCK , Cörper, S.37 ff. 231 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 248 Table 7.1. <?page no="358"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 347 überaus günstig einzuschätzen. 232 Die vorhandenen Altersangaben enthalten jedoch eine Vielzahl von Unschärfen, die es zu reflektieren gilt, wenn man nicht unkritisch auf Relationen zwischen Alter und Suizidhäufigkeit schließen will. 233 Unschärfen liegen beispielsweise schon in einigen wörtlichen Umschreibungen von Alterseinschätzungen vor. So werden fünf Tote lediglich mit alt, jung, mittleren Alters oder als „bejahrt“ bezeichnet. 234 In 25 weiteren Fällen wurden die Angaben als „ohngefähre“ Altersangaben charakterisiert. Allerdings konnten diese ungefähren Angaben durchaus präziser sein, als es zunächst den Anschein erweckt. So heißt es beispielsweise im Fall von Christian Barthel, der sich im April 1792 in Wahnsdorf erhängt hatte, er sei „ohngefähr 48 oder 49 Jahr alt“ gewesen. 235 Das bedeutet, nicht in jedem Fall einer ungefähren Altersangabe muss auf eine ungenaue Schätzung geschlossen werden. Gleichwohl ließe sich im Fall von Christian Barthel auch annehmen, dass die Alterszuschreibung ihn lediglich in die Gruppe der Endvierziger einreihen sollte. Objektive, übergreifende Kriterien, nach denen im Einzelfall über die Zuverlässigkeit solcher Angaben entschieden werden kann, sind ohne eine hier nicht leistbare Auswertung parallel überlieferter Quellen nicht darstellbar. Vergleicht man jedoch den Fall Barthel mit anderen ungefähren Altersangaben, ist es zumindest plausibel davon auszugehen, dass es sich bei solchen Angaben kleinerer Zeiträume (hier einem Jahr) um tendenziell verlässlichere Angaben handeln dürfte. 232 So konnte Vera Lind lediglich für 64 Suizidenten (von insgesamt 303 für Schleswig und Holstein) Angaben zum Alter machen, wobei in der von ihr dargestellten Altersverteilung in die Gruppe der über 61-jährigen schon diejenigen mit hereingezählt wurden, von denen es lediglich hieß, dass sie „alt“ seien; L IND , Selbstmord, S. 211. Auch MacDonald und Murphy konnten trotz insgesamt überwältigender Materialfülle ‚nur’ auf einen in der Relation zur Gesamtzahl dürftigen Befund an Altersangaben zurückgreifen. Dieser übertrifft allerdings in absoluten Zahlen nach wie vor alle Daten, die ansonsten für das frühneuzeitliche Kontinentaleuropa vorliegen. So konnten die beiden Autoren für den Zeitraum 1485 bis 1714 (England und Norwich) insgesamt 1261 Altersangaben von Suizidenten auswerten. Auf der Basis eines leicht variierenden Quellensamples hatte Terrence R. Murphy bereits vier Jahre vor Publikation der gemeinsamen Studie 1098 Altersangaben auswerten können, denen insgesamt 13.968 am ‚Court of King’s Bench’ registrierte Selbsttötungen zugrunde lagen. Zu den Zahlen und den zugrunde gelegten Quellen: M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 251 Table 7.2.; M URPHY , Childe, S. 260 Anm. 6. 233 Während S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 105 ff. zwar ihre Momentaufnahmen der Alterstruktur im Dresdner Lazarett hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Insassen und der Krankheitsbilder, die die Aufnahmedauer beeinflusst haben, reflektiert, unterlässt sie eine grundsätzliche Kritik der frühneuzeitlichen Altersangaben. 234 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Leichenbuch, Nr. 1341, 1474, 1587, 1619 und 1969. 235 Ebd., Nr. 1201. <?page no="359"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 348 In 36 weiteren Fällen wird dagegen ein ungefähres Alter „über“ einem bestimmten Dezennium benannt. Von über 20 Jahren bis hin zu Schätzungen über 70 Jahren sind alle denkbaren Angaben vertreten. Dies verweist auf ein Problem mit vielfältigen Ursachen: Oftmals waren die Zeitgenossen überhaupt nicht in der Lage, und dies betraf vor allem Aussagen über ältere Menschen, ein genaues Alter anzugeben. MacDonald und Murphy bemerken zu diesem Problem: „Contemporaries were particularly bad at remembering the ages of people over forty, and they typically rounded off to the most plausible decade.“ 236 Die von MacDonald und Murphy für das frühneuzeitliche England gewonnene Einsicht lässt aufhorchen, denn auch das Dresdner Leichenbuch verzeichnet auffallend häufig ganze Dezennien. In 64 Fällen ist das Alter in Dezennien von 20 bis 70 angegeben. Zählt man hier noch die oben genannten ungefähren Alterszuschreibungen hinzu, die sich an Jahrzehntangaben orientierten, kommt man auf eine Anzahl von 117 Suizidenten, deren Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit nur geschätzt worden ist. Die Zahl derer wiederum, bei denen innerhalb dieser soeben bestimmten Gruppe das Alter dennoch korrekt angegeben wurde, ließe sich nur durch einen äußerst aufwendigen Abgleich mit noch vorhandenen Taufregistern oder anderen Kirchenbüchern bestimmen. Inwiefern von derartigen Rundungen durch die Zeitgenossen auch Angaben zu halben Dezennien wie etwa 65 Jahre betroffen sind, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Allerdings erscheint es nach dem eben Gesagten nicht unplausibel weitere Unschärfen zu vermuten. Es könnte sich im jeweiligen Einzelfall lediglich um Zuschreibungen zu einer größeren Alterskohorte handeln. Die Alterszuordnungen basierten häufig auf Einschätzungen, die sich am äußeren Erscheinungsbild der Toten orientierten. Jenseits individuell äußerst verschiedenartiger Einzeichnungen von Lebenserfahrungen in den menschlichen Körper und individuell verschiedenartiger physiognomischer Züge besaßen die frühneuzeitlichen Zeitgenossen durchaus ein Raster für die Wahrnehmung und Einordnung altersbedingter Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild von Menschen. Sowohl für den normativen Altersdiskurs der Zeit als auch für subjektive Äußerungen von Zeitgenossen lässt sich trotz Unterschieden im Detail generalisierend konstatieren, dass in der Wahrnehmung markantere physiologische Defizite mit einem höheren Alter in Verbindung gesetzt wurden. 237 Damit orientierte sich die Einschätzung des Äußeren alter Menschen 236 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 256. 