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Umweltgeschichte in der Region

1116
2011
978-3-8649-6272-1
978-3-8676-4321-4
UVK Verlag 
Rolf Kießling
Dietmar Schiersner

An regionalen Fallbeispielen aus Oberschwaben und den angrenzenden Regionen wird diskutiert, in welchem Ausmaß in historischen Zeiten Klimaveränderungen stattfanden und wie die Menschen in der Agrarwirtschaft auf sie reagierten. Die Erschließung der Ressourcen Wald und Moorland werden dabei ebenso behandelt wie die Bewältigung des wachsenden Energiebedarfs. Die Auseinandersetzung mit auftretenden Epidemien, die Wahrnehmung der Außenwelt und der Umgang mit Tieren sind weitere Fragestellungen der Tagungsbeiträge des >Memminger Forums<. Angesichts gegenwärtiger Umweltkatastrophen lohnt der Blick in die Vergangenheit unseres Klimas, um Antworten auf zukünftige Fragen zu finden.

FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Rolf Kießling im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 9 FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 9 Umweltgeschichte in der Region Herausgegeben von Rolf Kießling und Wolfgang Scheffknecht UVK Verlagsgesellschaft mbH Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen. Abbildung auf der Einbandvorderseite: »Schohrenwald« der Memminger Unterhospitalstiftung bei Priemen, Ausschnitt aus einem Plan von Wilhelm Laminit, 1788 (Stadtarchiv Memmingen) Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-86496-272-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2012 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de 5 Vorwort Angesichts des Klimawandels, der Hungerkrisen in Afrika und der Verschmutzung der Ozeane hat die ›Umweltpolitik‹ in der jüngeren Zeit einen hohen Stellenwert erhalten. Diese und vergleichbare Phänomene sowie der Umgang mit ihnen haben aber nicht nur eine Gegenwart, sondern auch eine Vergangenheit; ›Mensch und Umwelt‹ ist ein Thema, das in historischen Zeiten durchaus ähnlich gravierende Einschnitte sichtbar werden lässt - die Pest und das ›Heilige Feuer‹, die ›Kleine Eiszeit‹ und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft, der Raubbau der Wälder durch den Bergbau. Langfristige Beobachtungen lassen darüber hinaus erkennen, dass die Menschen in der Wahrnehmung ihrer eigenen Umgebung als ›Umwelt‹ schon seit langem auch eine gewisse Sensibilität entwickelt haben - sei es in der schonenden Waldordnung oder im Tierschutz. Die 12. Tagung des ›Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte‹ nimmt diese und andere Stichworte auf, um die historische Tiefendimension für die Umweltgeschichte zu schärfen, nicht in weiter Ferne, sondern in der Region, und nicht abstrakt mit Zahlenreihen und Modellen, sondern sehr konkret am Beispielfall vor Ort. Das Feld, das damit bestellt wurde, bietet freilich nur Ausschnitte - zumal nicht alle Referate der Tagung auch in diesem Band vorgelegt werden können. Dennoch sind wir überzeugt, dass damit auch ein Beitrag der Landes- und Regionalgeschichte zur inzwischen breiten internationalen Diskussion um die Umweltgeschichte geleistet werden konnte. Die Abhaltung der Tagung wie die Drucklegung ihrer Ergebnisse verdanken wir wiederum vor allem der Stadt Memmingen, ihrem Oberbürgermeister Dr. Ivo Holzinger und dem Stadtrat, die auch nach 25 Jahren nicht nachlassen, dem Forum eine Heimat zu bieten: Erst ihre großzügige Finanzierung gab und gibt uns erneut die Möglichkeit zum wissenschaftlichen Gespräch und zur Publikation unserer Überlegungen. Ihm an die Seite zu stellen ist dankenswerter Weise die Unterstützung durch die Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim. Mein Dank gilt darüber hinaus selbstverständlich den Autoren, die für die Erarbeitung ihrer Vorträge und die Verschriftlichung ihre Zeit und Arbeitskraft aufgewendet haben. In meinen Dank schließe ich meinen Mitherausgeber Wolfgang Scheffknecht ein, der die zuweilen auch mühevolle Redaktionsarbeit mit mir getragen hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt dem bewährten Team, das daraus erneut ein ansprechendes Buch gemacht hat: Frau Angela Schlenkrich für die engagierte Erstellung des Layouts, Frau Uta Preismesser für die umsichtige verlegerische Betreuung, dem Medienzentrum Memmingen für die sorgfältige Drucklegung. Bonstetten bei Augsburg, im August 2011 Rolf Kießling 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 R OLF K IESSLING Einführung 11 I. Klimageschichte und Wetterbeobachtung H EIDI E SCHER -V ETTER Klimaentwicklung und Gletscherverhalten in Mitteleuropa seit 1500 23 P ETER W INKLER Die Wetterstation Hohenpeißenberg und die Revision seiner meteorologischen Daten 55 H ANS -J ÖRG K ÜNAST In der Früh sehr kalt, nachmittags schön - Augsburger Wetteraufzeichnungen zwischen 1579 und 1588 79 II. Folgen der ›Kleinen Eiszeit‹: Landwirtschaft C HRISTIAN J ÖRG So wir warm sollen han, so komen kelten. Klima, Witterungsextreme und ihre Relevanz für die europäischen Hungerjahre um 1438 111 S TEFAN S ONDEREGGER … der Zins ist abgelon … Aushandeln von Schadensteilungen zwischen Grundherren und Bauern in schwierigen Zeiten der Landwirtschaft 139 III. Wandlungen von Wirtschaftsformen: Wald und Moor G ERHARD I MMLER Probleme der Waldnutzung in Schwaben, dargestellt am Beispiel des Fürststifts Kempten 161 8 K LAUS B RANDSTÄTTER Maßnahmen zur Sicherung der Holzversorgung in der frühen Tiroler Montanindustrie 181 P AUL H OSER Die Donaumooskultivierung und ihre Folgen 205 IV. Umgang mit Seuchen: ›Heiliges Feuer‹ und ›Pest‹ P EER F RIESS Das ›Heilige Feuer‹. Umweltgeschichtliche Aspekte eines medizinischen Phänomens 239 C HRISTINE W ERKSTETTER … eine so gefährlich güfftig und anstekende Krankheit und … warum es die Juden vorzüglich betroffen habe. Zum Seuchendiskurs im 18. Jahrhundert 287 V. Wahrnehmungen: Tiere und Tierschutz B ARBARA R AJKAY Hunde in der Kirche, Schweine auf den Gassen 317 G ERHARD H ETZER Mensch und Tier im Schlachthaus. Über Zustände und Wandlungen im 19. Jahrhundert 353 Autorenverzeichnis 3 79 Nachweis der Abbildungen 38 1 9 Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeine Deutsche Biographie AEM Archiv des Erzbistums München und Freising BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Beih. Beiheft Bü. Büschel DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters FA Fuggerarchiv Frhr. Freiherr FS Festschrift GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HStASt Hauptstaatsarchiv Stuttgart HZ Historische Zeitschrift MGbll. Memminger Geschichtsblätter MGH (SS) Monumenta Germaniae Historica (Scriptores) MInn Ministerium des Innern NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge Pfd. Pfg. Pfund Pfennig RI Regesta Imperii StA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StadtB Stadtbibliothek SuStBA Staats- und Stadtbibliothek Augsburg TLA Tiroler Landesarchiv TLMF Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Veröff. Veröffentlichungen Veröff. SFG Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZGO Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins ZHF Zeitschrift für Historische Forschung ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben ZWLG Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 11 R OLF K IESSLING Einführung Umweltgeschichte, die den Blick in die Vergangenheit mit der Intention betreibt, auch für die Gegenwart und Zukunft Sachverstand und Entscheidungshilfen bereitzustellen, ist derzeit eine boomende Disziplin in der Wissenschaftslandschaft: Nach dem 2004 in Göttingen etablierten Graduiertenkolleg ›Interdisziplinäre Umweltgeschichte‹ wurde jüngst 2009 in München das ›Rachel Carson Center for Environmental Studies‹, eine gemeinsame Einrichtung der Universität und des Deutschen Museums, aus der Taufe gehoben und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung großzügig ausgestattet. Das sind nur zwei Beispiele groß angelegter Initiativen, wie sie derzeit in der Neuorientierung der Universitäten wie Pilze aus dem Boden schießen. Sie lassen fast vergessen, dass die Frage in manchen Fachdisziplinen schon seit geraumer Zeit gestellt wurde. Die Geschichtswissenschaft erhielt ihre Anregungen freilich zunächst eher von außen. Ich nenne hier nur einige Beispiele: Die Historische Klimatologie ist mit Christian Pfisters Monographie zur Schweiz seit 1984 eindrucksvoll präsent 1 - nachdem die Annales-Schule in Frankreich vor allem mit Emanuel Le Roy Ladurie bekanntlich diesen Aspekt bereits in ihr Konzept von der ›Histoire totale‹ aufgenommen hatte. 1988 widmete der unter Leitung von Klaus Fehn historisch-geographisch orientierte ›Arbeitskreis für genetische Siedlungsforschung‹ einen Band dem Schwerpunktthema ›Historische Umweltforschung‹, 2 eine Sicht, der sich auch die stark geographisch ausgerichtete ›Einführung‹ von Helmut Jäger von 1994 verpflichtet sieht. 3 Und 1986 gab der Anthropologe Bernd Herrmann in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft einen Sammelband mit dem Titel ›Mensch und Umwelt‹ heraus, der bereits unter starker Beteiligung von Historikern den Bogen von den Seuchenzügen bis zur Waldnutzung spannte. 4 Seit den 1990er Jahren erweiterte sich der Kreis auf spezifisch historiographische Forschungsinitiativen mit der neuen Fragestellung: Als Beispiele seien aus Göttingen das 1994 1 C HRISTIAN P FISTER , Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 2 Bde., Bern u. a. 1984. 2 Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 6 (1988): Schwerpunktthema ›Historische Umweltforschung‹, hg. von K LAUS F EHN . 3 H ELMUT J ÄGER , Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994. 4 B ERND H ERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt in Mittelalter, Darmstadt 1986 (und weitere Auflagen); vgl. D ERS . (Hg.), Umwelt in der Geschichte. Beiträge zur Umweltgeschichte, Göttingen 1989. R OLF K IE S S LING 12 von Werner Abelshauser herausgegebene Sonderheft von ›Geschichte und Gesellschaft‹ zum Thema ›Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive‹ genannt, das freilich erst mit dem 18. Jahrhundert einsetzt. 5 Der Sammelband des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte des Autorenteams Günter Bayerl/ Norman Fuchsloch/ Torsten Meyer zu den »Methoden, Themen, Potentiale[n]« wagte 1994 dann ebenso einen Blick in die ältere Geschichte 6 wie der 2001 erschienene von Sylvia Hahn und Reinhold Reith über »Arbeitsfelder - Forschungsansätze - Perspektiven«. 7 Bald darauf, 2003, erhoben Wolfram Siemann und Nils Freytag die Umwelt zu »eine[r] geschichtswissenschaftliche[n] Grundkatorie«, 8 und erste historisch orientierte Forschungsberichte wie der von Joachim Radkau in ›Geschichte in Wissenschaft und Unterricht‹ 9 oder Niels Freytag in der ›Historischen Zeitschrift‹ 10 zeigen, dass sich das Thema inzwischen etabliert hat. Immer wieder wird in der Diskussion um den Begriff ›Umwelt‹ auf seine Grundlegung durch den Zoologen Johannes von Uexküll verwiesen, der ihn in den 1920er Jahren - auf die Tierwelt bezogen - so definierte: »Ein jedes Tier bildet den Mittelpunkt seiner Umwelt, der es als selbständiges Subjekt gegenübertritt. Die Umwelt ist erst dann wirklich erschlossen, wenn alle Funktionskreise umschritten sind. Jede Umwelt eines Tieres bildet einen sowohl räumlichen als auch zeitlich wie inhaltlich abgegrenzten Teil aus der Erscheinungswelt des Beobachters. Jedes Tier trägt seine Umwelt wie ein undurchdringliches Gehäuse sein Lebtag mit sich herum.« 11 Auf den Menschen übertragen, lässt sich das verstehen als »Einflussbereich, der vom Individuum gestaltet wird, in den Dinge der Umgebung eintreten, der aber in jedem Falle ein ausschließlich individueller Bereich bleibt und sich zudem 5 W ERNER A BELSHAUSER (Hg.), Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 15), Göttingen 1994. 6 G ÜNTHER B AYERL u. a. (Hg.), Umweltgeschichte - Methoden, Themen, Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 1), Hamburg 1994, Münster u. a. 1996. 7 S YLVIA H AHN / R EINHOLD R EITH (Hg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder - Forschungsansätze - Perspektiven (Querschnitte 8), Wien 2001. 8 W OLFRAM S IEMANN / N ILS F REYTAG , Umwelt - eine geschichtswissenschaftliche Grundkategorie, in: W OLFRAM S IEMANN (Hg.), Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003, S. 7-20. 9 J OACHIM R ADKAU , Literaturbericht Technik- und Umweltgeschichte, in: GWU 48 (1997), S. 479-497, 50 (1999), S. 250-258, 356-384. Den jüngsten Literaturüberblick bietet F RANK U EKÖTTER , Technik- und Umweltgeschichte, in: GWU 61 (2010), S. 518-530. 10 N ILS F REYTAG , Deutsche Umweltgeschichte - Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283 (2006), S. 383-407. 11 J OHANNES VON U EXKÜLL , Umwelt und Innenwelt der Tiere, 2. Aufl. 1921; zit. nach H. J ÄGER , Einführung (Anm. 3), S. 1. E INFÜHR UNG 13 grundsätzlich der Erfahrbarkeit durch andere Lebewesen entzieht«. Freilich ist dies dadurch wesentlich zu ergänzen, dass Menschen über ihre unterschiedlichen ›Weltsichten‹ reflektieren und darüber miteinander kommunizieren können: »Dem Naturalen wird Geschichtsmacht zugebilligt, die Ausrichtung der Rezeption und des Handelns auf sie werden anerkannt«. 12 An der anthropozentrischen Sicht der aktuellen Begriffsverwendung orientieren sich jedenfalls inzwischen alle Definitionsansätze. Nach der knappsten Formulierung ist die Umweltgeschichte »die Erforschung der Wechselwirkung von Mensch und Natur«. 13 Dabei schälen sich in der Diskussion um den zentralen Gegenstand zwei unterschiedliche Forschungsstrategien heraus: ein dezidiert interdisziplinärer Ansatz und eine spezifisch historische Sichtweise. Nur wenige Beispiele seien herausgegriffen: Vom Göttinger Graduiertenkolleg, das sich 2004 unter der Leitung von Bernd Herrmann konstituiert hat, wurde unter dem Titel ›Interdisziplinäre Umweltgeschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa‹ ein umfassender Ansatz entwickelt. Dabei geht es unter den beiden Signa ›Rekonstruktion‹ und ›Rezeption‹ um zwei Aspekte: »Neben der Rekonstruktion der naturräumlichen Voraussetzungen und der historischen Nutzungsmuster in bestimmten Räumen wird dabei gleichrangig der Wahrnehmung von Folgen und Nebenfolgen der Nutzung seit dem Mittelalter nachgegangen.« Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse - Paläobotanik und -zoologie, Klimatologie etc. - sollen als Potentiale begriffen werden, die es kritisch auf ihre Wirksamkeit zu befragen gilt. 14 Der Einschätzung als »historisches Fachgebiet« mit interdisziplinärem Charakter folgen auch Verena Winiwarter und Martin Knoll in ihrer 2007 erschienenen Einführung und positionieren sein Thema als »Interaktionen zwischen Gesellschaft und Natur« im »Umfeld von Geographie, Ökologie, Anthropologie/ Humanökologie und Politikwissenschaften«. 15 Eine engere Sichtweise wird von Frank Uekötter vertreten, der Umweltgeschichte dezidierter als »historische Subdisziplin« versteht, die von einer »gegenwartspolitischen Situation ausgehend das Verhältnis von Mensch und Natur in der Geschichte analysieren möchte« - also die bisherigen Fragestellungen des Faches um einen neuen Schwerpunkt erweitert, »zu dem etwa die Geschichte der Umweltbewegungen, der Energie und der Umweltverschmutzung sowie die Wald- und 12 B ERND H ERRMANN , Umweltgeschichte wozu? Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, in: P ATRICK M ASIUS u. a. (Hg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Göttingen 2009, S. 13-50, hier 14f., 18. 13 N. F REYTAG , Deutsche Umweltgeschichte (Anm. 10), S. 386. 14 Internetauftritt: www.anthro.uni-goettingen.de/ gk/ (zuletzt aufgerufen 22.8.2011). 15 V ERENA W INIWARTER / M ARTIN K NOLL , Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 26-28. R OLF K IE S S LING 14 Forstgeschichte zu rechnen sind«. 16 Diese am 19. und 20. Jahrhundert orientierte Sicht überträgt Reinhold Reith auf die Vormodere, wenn er, ausgehend von den Quellen, die historische Methodik in den Vordergrund rückt und »die Fragestellungen der Umweltgeschichte für die Geschichtswissenschaft« fruchtbar machen will, freilich darin auch einen »wünschenswerten Brückenschlag zu weiteren Disziplinen« erkennt. 17 Hat sich so die Erforschung der Umweltgeschichte zu einem etablierten Teilgebiet der Geschichtswissenschaft mit einem klassischen Themenspektrum entwickelt, so nimmt sie in jüngerer Zeit auch an der kulturgeschichtlichen Erweiterung teil, die auch Bezüge zur Religionsgeschichte, zur bildenden Kunst oder zu gesellschaftlichen Krisenphänomen wie der Hexenverfolgungen herstellt. 18 Erstaunlich selten ist dabei von einem landesgeschichtlichen Zugriff die Rede. Zwar wird selbstverständlich immer wieder das Fallbeispiel gewählt, d. h. der Untersuchungsansatz an konkreten Untersuchungsfeldern entwickelt, doch selten hat die Landesgeschichte selbst darüber reflektiert, inwiefern sie als eigenständige historische Disziplin über spezifische Zugangswege verfügt, am überschaubaren Raum mit der Kombination verschiedener Fragestellungen zu operieren. Dabei liefert schon der Umweltbegriff selbst eine Begründung dafür: Die Einbeziehung des jeweiligen Erfahrungsraums beinhaltet per se eine Begrenzung - für historische Individuen wie Gruppen oder Gesellschaften. Insofern bietet sich die Analyse begrenzter und abgrenzbarer Räume an, vor allem wenn man in die Geschichte zurückgeht. Leider sind die Referate einer vor Jahren abgehaltenen Tagung der bayerischen Landesgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt bis heute nicht im Druck erschienen. Und erst 2009 hat das ›Institut für geschichtliche Landeskunde‹ in Tübingen einen derartigen Weg erprobt: Sönke Lorenz und Peter Rückert benannten ihren Band zu ›Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten‹ mit dem Untertitel ›Zur Umweltgeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit‹. 19 Er kombiniert für den Raum am oberen und 16 F RANK U EKÖTTER , Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 81), München 2007, S. 2. 17 R EINHOLD R EITH , Umweltgeschichte aus der Sicht historischer Methodik, in: G ÜNTER B AYERL u. a. (Hg.)., Umweltgeschichte (Anm. 6), S. 13-20, hier 19. 18 W OLFGANG B EHRINGER u. a. (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit« (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005; W OLFGANG B EH - RINGER , Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 4 2009, S. 173-195. 19 S ÖNKE L ORENZ / P ETER R ÜCKERT (Hg.), Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten. Zur Umweltgeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B: Forschungen 173), Stuttgart 2009; auch er beruht auf einem längerfristigen Forschungsprojekt. E INFÜHR UNG 15 mittleren Neckar mehrere Fragestellungen vom Weinbau und den Getreidekulturen über die Waldnutzung, über die Verwendung des Holzes bis zur Wüstungsforschung und macht dabei den interdisziplinären Ansatz durch die Einbeziehung der Klimageschichte und der Paläobotanik fruchtbar. Die Konzeption der Tagung des ›Memminger Forums‹, die mit dem vorliegenden Band dokumentiert wird, verfolgte einen vergleichbaren Ansatz. Sie war wie immer dezidiert auf die Region und die epochenübergreifende Sicht ausgerichtet, versuchte also erneut, den landesgeschichtlichen Zugriff für die Zeit vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert fruchtbar zu machen. Sie sah sich aber gleichermaßen einem umfassenden Verständnis von Umweltgeschichte verpflichtet - auch wenn sie vorrangig von Historikern bestritten wurde. Sie wollte die verschiedenen Aspekte des Beobachtungsfeldes einbeziehen, Klima- und Seuchengeschichte als exogene Faktoren ebenso berücksichtigen wie die Agrar- und Waldgeschichte; und zudem sollte die Ebene der Wahrnehmung einen eigenen Stellenwert erhalten, beim Diskurs über die Pest ebenso wie für das Verhältnis von Mensch und Tier. Am Anfang des Bandes steht die Klimageschichte: Die Frage, wie sich langfristige Veränderungstendenzen fassen und ob sie sich auch in der Region nachweisen lassen, ist freilich leichter gestellt als beantwortet. H EIDI E SCHER -V ETTER demonstriert den Weg der Glaziologischen Forschung: Vor dem Hintergrund eines permanenten erdgeschichtlichen Klimawandels, der auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist und damit die jüngere, d. h. ›historische‹ Dimension des Klimawandels relativiert, zeigt sie, dass die Gletscherstände einen sehr feinen Maßstab für die Veränderungen im Verlauf des letzten Jahrtausends abgeben, dass sie »Zeugen des Regional- und Lokalklimas« sind. Auch wenn die präzisen Messungsmethoden erst für die jüngste Zeit zur Verfügung stehen und mit ihnen der Beweis für anthropogene Klimaveränderungen in den letzten 50 Jahren geführt werden kann, so werden doch auf diesem Wege auch für die früheren Phasen der Gletschervorstöße etwa des 16. und um die Mitte des 19. Jahrhunderts konkrete Belege für die genauere Einschätzung dessen möglich, was unter dem Sammelbegriff der ›Kleinen Eiszeit‹ subsumiert wird. Ein zweiter Beitrag widmet sich den Messergebnissen, die für die letzten beiden Jahrhunderte mit der Wetterstation auf dem Hohenpeißenberg zur Verfügung stehen. Dass sie für die frühe und kontinuierliche Wetterbeobachtung seit 1781 eine zentrale Rolle spielte, weil ihre Rahmenbedingungen eine seltene Gleichartigkeit aufweisen, ist seit langem geläufig. Umso wichtiger ist es, dass P ETER W INKLER bei der kritischen Überprüfung der Überlieferung der Nachweis gelingt, dass die bekannten Werte der Temperaturreihe korrigiert werden müssen: Denn »dadurch [fällt] der Temperaturanstieg infolge des anthropogen verursachten Klimawandels deutlicher aus als bisher angenommen. Der lineare Temperaturanstieg erweist sich nach der Korrektur als mehr als doppelt so groß wie vorher gemessen.« Diese Einsicht ist nicht nur für den Hohenpeißenberg von Interesse, sondern lässt sich auch R OLF K IE S S LING 16 »zur Beurteilung von langen meteorologischen Beobachtungsreihen anderer Stationen verwenden.« Lokale Wetterbeobachtungen für ältere historische Phasen, bevor die systematischen Datenreihen über Observatorien im 18. Jahrhundert begannen, sind nach wie vor Mangelware. Die ›Klimageschichte‹, die aus derartigen Proxydaten langfristige Veränderungen ableitet, ist darauf umso mehr angewiesen, je weiter sie zurückgreift. 20 H ANS -J ÖRG K ÜNAST präsentiert einen neuen grundlegenden Fund für die Jahre 1579-1588: die Notizen eines Augsburger Bürgers aus einem Schreibkalender, einer literarischen Gattung mit individuellen Notizen, die generell aufschlussreiche serielle Aufzeichnungen enthält. Freilich sind die Angaben des Verfassers noch keineswegs messend, sondern beschreibend, aber sie lassen doch den Schluss zu, dass die grundlegende Klimaverschlechterung des Zeitraums um 1570 tatsächlich auch in Schwaben vor Ort eingetreten ist: Frühe Fröste im Herbst und späte bis weit in den Mai, nur wenige längere regenarme warme Perioden, dagegen häufige nasse Sommer und nicht zuletzt häufige Unwetter belegen nun auch für den Augsburger Raum die klimatischen Bedingungen der vielzitierten ›Kleinen Eiszeit‹, die mit Ernteeinbußen und Hungerjahren Krisenlagen heraufbeschwor. Wie die regionale Klimaveränderung selbst so erweist sich auch die Einschätzung der Folgen nicht gerade als einfach. Krisenszenarien können immerhin erste Zugänge zu diesen Phänomenen öffnen - auch wenn es wünschenswert wäre, die konkreten Konsequenzen für die Agrarwirtschaft, für Fruchtwahl und Anbaumethoden in den verschiedenen Regionen zu eruieren. Die erste der jüngeren Hungerkrisen - nach der zwischen 1314 und 1318 - in der Abfolge der immer dichter werdenden Zyklen von ›Agrarkrisen und Agrarkonjunkturen‹ (Wilhelm Abel) um 1438 fällt in die frühe Phase des Umschwungs nach dem Wärmeoptimum des Hochmittelalters. Die Einbrüche bei der Getreideernte nimmt C HRI - STIAN J ÖRG zum Anlass, den Ursachen dieser paneuropäischen Hungerkrise im Kontext der Klimageschichte nachzugehen. Ausgangspunkt sind die sehr detailliert überlieferten äußerst strengen Winter auch und gerade im süddeutschen Raum sowie die späten Fröste, die sowohl die Weinwie vor allem die Getreideblüte erfrieren ließen und damit einen weitgehenden Ernteausfall nach sich zogen - weit ausgreifende Getreideeinkäufe waren die Folge. Freilich lassen sich die Ursachen bislang erst nach und nach einschränken: Während ein Vulkanausbruch in den Tropen wohl nicht damit zu korrelieren ist, könnte die geringe Sonnenfleckenperiode dieser Zeitspanne eine plausible Erklärung abgeben. Auf jeden Fall zeigt dieses Fallbeispiel die tiefwirkenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen auch für einen noch eher kurzzeitigen Einschnitt in der Klimageschichte. 20 Vgl. H UBERT G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 29-53. E INFÜHR UNG 17 Langfristige Veränderungen in der Landwirtschaft können als Variante dazu verstanden werden, wie S TEFAN S ONDEREGGER an seinem Material, einem Zinsbuch des St. Galler Spitals aus den Jahren 1442-1444, demonstrieren kann. Zeiten ›meteorologischer Stresssituationen‹ (Christian Pfister) mit der Häufung von Wetteranomalien wie Hagel oder Frösten, aber auch außergewöhnliche Dürre oder lang anhaltende Regenperioden, wie sie in diesen Jahren vorherrschten, zogen in dieser Grundherrschaft im Umland der Stadt ein »Aushandeln von Schadensteilungen« nach sich, das offenbar weitgehend auf dem Konsens der Parteien beruhte. Dennoch konnte dieses Verfahren eine verbreitete Verschuldung der Bauern nicht verhindern, die aus der Aufnahme von Krediten resultierte, um die Lücken in den Abgaben finanzieren zu können. Diese Vorgänge belegen, dass die Klimaverschlechterung langfristige soziale und wirtschaftliche Folgen hatte - auch wenn hier zunächst nur Ansätze dafür geboten werden konnten. Eine weitere Sequenz an Beiträgen nimmt sich einige Veränderungen im Nutzungssystem von Land- und Waldwirtschaft vor, und dabei wird auch deutlich, dass diese Aspekte der Umweltgeschichte ihre ganz eigenen Kontexte aufweisen. G ERHARD I MMLER untersucht die Erschließung der großen Wälder im Umland von Kempten durch das Benediktinerstift und seine konkurrierenden Kräfte, die Gemeinden und insbesondere die Bürgerstadt. Dabei zeigt sich ein recht unterschiedliches Muster: Im ›Kempter Wald‹ östlich der Stadt gelang es dem Stift seit dem Spätmittelalter, nach und nach die obrigkeitliche Aufsicht über die Waldnutzung an sich zu ziehen, während die ursprünglich beteiligten bäuerlichen Gemeinden zurückgedrängt wurden und die Stadt nur mehr einen räumlich beschränkten Teil verwerten konnte. Im Gegensatz dazu setzte die systematische Erschließung des westlich Kemptens gelegenen ›Kürnbacher Waldes‹ erst spät im 17. Jahrhundert ein und mündete bald in das merkantilistische Programm der Glashütten. Seit der Wende zum 16. Jahrhundert bestimmte dabei die Durchsetzung des Eigentums als Rechtsfigur die Nutzungsformen, sorgte aber auch über die Forstordnungen für eine zunehmende Sensibilisierung zum Schutz des Waldes vor einer auf Dauer schädigenden Ausholzung. Was sich in dieser Langzeitstudie herauskristallisiert, wird in einem zeitlichen Querschnitt für Tirol an einem entscheidenden Wendepunkt greifbar: K LAUS B RANDSTÄTTER zeigt an der enormen Steigerung des Holzbedarfs durch den Bergbau im 15./ 16. Jahrhundert, wie die Wälder der umliegenden Täler in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die landesfürstlichen Maßnahmen waren von den Gewinnaussichten bestimmt und sie setzten deshalb zunächst auf die Zurückdrängung der Allmenderechte zugunsten der Versorgung des Bergbaus. Auf dessen Höhepunkt an der Wende zum 16. Jahrhundert finden sich in den Waldordnungen aber dann auch Bestimmungen zur »schonenden Bewirtschaftung«, die freilich zu Lasten der Nutzung durch die bäuerlichen Betriebe gingen. Die Diskussion des R OLF K IE S S LING 18 Problems von der Holzknappheit legt offen, dass die Verhütung von verschwenderischem Raubbau als stereotypes Motiv keine Eindeutigkeit beanspruchen kann - auch wenn nicht zu übersehen ist, dass der Holzbedarf des Bergbaus den Waldbestand entscheidend dezimierte und damit die Umwelt grundlegend veränderte. Doch spricht vieles für die Einschätzung, dass die Tiroler Waldordnungen vorwiegend ökonomisch motiviert waren und keineswegs als Vorläufer moderner Umweltgesetze eingestuft werden können. Skepsis durchzieht auch die Studie von P AUL H OSER über die Kultivierung des Neuburger Donaumooses als Beispiel der jüngeren Geschichte bis zum Einsetzen des modernen Umweltbewusstseins. Dieses typische Aufklärungsprojekt gehört bis heute nicht nur zu den aufwendigsten in Bayern, sondern erweist sich als eines der am meisten umstrittenen. Der quellengesättigte Gang durch die verschiedenen Phasen offenbart als neuralgische Punkte nicht nur die Probleme der Finanzierung immer wieder neuer Sanierungspläne, sondern auch grundsätzliche Divergenzen: zum einen die sehr unterschiedliche Einschätzung der ökologischen Folgen, soweit sie die Entwässerung als Voraussetzung für die Kultivierung betraf, zum anderen aber auch die Probleme, die sich aus den anfänglichen Vorgaben für die privaten Nutzungsformen ergaben. Erst die wissenschaftliche Begleitung in der ›Donaumooskulturstation ‹ schuf bessere Bedingungen, die zusammen mit der modernen Agrartechnik eine gewisse Optimierung erzielen konnte. Eine ganz andere Dimension eröffnet der Blick auf die exogenen Faktoren der Seuchengeschichte. Wie zentral Epidemien für die Demographie in ihren historischen Dimensionen waren, ist mit dem zentralen Einschnitt des ›Schwarzen Todes‹ um die Mitte des 14. Jahrhunderts oder den indirekten Auswirkungen der Seuchen im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges immer wieder herausgearbeitet worden. Sehr selten dagegen wurde der Ergotismus, das ›Heilige Feuer‹, thematisiert, der zu den verbreiteten epidemischen Krankheiten der Vormoderne zählt. P EER F RIESS unternimmt es in seinem weit ausgreifenden Beitrag, dadurch Licht in das Dunkel zu bringen, dass er der Frage nachgeht, wie dieses Phänomen mit umweltgeschichtlichen Methoden einzuordnen sei. Er verfolgt zunächst die Ausbreitung der Krankheit und korreliert sie mit dem Angebot der Antoniter, spezielle Spitäler für die Behandlung der Betroffenen einzurichten - und dabei zeigt sich bereits als erstes Ergebnis, dass es sich beim Ergotismus nicht primär um ein mittelalterliches Phänomen handelte. Bei der Suche nach den Erklärungsmustern für das Auftreten der Epidemien stößt Frieß auf ein Ursachenbündel, bei dem zum einen der Klimawandel eine Rolle spielte, zum anderen aber auch die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und die Anbaumethoden - im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Roggenanbaus. Gerade anhand regionaler Fallstudien kann er die komplexen Zusammenhänge überzeugend nachweisen. E INFÜHR UNG 19 Wurden bei den langfristigen Beobachtungen zum Ergotismus die Veränderungen in der Wahrnehmung der Krankheit für ihre gesellschaftliche Einordnung deutlich, so zielt der Beitrag von C HRISTINE W ERKSTETTER vor allem auf diesen Diskurs im Umgang mit der ›Pest‹. Ein lokaler Krankheitsfall in Fellheim bei Memmingen aus dem Jahr 1777 bietet ihr die Chance, die verschiedenen Diskursebenen der Beteiligten auszuloten und in ihrer Verschränkung zu diskutierten: Der Ausbruch einer scheinbar epidemischen Krankheitswelle in einer jüdischen Dorfgemeinde weckte zum einen eine aktuelle Auseinandersetzung mit den latenten jüdischen Stereotypen, spielte sich zum anderen als Strategie der Seuchenbekämpfung sowohl auf der Ebene des Schwäbischen Kreises wie der nahen Stadt Memmingen und der Ortsherrschaft ab und zog gleichzeitig eine unterschiedliche wissenschaftliche Argumentation der Ärzteschaft nach sich - wobei sich als Problemkern schließlich überraschend deutlich die Lage des Judenfriedhofs herauskristallisierte. Der Fall erscheint zudem aufschlussreich dafür, dass der pragmatische Umgang mit der jüdischen Minderheit sich zu dieser Zeit vorwiegend bei der ›Nahperspektive‹ vor Ort durchgesetzt hatte, Aufklärungsdenken bei der Seuchenbekämpfung freilich erst partiell zu Buche schlug. Die Wahrnehmung steht in der abschließenden Sektion noch einmal im Mittelpunkt: zwei Beiträge über den Umgang mit Tieren in der Frühen Neuzeit und im 19./ 20. Jahrhundert thematisieren einen grundlegenden Wandel in der Bewertung dessen, wie sich die Abgrenzung der humanen zur nichthumanen Welt vollzog. B ARBARA R AJKAY setzt bei der Beobachtung an, dass die Bilderwelt in der Frühen Neuzeit die Allgegenwart von Hunden als selbstverständlichen Teil der realen Umwelt wie in emblematischer Sinngebung sichtbar werden lässt. An der zunehmenden Eingrenzung der Spielräume für frei laufende Tiere in der Stadt - streunende Hunde und Schweine auf den Gassen - kann sie zeigen, in welche Richtung der Differenzierungsprozess verlief: Der Anspruch auf die Kontrolle über den öffentlichen Raum ordnete die Tiere nicht nur in den Kontext der Vorstellungen von Hygiene ein, sondern betrachtete sie als Teil der gesamten Natur zunehmend im Sinne eines »nützlichen ›Warenhauses‹ «. Gleichsam die Fortsetzung dieses Denkens und gesellschaftlichen Handelns gegenüber den ›Nutztieren‹, aber auch den Umschlag zum Tierschutz analysiert G ERHARD H ETZER mit seinem Beitrag über die Schlachthäuser. Er verfolgt dabei zum einen den Weg von den - zum Teil recht brutalen - Gewohnheiten im Umgang mit Schlachtvieh bis zu den zentralen Schlachthöfen und bringt zum anderen damit die Entstehung und Entwicklung des Tierschutzgedankens im Kontext von Aufklärung und protestantisch-pietistischer wie katholischer Erziehung zur Ehrfurcht vor der Schöpfung in Verbindung. Dies spiegelt sich ebenso in den ersten staatlichen Vorschriften wie in den Forderungskatalogen der Tierschutzvereine, R OLF K IE S S LING 20 mit denen sich die Behörden seit den 1840er Jahren konfrontiert sahen. Damit wird auch deutlich, dass die immer engmaschigeren Vorschriften der öffentlich kontrollierten kommunalen Schlachthäuser seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Wurzeln stammen, aber auch die Infragestellung des Schächtens nach sich zogen, die freilich in einen ganz anderen politischen Kontext gehörte. Der Versuch, die Breite umweltgeschichtlicher Ansätze sichtbar zu machen, findet bei Tagungen immer eine Grenze in den organisatorischen Vorgaben. Die Konzeption des vorliegenden Bandes war so angelegt, eine Engführung des Themas ›Umweltgeschichte‹ zu vermeiden. Dennoch wären selbstverständlich weitere Themenfelder denkbar: etwa das umfassende Problemfeld Wasser oder der Schädlingsbefall - etwa die Heuschreckenschwärme des 14. Jahrhunderts -, etwa der Umgang mit Abfall und Hygiene in der Stadt - hierzu hat bekanntlich Ulf Dirlmeier schon vor Jahren eine bahnbrechende Studie für das Spätmittelalter vorgelegt. 21 Dennoch hoffen wir, mit einigen wesentlichen Aspekten nicht zuletzt regionaler Ausprägung zur Sensibilisierung der historischen Dimensionen beigetragen zu haben. 21 U LF D IRLMEIER , Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leitungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter, in: J ÜRGEN S YDOW (Hg.), Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte (Stadt in der Geschichte 8), Sigmaringen 1981, S. 113- 150. I. Klimageschichte und Wetterbeobachtung 23 H EIDI E SCHER -V ETTER Klimaentwicklung und Gletscherverhalten in Mitteleuropa seit 1500 1. Ein kurzer Abriss der Klimaentwicklung der Erde Eine kurze Betrachtung der Klimageschichte der Erde 1 zeigt, dass das Klima immer schon großen zeitlichen und räumlichen Schwankungen unterworfen war, und dass Zeitabschnitte mit Eis auf der Erde die Ausnahme darstellen, da mehr als 90 % der Erdgeschichte eisfrei verliefen. Erste Vereisungsspuren können vor etwa 2,3 Milliarden Jahren nachgewiesen werden, aber erst in der letzten Jahrmilliarde wurden mehrere Vereisungsphasen festgestellt, die zum Teil global, zum Teil nur in einzelnen Teilen der Erde auftraten. So gibt es für die Eokambrische Vereisung, die zwischen 750 und 650 Millionen Jahre vor heute auftrat, Indizien auf beiden Hemisphären, 2 dagegen war das Silur-Ordovizische Eiszeitalter vor 440 Millionen Jahren wohl vor allem auf Nordafrika beschränkt. Die Temperaturen während der letzten 650 Millionen Jahre, also etwa seit dem Beginn des Kambriums, lagen überwiegend zwischen etwa 13 °C und 23 °C, 3 erst im Permokarbonischen Eiszeitalter (290 bis 260 Millionen Jahre vor heute) sanken sie auf Werte unter 13 °C, d. h. etwa 2 Kelvin unter dem derzeitigen globalen Mittelwert. 4 Die jüngste große Vereisungsphase der Erde, das Quartär, begann vor etwa zwei Millionen Jahren und führte zu einer merklichen globalen Abkühlung mit - je nach Zählung - etwa zehn Vereisungsphasen. Die Hauptphasen wurden von Penck und Brückner 5 nach Flüssen im Voralpenland wie der Günz, Haslach, Mindel, Riss und Würm benannt. In den anderen Regionen der Erde, in denen diese Kaltzeiten ebenfalls nachgewiesen wurden, bezeichnete man sie gleichfalls nach lokalen geographischen Gegebenheiten, so entspricht der süddeutschen Bezeichnung ›Würm- 1 Eine umfassende, detaillierte Übersicht zu Klimaveränderungen und ihren Ursachen im Verlauf der Erdgeschichte liefert die Homepage der Zentralanstalt für Meteorologie und Geophysik, Wien unter www.zamg.ac.at/ klimawandel (letzter Zugriff am 22.07.2011). 2 C HRISTIAN -D IETRICH S CHÖNWIESE , Klimaänderungen. Daten, Analysen, Prognosen, Heidelberg 1995. S. 113. 3 D ANA L. R OYER u. a., CO 2 as a primary driver of Phanerozoic climate, in: GSA Today 14 (2004) no. 3, doi: 10.1130/ 1052-5173(2004)014<4: CAAPDO>2.0.CO; 2., 2004, S. 6. 4 Zum Vergleich: die derzeitige globale Mitteltemperatur liegt bei 15 °C. 5 A LBRECHT P ENCK / E DUARD B RÜCKNER , Die Alpen im Eiszeitalter, Leipzig 1909. H EIDI E S CH ER -V ET TER 24 vereisung‹ (80.000 bis 10.000 vor heute) in Norddeutschland die ›Weichsel-Periode‹, in der ehemaligen Sowjetunion die ›Valdai-‹ und in Nordamerika die ›Wisconsin- Phase‹. 6 Die globalen Mittelwerte der Lufttemperatur lagen bei 10 °C bis 15 °C, am kältesten war die Riss-Eiszeit (150.000 Jahre vor heute) mit Werten unter 7 °C! Die größte flächenmäßige Ausdehnung der alpinen Gletscher war am Ende der Risseiszeit, sie umfasste im ostalpinen Bereich das Voralpenland bis Kempten, Kaufbeuren oder Rosenheim. Die Gletscher schürften die Seenbecken z. B. des Starnberger Sees oder des Ammersees aus, und die Abflüsse nach dem Schmelzen des Eises prägten das heutige Aussehen der Flusstäler von Lech, Isar oder Inn. Mit dem Ende der Würmeiszeit vor ca. 11.500 Jahren begann die sog. Neo- Warmzeit: die Temperaturen bewegten sich im Bereich von 14°C bis 16°C, das Optimum lag im Holozän zwischen 8.000 und 6.000 Jahren vor heute. Damit sind wir bereits in der Jetztzeit angekommen, beginnend mit dem ›Optimum der Römerzeit‹ vor 2.000 Jahren, gefolgt von der kühlen und niederschlagsreichen Völkerwanderungszeit mit verbreiteten Gletschervorstößen, wieder abgelöst vom ›Mittelalterlichen Optimum‹ zwischen 950 und 1350 und der sich daran anschließenden Abkühlungsphase, die in der ›Kleinen Eiszeit‹ ihren Höhepunkt erreichte. Diese ›neuzeitliche Gletscherschwankung‹ 7 dauerte etwa von 1500 bis 1850 und prägte die Umwelt nicht nur des bereits dichter besiedelten Europas erheblich. Für dieses zweite Jahrtausend neuer Zeitrechnung kann auf die Ergebnisse der ›Historischen Klimatologie‹ 8 zurückgegriffen werden. Diese beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des Klimas in der jüngeren Vergangenheit, konkret in dem Zeitraum, der vor dem Beginn der instrumentellen und damit bereits weitgehend standardisierten Aufzeichnungen von Klimaparametern liegt, also etwa von 1000 bis 1700. In ihrer Methodik basiert die Historische Klimatologie z. B. auf schriftlichen Aufzeichnungen wie Wettertagebüchern oder Belegen von besonderen Ereignissen, die in verschiedener Form dokumentiert sein können: als Bilddokumente, Inschriften in Kirchen, auf Grabsteinen etc. So ergab eine gezielte Suche in Bildquellen - wie z. B. Votivtafeln - nach Hinweisen auf witterungs- oder wetterbedingte Ereignisse im Alpenvorland während des 17. und 18. Jahrhunderts eine deutliche Häufung von Viehseuchen um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die zwar 6 Vgl. C HR .-D. S CHÖNWIESE , Klimaänderungen (Anm. 2), S. 107. 7 G ERNOT P ATZELT , Die neuzeitlichen Gletscherschwankungen in der Venedigergruppe (Hohe Tauern, Ostalpen), in: Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie 9 (1973) 1-2, S. 5-57. 8 R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 5 und folgende. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 25 nicht direkt dem Wetterablauf zugeordnet wurden, in ihrer Häufigkeit aber durchaus darin begründet sein können. 9 Daneben werden ›Proxydaten‹ aus Ertragsangaben von Wein oder Getreidesorten oder aus Baumringanalysen, Seegefrornissen und Hochwassermarken als physikalische Daten erarbeitet, um verschiedene sich ergänzende, aber methodisch unabhängige Zeitreihen und damit ein breites Datenfundament des Klimaverlaufs aufzustellen. Mit dieser detaillierten Analyse kann sogar untersucht werden, wie Klimaschwankungen in unterschiedlichen Jahreszeiten aufgetreten sind. Glaser zeigt für das Gebiet der (späteren) Bundesrepublik Deutschland anhand von Zeitreihen der Temperatur und des Niederschlags, d. h. der ›klassischen‹ Klimaparameter, die jahreszeitlich unterschiedliche »witterungsklimatische Prägung«. 10 Seinen Grafiken kann man entnehmen, dass die Klimaverschlechterung seit 1500 vor allem durch niedrige Temperaturen im Frühjahr und Herbst charakterisiert war, wogegen das Bild in den Niederschlagsverhältnissen nicht so einheitlich ist. So wechselten kalte und überwiegend trockene Episoden in den Frühlingsperioden von 1600 bis 1700 ab mit überwiegend zu warmen, aber ebenfalls zu trockenen Frühlingsmonaten der Jahre 1700 bis 1750. Insgesamt zeigt die detaillierte Untersuchung von Glaser, dass sich mit den Methoden der Historischen Klimatologie ein sehr differenziertes Bild des Klimas im letzten Jahrtausend für Mitteleuropa ergibt. Wanner 11 erweitert anhand einer Literaturrecherche von Widmer 12 dieses Bild für die ganze Erde und zeigt, dass zwar einerseits die Kleine Eiszeit in allen Teilen der Erde aufgetreten ist, dass die Anomalien von Temperatur und Niederschlag für die verschiedenen Regionen der Erde aber nicht synchron auftraten. Eine Synthese der Ergebnisse der Temperaturveränderung im letzten Jahrtausend liefert die »Hockeystick-Kurve«. 13 Diese zeigt die global gemittelte Durchschnittstemperatur und ihren Unsicherheitsbereich, der Verlauf wurde auf der Basis von indirekten Daten wie z. B. Baumringen oder Eisbohrkernen, d. h. mit 9 Die Recherche erfolgte durch die ›Kommission für die Herausgabe der Deutschen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit‹ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. 10 Vgl. R. G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas (Anm. 8), S. 58f. 11 H EINZ W ANNER , Zum Klimagedächtnis der Gletscher - ein Blick in die Kleine Eiszeit, in: Hallers Landschaften und Gletscher. Beiträge zu den Veranstaltungen der Akademien Schweiz 2008 zum Jubiläumsjahr »Haller300«, Sonderdruck aus den Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 213. 12 R OLAND W IDMER , Globales Ausmaß und Ursachen der Kleinen Eiszeit, Diplomarbeit Geographisches Institut der Universität Bern 2008. 13 M ICHAEL E. M ANN u. a., Northern Hemisphere Temperatures During the Past Millennium: Inferences, Uncertainties, and Limitations, in: Geophysical Research Letters 26 (1999), S. 759-762; J OHANNES O ERLEMANS , Extracting a Climate Signal from 169 Glacier Records, in: Science 308 (2005), S. 675-677. H EIDI E S CH ER -V ET TER 26 den physikalischen Methoden der Historischen Klimatologie bis ca. 1850 ermittelt, danach mit direkten Messungen fortgeführt. Wenn auch manche Details noch nicht endgültig geklärt sind, zeigt der Verlauf der Kurve doch sehr klar, dass es niemals in den vergangenen 1000 Jahren so hohe Lufttemperaturen wie heute gab, sie liegen etwa 1 Kelvin über denen des Hoch- und Spätmittelalters. Was waren die Gründe, die dieses klimatische Wechselspiel verursachten? Von den zeitlichen Skalen ausgehend, muss bei der Betrachtung der natürlichen Klimaschwankungen unterschieden werden zwischen periodischen und unregelmäßigen Ursachen, die zum Teil kurzfristig, d. h. auf der Skala von Jahren bis Jahrhunderten auftraten, zum Teil langperiodisch angelegt waren, d. h. in Zeiträumen von Jahrtausenden über Jahrzehntausende bis Jahrhundertausende wirksam waren. Die im letzten Jahrhundert beobachteten Variationen - soviel sei schon vorweggenommen - entstehen allerdings aus einer Überlagerung von natürlichen und anthropogenen Ursachen, auf letztere wird am Schluss dieses Abschnitts eingegangen. Zu den periodischen Veränderungen, die das Klima steuern, gehört in erster Linie die Änderung der Sonnenstrahlung auf Grund der Variation der Erdbahnparameter. Die Theorie dieser sog. Orbitalschwankungen wurde von Milankovich 14 zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Er unterschied zwischen drei Faktoren: 1) Die Bahnexzentrizität der Erde auf ihrem Weg um die Sonne schwankt mit einer Periode von etwa 100.000 Jahren. 