237 Im Überblick und die großen Entwicklungstendenzen im Blick R EINHARD , Lebensformen, S. 174 ff.; VAN D ÜLMEN , Haus, S. 200 ff. Jetzt auch E HMER , Hohes Alter; E HMER , Lebenslauf, mit jeweils weiteren Verweisen. Instruktiv für das Verhältnis von Diskurs über und Selbstwahrnehmung <?page no="360"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 349 in der Frühen Neuzeit trotz einer durchgängig ambivalenten Bewertung des Alters an Kennzeichen, die diese Menschen abwertend von zeitgenössischen Schönheitsidealen ebenso wie von sich an Nützlichkeitserwägungen orientierenden körperlichen Notwendigkeiten (Stichwort: Arbeitsfähigkeit) abgrenzten. Abb. C.8-5: Geschätzte Altersangaben in vollen Dezennien nach dem Leichenbuch der Dresdner Anatomie 238 Altersangabe 20 ca. 20 über 20 30 ca. 30 über 30 40 ca. 40 über 40 Anzahl 5 1 3 12 2 10239 21 3 5 Altersangabe 50 ca. 50 über 50 60 ca. 60 über 60 70 ca. 70 über 70 Anzahl 18 4 11 8 4 5 2 1 2 In Abb. C.8-5 ist die Anzahl der Personen vermerkt, deren Alter mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit lediglich geschätzt wurde. Der Altersdurchschnitt jener Suizidenten, deren Alter als ein ungefähres angegeben bzw. geschätzt wurde, beträgt rund 43,5 Jahre. Der Altersdurchschnitt der übrigen Suizidenten, für die das Leichenbuch genauere Angaben enthält, beträgt rund 39,5 Jahre. Die Werte variieren also nicht sehr beträchtlich, wenn man die reflektierten Unschärfen der Angaben bedenkt. 240 Allerdings verraten die bloßen Durchschnittswerte an sich recht wenig. Daher ist in den folgenden Abbildungen (C.8-6-8) die Verteilung nach bestimmten Altersschichten aufgeschlüsselt. Die Abbildungen verdeutlichen das grundlegende Problem einer quantitativen Auswertung des Leichenbuchs in Bezug auf Altersgruppen. Je nach Einteilung der Altersgruppen werden zum Teil erheblich abweichende Befunde konstruiert und unterschiedliche Aussagen generiert. Zudem bleibt die Einvon Alter(n) C HVOJKA , Schmerzen. Zur Bedeutung körperlicher Kennzeichen für die Einschätzung von Menschen in der Vormoderne jetzt auch G ROEBNER , Schein, insbes. S. 64 ff. 238 Altersangaben beruhend auf S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Leichenbuch. ∑ = 117. 239 Davon eine Angabe zwischen 30 und 50, die sich aus dem Vergleich mit einer Parallelüberlieferung ergibt; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Leichenbuch, Nr. 1439 und S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30736 Vol. V, o. Pag., Bericht aus Freyberg vom 2. November 1799. 240 Hinzu kommt, dass bei der Berechnung auf Basis der ‚genauen’ Angaben im Fall von Angaben kleinerer Alterszeiträume stets der kleinste angenommene Wert in die Berechnung eingeflossen ist, also zum Beispiel bei einer Altersangabe 26 bis 28 Jahre der Wert 26. Die angegebenen Zahlen bilden Annäherungen aufgrund von Prioritätsentscheidungen des Autors ab. <?page no="361"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 350 teilung schon deswegen problematisch, weil sie wenig über die konkrete Lebenssituation verrät, solange die Altersgruppen nicht in Bezug zu weiteren sozialen Merkmalen gesetzt werden. Thesenbildungen erfolgen daher, indem die Aussagen aller Abbildungen zur Altersgruppenverteilung zuerst kombiniert und an die vorgetragene Quellenkritik rückgebunden werden. In einem zweiten Schritt werden die Altersgruppen in Bezug zu weiteren Merkmalen des Sozialprofils gesetzt. Abb. C.8-6: Verteilung der an die Dresdner Anatomie abgelieferten Suizidenten nach Altersgruppen I 0 20 40 60 80 100 10-19 J. 20-29 J. 30-39 J. 40-49 J. 50-59 J. 60-69 J. 70-79 J. 80-89 J. Alter in Jahren Anzahl Frauen Männer Abb. C.8-7: Verteilung der an die Dresdner Anatomie abgelieferten Suizidenten nach Altersgruppen II 241 0 20 40 60 80 5-14 J. 15- 24 J. 25- 34 J. 35- 44 J. 45- 54 J. 55- 64 J. 65- 74 J. 75- 84 J. Alter in Jahren Anzahl Frauen Männer 241 Ohne Altersangaben, die lediglich einen Schätzwert über einem angegebenen Dezennium nennen, da eine Zuordnung zu den Altern bis 24, 34 usw. und/ oder ab 25, 35 aufwärts nicht möglich war. <?page no="362"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 351 Abb. C.8-8: Verteilung der an die Dresdner Anatomie abgelieferten Suizidenten nach Altersgruppen III 242 0 10 20 30 40 50 60 5-9 J 10-14 J. 15-19 J. 20-24 J. 25-29 J. 30-34 J. 35-39 J. 40-44 J. 45-49 J. 50-54 J. 55-59 J. 60-64 J. 65-69 J. 70-74 J. 75-79 J. 80-84 J. Frauen Männer Die Verteilungen der Altersgruppen in den Abbildungen C.8-6-8 verdeutlichen insgesamt eine Schwerpunktbildung bei 40bis 60-jährigen Menschen, wenngleich der Aussagewert dieser Feststellung zunächst nicht sehr hoch zu veranschlagen ist. Es handelt sich um eine recht große Gruppe und auch die kulturelle Bedeutung von Alter und die mögliche Divergenz zwischen kalendarischem und biologischem Alter bleibt in dieser vereinfachten Zusammenschau zunächst unberücksichtigt. Aus den Abbildungen ist weiter abzulesen, dass tendenziell eher alte ‚Selbstmörder’ und weniger sehr junge ‚Selbstmörder’ in Relation zur Altersstruktur der sächsischen Bevölkerung zur Anatomie kamen. 243 Im Folgenden wird die vertiefte Analyse daher mit der Gruppe der alten Menschen beginnen und entgegen dem biologischen Lebensverlauf fortsetzen. Dabei werden weitere altersunabhängige Merkmale des Sozialprofils wie Geschlecht, Berufsstand und sozialer Status befragt, um Rückschlüsse auf ein mögliches Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu ziehen. 242 Nicht berücksichtigt wurden wie in Abb. C.8-7 alle Altersangaben, die lediglich einen Schätzwert über einem angegebenen Dezennium nennen. Allerdings habe ich ungefähre Altersangaben die sich auf ein volles Dezennium bezogen (ca. 20 usw.) in die Darstellung einbezogen. Daraus erklärt sich der jeweils deutliche Überhang bei den Gruppen der 20bis 24-Jährigen, 30bis 34-Jährigen, 40bis 44-Jährigen und der 50bis 54-Jährigen im Vergleich zu den 25bis 29-Jährigen usw. 243 Mangels einer fehlenden neueren, zugleich umfassenden Bevölkerungsgeschichte ist noch immer auf B LASCHKE , Bevölkerungsgeschichte, hier S. 198 f., Abb. 30, zu verweisen. <?page no="363"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 352 Profile Alte Männer Alt-Sein war in der Vormoderne durch fließende und variable Übergänge im Lebensverlauf charakterisiert. Die Einschätzung, dass jemand alt sei, richtete sich weniger nach konkreten Alterszahlen. Vielmehr spielte die funktionelle Einordnung in die frühneuzeitliche Gesellschaft und damit die Feststellung bestehender oder nicht mehr vorhandener Arbeitsfähigkeit die entscheidende Rolle. Wendepunkt in den allegorischen Lebenstreppen des normativ-bildlichen Altersdiskurses war je nach Anzahl der gewählten Stufen häufig das Alter um 40 bis 50 Jahre. 244 Daher erscheint es im Folgenden zulässig, zunächst die Gruppe der über 50-jährigen zu betrachten, die im zeitgenössischen Verständnis als alt galten. Die Versorgung im Alter war in der Vormoderne überwiegend problematisch. Die Versorgungsdefizite betrafen allerdings recht verschiedene Gruppen und wurden unterschiedlich bearbeitet. Neben Netze der lokalen und verwandtschaftlichen Fürsorge traten im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend auch territorialstaatlich organisierte, institutionelle Lösungen. 245 Zunächst zu den Auszüglern, also jenen Personen, die auf ehemals eigenem Besitz in ein Altenteil gezogen waren und noch mit ihren Nachkommen und Erben, denen sie die Führung des Hauses überlassen hatten, zusammenlebten. 246 Mit insgesamt 75 Personen nehmen sie einen erheblichen Anteil im Sozialprofil der sächsischen Suizidenten in der Frühen Neuzeit ein. Allein das Leichenbuch der Dresdner Anatomie verzeichnet 33 Auszügler. 27 von diesen Auszüglern waren über 50 Jahre alt, in den fünf anderen Fällen ist kein Alter bekannt. Johann Gottfried Wachsmuth, ein ehemaliger Obsthändler aus Saalhausen im Amt Dresden, der sich am 18. März 1803 ertränkte, wird lediglich als alt bezeichnet. 247 Johann Gottlieb Jeschke, Sohn eines verstorbenen Bauern, der unter anderem aufgrund einer dauerhaften Melancholie als arbeitsunfähig galt, ist als 25-jähriger Auszügler in dieser Gruppe eine Ausnahme. 248 244 Dagegen geht E HMER , Hohes Alter, Sp. 608 davon aus, dass in den Diskursen am häufigsten das 60. Lebensjahr als Grenze genannt wurde. 245 Materialreich dazu A MMERER , Versorgung. 246 Zur Vielfalt der Erscheinungsformen des sog. Ausgedinges siehe auch E HMER , Ausgedinge. 247 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1587. 248 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1640. Für Böhmen im frühen 18. Jahrhundert sind allerdings durchaus größere Kohorten jüngerer Auszügler festgestellt worden; E HMER , Ausgedinge, Sp. 854, mit weiteren Hinweisen. <?page no="364"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 353 Neben dem überwiegend hohen Alter der Auszügler sticht hervor, dass zumindest im Leichenbuch des CMC mit einer Ausnahme alle Auszügler Männer waren. Ein Vergleich zur Gesamtheit aller Fälle in dieser Arbeit zeigt, dass der Anteil der weiblichen Suizidenten unter den Auszüglern zwar höher gewesen sein dürfte. Insgesamt bleibt der Anteil der Männer in einem Verhältnis von 74: 9 unter allen Auszügler-Suizidenten aber deutlich hoch. Die Daten sind nur schwer miteinander vergleichbar, weil die Quellengrundlage insgesamt zu heterogen ist. Gleichwohl ist die deutliche Tendenz des Befundes erklärungsbedürftig. Der Status innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft beruhte neben dem Geburtsstand vor allem auf ausgeübten Funktionen. Das Leichenbuch spiegelt diesen Umstand, denn es verzeichnet recht penibel die zu Lebzeiten von den Suizidenten ausgeübten Tätigkeiten. 249 Lediglich in fünf Fällen vermerkt das Leichenbuch Tätigkeiten von Auszüglern, die diese noch in hohem Alter ausübten. In der Regel ist lediglich der Status als Auszügler vermerkt. Vera Lind hat darauf hingewiesen, dass Altsein in der Frühen Neuzeit „für die meisten [Menschen] einen Überlebenskampf innerhalb von Abhängigkeiten, angewiesen auf die Armenversorgung oder auf die Solidarität und finanzielle Unterstützung ihrer Familie“ bedeutete. 250 Diese Einschätzung dürfte in der Summe den Kern vieler frühneuzeitlicher Lebensrealitäten treffen. Lind weist aber darüber hinaus auch auf die sehr vielgestaltigen Ursachen für Selbsttötungen alter Menschen hin. 251 Die mit zunehmendem Alter sukzessive Verdrängung aus dem beruflichen Erwerbsprozess und damit der Umbruch lebensweltlicher Sinnhorizonte und Gewissheiten dürfte im Einzelfall den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, stark beeinflusst haben. Die nach wie vor relevanten Arbeiten von Peter Borscheid und ein von Pat Thane herausgegebener Sammelband verschaffen einen Überblick über die Geschichte des Alters in der Frühen Neuzeit. 252 Es fehlen für Kursachsen derzeit differenzierte Analysen von Lebenswirklichkeiten alter Menschen, sodass hier eine differenzierte Kritik der allgemeinen Topoi schwerfällt. Unstrittig ist in jedem Fall, dass das Zusammenleben mehrerer Generationen in einem Haus für 249 Anhang I.2. 250 L IND , Selbstmord, S. 217. Hierzu auch A MMERER , Versorgung; zum Problem des Arbeitskraftverlustes allgemein und altersübergreifend und mit Blick auf die frühneuzeitlichen Versorgungsmöglichkeiten insbesondere im 18. Jahrhundert ebenso einschlägig V ANJA , Homo. 251 Bspw. L IND , Selbstmord, S. 244 ff., wo sie die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Konflikten zwischen den Generationen betrachtet. 252 B ORSCHEID , Geschichte; T HANE (Hg.), History; insbesondere den Beitrag von David A. Troyanski zum 18. Jahrhundert. Siehe auch E HMER , Hohes Alter. <?page no="365"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 354 genügend Konfliktstoff sorgte und es etwa bei Fragen der Altenteilregelungen immer wieder zu Streitigkeiten kam. Auf derartige Generationenkonflikte könnte z. B. die symbolische Wahl des Ortes einer Selbsttötung hindeuten: Im Januar 1806 legte der 65-jährige Auszügler Gottlob Aßmann im Haus seines Sohnes in Schmiedeberg Feuer, um sich danach an einem Baum direkt vor dem brennenden Haus zu erhängen. 253 Über die genauen Hintergründe der Tat ist nichts bekannt, doch ist eine Auseinandersetzung mit seinem Sohn nicht unwahrscheinlich. Derartige Konflikte könnten auch den hohen Anteil von männlichen Auszüglern in der Anatomie erklären, denn im Fall tief greifender Konflikte erscheint es weniger wahrscheinlich, dass sich die Hinterbliebenen ernsthaft um eine ordentliche Beisetzung bemühten. Die Ablieferung zur Anatomie könnte eine willkommene ‚Entsorgungsmöglichkeit’ gewesen sein. Konflikte scheinen nach dem Eindruck der mir vorliegenden Quellen wesentlich häufiger zwischen männlichen Auszüglern und männlichen Nachkommen ausgetragen worden zu sein. Das ließe sich m. E. auch mit den Strukturen frühneuzeitlicher Familien begründen, in denen die Väter versuchten, bis ins hohe Alter Gewalt über ihre Familien zu behalten und dieses Verhalten zwangsläufig Autoritätskonflikte hervorrief. 254 Den insgesamt hohen Anteil von Männern unter den Auszüglern, die sich das Leben nahmen, dürften zwei weitere Argumente plausibel erklären. Zum einen war die Lebensrealität von Auszüglern durch eine Zurücksetzung ihrer bisherigen Tätigkeiten geprägt, bis hin zur völligen ökonomischen Abhängigkeit von anderen Menschen. Zum Zweiten traten Auszügler Rechtspositionen ab und waren damit auch rechtlich neuen Abhängigkeiten ausgesetzt. Vera Lind argumentiert präzise und nachvollziehbar, dass es aufgrund der zeitgenössischen Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen Männern schwerer gefallen sein dürfte als Frauen, ökonomische und rechtliche Zurücksetzungen zu verarbeiten. Männern wurde (insbesondere in ihrer Funktion als Haushaltsvorstand in sozioökonomischen, rechtlichen und öffentlichen Belangen) von der frühneuzeitlichen Gesellschaft prinzipiell eine aktive und dominante Rolle zugewiesen. 255 Fragt man nach Indizien, die Altersarmut als Beweggrund für suizidales Verhalten plausibilisieren könnten, stößt man rasch an die Grenzen der Quellen. Unter den über 60-jährigen Suizidenten verzeichnet das Leichenbuch des CMC lediglich zwei Almosenempfänger. In 27 weiteren Fällen sind konkrete Angaben 253 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1702 und Anmelderegister 2, fol. 13 f. 254 Hierzu C OLLOMP , Spannung. 