2) Die Neigung der Erdachse ändert sich in einem Zyklus von etwa 41.000 Jahren, und 3) Perihel und Aphel, d. h. die Punkte größter Sonnennähe bzw. -ferne der Erdbahn präzedieren mit einer Periode von rund 21.000 Jahren. Die Überlagerung dieser drei Perioden führt zu einer Variation der auf die Erde (genauer gesagt auf den Rand der Atmosphäre) auftreffenden solaren Strahlung, die rein mathematisch bestimmt werden kann. Wie die Periodenlängen schon nahelegen, sind diese Effekte vor allem bei der Klimaanalyse auf der Skala von zehnbis hunderttausend Jahren zu berücksichtigen. Für die letzte Million Jahre bewirkten sie eine maximale Schwankung des solaren Nettoantriebs zwischen 400 bis 500 W/ m 2 , für die letzten 7.000 Jahre liegt die Variation zwischen 340,5 und 342,5 W/ m 2 . 15 Auf Zeitskalen von Jahrmillionen und länger ist die Lage der Kontinente auf der Erde von Bedeutung für das Klima. Unter dem Stichwort ›Kontinentalverschiebung‹ wurde die Theorie der Wanderung der Erdteile über den Globus von Alfred Wegener 16 formuliert und nach anfänglicher Ablehnung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verbesserter Form von der Wissenschaft anerkannt. 14 M ILUTIN M ILANKOVITCH , Théorie mathématique des phénoménes termiques produits par la radiation solaire, Paris 1920. 15 Vgl. www.zamg.ac.at/ Klima/ Klimawandel (Anm. 1). 16 A LFRED W EGENER , Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, Braunschweig 1922. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 27 Diese Rekonstruktion zeigte, dass in der bereits erwähnten Silur-Ordovizischen Vereisung vor 440 Millionen Jahren der Urkontinent ›Gondwana‹ in der Region des geographischen Südpols lag; er umfasste Südamerika, Afrika und Australien, die arabische Halbinsel, den indischen Subkontinent und die Antarktis. Man geht heute davon aus, dass globale Vereisungen durch die Existenz von Landmassen an einem oder an beiden geographischen Polen begünstigt werden, so dass die inzwischen gut bekannte Landmassen-Verteilung im Lauf der Erdgeschichte bei der Analyse der Klima-Änderungsursachen herangezogen werden kann. Eng verbunden mit der Kontinentaldrift sind dabei auch die Verlagerung von Meeresströmungen und weitere Klimaeinflussfaktoren wie Gebirgsbildung oder Vulkanismus zu sehen. Der zum Teil globale und über mehrere Jahre anhaltende Transport von atmosphärischen Spurenstoffen, die bei Vulkanausbrüchen vor allem in Form von Sulfatpartikeln bis in die Stratosphäre gelangen, bewirkt eine Reduzierung der auf die Erdoberfläche auftreffenden solaren Strahlung und hat somit einen abkühlenden Effekt auf das Erdklima. Die Auswirkungen dieses Prozesses sind auf einer Zeitskala von Monaten bis Jahren wirksam, d. h. sie liegen klimatisch gesehen im ›Subskalenbereich‹, 17 und sie unterliegen keiner Periodizität wie die solaren Klimasteuerungen. Zu den letztgenannten gehört auch die Variation der Sonnenfleckenrelativzahl, die durch die Änderung der Sonnenaktivität verursacht wird. 18 Ist die Sonnenfleckenrelativzahl klein, d. h. treten wenige Flecken auf der Sonnenoberfläche auf, dann liegt die Strahlungsleistung der Sonne niedriger als in Perioden mit hoher Sonnenfleckenrelativzahl. Mit einer hier relevanten Periodizität von ca. elf Jahren ist diese Strahlungsänderung den hochfrequenten Variationen zuzuordnen. Schon hier sei vorweggenommen, dass dieser Effekt eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Kleinen Eiszeit spielte, da insbesondere im Zeitraum von 1645 bis 1715 der Rückgang der Sonnenaktivität (›Maunder-Minimum‹, Einstrahlungsvariation zwischen 340,8 W/ m 2 und 341,6 W/ m 2 ) 19 bei gleichzeitig erhöhtem Vulkanismus das Strahlungsangebot an der Erdoberfläche verringerte und damit die Abkühlungsphase begünstigte. Die bisher genannten Prozesse sind den natürlichen Ursachen von Klimavariabilität zuzuordnen, sie spielen sich in einem weiten Bereich zeitlicher und räumlicher Skalen ab und können sowohl Abkühlungsals auch Erwärmungsphasen zur Folge haben. Dagegen zeigen die Untersuchungen, Messungen und Modellierungen des Klimaverlaufs im 20. und 21. Jahrhundert, dass hier eine deutliche anthro- 17 Nach der klassischen Definition ist Klima der mittlere Zustand der Atmosphäre über einen Zeitraum von 30 Jahren, damit sind alle Vorgänge im Jahresbereich zeitlich unterhalb des Klimabegriffs einzuordnen. 18 Vgl. C HR .-D. S CHÖNWIESE , Klimaänderungen (Anm. 2) S. 123-125. 19 Vgl. www.zamg.ac.at/ Klima/ Klimawandel (Anm. 1). H EIDI E S CH ER -V ET TER 28 pogene Klimabeeinflussung stattgefunden hat, die sich der natürlichen überlagert. Der anthropogene Einfluss liegt vor allem in der Zunahme der Treibhausgase durch die verstärkte Verbrennung fossiler Kohlenstoffe, die über den Treibhauseffekt zu einer deutlichen Erwärmung des Systems Atmosphäre-Kryosphäre- Ozean führt. Dabei ist CO 2 als direktes Produkt der Verbrennung von Kohle und Öl zwar ein wichtiges, aber bei weitem nicht das einzige Treibhausgas. Vor allem der Wasserdampf ist hier anzuführen, der als Folge einer Erwärmung der Ozeanoberflächen verstärkt freigesetzt wird und damit die Wirksamkeit von CO 2 , Methan, Lachgas oder Ozon - um nur die wichtigsten Treibhausgase zu nennen - deutlich verstärkt. Dies ist auch ein Resultat der Analyse von Eisbohrkernen, die in den polaren Regionen der Erde in den letzten Jahrzehnten gewonnen wurden. Die längsten Analysen umfassen dabei einen Zeitraum von mehr als 600.000 Jahren, sie liefern zeitlich hochaufgelöste Informationen zum Temperaturverlauf in dieser Epoche. Im Vergleich zu der Entwicklung der letzten tausend Jahre liegt die Ursache der langfristigen Erhöhung der Lufttemperatur in der Erwärmung der Meere als Folge der Variation der Erdbahnparameter. Im wärmeren Meerwasser konnte weniger CO 2 gebunden werden, was wiederum zu einem CO 2 -Anstieg in der Atmosphäre führte. Die höchsten Werte lagen allerdings immer unter 300 ppmv. 20 In den letzten 100 bis 200 Jahren hat sich der Mechanismus umgekehrt, jetzt steigt zuerst das CO 2 -Äquivalent, also die Summe aller klimawirksamen atmosphärischen Gase, was zu einem Anstieg der globalen Lufttemperatur führt. Derzeit liegt der CO 2 -Gehalt bei 380 ppmv, mit steigender Tendenz. Im Gegensatz zu den natürlichen Ursachen der Klimaveränderung sind diese anthropogenen Einflüsse auf einer Zeitskala von Jahrzehnten bis Jahrhunderten von Bedeutung, in ihrer Klimawirksamkeit und in der sich daraus ergebenden Geschwindigkeit der Temperaturänderung übersteigen sie diejenigen der natürlichen Ursachen deutlich. Das ›Intergovernmental Panel on Climate Change‹ ( IPCC ) 21 , das auch als ›Weltklimarat‹ bezeichnet wird, hat mit Hilfe von Hochrechnungen vor allem die Temperaturveränderungen in diesem Jahrhundert in Abhängigkeit von der Entwicklung der Treibhausgasemissionen modelliert. Diese Entwicklung wird abgeschätzt auf der Basis von sog. Emissions-Szenarien, in die neben den physikalischen Gesetzmäßigkeiten auch Einflussgrößen wie die Entwicklung der Weltbevölkerung, das Wirtschaftswachstum oder auch die Einführung neuer Technologien einfließen. Das für viele Modellierungen häufig benutzte, sog. A1B -Szenario geht dabei von einer relativ gemäßigten Entwicklung aus mit einer ausgewogenen Nutzung von fossilen und nicht-fossilen Energiequellen, trotzdem liefert es eine 20 1 ppmv (part per million volume) entspricht einer Konzentration von 1 Teil auf 1.000.000 Teilchen im Volumen. 21 S USAN S OLOMON u. a. (Hg.), IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), Climate Change 2007. The Physical Science Basis, Cambridge 2007. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 29 Erhöhung der global gemittelten bodennahen Lufttemperatur von mindestens 1,5 Kelvin, maximal 4,4 Kelvin bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, bezogen auf die Werte zu Ende des 20. Jahrhunderts. Diese im Vergleich zu früheren erdgeschichtlichen oder auch historischen Änderungen extrem schnelle und starke Erwärmung ist u. a. durch die lange Verweildauer von bis zu zweihundert Jahren vor allem des Kohlendioxids in der Atmosphäre bedingt; selbst bei einer schnellen und mengenmäßig erheblichen Reduzierung der Emissionen beeinflusst dieses Treibhausgas das Klima noch über viele Klimaperioden. Nicht immer muss aber der menschliche Einfluss zu einer Erwärmung der Atmosphäre führen. Es gab einen Zeitabschnitt zwischen etwa 1950 und 1980, in dem durch die verstärkte Industrieproduktion die Trübung der Atmosphäre deutlich zunahm, was einen abkühlenden Effekt auf das Klima zur Folge hatte. Diese Phase wird als ›Global dimming‹-Periode 22 bezeichnet, sie wurde beendet durch das weltweite Inkrafttreten der Luftreinhaltegesetze, die die Emissionen reduzierten und damit zu einer größeren Durchlässigkeit der Atmosphäre für Strahlung führte. Die Auswirkungen dieses anthropogenen Einflusses auf die Gletscher werden im nächsten Abschnitt noch näher beleuchtet. Mit den Ausführungen über anthropogen bedingte Klimaveränderungen wurde schon vorgegriffen auf mögliche Ursachen von Gletscherveränderungen in der Zukunft, die im letzten Teil dieses Artikels noch kurz diskutiert werden sollen. Zunächst wenden wir uns aber den historisch belegten Klima- und Gletscheränderungen vor allem im Alpenraum zu. 2. Gletscher als Zeugen des Regional- und Lokalklimas 2.1 Historische Befunde Zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Gletschern, Umwelt und Klima in den letzten 500 Jahren werden verschiedene Vorgehensweisen angewandt. Wie bereits unter dem Stichwort ›Historische Klimatologie‹ angesprochen, bedient man sich zum einen naturwissenschaftlicher Methoden wie der Analyse von Eisbohrkernen oder Pollen, zum zweiten werden aber auch historische Berichte von Zeitgenossen in Form von Texten, Bildern und Grafiken herangezogen. Mit Hilfe der Dendrochronologie oder der Lichenometrie werden Moränen datiert und damit Maximalausdehnungen von Gletschern im Gelände festgelegt, diese Datierungen liefern die Grundlage für eine Vorstoß-Analyse vor allem der Gebirgsgletscher. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren es in der Regel auch immer die vorstoßenden 22 A TSUMU O HMURA , Observed decadal variations in surface solar radiation and their causes, in: Journal of Geophysical research 114 (2009), D00D05. H EIDI E S CH ER -V ET TER 30 Gletscher, die das Interesse der Gebirgsbewohner weckten, da diese Vorstöße reale Gefahren für Menschen, Tiere und Vegetation darstellten. So untersuchte Zumbühl 23 anhand von Gemälden von Johann Rudolf Huber (* 1668, † 1748) und Caspar Wolf (* 1735, † 1783) die Ausdehnung der beiden Grindelwalder Gletscher und lieferte damit deren Zungenendlagen für Zeiten, die lange vor dem Beginn der systematischen Gletscheruntersuchungen durch die ›Commission Internationale des Glaciers‹ im Jahr 1894 liegen. 24 Bei den insgesamt 32 Ölgemälden von Gletscherlandschaften aus der Zentralschweiz hat Wolf allein achtmal den Unteren Grindelwaldgletscher in seiner Vorstoßphase um 1774 wiedergegeben, die Darstellung der in viele Eistürme zerfallenden, bläulich schimmernden Zunge zeigt eine sehr genaue Naturbeobachtung durch den Künstler. Noch früher sind diese Zungenpositionen für den Vernagtferner, einen der großen Gletscher der Ostalpen, bekannt. Am Weißkamm im inneren Ötztal (Österreich) gelegen, sind während der Kleinen Eiszeit mehrere Vorstöße dieses Gletschers überliefert 25 , während derer er mit seinen Eismassen das Quertal absperrte, was zur Bildung von eisgestauten Seen führte. Diese Maximalausdehnungen des Vernagtferners sind gut dokumentiert, viele Angaben entstammen den Kirchenbüchern des Bistums Bozen, zu dem das südliche Ötztal damals gehörte. So schildert Nicolussi 26 anhand früher Skizzen die Ausdehnung des Vernagtferners im 17. Jahrhundert, er diskutiert auch das früheste bekannte Dokument, die ›Augenscheinkarte‹ der Gletscherzunge und des von ihr aufgestauten Sees aus dem Jahr 1601, angefertigt vom Hofbauschreiber Abraham Jäger, die sich heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum befindet. 27 Bereits 80 Jahre später erfolgte ein zweiter Vorstoß mit Seebildung, dem ein dritter um 1770 folgte. Von letzterem existiert eine hervorragende textliche und bildliche Beschreibung durch den Wiener Jesuiten und Professor der Mathematik Joseph Walcher (* 1719, † 1803) unter dem Titel ›Nachrichten von den Eisbergen in Tyrol‹. 28 Walcher war nach dem Studium der Theologie, Mathematik, Mechanik und Hydraulik von 1773-1783 ›Navigationsdirektor am Donaustrom‹ und hatte seit 23 H EINZ J. Z UMBÜHL , »Der Berge wachsend Eis …«. Die Entdeckung der Alpen und ihrer Gletscher durch Albrecht von Haller und Caspar Wolf, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern NF 66 (2009), S. 105-132. 24 F RANÇOIS -A LPHONSE F OREL , International Commission on Glaciers, Les variations périodiques des glaciers, discours préliminaire. Archives des sciences physiques et naturelles, Vol. XXXIV, Geneva 1895, S. 209-229. 25 H ERIBERT M OSER u. a., Abfluss in und von Gletschern. GSF-Bericht 41/ 86, Teil I, 1986, S. 11. 26 K URT N ICOLUSSI , Bilddokumente zur Geschichte des Vernagtferners im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie 26 (1990), S. 97-119. 27 TLMF FB 7218; vgl. K. N ICOLUSSI , Bilddokumente (Anm. 26), S. 98 und Tafel 1. 28 J OSEPH W ALCHER , Nachrichten von den Eisbergen in Tyrol, Frankfurt u. a. 1773. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 31 1797 die Lehrkanzel für Mechanik und Hydraulik der Theresianischen Ritterakademie in Wien inne. Vermutlich durch seine Stellung als Navigationsdirektor entstand sein berufliches Interesse an den Gletschern und vor allem am Vernagtferner, denn er unternahm selbst die Reise von Wien nach Vent und bekräftigt mehrmals, dass er nur das in seinem Buch wiedergebe, was er selbst gesehen und gehört habe. 29 Deshalb kann man davon ausgehen, dass seine realistische Darstellung der in viele Blöcke zerfallenen Gletscherzunge seiner eigenen Anschauung entspringt. In dieser Radierung erreicht das Eis den Talboden auf rund 2.200 m Meereshöhe 30 und bildet einen See, der aus den Schmelzwässern der dahinterliegenden Gletscher, d. h. vor allem von Hochjoch-, Hintereis- und Kesselwandferner gespeist wird. Diese Situation wird auch in einem der insgesamt 20 Blätter des ›Atlas Tyrolensis‹ klar wiedergegeben. Abb. 1: Auszug aus dem ›Atlas Tyrolensis‹ von Peter Anich und Blasius Hueber mit dem Gebiet des Rofentals und der Lage des Gletschersees unterhalb der Zunge des Vernagtferners (Text ›Vernagt Thal‹). 29 Walcher war auch der erste, der Gletscherschwankungen auf Änderungen des Klimas zurückführte. 30 In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts endet der Gletscher oberhalb von 2.800 m Meereshöhe. H EIDI E S CH ER -V ET TER 32 Der Ausschnitt der Region des Venter Tals (Abb. 1), in dem der Vernagtferner liegt, zeigt die Position des Sees für das Jahr 1774 mit der Angabe Gewester See, So Ano 1678, 1679 und 1681 völlig ausgebrochen und 1771 sich wieder gesamelt. Dieser Ausschnitt ist Teil des gesamten, sehr detaillierten Atlasses von Tyrol, der das gesamte damalige Land Tyrol umfasst und den wir den beiden ›Bauernkartographen‹ Peter Anich und Blasius Hueber verdanken. 31 Anich wurde als Sohn eines Bauern am 22. Februar 1723 in Oberperfuss (Tirol) geboren. Sein umfangreiches mathematisches und astronomisches Wissen eignete er sich als reiner Autodidakt an; Anich begann mit dem Anfertigen von Globen und führte eine erste geodätische Vermessung von Nordtirol und Südtirol in den Jahren 1762 und 1763 durch. Die Veröffentlichung seiner Ergebnisse erlebte er nicht mehr, da er am 1. September 1766 in seinem Heimatort Oberperfuss im Inntal früh verstarb. Seine Arbeit wurde fortgeführt und abgeschlossen von seinem Gehilfen Blasius Hueber (* 1735, † 1814), der wie Anich die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten autodidaktisch erworben hatte und den Atlas im Jahre 1774 fertigstellte. Der letzte Gletschervorstoß mit Seebildung und katastrophalem Ausbruch ist am 14. Juni 1845 dokumentiert, 32 er bildet gleichzeitig die maximale Ausdehnung des Vernagtferner während der letzten 500 Jahre. Als Sebastian Finsterwalder im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine berühmte geodätische Aufnahme des gesamten Vernagtferners machte, endete der Gletscher schon ca. 1.500 m weiter oben im Tal auf einer Meereshöhe von 2.512 m, es waren also schon deutliche Flächen- und vor allem erhebliche Volumenverluste (ca. 30 %) seit 1845 eingetreten. Sebastian Finsterwalder (* 1862, † 1951) war Professor der Geometrie und Mathematik an der TH München und seit 1899 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er gilt auch deshalb als Begründer der ›Alpinen Schule der Gletscherforschung‹, weil er einen Phototheodolit zur Aufnahme eines Messbildes entwickelte, der ihm zu Ehren ›Terrestrische Ausrüstung Finsterwalder‹ ( TAF ) benannt wurde. Dieses Gerät wird bei der Erstellung von Gletscherkarten an der Kommission für Erdmessung und Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften bis in die heutigen Tage eingesetzt. Abb. 2 zeigt die von Blümcke, Finsterwalder, Hess und Kerschensteiner herausgegebene Karte des Vernagtferners von 1889. Mit dieser Karte beginnt die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Vernagtferner. Diese Forschungen werden von der im Jahr 1962 gegrün- 31 H ANS K INZL (Hg.), Peter Anich 1723-1766. Der erste »Bauernkartograph« von Tirol. Beiträge zur Kenntnis seines Lebenswerkes (Tiroler Wirtschaftsstudien 32), Innsbruck 1976. Aus diesem Standardwerk sind zwei besonders wichtige Artikel hervorzuheben: F RANZ H. H YE , Peter Anich und Blasius Hueber: Die Geschichte des »Atlas Tyrolensis«, S. 7-50; H ANS K INZL H., Der topographische Gehalt des »Atlas Tyrolensis«, S. 51-176. 32 M ICHAEL S TOTTER , Die Gletscher des Vernagttales in Tirol und ihre Geschichte, Innsbruck 1846, S. 50. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 33 deten Kommission für Glaziologie (seit 2010 Kommission für Erdmessung und Glaziologie) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betrieben, deshalb werden im Folgenden häufig die Resultate der Vernagtferner-Forschung als Beispiele angeführt. Abb. 2: Der Vernagt Ferner im Jahre 1889; Karte erstellt von Blümcke, Finsterwalder, Hess und Kerschensteiner. H EIDI E S CH ER -V ET TER 34 2.2 Moderne Forschungsansätze Prinzipiell werden drei Methoden unterschieden zur Ermittlung der Flächen-, Volumen- und Massenänderungen von Gletschern: 33 - die bereits erwähnte geodätische Methode, die auf der mittleren Höhenänderung der Gletscheroberfläche basiert, abgeleitet aus dem Vergleich von Kartierungen des Gletschers in mehrjährigem Abstand; - die direkte glaziologische Methode, bei der die Jahresbeträge von Akkumulation, d. h. Massengewinn vor allem durch Niederschlag, und Ablation, also Massenverlust in erster Linie durch Schmelzung, erfasst werden; und - die hydrologisch-meteorologische Methode, welche die Eisvorratsänderung aus der hydrologischen Bilanz von Niederschlag und Abfluss ermittelt und vor allem eine detaillierte, zeitlich hochaufgelöste Analyse der Schmelzwasserproduktions- und Abflussprozesse beinhaltet. Alle drei Methoden liefern direkte Angaben über die Massenänderungen. Am weitesten verbreitet ist aber eine indirekte Messung der Reaktion der Gletscher auf das Klima, und das ist die schon angesprochene Vermessung der Lage des Zungenendes. Obwohl von der Messtechnik her die einfachste Verfahrensweise, ist sie von der Interpretation des Ergebnisses her die schwierigste, da sie die Reaktion des individuellen Gletschers auf die klimatischen Einflüsse darstellt, sie beinhaltet also seine glaziologische Vorgeschichte, seine Flächenbzw. Höhenverteilung und die sich daraus ergebende Gletscherdynamik. Betrachtet man aber größere Gletscherensembles wie z. B. die Gesamtheit der Schweizer oder der Österreichischen Gletscher, dann ergibt sich ein zwar eher qualitatives, aber trotzdem aussagekräftiges Bild: etwa 35 % der alpinen Gletscher stießen zwischen 1880 und 1895 vor, ca. 50 % der erfassten Gletscher verlagerten um 1920 ihr Zungenende talwärts, und wiederum 50 % stießen um 1980 erneut vor. Seit diesem Zeitpunkt ist die Anzahl der vorstoßenden Gletscher in den Alpen praktisch auf Null gefallen. Die im Folgenden geschilderten Ergebnisse der direkten Methoden zeigen, inwieweit die Längenänderung von Gletschern als Klimasignal interpretiert werden kann. Volumenänderungen Mit den photogrammetrischen Aufnahmen von Sebastian Finsterwalder wurde die Grundlage für die Anwendung der geodätischen Methode gelegt, da der Einsatz 33 H EIDI E SCHER -V ETTER , Zum Gletscherverhalten in den Alpen im zwanzigsten Jahrhundert, in: Klimastatusbericht 2001, hg. vom Deutschen Wetterdienst, Offenbach 2002, S. 51-57. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 35 der TAF in mehrjährigen Abständen am gleichen Gletscher den Vergleich der Oberflächen und damit der Volumenverluste oder -gewinne erlaubte. Abb. 3: Volumenänderungen von 15 ausgewählten Ostalpengletschern für den Zeitraum 1889 bis 2000. Abb. 3 zeigt die Ergebnisse dieser Analyse am Beispiel der von der Kommission für Glaziologie bearbeiteten Gletscher. Anhand der hier dargestellten mittleren jährlichen Dickenänderung erkennt man, dass es seit Ende des vorletzten Jahrhunderts nur eine Phase mit Volumengewinnen gab, nämlich in der Zeit von 1950 bis 1980, gekennzeichnet durch die blaue Farbe. Dieser Zeitraum stimmt überein mit der oben angesprochenen Analyse, dass sich die Anzahl der vorstoßenden Gletscher um 1980 deutlich erhöht hat. Vor dieser Phase lagen die Verluste bei den meisten Gletschern in der Größenordnung von 30-80 cm als dem mittleren Dickenverlust pro Jahr; eine Ausnahme stellt der Sulzenauferner im Stubaital dar, der zwischen 1932 und 1950 nur 15 cm im Jahresmittel verlor. Nach mäßigen Gewinnen - maximal 67 cm pro Jahr wurden zwischen 1959 und 1969 für das Waxegg-Kees im Zillertal gemessen - setzte sich die Schwundphase verstärkt fort und führte zu Maximalwerten von 118 cm pro Jahr für den Zeitraum von 1989 bis H EIDI E S CH ER -V ET TER 36 1999 beim Hornkees, ebenfalls im Zillertal. Das bedeutet einen Dickenverlust von fast 13 m für diesen Gletscher in diesen elf Jahren! Die Flächenverluste werden augenscheinlich beim Betrachten der vier mit der TAF aufgenommenen Fotografien des Vernagtferners aus den Jahren 1912, 1938, 1973 und 2003 (Abb. 4). Die Karte dieses Gletschers von 2006 (Abb. 5) zeigt den extremen Rückgang, ja die Teilung des Vernagtferners in zwei völlig getrennte Bereiche. 34 Wir werden später einen analogen Vorgang für die Bayerischen Gletscher kurz ansprechen. Abb. 4: Vier Photographien des Vernagtferners aus den Jahren 1912 (li oben), 1938 (li unten), 1973 (re oben) und 2003 (re unten), alle vom gleichen Standpunkt aus erstellt. Glaziologische Massenhaushaltsbestimmung Die geodätische Methode liefert die längsten Messreihen der Volumenänderungen von Gletschern, aber die zeitliche Auflösung ist mit durchschnittlich einer Dekade relativ gering. Die - allerdings wesentlich arbeitsintensivere direkte glaziologische Methode liefert dagegen bereits Zeitreihen der Massenänderungen mit jährlicher Auflösung. Bei dieser Methode werden alljährlich gegen Ende September die Massengewinne und Massenverluste der Gletscher bestimmt, da in den Alpen zu diesem Zeitpunkt das Massenhaushaltsjahr endet. Dieses setzt sich zusammen aus der sog. Akkumulationsperiode, die etwa von Anfang Oktober bis Ende April/ Mitte Mai andauert und in der ein Massengewinn durch direkten Schneeniederschlag 34 Zum Vergleich: Die Gletscherfläche betrug 1889 11,576 km 2 , 1978 9,55 km 2 und 2006 8,172 km 2 ; www.glaziologie.de/ Vernagtferner (Zugriff am 22.7.2011). K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 37 Abb. 5: Kompositkarte Vernagtferner 2006. oder indirekten Zutrag von Schnee durch Lawinen erfolgt. Dagegen verliert ein Gletscher in der Ablationsperiode durch das Schmelzen von Schnee und Eis an Masse; dieser Zeitraum umfasst bei alpinen Gletschern in der Regel die Monate Mai bis September. Die Bestimmung der Massenumsätze an der Gletscheroberfläche erfolgt punktuell mit Schneeschächten und in das Eis gesetzten Stangen, deren Länge über der Oberfläche zur Bestimmung der Massenänderung verwendet wird. Die Gesamtmassenbilanz für den Gletscher wird als Integral über alle Punktmessungen auf der H EIDI E S CH ER -V ET TER 38 Gletscherfläche berechnet, beim Vernagtferner sind dies derzeit (2010) knapp 40 Pegelmessungen. Für positive Haushaltsjahre gilt, dass nur ein Teil des im Winter gefallenen Schnees im Verlauf des Sommers schmilzt, und dass auch die Eisabschmelzung im Sommer klein genug ist, um ein positives Flächenintegral der Massenänderungen für den Gesamtgletscher zu erhalten. Liegt ein derartiges Analyseergebnis vor, spricht man davon, dass der Gletscher eine positive Massenbilanz aufweist. Schmilzt dagegen im Lauf des Sommers der größte Teil des im Winter gefallenen Schnees und in der Folge auch das apere, d. h. schneefreie Eis, so resultiert dies in einer negativen Massenbilanz. Abb. 6: Massenbilanzreihe des Vernagtferner für den Zeitraum 1964 bis 2009; blaue Balken: Winterbilanz, rote Balken: Sommerbilanz. Die längsten Zeitreihen, die mit dieser Methode ermittelt wurden, liegen für den Alpenraum beim Glacier des Sarennes (Frankreich) vor. Sie gehen zurück bis 1948. Am Vernagtferner beginnt die Serie im Jahr 1964, man erkennt sie in der durchgezogenen Linie der Abb. 6. Wie schon bei Abb. 3 geschildert, wurden in diesen fast 40 Jahren nur wenige Jahre mit positiver Massenbilanz gemessen, diese liegen vor allem im Zeitraum 1965 bis 1968 und 1972 bis 1980. Wie schon erwähnt, kommt in diesem Zeitraum der ›Global dimming‹-Effekt zum Tragen, der über die Verringerung der auf der Erdoberfläche auftreffenden solaren Strahlung die Schmelzung der Gletscher reduzierte. Allerdings waren diese Massengewinne bereits K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 39 Mitte der 1980er Jahre wieder aufgezehrt, und seither wurden nur noch negative Massenbilanzen analysiert, die zu einem Gesamtverlust von 16.000 mm Wasseräquivalent führten. 35 Für den Vernagtferner wurden, ebenso wie für etwa zehn weitere Alpengletscher, zusätzlich die jährlichen Winter- und Sommermassenbilanzen bestimmt 36 - sie sind als blaue bzw. rote Balken in Abb. 6 eingetragen. Dabei ergibt sich die Winterbilanz aus der direkten Messung der Schneeniederschlagsverteilung zu Ende der Akkumulationsphase, die Sommerbilanz berechnet sich aus der Differenz zwischen Jahres- und Winterbilanz des jeweiligen Jahres. Die Ergebnisse am Vernagtferner zeigen, dass die Massengewinne im Winter mit 1.000 mm Wasseräquivalent im Mittel wesentlich kleinere Variationen und praktisch keinen Trend aufweisen im Vergleich zu den Massenbilanzen im Sommer, die einen deutlichen Trend zu immer größeren Verlusten aufweisen. Dieses unterschiedliche Trendverhalten wird bestätigt durch die Massenbilanzanalysen der anderen alpinen Gletscher, für die getrennte Zeitreihen von Winter- und Sommerbilanzen vorliegen. Die Graphik belegt eindrücklich, dass das Gletscherverhalten in den Alpen in den letzten Jahrzehnten in erster Linie vom Abschmelzen im Sommer dominiert wird, nicht durch die Änderung der Niederschläge im Winter. 37 Dagegen sind historische Gletschervorstöße oder -rückgänge, wie bereits ausgeführt, auch in den Alpen mit Variationen im Niederschlagsangebot verbunden. Die Bedeutung dieser Unterschiede für die regionale Ausprägung der Eismassen wird im Folgenden noch erörtert werden. Hydrologisch-meteorologische Methode Am klarsten können die physikalisch basierten Prozesse, die zu Änderungen der Gletschermasse führen, mit der hydrologisch-meteorologischen Methode untersucht werden. Hier stellt man die Bilanzgleichung aus Niederschlag, Verdunstung 35 Da Eis mit 920 kg/ m 3 eine andere Dichte aufweist als Wasser (1.000 kg/ m 3 ), werden Eismassenänderungen für Vergleiche mit Niederschlag oder Abfluss immer als Wasseräquivalente angegeben, also als spezifische Volumina pro Fläche. Einem Eismassenverlust von 1.000 mm Wasseräquivalent entspricht so ein Volumenverlust von 1087 mm von Eis. Schnee weist eine weitaus größere Dichtevariation auf (100 kg/ m 3 bei frisch gefallenem Neuschnee bis 800 kg/ m 3 bei nassem, verfestigtem Firn), hier ist das Wasseräquivalent dementsprechend geringer. 36 H EIDI E SCHER -V ETTER u. a., Four decades of winter mass balance of Vernagtferner and Hintereisferner, Austria: methodology and results, in: Annals of Glaciology 50 (2009), S. 87-95. 37 Dies gilt nicht unbedingt für andere Klimaregionen der Erde, insbesondere sind die Perioden mit Massengewinnen bzw. -verlusten bei tropischen Gletschern nicht so klar getrennt, und auch bei Gletschern in Nordeuropa oder in der Arktis hatten zumindest zeitweise die Winterniederschläge einen deutlich größeren Einfluss auf die Massenbilanz. H EIDI E S CH ER -V ET TER 40 bzw. Kondensation, Gletschermassenänderung und Abfluss auf, d. h. man berechnet die hydrologische Bilanz des Einzugsgebietes. Diese Methode hat die höchste zeitliche Auflösung aller bisher angeführten Vorgehensweisen, sie liegt im Bereich von Tagen bis Stunden. Allerdings benötigt sie für eine genaue Bestimmung von Verdunstungsbzw. Kondensationsbeträgen sehr viele Eingangsparameter, die bei den bisher diskutierten Analysemethoden nicht erforderlich waren. Wenn man nicht über diese Eingangsdaten verfügt, bestimmt man die Verdunstungsbzw. Kondensationswerte durch geeignete Parametrisierungen. 38 Verwendet man jedoch die Energiebilanzmethode, dann umfassen die Eingangsparameter als Minimalausstattung die Komponenten der Strahlungsbilanz, die Lufttemperatur, Luftfeuchte, Luftdruck, Windrichtung und Windgeschwindigkeit, die im besten Fall als langjährige Messreihen vorliegen. Mit diesen Messgrößen kann die Energiebilanz der Gletscheroberfläche direkt berechnet werden, indem man die Strahlungsbilanz und die turbulenten Flüsse 39 für einen gegebenen Ort und Zeitraum bestimmt und anschließend mit geeigneten Methoden auf das Gesamtgebiet extrapoliert. Als Resultat erhält man den Energieumsatz an der Oberfläche, und falls die Witterungsverhältnisse es ergeben, die Schmelzwasserproduktion an der Gletscheroberfläche als Summe einer positiven Bilanz, d. h. einer Bilanz, die Energie zur Oberfläche transportiert. Als Teilkomponenten, die in die hydrologische Bilanz eingehen, liefert diese Methode auch die Verdunstungsbzw. Kondensationswerte. Eine andere, einfachere Vorgehensweise besteht in der Verwendung eines ›Konzeptionellen Modells‹. Dieser Modelltyp stellt geringere Anforderungen an die Eingangsgrößen, weil er bereits mit Lufttemperatur- und Niederschlagsmessungen als Eingangsparameter auskommt, ergänzt durch eine klassifizierte Topographie des Untersuchungsgebietes. Der Nachteil dieser Art von Modellen ist aber, dass sie nicht die einzelnen Komponenten des Energieumsatzes liefern und mit Korrekturfaktoren arbeiten, die in mehreren Iterationsläufen optimiert werden müssen. Die Ergebnisse werden dann mit gemessenen Größen z. B. der Massenbilanz oder des Abflusses über einen Zeitraum von typischerweise mehreren Jahren kalibriert; auf 38 Im meteorologischen Sprachgebrauch spricht man von Parametrisierung, wenn man eine Größe (z. B. kurzwellige Sonnenstrahlung) mit Hilfe einer anderen (z. B. Sonnenscheindauer) berechnet. Dies geschieht in der Regel durch den statistischen Vergleich von gleichzeitig registrierten Serien beider Größen. Die hierdurch gewonnene Regression kann dann auf Zeiträume angewandt werden, in denen die Sonnenstrahlung nicht vorliegt. 39 Als turbulente Flüsse werden die Ströme fühlbarer und latenter Wärme bezeichnet, die aus dem Unterschied von Luft- und Oberflächentemperatur (fühlbare Wärme) bzw. Luftfeuchte und Oberflächenfeuchte (latenter Wärmestrom) resultieren. Stark vereinfacht formuliert, sind sie proportional zu diesen Differenzen, d. h. je positiver die Lufttemperatur ist, desto mehr Energie wird zu der 0 °C kalten Gletscheroberfläche transportiert, und je stärker die Feuchtigkeit der Luft von derjenigen der Oberfläche abweicht, desto mehr kann Eis und Schnee verdunsten bzw. Luftfeuchte auf der Oberfläche kondensieren. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 41 den hierbei gefundenen Optimierungswerten baut dann die Modellierung für weitere Zeiträume auf. Trotz dieser Einschränkungen sind konzeptionelle Modelle in unterschiedlichen Detaillierungsgraden vielfach im Einsatz, bedingt durch die Datenverfügbarkeit im Untersuchungsgebiet. Wir kehren zurück zu den physikalischen Ansätzen. Wie viele Untersuchungen experimenteller wie theoretischer Art 40 gezeigt haben, werden etwa 70-80 % der Schmelze eines Gletschers durch die kurzwellige Strahlungsbilanz verursacht, dagegen liegt der Energieeintrag durch die turbulenten Flüsse nur im Bereich von 20-30 %. Für eine zeitlich wie räumlich detaillierte Modellierung der Schnee- und Eisschmelze auf einem Gletscher bilden deshalb hochaufgelöste Gletscherkarten eine wesentliche Grundlage, da sie sehr genaue Informationen über die Form des Geländes liefern. Sie dienen damit zum einen für die ›Verortung‹ der Ergebnisse, also für die Zuordnung der berechneten Abschmelzraten zu den entsprechenden Stellen im Gelände. Des Weiteren sind räumlich hochaufgelöste Raster mit Hangneigungs-, Hangrichtungs- und Meereshöhewerten für die Berechnung der einfallenden solaren Strahlung notwendig, und das nicht nur für die eigentliche Gletscheroberfläche, sondern auch für die sie überragenden Berge, um lokale Effekte wie z. B. die Abdeckung des natürlichen Horizonts und die damit verbundene Strahlungsverminderung zu berücksichtigen. Diese kann vor allem bei kleinen Gletschern in engen Gebirgskaren eine wichtige Rolle spielen, da hohe Geländeteile als Umrahmung des Gletschers einen intensiven Sonnenstrahlungseinfall auf die Gletscherfläche verhindern. Hat man mit diesen Geländedaten die auf die Gletscheroberfläche auftreffende Strahlung ermittelt, dann muss als nächstes die Absorption der kurzwelligen Strahlung an der Oberfläche, die sog. Albedo, bestimmt werden. Sie beschreibt das Verhältnis von einfallender zu reflektierter Strahlung und weist bei natürlichen, nicht schneebedeckten Oberflächen Werte im Bereich von 0,1 bis 0,3 auf. 41 So reflektiert eine Wiese im sichtbaren Licht etwa 15 % bis 30 % der einfallenden Strahlung, Sandboden etwa 30 %. Schnee und Eis sind die Materialien, die die höchste Bandbreite an Albedo-Werten besitzen: Frischgefallener Neuschnee kann nahezu 100 % der angebotenen Strahlung reflektieren, damit trägt in diesem Fall die Sonnenstrahlung überhaupt nicht zum Energiegewinn der Oberfläche bei. Dagegen kann sehr schmutziger, nasser Firnschnee oder sehr dunkles Gletschereis mehr als 90 % der angebotenen kurzwelligen Strahlung absorbieren, hier ist der Energieumsatz an der Oberfläche vom Strahlungsangebot dominiert. 40 Siehe z. B. M ARKUS W EBER , Mikrometeorologische Prozesse bei der Ablation eines Alpengletschers (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse NF 177), München 2008. 41 R UDOLF G EIGER , Das Klima der bodennahen Luftschicht, Braunschweig 1961, S. 16. H EIDI E S CH ER -V ET TER 42 Trotz dieser Dominanz der Strahlungsumsätze für die Schnee- und Eisschmelze spielt die seit etwa 1950 registrierte Klima-Erwärmung, also der Anstieg der globalen Lufttemperatur, eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung der Gletscher. Die Lufttemperatur in der jeweiligen Region entscheidet nämlich über die Art des Niederschlags, also darüber, wann welcher Anteil des Niederschlags als Schnee oder als Regen fällt. Während im Winter nahezu der gesamte Niederschlag im Hochgebirge (also ab etwa 2.500 m NN) in Form von Schnee fällt, sorgen häufige Schneefälle im Sommer - nach dem Abschmelzen der Winterschneedecke - dafür, dass eine dunkle Gletscheroberfläche von hellem Neuschnee bedeckt wird, was über den Albedo-Effekt zu einer Reduktion der Schmelze und damit zu einer Erhaltung der Gletschermasse führt. Dagegen bewirken häufige Regenereignisse bis in große Meereshöhen, dass dieser ›Strahlungsschutz‹ der Gletscheroberfläche nicht mehr gewährleistet ist. Die dadurch erfolgende stärkere Abschmelzung führt zusätzlich dazu, dass das Eis an der Gletscheroberfläche noch dunkler wird, da Staub und Gesteinsmaterial in den obersten Zentimetern stärker konzentriert werden. Damit sinkt die Eisalbedo immer weiter ab, die Strahlungsabsorption steigt. Und wenn dann Regenfälle im Gesamtgebiet, d. h. bis in die Gipfelregionen, in Verbindung mit hohem Schmelzwasseranfall auftreten, dann führt das im Extremfall zu ähnlichen Hochwasserkatastrophen wie die Ausbrüche der eisgestauten Seen während der Kleinen Eiszeit 42 - allerdings mit gänzlich anderen Ursachen als damals. Damit sind wir beim Abfluss aus einem Gletscher angelangt. Dieser kann zur Kontrolle der Schmelzwasserberechnung benutzt werden, er dient aber auch als unabhängiger, direkter Eingangsparameter der hydrologischen Bilanzgleichung. Allerdings stößt die kontinuierliche Erfassung dieses Parameters in den meisten Gletschergebieten auf Probleme, da die an der Eisoberfläche gebildeten Schmelzwasserbäche in der Regel in mehreren Wasserläufen den Gletscher verlassen, im Gletschervorfeld versickern, sich nicht zu einem Gesamtabfluss vereinigen und damit nicht als solcher registriert werden können. Durch die Geologie des Gletschereinzugsgebietes ist man jedoch am Vernagtferner in der glücklichen Lage, auch diesen Datensatz gewinnen zu können, und so liegt eine nunmehr (Stand 2010) 37jährige praktisch lückenlose Registrierung des Abflusses auf Stundenbasis vor. Die im Jahr 1973 gebaute Pegelstelle, die ›Pegelstation Vernagtbach‹, liegt ca. 1 km unterhalb der Gletscherzunge auf 2.640 m Meereshöhe und erfasst den Abfluss eines 11,44 km 2 großen, derzeit zu 72 % vergletscherten Einzugsgebietes. Neben dem Abfluss werden hier auch der Niederschlag und die weiter oben schon genannten meteorologischen Parameter registriert, die es erlauben, die Abschmelzung am Gletscher mit hoher zeitlicher Auflösung zu modellieren. Mit diesen 42 Im Vernagtferner-Einzugsgebiet nahm in den letzten Dekaden der Regenanteil am Gesamtniederschlag vor allem im Frühjahr deutlich zu. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 43 Registrierungen als Eingangsparameter und den aus den aktuellen Karten entnommenen Geländedaten als topographischer Basis wurde ein kombiniertes Schmelzwasserproduktions- und Gletscherabflussmodell in den 1970er Jahren entwickelt und in den 1990er Jahren weiter ausgebaut, 43 das mit einer Maschenweite des digitalen Geländemodells von 100 m den zeitlich-räumlichen Verlauf der Abschmelzung am Gletscher und den Schmelzwasserabfluss vom Gletscher auf Stundenbasis beschreibt. Abb. 7: Stundenwerte des Abflusses an der Pegelstation Vernagtbach für die Sommermonate der Jahre 1981 und 1991. All diese auf einer zeitlichen Skala von Stunden bis Tagen wirksamen meteorologischen Prozesse kann man sehr deutlich in der Abflussregistrierung von Gletscherbächen erkennen. Sie weisen an sommerlichen Schönwettertagen einen durch die Sonnenstrahlung geprägten Tagesgang auf, der bereits durch kleine Neuschneefälle 43 H EIDI E SCHER -V ETTER , Modelling meltwater production with a distributed energy balance method and runoff using a linear reservoir approach - results from Vernagtferner, Oetztal Alps, for the ablation seasons 1992 to 1995, in: Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie 36 (2000), S. 119-150. H EIDI E S CH ER -V ET TER 44 stark gedämpft wird, ja sogar praktisch zum Erliegen kommen kann. Erst nach dem Schmelzen des Schnees wird diese Tagesvariation wieder beobachtet. Abb. 7 zeigt dies am Beispiel der Abflussregistrierungen der Sommermonate von 1981 und 1991. Ein Neuschneefall am 18. Juli 1981 lässt die Tagesamplitude praktisch verschwinden, und erst im August weist der Abfluss seine typische hochsommerliche Variation wieder auf. Der Vergleich mit 1991 zeigt, dass diese Tagesgänge zehn Jahre später wesentlich ausgeprägter sind, weil das zunehmende Verschwinden der Firnauflage die Rückhaltefähigkeit des Gletschers für Schmelzwasser senkt. Die höchsten Abschmelzraten der letzten fünfzig Jahre wurden im Sommer 2003 nicht nur am Vernagtferner, sondern bei nahezu allen Gletschern im Alpenraum ermittelt. Die Massenbilanz am Vernagtferner betrug -2.130 mm Wasseräquivalent und war damit mehr als doppelt so groß wie in dem bis dahin schlechtesten Gletscherhaushaltsjahr 1990/ 91, das mit Verlusten von -1.080 mm Wasseräquivalent abschloss. Die lückenlose Folge der negativen Massenbilanzen seit 1985 (vgl. Abb. 6) führt in der Summe zu einer Steigerung des Vernagt-Abflusses um mehr als 100 %, d. h. am Ende der ersten Dekade des aktuellen Jahrtausends war der Abfluss im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch als in der Mitte der 1970er Jahre! Dies zeigt auch sehr deutlich die Graphik der Jahressummen (Abb. 8): Der lineare Trend steigt von 1.165 mm Wasseräquivalent zu Beginn der Registrierungen auf nahezu 2.400 mm Wasseräquivalent im Jahr 2009 an. 44 Abb. 8: Jahressummen des Abflusses an der Pegelstation Vernagtbach für den Zeitraum 1974 bis 2010. 44 D ANIEL K ETZER , Statistisch-hydrologische Analyse der Abflusszeitreihe des Vernagtferners, Ötztaler Alpen, für den Zeitraum 1974 bis 2009, Bachelorarbeit, Department für Geographie LMU München 2010, S. 18. 0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 45 Generell kann man festhalten, dass etwa 90 % des Abflusses in den Monaten Juni bis September anfällt, mit Spitzenwerten von 15.000 bis 20.000 l/ s. Im Winter sinken die Werte auf wenige Liter pro Sekunde als Auslaufvorgang des im Gletscher gespeicherten Flüssigwassers. Wie nahezu alle alpinen Gletscher gehört auch der Vernagtferner zum Typus des ›temperierten‹ Gletschers, was bedeutet, dass der Eiskörper ganzjährig (von oberflächennahen Schichten während kurzer Zeiten im Winter abgesehen) eine Temperatur von 0 °C aufweist; damit können Wasser und Eis im Gleichgewicht existieren, da das in Spalten und Mühlen durch den Gletscher laufende Flüssigwasser nicht im Eis gefriert. 2.3 Ergebnisse Alle Methoden zur Analyse der Gletscherveränderungen ergeben übereinstimmend eine Verstärkung des Abschmelzens der Eismassen für die letzten Dekaden. Wenn eine solche Entwicklung weiterhin anhält, werden viele kleine Gletscher im Lauf des 21. Jahrhunderts, vielleicht auch schon in den nächsten 20 bis 30 Jahren verschwinden, und um das Jahr 2100 werden nur noch isolierte Reste der ehemals großen Alpengletscher wie z. B. des Aletschgletschers, des Gepatsch-, Hintereis- oder Vernagtferners existieren. Man kann hier eine Analogie zum Abschmelzen der Gletscher auf der Zugspitze sehen (vgl. Abb. 9). Während des ganzen 19. Jahrhunderts gab es nur einen zusammenhängenden Gletscher auf dem Zugspitzplatt, den Plattachferner. Dieser zerfiel im Verlauf des 20. Jahrhunderts in die drei Teile des Südlichen, Nördlichen und Östlichen Schneeferners, von denen heute (2010) nur noch der Nördliche Schneeferner als ›echter‹ Gletscher angesehen werden kann (mit den Einschränkungen, die noch zu diskutieren sind). Östlicher ebenso wie Südlicher Schneeferner sind praktisch verschwunden. Von dieser Entwicklung ist mit Sicherheit auch der Schwarzmilzferner betroffen, der am Allgäuer Hauptkamm zwischen Hochfrottspitze und Mädelegabel in 2.450 m NN liegt, aber nicht mehr auf deutschem, sondern auf österreichischem Staatsgebiet. Dieser Eiskörper hat in den letzten Jahren stark an Fläche und Masse verloren, er schrumpfte von 10 ha im Jahr 2000 auf 8 ha im Jahr 2010. Es ist zu erwarten, dass dieser Trend bei gleichbleibender Klimaentwicklung auch in den nächsten Jahrzehnten anhalten wird. Allerdings existieren solch kleine Gletscher, wie der Blaueisgletscher am Hochkalter im Raum Berchtesgaden, der Schwarzmilzferner im Allgäu oder der Höllentalferner an der Zugspitze in der Regel in begünstigten Lagen, die eine Prognose ihrer Entwicklung wesentlich schwieriger gestaltet als für größere Gletscher. So zeigt ein Vergleich zwischen dem Südlichen Schneeferner und dem Höllentalferner, dass sie im gleichen Zeitraum deutlich verschiedene Massenverluste erlitten: Im Jahr 1892, also zum Ende des vorletzten Jahrhunderts, war der Südliche Schneeferner mit 85,5 ha der größte der fünf bayerischen Gletscher, die Fläche des Höllentalferners betrug dagegen nur 47 ha. Zu Beginn H EIDI E S CH ER -V ET TER 46 Abb. 9: Die Vergletscherung des Wettersteingebirges um 1856, 1950 und 1992. der 1990er Jahre war der Höllentalferner auf 29 ha geschrumpft, der Südliche Schneeferner bestand jedoch nur noch aus Eisresten mit insgesamt 12 ha Fläche. 