255 L IND , Selbstmord, S. 245 f.; zum geschlechtsspezifischen Suizidverhalten von Männern in der Frühen Neuzeit auch L IND , Rolle. <?page no="366"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 355 zu ausgeübten Berufen angegeben, zum Teil in Verbindung mit dem Auszüglerstatus. Die Heterogenität der Berufsangaben und die individuelle Wirklichkeit der Auszüglerexistenzen macht es schwierig, übergreifende Altersarmutsindikatoren als suizidauslösend zu plausibilisieren, zumal das Leichenbuch nichts über die konkrete Lebenssituation berichtet. Die geringe Zahl der Almosenempfänger erstaunt auf den ersten Blick, wenn man sich die Dikta der Forschung zur materiellen Abhängigkeit alter Menschen in der Vormoderne vor Augen hält. Bettler treten bei der Gruppe der alten Menschen überhaupt nicht in Erscheinung. 256 Alte Frauen Der auffallend hohe Anteil männlicher Suizidenten im Leichenbuch der Dresdner Anatomie könnte aber auch noch auf eine weitere Ursache zurückzuführen sein. Zu vermuten wäre vor dem Hintergrund von Konflikten um die Verwendung von Leichen in der Anatomie eine stärker ausgeprägte Rücksichtnahme gegenüber alten Frauen. Gegen diese Vermutung spricht allerdings, dass ihr Anteil an den alten ‚Selbstmördern’, die das Leichenbuch verzeichnet, in Relation zum allgemeinen Geschlechterverhältnis nicht signifikant sinkt. Das Leichenbuch lässt zumindest den Schluss zu, dass sich alte Frauen oftmals in Lebensverhältnissen befunden haben, die denen von Auszüglern glichen. Sie waren tendenziell vergleichbaren Abhängigkeiten ausgesetzt. Daher ist die Aussagekraft der Kategorie Auszügler zu relativieren, denn die Fälle alter Frauen, die sich das Leben nahmen, deuten darauf hin, dass sie sich mitunter aus ähnlichen sozio-ökonomischen Gründen getötet haben wie Männer, allerdings mit deutlich geringerer Häufigkeit. Unter den 16 Suizidentinnen im Leichenbuch, die mit Sicherheit älter als 55 Jahre waren, ist nur in drei Fällen durch kurze Anmerkungen belegt, dass die Ehegatten noch lebten. Sechs alte Frauen wurden explizit als Witwen bezeichnet. In den übrigen Fällen ist aufgrund der vermerkten Eigenschaften davon auszugehen, dass sie alleinstehend waren. Witwen und alleinstehende Frauen waren zwar prinzipiell strukturell Arme, doch zeichnete sich insbesondere der Witwenstand in der Frühen Neuzeit durch eine erhebliche Bandbreite an Positionierungen im sozialen Raum aus, sodass nicht ohne Weiteres vom Witwenstand auf materielle Bedürftigkeit oder Ähnliches geschlossen werden kann. 257 256 In Elke Schlenkrichs Analyse der Insassen des Dresdner Lazaretts im 18. Jahrhundert treten ebenfalls erstaunlich wenige Bettler und Almosenempfänger in Erscheinung; S CHLENKRICH , Sterbestroh, S. 91 ff. 257 Über Witwen in der Frühen Neuzeit informiert differenziert I NGENDAHL , Witwen. Dagegen noch B ORSCHEID , Geschichte, S. 237 ff. Im Anschluss an Borscheid und Claudia Ulbrich (Dies.: <?page no="367"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 356 Einige nähere Informationen zu Selbsttötungen alter Frauen sind im Leichenbuch und in parallelen Überlieferungen in den Akten der Landesregierung enthalten, die die individuellen Lebensumstände ein wenig erhellen. Im September 1799 stürzte sich beispielsweise die verwitwete Hospitalinsassin Johanna Christiane Reicheltin in den Freiberger Hospitalteich. Wie groß ihre Angst vor diesem Weg gewesen sein muss, den sie dennoch beschritt, lässt sich möglicherweise aus dem Umstand erahnen, dass sie ihren letzten Weg mit verbundenen Augen ging. 258 Der Landesregierung war diese Meldung lediglich die Replik wert, doch in zukünftigen Berichten auf Stempelpapier zu verzichten. Dagegen erwecken die Berichte der Lokalbehörden über Selbsttötungen alter Menschen oftmals den Eindruck von Mitgefühl ob der Gebrechen des Alters und einer Lebenssituation, die sehr häufig auch von Einsamkeit geprägt war. 259 Nähere Hintergründe einer Selbsttötung verraten die Quellen auch zu folgendem Fall: Am 14. März 1804 fand man Johanna Charitas Schützelin, von der es heißt, sie sei 58 oder 59 Jahre alt gewesen, erhängt in ihrer Freiberger Wohnung. Ihr Abschiedsbrief, von dem in den amtlichen Quellen die Rede ist, blieb nicht erhalten. Der Inhalt wurde jedoch im Amtsbericht erwähnt, denn der Schreiber des Leichenbuches vermerkte auf der Grundlage dieses Berichts einige Hintergrundinformationen. Ein Kanonier soll die Schützelin, den Angaben in dem Abschiedsbrief zufolge, erpresst haben. Er habe damit gedroht, öffentlich zu denunzieren, dass sie ihn mit Gonorrhoe angesteckt hätte. Die Schützelin hatte wohl in ihrem Abschiedsbrief angegeben, dass der Geschlechtsverkehr ihrerseits nicht freiwillig erfolgt war, denn in den Aufzeichnungen des Zwischen Resignation und Aufbegehren. Frauen, Armut und Hunger im vorindustriellen Europa, in: Gabriele Klein/ Annette Treibel (Hg.): Begehren und Entbehren. Bochumer Beiträge zur Geschlechterforschung, Pfaffenweiler 1993, S. 167 ff.) spricht A MMERER , Versorgung, S. 176 von einer ‚Feminisierung der (Alters-)Armut’ in der Frühen Neuzeit. Beispiele für Kursachsen, allerdings vor dem hier betrachteten Zeitraum, auch bei B RÄUER , Mentalität, passim. 258 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1433 und 10079, Loc. 30736 Vol. V., o. Pag., Bericht vom 16. September 1799. 259 Vgl. S CHREINER , Glück, S. 207 ff. zu den zeitgenössischen Debatten über den allgemeinen Zusammenhang von Einsamkeit und Melancholie und über die hier vorgestellte Situation von Alterseinsamkeit hinaus zur zeitgenössischen Bewertung von Personen, die die Einsamkeit suchten, und sich somit in einen Gegensatz zum ‚geselligen Zeitgeist’ stellten. Hierzu auch W ATT , Death, S. 116 Anm. 155 mit dem Verweis auf: Paolo Bernardini: Solitudine, malinconia e loro esiti ‘esiziali’ nel Settecento tedesco. Alcune linee di ricerca, in: Atti dell’Accademia Ligure di Scienze e Lettere, 51 (1994), S. 321 ff.; dort wie auch bei Schreiner vor allem zum Werk von Johann G. Zimmermann und Literatur hierzu. Mit einem Beispiel eines Suizids aufgrund von Altersgebrechen und Furcht vor Einsamkeit L IND , Selbstmord, S. 255 f. <?page no="368"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 357 Leichenbuchs ist von Notzucht die Rede. 260 Eine mögliche Schwangerschaft wurde im anatomischen Theater überprüft, konnte jedoch nicht festgestellt werden. Nimmt man die wenigen Informationen über die Schützelin zusammen, könnte sie sich erhängt haben, um ihre sexuelle Ehre zu verteidigen, wie dies auch in anderen Fällen vermutet wurde bzw. vorkam. Ob dies als Motiv gelten kann, will ich hier nicht näher diskutieren. Der Fall Schützelin illustriert allerdings, dass aus der bloßen Feststellung eines bestimmten Alters und altersbedingter Lebensumstände keine vorschnellen Schlussfolgerungen auf Suizidursachen gezogen werden sollten, denn die Situation, in der sich die Schützelin befand, war vielleicht eher altersunspezifisch. Residenzprofile: Militär, Adel, Bürger Der zumindest auffällige Anteil von Angehörigen des sächsischen Militärs (s. u. Abb. C.8-9) spiegelt den Charakter Dresdens als Residenz- und Kasernenstadt. Das Militär war durch spezielle Erlasse zur Ablieferung von Leichen an die Dresdner Anatomie aufgefordert. Potenzielle Widerstände und tatsächliche Widersetzlichkeiten sind zwar prinzipiell denkbar. Allerdings sind sie mir in den Quellen nicht begegnet und es wäre noch im Einzelfall zu überprüfen, ob und welche betroffenen Soldaten in nichtmilitärische soziale Kreise vor Ort, etwa durch Heirat, eingebunden waren. 