45 Dies ist vor allem auf die zusätzliche Akkumulation durch Lawinen auf den Höllentalferner zurückzuführen, und die beschattete Lage der Gletscherfläche im Höllental verringert die einfallende Strahlung erheblich, verglichen mit den Gletschern auf dem Platt, die der Sonne voll ausgesetzt sind. Man muss jedoch andererseits anmerken, dass diese bayerischen Gletscher in Meereshöhen von weniger als 3.000 m NN nur deshalb existieren können, weil sie durch ihre Lage am Alpennordrand insgesamt wesentlich mehr Niederschlag erhalten als z. B. die Gletscher des Ötztals. Man bezeichnet den Alpennordrand deshalb auch als Hochniederschlagsgebiet, die Jahressummen liegen bei etwa 2.000 mm als Mittel für den Zeitraum 1990 bis 2009 an der Station Zugspitze auf 2.960 m NN . Dagegen wurden an der bereits erwähnten Ötztaler ›Pegelstation Vernagtbach‹ in 2.640 m NN nur rund 800 mm Jahresniederschlag als Mittelwert für den gleichen Zeitraum registriert, was trotz eines sicher beträchtlichen Messfehlers vor allem der Schneeniederschlagsregistrierung ein deutlicher Beweis ist für die klimatische Charakterisierung dieser Region als inneralpinem Trockental. 45 Klimaatlas von Bayern, hg. vom Bayerischen Klimaforschungsverbund BayFORKLIM, C. 5.3‚ Neuzeitliche Schwankungen der bayerischen Gletscher, 1996, S. 45. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 47 Exkurs: Regionale Klimamodelle als Basis der Abschätzung der zukünftigen Klima- und Gletscherentwicklung Die besprochenen physikalischen Modelle zur Bestimmung der Massenänderung von Gletschern liefern einen Ansatz für die Berechnung von zukünftigen Änderungen der Gletschermasse auf der Basis von Klimamodellen. Ohne hier zu sehr ins Detail gehen zu wollen, muss man dabei folgende Fakten berücksichtigen: 1. Klimamodelle sind im Prinzip wie Wettervorhersagemodelle aufgebaut, sie berechnen die zeitlich-räumliche Verteilung der meteorologischen Variablen, ausgehend von Anfangs- und Randwerten, für einen bestimmten Zeitraum. Liegt dieser Zeitraum im Bereich von Tagen bis Wochen, so handelt es sich um eine Wetter- oder Witterungsvorhersage, umfasst der Prognosezeitraum mehrere Monate, dann werden damit Jahreszeitenvorhersagen gemacht, und erst bei der Betrachtung von mehreren Jahrzehnten ist man in der Zeitskala des Klimas angekommen, das, wie bereits erwähnt, als der mittlere Zustand der Atmosphäre über einen Zeitraum von 30 Jahren definiert ist. 2. Die Randwerte dieser Klimamodelle werden in der Regel von den im Abschnitt 1 angesprochenen Klimaszenarien geliefert, und die Modellrechnungen erfolgen zunächst immer auf globaler Ebene, d. h. es werden Flächenmittelwerte für die ganze Erde berechnet. 3. Diese globalen Modelle, die typischerweise eine Maschenweite von hundert Kilometern und mehr aufweisen, werden dann auf den regionalen Maßstab (mit vielen zehn Kilometern) und letztendlich auf den lokalen Maßstab im Einige- Kilometer-Bereich verfeinert, wobei letzterer erst bei Gebieten von einigen 1.000 km 2 Fläche verwendet wird, da andernfalls die Rechenzeiten für die Modellierungen zu groß würden. Es hängt nun von der Verfügbarkeit der Daten und der Detailliertheit des Klimamodells ab, in welchem Maße welche meteorologischen, hydrologischen und glaziologischen Prozesse auf welchem Maßstab berücksichtigt werden (können). Dabei steigt der Grad der Komplexität mit der Verringerung des räumlichen Rasters; so werden z. B. Meeresströmungen global modelliert, dagegen können Regionalmodelle kleinräumige Vorgänge wie z. B. luftchemische Prozesse berücksichtigen. Typische Vertreter von globalen Modellen sind z. B. das ECHAM -Modell, 46 bei MCCM 47 oder REMO 48 handelt es sich um Regionalmodelle, Lokalmodelle 46 E RICH R OECKNER u. a., The atmospheric general circulation model ECHAM-4. Model description and simulation of present-day climate (Max-Planck-Institut für Meteorologie, Report No. 218), Hamburg 1996. 47 Die Abkürzung der Buchstaben MCCM bedeutet ›Mesoscale Climate-Chemistry Model‹, entwickelt und betrieben am Institut für Meteorologie und Klimaforschung des Forschungszentrums Karlsruhe GmbH. H EIDI E S CH ER -V ET TER 48 werden z. B. im Rahmen von GLOWA-DANUBE 49 eingesetzt; auf letzteres wird weiter unten noch eingegangen. Wie bereits ausgeführt, hängt die Modellierung von Gebirgsgletschern und ihren Massenänderungen essentiell von der Topographie der Region ab, also davon, wie detailliert die digitalen Geländemodelle vorliegen. Dies ist deshalb von großer Bedeutung, weil alle meteorologischen Parameter einen deutlichen Höhengradienten aufweisen. Macht man z. B. eine Klimavorhersage für die Norddeutsche Tiefebene, in der die Geländehöhe nur geringfügig variiert, dann ist der Höhenfehler und damit das Modellergebnis selbst bei einem großmaschigen Geländemodell relativ gering. Anders ist es im Hochgebirge mit seinen alpinen Gletschern. Mit zunehmender Maschenweite werden die individuellen Geländestrukturen gemittelt, d. h. ›verschmiert‹, man erhält keine korrekten Absoluthöhen des Geländes. Abb. 10 zeigt das am Beispiel des Zugspitzplatts: In der obersten der drei Graphiken ist dieses Gebiet mit einem digitalen Geländemodell von 1.000 m Maschenweite dargestellt, in der mittleren beträgt sie 100 m und in der untersten 20 m. Erst mit dieser kleinen Maschenweite wird die Gipfelhöhe von Deutschlands höchstem Berg nahezu realistisch erreicht, und erst in dieser Darstellung werden die Positionen von Südlichem und Nördlichem Schneeferner und vom Höllentalferner korrekt wiedergegeben. Dagegen weist die Darstellung bei der Maschenweite von 1 km keine Eisflächen auf, und die Zugspitze wäre etwa 2.500 m hoch statt ihrer tatsächlichen 2.962 m Meereshöhe. Damit wird nicht nur die Temperatur-Höhenverteilung falsch bestimmt, auch die Niederschlagsart und die Region, in der Regen oder Schnee fällt, sind davon stark beeinflusst. Trotzdem stellt, wie schon erwähnt, ein Ein-Kilometer-Geländenetz ein extrem hochaufgelöstes Gitternetz dar für lokale Klimamodellierungen in Gebieten von einigen tausend bis einigen 10.000 km 2 . Schon an diesem Beispiel erkennt man, wie schwierig es ist, zu annähernd realistischen Abschätzungen zur Entwicklung der überwiegend kleinen Gletscher in den Alpen zu kommen. 50 Verschärft wird die Situation durch das mangelnde Wissen über die Dicke der Gletscher, die zur Bestimmung des Gesamtgletschervolumens benötigt wird. Auch hier sind durch Radarmessungen am Vernagtferner und in jüngster Zeit bei den bayerischen Gletschern sehr gute Datengrundlagen geschaffen worden, so dass man nicht nur die relativen Volumenänderungen wie 48 Modell zur regionalisierten Klimaberechnung, entwickelt und betrieben am Max-Planck- Institut für Meteorologie in Hamburg 49 Modell zur Beschreibung des globalen Wandels des Wasserkreislaufs am Beispiel der oberen Donau, entwickelt und betrieben vom Forschungsverbund ›Glowa-Danube‹, Department für Geographie, LMU München. 50 Von den rund 5.500 Gletschern der Alpen sind mehr als 90 % kleiner als 1 km 2 , der größte Alpengletscher ist der Aletschgletscher in der Schweiz mit 127 km 2 (Stand: 2005). K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 49 in Abb. 3, sondern die absoluten Beträge berechnen kann. Für die drei Gletscher auf der Zugspitze sind diese Ergebnisse in Abb. 10 dargestellt. 51 Abb. 10: Digitales Geländemodell des Zugspitzplattes in drei verschiedenen Auflösungen (20 m, 100 m, 1000 m). 51 Zusammengestellt auf der Homepage www.bayerische-gletscher.de (Zugriff am 20.12.2010). H EIDI E S CH ER -V ET TER 50 3. Die Zukunft der Gletscher, die Konsequenzen für die Umwelt und der Einfluss des Menschen In Kapitel 1 wurde der Temperaturverlauf der letzten 1.000 Jahre im globalen bzw. nordhemisphärischen Mittel geschildert und der starke Anstieg in den letzten hundert Jahren dargestellt. Im Alpenraum verlief diese Temperaturentwicklung noch extremer: einer globalen Änderung von 0,8 Kelvin seit 1901 steht eine deutlich höhere von 1,1 Kelvin im Gebirge gegenüber 52 , wie z. B. die Registrierungen der meteorologischen Station auf der Zugspitze ergeben. Eine Ursache hierfür ist zumindest teilweise in dem Rückgang der Gletscher zu sehen, der einen höheren Energieeintrag in die Atmosphäre ermöglicht, da sich eisfreies Gelände deutlich über 0 °C erwärmen und damit die bodennahe Luft erhitzen kann. Damit stellt der Gletscherrückgang eine negative Rückkopplung für die Entwicklung der Eismassen in den Alpen dar - je schneller die Gletscher schmelzen, desto mehr beschleunigt sich dieser Prozess. Physikalisch basierte Berechnungen, die alle diese Prozesse berücksichtigen, wurden zur Zukunft aller Gletscher im Einzugsgebiet der Donau am Pegel Passau im Rahmen des Forschungsverbundes › GLOWA -Danube‹ angestellt. Bereits auf der Basis gemäßigter Klimaszenarien (vgl. Abschnitt 1) resultieren sie in einem weitgehenden Verschwinden der Eismassen in dieser Region bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Damit wird ein zunehmender Teil der glazialen Wasserspende in den Alpentälern nicht mehr zur Verfügung stehen, der z. B. im zu 38 % vergletscherten Rofental (Tirol, Österreich) derzeit etwa ein Drittel des Gesamtabflusses ausmacht. 53 Je weiter man sich von derartigen ›Kopfeinzugsgebieten‹, also den Quellregionen der Alpenflüsse, entfernt, desto geringer wird dieser Anteil. So stammt im Inn in Innsbruck im Jahresmittel nur noch 8 % des Wassers aus der Eisschmelze der Gletscher, in Passau (Pegel Achleiten) gar nur noch 2 %. Diese niedrigen Werte dürfen aber nicht dahingehend missinterpretiert werden, dass die Eisschmelze der Gletscher generell keine große Bedeutung für die Wasserversorgung der Unterländer habe. In Extremsituationen wie z. B. den Sommern 1976 oder 2003 war es gerade der Beitrag der Gletscherschmelze, der dafür sorgte, dass Rhein oder Donau länger schiffbar blieben, dass thermische Kraftwerke mit Kühlwasser versorgt wurden - was nicht nur eine Frage der Menge, sondern auch der 52 M ARKUS W EBER , Der Einfluss der Temperatur auf die Ablation des Vernagtferners - Ergebnisse der Feldkampagnen HyMEX98 und HyMEX2000. Deutsch-Österreichisch- Schweizerische Meteorologen-Tagung, Karlsruhe, CD: Dach 2004/ Vorträge/ 7. Gebirgsmeteorologie und MAP/ 07_Web.pdf 53 M ARKUS W EBER u. a., Contribution of rain, snowand icemelt in the upper Danube discharge today and in the future, in: Geografia Fisica e Dinamica Quarternaria 33 (2010) 2, S. 221-230. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 51 Wassertemperatur ist - und dass die Gewässerökologie intakt blieb, da auch die Lebewesen im Wasser von der Temperatur des Gewässers abhängig sind. Der bereits eingetretene Rückgang der Eismassen im Gebirge führte nun zu Überlegungen, wie man diesem Schwund bzw. seinen Folgen entgegen wirken kann. Derzeit werden vor allem drei Maßnahmen bereits umgesetzt. Die ersten beiden benutzen den schon mehrfach angesprochenen Albedoeffekt, d. h. die stärkere Reflektion von Strahlung bei hellen bis weißen Oberflächen. Dies kann man z. B. durch die ›Verhüllung‹ der Gletscher mit hellen Plastikfolien im späten Frühjahr bewirken, um den Schnee über den Sommer zu retten. Wenn diese Methode auch die ›ökologischste‹ Variante der Gletscherbeeinflussung darstellt, ist sie dennoch nicht sehr hilfreich. Selbst kleinere Gletscher können auf Grund des Materialaufwandes und der dazu nötigen Logistik nicht komplett bedeckt werden, und man würde damit auch die Akkumulation von Schnee an der Oberfläche verhindern, den Gletscher also von seiner Ernährungsquelle abschneiden. Trotzdem wird z. B. am Nördlichen Schneeferner seit mehr als zehn Jahren ein etwa tausend Quadratmeter großes Areal bedeckt - was aber vor allem für die Skifahrer von Bedeutung ist, weniger für die Erhaltung des Gletschers! Eine zweite Maßnahme besteht darin, Gletscher künstlich zu beschneien. Diese Beeinflussung ist deutlich problematischer zu sehen als die Bedeckung mit Folie, da allein schon der hierfür notwendige Energieaufwand zur Verstärkung des Treibhauseffektes beiträgt, selbst wenn infrastrukturelle Maßnahmen wie das Bauen von Strom- und Wasserleitungen und Speicherseen noch ökologisch vertretbar vorgenommen werden könnten. Wendet man diese Maßnahme gar noch, wie bereits geschehen, an Gletschern an, die vorher glaziologisch vermessen wurden, dann verhindert man damit die Fortführung einer wertvollen Datensammlung. Allerdings wird diese Maßnahme mit dem Anstieg der Null-Grad-Grenze in immer höhere Gebirgsregionen vor allem am Alpennordrand nicht mehr zu der gewünschten Schneesicherheit für den Skitourismus führen, die dadurch eigentlich erzielt werden soll. Eine dritte Überlegung betrifft direkt das Wasser, das von Gletschern kommt: Wenn man schon das Eis nicht retten kann, so könnte man wenigstens das Schneeschmelzwasser mit Hilfe von Speicherseen zwischenspeichern. Auch hier sprechen v. a. die baulichen Eingriffe in eine sensible Hochgebirgslandschaft in vielen Fällen gegen ein derartiges Vorgehen, wenn auch eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Bedingungen die Anlage solcher Seen im Einzelfall als sinnvoll erscheinen läßt. Alle diese Maßnahmen zielen darauf, die Speicherfunktion der Gebirgsgletscher für Niederschlag zu unterstützen oder nachzubilden. Die Analyse der Niederschlagsreihe an der Station Zugspitze für das 20. Jahrhundert, erstellt im Rahmen des Bayerischen Klimaforschungsprogramms Bay FORKLIM , ergab im Sommerhalbjahr eine Zunahme der Menge, aber auch der Variationen, dagegen eine Abnahme der Niederschlagsmenge im Winterhalbjahr. Die seit 1960 erfassten Schneehöhen H EIDI E S CH ER -V ET TER 52 resultierten in einer Verringerung der Dicke und der Andauer der Winterschneedecke auf Deutschlands höchstem Berg. In der Summe führte dies zu einer Gesamtabnahme des Jahresniederschlags seit Anfang der 1960er Jahre. Die Frage ist nun, wie sich der Niederschlag in seiner zeitlich-räumlichen Verteilung in Zukunft entwickeln wird. Wie auch die Hochrechnungen des IPCC zeigen, ist diese Abschätzung deutlich schwieriger als die der Temperaturveränderung. Mit Sicherheit wird durch die Zunahme der Temperaturen in der Zukunft die Verdunstung über den Weltmeeren steigen, was zu einer Erhöhung des Wasserdampfgehaltes in der Atmosphäre führen wird. Im Verlauf des 21. Jahrhunderts hat das eine Zunahme der Niederschläge in den mittleren und hohen Breiten der Nordhemisphäre zur Folge. 54 Allerdings ist schon in den derzeitig besten Wettermodellen die lokale Vorhersage des Niederschlags nicht einfach, und dies gilt umso mehr für Klimamodelle. Solange die Modellrechnungen ergeben, dass Niederschlag zumindest teilweise als Schnee im Hochgebirge fällt, kann man erwarten, dass es zu einer jahreszeitlichen Verschiebung der Abflüsse kommen wird, weil die Schneeschmelze im Frühjahr, nicht die Eisschmelze im Hochsommer, den größeren Anteil zum Gesamtabfluss beisteuert. Schwer abzuschätzen sind in diesem Zusammenhang potentielle Hochwasserrisiken, da eine Schneedecke Starkniederschläge besser absorbieren kann als ein aperer, also schneefreier Gletscher im Sommer. Durch den Rückgang der Gletscherflächen und damit der Gesamtschmelzwasserproduktion kann man aber erwarten, dass das Risiko eines Hochwassers aus der Überlagerung von Schmelzwasser und Starkniederschlag geringer wird. Bei all diesen naturwissenschaftlichen Überlegungen zur Zukunft der alpinen Gletscher ist ein ganz anderer, aber durchaus nicht unbedeutender Aspekt noch nicht angesprochen worden: Wie die historische Beschäftigung mit Gletschern belegt, bestand immer auch ein ästhetischer Reiz in der Betrachtung der Eismassen, hier sei nochmals an die Bilder von Caspar Wolff oder von Edward Theodore Compton (* 1849, † 1921), Maler und Alpinist, erinnert. Diese Faszination ging sogar so weit, dass man bekannte Darstellungen geringfügig veränderte und mit einem neuen Datum unter dem eigenen Namen veröffentlichte. So wurde unter der Überschrift ›Die Tyroler Alpen‹ die Darstellung des vorstoßenden Vernagtferners von Joseph Walcher von 1774 von dem Lithografen C. F. Hoppe handkoloriert, leicht modifiziert und auf das Jahr 1806 datiert! Und die Zunahme der Bildbände über die inner- und außeralpinen Gletscher ebenso wie die zunehmende Zahl der Alpentouristen belegt dieses große Interesse der Menschen eindrücklich. Gerade für Bergsteiger wird aber das Schwinden und, noch gravierender, das gänzliche Verschwinden von Gletschern ein Gefühl der Trauer auslösen über den Verlust an 54 U LRICH C UBASCH , Perspektiven der Klimamodellierung, in: Klimastatusbericht 2002, Deutscher Wetterdienst, Offenbach, S. 13. K LIMAENTW IC KLUNG UND G L ETS CH ER VER HALT EN 53 Schönheit, ja sogar an Erhabenheit, welche die Menschen in der Kleinen Eiszeit zum ersten Mal erkannten. Und wenn wir im 21. Jahrhundert auf dem Weg nach Süden über die Alpen fliegen und die Gebirgswelt unter uns erblicken (Abb. 11), dann sollten wir uns wirklich als ›Kinder der Eiszeit‹ verstehen - um den Titel einer Ausstellung im Naturhistorischen Museum Wien im Jahr 2008 aufzugreifen 55 - und bei vielen alltäglichen Vorgängen bedenken, welche Folgen unser derzeitiges Verhalten für die nächsten Generationen und ihre Umwelt haben werden. Abb. 11: Luftbild der Vernagt-Region vom 10. Januar 2006. 55 ›Kinder der Eiszeit‹: Ausstellung im Naturhistorischen Museum Wien vom 10.1. bis 26.5.2008, Saal XV. 55 P ETER W INKLER Die Wetterstation Hohenpeißenberg und die Revision seiner meteorologischen Daten Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert begann auch die Aufzeichnung meteorologischer Beobachtungen, die mit Hilfe von Instrumenten gewonnen wurden, und deren Daten aus der Frühzeit dieser sog. instrumentellen Periode besonders wertvoll zur Dokumentation des anthropogen verursachten Klimawandels sind. Die zwischen Schongau und Weilheim gelegene Station Hohenpeißenberg zählt zu den relativ wenigen Stationen, deren Messreihe nahezu ununterbrochen überliefert ist. 1 Wir müssen heute aber die Frage nach der Qualität der frühen Daten stellen, damit sichergestellt werden kann, ob die frühen Messergebnisse mit den heutigen Daten vergleichbar sind. Eine solche wissenschaftshistorische Fragestellung erfordert neben einer gründlichen Auswertung historischer Dokumente aus Archiven auch eine Bearbeitung der allmählichen Fortschritte bei der Instrumentenherstellung und der Gerätekalibrierung sowie von Informationen zum Wechsel der Geräteaufstellung, Veränderungen in der Beobachtungstechnik und einer Untersuchung von Störeinflüssen der Messung selbst. Klimaskeptiker versuchen die wissenschaftlichen Begründungen des Klimawandels immer in Zweifel zu ziehen, weshalb eine Prüfung der Datenqualität langer Datenreihen auch notwendig ist, um derartige Zweifel zu entkräften. Die Station Hohenpeißenberg ist gegenüber anderen Stationen mit langen Messreihen von besonderer Bedeutung, weil sie kaum eine Veränderung der Bebauung erfahren hat. Die Messungen an Stadtstationen leiden heute beispielsweise durch den sogenannten Wärmeinseleffekt, der besagt, dass sich in Städten mehr Wärme speichert und sie dadurch gegenüber dem Umland als warme Inseln im Temperaturfeld erscheinen. Durch das Wachsen der Städte sind ehemals ungestörte Messstationen in diese Wärmeinsel einbezogen worden und der langfristige Temperaturanstieg durch den Treibhauseffekt erscheint größer auszufallen als in der unbebauten Umgebung. Hohenpeißenberg ist frei von solchen örtlichen Wärmeinseleffekten und ist außerdem wegen der Berglage mit 988 m Seehöhe einer höheren Windströmung ausgesetzt, die kleinklimatisch bedingte Messfehler wie an Flachlandstationen vermindert. 1 W ALTER A TTMANNSPACHER (Bearb.), 200 Jahre meteorologische Beobachtungen auf dem Hohenpeißenberg 1781-1980, Berichte Deutscher Wetterdienst 155 (1981). P ETER W INK LE R 56 Die Anregung zu systematischen langjährigen meteorologischen Messreihen ging von dem damals noch in Augsburg ansässigen Mathematiker Johann Heinrich Lambert (* 1728, † 1777) aus, der als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in München 1761 einen Vorschlag zur Erstellung eines dreyfachen Tagregisters verfasste. 2 Auf dieser Grundlage, wenn auch Lambert dabei nicht unmittelbar erwähnt wurde, entstand das Arbeitskonzept der 1780 in Mannheim gegründeten ›Societas Meteorologica Palatina‹. Man versprach sich von langen Beobachtungsreihen nicht nur nähere Aufschlüsse über den Einfluss der Witterung auf die landwirtschaftliche Produktion, sondern erwartete auch Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Wetter und Gesundheit und erhoffte sich, sogar eine Grundlage für eine Wettervorhersage schaffen zu können. Damals herrschte die allgemeine Überzeugung, dass vor allem vom Mond, aber auch von Planeten, die Luftdruckschwankungen beeinflusst würden, so wie man das von Ebbe und Flut im Ozean kannte. Aus genügend langen Beobachtungsreihen wollte man etwaige periodische Einwirkungen auf das Wetter statistisch ermitteln und zur Vorhersage nutzen, ein Ansatz, der als Astrometeorologie bezeichnet wird. 3 Dem Kurfürsten Karl Theodor von Pfalz-Bayern (* 1724, † 1799), der gerne manche freie Stunde in seinem physikalischen Kabinett verbrachte, wurde die Gründung einer meteorologischen Gesellschaft von seinem Sekretär Stephan von Stengel (* 1750, † 1822) nahegebracht und führte dazu, dass in der Mannheimer Akademie der Wissenschaften eigens eine Meteorologische Klasse eingerichtet wurde. 4 2 J OHANN H EINRICH L AMBERT , Entwurf des akademischen Systems in seinen Theilen, und deren Verbindungen; dann eines dreyfachen Tagregisters, vom Prof. Lambert 1761, in: L ORENZ VON W ESTENRIEDER , Geschichte der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, München 1784, S. 482-531. 3 Zum Beispiel C ORNELIA L ÜDECKE , Astrometeorological Weather Prediction at the Time of the Societas Meteorologica Palatina, in: S TEFAN E MEIS - D IES . (Hg.), From Beaufort to Bjerknes and beyond. Critical Perspectives on Observing, Analyzing, and Predicting Weather and Climate (Algorismus - Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 52), Augsburg 2005, S. 69-80. 4 A DOLF K ISTNER , Die Pflege der Naturwissenschaften in Mannheim zur Zeit Karl Theodors (Geschichte der kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften in Mannheim 1), Mannheim 1930, S. 95-109; P ETER W INKLER , Quellen-Sammlung zur Geschichte des Observatoriums Hohenpeißenberg überwiegend vom 18. und 19. Jahrhundert, Weilheim 2010. Der Wortlaut der Gründungsurkunde ist hier in Dokument 6 vollständig wiedergegeben. In dieser Quellen-Sammlung sind die Archivalien mit Bezug zum Meteorologischen Observatorium Hohenpeißenberg aus zahlreichen Archiven unter Angabe der Quellsignaturen zusammengestellt. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 57 Die wissenschaftliche Leitung der ›Societas Meteorologica Palatina‹ war dem Hofkaplan und Physiker Johann Jakob Hemmer (* 1733, † 1790) 5 übertragen worden, der zusammen mit dem Hofastronomen Christian Mayer (* 1719, † 1783) ein internationales Messnetz mit 39 Stationen aufbaute und die Beobachtungen in zwölf Bänden von 1781 bis 1792 in den Mannheimer meteorologischen ›Ephemeriden‹ veröffentlichte. 6 Hohenpeißenberg war in dieses Netz eingebunden wie auch in das zu Beginn des Jahres 1781 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München ins Leben gerufene Messnetz, dessen Daten in den Münchner ›Ephemeriden‹ bis 1789 publiziert wurden. 7 Das Stationsnetz der ›Societas Meteorologica Palatina‹ sollte sich über ganz Europa erstrecken und umfasste 35 Stationen in Deutschland (14), Österreich- Ungarn (2), der Schweiz (2), Italien (4), Frankreich (3), Beneluxstaaten (4), Skandinavien mit Dänemark (4) und Russland (2). Wegen des großen Erfolges kamen später 2 Stationen in den USA, eine in Grönland und eine nahe St. Katharinenburg (Ural) hinzu, so dass maximal 39 Stationen beteiligt waren. Die meisten Stationen erhielten kostenlos eine Minimalausstattung an meteorologischen Messgeräten, die in Mannheim unter Hemmers Aufsicht hergestellt und geeicht worden waren. Sie konnten auf eigene Kosten zusätzliche Instrumente beschaffen, um das Messprogramm zu ergänzen, beispielsweise zur Beobachtung der magnetischen Nordrichtung oder der Verdunstung. Die Beobachtungsdaten aus diesem Netz wurden anfangs vollständig in den ›Ephemeriden‹ publiziert, da die Geldmittel dazu aber nicht immer ausreichten, konnten in manchen Jahren nur Monatsmittel gedruckt werden. In die Bände wurden außerdem Stationsbeschreibungen und einzelne Fachartikel in der damaligen Wissenschaftssprache Latein aufgenommen. Der Sekretär Hemmer führte dieses Unternehmen mit Umsicht und Konsequenz nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die noch heute Gültigkeit besitzen. Nach seinem Tod im Jahr 1790 übernahm der Mediziner Johann Melchior Güthe (* 1753, † 1812) die Herausgabe der ›Ephemeriden‹, er besaß aber bei weitem nicht das dazu erforderliche Format und den Anspruch Hemmers. Die nach der Französischen Revolution ausbrechenden Kriege bewirkten 1796 das faktische Ende der meteorologischen Arbeit, nachdem dabei auch das Mannheimer Schloss unter Beschuss geraten war, in welchem die Gesellschaft ihren Sitz hatte. 5 K AI B UDDE , Johann Jakob Hemmer. Geistlicher, Sprachforscher, Physiker und Meteorologe, in: G ERHARD B AUER u. a. (Hg.) »Di Fernunft siget«. Der kurpfälzische Universalgelehrte Johann Jakob Hemmer (1733-1790) und sein Werk (Jahrbuch für Internationale Germanistik 103), Bern u. a. 2010, S. 13-27. 6 F RIEDRICH T RAUMÜLLER , Die Mannheimer Meteorologische Gesellschaft (1780-1795). Ein Beitrag zur Geschichte der Meteorologie, Leipzig 1885; Ephemerides Societatis Meteorologicae Palatinae Observationes. 1781-1792, 12 Bde., Mannheim 1783-1795. 7 Der Baierischen Akademie der Wissenschaften in München meteorologische Ephemeriden auf das Jahr 1781-1789, 9 Bde., München 1783-1796. P ETER W INK LE R 58 Neben diesem internationalen Netz wurden in den einzelnen Staaten auch nationale Netze eingerichtet, so in der Kurpfalz ebenfalls unter Hemmers Leitung, und in Altbayern unter der Führung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. An dem letzteren Netz, das insgesamt 43 Stationen zählte, sollten sich vor allem Klöster und öffentliche Einrichtungen beteiligen, von denen aber nur ein Teil durchgängig arbeitete. Im Gegensatz zu Mannheim konnte die Münchner Akademie keine Instrumente zur Verfügung stellen, sondern die Teilnehmer mussten sie selbst beschaffen; einige stellten sie aus Kostengründen sogar selbst her. Mit der Leitung des bayerischen Netzes wurde Franz Xaver Epp (* 1753, † 1789) betraut, ein Exjesuit, der damit eine neue Aufgabe erhielt, nachdem er 1781 mit der Neuorganisation des Schulwesens seine bisherige Dozentenstelle verloren hatte. Zur Publikation der Beobachtungsergebnisse hatte er bei weitem nicht die Mittel zur Verfügung wie Hemmer. Er orientierte sich daher an der mehr deskriptiven Art und Weise, in der Johann Lorenz Böckmann (* 1741, † 1802) die meteorologischen Beobachtungen in Karlsruhe vom Jahr 1779 veröffentlicht hatte 8 . In den Münchner ›Ephemeriden‹ wurden daher nur Tabellen mit Monatsmittelwerten ausgewählter Stationen abgedruckt. Nach Epps Tod wurde die Herausgabe der Münchner ›Ephemeriden‹ Cölestin Steiglehner (* 1738, † 1819) vom Kloster St. Emmeram in Regensburg übertragen. Wegen seiner Wahl zum Fürstabt musste er die Aufgabe aber an seinen Mitbruder Placidus Heinrich (* 1758, † 1824) abgeben, der den letzten Band mit den Beobachtungsdaten von 1789 in einer mehr am Mannheimer Stil orientierten Weise erst im Jahr 1796 herausbrachte. Weitere Bände sind nicht mehr erschienen, weil wohl der Arbeitsaufwand zu groß war, um von Heinrich neben seiner Professur für Experimentalphysik bewältigt werden zu können. Die Beobachtungsreihen der ›Societas Meteorologica Palatina‹ zählen zwar nicht zu den frühesten, aber zu denen, die auf einer gut dokumentierten und sorgfältigen wissenschaftlichen Grundlage gewonnen wurden. Da die meteorologischen Daten noch heute verwendet werden, kann ihre Vertrauenswürdigkeit und Vergleichbarkeit mit modernen Messwerten anhand dieser Dokumentation geprüft werden. Im Rahmen der jetzigen Darstellung soll nur auf die Datenqualität der Temperaturreihe eingegangen werden, der heute die größte Bedeutung zukommt. Eine ausführliche Behandlung aller Beobachtungsdaten ist an anderer Stelle bereits erfolgt. 9 8 J OHANN L ORENZ B ÖCKMANN , Karlsruher meteorologische Ephemeriden vom Jahr 1779, Karlsruhe 1780. 9 P ETER W INKLER , Wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Geschichte und insbesondere zur Datenqualität der langen meteorologischen Reihen des Observatoriums Hohenpeißenberg, in: Berichte Deutscher Wetterdienst 233 (2009), S. 1-186. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 59 1. Das Observatorium Hohenpeißenberg Die Beobachtungen wurden anfangs in dem Klosteranbau an die Hohenpeißenberger Kirche und Wallfahrtskapelle, der als ›Klösterl‹ bezeichnet wurde, vorgenommen. Dieses ›Klösterl‹ gehörte zum Kloster Rottenbuch, deren Augustiner- Chorherren hier eine Wallfahrtskirche betreuten. Wie die Benediktiner waren auch die Augustiner der Wissenschaft gegenüber sehr aufgeschlossen, sie beschafften physikalische Instrumente und schulten die Konventualen in naturwissenschaftlichen Fächern. Der kurfürstliche Geheimsekretär Stephan von Stengel hatte nicht nur in Mannheim die Gründung der ›Societas Meteorologica Palatina‹ erreichen können, er hatte, nachdem er 1778 mit dem Kurfürsten Karl Theodor nach München wechseln musste, auch hier darauf hingewirkt, meteorologische Beobachtungsreihen zu beginnen. Zu diesem Zweck hatte er bereits im Laufe des Jahres 1780 eine Reihe bayerischer Klöster bereist und sie zur Mitarbeit an den Meteorologischen Netzen gewinnen können. 10 Hohenpeißenberg zählte neben Andechs, Benediktbeuern, Ettal und Polling zu den bevorzugten Stationen, weil sich hier seit 1775 bereits eine auf kurfürstlichen Befehl eingerichtete Sternwarte mit wissenschaftlich geschulten Beobachtern befand. Bei einer Rundreise hatte von Stengel, der in Begleitung des Hofkammer-Vizedirektors sogar auf dem Hohen Peißenberg übernachtet hatte, auch Vorgaben zum Setzen eines Blitzableiters auf der Kirche und dem ›Klösterl‹, eines der ersten in Bayern, gemacht, und Zeichnungen zur Konstruktion und Installation eines Luftelektrometers hinterlassen, 11 die auf dem Vorbild des Hemmer’schen Elektrometers im Mannheimer Schloss beruhten. Gegen Ende des Jahres 1780 kam Hemmer persönlich zum Hohen Peißenberg, brachte die von der Mannheimer Gesellschaft kostenfrei zur Verfügung gestellten meteorologischen Instrumente mit und wies die Chorherren Cajetan Fischer (* 1739, † 1790) und Guarin Schlögl (* 1752, † 1788) sowie einige andere in die Beobachtungsmethodik und die Instrumentenbedienung ein. Er hatte auch eine gedruckte Beobachtungsanleitung verfasst. 12 Außerdem prüfte und vollendete Hemmer den mittlerweile installierten Blitzableiter und das neue Elektrometer. 10 S TEPHAN VON S TENGEL , Die Denkwürdigkeiten, hg. von G ÜNTHER E BERSOLD (Schriften der Gesellschaft der Freunde Mannheims und der Ehemaligen Kurpfalz 23), Mannheim 1993. 11 S T . VON S TENGEL , Denkwürdigkeiten (Anm. 10), S. 129f. 12 J OHANN J AKOB H EMMER , Monitum ad observatores societatis meteorologicae Palatinae a Serenissimo Electore Carolo Theodoro recens institutae, in: Ephemerides Societatis Meteorologicae Palatinae Observationes, Bd. 1, Mannheim 1782, S. 8-17. Diese lateinische Anleitung wurde auch als Seperatdruck an die Beobachtungsstationen verteilt. Eine deutsche Übersetzung findet sich in P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 12. P ETER W INK LE R 60 Der Beobachtungsraum befand sich im 2. Stock auf der Nordseite des Gebäudes (Abb. 1); Abb. 2 zeigt eine Aufnahme des Raumes um 1898, der seit 1781 praktisch unverändert geblieben war; lediglich um 1843 war eine Zwischenwand zum angrenzenden Flur herausgenommen worden. Abb. 1: Das ehemalige Klostergebäude auf dem Hohen Peißenberg. Der Beobachterraum befand sich im 2. Stock über der Tür im Erdgeschoß. Die heutige Dachplattform entspricht zwar der Lage, aber nicht mehr dem früheren Aussehen. Auf dem Dach war 1775 eine Dachplattform konstruiert worden, die ursprünglich für astronomische Beobachtungen gebaut worden war und wozu der berühmte Augsburger Instrumentenbauer Georg Friedrich Brander (* 1713, † 1783) zwei Fernrohre geliefert hatte. Auf dieser Dachplattform wurden der Regenmesser, das Schneegefäß, ein Thermometer ›in der Sonne‹, eine Windfahne und die Antenne eines Elektrometers montiert. Im Sommerhalbjahr wurde auch die Verdunstung mit einem selbstgebauten Verdunstungsmesser (Evaporatorium) untersucht. Im W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 61 Beobachtungsraum befanden sich das Barometer, ein magnetisches Deklinatorium und Inklinatorium (die beiden letzteren ebenfalls von Brander) sowie ein Luftelektrometer; am Kreuzstock des Fensters war eine kleine Holzhütte befestigt, in welcher das Thermometer und ein Federkielhygrometer (zur Bestimmung der Luftfeuchtigkeit) untergebracht waren. Später (1842) wurde dieses Holzkästchen durch eine besser durchlüftete Hütte aus Blech ersetzt, die in Abb. 2 vor dem Fenster schemenhaft zu erkennen ist. Abb. 2: Innenansicht des Beobachterraumes (um 1898). An der Wand das Barometer und auf dem Tisch das magnetische Deklinatorium und Inklinatorium; vor dem Fenster Leisten, an denen die schemenhaft erkennbare Fensterhütte angebracht war. P ETER W INK LE R 62 Die ursprüngliche Anweisung Hemmers zur Thermometeraufstellung lautete: Das Thermometer wird außerhalb des Zimmers auf der Nordseite, wenn möglich, ohne Beeinträchtigung durch Gebäude oder andere Hindernisse ein Stück weit entfernt von der Wand der freien Luft so ausgesetzt, daß niemals Sonnenstrahlen, weder direkte noch reflektierte, auf es fallen können. Wenn man es zum Beobachten kontrolliert, muß man darauf achtgeben, daß man es nicht durch die Wärme der Kerze oder den Atem zum Steigen veranlaßt, wozu es sehr leicht neigt. Wenn sich das Quecksilber unter Null befindet, werden die Grade mit davorgesetztem (-), jedoch ohne Klammern, aufgeschrieben. Die Strecke, um welche die Flüssigkeit bei nicht mit einem Nonius ausgestatteten Thermometern über einem vollen Grad steht, wird üblicherweise in halbe, dritte und vierte Teile unterteilt, doch möchten wir lieber, daß sie in Zehntel unterteilt wird. Diese werden diejenigen, die irgendwann einen Nonius bei Barometern verwendet haben, sehr leicht mit bloßem Auge abschätzen können. 13 Hemmer war sich also bewusst, dass die Messung der Temperatur leicht verfälscht werden konnte und versuchte, dies durch entsprechende Anweisungen zu vermeiden. Lage und Ausstattung der Station Hohenpeißenberg sind in einer lateinischen Beschreibung im ersten Band der Mannheimer ›Ephemeriden‹ zu finden. Die Beobachter hatten sich ebenfalls gefragt, ob die Fensterhütte die Temperaturmessung störe, und zahlreiche diesbezügliche Prüfungen vorgenommen. So erkannten sie: In diese hölzerne Vorrichtung oder in dem kleinen Häuschen sind die Instrumente eingeschlossen. Diese Vorrichtung besitzt vier Öffnungen (Kläppchen), zwei zum Thermometer, ebenfalls zwei zum Hygrometer, eine weitere nach Westen, die andere nach Osten. Diese vier Klappen sind, damit sie nicht den freien Zutritt der Luft behindern, und dennoch den schädlichen Regen und die Sonnenstrahlen abhalten, mit einem feinen leinenen Überzug bedeckt. Um aber auch auftretenden Hagelkörnern den Weg abzusperren, haben wir die einzelnen Klappen obendrein mit feinmaschigen Gittern aus Eisendrähten, die der Luft keinen Widerstand leisten, versehen. Diese Klappen werden ständig geschlossen gehalten, damit eine Schutzwand immer vorhanden sei, ein freier Luftzutritt zu den Instrumenten aber nicht eingeschränkt sei. Aus sehr vielen Beobachtungen haben wir aber erfahren, daß dieses Schutzwand nicht empfindlich ist [nicht störend ist]. 13 J OHANN J AKOB H EMMER , Descriptio Instrumentorum Societas Meteorologicae Palatinae tam eorum quae Observatoribus suis distribuit quam praeter haec Manheimii utitur, Mannheim 1782. Eine deutsche Übersetzung des Abschnittes über die Thermometerherstellung findet sich in P. W INKLER , Wissenschaftshistorische Untersuchungen (Anm. 9), Anhang, Dok. 11, S. 109f. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 63 Nicht über 0,2 Teile einer Linie beim Thermometer und nicht über 0,5 beim Hygrometer ändern sie ihren Stand, wenn die Klappen geöffnet werden. 14 Die Beobachter taten also alles Erdenkliche, um nach dem damaligen Kenntnisstand physikalisch exakt zu messen, und suchten die Größenordnung etwaiger Messfehler festzustellen. Die Anzeige der Instrumente wurde täglich dreimal um 7, 14 und 21 Uhr Ortszeit in monatlichen Tabellen aufgezeichnet. Diese sogenannten Mannheimer Beobachtungs-Stunden hatten sich bewährt und wurden weltweit für Klimabeobachtungen bis ins späte 20. Jahrhundert beibehalten. Die ›Societas Meteorologica Palatina‹ hatte ihre Beobachter auch aufgefordert, die Pegel von Flüssen zu beobachten. Wegen der Berglage nahmen aber nicht die Beobachter auf dem Hohen Peißenberg die Ablesung des Pegelstandes vor, sondern die Mitbrüder des Mutterklosters Rottenbuch, an dem die Ammer in einer nahen Schlucht vorbeifließt. Allerdings wurde die Ammerbrücke unterhalb des Klosters oft vom Hochwasser oder Eisgang weggerissen, so dass diese Beobachtungen schon bald wieder eingestellt wurden. Wegen der umfangreicheren Instrumentenausstattung nahm Hohenpeißenberg eine herausragende Stellung verglichen mit den andern Stationen ein. Sie gilt wegen der Höhenlage sogar als älteste Bergstation der Welt - die Beobachtungen auf dem St.-Gotthard-Hospiz setzen erst später ein (1784). Eine große Besonderheit stellte das schon erwähnte Hohenpeißenberger Luftelektrometer dar, welches zu seiner Zeit das einzige in Bayern war (Abb. 3). Zur damaligen Zeit, als die Angst vor Gewittern noch groß war und der Aberglaube blühte, diente dieses nach dem Vorbild eines ebensolchen Instrumentes im Observatorium des Mannheimes Schlosses gebaute Luftelektrometer der Messung der elektrischen Feldstärke in der Atmosphäre. 15 In der 1781 angefertigten Stationsbeschreibung heißt es dazu: Bei dieser Gelegenheit hat er [Hemmer, P. W.] ein atmosphärisches Elektrometer auf beinahe die gleiche Weise, auf die er ein Elektrometer im Mannheimer Schloß errichtete, in unserem Gebäude aufgebaut. Auf der genannten Plattform wurde eine 12 Schuh lange eiserne Stange, die weiter oben eine sehr scharfe kupferne Spitze begrenzte, befestigt. Von dieser Stange erstreckte sich eine andere [Stange] durch das Dach des Hauses bis in den 14 C AJETAN F ISCHER / G UARIN S CHLÖGEL , Observationes Peissenbergenses. Descriptio situs loce, & instrumentorum meteorologicum in Hohenpeissenberg, in: Ephemerides Societatis Meteorologicae Palatinae Observationes 1781, Mannheim 1782, S. 297-301. Die deutsche Übersetzung in P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 13, S. 21f. 15 P ETER W INKLER , Early observations of and knowledge on air electricity and magnetism at Hohenpeissenberg during the Palatina era, in: S T . E MEIS - C. L ÜDECKE (Hg.), From Beaufort to Bjerknes (Anm. 3), S. 55-68. P ETER W INK LE R 64 meteorologischen Beobachtungsraum und endet in einer Kugel aus Messing. Überall ist diese Stange von gläsernen Säulen gestützt und von anderen Körpern getrennt. Eine andere Kugel von derselben Größe und Material ist so aufgestellt, daß sie horizontal gegen die erste Kugel oder mit ihr nach Belieben verbunden werden kann. Aus der Entfernung, in der die Kugeln Funken aus sich herausschicken, messen wir die Menge der atmosphärischen Elektrizität. Der anderen Kugel angeschlossen ist ein elektrischer Ableiter, der durch das Fenster von der Anschlußstelle bis in die Erde hinabführt. 16 Wenn in dieser Stationsbeschreibung angegeben ist, dass Hemmer persönlich im Spätherbst 1780 (etwa um den 24. November) das Elektrometer und den Blitzableiter aufgebaut habe, dann kann es sich beim letzteren nur um eine Prüfung oder um einige Ergänzungen gehandelt haben. Denn Dacharbeiten waren zu dieser späten Jahreszeit Ende November nicht mehr möglich. Das Elektrometer ist dagegen erst im August 1781 entstanden. 17 Von der Dachantenne führte ein isolierter Draht zu einer Messingkugel im Beobachterraum, der gegenüber sich eine zweite, verschiebbare, geerdete Messingkugel befand. Wenn ein starkes elektrisches Feld vorhanden war, so wurden beide Kugeln so weit zusammen geschoben, bis Funken übersprangen oder ein Knistern zu hören war. Der Abstand der Kugeln diente dann als Maß für die elektrische Feldstärke. Darunter befand sich ein Dunkelkasten, in dem zwischen zwei Messingplatten aus der Form der entstehenden Sprühentladung auf die Richtung des Feldes geschlossen werden konnte. Es war damit möglich anzugeben, ob Blitze von der Erde zur Wolke schlugen oder umgekehrt. In der bereits erwähnten Stationsbeschreibung heißt es dazu: Mehrere und zwar höchst anmutige Erscheinungen haben wir an diesem Instrument schon beobachtet, die wir getreulich in die meteorologischen Tabellen eingetragen haben. 18 Diese höchst anmutigen Erscheinungen faszinierten immer wieder die Besucher. Viele von ihnen, insbesondere auch hochgestellte Persönlichkeiten, kamen zur Besichtigung - und zum Genuss der prächtigen Aussicht -, ließen sich das Observatorium und das Elektrometer erklären; und so diente die Vorführung zur Aufklärung der Bevölkerung: Luftelektrizität wurde anschaulich und begreifbar. Noch 1828 beschrieb der Arzt und Chirurg Franz Xaver Gast (* 1803, † nach 1868) 19 aus 16 P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), S. 23. 17 Meldung in: Münchner Staats-, gelehrte, und vermischte Nachrichten vom 24.8.1781. 18 P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), S. 23. 19 Lebensdaten nach: Königlich bayerisches Kreis Amtsblatt von Schwaben und Neuburg 1862, S. 19; 1868 pensioniert (Königlich Bayerisches Verordnungsblatt 36 vom 22.7.1868). W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 65 dem benachbarten Peiting das Elektrometer in ›Kastners Archiv‹, dessen Herausgeber ihn dazu aufgefordert hatte. 20 Abb. 3: Das Luftelektrometer war ähnlich wie das hier gezeigte Elektrometer von Hemmer in Mannheim konstruiert worden. Wie schon erwähnt, war bei der Einrichtung des Observatoriums auch ein Blitzableiter gesetzt worden, der die Gebäude, die vorher wegen der exponierten Höhenlage relativ häufig unter Blitzschäden zu leiden hatten, nun sicher schützte. Die Genugtuung über die erfolgreiche Schutzwirkung kann man daran ermessen, dass der Blitzableiter auf dem Kupferstich mit der sog. Prospektkarte des Beobachters Albin Schwaigers (* 1758, † 1824; Beobachter 1786-1796) abgebildet ist, die er anlässlich der 50-jährigen Profess seines Propstes 1791 hatte stechen lassen. 21 Dort 20 F RANZ X. G AST , Beobachtungen am Luftelektrometer auf dem Peissenberge in Bayern (Kastners Archiv für die gesammte Naturlehre 14), Nürnberg 1828, S. 494-498. 21 A LBIN S CHWAIGER , Versuch einer meteorologischen Beschreibung des hohen Peißenbergs als eine nöthige Beylage zu dessen Prospektskarte, München 1791. Ein Exemplar der Prospektkarte, in der die in der Rundumsicht zu erkennenden Ortschaften und das Alpen- P ETER W INK LE R 66 sind in einer kleinen Nebenfigur die Gebäude auf dem Hohenpeißenberg mit dem sehr akkurat gezeichneten Blitzableiter dargestellt. Auch in seiner ersten klimatologischen Beschreibung des Hohen Peißenbergs unterstreicht Schwaiger nochmals besonders den großen Fortschritt durch die Schutzwirkung des Blitzableiters. Die Bevölkerung war dagegen noch lange misstrauisch gegenüber derartigen technischen Einrichtungen und versuchte beispielweise zu erreichen, dass der Kurfürst sich von Schloss Nymphenburg fernhalten sollte, nachdem es mit Blitzableitern versehen worden war. 2. Der Beobachtungsbetrieb Die meteorologischen Beobachter mussten in Physik, Meteorologie und Mathematik geschult sein, daneben auch noch in Astronomie. Es waren nicht nur die Instrumente abzulesen, sondern auch Augenbeobachtungen über den Himmelszustand mit Bewölkungsgrad, Wettererscheinungen wie Nebel, Reif, Gewitter, Niederschlagsart, Schätzung der Windstärke in fünf Stufen usw. vorzunehmen. Die Barometerablesung war auf eine konstante Temperatur umzurechnen, wofür zur Erleichterung der Beobachter Guarin Schlögl einen kompletten Tabellensatz berechnet hatte, der im Jahr 1787 gedruckt wurde 22 und wegen der damit verbundenen Arbeitserleichterung an vielen anderen Stationen Verwendung fand. Eine heute nicht mehr vorstellbare Schwierigkeit stellte die genaue Bestimmung der Zeit dar. An der abgelegenen Station Hohenpeißenberg musste man in der Lage sein, die Zeit zu kontrollieren. Dazu war in dem an den Beobachtungsraum anschließenden Flur eine sogenannte Mittagslinie in eine Reihe von Kalksteinplatten eingeritzt worden, die genau in Nord-Süd-Richtung verlief. Zur Festlegung dieser Linie diente ein von Brander in Augsburg konstruierter Sonnenquadrant. 23 Eine im Jahr 2005 vorgenommene Kontrolle der noch heute vorhandenen Mittagslinie mit einem modernen Theodoliten hat ergeben, dass die Abweichung von der exakten Nordrichtung kleiner als 0,003 Grad ist, was bedeutet, dass damals mit größter Präzision gearbeitet wurde. August Steinheil (* 1801, † 1870), der 1835 die Station Hohenpeißenberg prüfte, kam zu dem Schluss, dass die Uhrzeit damit auf Bruchteile einer Sekunde genau bestimmt werden konnte. Mittels astronomischer Beobachtungen war auch eine Bestimmung der geographischen Breite und Länge panorama dargestellt ist, befindet sich in der Sammlung des Deutschen Museums in München. 22 G UARIN S CHLÖGL , Tabulae pro reductione quorumvis Statuum Barometri ad normalem quendam caloris gradum publico usuo, Ingolstadt 1787. 