261 In solchen Fällen hätte sich zumindest Widerstand gegen eine Ablieferung mobilisieren lassen. Insgesamt lässt sich das Suizidgeschehen im sächsischen Militär nur in Schlaglichtern konkretisieren, weil detailgenaue Untersuchungen derzeit nicht vorliegen - Ansätze dazu habe ich anderer Stelle aufgezeigt. 262 Zu erwähnen sind hier noch die abgedankten Soldaten, von denen das Leichenbuch immerhin zwölf nennt. Deren trauriges Ende verweist auf die prekären Lebensverhältnisse abgedankter Soldaten. 263 Der Vergleich der sozialen Status im residenzstädtischen Raum lässt eine Unterrepräsentierung bürgerlicher und adliger Gruppen vermuten, weil diese wegen der nach sozialem Stand differenzierten Dispensregelungen weniger häufig oder gar nicht von der Ablieferung an die Anatomie betroffen waren. Es wird ein angeblicher Adliger erwähnt, der sich in der Haft das Leben genommen 260 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1616. 261 Dazu jetzt umfassend K ROLL , Soldaten, Kap. 3.3, S. 220 ff. 262 K ÄSTNER , Desertionen. 263 Vgl. im Anhang I.2. Erste Ansätze zu diesem Thema finden sich in B RETSCHNEIDER , Gesellschaft; K ROLL , Soldaten. Sowohl das Leichenbuch der Anatomie als auch das Leichenregister des Dresdner Lazaretts listen jeweils eine Vielzahl von Personen auf, die entweder selbst einmal im Militär gedient hatten oder zumindest als Angehörige bzw. Hinterbliebene ehemaliger Soldaten bezeichnet werden. <?page no="369"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 358 hatte. 264 Unter allen anderen Leichen, die zur Dresdner Anatomie kamen, finden sich nur drei weitere Adlige, die eines natürlichen Todes gestorben waren und die allein aufgrund völliger Verarmung und Vereinsamung ihr Begräbnis finanziell nicht abdecken konnten, weswegen ihre Leichen zur Anatomie gebracht wurden. Bedenkt man die vergleichsweise hohe Adelsdichte in Dresden, ist davon auszugehen, dass Adlige prinzipiell nicht von der Ablieferung an die Anatomien betroffen waren. Die Leichenmandate hatten Dispense für Honoratioren normativ verankert - allerdings wurde in 23 Einträgen der Status von Suizidenten als Bürger und in einem Fall sogar ein Bürgermeister verzeichnet. Während sonst mehrere Merkmale kombiniert auftreten mussten, die die Betroffenen „an den ‚unteren Rand’ der jeweiligen Gruppen setzten und somit die Ablieferung rechtfertigten“, 265 wurden ‚Selbstmörder’ weniger abhängig vom sozialen Status an die Anatomie abgeliefert. Hier wäre eine Parallele zu verurteilten Kriminellen zu sehen, für die es grundsätzlich keine Dispense geben sollte. Abb. C.8-9: Anteil der Personen, denen eine Tätigkeit zugeordnet werden konnte, an den Suizidenten in den Registern der Dresdner Anatomie; ∑= 281. 266 628 11 115 61 34 26 0% 50% 100% Sonstige (26) Militär (34) Gesinde/ Hilfskräfte/ Tagelöhner (61) Handwerk/ Handel/ Gewerbe (115) Bedienstete (11) Bauern (28) Almosenempfänger/ Bettler (6) 264 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086 Leichenbuch, Nr. 776 und 1699. 265 S TUKENBROCK , Cörper, S. 78. 266 Die Gesamtzahl der Abbildung C.8-9 erfassten Personen ist geringer als die Anzahl aller verzeichneten Suizidenten, weil zu 61 Personen überhaupt nichts weiter bekannt ist und zu weiteren 136 Personen für den hier verfolgten Zweck keine verwertbaren Informationen aufgeschrieben wurden. <?page no="370"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 359 Stadt-Land-Verhältnisse: Bauern, Hufner, Handwerker Die Register der Dresdner Anatomie weisen 20 Selbsttötungen von Bauern aus und weitere vier von Bauernehefrauen, drei von Bauernsöhnen und eine Selbsttötung einer Bauerntochter. 267 Aber ebenso wie es oben kaum möglich war, genauere Informationen über die Besitzverhältnisse alter Menschen aus den mir vorliegenden Quellen zu erhalten, berichtet das Leichenbuch nichts über die wirtschaftlichen Umstände der Bauern (-angehörigen) vor ihrer Selbsttötung, die man als suizidauslösende Faktoren berücksichtigen könnte. Weiterhin erschwert die Tatsache, dass in der Gruppe der Bauern alle Altersgruppen der über 20jährigen vertreten sind, eine altersbezogene, übergreifende Interpretation für die gesamte Gruppe. Gleiches gilt für Hufner, Häusler und die Besitzer einer Gartennahrung. Auch hier geraten die genauen Lebensumstände nicht in den Blick. Wiederum ist man auf parallele Überlieferungen angewiesen, um sich dem Leben dieser Menschen zu nähern. Und so ist auf den in der Einleitung dieser Arbeit erwähnten Häusler Peter Lehmann aus Bautzen zurückzukommen, der sich aus Verzweiflung über seine kärgliche materielle Existenz das Leben genommen haben soll. 268 Wenn man die von Karlheinz Blaschke vorgelegten Bevölkerungsanalysen für das vormoderne Sachsen heranzieht, entsprach der Anteil von Häuslern und Gärtnern unter den Anatomieleichen mit etwas mehr als elf Prozent 269 keineswegs ihrem erheblich größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung von ungefähr 30 Prozent im Jahr 1750. Dieser Anteil nahm nach 1800 in Sachsen auf über 45 Prozent zu. 270 Neben Personen, die mit einem eigenen kleinen Stück Land ihr oft kärgliches Dasein fristeten, 271 tritt im Sozialprofil frühneuzeitlicher Suizidenten eine Vielzahl an Handwerkern hervor, vor allem Mitglieder von Massenhandwerken. Dies scheint die zeitgenössischen Vorstellungen von der besonderen Suizidgefährdung von Kleinhandwerkern zu bestätigen, die wegen ihrer gezwungenen Körperhaltungen und beengten Lebensverhältnisse als besonders zum Suizid geneigt galten. 272 So treten unter anderem vier Fleischer, zwei Fleischerburschen, 267 Anhang I.2. 268 Siehe oben Einleitung sowie K ÄSTNER , Mitleid, S. 210. 269 Mit Blick auf die 281 Suizidenten des Leichenbuchs, zu denen Angaben zum sozialen Status vorliegen - s. o. Abb. C.8-9. Davon sind 27 Personen als Häusler und fünf als Gärtner bezeichnet. Hinzu kommen sieben Hufner bzw. Anteilshufner. 