23 A LTO B RACHNER , G. F. Brander 1713-1783. Wissenschaftliche Instrumente aus seiner Werkstatt, München 1983 (zum Sonnenquadranten s. dort S. 186f.). W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 67 vorgenommen worden. Man konnte damit zusätzlich den Zeitunterschied zur Pariser Sternwarte berechnen, die nach dem damaligen Gradnetz genau auf 20° Ost lag. Das heute gültige Gradnetz wurde erst 1883 nach den Vorschlägen der internationalen Gradmessungskommission eingeführt. Die Hohenpeißenberger Mittagslinie endete unter einem Südfenster, über dem sich in einer Metallscheibe ein etwa 5 mm großes Loch befand. Schien die Sonne, dann wanderte das Sonnenbild über den Boden, und wenn es die Mittagslinie kreuzte, wusste man die wahre Mittagszeit. Allerdings wandert die Erde nicht gleichförmig um die Sonne, sondern wegen der Exzentrizität der Erdbahn im Winter etwas langsamer und im Sommer etwas rascher. Daher muss zum Stellen der Uhr auf mittlere Ortszeit eine Korrektur nach der sogenannten Zeitgleichung angebracht werden (maximal + / - 15 Minuten). Abb. 4: Die ›astronomische Uhr‹ oder Sekundenpendeluhr von Hohenpeißenberg, angefertigt vom Augsburger Uhrmacher Gegenreiner. P ETER W INK LE R 68 Die minutengenau tabellierte Zeitgleichung ist noch erhalten und an der Tür der ›astronomischen Uhr‹, einer von dem Augsburger Großuhrmacher Gegenreiner gefertigten Sekundenpendeluhr (Abb. 4), angebracht. Damit konnte die Uhr ohne fremde Hilfe auf die mittlere Ortszeit justiert werden. Bemerkenswert an dieser Uhr ist, dass sie einen Minuten- und Sekundenzeiger, aber keinen Stundenzeiger besaß, sondern ein Fenster, in dem die Stunde angezeigt wurde. Zur damaligen Postkutschen-Zeit gingen die Uhren nicht einheitlich, sondern jede Stadt und Gemeinde hatte ihre eigene Ortszeit; München stellte seine Turmuhren sogar nach der wahren Sonnenzeit. 24 Zur Messung der Zeit, also auch der meteorologischen Beobachtungszeiten, gehörte nicht nur eine gute Uhr, sondern auch die Vorrichtung zur Überprüfung und Korrektur ihres Ganges und dazu mussten die Chorherren in der Anfangszeit auch die astronomischen Gesetze beherrschen. Die heutige mitteleuropäische Zeit wurde erst 1893 verbindlich. Von den früheren Lebensbedingungen auf dem Hohenpeißenberg kann man sich ein ungefähres Bild machen, wenn man erfährt, dass vor der Säkularisation die meisten Lebensmittel aus dem Kloster Rottenbuch kamen, nach 1803 aber von Schongau durch Boten herangeschafft werden mussten. Die Straße von Weilheim nach Schongau führte an der Nordseite des Berges vorbei und von da gelangte man in der Regel nur zu Fuß auf den Berg. Der Bote erwartete eine Verköstigung und ein Trinkgeld. So erhielt er sogar Kaffee, den sich der Pfarrer aus Sparsamkeitsgründen versagen musste. 25 Man war auf dem Berg ganz auf sich gestellt: Stürme, die immer wieder die Dächer und Gebäude beschädigten, extreme Schneelagen, gelegentliche Trinkwasserprobleme und Wintereinsamkeit gehörten zur Station dazu. Manchmal war sogar die Dachausstiegstür zur Plattform festgefroren und wenn Sturm herrschte, mag sich der Beobachter nicht immer auf die windumtoste Plattform hinausgewagt haben. Daher nötigt uns heute der ehemalige Dienst einigen Respekt ab vor der Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, mit der die Beobachtungen vorgenommen wurden. Der folgende Auszug aus einem Schadensbericht nach einem Sturm Anfang März des Jahres 1844 von Pfarrer Christoph Ott (* 1807, † 1871; Beobachter von 1843-1854) mag für sich sprechen: Daher geschah es, daß trotz aller möglicher Vorkehrung und Bemühung Nachts zwischen 11 ½ und 12 Uhr in Folge mehrerer gewaltiger Stöße des Sturmwindes sowohl an die südwestliche als nordöstliche Front des Hauses wie durch einen Zauberschlag mehrere Thüren und Fenster angelweit geöffnet, die Fensterscheiben und Stifte ausgerissen, Fensterscheiben und Tafeln zerschlagen, ein paar Fensterläden samt ihren Angeln auf den 24 Akademie der Wissenschaften, Protokoll der math. Phys. Klasse vom 12.3.1836. 25 Archiv der Akademie der Wissenschaften, München, VIII-163a, fol. 139-142: Schreiben Pfarrer Niedermayr an Akademie der Wissenschaften vom 6.1.1817. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 69 Erdboden geschleudert und zerschmettert, der Mörtel an den Fensterstöcken und Gesimsen abgelöst und nicht wenige Dachpreise vom Hause und Kirchendach abgedeckt wurden. - Das Geklirre der zuschlagenden Fenster, das Geheul des Sturmwindes außen und in den Gängen des Hauses, das Geplätscher des Regens und der hereingefegten Schneerieseln, das gellende Auf- und Zuschlagen der Thüren, das Geklacker der Fensterläden, das gewaltige Herabschießen der Dachziegel u. das um die Mitternachtsstunde war eine Szene, die sich in Wahrheit als ein Vorspiel des kommenden Weltgerichtes darstellte, und welche ich, - doch gewiß kein Feigling, - in diesem von allen Seiten den Stürmen frei ausgesetzten, am höchsten gelegenen (3400 bayer. Fuß üb. d. Meer. fläche) Wohngebäude in ganz Bayern bei solch bezeichneten baulichen Mängeln um keinen Preis der Welt mehr erleben mag. 26 Im Sommer kamen dagegen häufig Besucher, die auch hier übernachteten und verpflegt wurden. Während bis zur Säkularisation die Chorherren von Rottenbuch den Beobachtungsbetrieb sicherten, übernahmen nach 1803 der Hohenpeißenberger Pfarrer und ab 1808 der Lehrer als Hilfsbeobachter diese Aufgabe und zwar bis zum Jahr 1936. Erst dann wurde die Station vom Reichswetterdienst übernommen und mit Fachpersonal besetzt. Damit siedelte die Station auch aus dem einstigen ›Klösterl‹ bzw. dem späteren Pfarrhof zunächst in das benachbarte Gasthaus, ab 1940 dann in das heutige Observatoriumsgebäude um. Zu diesem Zeitpunkt (1936) wurden die Instrumente von der Fensterhütte in die heute übliche Wetterhütte verlegt und der Niederschlagssammler vom Dach auf den Boden umgesetzt. 3. Die Säkularisation Das meteorologische Netz der ›Societas Meteorologica Palatina‹ hatte mit dem Brand des Mannheimer Schlosses im Jahr 1796 nach der Beschießung durch französische Truppen faktisch zu existieren aufgehört. Dabei war auch das Archiv mit den Daten und dem Schriftwechsel verbrannt. Außerdem besaß der Nachfolger des 1790 verstorbenen, sehr rührigen Sekretärs Hemmer nicht mehr dessen Fachwissen und Tatkraft. Die ›Bayerische Akademie der Wissenschaften‹ in München sammelte nach dem Tod des ersten Meteorologisten Franz Xaver Epp zwar weiterhin meteorologische Beobachtungen, stellte dieses Arbeitsziel im Jahr 1800 aber gänzlich ein. Stationen, die Daten einschickten, wurden aufgefordert, dies in Zukunft zu unterlassen. Die Gründe dafür sind nicht näher bekannt; vielleicht hatte die inzwischen publizierte Erkenntnis, dass die vermuteten periodischen Abläufe im Witterungsgeschehen nicht so stark und eindeutig ausfielen wie erwartet, zur Einstellung des meteorologischen Geschäftes beigetragen, vielleicht war lediglich 26 Vollständig zitiert in P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 165, S. 147f. P ETER W INK LE R 70 Geldmangel der ausschlaggebende Faktor. Wenn auch einige Klöster die Beobachtungen trotzdem fortsetzten, kam mit der Säkularisation das unweigerliche Ende dieser Aktivitäten - nicht jedoch auf dem Hohen Peißenberg. Während früher angenommen wurde, die hier verbliebenen Chorherren hätten aus eigenem Antrieb das Beobachtungsprogramm weitergeführt, stellte sich bei genauerer Betrachtung der verfügbaren Quellen ein anderer Sachverhalt heraus: Das Observatorium war ursprünglich auf ein kurfürstliches Dekret aus dem Jahr 1772 hin gegründet worden. Der Kurfürst wollte in seinem Land ein astronomisches Observatorium vorweisen können und hatte die Aufgabe auf Anraten des Geheimrates Georg von Lori (* 1723, † 1787) dem Kloster Rottenbuch übertragen. Dabei bestand eine Rivalität zwischen von Lori und Peter von Osterwald (* 1718, † 1778), der zur Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in München eine Sternwarte in seinem Privathaus eingerichtet hatte, die jedoch nie richtig zum Laufen kam. Es lag also 1772 ein staatlicher Auftrag zum Berieb des Observatoriums Hohenpeißenberg vor und bei der Säkularisation musste über die juristische Frage entschieden werden, ob diese staatliche Aufgabe fortbestehen sollte oder nicht. Die Einstellung hätte den Verlust eines sehr renommierten Observatoriums mit meteorologisch-astronomischer Aufgabenstellung bedeutet, welches in den hohen Kreisen viel Anerkennung und Wohlwollen infolge der häufigen Besichtigungen erworben hatte. Daher entschied sich Montgelas als Leitender Minister für den Erhalt. 27 Ob dabei der große Bekanntheitsgrad eine Rolle gespielt hat, soll dahingestellt bleiben. Mit dem Auftrag zur Fortsetzung der Beobachtungen waren aber die organisatorische Anbindung und die fachliche Aufsicht noch nicht geregelt. Der erste Pfarrer von Hohenpeißenberg, Primus Koch (* 1752, † 1812), der ab 1804 auch die Beobachtungen fortgesetzt hatte, konnte schließlich durch Findigkeit und Beharrlichkeit erreichen, dass im Jahr 1806 das Observatorium als Attribut der Akademie der Wissenschaften in München nach deren Neugründung im neuentstandenen Königreich Bayern aufgenommen wurde. Bald danach (1808) wurden Mittel bereit gestellt, um die Instrumente überholen zu lassen, um die mittlerweile über 30 Jahre alte Dachplattform zu erneuern und den Beobachtern eine Entschädigung für ihren Dienst zu bezahlen. Es dauerte allerdings bis 1809, bis die erste Remuneration auch ausbezahlt wurde. Immerhin besuchte Montgelas zusammen mit dem Finanzminister Hompesch das Observatorium im August 1809 unangekündigt, wobei über die dabei gehegten Absichten nichts Näheres 27 P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 36. Bemerkenswert ist dabei die Beiläufigkeit, denn die ersten 10 Punkte des Erlasses regeln den Verbleib der Bestände der ehemaligen Klosterbibliotheken und im elften Punkt heißt es, dass das Observatorium Hohenpeißenberg seine Tätigkeit fortsetzen soll. Die Finanzierung war jedoch noch nicht geregelt. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 71 bekannt ist. 28 An der organisatorischen Anbindung an die Akademie der Wissenschaften änderte sich im Grunde genommen nichts, als im Jahr 1838 die Sternwarte Bogenhausen - die ebenfalls ein Attribut der Münchner Akademie war - mit ihrem Direktor Johann von Lamont (* 1805, † 1879) die fachliche Aufsicht über die Station erhielt. Diese Regelung bestand unverändert fort bis 1879, als in München eine neue Meteorologische Zentralstation gegründet wurde, in deren Meßnetz das Observatorium Hohenpeißenberg eingegliedert wurde. Pfarrer und Lehrer versahen auch weiterhin den Beobachtungsdienst, sogar bis zum Jahr 1936. Bei einer Neubesetzung der Pfarrei wurde nicht nur die theologische Eignung des Bewerbers geprüft, sondern auch, ob er Kenntnisse in Mathematik und Physik vorweisen konnte. Er erhielt die Stelle erst nach einer Approbation durch die ›Bayerische Akademie der Wissenschaften‹, wo vor Antritt der Stelle eine Einweisung in die Beobachtungstätigkeit erfolgte. Ab 1933 hatte der Reichswetterdienst alle Landeswetterämter mit ihren Stationsnetzen ›verreichlicht‹ und von diesem Zeitpunkt an wurde nach und nach überall fachlich ausgebildetes Personal eingesetzt. 4. Das Thermometer Das erste Thermometer blieb bis 1841 im Einsatz. Es war in Mannheim von dem Glasbläser C. Artaria unter der Aufsicht des Hofkaplans und Physikers Hemmer hergestellt worden, der sein Messnetz der Societas Palatina mit ›harmonierenden‹ Instrumenten ausrüsten wollte. In seiner lateinischen Abhandlung ›Descriptio Instrumentorum‹ 29 hat er die Fertigungsschritte und Eichung der Instrumente detailliert beschrieben: Die Kapillare musste eine gleichförmige Weite haben und sie musste innen vollkommen trocken sein, da sonst das Quecksilber an der Glaswand leicht hängen blieb. Dafür wurde besondere Vorsorge getroffen: Die Röhren ließ ich noch in der Glashütte an beiden Enden absolut dicht verschließen, um auf diese Weise zu verhindern, daß Feuchtigkeit eindringen und sich innen festsetzen kann. Hier war noch größere Vorsicht als bei den Barometern vonnöten, weil sich Feuchtigkeit aus engen Röhren schwieriger entfernen läßt als aus weiten und sie zudem in ersteren noch mehr schädlich ist als in letzteren. 30 28 Von dem Besuch zeugt ein Brief Hompeschs; P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 82. Später forderte Montgelas dann ein nochmaliges Gutachten der Akademie der Wissenschaften über das Observatorium; ebd., Dok. 83. 29 J. J. H EMMER , Descriptio (Anm. 13). 30 P. W INKLER , Wissenschaftshistorische Untersuchungen, Dok. 11, S. 109. P ETER W INK LE R 72 Bei der Fertigung verwendete der Glasbläser eine Schweinsblase anstatt dem Mund, um das Eindringen von Feuchtigkeit mit der Atemluft zu verhindern. Weiterhin musste die Größe des Quecksilber-Vorratsgefäßes auf die Länge und Weite der Kapillare abgestimmt sein; das Quecksilber musste sehr rein und ausgekocht sein, beim Füllen etwa hineingekommene Luftblasen mussten vollständig mit einem dünnen Eisendraht wieder entfernt werden. Die Sorgfalt und Geduld, die hierbei angewendet wurden, sind aus folgender Passage zu entnehmen: Wenn es aber nach all dem passiert, daß ein Luftbläschen in der Quecksilbersäule zurückbleibt, das, wenn es durch stärkere Erwärmung zum Aufsteigen gebracht wird, zum Vorschein kommen und die besagte Säule unterbrechen könnte, wie es, wenn das Instrument in siedendes Wasser getaucht wird, bisweilen, jedoch selten, vorkommt, dann muss das Ende der Röhre wieder geöffnet und das Kochen samt allen übrigen Arbeiten in gleicher Weise wiederholt werden. 31 Danach mussten die Eichpunkte für den Eispunkt und den Kochpunkt sorgfältig und reproduzierbar angebracht werden, wobei darauf zu achten war, dass der verwendete Schnee oder das Eis möglichst rein waren und nicht nur das Quecksilbergefäß, sondern die ganze Kapillare bis zum Eispunkt in den Schnee eintauchte. Beim Kochpunkt war der Luftdruck zu beachten, denn auf Bergen kocht Wasser bei niedrigerer Temperatur als auf Meeresniveau. Hemmer verwendete aber nicht den Luftdruck auf Meeresniveau, sondern einen etwas geringeren Druck. Der dadurch entstandene Fehler beim Kochpunkt ist aber gegenüber andern Fehlern von untergeordneter Bedeutung. Schließlich war die mit Quecksilber gefüllte Thermometerkapillare in geeigneter Weise zuzuschmelzen, so dass innen Vakuum herrschte. Endlich musste zum Schluss die gleichförmige Graduierung auf dem Holzbrett, wofür Nussbaumholz verwendet wurde, angebracht werden. Man sieht aus den zahlreichen kritischen Arbeitsschritten, dass es keineswegs nur etwas glasbläserischer Geschicklichkeit bedurfte, um übereinstimmende Thermometer herzustellen. Der Berliner Arzt Hufeland kritisierte beispielsweise vom gleichen Glasbläser Artaria im Jahr 1796 gefertigte Thermometer als nicht übereinstimmend, 32 was die Wichtigkeit der Aufsicht eines Physikers wie Hemmer bei der Herstellung unterstreicht. Hemmer wusste um die größere oder geringere Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Thermometer verschiedener Hersteller und forderte daher sogar, dass Barometer und Thermometer eines Netzes aus Glas derselben Schmelze hergestellt werden müssen. Er hatte auch herausgefunden, dass Thermometer mit einem zylindrischen Quecksilbergefäß sich rascher an eine neue 31 P. W INKLER , Wissenschaftshistorische Untersuchungen, Dok. 11, S. 110. 32 C HRISTOPH W. VON H UFELAND , Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzney, Bd. 2, Jena 1796, S. 619. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 73 Temperatur anpassen als Thermometer mit einem kugeligem Gefäß. Obwohl er also die denkbar größte Umsicht bei der Fertigung seiner Instrumente walten ließ, war der Nullpunkt der Thermometer nicht langzeitstabil. Eine gründliche wissenschaftliche Inspektion der Station Hohenpeißenberg wurde im Dezember 1835 von dem Physiker August Steinheil im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vorgenommen. Da seit der ersten Einrichtung die Instrumente unverändert geblieben waren, ist dieser Bericht 33 aus wissenschaftshistorischer Sicht außerordentlich aufschlussreich. Steinheil hatte auch Vergleichsmessungen vorgenommen, die Ergebnisse sind jedoch leider verschollen. Zwar hatte 1822 der zur ›Akademie der Wissenschaften‹ in München gehörige Physiker Julius Konrad von Yelin (* 1771, † 1826) bereits eine Stationsbesichtigung durchgeführt und darüber einen Bericht angefertigt, eine Geräteprüfung war aber unterblieben. Lamont ersetzte das erste Palatina-Thermometer im Jahr 1842 durch ein unter seiner Aufsicht hergestelltes und kalibriertes Instrument. Er tauschte zudem die hölzerne Fensterhütte durch eine solche aus Blech aus, die besser durchlüftet war. Außerdem überprüfte er die Kalibrierung des alten Thermometers und fand nach mehrmaliger Kontrolle in frisch gefallenem Schnee, dass der Nullpunkt um 0,5 Grad nach oben gewandert war. Dieses Phänomen war 1808 erstmals von dem italienischen Physiker Bellani beschrieben worden. 34 Etwa zehn bis zwölf Jahre später setzten an vielen Institutionen in Europa allgemeine Überprüfungen zur säkularen Nullpunktswanderung der Thermometer ein. Der Münchner Akademiker Yelin hatte 1824 insgesamt 22 Thermometer untersucht und bei nahezu allen Quecksilberthermometern einen Nullpunktsanstieg gefunden, während Weingeistthermometer keinen Anstieg oder sogar eine Absenkung aufwiesen. In Stockholm, Paris, Genf und anderen Orten wurden entsprechende Prüfungen vorgenommen, mit ähnlichem Befund. Man glaubte, diesen Sachverhalt durch den äußeren Luftdruck erklären zu können, der die evakuierten Quecksilberthermometer allmählich zusammenpresse, wodurch sich das Volumen der Quecksilberkugel verringere und der Nullpunkt ansteige. Da Weingeistthermometer nicht evakuiert seien, zeige sich hier kein säkularer Nullpunktsanstieg. Diese zwar logische, aber falsche Erklärung für den säkularen Nullpunktsanstieg wurde in der Folgezeit immer wieder von Physikern untersucht, aber keineswegs besser verstanden. Erst im Jahr 1879 kamen Rudolf Weber (Universität Berlin) und Johann Pernet (Kaiserliche Reichsanstalt Berlin) darauf, dass das Thermometerglas wegen seiner chemischen Zusammensetzung schrumpfte (elastische Nachwirkung), dadurch 33 P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 125. 34 A NGELO B ELLANI , Trattativi per determinare l’aumento di volume che acquista l’acqua prima e dopo la congelazione, Giornale di Fisica, Pavia 2 1808, S. 429-439. P ETER W INK LE R 74 etwas Quecksilber aus der Kugel herausgepresst wurde und so der Nullpunktsanstieg richtig erklärt werden konnte. Einige Jahre später fand Otto Schott in Jena nach systematischen Veränderungen der Glasrezeptur ein Thermometerglas, das praktisch nicht mehr schrumpfte, und seither konnte man, auch unter Beachtung weiterer Feinheiten beim Herstellungsvorgang, Thermometer fertigen, die keine Nullpunktsveränderung mehr aufwiesen. Die scheinbare Nullpunktsstabilität bei Weingeistthermometern erklärte sich später aus der Erkenntnis, dass Weingeist durch eine allmähliche Polymerisation sein Volumen etwas verringerte, wodurch die Volumenverringerung der Thermometerkugel kompensiert wurde. In Hohenpeißenberg kam Ende 1878 ein neues Thermometer zum Einsatz. Sein Nullpunkt wurde 1887 kontrolliert und als unverändert befunden. Die Ursache für das Schrumpfen des alten Glases beruht auf dem Gehalt an Natrium- und Kaliumoxid. Etwas vereinfacht dargestellt, fand man heraus: Sind beide Oxide enthalten, tritt das Schrumpfen auf, ist dagegen nur das eine oder das andere Alkali enthalten, dann wird das Schrumpfen minimal. Werden also spezielle Glasrezepturen verwendet und die Thermometer nach der Fertigung zusätzlich langsam abgekühlt, dann bleiben sie formstabil. Etwaige Nullpunktsveränderungen sind dann deutlich geringer als 0,1 °C. Bereits Lamont hatte bei einer Kontrolle seiner Thermometer nur eine minimale Veränderung des Nullpunktes feststellen können. Die alten Thermometergläser im 18. Jahrhundert waren mit Hilfe von Pottasche geschmolzen worden, die beide Alkali-Oxide gemischt enthält. Daher weisen nahezu alle frühen Temperaturmessungen einen Fehler infolge des Nullpunktsanstieges auf, wobei zunächst nur für Hohenpeißenberg das Ausmaß des Fehlers bekannt ist. Da aber alle Thermometer des Palatinanetzes aus der Hemmer’schen Produktion auf gleiche Weise hergestellt worden waren, kann man davon ausgehen, dass sämtliche Temperaturdaten dieses Netzes mit einem ähnlich großen Fehler behaftet sind. Nun erfolgt das Schrumpfen der Thermometerkugel nicht schlagartig, sondern erstreckt sich über mehrere Jahre. Auch dazu sind mehrere Untersuchungen angestellt worden, auf die hier nicht eingegangen werden soll. 35 Danach kann man aber annehmen, dass das Schrumpfen zunächst rascher, dann langsamer erfolgt und nach sechs Jahren weitgehend abgeklungen ist. 35 Beispiele sind in P. W INKLER , Wissenschaftshistorische Untersuchungen (Anm. 9), zusammengestellt. W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 75 5. Die Hohenpeißenberger Temperaturreihe Lamont, der das Hohenpeißenberger Thermometer überprüft hatte, wollte auch die Datenreihe publizieren. 36 Somit entstand für ihn natürlich die Frage, ob er den ihm bekannten Messfehler korrigieren sollte oder nicht. Er hat es nicht getan, und über seine Gründe lassen sich nur Vermutungen anstellen: Da er 1842 ein neues Thermometer eingesetzt hatte, war es ihm wichtig, die beiden Messabschnitte einander anzugleichen. Er hob, wohl des geringeren Arbeitsaufwandes wegen, die Messungen mit dem neuen Thermometer von 1842 bis 1850 um 0,5 Grad Reaumur künstlich an, damit es mit dem alten Thermometer in Übereinstimmung kam und die Datenreihe homogen war. Damit sind aber alle Messwerte bis 1850 um 0,5 °R ( = 0,6 °C) zu hoch und müssen abgesenkt werden. Erstaunlich bleibt allerdings, dass diese künstliche und im Grunde genommen bekannte Erhöhung seither nie beseitigt wurde. Schon vor Lamont hatte Steinheil, wie erwähnt, 1835 Vergleichsmessungen durchgeführt, sein Befund ist jedoch nicht mehr vorhanden. Es ist bereits geschildert worden, dass das Hohenpeißenberger Thermometer in einer Fensterhütte untergebracht war. Aus der lateinischen Stationsbeschreibung 37 ist aber zu entnehmen, dass das Fenster bei ›trocknem Wetter‹ immer offen gehalten wurde. Der Beobachterraum und die Nachbarräume waren zwar nie geheizt, dennoch hat die im Gebäude gespeicherte Wärme die Temperaturmessung bei offenem Fenster beeinflusst. Es soll hier nicht auf die fachlichen Details eingegangen werden, doch lässt sich abschätzen, dass in den ersten 20 oder 30 Jahren der Messreihe die Temperatur noch um 0,1 bis 0,2 °C zu hoch gemessen wurde und nochmals korrigiert werden muss. 1952 wurden erneut Vergleichsmessungen zwischen dem alten Messplatz am Fenster des Pfarrhofes und dem 1940 in Betrieb genommenen neuen Messfeld vorgenommen. Dabei stellte sich heraus, dass im Sommerhalbjahr zum Ablesezeitpunkt um 7 Uhr morgens die Temperatur bei Sonnenschein zu hoch ausfiel. Werden nun die beschriebenen Fehler in der Temperaturmessreihe korrigiert und auch die Veränderungen, die von einer zeitweilig anderen Methode zur Berechnung der Tagesmitteltemperatur herrühren, beseitigt, dann erhält man die in Abb. 5 gezeigte langfristige Temperaturentwicklung: Die Temperatur blieb über die ersten 100 Jahre weitgehend konstant, sieht man von natürlichen dekadischen Schwankungen ab. Ab 1890 erkennt man deutlich den allmählichen Temperaturanstieg, der auf die Freisetzung von CO 2 und anderen Treibhausgasen durch menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist. Das letzte Jahrzehnt ist dabei das 36 J OHANN L AMONT , Beobachtungen des Meteorologischen Observatoriums auf dem Hohenpeissenberg von 1792-1850, in: Annalen der Münchner Sternwarte, Supplement III, München 1851. 37 Übersetzung s. P. W INKLER , Quellen-Sammlung (Anm. 4), Dok. 13. P ETER W INK LE R 76 wärmste. Dieser Trend wird sich fortsetzen, wenn nicht im globalen Rahmen die Freisetzung der Treibhausgase drastisch reduziert wird. Dabei ist zu bedenken, dass an einem Messort wie Hohenpeißenberg die positiven und negativen Abweichungen von der Mitteltemperatur größer ausfallen als bei der globalen Mitteltemperatur. 1800 1850 1900 1950 2000 Jahr 0 2 4 6 8 10 Temperatur °C uncorr. Daten Y = 0.0023 * X + 2.01 1781-2006 nach Korrektur: Y = 0.0055 * X - 4.11 also kein Trend, nur natürliche Schwankungen 1890-2006 Y = 0.008 * X - 8.89 Klimaerwärmung Abb. 5: Unkorrigierte (grau) und korrigierte (schwarz) Temperaturreihe des Meteorologischen Observatoriums Hohenpeißenberg von 1781-2006. Die Klimaerwärmung tritt nach der Korrektur deutlicher in Erscheinung. Somit zeigt sich, wie durch eine sorgfältige wissenschaftshistorische Untersuchung der Messtechnik eine Bewertung der Qualität und Korrektur früher Messungen möglich wird, die auch für die heutige Zeit Bedeutung hat. Neben der hier näher beschriebenen Nullpunktskorrektion, die bekannt ist, stecken noch einige weitere Unsicherheiten in der Messreihe: Die Temperatur, die am offenen Fenster bei »trocknem Wetter« gemessen wurde, entsprach nicht der wahren Lufttemperatur. Dazu gibt es leider keine Aufzeichnungen, aber das Gebäude mit der darin gespeicherten Wärme konnte, auch wenn der Beobachtungsraum und die benachbarten Räume unbeheizt waren, die Temperaturmessung beeinflussen: War es im Gebäude kühler als außerhalb, fiel die Messung bei offenem Fenster zu niedrig aus, und umgekehrt. Dieser Fehler ist schwer zu quantifizieren, weil nicht bekannt ist, wann genau das Fenster offen war. Möglicherweise hielt man es nachts immer geschlossen, weil man nicht wissen konnte, ob Regen oder Nebel einsetzte. Einen gewissen Anhaltspunkt kann man aus der Differenz zwischen W E TTER ST AT ION H OHEN P E IS S EN BERG 77 dem Thermometer der Fensterhütte zum Thermometer am Barometer, das im Raum selbst hing, abzuleiten versuchen. Man kann argumentieren, dass im Jahresmittel der Fehler vielleicht gering sein mochte, weil sich positive und negative Störungen kompensierten, letztlich bleibt aber eine Unsicherheit, die erst nach neuen diesbezüglichen Vergleichsmessungen genauer eingeschätzt werden kann. Ein weiterer Fehler entstand durch die Sonnenstrahlung, die zum 7-Uhr-Termin bei schönem Wetter das Thermometer trotz der vorhandenen Fensterhütte beeinflussen konnte. Die Nordwand wurde dann von den Sonnenstrahlen erwärmt und das relativ dicht am Fenster hängende Thermometer befand sich in der an der Hauswand emporsteigenden erwärmten Luftschicht. Diese Störung ist aber schwer zu bestimmen, da sie nur bei Windstille groß war, bei größerer Windgeschwindigkeit aber geringer ausfiel. An den anderen Ableseterminen war kein Sonnenstrahlungseinfluss feststellbar. Im Jahr 1849 waren zusätzliche Schattenschirme angebracht worden, die verhinderten, dass die Sonne unmittelbar auf die Fensterhütte scheinen konnte, die Störungen von der erwärmten Wand wurden dadurch aber nicht beseitigt. Aus den Vergleichsmessungen zwischen der Fensterhütte und der heutigen Wetterhütte, die 1952 vorgenommen wurde, lässt sich ein gewisser Anhalt über die Größe dieses Fehlers errechnen. Weil diese Beeinträchtigung aber nur im Sommerhalbjahr und nur bei schönem Wetter wirksam werden konnte, blieb der Fehler im Jahresmittel der Temperatur wohl kleiner als 0,2 °C. Dennoch wird eine weitere, wenn auch kleine, negative Korrektur anzubringen sein und infolgedessen der Temperaturanstieg im Zuge des Klimawandels noch etwas verstärkt in Erscheinung treten, wenn es gelingt, diese Fehler kleinerer Größenordnung besser zu quantifizieren und zu korrigieren. 6. Zusammenfassung Lange meteorologische Messreihen sind wertvoll. Wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Geschichte der Messstation Hohenpeißenberg und zur Qualität der dort gesammelten Beobachtungsdaten sind aber erforderlich, um Qualität, Homogenität und Vergleichbarkeit zu ermitteln sowie etwa anzubringende Korrekturen zu begründen. Es konnte gezeigt werden, dass Korrekturen an der Hohenpeißenberger Temperaturreihe notwendig sind und dass dadurch der Temperaturanstieg infolge des anthropogen verursachten Klimawandels deutlicher ausfällt als bisher angenommen. Der lineare Temperaturanstieg erweist sich nach der Korrektur als mehr als doppelt so groß wie vorher gemessen. In diesem Zusammenhang wird ein Vergleich mit Temperaturen, die mittels anderer Methoden indirekt erschlossen wurden, zur Klimageschichte früherer Zeiträume bedeutsam. Aus der vorinstrumentellen Periode kann die Temperatur nur P ETER W INK LE R 78 aus sogenannten Proxidaten abgeleitet werden, also beispielsweise aus Baumringen, Isotopenverhältnissen in Muschelkrebsschalen oder anderen Verfahren. 38 Diese Näherungsdaten, auch wenn sie im Einzelwert weniger präzise sind als instrumentell gewonnene Messwerte, ergeben für unser Gebiet ein im Mittel niedrigeres Temperaturniveau als die Messinstrumente. Es gibt jedoch keinen Grund dafür, dass diese Ersatzdaten schlechter zu bestimmen oder unzuverlässiger wären. Nachdem jetzt gezeigt werden konnte, dass die frühen Thermometer unter einem säkularen Nullpunksanstieg litten, wird die Differenz nach der Korrektur der Messdaten zu den Proxidaten geringer. Eine kleine Differenz zwischen beiden Verfahren verbleibt immer noch, die aber mit anderen Störungen, am wahrscheinlichsten durch Strahlungsfehler bei der Messung zu bestimmten Jahres- oder Tageszeiten, zu erklären ist. Die historischen Aufzeichnungen zur Station Hohenpeißenberg, zu den Messverfahren und zur Beobachtungsmethodik erweisen sich dabei als eine unverzichtbare Quelle zur Beurteilung der ehemaligen Arbeitsweise bei der Instrumentenherstellung und Beobachtungstätigkeit. Nur so ließen sich Beobachterwechsel, Instrumentenwechsel, Änderungen in der Mess- und Beobachtungstechnik einigermaßen rekonstruieren. Hohenpeißenberg ist in der glücklichen Lage, dass viele historische Quellen in verschiedenen Archiven vorhanden sind und zur Bewertung der Datenqualität erschlossen werden konnten. Diese Erkenntnisse lassen sich auch zur Beurteilung von langen meteorologischen Beobachtungsreihen anderer Stationen verwenden. Die Glaubwürdigkeit und Größenordnung etwaiger Mängel von Messdaten sind aber Voraussetzung für die Einschätzung des Vertrauens, das wir in über lange Zeiträume gewonnene Datensätze haben dürfen und auf die wir die Dokumentation der ab 1890 einsetzenden Klimaerwärmung stützen. 38 R EINHARD B ÖHM u. a., Regional temperature variability in the European Alps: 1760- 1998 from homogenized instrumental time series, in: International Journal of Climatolology 21 (2001), S. 1779-1801; D AVID F RANK u. a., Warmer early instrumental measurements versus colder reconstructed temperatures: shooting at a moving target, in: Quaternary Science Reviews 26 (2007), S. 3298-3310. 79 H ANS -J ÖRG K ÜNAST In der Früh sehr kalt, nachmittags schön - Augsburger Wetteraufzeichnungen zwischen 1579 und 1588 Für das 16. Jahrhundert besitzen wir sowohl in Chroniken als auch in gedruckten ›Neuen Zeitungen‹ eine dichte Quellenüberlieferung für außergewöhnliche Wetterereignisse wie Unwetter, Stürme, Dürreperioden, Dauerregen mit Flutkatastrophen oder Himmelserscheinungen wie Polarlichter. 1 Die Besonderheit des Quellenfundes, der hier vorgestellt werden soll, besteht darin, dass ein Augsburger Bürger seinen Alltag in Schreibkalendern (Abb. 1) festhielt und u. a. auch das Wetter aufzeichnete. Solche kontinuierlichen Wetterbeobachtungen aus dem 16. Jahrhundert, die längere Zeiträume berücksichtigen, sind eine Seltenheit. 2 1 Beispiele für Augsburger Drucke zu außergewöhnlichen Wetterereignissen: 1. Beschreibung der grausamen, erschrecklichen Geschichte, vom Himmel herab, mit ungewöhnlichem Wetter, Blitzen, Feuerstrahl und Hagel an etlichen Orten, nämlich zu Mecheln in Brabant, zu Solothurn in der Schweiz und zu Lezo in Neapel. [Augsburg: Philipp Ulhart d. Ä.], 1546. 4° [4] Bl. SuStBA, 4° Kult. 186, Nr. 11; 2. Wahrhaftige und erschreckliche neue Zeitung von dem großen und gewaltigen Zulauf des Wasserflusses der Stadt Bern im Welschland ( = Verona), geschehen den 30. und 31. Oktober 1567. Augsburg: Hans Zimmermann, [1567]. 4° [4] Bl. SuStBA, 4° Kult. 186, Nr. 19; 3. Schreckliche neue Zeitung aus Augsburg, so man an dem Himmel (Polarlichter) gesehen und eigentlich vernommen hat, den 2. Juli 1587. Augsburg: Hans Schultes d. Ä., [1587]. Einblattdruck. Augsburg, Graphische Sammlung, G 14570 (Provenienz: Georg Kölderer); 4. Neue, doch leidige Zeitung, was Maßen die Springflut in dem 1616. Jahr gleich in der Wochen nach dem neuen Jahr, sich so heftig ergossen, dass die um Hamburg und in dem Land Holstein merklichen Schaden getan hat. Augsburg: Georg Kreß, [1616]. Einblattdruck. Wolfenbüttel HAB, 38.25 Aug. 2°, fol. 804. - Ein schönes Beispiel aus der Augsburger Chronistik findet sich am Ende dieses Beitrags. 2 Kontinuierliche Wetteraufzeichungen über einen längeren Zeitraum sind aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert bislang lediglich von David Fabricius von 1585 bis 1612 in Emden, Tycho Brahe von 1582 bis 1597 auf der Insel Hven und Renward Cysat von 1570 bis 1612 in Luzern bekannt; vgl. C HRISTIAN P FISTER , Weeping in the Snow. The Second Period of Little Ice Age-type Impacts, 1570-1630, in: W OLFGANG B EHRINGER u. a. (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der ›Kleinen Eiszeit‹. Cultural Consequences of the ›Little Ice Age‹ (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005, S. 31-86, bes. 76f. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 80 Abb. 1: Nikolaus Winckler, Schreibkalender für 1579. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 81 Abb. 2: Nikolaus Winckler, Schreibkalender für 1579. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 82 Die Augsburger Wetterdaten umfassen - leider mit einigen Lücken - den Zeitraum von zehn Jahren zwischen 1579 und 1588. 3 Sie fallen damit in eine Zeit, als sich im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten das Klima in Mitteleuropa deutlich verschlechterte. Aber nicht nur Mitteleuropa war von der ›Kleinen Eiszeit‹ seit Beginn der 1570er Jahre betroffen, sondern auch viele andere Weltregionen. 4 Die Augsburger Wetteraufzeichnungen beginnen mit dem Neujahrstag 1579 (Abb. 2). Um einen Eindruck von der Art und Qualität der Aufzeichnungen zu vermitteln, seien die Kalendereinträge der ersten Januarhälfte aufgeführt, als kaltes und meist tristes Winterwetter anhielt, ehe am Nachmittag des 14. Januar das Wetter umschlug und eine Tauperiode einsetzte: 5 [1. Jan.] Manè sehr kalt. Nachm: schön. [2. Jan.] Ein trüeber zimlich kalter tag. [3. Jan.] Ein trueber tag. Vesperi plus ninxit. [4. Jan.] (So) Ein trueber nübliger tag. [5. Jan.] Ein trueber tag. [6. Jan.] Ein trüeber zimlich kalter tag. [7. Jan.] Trüeb vnd kalt. [8. Jan.] Trüeb vnd kalt. [9. Jan.] Trüeb zimlich kalt. [10. Jan.] Trüb: Nachm: sehr geschnien kalt windig. [11. Jan.] (So) Trüeb mit wenig schne. [12. Jan.] Ein trueber tag, sehr geschnien. [13. Jan.] Manè nublig Hernach zimlich schön vnd kalt. [14. Jan.] Praeterita noctis vnd disen Vorm: grim kalt. Vesperi hat es sich entschlagen, circa 6 ta pluit, sicut et sequenti nocte. [15. Jan.] Den ganzen tag fast vberregnet, welches den Schne gar hinweck genommen. Charakteristisch für die Aufzeichnungen, die in der Regel wohl innerhalb von 24 Stunden erfolgten, ist zum einen, dass deutsche und lateinische Sprache nebeneinander stehen und der Wechsel von der einen in die andere Sprache mitten im 3 Vgl. Anhang. 4 W OLFGANG B EHRINGER , Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit, in: M ANFRED J AKUBOWSKI -T IESSEN / H ARTMUT L EHMANN (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 51-156, bes. 54: »Die erste wirklich große Krise der frühneuzeitlichen Phase der ›Kleinen Eiszeit‹ war die Krise von 1570, wie dieses komplexe Phänomen der Einfachheit halber im folgenden genannt werden soll.« 5 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 1.-15.1.1579. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 83 Satz erfolgen konnte (vgl. Eintrag vom 14. Januar). 6 Zum anderen fällt die knappe Form ins Auge, die dem begrenzt zur Verfügung stehenden Raum geschuldet ist (Abb. 2). Aus diesem Grund kürzt der Verfasser häufig auftretende Begriffe gern ab. Manchmal ergeben sich hieraus erhebliche Verständnisschwierigkeiten, besonders bei abgekürzten Orts- und Personennamen. 7 Bevor jedoch auf die Wetteraufzeichnungen detailliert eingegangen werden kann, sind vorab noch einige andere Aspekte anzusprechen. Zunächst ist nämlich die Quellenserie näher zu charakterisieren und anschließend der Verfasser der Aufzeichnungen vorzustellen. Erst mit diesem Hintergrundwissen ist es sinnvoll, den Inhalt seiner Notizen, besonders seiner Wetterdaten, auszuwerten. 1. Schreibkalender der Frühen Neuzeit - eine unterschätzte Quellengattung Der systematische Zugriff auf die erhaltenen Kalenderbestände der Frühen Neuzeit ist noch als unbefriedigend zu bezeichnen. Da Kalender häufiger als Archivgut erhalten geblieben und nur zu einem geringen Teil in Bibliotheken zu finden sind, sind sie in Online-Katalogen wissenschaftlicher Bibliotheken und in Bibliographien zur Frühen Neuzeit nur sehr lückenhaft verzeichnet. Auch das Augsburger Beispiel ist hierfür ganz typisch, denn keiner der Kalender ist bislang im ›Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts‹ - der deutschen Nationalbibliographie für diesen Zeitraum - nachweisbar. 8 6 Sebald Welser (* 1557, † 1589) aus der Nürnberger Linie der bekannten süddeutschen Kaufmannsfamilie, nutze Latein und Deutsch in gleicher Weise für seine Notizen in Kalendern; vgl. U RSULA K OENINGS -E RFFA , Das Tagebuch des Sebald Welser aus dem Jahre 1577, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 46 (1955) S. 262-371. Der Beitrag enthält eine vollständige Transkription der Kalendereinträge. 7 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 7.3.1579: Ein herrlicher schöner warmer tag. Manè misi responsum Abbati ad missor Articulos. Post prand: Fui cum vxore spatiatum ad seminationem. Die rosen Stöck aufdeckt. Accepi Vesperi literas a fratre Christophero et Joach: Höchst. [ = Joachim Höchstetter]. - Der Verfasser ist gelegentlich auch ein kreativer Wortschöpfer, wofür das Verb erdbörare ein anschauliches Beispiel bietet; vgl. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 15.7.1579: Vorm: ziml: fein. Nachm: post 3: a pluit. Fui post prand: erdböratum. Damit bezeichnet der Verfasser das Sammeln von Erdbeeren im Wald, einer Beschäftigung, der er an diesem Tag nach dem Frühstück nachging, ehe es am frühen Nachmittag zu regnen anfing. 8 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16), hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. I. Abteilung: Verfasser - Körperschaften - Anonyma, Bd. 1-22, Stuttgart 1983-1995; II. Abteilung: Register der Herausgeber, Kommentatoren, H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 84 Für Nürnberg und Wien, zwei wichtigen Zentren des Kalenderdrucks, liegen immerhin fundierte Lokalstudien vor. 9 Die systematische Erschließung der gedruckten Kalender verbessert sich jedoch in jüngster Zeit durch ein Forschungsprojekt von Klaus-Dieter Herbst, 10 der zunächst die Schreibkalender des 17. Jahrhunderts erfasst. 11 Für das 18. Jahrhundert ist auf die Forschungsarbeiten von Volker Bauer zu den Amtskalendern zu verweisen. 12 Das Kalenderwesen der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand bislang die meiste Aufmerksamkeit im Diskussionszusammenhang von Aufklärung, Volksaufklärung Übersetzer und literarischen Beiträger, Bd. 1-2, Stuttgart 1997; III. Abteilung: Register der Druckorte, Drucker, Verleger und Erscheinungsjahre, Stuttgart 2000. Es empfiehlt sich, die Online-Version des VD 16 (www.vd16.de) und die Druckausgabe gemeinsam zu benutzen. Während der Online-Katalog inzwischen fast 26.000 zusätzliche Druckausgaben verzeichnet und für viele Ausgaben zahlreiche Exemplarnachweise, so hat er noch immer den Nachteil, dass die Titelaufnahmen durch die Datenkonversionen gelitten haben. 9 K LAUS M ATTHÄUS , Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969), Sp. 967-1678; M ANFRED H ANISCH , Politik in und mit Kalendern (1500-1800). Eine Studie zur Endterschen Kalendersammlung in Nürnberg, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 49 (1989) S. 59-76; J OSEF S EETHALER , Das Wiener Kalenderwesen von seinen Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Buchdrucks, 2 Bde., Wien 1982 (unpublizierte Diss.); D ERS ., Das Wiener Kalenderwesen des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 41 (1985) S. 62-112. 10 Das Projekt ›Die wissenschaftliche Professionalisierung des Kalenderwesens im 17. Jahrhundert im Kontext der Frühaufklärung‹ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert; vgl. K LAUS -D IETER H ERBST , Das Neueste im Jahresrhythmus - Zur Professionalisierung des Kalenderwesens im 17. Jahrhundert, in: H OLGER B ÖNING / A STRID B LOME (Hg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung, Bremen 2008, S. 97-124. 11 In der Schriftenreihe ›Acta Calendariographica‹ werden einerseits Forschungsberichte und andererseits ausgewählte Jahrgangsexemplare im Faksimiledruck herausgegeben; vgl. Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts. Erstellt von K LAUS -D IETER H ERBST (Acta Calendariographica - Forschungsberichte 1), Jena 2008; Christen-, Juden- und Türken-Kalender für das Jahr 1667 verfaßt von Gottfried Kirch, neu hg. von K LAUS - D IETER H ERBST (Acta Calendariographica - Kalenderreihen 1.1), Jena 2008. Das faksimilierte Exemplar des Hessischen Staatsarchivs in Darmstadt mit zahlreichen handschriftlichen Einträgen gehörte Elisabeth Dorothea, Landgräfin von Hessen-Darmstadt. 12 V OLKER B AUER , Repertorium territorialer Amtskalender und Amtshandbücher im Alten Reich. Adreß-, Hof-, Staatskalender und Staatshandbücher des 18. Jahrhunderts, 4 Bde., Frankfurt/ Main 1997-2005; D ERS ., Das preußische Kalenderwesen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: B ERND S ÖSEMANN (Hg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 175-192. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 85 und sich entwickelndem Pressewesen. 13 Die handschriftlichen Aufzeichnungen und Notizen in Kalendern wurden bislang eher selten thematisiert, geschweige denn in ihrem Potential ausgeschöpft. 14 Ansätze hierzu sind am ehesten in der Adelsforschung zum 17. und 18. Jahrhundert zu finden. 15 Eine Sichtung von erhaltenen Kalenderbeständen hinsichtlich Wetterdaten und -aufzeichnungen wurde bislang nicht vorgenommen, wäre aber wahrscheinlich ein lohnenswertes Unternehmen, um neues Quellenmaterial für die historische Klimaforschung zu erschließen. Da keiner der Augsburger Kalender von 1579 bis 1588 bislang bibliographisch erfasst und beschrieben ist, lohnt es sich, diese näher vorzustellen, zumal es sich um einen neuen Typus von Schreibkalendern handelt, was auch im Titel bereits hervorgehoben wird: Schreibkalender Gestelt […] Auff ein newe art/ allen Schreybern/ Kauffleuten vnd Hendlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht (Abb. 1). Auf die Bedürfnisse von Berufsschreibern, Kaufleuten und Händlern wollten die Drucker und Verleger dieser Kalender also besonders eingehen. Hierfür wurde zunächst ein sehr handliches Format gewählt. Die Schreibkalender, auch Sackkalender genannt, haben Maße von etwa 145 x 95 mm. Es handelt sich um Drucke im Oktavformat, bestehend aus sieben Druckbögen oder 56 Blättern. 16 Sie besitzen keinen Einband, aber wie gebundene Bücher eine Fadenheftung, wobei die Buchrücken mit einem Buntpapierstreifen überklebt sind, was zum einen den Buchrücken stützt und andererseits die Fadenheftung verdeckt. Hierdurch weisen sich die Kalender als typische Produkte aus, die im Kolportagehandel vertrieben wurden. Kalender können über den Stand von Sonne, Mond und weiteren Planeten sowie über die vom Lauf der Gestirne abhängigen günstigen oder ungünstigen Tage für die Gesundheitsfürsorge wie Aderlassen und Schröpfen sehr ausführlich unterrichten. Im Gegensatz dazu beschränken sich die Kalender für Kaufleute auf die wichtigen Festtage des Kirchenjahres und das Allernötigste hinsichtlich 13 Z. B. K ATHARINA M ASEL , Kalender und Volksaufklärung in Bayern. Zur Entwicklung des Kalenderwesens 1750 bis 1830, St. Ottilien 1997; A STRID B LOME (Hg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung (Presse und Geschichte - Neue Beiträge 1), Bremen 2000; H OLGER B ÖNING , Volksaufklärung und Kalender. Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu ersten praktischen Versuchen bis 1780, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 56 (2002), S. 79-101. 14 K ARL S CHOTTENLOHER , Tagebuchaufzeichnungen in immerwährenden Buchkalendern der Frühdruckzeit, in: Otto Glauning zum 60. Geburtstag. Festgabe aus Wissenschaft und Bibliothek, 2 Bde., Leipzig 1926-1928, Bd. 2, S. 88-96. 15 Z. B. H ELGA M EISE , Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624-1790 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission NF 21), Darmstadt 2002. 16 Vgl. die ausführlichen bibliographischen Aufnahmen im Anhang. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 86 astronomischer, medizinischer und diätischer Angaben. Für Kaufleute und Händler waren dagegen die Termine für Messen und Märkte entscheidende Informationen, die in den Kaufmannskalendern abgedruckt wurden. Nicht selten wurde dies auf den Titelblättern vermerkt und damit ein zusätzlicher Anreiz für den Kauf dieser Kalender gegeben. Mit Ausnahme von Einblattkalendern sahen alle anderen Kalendersorten bereits die Möglichkeit für handschriftliche Eintragungen vor. Allerdings gab es mehrere Varianten, wie dies praktisch eingerichtet wurde. Die Drucker setzten ihren Text auf die Versoseite eines Blattes und ließen für Notizen die Rectoseite leer. Die zweite Möglichkeit war, dass der Text fortlaufend gesetzt und gedruckt wurde, anschließend der Buchbinder jedoch durchschossene Exemplare herstellte, indem er leere Blätter einlegte, so dass nach jedem bedruckten ein leeres Blatt beigebunden wurde. Der Typus des Kaufmannskalenders unterscheidet sich von diesen sonst üblichen Verfahren dadurch, dass die oben genannten Informationen sich auf ein Minimum beschränken, dafür aber viel Platz für Notizen lassen. Hierfür ist der Satz wie bei unseren heutigen Terminkalendern eingerichtet (Abb. 2). Die Kalender von 1579 bis 1588 stammen - mit Ausnahme des Jahres 1584 - alle aus Augsburg, wo sie in der Offizin von Michael Manger (aktiv ca. 1567-1603) gedruckt wurden. 17 1584 sind je ein Kalender aus Nürnberg von Ulrich Neuber (aktiv 1549-1586) 18 und München von Adam Berg (aktiv 1564-1609) 19 erhalten, wobei der Kalenderschreiber in der ersten Jahreshälfte den Nürnberger und in der zweiten den Münchener Kalender für seine Aufzeichnungen benutzte. Wie wichtig der Kalenderdruck für das damalige Druckgewerbe war, ist daran zu erkennen, dass sowohl die Augsburger als auch die Münchener Ausgaben durch kaiserliche Druckprivilegien geschützt waren. 20 Die Autoren der Augsburger Kalender sind in der Regel bekannte Persönlichkeiten: Für Michael Manger berechnete Nikolaus Winckler (* ca. 1529, † 1613) die 17 H ANS -J ÖRG K ÜNAST , Dokumentation: Augsburger Buchdrucker und Verleger, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von H EL - MUT G IER / J OHANNES J ANOTA , Wiesbaden 1997, S. 1228f.; C HRISTOPH R ESKE , Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2007, S. 41. 18 C HR . R ESKE , Buchdrucker (Anm. 17), S. 681f. 19 C HR . R ESKE , Buchdrucker (Anm. 17), S. 624f. 20 Die kaiserlichen Druckprivilegien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Verzeichnis der Akten vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Deutschen Reichs (1806), hg. von H ANS -J OACHIM K OPPITZ (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv 75), Wiesbaden 2008, S. 600. Hier sind Kalenderprivilege für die Autoren Nikolaus Winckler und Georg Henisch genannt, die der Buchführer Georg Willer d. Ä. 1586 und 1597 beantragte. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 87 Kalender, der von etwa 1560 bis 1600 als Stadtarzt in Schwäbisch Hall und als Verfasser zahlreicher Werke nachweisbar ist. 21 Johann Praetorius (* 1537, † 1616) war Mathematiker, Astronom und Instrumentenbauer in Prag, Wien, Krakau und Wittenberg. Er erhielt 1576 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Altdorf, wo er bis zu seinem Tod lebte. 22 Georg Henisch (* 1549, † 1618) praktizierte als Arzt in Augsburg, ist aber bekannter in seiner Funktion als Rektor des St.-Anna-Gymnasiums und in Personalunion damit als Leiter der Augsburger Stadtbibliothek in den Jahren von 1580 bis 1617. 23 Er berechnete jährlich im Auftrag der Reichsstadt Augsburg den offiziellen Kalender und wurde dafür regelmäßig mit einer Verehrungen von 50 Gulden entlohnt, womit die Kalenderberechnung eine lukrative Angelegenheit für ihn war. Weitgehend unbekannt ist nur der vierte Kalenderautor Petrus Lemp, der aus Nördlingen stammte und neben dem Kalender für das Jahr 1584 noch eine deutsche Praktik für das Jahr 1580 verfasste. 24 2. Provenienz der Kalenderserie von 1579 bis 1588: Die Kaufmannsfamilie Steudlin Die Schreibkalender aus den Jahren 1579 bis 1588 werden heute in der Amtsbibliothek des Augsburger Stadtarchivs als Teil einer größeren Sammlung von 21 H ELMUT H ÄUSER , Gibt es eine gemeinsame Quelle zum Faustbuch von 1587 und zu Goethes Faust? Eine Studie über die Schriften des Arztes Dr. Nikolaus Winckler (um 1529-1613). Mit einem Anhang der wiedergegebenen Quellen, Wiesbaden 1973. 22 K LAUS M ATTHÄUS , Die offiziellen Nürnberger Kalenderschreiber, in: Astronomie in Nürnberg. Anläßlich des 500. Todestages von Bernhard Walther (1430-1504) Mitte Juni 2004 und des 300. Todestages von Georg Christoph Eimmart (1638-1705) am 5. Januar 2005, hg. von G UDRUN W OLFSCHMIDT (Nuncius Hamburgensis - Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften 3), Hamburg 2010, S. 185-196, bes. 191f. 23 G ERHARD S TUMPF , Art. Henisch, Georg, in: Augsburger Stadtlexikon, 2., neu bearb. u. erw. Aufl., hg. von G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL u. a., Augsburg 1998, S. 489f. 24 New Corrigiert Schreibkalender/ […] Durch Petrum Lempen, Nordlingensem (vgl. die ausführliche Titelblattaufnahme im Anhang); P ETRUS L EMP , Prognosticon Astrologicum Oder Practica Teutsch/ Von den vier zeitten/ vnd andern zufellen/ auff das Jar nach vnsers Herren vnd Seligmachers Jesu Christi Geburt M.D.LXXX. Nach erschaf = fung der Welt 5542. […] München: Adam Berg, [1579]. 4° [8] Bl. VD16 L-1143. München BSB, Res/ 4° Astr.p. 514/ 31. - In der St. Georgskirche in Nördlingen ist das Epithaph eines Petrus Lemp nachweisbar, der Bürgermeister und Stadtkämmerer der Reichsstadt war und am 23.4.1630 verstarb. Dies könnte der gesuchte Autor sein, aber wahrscheinlicher ist es, dass es sich um einen gleichnamigen Sohn handelt; vgl. G EORG M ONNINGER , Die Epitaphien in der St. Georgskirche, in der Spitalkirche und im städtischen Museum zu Nördlingen, Nördlingen 1914, S. 8. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 88 Schreibkalendern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert aufbewahrt. Vermutlich wurde die Kalenderserie im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess beschlagnahmt. 25 In keinem Kalender ist ein Besitzeintrag, ein Wappen oder Exlibris vorhanden, wodurch der Eigentümer der Kalender und Schreiber der handschriftlichen Notizen eindeutig zu bestimmen wäre. Jedoch ließ sich mit Hilfe der Nennung von Verwandten, Freunden und Geschäftspartnern ermitteln, aus welcher Familie die gesuchte Person stammt. Besonders hilfreich war ein Eintrag im letzten erhaltenen Kalender aus dem Jahr 1588: Nuptiae celebratae fratris Pauli Steidelij cum Magdalena Grekin vidua. 26 Der hier genannte Paul Steudlin - Bruder des Verfassers der Wetteraufzeichnungen - ist ein Sohn des 1526 in Antwerpen geborenen und 1592 in Augsburg gestorbenen Kaufmanns Paul Steudlin d. Ä. Die Steudlin gehörten zur erweiterten wirtschaftlichen und politischen Elite Augsburgs. Trotz ihrer gehobenen sozialen Position ist über diese Kaufmannsfamilie mit Verbindungen nach Frankreich (Handel), Antwerpen (Handel und Wechselgeschäfte) und nach Tirol (Montanindustrie) bislang wenig bekannt. Darüber hinaus sind die publizierten Informationen fehler- und lückenhaft. So wird Paul Steudlin d. Ä. als einziges Mitglied der Familie in Wolfgang Reinhards ›Prosopographie der Augsburger Eliten‹ aufgeführt. 27 Dort ist auch die Heirat von Paul d. J. verzeichnet, allerdings mit der falschen Jahresangabe »1587« statt korrekt 1588, und die Braut Magdalena Greck führt den falschen Vornamen »Rosina«. Zudem wird Paul d. J. als einziger Nach- 25 Im Kalender von 1585 fehlen Einträge vom 19.-29.8., ehe der Schreiber seine Tätigkeit mit folgender Notiz wieder aufnimmt: Vorm: pluit nachm: Zim: schön. Hora 8 ta Citatus sum ad Senatum Secretum alda meiner Verhaftung ledig gesprochen worden. Laus Deo; vgl. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1585), Eintrag vom 30.8.1585. Alles deutet auf eine vorübergehende Untersuchungshaft oder einen Hausarrest hin. Ob hier jedoch ein ursächlicher Zusammenhang zu dem Sachverhalt besteht, weshalb die Kalender ins Stadtarchiv gelangten, muss vorläufig offen bleiben. - Eine andere Serie von Schreibkalendern von 1595 bis 1626, die ebenfalls in der Amtsbibliothek des Augsburger Staatsarchivs eingegliedert ist, stammt aus dem Besitz des Augsburger Patriziers und Ratsherren Friedrich Endorfer d. Ä., der im September 1628 inhaftiert wurde, nachdem aufgedeckt worden war, dass er Steuergelder im großen Stil unterschlagen hatte. Zu den bei seiner Festnahme beschlagnahmten Geschäftspapieren gehörten auch seine Schreibkalender mit zahlreichen Notizen, die allerdings keine Wetteraufzeichnungen enthalten. Vgl. hierzu: Die Korrespondenz der Augsburger Patrizierfamilie Endorfer, 1621-1627. Briefe aus Italien und Frankreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, hg. und komm. von M ARK H ÄBERLEIN / H ANS -J ÖRG K ÜNAST / I RMGARD S CHWANKE (Documenta Augustana 21), Augsburg 2010. 26 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 25.5.1588. 27 Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620, hg. von W OLFGANG R EINHARD , bearb. von M ARK H ÄBER - LEIN u. a., Berlin 1996, S. 814f., Nr. 1265. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 89 fahre von Paul Steudlin d. Ä. genannt, während aus den Kalenderaufzeichnungen hervorgeht, dass er mindestens zwei Brüder hatte: den Kalenderbesitzer und einen Bruder namens Christoph. 28 Auch wenn der Verfasser der Wetteraufzeichnungen bislang nicht eindeutig ermittelt werden konnte, 29 so ist es mit Hilfe der Informationen aus den Kalendern doch möglich, den Tagesablauf eines Augsburgers im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts zu rekonstruieren, welcher der Führungsschicht der Reichsstadt angehörte. Die Notizen sind dabei sehr schematisch abgefasst: Auf die Wetterdaten, die Steudlin zumeist zuerst notierte, folgt wo und mit wem er Frühstück, Mittag- oder Abendessen zu sich nahm, wen er sonst noch besuchte oder wer zu ihm nach Hause kam, von wem er Briefe bekommen hatte und an wen Post abging. 30 Auch wann, wohin und in wessen Begleitung er spazieren ging, wird festgehalten, ferner ob er auf dem Rathaus oder in der Kaufleutestube war. 31 Dabei wird genau 28 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 23.8.1579: Coenati sunt nobiscum frater Christopherus, Jos Schorerin et frater Paulus. 29 Die Bestände des Augsburger Stadtarchivs aus der reichsstädtischen Zeit waren im Jahr 2010 für die Benutzung wegen Brotkäferbefalls vollständig gesperrt, weshalb es nicht möglich war, die Herkunft der Kalender eindeutig zu klären. In den Augsburger Steuerbüchern der Jahre zwischen 1570 und 1600 werden bis zu zehn Personen mit dem Namen Steudlin, Steidlin etc. verzeichnet. Unter den dort genannten Personen ist der Eigentümer der Kalender vermutlich unter folgenden Steuerzahlern (hohe Steuerleistung, vornehme Wohngegend) zu suchen: Michael, Kaspar, Jörg oder Hans Steudlin. 30 Z. B. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 10.1.1579: Trüb: Nachm: sehr geschnien kalt windig. Pransi sumus apud Jos Schorer, qui post prand: hinc discessit Vinetias. Fui Vesperi apud Vitricum. Fui circa Ciuitatem.; ebd., Eintrag vom 18.1.1579: 18. Vorm: schön: Nachm: trüeb zimlich kalt. Fui post pran: spatiatum longè secundum Lycum. Coenati sumus apud Höchsteterum. Venit Holtzhausio ad nos Georg Jacob cum Karren adferens mihi literas à parrocho.; ebd., Eintrag vom 28.1.1579: Ein trüber tag. Nachm: sehr geschnien. Fui post prand: circa Ciuitatem. Manè fui apud Leonh: Menhart. Vesperi inuisi Vitricum. Coenati sumus apud Höchst: [ = Höchstetter] ibi etiam socrus Jos Schorerin et Catharina.; ebd., Eintrag vom 29.1.1579: Trüeb vnd Vor: vnd nachm: sehr geschnien, Vesperi geregnet. Post pr: fui apud socrum D. Burglin et Höchst: Coenati sumus cum Jos Schorerin cum nostris ferculis apud fratrem Chr[istopher]um.; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 27.11.1588: Manè kalt gefroren toto die gar windig. Haben wir die gangramen vnd Vorfenster fürgemacht. Nachm: ad D. Gering, qui sibi incidit Venam. Vesperi ad Vitricum. Gar grosse Wind biss vmb mitnacht. Accepi literas á Carolo Rosenbergero.; ebd., Eintrag vom 28.11.1588: Praeterita nocte der erst schnelin gelegt. Trüb scripsi Carolo Rosenbergero et nostris gen Persen [ = Persen-Pergine bei Trient]. Nachm: fui spat. 31 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 18.5.1588: Praeterita nocte pluit vnd disen Vormittag trüeb. Antè prand: auf Perlen. Nachm: auf Stuben, perdidi turr: per Leo Rott fl 2 krl 4 et dicked per Schlisselfelder kr 24. Wenn Steudlin regelmäßig notiert, dass er auf Perlen war, dann meint er wohl den Perlach und dass er an Sitzungen des Rats teilnahm. Die H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 90 beobachtet, was in der Stadt vor sich ging. Wenn Steudlin Einkäufe tätigte, dann werden auch die Preise aufgeschrieben. 32 Die Notizen sind dabei so ausführlich, dass sich Steudlins soziales Umfeld sehr anschaulich beschreiben lässt. Durch seine Besuche in der Kirche St. Anna, wobei er manchmal sogar Angaben zum Thema der gehörten Predigt macht, gibt er sich als Lutheraner zu erkennen, der persönlichen Kontakt zum Prädikanten Dr. Georg Mylius (1548-1607) pflegte, welcher im Zentrum des Streits um die Einführung des Gregorianischen Kalenders in Augsburg stand. 33 Enge private und geschäftliche Beziehungen bestanden zu einer Reihe von Augsburger und auswärtigen Patrizier- und Kaufmannsfamilien. Am häufigsten genannt werden Familienmitglieder der Herwart, Höchstetter, Hörmann, Jenisch, Ligsalz (München), Rosenberger (Augsburg und Trient), Schorer, Sitzinger, Sulzer und Weiß. Die genannten Korrespondenzpartner ermöglichen einen ersten Einblick in Steudlins geschäftliche Verbindungen. Er unterhielt zeitweise regelmäßigen Briefverkehr nach München zur Kaufmannsfamilie Ligsalz, 34 nach Frankfurt am Main und nach Venedig. 35 Besonders intensiv war der Briefwechsel mit Mitgliedern der Familie Rosenberger, die eine wichtige Rolle im Tiroler Bergbau spielten, vor allem im Gerichtsbezirk Persen (Pergine), der wenige Kilometer östlich von Trient Kaufleutestube suchte er gerne auf, um sich dort die Zeit mit Karten- und sonstigen Glücksspielen zu vertreiben. 32 Z. B. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 21.4.1579: Auch ein schöner tag. Manè emi Ceruisiam 2 ¾ Aimer a fl ii. Fui spatiatum. Coenati sumus apud Jos Schorerin.; ebd., Eintrag vom 28.4.1579: Zimlich schön vnd warm. Mané emi equum castaneum 23 fl. Zue mittag Leickauf beim Wirt truncken. Coenati sunt nobiscum Mater, frater Christopherus et Jos Schorerin. Misi equum Holtzhausium [ = Holzhausen bei Buchloe]; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 8.4.1580: Küel windig ziml: schön. Iui manè ad Vitricum, postea cum illo auf Weinmarckt. Vbi emi ein fesslin bier 1 ¾ Aimer 4 mass, a fl 2. Post prand: iui spatiatum ad pastores vaccarum. 33 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1581), Eintrag vom 3.5.1581: Gar ein schöner Warmer tag. D. Müllers in sua concione egit de festo Crucis. Ante prand: et Vesperi parum spatiatum. Nachm: allerlay rott angestrichen. Zu Georg Mylius (Müller) bzw. zum Kalenderstreit vgl. W OLFGANG W ALLENTA , Art. Mylius, Georg, in: Augsburger Stadtlexikon (Anm. 23), S. 673; bzw. P ETER S TEUER , Art. Kalenderstreit, in: ebd., S. 544f. 34 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 14.4.1579: Accepi manè literas á Ligsalzio, cui rescripsi.; ebd., Eintrag vom 16.4.1579: Item á Ligsalzi cui etiam rescripsi.; ebd., Eintrag vom 16.4.1579: Accepi manè literas á Ligsalzio, cui rescripsi. 35 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1583), Eintrag vom 21.3.1583 vermerkt einen Brief an Hieronymus Jenisch nach Frankfurt am Main; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1583), Eintrag vom 15.4.1588: Accepi manè literas à Jos Schorer Francfurto.; ebd., Eintrag vom 16.4.1588: Scripsi Jos Schorer Francfurtum.; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 23.1.1580: Scripsi Vinetias [ = Venedig] Höschstetero et Jos Schorer affinibus. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 91 liegt. 36 Die Rosenberger gingen zwar 1560 in Konkurs, konnten sich aber im Tiroler Bergbau behaupten, wo sie auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch nachweisbar sind. 37 Neben dem intensiven Briefverkehr, der bereits Rückschlüsse auf kaufmännische Aktivitäten zulässt, verzeichnete Steudlin auch immer wieder große Summen, die er persönlich entgegennahm oder auszahlte. So notierte er am 13. Januar 1580, dass von dem Adeligen Sigmund von Welden ein Kredit über 900 Gulden beglichen wurde, 38 und am 17. November 1579 bezahlte er fällige Zinsen für einen Kredit über 2.000 Gulden an den Augsburger Kaufmann Adam Rem. 39 Diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass Steudlin kein ganz unbedeutender Kaufmann gewesen sein kann, der im Kreditgeschäft tätig war und Kapital in der Montanindustrie investiert hatte. Es wäre also durchaus angebracht gewesen, ihn neben seinem Vater Paul Steudlin d. Ä. in Wolfgang Reinhards Prosopographie zu berücksichtigen. Neben den Geschäftskontakten werden in den Kalendern auch die privaten, auf den Familien- und Freundeskreis bezogenen Aktivitäten akribisch festgehalten, seien es außergewöhnliche Ereignisse wie Beerdigungen und Hochzeiten 40 oder ganz alltägliche Dinge wie die regelmäßigen Spaziergänge, die Steudlin allein oder in Begleitung unternahm. Auch der Hund durfte dabei nicht fehlen. 41 Im Winter 36 Neben den Rosenberger sind auch Mitglieder der Augsburger Familien Sitzinger und Jenisch, die in Persen angeschrieben werden bzw. die Post nach Augsburg schicken; vgl. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 15.11.1588: Scripsi Sitzingero et B. Jenisch gen Persen et Carolo Rosenbergero. - Dorthin schreibt er auch Christoph Steudlin, der wohl die Geschäftsinteressen der Familie vertritt; vgl. ebd., Eintrag vom 25.4.1588: Scripsi fratri Christophero et gen Persen. 37 H ERMANN K ELLENBENZ , Schwäbische Kaufherren im Tiroler Bergbau (1400-1650), in: Schwaben - Tirol. Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Beiträge zur Ausstellung, hg. von W OLFRAM B AER u. a., Rosenheim 1989, S. 208-219. 38 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 13.1.1580: Bin Ich vom Sigmund von Welden per die 900 fl zalt worden. 39 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 17.11.1579: Persolui Adamo Remen ff 100. Interesse von ff 2000. 40 Die Teilnahme an Beerdigungen und Hochzeiten wird häufig festgehalten: StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 30.7.1580: Ziml: schön Vnd geschwülb. Praeterita nocte ein starcken regen gethan. post concionem matutinam Iui spatiatum. Interfui funeri Viduae Andreae Welseri. Inde Iui cum Narc: Weiss in ips: hort: Vesperi ein Wetter gehabt mit starcken regen.; ebd., Eintrag vom 10.2.1580: Vorm: gar trüeb, ante prand: zimlich geregnet, Nachm: auch gar vnlustig. Nuptia Lud: Jenisch cum Regina Weissin. Interfuimus Kirchgangio et prandio et coenae Nuptiali. 41 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 13.1.1580: Iui longo circuitu cum Amoureux circa Ciuitatem. Selbst der Tod des Hundes wird festgehalten; vgl. StadtA H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 92 waren Schlittenfahrten sehr angesagt. 42 Sehr beliebte Freizeitbeschäftigung waren darüber hinaus Karten- und Brettspiele im Familienkreis oder mit Freunden auf der Kaufleutestube. 43 Eine wichtige Rolle spielte ferner die Musik. Steudlin beherrschte wohl selbst ein Instrument und gab Hauskonzerte. 44 Er besuchte aber auch Freunde und Bekannte, um Aufführungen beizuwohnen, so etwa 1579 bei Johann Heinrich Linck. 45 Steudlin muss zudem eine stattliche Bibliothek besessen haben. Wiederholt berichtet er von Bucheinkäufen größeren Umfangs. Sein Interesse an Büchern war sogar so ausgeprägt, dass er im Winter 1580 einen Buchbinder aufsuchte, um sich das Handwerk beibringen zu lassen. So notierte er am 7. November: Post concionem matutinam bin Ich Zuem büechbinder gangen der mich angefangen zuelernen büecher binden. 46 3. Landwirtschaft und Gartenkultur Da Steudlin ein landwirtschaftliches Gut besaß, ist dies möglicherweise einer der Gründe, warum er Wetterdaten aufzeichnete. Sein Besitz lag in Holzhausen, einem kleinen Ort zwischen Landsberg am Lech und Buchloe, der zum Hochstift Augsburg gehörte. 47 Wenn Steudlin dort weilte, schrieb er auf, was in der Landwirtschaft an Arbeiten vorgenommen wurde, z. B. wann das Vieh im Frühjahr erstmals Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1581), Eintrag vom 20.3.1581: Vesperi post 7: ta mortuus est noster canis Amoureux. 42 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 25.1.1580: Ist man heur zuem ersten mahl Im Schliten gefahren. Sechs Tage später notiert Steudlin: Vil schliten sehen fahren. Ist die bahn gleich gar hin. 43 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 30.1.1580: Post prand: lusi cum vxore chartis et In bret. Vgl. auch Anm. 31. 44 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 27.12.1580: Hab Ich nachm: ein Musicam gehalten. 45 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 24.8.1579: Interfui post prand: Musicae Ioa: Henr: Linckij. Auch ein Konzert eines Mitgliedes der bedeutenden Komponisten- und Lautistenfamilie Neusiedler besuchte Steudlin; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1583), Eintrag vom 18.4.1583: Interfui musicae apud Neusidler. 46 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 7.11.1580. Am 12.3.1583 kaufte Steudlin z. B. 12 Bücher auf einen Schlag; vgl. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1583), Eintrag vom 12.3.1583. 47 A NTONIUS VON S TEICHELE , Das Bistum Augsburg, historisch und statistisch. Fortgesetzt von A LFRED S CHRÖDER , Bd.: 6: Das Landkapitel Kaufbeuren, Augsburg 1904, S. 117-120. Die erste Nennung von Holzhausen erfolgt StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 3.1.1579: Manè hora nòna Holtzhausio discessimus; ebd., Eintrag vom 9.1.1579: Vbi D. Martio tradidi den anschlag meins Holtzhausers guets. Möglicherweise handelt es sich dabei um Schloss Rudolfshausen. Dies ist jedoch noch zu klären. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 93 auf die Weide kam, wann und was in den Nutzgärten ausgesät wurde oder welche Erlöse der Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten auf dem Markt in Kaufbeuren erzielte. 48 Dabei sind innerhalb von Tagen enorme Preisschwankungen zu beobachten. So notierte Steudlin am 5. November 1579: Hatt man das Schaf roggen per 5 7/ 8 f abgmessen; am darauf folgenden Tag: Hat der roggen Vorm: 5 f vnd etwas drob golten, vmb den mittag ist er wider auf 4 ¼ f harab geruckt. 49 Leider verkaufte Steudlin seine Besitzungen in Holzhausen bald nachdem die Kalender einsetzen, so dass diese interessanten Informationen von diesem Zeitpunkt an abbrechen. Käufer war vermutlich Ludwig Welser (* 1534, † 1583), Hauptmann und Pfleger der Herrschaft Hohenschwangau. 50 Ein Feuer hatte Ende 1578 ein oder mehrere Gebäude vernichtet, denn im Kalender von 1579 ist immer wieder von Aufräum- und Maurerarbeiten in Holzhausen die Rede. Die finanziellen Belastungen nach diesem Unglück veranlassten Steudlin wohl dazu, die Landwirtschaft aufzugeben. Neben der Landwirtschaft besaß Steudlin mindestens einen Garten in Augsburg. Nutz- und Ziergärten innerhalb oder außerhalb der Stadtmauern der Reichsstadt hatten die meisten wohlhabenden Augsburger im 16. Jahrhundert. 51 Ja, es muss geradezu ein Prestigekampf um die schönsten Anlagen geführt worden sein. So züchtete Steudlin Blumen, besaß Weinreben und zog Kürbis, Gurke und Artischocke in seinem Gemüsegarten. Auch Äpfel, Birnen und Zwetschgen konnte er in seinen Gartenanlagen in Holzhausen (und Augsburg? ) ernten. 52 Extra vermerkte 48 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 12.3.1579: Hatt man das Vich zuem ersten mahl austriben.; ebd., Eintrag vom 20.3.1579: Haben wir Im Namen Gottes Mangolt, Spinet, Salat, Zwifel vnd Kohl geseet; ebd., Eintrag vom 24.3.1579: Hab Ich den Georgen mit den 6 ½ Schaff Kern gen Kaufbeuren geschickt. 49 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Einträge vom 5. und 6.11.1579. 50 Die hohen Summen, die im Mai 1581 im Auftrag von Ludwig Welser durch den Augsburger Bürgermeister Lauginger an Steudlin ausbezahlt wurden, dürften den Abschluss des Geschäfts markieren; vgl. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1581), Eintrag vom 26.5.1581: Post prand: accepi a Consule Laugingero nomine Lud: ci Welseri fl 2500. und 29.5.1581: post prand: accepi á Consule Laugingero reliquos fl 500 nomine Welseri. Vgl. auch A. VON S TEI - CHELE , Bistum Augsburg 6 (Anm. 47). 51 G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Häuser und Gärten Augsburger Patrizier. Mit einer Einführung von W OLFGANG Z ORN , München-Berlin 2001. 52 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 7.3.1579: Die rosen Stöck aufdeckt.; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 10.4.1588: Ante prand: fuit apud nos Paulus Post Kürbis gestupfft. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), 8.3.1580: Articiochi vnd Cucumeri gestupft.; ebd., Eintrag vom 26.3.1580: Haben wir die reben aufbinden lassen; ebd., Eintrag vom 16.10.1580: Nachm: biren brochen. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 94 er, wenn er vom Gärtner Marx Fuggers Samen bekam, so etwa am 9. März 1588: allerlei samen vom Marx Fuggers gärtner gehollt. 53 4. Wetterbeobachtungen Wenn man Steudlins Einträge über die Jahre hinweg verfolgt, dann erhält man eine ziemlich präzise Beschreibung des Augsburger Wettergeschehens der 1580er Jahre, denn er versuchte, seine Beobachtungen möglichst differenziert festzuhalten. Zudem ist davon auszugehen, dass die Kalendernotizen zu seiner täglichen Routine gehörten. Gelegentlich, wenn das Wetter sich gegen Ende des Tages änderte, scheint er seine Kalender noch ein zweites Mal zur Hand genommen zu haben, oder er machte am folgenden Tag einen Nachtrag, um den Wetterumschwung festzuhalten. Für die Angaben der Tagestemperaturen benutzt Steudlin eine Reihe von Adjektiven. So reicht die Temperaturskala von grimm kalt 54 für strengen Frost, über sehr kalt, 55 zimlich kalt, 56 kalt, 57 nit kalt, 58 nit sonders kalt, 59 nit sehr kalt, 60 warm, 61 schön und warm , 62 gar schön vnd warm, 63 sehr warm 64 bis zu geschwülb 65 für schwül-heiße Sommertage. Im Gesamtzusammenhang der fortlaufenden Aufzeichnungen ist ferner zu erkennen, ob die Temperaturen von der Norm für eine Jahreszeit abweichen, denn ›warm‹ im Februar zeigt an, dass es für die Jahreszeit zu mild ist, während ›warm‹ in den Sommermonaten dem zu erwartenden Wetter entspricht. Nicht ganz so genau nachvollziehbar sind die Bewölkungsverhältnisse, weil Steudlin hier weniger differenziert. Allerdings gilt diese Feststellung nur für Tage, an denen es keine Niederschläge gab. So unterscheidet er im Prinzip nur zwischen schön, bedeckt ( = ›trüb‹) und neblig, auch wenn er immer wieder durch Zusätze seine Angaben ergänzt, z. B. wenn einen ganzen Tag lang die Sonne scheint (Gar 53 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588), Eintrag vom 9.3.1588. 54 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 23.12.1579. 55 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 1.1.1579. 56 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 2.1.1579. 57 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 13.1.1579. 58 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 26.1.1579. 59 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 16.1.1579. 60 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 8.12.1579. 61 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 20.1.1579: Vorm: zimlich schön, warm. Nachm: trüeb, Vesperi geregnet. 62 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 6.6.1579. 63 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 1.3.1579. 64 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 2.8.1579. 65 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 16.6.1579. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 95 schöner Tag 66 ), wenn das Wetter umschlägt (Vorm: schön: Nachm: trüeb 67 ) oder wenn sich dichter Nebel hält (ein sehr nübliger dunckler tag 68 ). Für Tage mit Niederschlag nutzt Steudlin wieder eine breitere Palette an Adjektiven, die auch Rückschlüsse auf Dichte und Dauer der Bewölkung zulassen. Wechselhaftes Frühjahrswetter wird beispielsweise wie folgt beschrieben: Vnstet, schön, vnd regen mit stainlen. 69 Mit dem Begriff stainlen ist sowohl Graupel als auch Hagel gemeint. Nieselwetter und leichten Dauerregen bezeichnet Steudlin mit regenlich, 70 Regendauer bzw. Schneefall und die Niederschlagsmengen charakterisiert er mit einer Vielzahl von Adjektiven (›sehr‹, ›stark‹ oder ›vnfletig‹). 71 Besonders wichtig ist, dass Steudlin langsame Veränderungen wie auch abrupte Wetterumstürze nachvollziehbar festhält. So z. B., als das kalte trübe Winterwetter der ersten Januarhälfte 1579 am 14. Januar umschlug, es ab 18 Uhr abends zu regnen begann und in der Folge durch die milde Witterung der ganze Schnee schmolz. 72 Gut vier Wochen später änderte sich das Wetter über den ganzen Tag hinweg vom Guten zum Schlechteren: Vorm: zimlich fein, Nachm: trüb, Vesperi windig mit regen. 73 Starke Windaktivität verzeichnet Steudlin mit einer Skala von ›windig‹, über ›sehr windig‹, bis zu ›ungestüm Wind‹, wobei er kalten Ostwind eigens vermerkt. 74 Das erste heftige Gewitter im Jahr 1579 gab es bereits Anfang April und es wird folgendermaßen beschrieben: Praeterita nocte ein vnnatürlich gross Wetter gehabt, ein wenig gedonnert, drauf ein heftiger starcker sturmwind mit grossem platz regen vnd stainlen geuolgt. 75 Ein weiteres, sehr schweres Gewitter folgte am 2. Juli, als Steudlin in Holzhausen weilte; nachdem das Wetter abgezogen war, musste er Schäden am Wintergetreide feststellen: Vorm: gar schön, Nachm: sehr geschulb vnd Warm. Zwischen 3 66 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 11.4.1579. 67 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 18.1.1579. 68 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 2.11.1580. 69 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 9.3.1579. 70 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580), Eintrag vom 18.1.1580. 71 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 23.5.1579: Trüeber vnfletiger regentag; ebd., Eintrag vom 27.9.1579: Praeterita nox sehr windig mit eim starken regen, der tag auch windig. Vesperi regen bis In die nacht; ebd., Eintrag vom 30.9.1579: Ein trüber tag. Nachm: sehr geregnet; ebd., Eintrag vom 1.10.1579: Ein trüber tag mit ettlichen regen. 72 Praeterita noctis vnd disen Vorm: grim kalt. Vesperi hat es sich entschlagen, circa 6 ta pluit, sicut et sequenti nocte. Vgl. Anm. 5. 73 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 18.2.1579. 74 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 1.12.1579: Praeterita nocte sehr windig vnd ein klain schnelin; ebd., Eintrag vom 29.12.1579: sehr kalter bayr Wind; StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1581), Eintrag vom 23.10.1581: Mane sehr Vngestüm Windig mit regen. Nachm: Ziml: schön. 75 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 4.4.1579. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 96 vnd 4 Vhr Ist ein Wetter kommen mit ainem hagel von Zimlichen stainen, Welcher Im Winterfeld Zimlichen grossen schaden gethan. 76 5. Zusammenfassung In Augsburg ergibt sich für den Zeitraum von 1579 bis 1588 nun die Möglichkeit, die fortlaufenden Wetterbeobachtungen der Steudlin-Kalender in Beziehung zu setzen mit Aufzeichnungen außergewöhnlicher Wetterereignisse in der Chronistik. 77 Während Steudlin einen Sturm, der in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 1584 über Augsburg hinweg zog, ganz nüchtern beschrieb (Vesperi gross Wind 78 ), löste dasselbe Ereignis bei dem Chronisten Georg Kölderer große Ängste aus: Denn Mitwoch denn 25. tag Nouember Alltts Kalenders dises Ablauffenden 1584. Iars Abendts vmb 5 vhr (Ann der Bapisten S. Nicolaij Abendt, Irem Kalender nach) 79 Entstunde, ein erschröckhlicher grausamer Sturm Windt Alhie zu Augspurg, daruon nit baldt gehörtt worden. Welcher biß vmb 1 vhr nach Mitternacht gewehrtt, vnnd grossen Schaden Inn Gärtten vnnd dergleichen, gethon, das menigklich vermaindt, der Iungste tag werde khommen, Also grausam hatt er gestossen. 80 Betrachtet man Steudlins Wetterdaten insgesamt, dann kann man feststellen, dass das damalige Wetter genauso wechselhaft war, wie unser gegenwärtiges Wetter. Tendenziell lassen sich aber auch Unterschiede erkennen, die für Augsburg und seine nähere Umgebung nun genauer beschrieben werden können. Die Augsburger Kalender liefern somit einen weiteren kleinen Mosaikstein zur Darstellung der 76 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Eintrag vom 2.7.1579. 77 Es ist geplant, die Aufzeichnungen Steudlins vollständig zu publizieren, zu kommentieren und auszuwerten. 78 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 f (1584), Eintrag vom 5.12.1584. 79 Georg Kölderer unterläuft ein Fehler bei der Angabe des Tages, denn St. Nikolaus fiel 1584 nicht auf einen Mittwoch, sondern auf einen Sonntag. Der Sturm fegte also in der Nacht von Samstag auf Sonntag hinweg. Kölderer bringt den alten und neuen Kalender durcheinander, denn nach dem Julianischen Kalender ist der 25.11.1584 ein Mittwoch. 80 Der Protestant Georg Kölderer (ca. 1550-1607), Angestellter im Kontor des Augsburger Kaufmanns Jonas Weiß, liefert besonders anschauliche Schilderungen von außergewöhnlichen Wetterereignissen, dessen Aufzeichnungen für die Jahre 1576 bis 1593 und 1606/ 7 erhalten sind und deren Edition vorbereitet wird; SuStBA, 2° Cod. Aug. 41, Bl. 106v. Vgl. zu Kölderer B ENEDIKT M AUER , ›Gemain Geschrey‹ und ›teglich Reden‹. Georg Kölderer - ein Augsburger Chronist des konfessionellen Zeitalters (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 29), Augsburg 2001. A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 97 Klimaverschlechterung, die - im Vergleich mit den relativ milden Jahrzehnten zuvor - mit dem Jahr 1570 sehr abrupt einsetzte und von der historischen Forschung als zweite Phase der ›Kleinen Eiszeit‹ charakterisiert und mit einer Reihe von politischen, sozialen und kulturellen Krisenphänomenen im späten 16. und 17. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird. 81 Die wesentlichen Unterschiede zu heute lassen sich für die Jahre zwischen 1579 und 1588 so zusammenfassen: Im Herbst gab es die ersten Fröste bereits im Oktober. Tag- und Nachtfröste endeten im Frühjahr später als heute und konnten bis weit in den Mai auftreten. Längere regenarme Perioden waren die Ausnahme, kamen aber doch gelegentlich vor. Nachdem das Frühjahr 1584 sehr trocken gewesen war, kommentierte Steudlin die ersten ausgiebigen Niederschläge nach der Trockenperiode: Laus Deo satis pluit. 82 Sommer mit wenigen Sonnentagen, dafür viel Bewölkung oder solche mit erheblichen Niederschlagsmengen traten dagegen häufiger auf. In einigen Jahren gab es sowohl während der Zeit der Aussaat im Frühjahr als auch während der Erntezeit im Spätsommer Unwetter, welche zu erheblichen Ernteeinbußen geführt haben dürften. Mehrwöchige Nebelperioden zwischen November und März waren in Augsburg die Regel. Auch wenn im Rahmen dieses Beitrags keine umfassende statistische Auswertung der Augsburger Wetterdaten möglich ist, so versucht die nachfolgende Tabelle doch einen Überblick über das Datenmaterial der Steudlin-Kalender zu geben, wobei vor allem extreme Wetterereignisse beschrieben werden, weil es für die ›Kleine Eiszeit‹ charakteristisch ist, dass solche Ereignisse im Vergleich zur vorhergehenden Klimaperiode häufiger und ausgeprägter auftraten. 81 Exemplarisch zu den Wechselwirkungen zwischen Klimawandel und den Gesellschaften in der Frühen Neuzeit vgl. W OLFGANG B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 3 2008; D ERS ., ›Kleine Eiszeit‹ und Frühe Neuzeit? In: Kulturelle Konsequenzen der ›Kleinen Eiszeit‹ (Anm. 2), S. 415-508; D ERS ., Die Krise von 1570 (Anm. 4), S. 51-156. 82 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 f (1584), Eintrag vom 13.5.1584. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 98 Tabelle: Augsburger Wetterdaten von 1579 bis 1588 Jahr Monat Wetterdaten 1579 Jan. Dauerfrost (1.-14.), sonst große Temperaturschwankungen, meist bedeckt oder neblig, viele Niederschläge (Regen und Schnee) Feb. Dauerfrost mit Schneefällen (10.-14., 21.-26.), sonst sehr wechselhaft März mild und wechselhaft (1.-21.), bedeckt und Regenfälle (22.-26) April Sturm mit Hagel (4.), Aprilwetter mit Regen und Schnee (5.-14.), kalt und bedeckt (15.-19.), letzter Frost (29.) Mai überwiegend schön und warm (1.-21.), Sturm mit Starkregen und Hagel (22.), viel Regen (23.-29.), sehr kalt (Nachtfrost? ; 30.) Juni schön und warm (bis 6.), Gewitter mit Starkregen (7. u. 15.), meist bedeckt und ergiebige Niederschläge (11.-29.) Juli wechselhaft, aber warm, Gewitter (9., 13., 19., 21.), teils ergiebige Niederschläge (3., 5., 14., 16., 20., 23., 25., 29.) Aug. 1 bis 2 schöne Tage wechseln sich mit Regentag ab Sept. wenige schöne Tage, meist bedeckt und ergiebige Niederschläge (1.-9., 27., 29., 30.) Okt. meist schön, erster Nebeltag (19.), erster starker Nachtfrost (22.) erster Schneefall (23./ 24.) Nov. bedeckt mit Regenfällen (1.-11., 29./ 30.), schön, aber Frost (12., 21.) Dez. meist bedeckt, aber keine Niederschläge (wenig Schnee, 1.), Nebel (11.-13., 16., 17., 19.-23.), Dauerfrost (22.-31.) 1580 Jan. meist bedeckt und Dauerfrost (1.-10.), sehr wechselhaft (11.-31.), ergiebige Schneefälle (24.-26.), Regen (16., 18., 22.) Feb. sehr wechselhaft, aber meist mild; Frost (20.-22.), Regen (11., 13., 14., 25., 26.), Schnee (27.) März sehr wechselhaft, nur vom 21.-24. wolkenlos und mild; Regen (2., 9., 11., 19., 20., 25., 26.), Schnee (12., 15., 27., 28.) April meist schönes und mildes Frühjahrswetter (1.-19.), geringer Schneefall (9.), Dauerregen (23.-30.) Mai meist schön und mild; Niederschläge (1., 3., 21., 23.), Gewitter (7., 13.) Juni -- Juli 1. Monatshälfte häufig bedeckt und erhebliche Niederschläge (1., 2., 9., 11.-14.); Daten fehlen für 2. Monatshälfte Aug. stabile Schönwetterperiode (1.-21.), Gewitter (7., 21., 30.), gegen Monatsende kühl und ergiebige Niederschläge (8., 23., 25.-27., 31) Sept. stabile Schönwetterperiode, geringe Niederschläge (1., 15.) A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 99 Jahr Monat Wetterdaten Okt. wenig Bewölkung, aber vormittags meist neblig und kalt mit Nachtfrösten, geringe Niederschläge (8., 24.) Nov. meist neblig und kalt mit starken Frösten (3., 14.), bedeckt mit Regen (26.- 28.) Dez. ziemlich mild und wechselhaft; Gewitter (2.), Frost (23., 24.), Sturm (27.), bedeckt mit Regen (1., 5., 6., 19.-22., 28.), Schnee (23., 24.) 1581 Jan. 1. Monatshälfte schön und kalt, aber kein strenger Frost, 2. Monatshälfte bedeckt, neblig und kaum Frost, geringe Schneefälle (17.) Feb. nicht kalt, aber meist bedeckt und ergiebige Niederschläge als Schnee (1., 2., 10., 12., 15., 20.) und Regen (22., 25., 26.) März stürmisch, meist bedeckt und ergiebige Niederschläge als Schnee (22., 24., 28., 29.) und Regen (1., 6., 7., 11., 15., 16., 18., 20., 21., 30.), Frost (22.-24.) April 1. Monatshälfte mild und meist schön, 2. Monatshälfte, bedeckt, kühl und viele Niederschläge (3., 5., 10., 12., 13., 16., 18., 24., 27., 29), Gewitter (26.), Nachtfrost (15., 19.) Mai meist sehr warm mit vielen Niederschlägen (2., 8.-13., 17.-20., 28.), Gewitter (15.), am Monatsende kalt (Nachtfrost? 28., 30.) Juni 1. Monatshälfte warm, aber verregnet (4.-11.), 2. Monatshälfte schwülwarm Juli viele wolkenlose Sommertage, regelmäßige kurze Niederschläge (1., 3., 10., 13., 24., 26., 27., 31.) Aug. meist schöne Sommertage, bedeckt mit Regen (12.-16., 26.) Sept. meist stabiles, sonniges Spätsommerwetter mit wenig Niederschlägen (4., 11., 30.), Nebeltag (13.), erster Nachtfrost? (15.) Okt. 1. Monatshälfte für die Jahreszeit sehr kalt (1.-10.), Schnee (2., 3., 16.), 2. Monathälfte häufig bedeckt mit Regen (14., 15., 20.-23.) Nov. viele bedeckte Tage mit Nebel, Regen (1., 12., 14.) und Schnee (3., 7., 18., 21.) Dez. viele bedeckte Tage ohne strenge Fröste, Regen (9., 12., 13., 16., 29., 30.), Schnee (21., 22., 25., 26., 28.) 1582 Jan. Daten fehlen 8.-21; Monatsanfang mild, Dauerfrost, schön und etwas Schnee (22.-26.), danach Tauwetter und etwas Regen Feb. viele schöne, kalte Wintertage, Regen (2.), Schnee (4., 10., 17.) März 1. Woche schön und Dauerfrost, letzte Woche schön und mild, sonst wechselhaft, Regen (15., 16., 18., 23., 24.), Schnee (8., 13.) April meist schön und warm (1.-21.), Frost und Schnee (7.), bedeckt und Regen (5., 6., 22., 24.-30.) H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 100 Jahr Monat Wetterdaten Mai 1. Monatshälfte mild, Sonnen- und Regentag wechseln sich ab; Daten fehlen für 2. Monatshälfte Juni lange Regenperioden mit ergiebigen Niederschlagsmengen (1.-4, 17.-26.) Juli schöner Sommermonat, Gewitter (5.), Regen (6.-8, 20., 22.) Aug. 1. Monatshälfte schön, heftige Gewitter (8., 14.), 2. Monatshälfte häufig bedeckt und Regen (10., 11., 15., 18., 19., 21., 24.) Sept. überwiegend schönes Spätsommerwetter, Niederschlage (5., 9., 14., 21., 29., 30.), Gewitter (25.), Nachtfrost? (13.) Okt. früher Wintereinbruch mit Schnee (6.) und erster Frostperiode (7.-9.), viel Nebel, lange Regenperiode (13.-30.) Nov. meist bedeckt, Regen (1., 6., 7., 9.) und Schnee (2., 3., 19., 22.), Dauerfrost (24.-30.) Dez. 1. Woche kalt und bedeckt, danach mild und bedeckt, Regen (14., 20.), Daten fehlen 4.-8. und 22.-31. 1583 Jan. -- Feb. strenger Dauerfrost (1.-18.) und ergiebige Schneefälle (1., 6., 7., 9., 11., 28.), schönes Tauwetter (19.-23.) März meist bedeckt mit teils ergiebigen Regen- und Schneefällen April überwiegend schön und mild mit wenigen Regenfällen (4., 14., 17., 18.) Mai überwiegend schön und mild; Regen (4.-6.), kalt und Regen (26.-28.) Juni schönes, manchmal sehr warmes Sommerwetter, heftiges Gewitter (23.), Regen (24., 25.) Juli 3.-6. schön, Daten fehlen 7.-31. Aug. zunächst schön, in der 2. Monatshälfte häufig bedeckt und ergiebige Niederschläge (6., 7., 13., 15., 16., 18., 23., 29.) Sept. fast immer bedeckt und viele Regentage Okt. früher Wintereinbruch mit Frost (9., 12., 13., 21., 22.) und starken Schneefällen (12., 13.), vor und nachher ergiebige Regenfälle, Daten fehlen für letzte Woche Nov. Daten fehlen für 1.-24., letzte Woche kalt, bedeckt oder neblig Dez. ergiebige Schneefälle (2., 21., 23., 24., 27.), letzte Woche Tauwetter mit viel Regen, Daten fehlen vom 4.-11. 1584 Jan. sehr wechselhaft, ergiebige Niederschläge als Regen (10., 12., 15., 25.) oder Schnee (5., 7., 17., 18., 23.) Feb. Monatsanfang und 2. Monatshälfte häufig schön und nicht sehr kalt, Schnee (7., 10., 13., 14.), Regen (8., 28., 29.) A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 101 Jahr Monat Wetterdaten März Schneesturm (8.), Dauerfrost und viel Schnee (9.-20.), Tauwetter mit viel Regen (29.-31.) April mild, schön oder bedeckt, geringe Niederschläge (5., 8., 12., 25., 29.) Mai schön und warm, Gewitter (13., 20.), am Monatsende Regenperiode (28.-30.) Juni 1.-10. warm, Sonne und Regen im Wechsel, Daten fehlen 11.-30. Juli -- Aug. -- Sept. schönes, warmes Spätsommerwetter unterbrochen von 2 Regenperioden (3.-5., 10.-14.) Okt. schönes, klares Herbstwetter, Nachtfrost (12., 13.? , sicher 29.) Nov. viel Schnee (9.-11, 18., 30.), strenger Frost (9.-13., 22., 23., 28., 29.) Dez. Schnee (1.), Sturm mit Regen (5.), sonst abwechselnd schöne oder trübe, nebelige Tage, kein Frost 1585 Jan. wenige schöne Tage, sonst Nebel oder bedeckt, teils strenger Dauerfrost, geringer Schneefall (18.) Feb. Wechsel zwischen trüben, nebeligen und schönen Tagen, Dauerfrost (1.-6.), Schnee (13., 14.), 2. Monatshälfte mild, Regen (25., 26.) März 1. Woche meist trüb, aber mild, sonst Nachtfröste und tagsüber schön, Regen (4., 8., 31.), Schnee (10.) April sehr wechselhaft, viel Regen (3., 10.-13., 17., 21., 23., 24., 26., 29., 30.) Mai warme Schönwetterperiode (5.-14.), sonst sehr wechselhaft mit teils ergiebigen Niederschlägen, Schneeregen (20.), Gewitter (16., 27., 28., mit Hagel am 30.) Juni sehr wechselhaft, viele, teils ergiebige Niederschläge (1.,3.-5., 8.-10., 14., 19., 21., 25., 27.) Juli schön und warm (21.-25.), sonst verregnet, teils heftige Gewitter (11., 18., 25., 27.) Aug. 1. Monatshälfte meist schön und warm, Gewitter (5.), Daten fehlen 19.-29. Sept. meist schönes, warmes Spätsommerwetter, heftiges Gewitter mit Hagel (8.), ergiebige Niederschläge (16.-18.) Okt. morgens Nebel, dann schön (1.-9.), Regen (10.-13.), danach sehr wechselhaft, Frost wohl auch tagsüber (28.-31.) Nov. sehr wechselhaft, erster Schnee (8.), Regen (5., 12., 17., 22.-24., 27.) Dez. 1. Monatshälfte Dauerfrost und erhebliche Schneefälle (3.-5., 11.), 2. Monatshälfte meist mild und bedeckt H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 102 Jahr Monat Wetterdaten 1586 Jan. Daten fehlen 1.-14., strenger Frost (15.