270 B LASCHKE , Bevölkerungsgeschichte, S. 190 f. 271 Diese prekären Existenzen waren mitunter auch ein Grund zur Einweisung oder sogar Selbsteinweisung in die landesherrlichen Armen- und Zuchthäuser; vgl. hierzu für Kursachsen die Hinweise in B RETSCHNEIDER , Gesellschaft. 272 Zu diesen Vorstellungen mit zeitgenössischen Beispielen L IND , Selbstmord, S. 209 f. <?page no="371"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 360 vier Fleischhauer und ein Fleischhauermeister in Erscheinung; daneben vier Schneider, ein Schneidergeselle, fünf Schuhmacher, ein Schuhmachergeselle sowie vier Schuhmachermeister; weiterhin vier Hufschmiede, vier Leinweber, drei Maurer, ein Maurergeselle und ein Maurermeister, zwei Bäcker und zwei Bandmacher, aber auch drei Perückenmacher und drei Winzer. Über die Relation der Suizidenten unter den Handwerkern zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung können nur vorsichtige Vermutungen angestellt werden. Volkmar Weiss hat den Anteil von Handwerkerfamilien an der ländlichen Bevölkerung Kursachsens für das Jahr 1780 auf 13 Prozent geschätzt. 273 Über den prozentualen Anteil der in Abbildung C.8-9 unter Handwerk, Handel und Gewerbe zusammengefassten Gruppe an der Gesamtbevölkerung Dresdens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich mangels neuer Forschungen nichts Zuverlässiges aussagen. Den noch immer einschlägigen Ausführungen von Otto Richter zufolge entwickelte sich ihr Anteil äußerst differenziert. Während bspw. die Zahl der Fleischer in ganzen Zahlen und im Verhältnis zur Stadtbevölkerung abnahm, nahm die Zahl der Beschäftigten im Kleidungsgewerbe überproportional zu. 274 Innerhalb der Rubrik Handwerk, Handel und Gewerbe sind ferner 19 Gesellen, elf Meister und vier Ehefrauen von Meistern vertreten. Da von prinzipiell verschiedenen Lebensrealitäten von Meistern und Gesellen auszugehen ist, dürfte auch hier der alleinige Blick auf verdichtete Zahlen kaum die Hintergründe der Selbsttötungen erhellen. Eine Stadt-Land-Differenzierung, die zudem noch eine Differenzierung in das residenzstädtische Milieu Dresdens einerseits und andererseits einzelne kleinstädtische Milieus in der Randlage der Residenz bzw. in den Vorstädten hätte leisten müssen, würde in ganzen Zahlen zu sehr kleinen Untersuchungseinheiten und begrenzten Aussagen von zweifelhaftem Wert führen. Die Ortsangaben im Leichenbuch der Anatomie beziehen sich häufig auf den Amtssitz der berichtenden Instanzen, sodass die Herkunft der Toten nicht immer eindeutig nach Stadt und Land differenziert werden kann. Nur in 29 Fällen ist der Herkunftsort der Toten angegeben, der sich von dem Ort unterschied, an dem sie sich selbst töteten. Auch hier würde eine weitere Differenzierung in Landbevölkerung, die sich nach Zuzug in Städten das Leben nahm, in aufs Land gezogene städtische Bevölkerungsgruppen usw. zu entsprechend kleinsten Einheiten führen, ohne dass sinnvoll übergreifende Befunde herausgestellt werden könnten. Ich habe deshalb auf solche Differenzierungen verzichtet. 273 W EISS , Bevölkerung, S. 108, Tabelle 8. 274 R ICHTER , Verwaltungsgeschichte Bd. 1, S. 212 f. <?page no="372"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 361 Gesinde, Hilfskräfte, Tagelöhner Abbildung C.8-9 weist einen hohen Anteil des Gesindes am Sozialprofil der ‚Selbstmörder’-Anatomieleichen aus. Von den 61 oben unter der Rubrik Gesinde und Hilfskräfte aufgeführten Personen waren 24 Knechte, 18 Mägde und 14 Tagelöhner. Vera Lind hat auf den besonderen seelischen und ökonomischen ‚Stress’ in der Gruppe der Knechte und Mägde hingewiesen, die in der Regel keinen eigenen Hausstand besaßen und sich in einem fremden Haushalt behaupten mussten, und erklärte so die erhöhte Suizidneigung in dieser Gruppe. 275 Gerade durch die Situierung in einem fremden Haushalt ergaben sich für Knechte und Mägde spezifische Konfliktsituationen, vor allem mit ihren Dienstherren. Vergleichbare Argumente ließen sich wohl prinzipiell auch für die Gesellen anführen. Betrachtet man die Hintergründe von Selbsttötungen innerhalb dieser Gruppe etwas genauer, wird man sowohl geschlechterals auch altersdifferenziert argumentieren müssen. MacDonald und Murphy gehen beispielsweise davon aus, dass adoleszente Mädchen als Dienstmägde stärker suizidgefährdet waren, weil sie, oftmals unehelich und ohne reale Möglichkeit sich zu verweigern, von ihren Dienstherren geschwängert wurden. 276 Leider liegen die quantitativen Daten in ihrer Studie nicht nach Geschlechtern und in der Relation mit der beruflichen bzw. sozialen Situation vor, sodass die These nicht überprüft werden kann. Zumindest für die Gruppe der unter 20-jährigen Frauen/ Mädchen ist aber anhand der vorliegenden Daten für Sachsen nicht ohne Weiteres auszumachen, dass uneheliche Schwängerungen durch Dienstherren ein besonders auffälliger Selbsttötungsgrund für Mägde gewesen sind. Ich konnte lediglich zwei schwangere Mägde nachweisen. Diese waren aber entweder älter als 20 Jahre bzw. ist in einem Fall kein Alter angegeben. Von diesen beiden Fällen ist auch nur in einem Fall nachweisbar, dass die Magd, es handelt sich um eine gewisse Maria Gehlofin, die sich 1748 erhängt hatte, durch einen Sohn ihres Dienstherrn geschwängert worden war. Die Zeitgenossen sahen darin ausdrücklich keine Suizidursache. 277 Gleichwohl könnten (uneheliche) Schwangerschaften Selbsttötungen begünstigt haben, denn es stand nicht nur die sexuelle Ehre der Frauen infrage. Vielmehr konnte die gesellschaftliche Stellung insgesamt existenziell bedroht sein. Das Leichenbuch der Anatomie 275 L IND , Selbstmord, S. 209. 276 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 255 f.; siehe auch M AC D ONALD , Bedlam, S. 87 f. Siehe ferner die Beschreibung bei F RENTZEL , Schau=Platz, S. 163, der vom Doppelsuizid zweier Mägde im Mai 1657 berichtet, die sich aus Angst vor einer Vergewaltigung durch Soldaten das Leben genommen haben sollen. 277 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. I., fol. 18. <?page no="373"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 362 weist inklusive der beiden Mägde sechs schwangere Frauen im Alter von 21 bis 34 Jahren aus. Im Fall von Anna Regina Winckler (Wilsdruff 1802) vermuteten die Behörden überhaupt nur einen Suizid, weil sie schwanger war. 278 Bei der schwangeren Johanna Sophia Schneiderin erhellen wiederum Akten der Ephorie Pirna die näheren Umstände. Dort ist zu lesen, dass ihr Ehemann wegen ‚Vernachlässigungen’ seiner Frau im Anschluss an die Untersuchungen zu den Hintergründen ihrer Selbsttötung arretiert wurde. 279 Ob nun allerdings die Schwangerschaft selbst oder die Streitigkeiten mit ihrem Mann Johanna Schneiderin dazu bewegten haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen, ist nicht klar. Beim Alter des Gesindes deuten sich für Sachsen ähnliche Befunde an, wie sie Vera Lind in Differenz zum frühneuzeitlichen England bereits für die Herzogtümer Schleswig und Holstein herausgearbeitet hat. MacDonald und Murphy waren für England ursprünglich davon ausgegangen, dass die hohe Suizidrate vor allem bei den 15 bis 19-jährigen auf deren Status als Knechte bzw. Mägde zurückzuführen sei, genauer auf die damit verbundene soziale Marginalisierung und weitgehende Entrechtung, die sich in umfassender sozialer Isolation und dauerhafter Trennung von den Familien ausdrücken konnte. 280 Wenngleich beide Autoren auch andere Beweggründe, wie etwa ein im Einzelfall zu prüfendes angespanntes Verhältnis zu Stiefeltern 281 anführten, sahen sie doch vor allem in der sozialen Isolation das ausschlaggebende Moment für Selbsttötungen. 282 Vera Lind konnte dagegen auf Basis neuerer Studien zum frühneuzeitlichen Gesindewesen darauf verweisen, dass Mägde und Knechte durchaus den Kontakt zu ihren Familien hielten, weil die Dienstorte oftmals in der Nähe lagen. Zudem habe es auch Möglichkeiten gegeben, sich rechtlich gegen ungerechtfertigte Behandlungen zu Wehr zu setzen. 283 Allerdings widersprechen ihre Argumente nicht zwingend den Thesen und Befunden von MacDonald und Murphy, da diese vor allem mit der Situations-Wahrnehmung von kindlichen und adoleszenten Mägden und Knechten argumentieren. Vera Lind 278 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1557. 279 E PH A P IRNA , Nr. 5422, fol. 27 ff. 280 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 251 ff. 281 Vgl. als ein Beispiel hier den Suizid des 19-jährigen Christian Gotthold Ruppert 1752 in Hohenstein, der u. a. auf das hartherzige Verhalten seiner Stiefmutter zurückgeführt wurde; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 31501. 282 Besonders betont diesen Umstand M URPHY , Childe. 283 L IND , Selbstmord, S. 216. Neben rechtlichen Möglichkeiten verweist Lind auf Diebstahl als eine weitere Möglichkeit, auf empfundene Ungerechtigkeiten durch Dienstherrn zu reagieren. <?page no="374"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 363 argumentierte für den deutschsprachigen Raum, dass das Diensteintrittsalter im Schnitt bereits höher gewesen sei und damit eine Vielzahl der angedeuteten Suizidursachen vor allem in der Gruppe der 21 bis 30-Jährigen zur Geltung kommen. Dies erkläre, so Lind weiter, zum Teil auch die Altersgruppenverschiebung innerhalb ihres Samples. 284 Heranwachsende Damit ist die Analyse des Sozialprofils noch einmal abschließend auf die Altersfrage zurückgeworfen. Der oben beschriebenen, dem biologischen Lebensverlauf entgegen verlaufenden Argumentation folgend sind hier abschließend Selbsttötungen von Heranwachsenden zu untersuchen. 285 Auch hier ist ein vergleichender Blick auf andere Territorien angebracht. In ihren Studien kamen MacDonald und Murphy zu dem Ergebnis, dass die Gruppe der Heranwachsenden zwischen 15 und 19 Jahren unter den Suizidenten im frühneuzeitlichen England deutlich überrepräsentiert war. Die Disproportionen in den englischen Befunden haben MacDonald und Murphy vor allem mit der sozialen Situation der Heranwachsenden, vorrangig mit deren prekären Status als Knechte und Mägde, erklärt. Das wurde bereits oben erläutert. Grundsätzlich aber wäre nach der Repräsentativität ihres Quellensamples zu fragen, denn immerhin liegen in 12.870 (! ) weiteren von ihnen erhobenen Fällen keine Altersangaben vor. 286 Es liegt hier zumindest der Verdacht nahe, dass Selbsttötungen von Heranwachsenden gerade wegen des Alters besondere Aufmerksamkeit erregten und daher bei diesen häufiger die Altersangaben registriert wurden. Immerhin halten es auch MacDonald und Murphy für 284 L IND , Selbstmord, S. 216. Da Lind aber selbst einen Teil der vor allem von Murphy vorgebrachten Argumente zur Erklärung von Suiziden im adoleszenten Gesinde widerspricht, hinkt natürlich ihre Argumentation der Verschiebung von Suizidhintergründen auf spätere Altersgruppen leicht, die für die Gruppe der 21 bis 30-Jährigen Argumente anführen würde, die für die unter 20- Jährigen weitgehend (und mit guten Gründen) verneint wurden. Zudem wäre hier zweitens in Rechnung zu stellen, dass zur Erklärung der Selbsttötungen von Kindern und Jugendlichen entwicklungspsychologische Momente spezifischer Krisen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und vor allem eine noch schwache Ausprägung des eigenen Selbst angeführt werden, die für folgende Entwicklungsstufen und mithin Altersgruppen so nicht ohne weiteres Geltung beanspruchen dürfen. Schließlich gilt es bei dieser Frage zu bedenken, dass es vor allem auf die Wahrnehmung der jeweiligen lebensweltlichen Situation durch Kinder und Adoleszente ankommt, will man über konkrete Anlässe sprechen, sich das Leben zu nehmen. 285 Es ist an dieser Stelle nicht die im Anschluss an Philippe Ariés’ ‚Geschichte der Kindheit’ geführte Debatte über die Begriffe Kindheit und Jugend in der Frühen Neuzeit, deren Semantik und lebensweltliche Realität, nachzuzeichnen. Ich verzichte daher weitgehend auf diese Begriffe, auch wenn ich mir der Problematik durchaus bewusst bin. 286 M URPHY , Childe. <?page no="375"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 364 wahrscheinlich, dass Suizide von sehr jungen und sehr alten Menschen häufiger unter Einschluss von Altersangaben registriert wurden, weil hier das Alter als markierungswürdiger Suizidursachenindikator angesehen wurde. 287 Noch ein weiterer Faktor war juristisch relevant. Bei sehr jungen Menschen wurde ein Tatvorsatz meist ausgeschlossen. Diese Bewertung folgte der Logik des frühneuzeitlichen Strafrechts, welches Menschen in der Regel erst mit dem Erreichen des 14. Lebensjahres als generell straffähig einstufte. Der jüngste im Leichenbuch der Dresdner Anatomie verzeichnete Suizident war der Schulknabe Carl Maßdorf, dessen Alter mit zwölfeinhalb Jahren angegeben wurde. Maßdorf hatte sich im Dezember 1814 vor einem Falkenschlag mit einer Pistole erschossen. Ob es sich hierbei aber eher um einen Unfall handelte, ist in der Rückschau nicht zu beurteilen; das Leichenbuch führt ihn als ‚Selbstmörder’ auf. 288 Völlig ungewöhnlich ist das junge Alter durchaus nicht, 289 blickt man auf vergleichbare Fälle: In Fördergersdorf versuchte sich im Juni 1782 aus Angst vor angedrohten Schlägen der zwölfjährige Johann George Schuster zu erhängen. Der Versuch scheiterte und er sollte für den Suizidversuch mit Ruten gezüchtigt werden. 290 1808 erhängte sich bei Nossen der ebenfalls zwölfjährige Johann 287 M AC D ONALD / M URPHY , Souls, S. 250. 288 Der Eintrag im Leichenbuch lautet: „der sich vor dem falkenschlage durch einen pistolschuß getödet hat“; S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1993. Da bei angenommenen Unglücksfällen oftmals der Passiv verwendet wird bzw. die Formulierung als unglücklicher Todesfall, Unfall oder ‚casus tragicus’ verwendet wird, gehe ich davon aus, dass die Zeitgenossen hier eine Selbsttötung unterstellten. 