-27.), Schnee (22.), danach bedeckt und wärmer Feb. fast durchgehend bedeckt oder nebelig, starke Temperaturschwankungen, jedoch zunehmend kälter, Regen (3., 15., 16.), Schnee (20., 21., 24., 27.) März -- April wechselhaft, teils strenge Nachtfröste (8.-12.), Regen, teils mit Graupel (2., 6., 7., 16.-23., 29., 30.) Mai meist schön, aber sehr kalt (2.-6.), sonst wechselhaft, Regen (1., 11., 14., 19., 20., 22., 23.), Gewitter (15.) Juni wechselhaft, aber warm, Regentage (12., 13., 20., 26., 27.), Gewitter (8., 25.) Juli meist schön und warm, wenige Niederschläge, Gewitter (26.) Aug. kurze Schönwetterperioden im Wechsel mit Regentagen, heftige Gewitter (17., 30.) Sept. verregnet, Dauerregen (1.-7., 11., 12., 22., 23.) Okt. meist schönes Herbstwetter, wenn der Nebel sich auflöst, Niederschläge (2., 4., 10., 20.), Nachtfrost (6.-9., 14.), Daten fehlen 21.-31. Nov. Daten fehlen 1.-22., Dauerfrost (23.-30.), Schnee (25., 27.) Dez. -- 1587 Jan. -- Feb. -- März -- April 1. Monatshälfte schön und meist trocken, 2. Monatshälfte meist bedeckt mit vielen Niederschlägen, Regen (9., 21.-23., 25., 26.), Graupel (27., 28.), Nachtfrost (14., 16., 17.) Mai 1. Monatshälfte schön, warm und trocken, 2. Monatshälfte meist schön, Regen (18., 19.), heftiges Gewitter (21.), Kälteeinbruch mit Nachtfrost (23., 24.) Juni Daten fehlen 1.-27., bedeckt und Regen (28.-30.) Juli Daten fehlen 2.-11. und 15.-31., bedeckt und Regen (1., 12.-14.) Aug. -- Sept. -- Okt. -- Nov. meist bedeckt und viel Regen (5., 6., 11., 21., 22., 25.), Wintereinbruch mit strengem Frost (ab 27.) und ergiebigen Schneefällen (28., 30.) Dez. sonnig und Dauerfrost (1.-8.), danach meist mild und bedeckt, Regen (9., 13., 14., 20., 30.), Schnee (17.) A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 103 Jahr Monat Wetterdaten 1588 Jan. -- Feb. -- März Daten fehlen 1.-28., schön, aber Nachtfrost (29.-31.) April 1. Monatshälfte meist schön und trocken, kalt mit Frost (14.-17.), 2. Monatshälfte meist bedeckt, kalt und mit ergiebigen Niederschlägen (21.-26.), heftiges Gewitter (25.), Graupelschauer (27., 28.) Mai 1. Monatshälfte warm und trocken, 2. Monatshälfte meist schön, geringe Niederschläge, Kälteeinbruch mit Nachtfrost (23., 24.) Juni Daten fehlen 1.-27., wechselhaft mit Regenschauern (28.-30.) Juli Daten fehlen 1.-11. und 15.-31., Regentage (12.-14.) Aug. -- Sept. -- Okt. -- Nov. 1. Monatshälfte häufig schön und mild, 2. Monatshälfte bedeckt und trüb, Regen (5., 6., 11., 21., 22., 25.), Kälteeinbruch (27.) mit starken Schneefällen (28., 30.) Dez. schön, aber Dauerfrost (1.-7.), Daten fehlen 9.-31. Anhang: Bibliographische Aufnahme der erhaltenen Steudlin-Kalender Nikolaus Winckler: Schreibkalender auf das Jahr 1579. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Nico = laum Winckler/ [s] Forchemium D. Medicum, Vnd verordneten Phy- sicum der Statt Schwebischen Hall/ auff das Jar: [r] M. D. LXXIX. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd Hendlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 22. und 25. April, 7. Mai, 30. und 31. Juli, 25. August-20. September. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 104 Nikolaus Winckler: Schreibkalender auf das Jahr 1580. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Nico = laum Winckler/ [s] Forchemium D. Medicum, Vnd verordneten Phy- sicum der Statt Schwebischen Hall/ auff das Jar: [r] M. D. LXXX. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1580). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 17. Mai, 24. Mai-28. Juni, 15.-28. Juli, 1.-4. August. Nikolaus Winckler: Schreibkalender auf das Jahr 1581. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Nico = laum Winckler/ [s] Forchemium D. Medicum, Vnd verordneten Phy- sicum der Statt Schwebischen Hall/ auff das Jar: [r] M. D. LXXXI. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1581). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 13.-16. Juni, 18. und 19. Dezember. Nikolaus Winckler: Schreibkalender auf das Jahr 1582. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Nico = laum Winckler/ [s] Forchemium D. Medicum, Vnd verordneten Phy- sicum der Statt Schwebischen Hall/ auff das Jar: [r] M. D. LXXXII. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1582). Besonderheiten: Titelblatt defekt (ohne Textverlust); ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 8.-21. Januar, 23.-26. Februar, 2., 3. und 10. März, 10., A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 105 16.-31. Mai, 14.-16. Juni, 21., 23., 24. und 31. Juli, 21.-22. und 25.-31. August, 1. und 6.-8. September, 2. Oktober, 10. November, 4.-8. Dezember. Nikolaus Winckler: Schreibkalender auf das Jahr 1583. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Nico = laum Winckler/ [s] Forchemium D. Medicum. Vnd verordneten Phy- sicum der Statt Schwebischen Hall/ auff das Jar: [r] M. D. LXXXIII. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1583). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit einem Papierstreifen aus einer Druckmakulatur überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 1.-6., 8.-31. Januar, 22. Februar, 10., 11. und 22.-27. April, 13.- 20. Mai, 1.-6. und 9.-31. Juli, 1. und 2. August, 17.-19. September, 23.-31. Oktober, 1.-25. November, 4.-11. Dezember. Johann Praetorius: Schreibkalender auf das Jahr 1584. [r] Schreib Calen [s] der/ Auff das Jar/ [r] M. D. LXXXIIII. Zu Ehren/ Den Ehrnvesten/ F rsich = [s] tigen/ Ehrbarn vnd Weisen Herrn/ Bur = germeistern vnd Rath der Statt N rnberg/ Gestellt: [r] Durch M. Iohann. Prætorium, außm [s] Jochimsthal/ verordneten Astronomum zu N rnberg/ vnd Professorem der Schul zu Altdorff. [r] Mit sampt den Euangelien/ auff alle [s] Sontag vnd f rnembsten Fest im gantzen Jar. [r] Allen Kauffleuten vnd Hendlern/ [s] n tzlich vnd dienstlich. [r] Auch findest du zu ende verzeychnet/ [s] aller fürnembsten St tte jrer Jar = m rckt vnd Messen. [r] Gedruckt zu N rnberg/ durch [s] Valentin Newber. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 e . Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit einem hellroten Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 7.- 9., 22. und 23. Mai, 11. Juni-31. Dezember. H AN S -J ÖR G K ÜNA S T 106 Petrus Lemp: Schreibkalender auf das Jahr 1584. [s] New Corrigiert [r] Schreibkalen = der/ sambt den f rne = [s] sten Messen vnd Jarm rck = ten/ Auff das Jar [r] M. D. LXXXIIII. [s] Durch [r] Petrum Lempen, [s] Nord- lingensem. [r] Auff ein newe art/ al = [s] len Schreibern/ Kauffleuten vnd Hendlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zu = gericht. [r] Gedruckt zu M nchen/ bey Adam Berg. [s] Mit R m: Kay: May: Freyheit nit nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 f . Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit einem Papierstreifen aus einer Druckmakulatur überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 1. Januar-31. August. Georg Henisch: Schreibkalender auf das Jahr 1585. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Ge = orgium Henischium/ [s] der Artz ney Doctorem vnnd Professorem, Mathematicum zu Augspurg. Auff das Jar: [r] M. D. LXXXV. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1585). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 18. und 22. März, 18.-29. August. Georg Henisch: Schreibkalender auf das Jahr 1586. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Ge = orgium Henischium/ [s] der Artz ney Doctorem vnnd Professorem, Mathematicum zu Augspurg. Auff das Jar: [r] M. D. LXXXVI. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ zu dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1586). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 1.-14. Januar, 9.-14. Februar, 1.-21. und 23.-28. März, 1. April, 25.-27. und 29.-31. Mai, 8. und A UG S B UR G ER W ETT ER AU FZEIC H NUNG EN 107 16.-18. Juli, 12.-15. August, 17. und 21.-31. Oktober, 1.-22. November, 3.- 31. Dezember. Georg Henisch: Schreibkalender auf das Jahr 1587. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Ge = orgium Henischium/ [s] der Artz ney Doctorem vnnd Professorem, Mathematicum zu Augspurg. Auff das Jar: [r] M. D. LXXXVII. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kauffleuten vnd H ndlern/ in dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ durch Michael Manger. [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1587). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit rotem Papierstreifen überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 1. Januar- 28. März, 1.-4. April, 30. und 31. Mai, 1.-27. Juni, 2.-11. Juli, 15. Juli-4. September, 6. September-30. Oktober. Georg Henisch: Schreibkalender auf das Jahr 1588. [r] Schreibkalen = der/ Gestelt durch Geor = gium Henischium/ [s] der Artz = ney Doctorem vnnd Professorem, Mathematicum zu Augspurg. Auff das Jar: [r] M. D. LXXXVIII. Auff ein newe art/ allen [s] Schreybern/ Kaufleuten vñ H ndlern/ in dienstlichem brauch/ sonderlich zugericht. [r] Gedruckt zu Augspurg/ bey Michael Manger [s] Mit R m. Kay. May. Frey = heit/ nicht nach zu drucken. 8° [56] Bl. Sign.: A 8 -G 8 (letzte S. leer). Titeleinfassung. StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 g (1588). Besonderheiten: ohne Einband; zur Abdeckung der Fadenheftung ist Buchrücken mit einem Papierstreifen aus einer Druckmakulatur überklebt; handschriftliche Einträge fehlen: 1. Jan.-28. März, 1-4. April, 30. Mai-27. Juni, 2.-11. Juli, 15. Juli- 4. Sepember., 6. Sepember-27. Okober, 9.-31. Dezember. II. Folgen der ›Kleinen Eiszeit‹: Landwirtschaft 111 C HRISTIAN J ÖRG So wir warm sollen han, so komen kelten. Klima, Witterungsextreme und ihre Relevanz für die europäischen Hungerjahre um 1438 Anno domini m°ccccxxxviij° was es das hertest jar von grosser türe in allen landen, als es vor in vil iaren ye gehört was, und läpt ouch kain mensch, das söllicher türi gedenken möcht oder davon ie gehört hett gemainlich an allen dingen und überal. 1 In dieser Form beschreibt die sogenannte Klingenberger Chronik, deren Verfasser höchstwahrscheinlich der von 1422 bis 1441 als Rapperswiler Stadtschreiber fungierende Eberhard Wüest gewesen sein dürfte, 2 das Jahr 1438. 3 Nicht allein die zeitgenössische Landeschronik des am Zürichsee ansässigen Stadtschreibers Wüest gelangte zu dieser Einschätzung. Das Jahr 1438 beschreibt auch der Konstanzer Gebhard Dacher in den diesbezüglichen Ausführungen seiner vermutlich etwa 25 Jahre später entstandenen Chronik als durch Nahrungsmangel geprägtes Katastrophen-, Teuerungs- und Hungerjahr. 4 Der wohl 1426 oder 1427 geborene Chronist, der die Hungersnot der späten dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts also ebenfalls 1 Vgl. jetzt B ERNHARD S TETTLER (Hg.), Die sogenannte Klingenberger Chronik des Eberhard Wüest, Stadtschreiber von Rapperswil (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 53), St. Gallen 2007, S. 217. Siehe auch die ältere Edition durch A NTON H ENNE VON S ARGANS (Hg.), Die Klingenberger Chronik, Gotha 1861, S. 221. 2 B. S TETTLER , Klingenberger Chronik (Anm. 1), S. 51f. Wüest hatte in Wien studiert und war in Rapperswil wohl auch als kaiserlicher Notar tätig; vgl. F ERDINAND E LSENER , Deutsche Rechtssprache und Rezeption. Nebenpfade der Rezeption des gelehrten römischkanonischen Rechts im Spätmittelalter, in: J OACHIM G ERNHUBER (Hg.), Tradition und Fortschritt im Recht. Gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500-jährigen Bestehen, Tübingen 1977, S. 47-72, hier 61. 3 Vgl. zum Folgenden ausführlich C HRISTIAN J ÖRG , Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55), Stuttgart 2008. 4 Vgl. jetzt S ANDRA W OLFF (Hg.), Die »Konstanzer Chronik« Gebhart Dachers. »By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding und sachen …«. Codex Sangallensis 646: Edition und Kommentar, Ostfildern 2008, S. 581: Jn dem vorgenanten jar do erwand das korn jn allem land wyt und brait, das solicher grosser hunger und not was jn dem lande allenthalb, das die welt nach verzaget was worden. Vgl. auch die ältere Edition durch P HILLIP R UPPERT (Hg.), Die Chroniken der Stadt Konstanz, Konstanz 1891, S. 201. C HRIS TIAN J ÖR G 112 noch selbst erlebt hatte, war seit 1461 Inhaber des städtischen Hausherren-Amtes für das Konstanzer Kaufhaus, das im Falle der Bodenseestadt vor allem die Aufseher- und Verwaltungsfunktion über den täglichen Kaufhausbetrieb umfasste. 5 Auch in Augsburg beschäftigte sich ein späterer Chronist im Dienste des Rates in jenem Jahr hauptsächlich mit der Versorgungssituation seiner Stadt. Durch diese Funktion verfügte er über ein erhebliches Maß an Erfahrung und Detailwissen in diesem Bereich, das auch in seinem Werk Niederschlag fand, was dieses wiederum zu einer herausragenden Quelle für die Untersuchung der städtischen Versorgungspolitik in Notzeiten während des späten Mittelalters hat werden lassen. Die Rede ist von dem in Memmingen geborenen Burkard Zink, der während der von Teuerung und Hungersnot geprägten Rechnungsjahre 1437/ 38 und 1438/ 39 mit der Verwaltung der obrigkeitlichen Augsburger Kornbestände betraut war. Zink selbst hat diese Funktion in seinem Werk, das bekanntlich stark autobiographische Züge aufweist, besonders hervorgehoben. 6 Hinweise auf seine Tätigkeit finden sich auch innerhalb der Augsburger Stadtrechnungen, die noch für das Rechnungsjahr 1439/ 40 für die Organisation und Verwaltung der in der Krise notwendig gewordenen Kornaufkäufe in Österreich gesonderte Zahlungen von zwölf Gulden und einem Pfund an Zink verzeichnen. 7 5 Dieses Amt, das von der Zollkontrolle, über die Marktaufsicht und die Kontakte zu auswärtigen Kaufleuten bis hin zur Instandhaltung des Kaufhauses zahlreiche Aufgabenbereiche umfasste, hat in der älteren Forschung zur Charakterisierung des Inhabers als »Fachmann in Handelssachen« und »städtischem Wirtschaftsexperten« geführt. Wie auch immer man zu diesen etwas anachronistischen Einschätzungen stehen mag, so dürfte nicht zuletzt das Betätigungsfeld Gebhard Dachers seine vermutlich aus der Auswertung älterer Aufzeichnungen der städtischen Verwaltung entstandenen ausführlichen Schilderungen der Preisentwicklungen und des Lebensmittelmarktes in Konstanz während der ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Krisenjahre erklären. Vgl. auch S. W OLFF , »Konstanzer Chronik« (Anm. 4), S. 58; G ERHARD N AGEL , Das mittelalterliche Kaufhaus und seine Stellung in der Stadt. Eine baugeschichtliche Untersuchung an südwestdeutschen Beispielen, Berlin 1971, S. 137; H EINZ K IMMIG , Das Konstanzer Kaufhaus. Ein Beitrag zu seiner mittelalterlichen Rechtsgeschichte 1 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 6), Konstanz 1954, S. 14- 16. 6 Chronik des Burkard Zink, in: Die Chroniken der deutschen Städte. Augsburg 2, Leipzig 1866, S. 1-330, hier 161: Item es ist zu wißen, daß ich Burkhart Zingg des korens alles einnemer und außgeber gewesen bin, und bin auch darzu von ainem rat zu Augspurg gesetzt und geordnet. 7 StadtA Augsburg, Bauamt I, Baumeisterbücher 42 (1440), fol. 103r: Von des korns wegen das von Wien heruff kom, it[em] 12 guldin 1 lb. dem Burkhard Zinggen von dem korn ußgemessen. Vgl. zur Karriere Zinks G ERHARD F OUQUET , Familie, Haus und Armut in spätmittelalterlichen Städten - Das Beispiel des Augsburger Ehepaares Elisabeth Störkler und Burkard Zink, in: A NDREAS G ESTRICH / L UTZ R APHAEL (Hg.), Inklusion/ Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/ Main 2004, S. 283-307; E RICH M ASCHKE , Der wirtschaftliche Aufstieg des Burghard Zink (* 1396 † 1474/ 75) in Augs- K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 113 Zink konstatiert in seinen Aufzeichnungen für den genannten Zeitraum ebenfalls die äußerst prekäre Versorgungslage in Augsburg, den benachbarten Regionen sowie in weiter entfernten Gebieten, wie er dies etwa für Flandern besonders hervorhebt. 8 Ähnlich wie auch während anderer Teuerungs- und Hungerjahre ging mit dem Nahrungsmangel der Ausbruch verheerender Epidemien einher, was die Opferzahlen dramatisch ansteigen ließ. Zink schildert ausführlich, dass auch er und seine Ehefrau schwer erkrankten, als ein solcher Seuchenzug während der hier interessierenden Hungerphase Augsburg heimsuchte. Beide überlebten die Erkrankung, während ihr Burkards Sohn Konrad zum Opfer fiel. 9 Der Schrecken der damaligen Zeit, der Zink während der Abfassung seines Werkes nochmals erfasst zu haben scheint, belegt der am Ende des entsprechenden Absatzes stehende Ausruf: O wee der großen ängstlichen not; das ist gewesen in dem 38. jar. 10 Die Hungerjahre waren typischerweise durch einen erheblichen Anstieg der Kornpreise gekennzeichnet. 11 Das Brotgetreide lieferte insbesondere für die ärmere Bevölkerung in unterschiedlichen Zubereitungsformen die wesentliche Nahrungsgrundlage. Aus diesem Grunde waren gerade diese Bevölkerungsgruppen durch die in Zeiten von Engpässen auf dem städtischen Lebensmittelmarkt zu beobachtenden massiven Kornpreissteigerungen kaum zu bewältigenden Belastungen ausgesetzt. Innerhalb der Städte waren - nach obrigkeitlichen Erfassungen des 15. Jahrhunderts zu urteilen - zwischen 20 und 40 Prozent der Bevölkerung finanziell nicht dazu in der Lage, eine ausreichende Vorratsanlage für solche schweren Krisenzeiten zu bewerkstelligen, weshalb sie während länger andauernder Hochpreisphasen auf versorgungspolitische Maßnahmen des Rates angewiesen waren. 12 burg, in: O TTO B RUNNER u. a. [Hg.], Festschrift Hermann Aubin zum 80. Geburtstag 1, Wiesbaden 1965, S. 235-262. 8 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 161: Es was auch auf das jar ze Costentz an dem Bodensee und zu Zürch und zu Jenf [sic] und überall in demselben land so teur, als kein iemant gedenken möcht: es galt 1 metz kerns 1 fl., das ist ain schaff kerns 8 fl. ich war desselben mals bei dem hertzog zu Baden […] und aß alle tag umb 10. dn. prot, das ist sicher war, des bedorft ich zu rechter notturft. man sagt auch, daß es desselben mals in Flandern so teur was, das als vil als hie 1 schaff ist, gült geren 12 fl. o wee der großen ängstlichen not; das ist gewesen in dem 38. jar. 9 Vgl. Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 164: Und hueb an zu sterben und kam ain großer tod und starb mir ain sun, hieß Conrat, ward mir gar lieb. darzu so legt ich mich selb auch nider und hett den geprechen an zwaien stetten; man gab mir unsern herrn, aber ich und mein hausfraw kamen wider auf, gott hab lob. 10 Vgl. Anm. 8. 11 C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 127-147. 12 Vgl. zu Fragen der Preisentwicklungen und des städtischen Lebensmittelmarktes etwa U LF D IRLMEIER , Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Abhandlung 1), Heidelberg 1978; D ERS ., Zum C HRIS TIAN J ÖR G 114 Verschärft wurde die Situation des Jahres 1438 zusätzlich dadurch, dass bereits die vorhergehenden Jahre - insbesondere jene zwischen 1432 und 1434 sowie 1437 - nur äußert mäßige Ernteergebnisse gebracht hatten und selbst durch teilweise schwere Teuerungen gekennzeichnet waren. 13 Dass es sich bei der Krise der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts nicht um lokal oder regional begrenzte Fälle handelte, legen schon die genannten Berichte nahe. Noch deutlicher werden mit Blick auf die räumliche Ausdehnung der Notsituation beispielsweise die Kölner Quellen. Neben gewaltigen Preisanstiegen in der rheinischen Kathedralstadt und den benachbarten Regionen vermelden die Chronisten noch katastrophalere Verhältnisse in jenen Gebieten, zu denen die Kölner engere wirtschaftliche Kontakte unterhielten und bezüglich derer man also verlässliche Informationen besaß, wie dies für Flandern, Frankreich und England der Fall war. 14 In der Tat spannte sich der räumliche Rahmen der Hungersnot während der Jahre um 1438 noch deutlich weiter. Belege für Versorgungsengpässe, drastische Preisanstiege für Korn, Hungerphasen und Seuchenausbrüche lassen sich für das Gebiet von der Iberischen Halbinsel im Westen bis zu den russischen Fürstentümern um Smolensk im Osten ebenso wie von Oberitalien bis nach Nordengland und Irland finden. 15 Somit handelte es sich bei der Krise jener Jahre zweifelsohne um die schwerste Hungersnot des 15. Jahrhunderts, die in ihrer Bedeutung und räumlichen Ausdehnung wohl alleine mit jener - auch in der Forschung ungleich prominenteren Krise - im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts zu vergleichen ist, die zwischen 1314 und 1318 andauerte und deren Ausläufer bis 1322 fassbar sind. 16 Problem von Versorgung und Verbrauch privater Haushalte im Spätmittelalter, in: A LFRED H AVERKAMP (Hg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt, Köln-Wien 1984, S. 257-288; D ERS ./ G ERHARD F OUQUET , Ernährung und Konsumgewohnheiten im spätmittelalterlichen Deutschland, in: GWU 44 (1993), S. 504-526. Vgl. zur geringen Nachfrageelastizität von Getreide für den hier interessierenden Zeitraum auch weiterhin W IL - HELM A BEL , Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft, Stuttgart 1980, S. 65-70. 13 C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 118-127. 14 Kölner Jahrbücher (D), in: Die Chroniken der Deutschen Städte. Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Köln 2, Leipzig 1875-1877, S. 176f.: Datum anno domini 1438 do was groisse duire zit zo Coelne ind alle lant durch welsch ind duitsch […] vort in Vrankenrich, in Engelant, in Hollant, in Vlanderen da was dat korn so vil duire, dat vil lude hungers sturven. 15 C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 83-118. 16 Insbesondere die anglophone Forschung hat sich um die Erforschung dieser Krise verdient gemacht. Vgl. hier nur W ILLIAM C HESTER J ORDAN , The great famine. Northern Europe in the early fourteenth century, Princeton 1996; I AN K ERSHAW , The great famine and the agrarian crisis in England, 1315-1322, in: Past and Present 59 (1973), S. 3- 50; H ENRY S. L UCAS , The great famine of 1315, 1316 and 1317, in: Speculum 5 (1930), K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 115 Die folgenden Ausführungen sollen sich jedoch weniger mit den bereits an anderer Stelle durch den Autor untersuchten konkreten Auswirkungen des Mangels und den Gegenmaßnahmen von obrigkeitlicher Seite während des Spätmittelalters beschäftigen, sondern sie werden vielmehr die klimatischen Rahmenbedingungen während der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Hierbei konzentriert sich der Beitrag unter Berücksichtigung der allgemeinen klimatischen Voraussetzungen in West- und Mitteleuropa während jenes Zeitraums auf die diesbezüglichen Verhältnisse im oberdeutschen Raum. Allein die weite räumliche Ausdehnung des von der Hungersnot zwischen 1437 und 1440 betroffenen Gebiets lässt schon den maßgeblichen Einfluss klimatischer bzw. witterungsspezifischer Faktoren bei deren Zustandekommen vermuten, auch wenn die Intensivierung entsprechender Versorgungsengpässe vor dem Hintergrund solch negativer Rahmenbedingungen durch anthropogene Faktoren - wie etwa Kriege, Preisspekulationen oder Kornausfuhrsperren - sicherlich keineswegs unterschätzt werden darf. Eine alleinige Konzentration auf anthropogene Faktoren, wie sie auch in der neueren Forschung zu Hungersnöten teilweise begegnet und wie sie mit der generell lange zu beobachtenden Fokussierung auf den Menschen als zentralem Akteur und Gestalter der Geschichte einhergeht, erscheint dagegen zumindest für die sogenannte Vormoderne angesichts gänzlich unterschiedlich gelagerter Bedingungen bezüglich Ernte, Transport und Versorgung kaum weiterführend. 17 S. 343-377. Die äußerst verdienstvolle und nach über 100 Jahren noch immer unverzichtbare Studie und Sammlung von Quellenhinweisen zu Hungersnöten aus der Feder Fritz Curschmanns endet mit jener Hungersnot im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts; vgl. F RITZ C URSCHMANN , Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900. 17 Bezeichnenderweise konzentrieren sich entsprechende Untersuchungen zumeist auf die Gegenwart bzw. auf historische Beispiele des 19. und 20. Jahrhunderts. Vgl. hierzu ausführlich C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 118-173. Die Ergebnisse der verdienstvollen Untersuchungen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Amartya Sen zu Hungersnöten sind vor diesem Hintergrund bezüglich ihrer Aussagekraft für die mittelalterlichen Verhältnisse einzuordnen. Dies gilt etwa auch für die programmatische These Sens, dass »es dermaßen einfach [ist], Hungersnöte zu verhindern, dass ihre Existenz in dieser Welt an und für sich erstaunlich ist«; vgl. A MARTYA K UMAR S EN , Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000, S. 213f. C HRIS TIAN J ÖR G 116 1. Der Kälteeinbruch. Zu den Serien strenger Winter zwischen 1430 und 1443 Die Erforschung der historischen Klimaverhältnisse hat vor dem Hintergrund des viel zitierten und aktuell teilweise äußerst kontrovers diskutierten Phänomens der sogenannten Klimaerwärmung 18 in den letzten Jahren wieder verstärkte Beachtung erfahren. 19 Nicht zuletzt dem häufig als Krisenepoche wahrgenommenen Spätmittelalter wurde hierbei einige Aufmerksamkeit zuteil, 20 ließen sich doch vielfältige 18 Die definitorische Grenze zwischen den Wissenschaftsbegriffen ›Wetter‹, ›Witterung‹ und ›Klima‹ bleibt auch in der modernen Forschung umstritten. Zuletzt hat Elisabeth Strömmer zusammenfassend ›Wetter‹ als den »charakteristischen Zustand der Atmosphäre von Stunden bis Tagen«, ›Witterung‹ entsprechend »für den Verlauf von Tagen bis Monaten« und ›Klima‹ wiederum »für atmosphärische Phänomene von Monaten, Jahren beziehungsweise Jahrzehnten« charakterisiert. Vgl. hierzu E LISABETH S TRÖMMER , Klima-Geschichte. Methoden der Rekonstruktion und historischen Perspektive: Ostösterreich 1700-1830, Wien 2003, S. 11. Entsprechend werden im Rahmen der folgenden Ausführungen die Bedingungen während einzelner Monate oder einer bestimmten Jahreszeit als Witterungsverhältnisse, längerfristige Entwicklungen, die mehrere Jahre umfassen, als Klimaverhältnisse bezeichnet. 19 Vgl. etwa F RANK S IROCKO (Hg.), Wetter, Klima, Menschheitsentwicklung - Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2009; W OLFGANG B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2008; C HRISTIAN P FISTER (Hg.), Wetternachhersage. 400 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern 1999; D ERS . u. a. (Hg.), Climatic variability in sixteenth century Europe and its social dimension, London u. a. 1999; W OLFGANG B EHRINGER u. a. (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der Kleinen Eiszeit. Cultural Consequences of the Little Ice Age (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005; H UBERT H. L AMB , Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Hamburg 1989; R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2 2008; B RIAN F AGAN , The Little Ice Age. How climate made history 1300-1850, New York 2000. Vgl. zudem als orientierenden Überblick M ARTIN K APPAS , Klimatologie. Klimaforschung im 21. Jahrhundert - Herausforderung für Natur- und Sozialwissenschaften, Heidelberg 2009. Dieses steigende Interesse hat auch maßgeblich zur Publikation von Quellensammlungen und teilweise auf deren Basis erfolgter Auswertungen beigetragen, die sich auf bestimmte Regionen oder heutige Staaten konzentrieren. Vgl. beispielsweise J AN B UISMAN / A. F. V. VAN E NGELEN (Hg.), Duizend jaar weer, wind en water in de lage landen II. 1300-1450, Den Haag 1996; R UDOLF B RAZDIL / O LDRICH K OTYZA (Hg.), History of weather and climate in the Czech lands I. Period 1000-1500, Zürich 1995. Vgl. in räumlich breiterer Perspektive auch C URT W EIKINN , Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitenwende bis zum Jahre 1850, 6 Bde., Berlin 1958-2002. 20 Vgl. zur ebenfalls teilweise heftig diskutierten Frage einer ›Krise des Spätmittelalters‹ zuletzt mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen die Diskussion bei P ETER S CHUSTER , K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 117 und als Krisenfaktoren eingeordnete Entwicklungen mit dem Hereinbrechen einer langfristigen Kaltphase nach dem sogenannten hochmittelalterlichen Wärmeoptimum, das freilich selbst keineswegs frei von kurzfristigen Kälteeinbrüchen gewesen war, 21 in Verbindung bringen. Während dieser über die spätmittelalterlichen Jahrhunderte noch weit hinausreichenden und zumeist als ›Kleine Eiszeit‹ bezeichneten Phase einer allgemeinen Abkühlung kam es zudem mehrmals zu besonders intensiven Kälteperioden. Auch die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts waren durch einen solchen Einbruch extremer Kälte gekennzeichnet, der möglicherweise mit dem im Folgenden noch genauer zu betrachtenden Spörer-Minimum in Verbindung zu bringen ist. Bereits der für die Erforschung der Klimageschichte bedeutende schwedische Wirtschaftshistoriker Gustaf Utterström hat darauf hingewiesen, dass auf eine vorhergehende vergleichsweise wärmere Periode seit etwa 1430 eine durch besondere Kälte und erhöhte Feuchtigkeit gekennzeichnete Phase folgte, deren Hauptcharakteristikum die kalten Winter darstellten. 22 Auch Rüdiger Glaser hat die mit 1431 beginnenden vier Jahrzehnte als einen ›regelrechten Kälteeinbruch‹ charakterisiert, während Rudolf Brandzil und Oldrich Kotyza mit Blick auf Böhmen und Mähren die Kulmination der Hochphase strenger und schneereicher Winter während des späten Mittelalters auf die Zeit zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren des Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: HZ 269 (1999), S. 19-55; J ÜRGEN S TROTHMANN , Der ›Schwarze Tod‹. Politische Folgen und die ›Krise‹ des Spätmittelalters, in: M ISCHA M EIER (Hg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 179-200; W ERNER R ÖSENER , Befand sich der Adel im Spätmittelalter in einer Krise? Zur Lage des südwestdeutschen Adels im 14. und 15. Jahrhundert, in: ZWLG 61 (2002), S. 91-110. Vgl. zuletzt mit Schwerpunkt auf den klimatischen Rahmenbedingungen auch D ERS ., Das Wärmeoptimum des Hochmittelalters. Beobachtungen zur Klima- und Agrarentwicklung des Hoch- und Spätmittelalters, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 58 (2010), S. 13-30. 21 Eine solche Phase lässt sich für Mitteleuropa etwa im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts beobachten, innerhalb dessen insbesondere die vierziger Jahre durch äußerst kühle und niederschlagsreiche Sommer geprägt waren. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist darüber hinaus zwischen 1210 und 1230 eine größere Zahl äußerst strenger und lange anhaltender Winter zu konstatieren. Vgl. zur Orientierung hier nur die Hinweise bei R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 61f., 74f. Auch diese Phasen waren von dem Ausbruch verheerender Hungersnöte begleitet, die vor allem die Jahre 1142-46, 1150-52 und 1225/ 26 prägten; vgl. F. C URSCHMANN , Hungersnöte (Anm.16), S. 140-146, 170-172. 22 G USTAF U TTERSTRÖM , Climatic fluctuations and population problems in early modern history, in: Scandinavian Economic Review III.1 (1955), S. 3-47, hier 13-16. C HRIS TIAN J ÖR G 118 15. Jahrhunderts eingrenzen konnten. 23 Die auch für England in den Quellen dokumentierte Vielzahl aufeinanderfolgender Jahre mit äußerst strengen Wintern hatte noch C. E. Britton in seiner aus dem Jahre 1937 stammenden Untersuchung - wohl nicht zuletzt angesichts des gemäßigten Inselklimas - fälschlicherweise als das Ergebnis von Verwechslungen der Jahresdaten für einen einzigen schweren Winter durch die zeitgenössischen und späteren Chronisten gewertet, da ihm eine solch hohe Zahl als völlig unglaubwürdig erschien. 24 In der Tat betonen aber manche der zeitgenössischen Geschichtsschreiber explizit die Tatsache, dass es sich um mehrere solcher Extremereignisse gehandelt habe, wie dies etwa für Eberhard Windeck (* ca. 1380, † ca. 1440), den durch seine engen Verbindungen zu Kaiser Sigismund von Luxemburg bekannten und aus Mainz stammenden Chronisten, festgestellt werden kann. 25 Dieser konstatierte in seinen Notizen für 1436/ 37 die extreme Kälte der Wintermonate. Nach seiner Darstellung waren bereits vier ebenfalls äußerst strenge Winter vorausgegangen. 26 Jenseits moderner Erfassungsmethoden von Klimadaten halten auch bereits die zeitgenössischen schriftlichen Quellen und unter diesen insbesondere die Berichte der Chronisten auf breiter Basis Informationen über die jährlichen Witterungsbedingungen sowie vor allem über entsprechende Anomalien bereit. Gerade die städtischen Chronisten hatten die Situation auf dem Lebensmittelmarkt sehr genau im Blick und registrierten jede der durch unterschiedlichste Faktoren verursachten Änderungen der Versorgungslage. Die dem heutigen Leser leicht als über die Maßen auf nachrangige Details versessen erscheinenden Schilderungen über die Witterungsbedingungen und die Erntesituation sind jedoch keineswegs als erstaunliche Kuriositäten, sondern ganz im Gegenteil als genaue und für die Forschung höchst wertvolle Aufzeichnungen der für die damalige Versorgungslage elementaren Gegebenheiten zu bewerten. Als »verlässliche Seismographen realer Bedürftigkeit« hat Gerhard Fouquet derartige Berichte entsprechend völlig zu Recht bewertet. 27 23 R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 79: »Nach 1431 kam es für vier Jahrzehnte zu einem regelrechten Kälteeinbruch, der den vorangegangenen Kaltphasen zwischen 1201 und 1230 ähnelt.« R. B RAZDIL / O. K OTYZA (Hg.), History (Anm. 19), S. 178. 24 C. E. B RITTON , A meteorological chronology to A. D. 1450, London 1937, S. 161f. 25 P ETER J OHANEK , Eberhard Windeck und Kaiser Sigismund, in: M ICHEL P AULY / F RAN - COIS R EINERT (Hgg.), Sigismundus von Luxemburg: Ein Kaiser in Europa. Tagungsband des internationalen historischen und kunsthistorischen Kongresses in Luxemburg, 8.- 10. Juni 2005, Mainz 2006, S. 143-156. 26 W ILHELM A LTMANN (Hg.), Windeckes Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds, Berlin 1893, S. 287. Vgl. auch die Beobachtungen bei R. B RAZDIL / O. K OTYZA (Hg.), History (Anm. 19), S. 178, zu den »severe and particularly snowy winters culminating in the 1430s-1450s, even with a series of 7 or 6 severe winters in succession«. 27 G. F OUQUET , Familie (Anm. 7), S. 293. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 119 Wie bereits erwähnt, ging die langfristige Verschlechterung der allgemeinen klimatischen Bedingungen in Nord-Mitteleuropa während des späten Mittelalters und vor allem seit dem beginnenden 14. Jahrhundert mit zeitlich jeweils begrenzten Phasen besonders ungünstiger Verhältnisse einher. Eben diese finden noch vor den im 16. und 17. Jahrhundert greifbaren systematischeren und schriftlich fixierten Witterungstagebüchern in den erwähnten Chroniken und Annalen des 14. und 15. Jahrhunderts deutlichen Widerhall. 28 So schildern die Quellen etwa für das zweite Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts äußerst kühle und niederschlagsreiche Sommer, die durch ihre Auswirkungen auf die Ernte maßgeblich zum Ausbruch der schweren Hungersnot in jenen Jahren beitrugen. 29 Dagegen zeichneten sich die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts durch extreme Winter und schwere Frosteinbrüche während der Frühjahrsmonate aus. Die mit dem Beginn des Jahrzehnts einsetzenden Berichte über bemerkenswert kalte und lange währende Winter - wie sie die Kölner Quellen beispielsweise für 1431/ 32 mit der Charakterisierung als horribilis hyems et frigiditas magna in großer Deutlichkeit festhalten 30 - konstatieren mit dem Winter 1434/ 35 einen ersten Höhepunkt. Insbesondere die Monate Januar und Februar des Jahres 1435 waren durch strengen Dauerfrost geprägt. In Köln vermerken die sogenannten Kölner Jahrbücher hierzu knapp: Datum anno domini 1435 do was der kaldeste winter, der sint gotz geburte je gewas. 31 Der Rhein führte bei Köln für mehrere Wochen eine geschlossene Eisdecke von solcher Dicke, dass es unter anderem möglich gewesen sein soll, zu Fuß und zu Pferde sowie sogar mit schwer beladenen Karren und 28 Vgl. zur Wetterbeobachtung vor allem C HRISTIAN P FISTER , Klimageschichte der Schweiz 1525-1860. Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 2 Bde. (Academica Helvetica 6), Bern 1984, S. 19-40; D ERS ., Witterungstagebücher im frühen 16. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die Geschichte der Agrarkonjunktur, dargestellt am Beispiel der Teuerung von 1529-1531, in: H EINRICH R. S CHMIDT (Hg.), Gemeinde, Reformation und Widerstand. FS für Peter Blickle zum 60. Geburtstag, Tübingen 1998, S. 443-455; E. S TRÖMMER , Klima- Geschichte (Anm. 18), S. 12-19. Vgl. mit Blick auf die regelmäßigen Wetterbeobachtungen des Renward Cysat (1545-1613) daneben auch M ARTIN H ILLE , Mensch und Klima in der frühen Neuzeit. Die Anfänge regelmäßiger Wetterbeobachtung, ›Kleine Eiszeit‹ und ihre Wahrnehmung bei Renward Cysat (1545-1613), in: Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), S. 63-92. 29 W. C H . J ORDAN , Famine (Anm. 16), S. 7-23. Vgl. mit Blick auf Dänemark und die dort bereits zuvor greifbaren Trends zudem N ILS H YBEL , Klima, misvaekst og hungersn d i Danmark 1311-1319, in: Historisch Tidsschrift 1 (1997), S. 29-40. 30 Lateinische Chronikfragmente, in: Die Chroniken der Deutschen Städte. Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Köln 2, Leipzig 1875-1877, S. 199; Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 166. 31 Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 170. C HRIS TIAN J ÖR G 120 Vieh über das Eis des Stromes zu gelangen. 32 Für Anfang Februar jenes Jahres wurde vom Bodensee ebenfalls eine geschlossene und begehbare Eisschicht gemeldet, und am 5. Februar gefror zudem der Einfluss des Rheins in den Untersee. Gebhard Dacher zeichnet in seiner Schilderung ein höchst eindrucksvolles Bild der durch extreme Kälte, gewaltige Schneefälle und das Gefrieren des Sees gekennzeichneten Wintermonate, in deren Gefolge man durch die abträgliche Witterung sowie den Nahrungsmangel erschöpfte Enten und andere Wildvögel problemlos auf dem Eis fangen konnte. 33 Auf den in den oberdeutschen Gebieten vergleichsweise gemäßigten Winter 1435/ 36 folgten die wiederum äußerst strengen Winter der Jahre 1436/ 37, 1437/ 38, 1439/ 40 und 1442/ 43. Diese waren erneut vor allem durch eine große und lange andauernde Kälte geprägt und können nach der aktuell zunehmende Verbreitung erfahrenden Kategorisierung Christian Pfisters als »sibirisch« bezeichnet werden. 34 Aus dem Rheingebiet sowie aus Schwaben und Franken wird für 1436/ 37 über einen schweren Wintereinbruch berichtet, in dessen Folge aufgrund der großen Kälte Rebstöcke vernichtet wurden und das Vieh erfror. 35 Gemeinsam mit dem im Folgenden noch genauer zu betrachtenden Maifrost sollten diese 32 Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 170: Do ervroiren alle wasser in desen landen zo grunde, ind der Rin bevroir zo beneden Coellen ind vur Coellen an allen landen, dat man over den Rin reit ind geink, dat vie darover leite ind dreif ind mart da up hielte, ind alle geladen gezogen darover voiren. Vgl. auch die Berichte in Kölner Jahrbücher (C) (Anm. 14), S. 124: Ind stoint also 3 wechen ind einen dach, dat man darover reit ind voire mit wairen karssen geladen mit holzce ind mit hirrinch ind mit wine ind vort groisse eichen souimer die man darover sleifde. 33 S. W OLFF , Die »Konstanzer Chronik« (Anm. 4), S. 545: In dem vorgenanten jar do was der keltost wintter, der jn funfftzig jaren ye ward, und ward der Rin so klain, das man truken gieng von petershusen Bisz gen Rotengatters mülin und gefror der see her uff nach bisz gen lon. Des jars vmb liechtmesz waren geuallen wol by zwaintzig schne, das nie kain man grosser schne zu costentz nie gedaucht. Des jars vieng man so vil vogel und belchen jm Rin und entan, das des nie kain man me gedaucht. […] A sant agathan tag was es so kalt, das der Rin zu gotlieben über fror und flugend die alen bock vor hunger gen constentz jn die stat ynd giengend die wylden anten mit den haymschen dick und vil. vnd uff den tag ward gerechnot der achtvnd zwaintzigost schne, so gevallen was des winters. 34 C H . P FISTER , Wetternachhersage (Anm. 19), S. 100-109. Als ›sibirisch‹ können demnach etwa Winter mit anhaltender Schneebedeckung, Vereisen von Seen und Flüssen sowie dem Erfrieren von Weinstöcken und Obstbäumen charakterisiert werden, was für eine große Zahl der Winter zwischen 1430 und 1443 zutrifft. Vgl. zuletzt die Anwendung bei F RANZ M AUELSHAGEN , Klimageschichte der Neuzeit, 1500-1900, Darmstadt 2010, S. 71, mit Hinweis auf die Winter 1513/ 14, 1565/ 66, 1572/ 73, 1694/ 95, 1829/ 30, 1879/ 80. Vgl. zur Serie harter Winter zur Mitte des 15. Jahrhunderts R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 80. 35 Vgl. Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 174: Datum anno domini 1437 do was ein grois kalt winter, des nieman gemeint inhedde, darom dat vie in dem lande seir starf van kelden. Ind it ervroir vil wingartz ind korn. Darna dede der meivrost noch me schaden an dem wingart ind an allen vruchten. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 121 Bedingungen maßgeblich zu den gewaltigen Getreidepreis-Teuerungen und zu dem Ausbruch der schwersten Hungersnot des 15. Jahrhunderts beitragen. Auch in anderen Regionen Europas lassen sich solche oder ähnliche Verhältnisse für die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts belegen. Fast durchweg begegnet hierbei in den einschlägigen Berichten der Hinweis auf unter einer gewaltigen Eisdecke liegende Seen und Flussläufe, was wiederum eine weiträumige Begeh- und Befahrbarkeit des Eises ermöglicht habe. Mehrmals gefror so etwa die Seine in den Wintermonaten jener Jahre und trat in der Tauphase mit massivem Eisgang über die Ufer. 36 Dies geschah in besonderer Schwere während des Januars 1435, 37 worauf im Winter 1436/ 37 durch Eisstau verursachte Flusshochwasser auch den Norden und Nordwesten Frankreichs trafen. 38 Die berühmte Schilderung innerhalb des ›Journal d‘un bourgeois de Paris‹, nach der in kalten Wintern Wolfsrudel auf der Suche nach Nahrung in den Stadtbezirken der Metropole Menschen attackiert und getötet hätten, beziehen sich interessanterweise insbesondere auf den in Frankreich verheerenden Wintereinbruch 1439/ 40. 39 Die für das gemäßigte Klima Irlands und Englands höchst bemerkenswerte Serie strenger Winter fand auch in den dortigen Chroniken vielfältige Würdigung. 36 Vgl. zu den Überschwemmungstypen und Gegenstrategien ausführlich C HRISTIAN R OHR , Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen 4), Köln u. a. 2007, S. 201-398. Auch an der Donau, der Elbe und am Rhein sowie dessen Nebenflüssen kam es freilich während der dreißiger Jahre mehrmals zu durch Eisgang verursachten Überschwemmungen. Vgl. zu solchen Fällen C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 88-104. Eindrucksvoll ist etwa die Schilderung des Rheinhochwassers bei Köln nach dem strengen Winter 1431/ 32. Vgl. zur Überschwemmung und den durch diese verursachten Zerstörungen Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 166: Do was ein ussermaissen lank winter, dat der Rin zo ervroir, darna quam ein also groisse is vart: dat is brach der stat moelen in de schiffinge, de groissen mit den cleinen, ind dede groissen verderflichen schaden up dem Rine. 37 C OLETTE B EAUNNE (Hg.), Journal d’un bourgeois de Paris. De 1405 à 1449, Paris 1990, S. 302. 38 Chronique de Perceval de Cagny 1239-1438, in: H ENRI M ORANVILLE (Hg.), Chroniques de Perceval de Cagny (Société de l’histoire de France 307), Paris 1902, S. 229: Le XXVII jour de novembre, les eaues et les rivières furent très grandes es pais de Touraine, d’Anjou et du Maine et par especial la rivière de Maine. Vgl. zu den weiteren Flusshochwassern zudem C. W EIKINN , Quellentexte (Anm. 19), S. 361f. 39 C. B EAUNNE , Journal (Anm. 37), S. 391: Item le 16 e jour de dècembre, vinrent les loups soudainement et ètranglèrent quatre femmes ménagères, et le vendredi ensuivant ils en affolèrent dix sept entour Paris, dont il en mourut onze de leur morsure. Vgl. auch S TEFAN S IEMER , Wölfe in der Stadt. Wahrnehmungsmuster einer Tierkatastrophe am Beispiel des Journal d’un Bourgeois de Paris, in: D IETER G ROH u. a. (Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 13), Tübingen 2003, S. 347-365. C HRIS TIAN J ÖR G 122 Insbesondere während des Winters 1434/ 35 sollen über zwei Monate hinweg sämtliche Flüsse und Seen für Mensch und Tier auf dem Fußweg passierbar gewesen sein. 40 Ähnliches wird aus Kastilien für eben diesen Winter berichtet, wo der furchtbare Kälteeinbruch zudem ein Viehsterben und Getreideknappheit ausgelöst und binnen kürzester Zeit zu einer Verdreifachung des Kornpreises auf den Märkten von Valladolid, Madrid und Sevilla geführt habe. 41 Auch im Baltikum klagte man über die Schwere der Wintermonate, 42 die neben den dortigen kriegerischen Konflikten maßgeblich zur Verhängung von Kornausfuhr-Sperren beigetragen habe. Im April 1436 suchten Gesandte der zum Großherzogtum Litauen gehörigen Städte Polozk und Witebsk (Polazk und Wizebsk im heutigen Weißrussland) bei den Vertretern des Deutschen Ordens in Riga um eine Aufhebung dieser Sanktionen nach. 43 Auch Gesandte aus Dorpat und Reval (Tartu und Tallinn im heutigen Estland) wandten sich nach Riga, da das von ihnen dort bereits zuvor erworbene Korn nicht ausgeführt werden durfte, nun aber dringend benötigt wurde. 