289 Um allerdings die überlieferten Selbsttötungen von Heranwachsenden besser verstehen zu können, wären wir auf Studien über den Todesbegriff von Kleinkindern und anderen Heranwachsenden bzw. über deren Risikoverhalten in der Frühen Neuzeit angewiesen. Meines Wissens liegen solche Studien bislang nicht vor. Eine Einführung in die Problematik aus psychotherapeutischer Perspektive gibt K ÄSLER -H EIDE , Signale, S. 82 ff. 290 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Landesregierung, Loc. 30951 Vol. I, o. Pag., Bericht des Amtes Grüllenburg vom 1. Juli 1782: „Johann George Schuster, ein kleiner bube von 12 jahren ist nach beygehenden acten Fördergersdorff sub No. 11 fol: 1 sequ. im begrif gewesen, sich zu erhencken, aber noch zeitig genug von seinem kleinern bruder davon abgehalten worden. Die ursache warum dieser kleine unverständige einen so bösen vorsaz vollführen wollen, ist wahrscheinlicher weise, furcht für hunger und schläge, und vielleicht am meisten, mangel an christentum. Daher ich denn auch hauptsächlich dafür gesorget habe, daß dieser knabe noch in die schule geschicket werde. Indeßen scheinet doch dieser kleine taugenichts andern zum abschrecken den Beyspiel eine proportionirte strafe verdient zu haben. Und bleibt es Ew: Chur. Fürst: Durch: erlauchtesten einsicht überlaßen, ob ich etwa diesen knaben coram coetu puerorum ziemlichermaaßen mit ruthen streichen laßen soll.“; das Reskript vom 11. Juli 1782 vermerkt: „du wollest ernannten Schuster, sothanen attentati halber, mit ruthen züchtigen laßen.“ <?page no="376"?> Teil C: Die Implementierung von Normen 365 Gotthelf Voland, der sich vor einer Bestrafung in der Schule gefürchtet haben soll. 291 Das jüngste im Leichenbuch verzeichnete Mädchen ist Rosina Richterin, eine vierzehnjährige Putzmagd, die sich im Juli 1792 in einem Dorfteich ertränkt hatte. 292 Aus anderen Akten sind weitere Fälle bekannt, in denen sich ebenfalls vierzehnjährige Mädchen das Leben nahmen. Anna Christina Thielin erhängte sich 1749 bei Nossen. Ihre Leiche war eine der ersten, die an die Anatomie in Dresden abgeliefert wurden. 293 Die vierzehnjährige Tochter eines Dresdner Gärtners ertränkte sich im Januar 1765 aus Scham und Furch vor den Eltern, nachdem sie zuvor in alkoholisiertem Zustand geschwängert worden war. 294 Ihr Leichnam ist im Leichenbuch der Anatomie nicht nachgewiesen. Im Juni 1803 ertränkte sich eine gewisse Dorothea Erdmuth, die von ihrem Vater vor ihrem Suizid gezüchtigt worden war, weil sie sich in einer Schenke aufgehalten hatte. Sie hatte zudem mit Selbsttötung gedroht, wenn sie jemals unehelich schwanger würde. 295 Insgesamt ist herauszustellen, dass auch schon sehr junge Menschen versuchten, sich das Leben zu nehmen. Nur zum Teil ist dies mit dem prekären Status einzelner junger Menschen als Magd oder Knecht zu erklären. Lediglich in drei von 17 Fällen der im Leichenbuch verzeichneten Knechte weist die Altersangabe ein Alter unter 20 Jahren aus, bei den insgesamt bearbeiteten Fällen sind es in der Relation noch weniger. Gleiches gilt für die unter 20jährigen Mädchen. Zum überwiegenden Teil sahen die frühneuzeitlichen, erwachsenen Beobachter in einem suizidalen Verhalten Heranwachsender ein Überreagieren auf das erwartete Verhalten von Erwachsenen, insbesondere der Eltern. So taucht in diesem Zusammenhang recht häufig die Vermutung auf, dass Selbsttötungen aus Furcht vor schlechter Behandlung, 296 Schlägen, Bestrafungen usw. begangen 291 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. II, o. Pag., Bericht des Justizamtes Nossen vom 14. Dezember 1808. 292 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10114, Loc. 2086, Leichenbuch, Nr. 1206. 293 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 11237, Nr. 1499, o. Pag. 294 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10024, Loc. 10120/ 6, o. Pag., Bericht des Dresdner Rats vom Januar 1765. 295 S ÄCHS HS T A D RESDEN , 10079, Loc. 30951 Vol. II, Bericht aus Pegau vom 13. Juni 1803 und die folgenden Dokumente. 296 Exemplarisch steht hierfür in den sächsischen Akten der Fall des Bautzener Kaufmannsgehilfen Gustav Adolph Köhler, der sich 1795 im Abtritt seines Dienstherrn erhängte. Köhlers Eltern bezichtigten den Dienstherrn, Schuld am Tod ihres Sohnes zu sein. Umfangreiche Untersuchungen konnten diesen Vorwurf allerdings nicht bestätigen. Der ganze Fall umfangreich in S ÄCHS HS T A <?page no="377"?> Kapitel 8: Der zergliederte ‚Selbstmörder’ 366 worden wären. Auffällig häufig wird im Zusammenhang mit Suiziden Heranwachsender von Streitigkeiten in Familien bzw. von Auseinandersetzungen mit Eltern oder Stiefeltern berichtet. Ältere Darstellungen vermuteten, dass im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte des 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts Kindersuizide signifikant zunahmen, und haben diesen Befund kulturkritisch reflektiert. 297 Für Sachsen kann diese Hypothese nicht bestätigt werden, weil zuverlässige Daten fehlen. Die Erhebungen der Kommerziendeputation belegen eine Zunahme von Selbsttötungen von Kindern im benannten Zeitraum nicht. 298 8.6. Schlussfolgerungen „Die Betrachtung unseres Cörpers ist dasjenige Buch der Natur, welches uns in allen Puncten unsern allervollkommensten, allerweisesten und gütigsten Schöpfer zu erkennen giebet, gegen den es die vollkommenste Liebe, Ehrfurcht und Hochachtung erwecket“. 299 Dieses Zitat Johann Christoph Reinmanns, Anatom der schwarzburgischen Residenz Rudolstadt, steht hier noch einmal exemplarisch für die eingangs skizzierte Entwicklung der Anatomie im 18. Jahrhundert. Zwischen 1700 und 1800 setzte sich die Auffassung durch, die Anatomie sei eine wissenschaftliche Königsdisziplin, die den Menschen zur Erkenntnis des göttlichen Schöpfers führe. Gelehrte propagierten den Nutzen des anatomischen Wissens für das Gemeinwesen. Die neuere Forschung hat indes gezeigt, dass die Zergliederung des menschlichen Körpers einen massiven Eingriff in die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten der frühneuzeitlichen Menschen und ihrer Vorstellungen einer würdevollen Behandlung nach dem Tod darstellte. Die Skizze der institutionellen Ausformung der Anatomie in Sachsen am Beginn dieses Kapitels D RESDEN , 10025, Loc. 6059. Köhlers Leiche wurde wie in Bautzen üblich auf dem außerhalb der Stadtmauern gelegenen Kirchhof des Hospitals zum Heiligen Geist beigesetzt. Über dessen Geschichte informiert nun K OSBAB , Hospitalkirche, insbes. S. 108 ff. 297 D IEUDONNÉ , Kinderselbstmorde. In dieser dreiseitigen Miszelle werden Daten und Thesen der folgenden, seinerzeit viel diskutierten Studie referiert: Johann Ludwig Casper: Über den Selbstmord und seine Zunahme in unserer Zeit, in: Ders.: Beiträge zur medicinischen Statistik und Staatsarzneikunde, Bd