44 2. Flüsse und Seen … zu Eis erstarrt. Ein Fallbeispiel aus dem Winter 1436/ 37 Die letztgenannte Korrespondenz zeigt bereits, dass die verheerende Kältewelle über die Geschichtsschreibung der Zeit hinaus in den Quellen ihren Niederschlag fand. Auch wenn die Chroniken mit Blick auf diese Phänomene als durchaus »verlässliche Seismographen« charakterisiert werden können, 45 so ist in diesem Quellentypus bekanntlich das Zurückgreifen auf bestimmte Vorbilder beziehungsweise die Anlehnung an ältere Berichte keine Seltenheit. Gerade der europaweit 40 M ARY C. L YONS , Weather, famine, pestilence and plague in Ireland, 900-1500, in: M ARGARET E. C RAWFORD (Hg.), Famine: The Irish experience 900-1900. Subsistence crises and famines in Ireland, Edinburgh 1989, S. 31-74, hier 68f. 41 Vgl. M ANUEL C OLMEIRO (Hg.), Cortes de los antiguos reinos de León y Castilla 3, Madrid 1866, S. 239, 345f. 42 Die Einschätzung des Ordensmeisters in einem aus dem September 1436 stammenden Schreiben räumt insbesondere den erneut ungünstigen Witterungsbedingungen eine hohe Relevanz bei der Verschärfung der Krise ein. Vgl. Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch nebst Regesten, Abt. I., Bd. 9 (1436-1443), hg. von F RIEDRICH G EORG VON B UNGE , Riga u. a. 1889, Nr. 102, S. 64: So is leider das zomerkorn vrostes und reyfes halben alhir zcu lande widder und vort sere vortorben. Was furder vor zceitunge alhir zu lande, Got gebe was gutes [! ], werden irvaren, wollen wir och euwirn gnoden unvorczogen schreiben. 43 Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, Bd. 9 (Anm. 42), Nr. 39, S. 16-18, hier 17f. 44 Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, Bd. 9 (Anm. 42), Nr. 49, S. 22. 45 Vgl. hierzu bereits Anm. 27. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 123 sehr häufig begegnende Hinweis auf über Wochen und Monate massiv gefrorene Seen oder Flussläufe sowie die nachhaltige Dokumentation der Eisdicke durch den fast stets begegnenden ausdrücklichen Vermerk der Begehbarkeit bzw. Befahrbarkeit der gefrorenen Gewässer mit Karren und Fuhrwerken könnten für solche Verbreitungsmuster sprechen. In der Tat war eine derartige Schilderung besonders geeignet, dem Leser die besondere Strenge des Winters und die Schwere der Not eindrücklich vor Augen zu führen. Dass die in den chronikalischen Berichten geschilderten Verhältnisse der Realität jener Wintermonate jedoch durchaus entsprachen, zeigt sich auch in weiteren Quellen. Für den hier insbesondere interessierenden oberdeutschen Raum ist in diesem Zusammenhang das vielgestaltige städtische Verwaltungsschriftgut eine reiche Fundgrube. Ein besonders illustrativer Fall soll an dieser Stelle in der gebotenen Kürze vorgestellt werden. Es handelt sich hierbei um ein bislang unediertes Protokoll des Straßburger Rates, welches dieser der Zürcher Führung zukommen ließ. 46 Mit dem vom 7. März 1437 stammenden Bericht wurde den Zürchern auf deren Anfrage hin Auskunft über die Umstände erteilt, die es ihren zu den westfälischen Freigerichten entsandten Vertretern im Januar 1437 unmöglich gemacht hatten, den dortigen Verhandlungstermin, der auf den 15. Januar festgesetzt worden war, fristgerecht zu erreichen. 47 Das unter dem Ratsvorsitz keines geringeren als des bedeutenden patrizischen Politikers und mehrmaligen Stettmeisters Johann Zorn von Eckerich erstellte Protokoll bestätigte hierbei, dass zu dieser Zeit katastrophale Witterungsbedingungen geherrscht hatten, welche die Zürcher Gesandten bei ihrer Reise den Rhein hinab vor kaum überwindbare Hindernisse gestellt 46 StA Zürich C I, Nr. 1151. Der Autor bereitet eine umfassende Untersuchung des Straßburger Protokolls und seiner Entstehungshintergründe vor. 47 StA Zürich C I, Nr. 1151. Der Zürcher Ratsherr und Gesandte Heinrich Usikan hatte beim Straßburger Rat um ein Protokoll der Zeugenaussagen beteiligter Straßburger gebeten, das Aufschluss darüber liefern sollte, ob die Witterungsbedingungen eine Weiterreise der Gesandten in der Tat unmöglich gemacht hatten. Die im Zürcher Auftrag agierenden Gesandten um die Jahreswende 1436/ 37 waren Hans Tromer, Jacob Obrest und Jacob Tachelshover gewesen, die sich auf Klage des Jost Vindenkern auf dem Weg an den Freistuhl zu Kierspe befanden. Das Verfahren wurde nach dem Scheitern zu Beginn des Jahres in der Folge fortgesetzt, wie eine Intervention Kaiser Sigismunds vom 4. Dezember 1437 bei Herzog Gerhard von Jülich zu Gunsten der festgesetzten Zürcher Gesandten belegt, die in dieser Angelegenheit erneut zum Freistuhl zu Kierspe unterwegs waren; vgl. Regesta Imperii XI.2: Die Regesten Kaiser Siegmunds (1410-1437), Innsbruck 1896-1900, Nr. 12207, S. 431. Vgl. zum städtischen Gesandtschaftswesen jetzt C HRISTIAN J ÖRG / M ICHAEL J UCKER (Hg.), Spezialisierung und Professionalisierung. Träger und Foren städtischer Außenpolitik während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Trierer Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 1), Wiesbaden 2010. C HRIS TIAN J ÖR G 124 hatten. 48 Die Zürcher Ratsbeauftragten seien demnach kurz vor Weihnachten von Basel über Schlettstadt nach Straßburg gelangt. Für diese Strecke hatten sie nach ihren eigenen Angaben bereits das Vierfache der gewöhnlichen Reisezeit benötigt. Vier Tage nämlich habe die Reise von Basel nach Straßburg in Anspruch genommen, für die bei günstigem Wetter normalerweise lediglich eine Tagesreise zu veranschlagen war. Diese von der Zürcher Ratsdelegation angeführte übliche Reisedauer von einem Tag für die Strecke den Rhein hinab dürfte keineswegs als unrealistisch anzusehen sein, 49 zumal für besondere Unternehmungen wie die sogenannten Hirsebreifahrten sogar die Strecke zwischen Zürich und Straßburg auf dem Wasserweg mit Ruderschiffen in deutlich weniger als 24 Stunden bewältigt worden sein soll. 50 Der in Straßburg verhörte Wirt der Zürcher Delegation, ein gewisser Heinrich Castell, sagte zudem aus, die Zürcher Abordnung hätte sich trotz der Kälte, massiven Schneefalls und der Unbefahrbarkeit der Wege umgehend bei ihm nach einer Transportmöglichkeit rheinabwärts erkundigt. Die von den Zürchern gewünschte Beschaffung eines Fuhrwerks sei daran gescheitert, dass keiner der angefragten Fuhrleute angesichts der Witterungsbedingungen eine Fahrt riskieren wollte. 48 Vgl. zur Rolle des Johann Zorn von Eckerich in der Straßburger Politik während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts M ARTIN A LIOTH , Gruppen an der Macht. Zünfte und Patriziat in Straßburg im 14. und 15. Jahrhundert. Untersuchungen zu Verfassung, Wirtschaftsgefüge und Sozialstruktur, 2 Bde., Basel u. a. 1988, hier Bd. 1, S. 141; sowie zuletzt C HRISTIAN J ÖRG , Gesandte als Spezialisten. Zu den Handlungsspielräumen reichsstädtischer Gesandter während des späten Mittelalters, in: D ERS ./ M. J UCKER , Spezialisierung (Anm. 47), S. 31-63, hier 36-38. 49 Die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in Krisenzeiten genauer nachzuvollziehenden Botenketten oder Botenstafetten zwischen den rheinischen Reichs- und Kathedralstädten bestätigen entsprechende Reisezeiten. Eine offensichtlich falsche Angabe wäre angesichts der in Straßburg zweifelsohne vorhandenen Kenntnis um die Reisedauer auch kaum sinnvoll gewesen. Vgl. zu diesen Nachrichtensystemen am Rhein C HRISTIAN J ÖRG , Kommunikative Kontakte - Nachrichtenübermittlung - Botenstafetten. Möglichkeiten zur Effektivierung des Botenverkehrs zwischen den Reichsstädten am Rhein an der Wende zum 15. Jahrhundert, in: R OMY G ÜNTHART / M ICHAEL J UCKER (Hg.), Kommunikation im Spätmittelalter. Spielarten - Deutungen - Wahrnehmungen, Zürich 2005, S. 79-89. 50 Im Rahmen der sogenannten Hirsebreifahrten von Zürich nach Straßburg, deren Name sich von dem als Beleg für die kurze Reisedauer in Zürich zubereiteten und auf der Fahrt noch nicht erkalteten Hirsebrei herleitet, legten Ruderschiffe die weit über 200 Kilometer lange Distanz über die Limmat, die Aare und den Rhein zurück. Aufgrund der größten Abflüsse und der somit stärksten Strömung während des Juni eignete sich dieser Monat besonders für derartige Unternehmungen. Vgl. hierzu D ANIEL L. V ISCHER , Die Hirsebreifahrt von Zürich nach Straßburg 1456 und 1576. Ein Bravourstück mit politischem Hintergrund, in: Navalis 5.2 (2008), S. 12-14. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 125 Noch kritischer erschien der Versuch, auf dem im Dezember 1436 bereits durch teilweise festes Eis sowie treibende Eisschollen gefährlichen Rhein stromabwärts zu gelangen, so dass dies zunächst offenbar als Möglichkeit in den Planungen völlig ausschied. Dennoch sei es kurz darauf dem Wirt auf Bitte der Gesandten gelungen, einen verwegenen Schiffsführer namens Heintz Mertz anzuheuern, der sich erbot, sie bis nach Speyer zu bringen. Auch die Aussage von Mertz selbst wird in dem Straßburger Protokoll wiedergegeben: Demnach habe er die Gesandten während der nächsten zwei Tag nur wenige Meilen flussabwärts bringen können. Dann sei die Weiterfahrt wegen des Eisgangs nicht mehr möglich gewesen, weshalb er die Gesandten vor der Stadt Seltz an Land habe setzen müssen. 51 Unter gewöhnlichen Witterungsbedingungen wäre die Fahrt von Straßburg nach Speyer binnen Tagesfrist problemlos möglich gewesen. Wie der Bericht gesondert vermerkt, sei allerdings in den folgenden Wochen des Januars und Februars aufgrund der dann geschlossenen, massiven Eisdecke auf dem Fluss kein Schiff mehr von Basel rheinabwärts gelangt. 52 Mit diesem Straßburger Protokoll über die Vorgänge dürfte das Scheitern der Gesandtschaftsreise auch in Zürich hinreichend entschuldigt gewesen sein. Es liefert aber zusätzlich zu den Schilderungen der Chronisten einen bemerkenswerten Beleg für die katastrophalen Verhältnisse während der Wintermonate 1436/ 37. 3. Maifrost, Getreideteuerung und zeitgenössische Erklärungsmuster Bereits die strengen Winter zeitigten nach Zeugnis der Chronisten schwerwiegende Auswirkungen. Aus Konstanz wird beispielsweise berichtet, dass Teile der Weinstöcke am Bodensee und im Elsass bis zum Wurzelwerk erfroren, so dass man diese völlig habe ›aushauen‹ müssen. 53 Aus der Moselregion bieten zudem die Indizes der Weinjahrgänge besonders eindrückliche Eintragungen, die Rückschlüsse auf die Witterung erlauben. Die Weinbau-Regionen im Süden und Westen des Reiches waren von den ungünstigen Bedingungen besonders betroffen, da gerade in solchen Gebieten schwere Kältephasen fatale Folgen mit sich brachten. 54 51 StA Zürich C I, Nr. 1151. 52 StA Zürich C I, Nr. 1151. 53 P H . R UPPERT , Chroniken (Anm. 4), S. 175f. Vgl. zudem F RANZ J OSEPH M ONE (Hg.), Quellensammlung der badischen Landesgeschichte 2, Karlsruhe 1854, S. 140: 1433. In disem jar erfror wein und korn im Elsaß undt kam ein groß theürung. 54 Während des späten Mittelalters gingen während der hochmittelalterlichen Gunstphase für den Weinbau gewonnene Regionen teilweise völlig verloren. Vgl. W INFRIED W EBER , Die Entwicklung der nördlichen Weinbaugrenze in Europa. Eine historisch-geographische Untersuchung, Trier 1980; J ANUSZ T ANDECKI , Weinbau im mittelalterlichen Preußen, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 12 (1991), S. 83-99. C HRIS TIAN J ÖR G 126 Entsprechend ist für die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts in den Mosellanden eine ganze Reihe äußerst schlechter Weinernten nachzuweisen, wie vor allem entsprechende Aufzeichnungen aus Metz für die Jahre 1430, 1432, 1434, 1435, 1438 und 1439 vermerken. 55 Gerade die Weinernten bzw. deren Ausfälle weisen auf einen weiteren zentralen Faktor innerhalb der klimatischen Rahmenbedingungen der dreißiger Jahre hin, dem auch für die Getreideernte erhebliche Bedeutung beigemessen werden muss. Mehrmals kam es zu extremen Kälteeinbrüchen während der Frühjahrsmonate. Insbesondere die Jahre 1430, 1434 und 1437 waren von strengem Maifrost gekennzeichnet. 56 Unser Augsburger Gewährsmann, Burkard Zink, weist beispielsweise für 1434 auf die Folgen eines Frosteinbruchs in den letzten Apriltagen hin, der die Lage auf dem städtischen Lebensmittelmarkt nach dem Winter 1433/ 34 noch weiter verschärft habe. Da für Korn und Wein in Augsburg und Umgebung bereits hohe Preise zu verzeichnen waren, sorgte der am 25. April 1434 beginnende Kälteeinbruch für erhebliche Unruhe. Man befürchtete ganz offensichtlich die Folgen der Frostphase für die kommende Ernte und die allgemeine Versorgungssituation, was die Nachfrage und damit die Preise rasch weiter nach oben schnellen ließ. 57 Auch in Franken stiegen die Getreidepreise bereits seit 1433 in außerordentlicher Weise an. Auf dem Nürnberger Getreidemarkt setzte sich - wie in Schwaben - die Teuerung im Jahre 1434 fort, wobei auch hier der genannte Frosteinbruch von Ende April und Anfang Mai eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürfte. Ungünstige Witterungsbedingungen zu einem solch empfindlichen Zeitpunkt vor der somit bedrohten sommerlichen Getreideernte sorgten angesichts der geringen Nachfrageelastizität für Spekulationskäufe oder für die Zurückhaltung noch 55 Vgl. zu diesen Jahrgängen besonders L UCAS C LEMENS , Trier - Eine Weinstadt im Mittelalter (Trierer Historische Forschungen 22), Trier 1993, S. 390f. Eine weitere derartige Phase ist für die frühen achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts dokumentiert. Vgl. hierzu zuletzt D ERS ., Witterung und Wein an der Mosel im Spätmittelalter, in: M ARIA B ESSE u. a. (Hg.), Weinwörter - Weinkultur. Ein europäisches Fachwörterbuch im linguistischen, historischen und kulturellen Kontext. Beiträge des internationalen und interdisziplinären Kolloquiums im Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern, 14./ 15. September 2007, Stuttgart 2009, S. 125-148. Vgl. für entsprechende Aufzeichnungen aus den zum Besitz der Grafen von Württemberg gehörigen Orten Großbottwar und Beilstein zudem D IETMAR R UPP , Die Weinchroniken von Großbottwar und Beilstein. Sind sie Archive für Witterung und Klima des Bottwartales? , in: Geschichtsblätter aus dem Bottwartal 10 (2006), S. 59-71. 56 Vgl. für die Frühjahrsverhältnisse der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts die Zusammenschau bei R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 86. 57 Vgl. Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 155: Item darnach am 25. tag aprilis was ain große kelt, die weret 2 tag und erfror alles aichin und buchin laub, und derselben kelt wegen erschracken die leut gar ser, dann wein und korn ward fast aufschlahen und ward ie lenger ie teurer. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 127 vorhandener Getreidevorräte aus (spekulativem) Gewinnstreben. Die Nürnberger ›Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit‹ berichtet zudem von lange anhaltenden Regenfällen, die auf die Kältephase folgten. Auch diese beeinträchtigten die Ernte des Sommers, da das Korn auf den Feldern aufgrund der hohen Feuchtigkeit nicht geschnitten werden konnte und verdarb. 58 Der Preis für ›Korn‹, was im Falle Nürnbergs normalerweise allgemein auf den Roggen zu beziehen ist, stieg binnen kurzer Zeit auf das Dreifache und auf den bereits bemerkenswert hohen Wert von 23 Pfund alter Währung für das Simmer. Dieser sollte erst im verheerenden Hungerjahr 1437 nochmals übertroffen werden. Auch dem Beginn jener großen Hungersnot im Sommer 1437 ging ein schwerer Maifrost voraus, der auf die bereits beschriebenen und bis in den März hineinreichenden Wintermonate folgte. Sowohl im Rheingebiet als auch in Schwaben und Franken schädigte der Maifrost die Getreide- und Weinernte erheblich. 59 In den preußischen Gebieten des Deutschen Ordens dürften die Verhältnisse maßgeblich für das Ende des Weinbaus in der Region zwischen Schwetz und Thorn ( wiecie und Torún im heutigen Polen) verantwortlich gewesen sein, wo alle Weinberge vernichtet waren. 60 In Schwaben erreichte der Kornpreis auf dem Augsburger Markt binnen kürzester Zeit bereits die hohen Werte der Teuerungsjahre 1433/ 34 und übertraf diese schließlich deutlich. Vor allem der Maifrost sorgte gerade nach den nur wenige Jahre zurückliegenden konkreten Erfahrungen mit späten Frosteinbrüchen ganz offensichtlich für eine äußerst negative Einschätzung der kommenden Ernteerträge und führte damit zu einem Phänomen, das in der heutigen Zeit wohl mit ›Panikkäufe‹ charakterisiert würde. Schon in der ersten Maihälfte 1437, also im direkten Gefolge der späten Frostperiode und der durch sie absehbaren Schäden an der neuen Ernte, meldeten etwa die Esslinger Gesandten in einem Schreiben an den heimischen Rat, dass im Herrschaftsgebiet des Grafen von Württemberg huffen korns ufkouft und hinweg gefüret würden. 61 Auch aus 58 Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit bis 1434, mit Fortsetzung bis 1441, in: Chroniken der deutschen Städte. Nürnberg 1, Leipzig 1862, S. 344-410, hier 393: In dem jar nach ostern in dem maien da erfruren die wein gemeinlich in Francken und frucht und obs und ander ding allenthalben gemeinlichen von reif und gefrust und wints wegen […] da regnet es darnach ie und ie langh und verderbte ser alles getrait, daß man nicht geschneiden mocht noch kunt, und wurdent vil guß untz auf den herbst; von dem regnet es disen monat gantz, daß man nicht geseen mocht vor waßer untz auf das new (jar). 59 Vgl. beispielsweise für Nürnberg Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (Anm. 58), S. 398: Item 1437 jar auf den auffartstag und auch darnach erfror der wein gemainlichen aller und was lang kalt. Darnach was große theurung und hunger an korn allenthalben […]. Vgl. auch Kölner Jahrbücher (D) (Anm. 14), S. 174: Datum anno domini 1437 do was ein grois kalt winter, des nieman gemeint inhedde, darom dat vie in dem lande seir starf van kelden. Ind it ervroir vil wingartz ind korn. Darna dede der meivorst noch me schaden an dem wingart ind an allen vruchten. 60 Vgl. W. W EBER , Entwicklung (Anm. 54), S. 88. 61 StadtA Esslingen, Missivenbuch II (1437-1440), fol. 67r. C HRIS TIAN J ÖR G 128 Basel wird berichtet, dass aufgrund der Teuerung in den rheinabwärts gelegenen Gebieten vor allem seit Mai 1437 zahlreiche Gesandte aus jenen Regionen auf dem Basler Markt, der sich anfangs noch durch vergleichsweise günstige Preise auszeichnete, den Erwerb von Brotgetreide anstrebten. 62 Vor allem die überregional bedeutenden Kornhandelszentren Straßburg und Ulm wurden in der Folge Anlaufpunkte der Bemühungen städtischer Gesandtschaften, Korn für die Versorgung des heimischen Lebensmittelmarktes zu erwerben. 63 Die Folge waren in fast allen Regionen Oberdeutschlands städtische und territoriale Kornausfuhrverbote, was die Versorgungslage freilich nochmals nachhaltig verschlechterte. Bereits Ende Mai informierten die Räte der Wetterau-Städte Friedberg und Gelnhausen die Führung Frankfurts, dass allerorten kaum mehr Brotgetreide zu beschaffen sei. 64 Allerdings befand sich die Frankfurter Führung selbst bereits auf der Suche nach Möglichkeiten des Kornerwerbs, zumal sich die elsässischen und oberrheinischen Städte auf der Basis eigener Ausfuhrverbote weigerten, durch die Frankfurter bereits lange zuvor erworbenes Brotgetreide passieren zu lassen. 65 Ein eindeutiges Bild liefern auch die Entwicklungen auf dem Augsburger Getreidemarkt während des Jahres 1437. Während der Preis für das Schaff Korn rasch von unter 3 Pfd. Pfg. während des Frühjahres auf über 7 Pfd. Pfg. gestiegen war, wurden im Sommer bereits zwischen 9 und 10 Pfd. Pfg. bezahlt, wie es sich sowohl durch die Aufzeichnungen Burkard Zinks als auch durch die Korrespondenz des Augsburger Rates vom August 1437 nachweisen lässt. 66 Daneben 62 Die Chronikalien der Rathsbücher, 1356-1548, in: A UGUST B ERNOULLI (Hg.), Basler Chroniken 4, Leipzig 1899, S. 45: Also in zite als das heilige concilium by uns gehalten ist, als vor staet, hat sich gefueget, das der jaren als man zalte nach Christi geburt vierzechenhundert drissig und sechs jare, und darnach in dem sybenden jare, grosze thuere zuviele in Oberlanden, in Swaben und in Niderlannden, und aber by uns der zite wolfeil was. darumbe sich an nu vil lutes der selben lannden ind die lande umb uns und ouch in unser statt fügktent, ein grosz korn uffkouffent und hinwege fürtent. 63 C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 286-318. 64 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Reichssachen 3576, 3579. Auch dem zum Hochstift Würzburg gehörigen Karlstadt verweigerte der Frankfurter Rat - trotz der Intervention des Würzburger Bischofs und der Vermittlungsbemühungen des Mainzer Erzbischofs - die Lieferung zuvor erworbenen Getreides; vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Reichssachen 3566. 65 Vgl. zu den Frankfurter Kaufinitiativen ausführlich C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 293-304. 66 Burkard Zink erwähnt in seiner Chronik Aufkäufe der Stadt, deren Kosten sich auf 10 Pfd. Pfg. für ein Schaff Roggen beliefen. Diese - aufgrund der erwähnten Tätigkeit Zinks in der Verwaltung der Kornbestände im städtischen Dienst - ohnehin durchaus verlässlichen Aussagen werden durch die entsprechende Korrespondenz des Rates bestätigt. Dort ist in einigen Briefen aus dem August 1437 bereits von durchschnittlichen Preisen von zwischen 9 und 10 Pfd. Pfg. pro Schaff die Rede; vgl. beispielsweise StadtA Augsburg, Briefbücher IVa, Nr. 53. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 129 sollen Spekulanten - die in den Quellen häufig genannten fürkaufer - bestrebt gewesen sein, durch Rückhaltung ihrer Kornvorräte die Preise in Augsburg auf 12 Pfd. Pfg. pro Schaff zu treiben. 67 Interessanterweise verbindet Zink die Preisexplosionen der Jahre 1433/ 34 und der Jahre nach 1437 in seiner während der sechziger Jahre des 15. Jahrhunderts entstandenen Chronik rückblickend zu einer einzigen, maßgeblich durch harte Winter und späte Frosteinbrüche im Mai bedingten Notphase. 68 Ganz ähnlich beschreibt dies die sogenannte ›Reformatio Sigismundi‹. 69 Die in dem Hungerjahr 1439, das auch für das Basler Konzil in vielerlei Hinsicht ein Krisenjahr darstellte, im direkten räumlichen Umfeld der Kirchenversammlung entstandene Reformschrift ordnet die Vorgänge allerdings vor einem anderen Hintergrund ein. 70 Der Reformtraktat spricht im Hinblick auf die zahlreichen und vielbeklagten Missstände in Amtskirche und Reich an mehreren Stellen von einem heraufziehenden, durch menschliche Sündhaftigkeit verursachten Strafgericht Gottes. 71 Ein wesentliches Element in der Argumentation bildeten die damals aktuelle 67 Burkard Zink schildert eindrücklich den Fall eines gewissen Herbart Fideler, der sich bemüht haben soll, seine offenbar erheblichen Kornvorräte noch weit über dem Marktpreis an den Augsburger Rat zu veräußern; Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 162: Und auf ain tag da schickten die burgermaister nach im und redten mit im von des korns wegen und wolten im alles abkauft han und wolten im ie umb 1 schaff 10 lb dn. geben han; also wolt ers nit tuen und wolts nit neher dann umb 12 lb. dn. geben, da ließ man im sein korn und wolt in nit nötten, daß ers verkaufet. 68 Vgl. besonders Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 161: Item in den zeiten was es noch immerdar teur hie in der stat und überall auf dem land weit und prait, und was noch die teure, darvon vor gesagt ist. Dieser Hinweis bezieht sich eindeutig auf die Schilderung der Teuerungsjahre 1433/ 34. 69 H EINRICH K OLLER (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (Staatsschriften des späteren Mittelalters 6), Stuttgart 1964. 70 Vgl. zusammenfassend zur Diskussion um die Entstehungszeit sowie zur Datierung der verschiedenen Abschriften und deren Verhältnis zueinander H. K OLLER (Hg.), Reformation (Anm. 69), S. 10-17; D ERS ., Untersuchungen zur Reformatio Sigismundi II, in: DA 14 (1958), S. 436; D ERS ., Untersuchungen zur Reformatio Sigismundi III, in: DA 15 (1959), S. 141. Zitiert wird in der Folge nach der Fassung »N« der Edition Kollers. Vgl. zu Aspekten der Reformschrift auch F RANZ I RSIGLER , Die »Kleinen« in der sogenannten Reformatio Sigismundi, in: Saeculum 27 (1976), S. 248-255; K ARL M OMMSEN , Die »Reformatio Sigismundi«, Basel und die Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 20 (1970), S. 71-91; T ILMAN S TRUVE , Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der »Reformatio Sigismundi« und ihrer Überlieferung, in: ZGO 126 (1978), S. 73-129; H EINZ T HOMAS , Jeanne la Pucelle, das Basler Konzil und die »Kleinen« der Reformatio Sigimundi, in: Francia 11 (1983), S. 319-339. 71 Vgl. zu den vielfältigen Reformfragen in Kirche und Reich im Umfeld der beiden großen Reformkonzilien etwa W ALTER B RANDMÜLLER , Das Konzil von Konstanz 1414-1418, 2 Bde., Paderborn u. a. 1991/ 1997; J OHANNES H ELMRATH , Das Basler Konzil 1431-1449. C HRIS TIAN J ÖR G 130 Hungersnot und die damit einhergehenden Seuchenzüge. Überhaupt waren gerade solch verheerende und weite Bevölkerungsteile betreffende Krisen in besonderer Weise geeignet, mit dem endzeitlichen Gericht in Verbindung gebracht zu werden. In dem der ›Reformatio Sigismundi‹ eigenen Stil einer Predigt wird das Strafgericht in der folgenden Weise beschrieben: Gott bediene sich der Elemente, um den Menschen zu strafen. Weniger die Elemente und die mit deren Wirken einhergehenden Missernten seien aber der wahre Auslöser von Hunger und Not, sondern vielmehr werde das Wüten jener Elemente durch menschliche Sündhaftigkeit verursacht. In einem mit von kauffenn und verkauffenn überschriebenen Abschnitt bezieht sich der Autor bezeichnenderweise insbesondere auf den Fürkauf und das mit diesem verbundene Gewinnstreben. 72 In Anlehnung an den breiten Wucherbegriff der Zeit beschreibt die Schilderung der ›Reformatio Sigismundi‹ knapp die auf Teuerung ausgerichtete Praxis des Fürkaufs als Wucher, der auf ungebührliche Gewinne ausgerichtet sei und zu Lasten der Armen erfolge. 73 Diese allgemeine ungetrewe gegenüber dem Mitmenschen sei sündhaft und die wahre Ursache für Stürme, Hochwasser, Hagelschäden und Missernten. Gott nutze nämlich nun die Elemente, die das Gericht über die Christenheit führten, wobei sie den gewünschten Ernteablauf in das genaue Gegenteil verkehrten. Eine bemerkenswerte Wendung innerhalb der entsprechenden Darlegungen ist hierbei für unsere Fragestellung von besonderem Interesse. Die zur Zeit der Abfassung in Europa herrschende Hungersnot und die klimatischen Rahmenbedingungen, die ihren Ausbruch maßgeblich begünstigten, werden an exponierter Stelle innerhalb des Argumentationsverlaufs thematisiert: Dye element furen das gericht uber unns; wo zü guten fruchten gefallen soll, da wirt mißwachs auß, so wir warm sollen han, so komen kelten; das geben nü dye vier element zü einem gerechten gericht und stroffung. 74 Forschungsstand und Probleme, Köln-Wien 1987; I VAN H LAVÁ EK / A LEXANDER P AT - SCHOVSKY (Hg.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449). Konstanz-Prager Historisches Kolloquium (11.- 17. Oktober 1993), Konstanz 1996; J ÜRGEN D ENDORFER / C LAUDIA M ÄRTL (Hg.), Nach dem Basler Konzil: Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450-1475) (Pluralisierung & Autorität 13), Berlin 2008. 72 H. K OLLER (Hg.), Reformation (Anm. 69), S. 312-321, besonders S. 314-317. 73 Vgl. zu dem besonders weitgefassten Verständnis des Wucherbegriffs in der ›Reformatio‹ etwa C LEMENS B AUER , Der Wucher-Begriff der Reformatio Sigismundi, in: F RIEDRICH F ACIUS (Hg.), Aus Stadt- und Wirtschaftsgeschichte Südwestdeutschlands. FS für Erich Maschke zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 110-117. 74 H. K OLLER (Hg.), Reformation (Anm. 69), S. 314. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 131 Anstelle der für das Getreide so dringend benötigten Wärme sei es in den Frühjahrsmonaten zu Kälteeinbrüchen gekommen, was statt ertragreicher Ernten Misswachs nach sich gezogen habe. Noch weiter geht die Erklärung der ›Reformatio Sigismundi‹ an gleicher Stelle: Dye ungetrewe, dye yederman gegen dem andernn treybet, dye bringen groß unheyl, das ungewinde, groß wasser, groß hagelwinde, mißwachs koment. Das ist nit umbsünst, wir verschülden es umb got mit den sunden. 75 Eine konkrete Bezugnahme der 1439 entstandenen Schilderung auf die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre, die durch äußerst strenge Winter, späte Frosteinbrüche in April und Mai sowie die folgenden Missernten, Teuerungen und Hungersnöte gekennzeichnet waren, kann in diesem Zusammenhang ohne Frage vermutet werden. Den konkreten Auswirkungen der Missernten und der Hochpreisphase mussten nun insbesondere die städtischen Führungsgremien begegnen. Augsburg, dem in seinem regionalen Umfeld bei den Augustinerchorherren-Stiften Wettenhausen und Heiligkreuz zumindest kleinere Aufkäufe gelungen waren, wandte sich schließlich im Herbst 1437, wie auch Nürnberg und Nördlingen, nach Wien und erwarb dort nach Verhandlungen mit Herzog Albrecht V., dem späteren König Albrecht II., die erhebliche Menge von 2.000 Schaff (ca. 300 Tonnen) Weizen und Roggen. 76 Damit war die Not aber noch keineswegs beseitigt. Auch die Augsburger Gesandten wurden in der Folge mit erheblichen Widerständen beim Transport ihrer Fracht in die eigene Heimatstadt konfrontiert. Zunächst ließ man das Korn auf dem Wasserweg aus den österreichischen Gebieten von Wien die Donau und Isar hinauf bis Landshut bringen. 77 Dort allerdings scheiterte der geplante Weitertransport durch das Herzogtum Bayern-Ingolstadt an der restriktiven Handelspolitik Herzog Ludwigs des Bärtigen, der den Augsburgern eine Beförderung der Vorräte durch sein Territorium nicht gestatten wollte. 78 75 H. K OLLER (Hg.), Reformation (Anm. 69), S. 314. 76 Vgl. hierzu ausführlich C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 309-315. 77 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 159: […] und legten das alles zu Wien in schiff und und prachten es also auf dem waßer biß gen Landshut. Die Organisation des Transports auf dem Wasserweg ließ der Augsburger Rat durch eigene Beauftragte vornehmen. Vgl. zu den Instruktionen und Bezahlungen besonders StadtA Augsburg, Briefbuch IVa, Nr. 88; StadtA Augsburg, Bauamt I, Baumeisterbücher 38 (1437), fol. 91v. 78 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 159: Da wolt es hertzog Ludwig, der alt herr, den von Augspurg nit vergunnen, daß sies durch sein land gefüert hetten; er wolt in auch nit vergunnen, daß sies auf dem waßer gefüeret hetten […] man hett es also auf dem waßer für Ingolstadt und für Rein gefüert bis gen Wörd und von Wörd herhaim […]. C HRIS TIAN J ÖR G 132 Die Augsburger wurden noch im Februar 1438 durch die Geleitsverwehrung Herzog Ludwigs, der bereits kurze Zeit zuvor durch seine Amtleute Nördlinger Kornlieferungen in seinem Herrschaftsgebiet hatte aufhalten und beschlagnahmen lassen, gezwungen, ihre Vorräte aus Österreich zunächst in Landshut von den Schiffen bringen und lagern zu lassen. Von dort aus musste das Korn in kleineren Ladungen auf dem Landweg über Freising nach Augsburg gebracht werden. 79 Dies war während des erneut schweren Winters 1437/ 38 schlechterdings kaum möglich, weshalb sich die Lieferung des österreichischen Korns bis weit in das Jahr 1438 hinein verzögerte. Der mit der Organisation der Augsburger Kornlieferungen betraute Gesandte Hans Behaim kehrte von einer entsprechenden, sich über vier Monate erstreckenden Mission erst im Juni 1438 nach Augsburg zurück. 80 Burkard Zink selbst hat in seinen Aufzeichnungen die den Augsburgern durch die Handelspolitik des Herzogs von Bayern-Ingolstadt entstandene Schadenssumme auf etwa 1.000 Gulden beziffert. 81 Die städtische Führung war durch eine Serie strenger Winter und insbesondere die späten Frosteinbrüche, welche die beschriebenen Mechanismen des spätmittelalterlichen Getreidemarktes in Gang setzten, an den Rand einer versorgungspolitischen Katastrophe gebracht worden. Die Ankunft des in kleineren Einzellieferungen über Freising nach Augsburg gelangten Wiener Korns wurde von Burkard Zink in seinen Aufzeichnungen geradezu euphorisch gefeiert. Die Überwindung der von Zink als große und angstliche Not charakterisierten Zeit - gekennzeichnet durch strenge Winter, Maifrost, Missernten, Hungersnot und Seuchen - erschien ihm rückblickend in diesem Moment gesichert, weshalb Zink in seinem Werk die Führung Augsburgs ausführlich lobt. Nur durch ihr Agieren sei es in der Krise von 1437/ 38 möglich gewesen, daß arm leut korn mochten han und nit hungers sturben. 82 79 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 159. Der Auftrag, in Landshut Kornspeicher anzumieten und die Vorräte von den Schiffen dorthin verladen zu lassen, erging am 10. Februar 1438 in einem Schreiben des Augsburger Rates an Hans Behaim; vgl. StadtA Augsburg, Briefbuch IVa, Nr. 88. Der Stadt Freising überließ man eine Wagenladung Korn weit unter dem damaligen Marktpreis, um sich deren Unterstützung zu sichern. Zusätzliche Kornforderungen der Freisinger lehnte man jedoch kategorisch ab; vgl. StadtA Augsburg, Briefbuch IVa, Nr. 138, fol. 1r. 80 Vgl. ausführlich C H . J ÖRG , Hungersnöte (Anm. 3), S. 309-315, hier besonders S. 313. 81 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 160f. 82 Chronik des Burkard Zink (Anm. 6), S. 159: Und umb solche große und angstliche not zu fürkommen da bedachten die fürsichtigen und weißen, die ratgeben hie zu Augspurg, wie sie ain sinn mochten finden, daß arm leut korn mochten han und nit hungers sturben. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 133 4. Die Kälteperiode zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Zusammenschau und Erklärungsmodelle Zur Mitte des 15. Jahrhunderts ist für West- und Nordmitteleuropa ein massiver Kälteeinbruch zu konstatieren, dessen Charakteristika und Folgen insbesondere seit den dreißiger Jahren in den schriftlichen Quellen unterschiedlichster Provenienz deutlich greifbar werden. Innerhalb des in dem vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden oberdeutschen Bereichs war diese Phase vor allem durch Serien strenger Winter und häufige Frostperioden während der Frühjahrsmonate geprägt. Diese Rahmenbedingungen und gerade das kombinierte Auftreten von extrem kalten Wintermonaten und Maifrösten, wie dies etwa für 1430, 1434 und 1437 festzustellen ist, beeinträchtigten die Ernteergebnisse erheblich. Im Falle des für Witterungsschwankungen besonders anfälligen Getreides waren aufgrund der geringen Nachfrageelastizität und auch damit verbundener Preisspekulationen Teuerungen die Folge, innerhalb derer der Kornpreis sich auf den städtischen Märkten binnen kurzer Zeit vervielfachte, was zwischen 1437 und 1440 zur schwersten Hungersnot des 15. Jahrhunderts mit europaweiten Folgen führen sollte. Auch die Weinernten fielen in solchen Jahren äußerst negativ aus, wie entsprechende Nachrichten aus der Moselregion, vom Mittel- und Oberrhein sowie aus Schwaben und Franken in deutlicher Weise belegen. Teilweise vernichteten lange andauernde Frostperioden die Weinstöcke völlig, wie es beispielsweise in dem hier interessierenden Zeitraum in der Bodenseeregion der Fall war. Andernorts dürfte die Verdichtung der ungünstigen klimatischen Rahmenbedingungen innerhalb dieser Kaltphase maßgeblich zur Aufgabe des mittelalterlichen Weinbaus geführt haben, wofür etwa in den preußischen Gebieten des Deutschen Ordens nach dem Winter von 1436/ 37 deutliche Indizien existieren. Der Kälteeinbruch um und nach 1430 findet seinen Niederschlag auch in den auf breiterer Datenbasis erstellten Modellen der mitteleuropäischen Durchschnittstemperatur und deren Abweichungen. 83 Als Erklärung für die allgemeine Abkühlung nach dem sogenannten hochmittelalterlichen Wärmeoptimum wurde teilweise auf den in grönländischen und antarktischen Eisbohrkernen nachweisbaren höheren Sulfatanteil für die Jahre zwischen 1250 und 1500 hingewiesen, der als Indikator eines verstärkten Vulkanismus gedeutet werden könnte. 84 Die mediävistische Forschung hat erst in jüngerer Zeit begonnen, sich in stärkerem Maße mit solchen Erklärungsmodellen für weitreichende wirtschafts- und sozialgeschichtliche 83 Vgl. etwa die Zusammenführung diverser Temperaturrekonstruktionen bei R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 204f.; M. K APPAS , Klimatologie (Anm. 19), S. 318. Vgl. mit Hinweis auf Glaser auch B EATE M ÜLLER , Eine regionale Klimasimulation für Europa zur Zeit des späten Mauder-Minimums 1675-1705, Geesthacht 2004, S. 21. 84 Vgl. hierzu etwa R. G LASER , Klimageschichte (Anm. 19), S. 203f. C HRIS TIAN J ÖR G 134 Wandlungsvorgänge während der mittelalterlichen Jahrhunderte auseinanderzusetzen, wobei bisher hauptsächlich das frühe Mittelalter und entsprechende Krisenphasen - wie etwa das 6. Jahrhundert oder das 9. Jahrhundert - Beachtung fanden. 85 Zu ungleich höherer allgemeiner Bekanntheit ist freilich der Ausbruch des Tambora im Jahr 1815 gelangt, der in Europa und Nordamerika 1816 zu dem sprichwörtlich gewordenen ›Jahr ohne Sommer‹ und massiven Versorgungskrisen führte. 86 Bereits wenige Jahrzehnte zuvor war es höchstwahrscheinlich der Ausbruch des Laki auf Island, der den äußerst strengen Winter von 1783/ 84 in Mitteleuropa nachhaltig begünstigte. 87 Auch der Ausbruch des Huaynaputina in Peru im Jahre 1600 fand größeres Interesse, da dieser einschlägigen Auswertungen der Wachstumsringe von Bäumen zufolge wohl noch schwerwiegendere Auswirkungen als die beiden letztgenannten Ausbrüche besessen haben könnte. 88 Für das im Rahmen des vorliegenden Beitrags im Mittelpunkt des Interesses stehende 15. Jahrhundert verdient insbesondere der gewaltige Ausbruch des im 85 M ICHAEL M C C ORMICK u. a., Volcanoes and the Climate Forcing of Carolingian Europe, A. D. 750-950, in: Speculum 82 (2007), S. 865-895; I OANNIS A NTONIOU / A NASTASIOS K. S INAKOS , The sixth-century plague, its repeated appearance until 746 AD and the explosion of the Rabaul volcano, in: Byzantinische Zeitschrift 98 (2005), S. 1-4; J EORJIOS M. B EYER , Singuläre Naturkatastrophen oder allgemeiner Klimawandel? Wetterdaten des 6.- 9. Jahrhunderts bei Michel Syrus, in: S VEN G ÜNTHER u. a. (Hg.), Pragmata. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der Antike im Gedenken an Harald Winkel, Wiesbaden 2007, S. 150-166. Vgl. zur kontrovers geführten Diskussion um einen möglichen Ausbruch des Krakatau als Auslöser der verheerenden Kaltphase in den Jahren 535/ 36 den Beitrag des Vulkanologen K EN W OHLETZ , Were the Dark Ages triggered by volcano related climate changes in the 6th century? , in: EOS Trans Amer Geophys Union 48 (2000) (digital http: / / www.ees1.lanl.gov/ Wohletz/ Krakatau.htm, 2.9.2010); sowie zuletzt L. B. L ARSEN u. a., New ice core evidence for a volcanic cause of the A. D. 536 dust veil, in: Geophysical Research Letters 35 (2008), L04708. 86 J ELLE Z EILINGA DE B OER / D ONALD T. S ANDERS , Volcanoes in Human History. The far reaching effects of major eruptions, Princeton 2001; L OUIS S PECKER , Die große Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/ 17 in der Ostschweiz, 2 Bde. (Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen 133), St. Gallen 1993/ 1995; C HARLES R. H ARINGTON (Hg.), The year without a summer? World climate in 1816, Ottawa 1992; A NDREAS G ESTRICH , Religion in der Hungerkrise von 1816/ 1817, in: M ANFRED J AKU - BOWSKI -T IESSEN / H ARTMUT L EHMANN (Hg.), Um Himmels Willen: Religion in Krisenzeiten vom 14.-19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 275-293. 87 M ANFRED V ASOLD , Die Eruptionen des Laki von 1783/ 84. Ein Beitrag zur deutschen Klimageschichte, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 57 (2004), S. 602-608. 88 S HANAKA L. DE S ILVA / G REGORY A. Z IELINSKI , Global influence of the A. D. 1600 eruption of Huaynaputina, Peru, in: Letters to Nature 393 (1998), S. 455-458; K EITH R. B RIFFA u. a., Influence of volcanic eruptions on northern hemisphere summer temperature over the past 600 years, in: Letters to Nature 393 (1998), S. 450-455. K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 135 Südpazifik auf Vanuatu liegenden Kuwae Beachtung. Dieser Ausbruch wurde zwar schon länger als Eruption erheblichen Ausmaßes eingeschätzt, erfuhr durch jüngere Forschungen allerdings eine nochmalige Aufwertung. Die Untersuchungen entsprechender Eisbohrkerne lassen nach den Ergebnissen einer Forschergruppe um Chaochao Gao darauf schließen, dass die Intensität des Kuwae-Ausbruchs - gemessen an den nachweisbaren Sulfatmengen - seither unerreicht geblieben ist und er somit in dieser Hinsicht auch die Ausbrüche des Tambora und Huaynaputina übertraf. 89 Nach den Ergebnissen jener Forschergruppe dürfte der Ausbruch jedoch erst Ende 1452 oder Anfang 1453 stattgefunden haben und somit nicht mit der Krise der dreißiger Jahre in Verbindung zu bringen sein. Auch wenn erste Studien Claude Robins, Michel Monziers und Jean-Philippe Eissens noch eine Datierung auf den Zeitraum um 1425 vorgeschlagen haben, 90 sprechen die Ergebnisse der Eiskernbohrungen wohl deutlich für einen späteren Zeitpunkt, was auch die letztgenannte Forschergruppe um Claude Robins zu einer raschen Revision ihrer Einschätzung veranlasste. 91 Ohnehin sprechen die Charakteristika der Kaltphase in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts gegen eine unmittelbare Verbindung zu Vulkanaktivitäten in der Nähe des Äquators, 92 die - anders als etwa im Falle des isländischen Laki - nach entsprechenden Szenarien für Mitteleuropa eher äußerst kühle Sommermonate und eine Erwärmung während des Winters nach sich ziehen würden. Zwar ist in der Auswertung des Baumringwachstums der dreißiger Jahre kein einzelner gewaltiger Einschnitt wie für die Jahre 1453/ 54 zu konstatieren, doch lassen zahlreiche mittlere und starke Ausschläge auch für diese Zeit äußerst negative Rahmenbedingungen vermuten und auf nicht zu unterschätzende Temperaturanomalien in der 89 C HAO C HAO G AO u. a., The 1452 or 1453 A. D. Kuwae eruption signal derived from multiple ice core records: Greatest volcanic sulfate event of the past 700 years, in: Journal of Geophysical Research 111 (2006) (digital http: / / climate.envsci.rutgers.edu/ pdf/ Kuwae 27.pdf, 29.8.2010); C HAO C HAO G AO u. a., Volcanic forcing of climate over the past 1500 years: An improved ice core-based index for climate models, in: Journal of Geophysical Research 113 (2008) (digital http: / / climate.envsci.rutgers.edu/ pdf/ Gao2008JD010239.pdf, 29.8.2010). 90 Vgl. so noch 1994 M ICHEL M ONZIER u. a., Kuwae (~ 1425 A. D.): the forgotten caldera, in: Journal of Volcanology and Geothermal Research 59 (1994), S. 207-218. 91 Vgl. so die revidierte Einschätzung bei M ICHEL M ONZIER u. a., Formation of the midfifteenth century Kuwae caldera (Vanuatu) by an initial hydroclastic and subsequent ignimbritic eruption, in: Bulletin of Volcanology 56 (1994), S. 170-183. 92 Eine jüngere Studie hat für die Zeit der letzten fünfhundert Jahre fünfzehn tropische Vulkanausbrüche und ihre Folgen für die klimatischen Rahmenbedingungen untersucht. Vgl. E RICH M. F ISCHER u. a., European climate response to tropical volcanic eruptions over the last half millenium, in: Geophysical Research Letters 34 (2007) (digital http: / / coast.gkss.de/ staff/ zorita/ ABSTRACTS/ fischer_etal_grl07.pdf, 2.9.2010). C HRIS TIAN J ÖR G 136 nördlichen Hemisphäre schließen. 93 Dies spricht ebenfalls deutlich für eine längere Periode mit mehreren Kältespitzen und eher gegen ein einzelnes Extremereignis. Eine solche Serie kalter Winter und schwerer Frosteinbrüche während des Frühjahrs innerhalb eines Jahrzehnts konnte freilich für die Ernteergebnisse, die Erntekalkulation und damit insgesamt für die Versorgungssituation sehr viel schwerwiegendere Folgen besitzen als ein Einzelereignis. Somit stellt sich die Frage, inwiefern ein längerfristiges Phänomen für diese Bedingungen maßgebliche Bedeutung besitzen könnte. Die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts liegen am Beginn einer Periode überaus geringer Sonnenfleckenaktivität, dem nach dem Astronom Gustav Spörer (* 1822, † 1895) benannten ›Spörer-Minimum‹, 94 welches zumeist auf die Jahre zwischen ca. 1420 und ca. 1570 datiert wird. 95 Eine ähnlich extreme, aber kürzere Phase äußerst niedriger Aktivität folgte während des sogenannten Maunder-Minimums zwischen 1645 und 1715, während dessen die kältesten Jahre der ›Kleinen Eiszeit‹ vermutet werden. 96 Eine nachhaltige Beeinflussung der klimatischen Verhältnisse in Europa durch derartige Rahmenbedingungen könnte also auch für die Mitte des 15. Jahrhunderts angenommen werden. Die Serie der gemäß der Kategorisierung Christian Pfisters als ›sibirisch‹ zu charakterisierenden Winter nach 1430 dürfte sich durch in Mitteleuropa hierfür typische Konstellationen ausgezeichnet haben: Lange anhaltende, kalte Hochdruckgebiete über dem nördlichen Europa beispielsweise lenken dauerhaft äußerst kühle Luftmassen nach Mitteleuropa. Zum anderen können arktische Luftströme entlang eines in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hochdruckkeils die Bedingungen in Mitteleuropa maßgeblich bestimmen. 97 Auf eine zumindest die erste Hälfte der dreißiger Jahre prägende Besonderheit hat in diesem Zusammenhang bereits Hubert Horace Lamb aufmerksam gemacht. Charakteristisch für diese Phase sei die für Mittel- und Westeuropa untypische Dominanz von Ost- und Nordostwinden gewesen, welche die extremen Wintermonate jener Jahre in besonderer Weise begünstigt haben könnte. 98 93 K. R. B RIFFA u. a., Influence (Anm. 88), S. 451. 94 H IROKO M IYAHARA u. a., Variation of solar cyclicity during the Spoerer Minimum, in: Journal of Geophysical Research 111 (2006), A03103. 95 Vgl. etwa M. K APPAS , Klimatologie (Anm. 19), S. 262. Dagegen begrenzen H. M IYA - HARA u. a., Variation (Anm. 94), S. 1, das Spörer-Minimum auf den Zeitraum zwischen 1415 und 1534. 96 M. K APPAS , Klimatologie (Anm. 19), S. 262; B. M ÜLLER , Klimasimulation (Anm. 83). Vgl. für das 17. Jahrhundert zuletzt G EOFFREY P ARKER , Crisis and catastrophe: The global crisis of the seventeenth century reconsidered, in: American History Review 113 (2008), S. 1053-1079. 97 C H . P FISTER , Wetternachhersage (Anm. 19), S. 109. 98 H UBERT H. L AMB , Climate and the history of medieval Europe and its off-lying seas, in: Maritime studies, ports and ships; pre-printed papers, York 1992, S. 1-25, hier 9, 12f. Lamb K LIMA , W ITT ER UNG S EX TR EME U ND IHR E R EL EVAN Z 137 Auch wenn die Rekonstruktion historischer Klimaverhältnisse und gerade jene der entsprechenden Bedingungen während der mittelalterlichen Jahrhunderte im Detail noch keinesfalls abgeschlossen ist, lohnt der Blick auf derartige Rahmenbedingungen bei der Untersuchung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen. Umgekehrt kann insbesondere der regionalgeschichtlich orientierte Zugriff wertvolle Hilfe bei der Überprüfung naturwissenschaftlich rekonstruierter Klimaentwicklungen und Klimatheorien leisten. Die in den schriftlichen Quellen unterschiedlichster Provenienz aufscheinenden ungünstigen klimatischen Verhältnisse und Witterungsextreme während der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts belegen dies deutlich. Unter Fokussierung auf die oberdeutschen Lande zwischen dem Elsass, Schwaben und Franken ist eine für weite Teile Europas nachzuweisende Dominanz extrem kalter Winter und frostreicher Frühjahrsmonate zu dokumentieren. Diese Verhältnisse begünstigten nachhaltig die schweren Hungerjahre, die zwischen 1437 und 1439/ 40 über West- und Nordmitteleuropa hereinbrachen und die die Reichsstädte des deutschen Südens zu erheblichen versorgungspolitischen Anstrengungen veranlassten. Dass in diesen Zusammenhängen - ähnlich wie bei der Suche nach den Determinanten der Klimaentwicklung - keineswegs monokausale Erklärungsmuster heranzuziehen sind, sondern vielfältige Faktorenbündel in durchaus zeitlich und räumlich variierender Form wirksam wurden und entsprechend berücksichtigt werden müssen, belegen die Krisenjahre zur Mitte des 15. Jahrhunderts in deutlicher Weise. verweist zudem darauf, dass die Azoren durch ein von den ungewohnten Windkonstellationen während des Winters 1431/ 32 abgetriebenes portugiesisches Schiff wiederentdeckt worden seien. 139 S TEFAN S ONDEREGGER … der Zins ist abgelon … Aushandeln von Schadensteilungen zwischen Grundherren und Bauern in schwierigen Zeiten der Landwirtschaft 1 Im Jahre 1456 wurde Hans Zran, seiner Ehefrau und ihren Kindern von den Nonnen des Klosters Magdenau westlich von St. Gallen ein Hof verliehen. Die Bedingungen wurden ins Lehenbuch eingetragen. Dabei ließen die Klosterfrauen festhalten, dass ihr Leihenehmer weder hagel noch wind noch unweter ze wort nen solle. 2 Das heißt, er sollte die vereinbarten Abgaben jährlich leisten und weder Hagel, Wind noch anderes Unwetter als Grund oder Vorwand für Abgabenerlasse anführen können. Solche Formulierungen sind in Urkunden und urbarialem Schriftgut oft zu finden. Sie scheinen den in der älteren Forschung während Jahrzehnten vorherrschenden Eindruck zu bestätigen, dass Grundherren ohne Rücksicht auf Notlagen von ihren Untergebenen Abgaben einforderten. Dieses Bild ist mittlerweile durch neuere Forschungen, die sich den Alltagsbeziehungen zwischen Herren und Untergebenen widmen, korrigiert. 3 Der folgende Beitrag hinterfragt Vorstellungen über unerbittliche Herren, indem untersucht wird, ob und weshalb Grundherren Untergebenen Abgabenreduktionen oder -erlasse gewährten. Weil davon auszugehen ist, dass mitunter schlechte landwirtschaftliche Erträge der Grund für Abgabenremissionen oder -befreiungen waren, sind ›schwierige Zeiten‹ in der Landwirtschaft unter die Lupe zu nehmen. Was aber ist damit gemeint, und wie sind solche in schriftlichen Quellen zu fassen? Eine Diskussion geeigneter spätmittelalterlicher Quellentypen soll hier Aufschluss liefern. Anschließend wird anhand dieser Quellen nach Strategien zur Bewältigung 1 Leicht überarbeitete Fassung des Tagungsvortrags. Ich danke Dorothee Guggenheimer, Ursula Hasler und Rezia Krauer für Anregungen und Korrekturen. 2 Klosterarchiv Magdenau, Bd. XLI, fol. 27r. 3 Vgl. A LFRED Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung der Grundherrschaft der Prämonstratenserabtei Rüti (ZH) im Spätmittelalter, Zürich 1991; S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz (St. Galler Kultur und Geschichte 22), St. Gallen 1994; A LFRED Z ANGGER , Alltagsbeziehungen zwischen Klosterherrschaft und Bauern am Beispiel des Prämonstratenserklosters Rüti im 15. Jahrhundert, in: T HOMAS M EIER / R OGER S ABLONIER (Hg.), Wirtschaft und Herrschaft, Zürich 1999, S. 295-309; S IMON T EUSCHER , Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Frankfurt-New York 2007. S TE FAN S OND ER EGG ER 140 solcher Abgabe-Krisen gesucht. Bei dieser Gelegenheit wird danach gefragt, was diese Strategien über Alltagsbeziehungen zwischen Grundherren und Untergebenen aussagen. Und schließlich wird noch auf eine von vielen Folgen, welche solch schwierige Zeiten für die ländliche Bevölkerung haben konnten - nämlich die Verschuldung - aufmerksam gemacht. Diesen Fragen soll in einer regionalen Momentaufnahme, das heißt beschränkt auf die Zeitausschnitte 1442/ 43 sowie 1490/ 91 und am Beispiel des Umlands der Stadt St. Gallen, nachgegangen werden. 4 Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die am stärksten Betroffenen, auf die Bauern, die dinglich und zum Teil persönlich von ihren Grundherren abhängig waren. Sie bildeten auch in der Ostschweiz den Großteil der ländlichen und der mittelalterlichen Gesellschaft überhaupt. 5 Die meisten landwirtschaftlichen Produzenten waren Leihenehmer der größten geistlichen Grundherrschaft, des Benediktinerklosters St. Gallen, oder von weltlichen Grundherrschaften, von denen im 15. Jahrhundert das städtische Spital St. Gallen die größte war. Die Leihenehmer waren zu jährlichen Abgaben (Zinsen, Zehnten und Arbeitsleistungen) verpflichtet. Die Höhe dieser Abgabepflicht orientierte sich an ›normalen‹ Jahren, und diese Abgaben konnten in der Regel von den damit Belasteten erbracht werden; in Zeiten schlechter Ernten hingegen konnte es zu Problemen kommen. 1. Abgaben und Abgabenkontrolle Welche Quellen sind überhaupt verfügbar, um solchen Fragen aus dem weiten Themenfeld der Lebensverhältnisse der ländlichen Gesellschaft nachzugehen? Mit den Auswirkungen des Wetters 6 auf die Landwirtschaft und somit auf die 4 Ein kurzer Überblick über die Geschichte St. Gallens findet sich in M ARCEL M AYER / S TEFAN S ONDEREGGER , St. Gallen (Gemeinde), in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.2.2011, URL: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D1321.php. 5 R OGER S ABLONIER , Regionale ländliche Gesellschaft im mittelalterlichen Liechtenstein. Eine Ideenskizze, in: A RTHUR B RUNHART (Hg.), Bausteine zur Geschichte Liechtensteins. Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Bd. 1, Zürich 1999, S. 19-38. Ein Zusammenstellung der Literatur zur schweizerischen Historiographie der mittelalterlichen ländlichen Gesellschaft bei K ATJA H ÜRLIMANN / S TEFAN S ONDEREGGER , Ländliche Gesellschaft, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 2011/ 1, S. 48-76. 6 In der Forschung kursieren je nach Fragestellung und Interesse unterschiedliche Definitionen von ›Klima‹ und ›Wetter‹. Vereinfacht gesagt kann man »Wetter« - wovon dieser Beitrag handelt - als »den charakteristischen Zustand der Atmosphäre von Stunden bis Tagen« und »Klima« als »atmosphärische Phänomene von Monaten, Jahren beziehungsweise Jahrzehnten« charakterisieren; E LISABETH S TRÖMMER , Klima-Geschichte. Methoden der Rekonstruktion und historischen Perspektive. Ostösterreich 1700-1830, Wien 2003, A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 141 Lebensverhältnisse der Bevölkerung beschäftigt sich vor allem die historische Klimatologie. 7 Diese befasst sich mit der Rekonstruktion klimatischer Abläufe vor Beginn der amtlichen und damit standardisierten Klimamessung, die in Mitteleuropa Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts begann, und stützt sich vor allem auf schriftliche Aufzeichnungen. 8 Dabei kann man grob zwischen direkten Klimainformationen und Klimazeigern, sogenannten Proxydaten, 9 unterscheiden. Nur auf die schriftlichen Quellen bezogen gehören Chroniken, in denen sich Angaben zum Wetter und dessen Auswirkung auf Natur und Mensch finden, zu den wichtigsten direkten Klimainformationen. Aus dem Bereich der Proxydaten zählen Archivalien wie Zins- und Rechnungsbücher zu den wichtigsten schriftlichen Informationsträgern zum Verlauf des Wetters. Aus ihnen können Ernteertragszahlen erhoben und darüber hinaus zum Teil auch qualitative Informationen wie beispielsweise über den Grund von Ernteverlusten gewonnen werden. In diesem Beitrag wird auf die Einbeziehung von chronikalischen Quellen verzichtet. Ohne eine eingehende quellenkritische Auseinandersetzung mit den für die untersuchte Region in Frage kommenden erzählenden Quellen, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, können sie nicht als zuverlässige Informationen herangezogen werden. Den Erwähnungen von Wetterphänomenen in erzählenden Quellen liegt oft nicht die Intention einer Wetterbeobachtung und -schilderung zugrunde, sondern jene der religiös-moralischen Belehrung. Schlechtes Wetter und dessen Folgen wie Zerstörungen, Hunger und Tod erscheinen als Gottesstrafen, entsprechend nah kann deren Schilderung biblischen Motiven sein. Dadurch kann in Chroniken ein Unwetter zu einer apokalyptischen Katastrophe hochstilisiert werden. 10 Ähnliche quellenkritische Vorbehalte sind bei Zahlenangaben - bei- S. 11, hier zitiert nach C HRISTIAN J ÖRG , »Teure, Hunger, Großes Sterben«. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55), Stuttgart 2008, S. 83f. 7 C HRISTIAN P FISTER , Historische Umweltforschung - eine neue, fächerübergreifende Aufgabe für Natur- und Sozialwissenschaften, in: Geschichtsforschung in der Schweiz. Bilanz und Perspektiven - 1991, Basel 1992, S. 169-190. 8 R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Mit Prognosen für das 21. Jahrhundert, 2. akt. und erw. Aufl. Darmstadt 2008, S. 4. Sowohl Glaser als auch C HRISTIAN P FISTER , Bevölkerung, Klima und Agrarmodernisierung 1525-1860. Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bd. 2, Bern 1984; D ERS ., Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern 1999, liefern eine ausführliche, kritische Darlegung der relevanten Quellen. 9 R. G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas (Anm. 8), S. 22-28. 10 C HRISTIAN R OHR , Writing a Catastrophe. Desribing and Constructing Disaster Perception in Narrative Sources from the Late Middle Ages, in: Historische Sozialforschung 32 (2007), S. 88-102. S TE FAN S OND ER EGG ER 142 spielsweise von Hunger- oder Kriegsopfern sowie von Preisen - anzufügen. Nennungen von Höchstpreisen sind viel eher ein stilistisches Mittel von Chronisten, um das große Ausmaß der Schädigung von landwirtschaftlichen Kulturen bzw. der dadurch entstandenen Verknappung von Grundnahrungsmitteln auszudrücken, als genaue Angaben. Sie dienen der Dramatisierung der Not. 11 Hohe Zahlenangaben als Mittel, um die Schwere eines Kriegsereignisses zu verdeutlichen, haben in der ostschweizerischen Chronistik im Zusammenhang mit den sogenannten Befreiungskriegen Tradition: Die von verschiedenen Chronisten erwähnten Zahlen der Gefallenen in den Appenzeller Kriegen 1403 und 1405 sind mit Sicherheit viel zu hoch; sie entbehren jeglicher Grundlage und wurden voneinander abgeschrieben. 12 Angesichts solcher Vorbehalte scheint mir die Heranziehung chronikalischer Angaben für unsere Fragestellung nur dann zulässig und gewinnbringend zu sein, wenn die in den erzählenden Quellen vorhandenen direkten Klimadaten mit anderen Informationen, zum Beispiel mit solchen aus Zinsbüchern, überprüft werden. Dabei kann sich zeigen, dass in Einzelfällen die Angaben in Chroniken durchaus zuverlässig sind und die Informationen aus Archivalien zu Wettereinflüssen und deren Folgen nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ erweitern. 13 Dieser Artikel beschränkt sich bewusst auf die Auswertung von Archivquellen. Diese Eingrenzung verfolgt unter anderem den Zweck, den hohen Informationsgehalt bestimmter Archivalien für Untersuchungen zu den Lebensverhältnissen der ländlichen Gesellschaft zu verdeutlichen. Unter den mittelalterlichen Archivquellen bilden Urkunden und urbariales Schriftgut bis in die Zeit um 1400 die größte Quellengruppe. Beide Quellentypen sind aber einer sogenannten Anspruchsschriftlichkeit zuzuordnen, die nicht oder nur bedingt die realen Verhältnisse wiedergibt. 14 In 11 A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 155. 12 B ERNHARD S TETTLER , Die Appenzellerkriege in der Chronistik, in: Appenzellische Jahrbücher 132 (2005), S. 28-40. Dass es sich bei zu Befreiungskriegen hochstilisierten Ereignissen auch nur um Scharmützel mit wenigen Gefallenen handeln konnte, zeigt ein eigentlicher Überlieferungsglücksfall von Schriftquellen und von Skelettfunden im Zusammenhang mit der Belagerung der Stadt St. Gallen im Umfeld der Schlacht am Stoss 1405; S TEFAN S ONDEREGGER , Ein beinahe vergessener Beitrag der St. Galler zu den Appenzellerkriegen, in: P ETER N IEDERHÄUSER / A LOIS N IEDERSTÄTTER (Hg.), Die Appenzellerkriege - eine Krisenzeit am Bodensee? (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs NF 7), Konstanz 2006, S. 117-128. 13 Vgl. dazu vorbildlich A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 299-309. Diese quellenkritischen Vorbehalte gegenüber erzählenden Quellen sollten auch bei der Lektüre des äußerst anregenden Buches von W ILLIAM C HESTER J ORDAN , The Great Famine. Northern Europe in the early fourteenth century, Princeton 1996, berücksichtigt werden. 14 Grundsätzliche Überlegungen dazu bei R OGER S ABLONIER , Schriftlichkeit, Adelsbesitz und adliges Handeln im 13. Jahrhundert, in: O TTO G. O EXLE / W ERNER P ARAVICINI (Hg.), A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 143 Zusammenhang mit unserer Fragestellung zentral ist jedoch die Verfügbarkeit von Quellen, die aktuelle Verhältnisse abbilden. Dieses Kriterium erfüllen Zinsbücher. Wenn sie regelmäßig geführt wurden und noch in zusammenhängenden Reihen überliefert sind, gehören sie zu den aussagekräftigsten Quellen zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft. Mit ihnen lassen sich landwirtschaftliche Strukturen und Strukturveränderungen wie landwirtschaftliche Umstellungen und Spezialisierungen, eigentliche Hofgeschichten, direkte, zwischenbäuerliche Austausche, bäuerliche Verschuldungen und - was uns hier zuerst interessiert - Abweichungen von ›normalen‹ Jahren aufzeigen. Eine in den 1440er Jahren einsetzende und bis weit in die Neuzeit hinein fast lückenlose Reihe von Zinsbüchern ist vom Heiliggeistspital 15 St. Gallen überliefert. Diese größte städtische Institution war auch die größte Grundherrschaft in der Region. Sie besaß landwirtschaftliche Güter im städtischen Umland, die sie als Lehen vom Kloster St. Gallen oder im Eigentum hatte und die gegen Abgaben und Arbeitsdienste an Bauern verliehen wurden. Darüber hinaus war das Spital im Geldverleih und im Handel mit landwirtschaftlichen Produkten tätig. Die Zinsbücher Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa (Veröff. des Max-Planck- Instituts für Geschichte 133), Göttingen 1997, S. 67-100; D ERS ., Verschriftlichung und Herrschaftspraxis. Urbariales Schriftgut im spätmittelalterlichen Gebrauch, in: C HRISTEL M EIER (Hg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.-29. Mai 1999 (Münsterische Mittelalter-Schriften 79), München 2002, S. 91-120. Ausführungen zur Quellenkritik und zu den Methoden der Geschichtsschreibung der ländlichen Gesellschaft bei K. H ÜRLIMANN / S. S ONDEREGGER , Ländliche Gesellschaft (Anm. 5). 15 Das Heiliggeistspital St. Gallen wurde wie viele andere Spitäler im zentraleuropäischen Raum in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet. Im Laufe des Spätmittelalters entwickelte es sich zu einem Pfrundhaus, in welchem Mitte des 15. Jahrhunderts zwischen 100 und 200 Menschen lebten. Es gab drei unterschiedliche Pfrundkategorien: die Siechen- oder Muespfrund, die Mittelpfrund und schließlich die Herrenpfrund. Beim Großteil der Pfründner handelte es sich um ältere, hilfsbedürftige Menschen, die kostenlos oder gegen Überlassung von Hab und Gut auf Lebenszeit in die Mues- oder Mittelpfrund aufgenommen wurden. Herrenpfründner bezahlten zum Teil hohe Summen und genossen einen weit höheren Komfort. Die Oberaufsicht lag beim städtischen Rat. Dieser erließ Statuten und Ordnungen und bestellte eine Aufsichts- und Rechnungsprüfungskommission, bestehend aus Ratsmitgliedern, sowie die Betriebsleitung. Schlüsselpositionen hatten der Spitalmeister und der Spitalschreiber inne; ihnen unterstand die Verwaltung des inneren Betriebs sowie des Grundbesitzes. Davon zeugt das überlieferte serielle Verwaltungsschriftgut, das sich unter anderem für die Erforschung der spätmittelalterlichen Landwirtschaft eignet; R EZIA K RAUER / S TEFAN S ONDEREGGER , Die Quellen des Heiliggeist-Spitals St. Gallen im Spätmittelalter, in: M ARTIN S CHEUTZ u. a. (Hg.), Quellen zur europäischen Spitalgeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 5), Wien-München 2010, S. 423-441. S TE FAN S OND ER EGG ER 144 des städtischen Spitals liefern sowohl strukturelle als auch ereignishafte Informationen. 16 Zur Verdeutlichung dient der folgende Ausschnitt aus einem Zinsbuch: 17 Abb. 1: Eintrag im Zinsbuch des Heiligeistspitals St. Gallen zum Hof Schoretshueb in den Jahren 1442 und 1443. 1 Schorantzhuob der hof git jærlich 24 malter baider korn Celler mess, 2 3 lb d und 10 huenr und 200 ayer und 2 kloben werch. 3 Samen 12 malter vesen, 8 malter haber daz sol uff dem hof beliben. 4 Hans Rütiner sol 1 lb d ratione sabato post pasce 1442. Dedit ayer de 1442. 5 Dedit huenr de 1442. Dedit 2 kloben werch de 1442. 6 Dedit 12 malter 2 fiertel vesen uff den ersten tag octobris 1442. 7 Dedit 30 s d gab Uoli Hafner Martini 1442. 16 A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 76. 17 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 22r; Erwähnung der Abgabenerlasse in den Zeilen 16 bis 18. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 145 8 Dedit 3 malter 3 fiertel haber Otmari 1442. 9 [Zeile gestrichen.] 10 Dedit 3 malter 1 mut haber Katherine 1442. 11 Dedit 30 s d Anthonii 1443. 12 Sol 9 mut 3 fl haber ratione uff 13 tag aberellen 1443. 13 Dedit ayer de 1443. Dedit huenr de 1443. 14 Dedit 1 malter haber uff Philippi et Jacobi 1443. 15 Restat 5 mut 3 fiertel haber. 16 Item de anno 1443 ist etwas ungewaechst 17 da gewesen, dafür gat im ab 18 2 malter korn. Mit ›struktureller Information‹ ist der Grundeintrag - hier in den ersten zwei Zeilen - gemeint. Dabei handelt es sich um die rechtliche Abmachung, dass die Leihenehmer an ihren Grundherrn jährlich die genannten Abgaben (Zinsen und/ oder Zehnten) entrichten sollten. Wir bezeichnen diesen schriftlich festgehaltenen herrschaftlichen Anspruch als ›Sollabgabe‹. Demnach lasteten auf einem Hof mit dem Namen Schoretshueb unter anderem 24 Malter beider Korn Bischofszeller Maß. Es handelte sich um einen großen Hof mit vorwiegendem Getreidebau. Ein Bischofszeller Malter entsprach etwa 340 Litern; der Hof Schoretshueb war demnach mit einer jährlichen Abgabe von etwas über 8.000 Litern beider Korn belastet. Mit ›beider Korn‹ ist Fesen, also Dinkel mit Spelz, sowie Hafer gemeint. Da die Anteile Fesen und Hafer nicht definiert sind, ist eine Umrechnung in Kilogramm rein hypothetisch; nur in Hafer gerechnet wären das etwa 4.000 kg. 18 Weiter lasteten auf dem Hof Geldabgaben, angegeben sind drei Pfund. Weiter waren zehn Hühner und 200 Eier zu entrichten. Hervorzuheben sind die zwei kloben werch; damit ist Flachs gemeint. Diese Abgabe weist darauf hin, dass in der Umgebung der Textilstadt St. Gallen zumindest ein Teil des Rohstoffs für die Leinenherstellung angebaut wurde. Die Erwähnung von samen in Zeile 3 meint Saatgut. Offenbar hatte das Spital zu einem früheren Zeitpunkt dem Bewirtschafter der Schoretshueb zwölf Malter Fesen und acht Malter Haber Saatgut zur Verfügung gestellt. Mit der Erwähnung, dieses sollte auf dem Hof bleiben, wird ausgedrückt, dass bei einem allfälligen Wegzug der Bauernfamilie diese Saatgut-Investition des Spitals diesem zurückzuzahlen war. In Zeile 4 erfahren wir, wer den Hof bewirtschaftete. 1442 war das ein Hans Rütiner, mit dem man nach Ostern (post pasce) abgerechnet hatte und der dem Spital damals ein Pfund schuldig geblieben war. Dass die Abrechnung zwischen der Spitalleitung und Hans Rütiner stattgefunden hatte, ist aus dem abgekürzten 18 Vgl. zur Umrechnung S. S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 3), S. 209. S TE FAN S OND ER EGG ER 146 lateinischen Wort ro für ratio im Sinn von ›Rechnung, Abrechnung zwischen Vertretern des Grundherrn und dem Bauern‹ zu schließen. Für unsere Fragestellung interessant sind die Einträge darunter. Die Zeilen 5 bis 19 sind diejenigen Teile, welche präzisere Informationen liefern als die Sollabgaben-Nennung, weil sie die effektiven Abgabenleistungen und punktuell auch außerordentliche Ereignisse wiedergeben. Das sind somit aktuelle und ereignishafte Informationen über die landwirtschaftliche Produktion zum Zeitpunkt der alljährlichen, schriftlichen Erfassung der bäuerlichen Zahlungen und Ausstände im Zinsbuch. Aus ihnen ist ein Eindruck zu gewinnen, was auf den Höfen angebaut wurde, welche Veränderungen stattfanden, und es werden besondere Vorkommnisse erwähnt, was im Zusammenhang mit unserer Fragestellung entscheidend ist. In den Zeilen 16 bis 18 ist von ungewächst, also von ›schlechtem Wachstum‹, im Jahre 1443 die Rede. Der Grund dafür wird nicht erwähnt, hingegen das Entgegenkommen des Spitals, das angesichts dieser erschwerten Situation seinem Lehenbauern eine Zinsreduktion in der Höhe von zwei Maltern gewährte. 2. Zerstörte Felder Es wurde nun im Sinne einer Momentaufnahme das Zinsbuch des städtischen Spitals, welches die Jahre 1442 bis 1444 umfasst, auf Hinweise von Zinsreduktionen geprüft. Ein Grund für diese Auswahl ergibt sich aus den verfügbaren Quellen; aus dieser Zeit sind die ersten Zinsbücher erhalten. Der zweite Grund liegt in der Forschungslage. Gut untersucht ist die Hungersnot 1437-1439/ 40. 19 Aus anderen Arbeiten und vor allem aus solchen zur ländlichen Gesellschaft der Ostschweiz wissen wir aber, dass außerdem 1443, dann die frühen 1480er Jahre sowie die frühen 1490er Jahre, 1500/ 01 und 1517 ebenfalls schwierige Jahre gewesen sein müssen. Anzeichen dafür sind hohe Getreidepreise. 20 Die Zeit zwischen 1430 und 1440 sowie nach 1480 scheint besser untersucht zu sein als die Jahre kurz nach 1440, insofern leistet dieser Artikel einen Beitrag zur besseren Kenntnis über die an die Hungersnot der späten 1430er Jahre anschließenden Zeit. Das Zinsbuch der Jahre 1442 bis 1444 ist ein Papierbuch und umfasst - abgesehen von einigen Nachträgen - 139 beidseitig von einer Hand sorgfältig beschriebene Blätter. Es scheint sich um eine Abschrift zu handeln. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich bei dem Buch um eine Übertragung und gleichzeitige Überarbeitung von Notizen auf Zetteln handelt. Trifft diese Annahme zu, dann wären die Zettel in der direkten, persönlichen Beziehung mit den Leihenehmern erstellt und 19 C H . J ÖRG , »Teure, Hunger, Großes Sterben« (Anm. 6). 20 A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 290-315; C H . J ÖRG , »Teure, Hunger, Großes Sterben« (Anm. 6), S. 13. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 147 nach der Anlage des Zinsbuches vernichtet worden, oder sie wären verloren gegangen. Auf der ersten Seite wurden alle Orte, in denen das Spital über Grundbesitz verfügte, aufgelistet. Dies sind insgesamt 26 Orte in einem Radius von ca. 30 km rund um die Stadt St. Gallen. Im ganzen Buch verteilt finden sich 25 Einträge, welche Hinweise auf Abweichungen von der Norm liefern. 21 Erwähnung Zeit Ort Folio won da was landprest 1442 Herisau 20v ist etwas ungewächst da gewesen 1443 Herisau 22r nam es der hagel 1436 Herisau 28r abgelassen von hagel wegen 1443 Gossau 30v gelassen, wo es ward wenig hafer 1442 Gossau 35v von ungewächst land wir im ab 1443 Gossau 35v es ist etwas ungewächst da gsin 1443 Gossau 38r es ist etwas ungewächst da gsin 1443 Gosau 39r und wz der hagel im hafer 1443 Gossau 40r ist im abgelassen 1442 Gossau 41r abgelassen von hagel 1443 Gossau 41v im ist abgelan 1443 Gossau 43v im ist der haber abgelassen 1443 Glatt 44r abgelassen von ungewächst wegen 1443 Niederbüren 51r ist im abgelassen 1442 Bischofszell 57r abgelassen 1442 Sitterdorf 62r han im abgelassen, wo es stund nit wol 1443 Sulgen 67v han im abgelassen 1443 Sommeri 75r und abgelassen von fern 1442 Sommeri 75r im ist abgelassen 1443 Sommeri 78v im abgelassen von hagel und ungewächst 1443 Waldkirch 82r im ist abgelassen 1443 Waldkirch 82v abgelassen won es ward wenig 1442 Arbon 89v sol man im ablassen von ungewäsßt 1443 Arbon 93r won es was nit guot 1443 Altstätten 131r 21 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3. S TE FAN S OND ER EGG ER 148 Abb. 2: Karte mit den Orten, in welchen das Heiliggeistspital St. Gallen über Grundbesitz verfügte. Grau gekennzeichnet sind jene, in denen 1436 sowie 1442 und 1443 Abgabenerlasse bzw. Abweichungen von der Norm festzustellen sind. Geografisch konzentrieren sich die Abweichungen von der Norm bzw. die Abgabenerlasse auf das Gebiet, in welchem die Mischwirtschaft mit einem Schwergewicht auf Getreidebau überwog. Häufig ist von Abgabenerleichterungen oder -erlassen die Rede (abgelon), weiter von landprest, ungwächs oder von Hagel. Landprest A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 149 wird mit »Unglück, Schaden« übersetzt. 22 Darunter muss man sich ohne anderslautende und präzisere Hinweise - wie beispielsweise kriegerische Verwüstungen, die zu dieser Zeit im Zusammenhang mit dem Alten Zürichkrieg in der Ostschweiz verschiedentlich erwähnt sind 23 - am ehesten die Folgen schlechten Wetters vorstellen. Nach Christian Pfister kann »meteorologischer Streß« in vielerlei Formen auftreten: schockartig durch Hagel, Frost, unzeitigen Schneefall, Überschwemmung oder als »sanfte Katastrophe« durch Regen-, Dürre-, Hitze-, Kälte- und lange Schneedeckenperioden. 24 Negativ verschärfend war die Kumulation ungünstiger Faktoren, beispielsweise das Zusammenfallen von kaltem Frühling, nassem Sommer und Herbst in einem Jahr. Dies war besonders schädlich für die Qualität und die Quantität der Erträge. 25 Kennzeichen von Katastrophenjahren wie 1627, 1770, 1805 und 1816, die zu Subsistenzkrisen und Hungersnöten führten, sind »nasser Winter, kaltes schneereiches Frühjahr, nasser, kalter Sommer mit schweren Überschwemmungen, nasser, kalter Herbst, verfrühter Einbruch des Winters«. 26 Unter ›Ungewächs‹ muss man sich wohl am ehesten schlechtes Wachstum vor allem des Getreides, bedingt durch schlechtes Wetter, vorstellen. Der enge Bezug zum Getreidebau bzw. zur Ernte ergibt sich auch aus den ebenfalls anzutreffenden Bemerkungen, ward wenig, im Sinne von ›es war wenig Getreide zu ernten‹, oder stund nit wol, im Sinne von ›es stand nicht gut um den Getreidebau‹ und somit um die Ernte. Einzig bei der expliziten Erwähnung von Hagel verfügen wir über präzisere Angaben zum Grund der Schädigung von landwirtschaftlichen Kulturen. Im Gegensatz zu einer ›sanften Katastrophe‹ handelt es sich hier um eine plötzliche: Hagel trat zwar oft örtlich begrenzt auf, betraf demnach nur ein geografisch eingeschränktes Gebiet und dessen Bevölkerung, war aber in der Konsequenz katastrophal, weil landwirtschaftliche Kulturen vernichtet wurden. Hagelunwetter dürften in der Regel vor allem dann notiert worden sein, wenn sie bevorstehende Ernten 22 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Leipzig 1878, Sp. 1862. 23 Anschauliche Beispiele der Erwähnung von Zinserlassen der Prämonstratenserabtei Rüti im Zusammenhang mit dem Zürichkrieg bei A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 295-297, hier 296: Curia devastata est anno presenti in frumentis, domibus et feno per Swytenses: Der Hof wurde in diesem Jahr an Getreide, Gebäude und Heu durch die Schwyzer verwüstet. Nota, anno presenti in tota devastat est in frumentis per Swytenses et eorum conplices: Merke, in diesem Jahr wurde (der Eigenhof) durch die Schwyzer und ihre Komplizen gänzlich seines Getreides beraubt; D ERS ., Wirtschaft und Sozialstruktur auf dem Land 1350-1530, in: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter, Zürich 1995, S. 397. 24 C H . P FISTER , Bevölkerung, Klima und Agrarmodernisierung (Anm. 8), S. 34. 25 C HRISTIAN P FISTER , Climatic Extremes, Recurrant Crisis and Witch Hunts: Strategies of European Societies in Coping with Exogenous Shocks in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: The Medieval History Journal 10 (2007) 1-2, S. 33-73, hier 44. 26 C H . P FISTER , Bevölkerung, Klima und Agrarmodernisierung (Anm. 8), S. 62. S TE FAN S OND ER EGG ER 150 zerstörten. 27 Nicht auszuschließen ist, dass der Begriff ›Hagel‹ manchmal stellvertretend für heftigen Niederschlag oder Unwetter mit Schäden an den Kulturen - gleichsam als Inbegriff für eine schockartige Katastrophe - verwendet wurde. 28 Die häufig anzutreffende Formel frost, hagel, missgewächs deutet ebenfalls darauf hin, dass der Begriff ›Hagel‹ wohl oft in einem allgemeinen Sinn für wetterbedingte Ursachen von Früchteverlusten verwendet wurde. 29 3. Das Aushandeln von Schadensteilungen Welche Folgen konnten nun solche wetterbedingten Beeinträchtigungen der Ernten haben? 30 Bauernfamilien verloren nicht nur ihre Nahrungsgrundlagen für ein oder vielleicht sogar mehrere Jahre, sondern sahen sich mit dem Problem konfrontiert, die Abgaben an den Grundherrn nicht oder nur teilweise entrichten zu können. Zwischen Leihenehmern und Grundherren vereinbarte Lösungen werfen zumindest einen Lichtstrahl auf spätmittelalterliche Alltagsbeziehungen zwischen diesen beiden Parteien. Der Meldeggerhof in der Nähe der Stadt St. Gallen soll als Fallbeispiel dienen. Die abgebildete Seite stammt aus einem Zinsbuch des Heiliggeistspitals St. Gallen von 1490. 31 Unter der Überschrift ›Oberdorf‹ sind in den ersten drei Zeilen wiederum die Sollabgaben der Hofinhaber an das Spital eingetragen. 27 R. G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas (Anm. 8), S. 208. 28 Ähnlich A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 293. 29 K ARL S. B ADER , frost - hagel - missgewächs. Zur Leistungsbefreiung und Zinsremission aus rechtssprachgeschichtlicher Sicht, in: H ANS J. B ECKER / A DALBERT E RLER (Hg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. FS für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S. 219-243. 30 Zu dem von verschiedenen Faktoren wie technischer Stand der Landwirtschaft, Herrschafts- und Sozialordnung, Katastrophenbewusstsein usw. abhängigen Grad der Verletzlichkeit einer Gesellschaft vgl. C H . P FISTER , Climatic Extremes (Anm. 25), S. 40f. Dort findet sich auch ein grobes Schema der Abfolge von Auswirkungen schlechten Wetters auf die Bevölkerung: Schlechtes Wetter - kleinere Erträge - weniger und schlechtere (wegen Schimmel- und Insektenbefall) Ernährung - als wirtschaftliche Auswirkung davon höhere Preise für Nahrungsmittel - als demographische Auswirkung davon Unter- oder Fehlernährung - Rückgang der Geburtenrate bzw. Zunahme der Sterberate - Subsistenzkrise usw. Selbstverständlich ist diese kausale Aufzählung sehr schematisch und kann durch Folgen wie die in diesem Artikel angesprochene Verschuldung erweitert und verfeinert werden. 31 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,37, fol. 113v. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 151 Abb. 3: Eintrag im Zinsbuch des Heiligeistspitals St.Gallen von 1490 zum Meldeggerhof. S TE FAN S OND ER EGG ER 152 Auf dem Meldeggerhof lasteten demnach 3 Pfund 19 Schilling 4 Pfennige Geld, 32 die hohe Getreidegült von 22 ½ Malter beiderlei Korns und 1 Viertel Schmalz (Butter), dann weiter 2 Kloben Werg und 14 Risten (oben zusammengedrehte Büschel gehechelten Flachses), 12 Hühner und 100 Eier an jährlichen Abgaben. Zudem befand sich der Zehnt ebenfalls im Besitz des Spitals. Bebauer des Hofs waren die Erben eines Hans Lehmann. Rechts oben in der Kopfzeile wird zudem festgehalten, dass dem Hof von der Herrschaft noch 22 ½ Malter beiderlei Korns St. Galler Maß Saatgut zur Verfügung gestellt wurden. Dem Grundeintrag nach zu urteilen handelte es sich um einen großen gemischtwirtschaftlichen Hof mit beträchtlichem Getreidebau. Umso mehr erstaunen die Notizen, die unterhalb des Grundeintrags stehen. Dort ist nämlich verschiedentlich von Getreidebezügen der Familie Lehmann beim Spital - bei ihrem Grundherrn - die Rede, so etwa in der 6. Zeile, wo es heißt: Strüssli Lehmann, seine Mutter und sein Bruder schuldeten dem Spital zwei Malter Fesen (Dinkel), die ihnen dieses auf den 8. Tag des Brachmonats (8. Juni) im Jahre 1490 geliehen hatte. Es folgen wiederholt Getreidebezüge beim Spital. Was war geschehen? Die Antwort liefern die Zeilen 18 und 19. Dort heißt es: Gend kain zinß, der hagel hat geschlagen im 90 jar, sond den hoff besomen, sol den pfennigzinß vom 90 jar - ein Hagelschlag hatte 1490 das Korn auf den Feldern zerstört. Die Ernte fiel offenbar teilweise oder ganz aus, weshalb der Naturalzins den Bauern erlassen wurde. Hingegen hatten die Lehmanns für das Saatgut der nächsten Vegetation selber aufzukommen (sie sollen selber besomen), und sie mussten mindestens den Pfennigzins, das heißt den Geldzins, an das Spital abliefern. Dieses Beispiel zeigt Folgendes: Die Naturalabgaben wurden ganz erlassen, hingegen mussten die Geldzinsen bezahlt werden. Diese Haltung - das Erlassen oder die Reduktion von Zinsen, wie dies in unserer Detailuntersuchung des Zinsbuches der Jahre 1442 bis 1444 verschiedentlich nachgewiesen werden konnte - war ein Entgegenkommen des Grundherrn gegenüber seinen Leihenehmern. Die Gründe dafür waren primär rationaler Art: Nicht nur die Bauern, sondern auch die Herren lebten von der Landbewirtschaftung, bestand das Herreneinkommen doch im Wesentlichen aus den bäuerlichen Abgaben. Lag kein offensichtliches Verschulden der Leihenehmer durch Vernachlässigung der Bewirtschaftung eines Hofes oder durch Veruntreuung vor, war es wohl wichtiger, die Kontinuität auf einem Hof zu ermöglichen, anstatt durch unnachgiebige Abgabeneinforderungen selbst bei Missernten einen Wegzug der Hofbewirtschafter zu veranlassen oder zu provozieren. Ein unbewirtschaftetes Gut brachte beiden Parteien nichts ein. Abgabenerlasse sind Hinweise auf Alltagsbeziehungen zwischen Grundherren und Bauern. Miteinander auf der Basis von Erfahrungswerten und unter Berücksichtigung der aktuellen Situation vor der Ernte die genaue Höhe der Abgaben 32 1 Pfund = 20 Schillinge und 1 Schilling = 12 Pfennige. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 153 eines Jahres auszuhandeln, war üblich. Dies lässt sich bei Zehnten gut nachweisen. Getreidezehnten waren eigentlich Abgaben, die prozentual zu den Ernteerträgen entrichtet wurden. Die in den 1440er Jahren erhobenen und ausgerichteten Zehnten vermitteln jedoch ein anderes Bild. Ähnlich wie bei Zinsen wurde ein Betrag fixiert, der aber eine Spannbreite an Abweichung nach unten und oben offen ließ. Davon zeugt die übliche Formulierung Der zehend […] git gewonlich oder jene, in der es heißt, die Höhe des Zehnts sei einmal mehr und ein anderes Mal weniger. 33 Die als Soll festgelegten Beträge scheinen demnach insbesondere bei den Zehnten ungefähre 34 Richtgrößen gewesen zu sein. Die effektiv zu bezahlenden Abgaben legte man in vielen Fällen wohl erst nach einer persönlichen Begegnung fest, in welcher man darüber sprach, ob und welcher Anteil der zehntpflichtigen Flächen überhaupt bebaut wurde und wie gut oder schlecht die Ernte ausfallen würde oder bereits ausgefallen war. Dabei konnte es geschehen, dass der Leihenehmer spricht, er söll es nit gen. 35 Dahinter stecken in der Regel wohl keine bäuerlichen Abgabenverweigerungen, sondern in Verhandlungen zwischen dem Grundherrn und seinen Leihenehmern von letzteren vertretene Argumente, dass die von den Sollabgaben abweichende effektive Abgabenhöhe in der spezifischen Situation berechtigt war. Das heißt, die aktuellen Abgaben wurden im direkten Kontakt zwischen Leihenehmern und Vertretern der Herrschaft ausgehandelt. Unsere oben erwähnten Beispiele von Abgabenerlassen bei Ernteverlusten aufgrund von Schlechtwettereinflüssen zeigen, dass in vielen Fällen die Untergebenen Erfolg hatten, indem ihnen die Grundherren mit Abgabenerlassen entgegen kamen. Es ist sogar anzunehmen, dass so etwas wie eine ungeschriebene Gewohnheit der Schadensteilung existierte. Ähnlich wie bei dem im Weinbau üblichen Teilbau, bei dem die Investitionen und der Ertrag nach einem festgelegten, schriftlich festgehaltenen Schlüssel zwischen Grundherr und Rebenbewirtschafter aufgeteilt wurden, 36 ist auch hier das Prinzip der Risikoverteilung zu erkennen. Denn auch wenn keine vertraglichen Abmachungen existierten, war die Herrschaft im Falle eines offensichtlichen Nichtverschuldens der Bauern bereit, den Schaden von Ertragsverlusten mitzutragen. 37 Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Die 33 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 27r. 34 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 32v, git ettwenn ( = gibt etwa). 35 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 105r. 36 S TEFAN S ONDEREGGER , Weinbau im St. Galler Rheintal im 15. Jahrhundert, in: Montfort 51 (1999), S. 129-138. 37 Zur Frage, ob im Spätmittelalter ein weithin gültiger Rechtsanspruch auf Leistungsbefreiung und Zinsremission existierte, siehe K. S. B ADER , frost - hagel - missgewächs (Anm. 29), S. 237-243. Er gelangt zu folgendem Schluss (S. 241): »Immerhin will mir scheinen, dass man sich zunehmend bemühte, die Remission mehr und mehr als Gnadensache, nicht als eigentlichen Rechtsanspruch zu charakterisieren; doch bedürfte dies eingehenderer Untersuchung.« S TE FAN S OND ER EGG ER 154 Landwirtschaft des Ungemachs hoff wurde 1491 wie viele andere Höfe der Umgebung stark in Mitleidenschaft gezogen. Es handelte sich um einen ausgesprochenen Getreidehof mit Abgaben in der Höhe von zwölf Maltern beider Korn. Die Bewirtschafter mussten wie jene auf dem Meldeggerhof Getreide beim Grundherrn, dem Spital, zukaufen. Zur Tilgung der dadurch entstandenen Schulden und der ausgebliebenen Zinsen wurde vereinbart, das der spital schniden sol das korn, so daruff uff dem hoff gesaytt ist, es sye vesan oder haiber. Dar fur ist inen all usstendig pfennig und korn zins […] abgelon. 38 Es wurde demnach zwischen der Herrschaft und den Bauern die folgende Schadensteilung ausgehandelt: Die kommende Ernte sollte ganz dem Grundherrn gehören, und im Gegenzug wurden den Leihenehmern die ausstehenden Zinsen erlassen. Insgesamt gesehen vermitteln solche Beispiele den Eindruck eines weitgehenden Konsenses in den Alltagsbeziehungen zwischen Grundherren und Abhängigen. Voraussetzung dazu waren regelmäßige Kontakte - Face-to-Face-Beziehungen - zwischen Vertretern des Grundherrn und den Leihenehmern, die sich in unserem Fall gut belegen lassen. Das städtische Spital war in der Landschaft präsent, indem es über eigene Verwaltungszentren an größeren Orten verfügte. Über diese organisierte es den zwischenbäuerlichen Warentausch und versorgte insbesondere die Weinbauern mit Grundnahrungsmitteln. Entgegen der mit dem Begriff der Rentengrundherrschaft verbundenen Vorstellung des Rückzugs der Herren aus der landwirtschaftlichen Produktion 39 zeigt unser Beispiel, dass insbesondere städtische Grundherren aktiv in die ländliche Wirtschaft eingriffen. Dass sie dabei eigennützig die eigenen Interessen verfolgten, habe ich an anderer Stelle dargelegt. 40 4. Trotz Entgegenkommens des Grundherrn: Bäuerliche Verschuldung Die zitierten Beispiele weisen trotz Entgegenkommens der Herrschaft auf eine weitere mögliche Negativfolge von Ertragseinbussen aufgrund schlechten Wetters hin: auf die Verschuldung. Für die Jahre um 1490 gibt es Anzeichen für eine 38 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,38, fol. 158v. 39 Zum Beispiel W ERNER R ÖSENER , Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 102), Göttingen 1991, S. 563. 40 S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Spezialisierung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz, in: M ARKUS C ERMAN / E RICH L ANDSTEINER , Zwischen Land und Stadt. Wirtschaftsverflechtungen von ländlichen und städtischen Räumen in Europa 1300-1600 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 6, 2009), Innsbruck u. a. 2010, S. 139-160. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 155 Krisenzeit von mitteleuropäischem Ausmaß, 41 die durch wetterbedingte Missernten ausgelöst wurde und auch die Ostschweiz erfasste. Der oben bereits erwähnte große Getreidehof Schoretshueb war gemäß Angaben im Zinsbuch nicht einmal mehr in der Lage, die eigenen Leute zu ernähren. Anstatt Getreide an das Spital zu liefern, musste bei diesem Mehl eingekauft werden. Das Spital sah sich in der Folge dazu gezwungen, dem Bewirtschafter der Schoretshueb namens Möchly den halben Haferzins des Jahres 1490 zu erlassen. 42 Auch 1491 wurde Vater und Sohn Möchly wiederholt Getreide geliehen. Die Schoretshueb war kein Einzelfall; die Bewirtschafter des ebenfalls bereits oben erwähnten Meldeggerhofes scheint es besonders hart getroffen zu haben. Es ist von ausstehenden Zinsen die Rede und auch davon, dass das Spital einen Schuldbrief verlangte (s. Abb. 3, grau markierte Stellen). Das heißt, es wurde auf einer Urkunde sowie im Beisein eines Zeugen die vom Schuldner zu bezahlende Schuld festgehalten. Es wurde sogar ein eigentlicher Entschuldungsplan ausgehandelt. Es steht nämlich im zweitletzten Absatz, der Hofinhaber schulde (sol) 23 Pfund, 18 Schilling und 10 Denaren sowie 8 Malter und 1 Viertel Hafer und 6 Mütt Kernen. Auf den nächsten Herbst des Jahres 1491 sollte er 3 Pfund, 18 Schilling, 10 Denaren und 2 Malter und 1 Viertel Hafer sowie 2 Mütt Kernen liefern. Ein Jahr später folgten 15 Pfund und 3 Malter Hafer sowie 2 Mütt Kernen. Im dritten Jahr sollte er noch 5 Pfund, 3 Malter Hafer und 2 Mütt Kernen der vereinbarten Schuldsumme abzahlen. Dies entsprach der gesamten geschuldeten Summe. Es handelt sich hier um ein besonders eindrückliches Beispiel der wohl verbreitetsten Form bäuerlicher Verschuldung. Bauern mussten vor allem zur Überbrückung der von Jahr zu Jahr schwankenden Ernteerträge Kredite aufnehmen. 43 Im erwähnten Fall besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Missernte und der Verschuldung. Dies entsprach nicht unbedingt der Regel: Verschuldungen entstanden aus ganz verschiedenen, aufgrund der Überlieferung oft nicht zu erschließenden Gründen. Alfred Zangger hat in einer Studie ebenfalls mit Hilfe von Zinsbüchern des St. Galler Spitals eigentliche Hofgeschichten aufgearbeitet, aus denen nach verschiedenen Mustern verlaufende Verschuldungen sichtbar werden. 44 Zahlungsunfähigkeit bei den Abgaben und daraus resultierende Verschuldung in 41 A. Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern (Anm. 3), S. 314. Für Belege zur Verteuerung des Getreides vgl. D ERS ., Von der Feudalordnung zu kommunalen Gesellschaftsformen, in: Sankt Galler Geschichte 2003, Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter, St. Gallen 2003, S. 60. 42 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,37, fol. 158v. 43 H ANS -J ÖRG G ILOMEN , Das Motiv der bäuerlichen Verschuldung in den Bauernunruhen an der Wende zur Neuzeit, in: S USANNA B URGHARTZ u. a. (Hg.), Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 173-189. 44 A LFRED Z ANGGER , Wittenbach im Mittelalter, in: Wittenbach. Landschaft und Menschen im Wandel der Zeit, Wittenbach 2004, S. 47-146, hier 125-132. S TE FAN S OND ER EGG ER 156 der ländlichen Gesellschaft waren weit verbreitet. Missernten können dazu geführt haben, sind aber nicht zwangsläufig der Grund. Die Beziehungen zwischen Grundherr und Leihenehmer waren also nicht nur durch Formen der Kooperation geprägt, sondern auch durch Verschuldung. Auch letztere gehörte gewissermaßen zur Struktur der Beziehungen zwischen den Bauern und ihren Grundherren. 45 Kontinuierliche, längerfristige Verschuldungen banden über die Abzahlungsverpflichtungen die Bauern an ihre Herrschaft; es stellt sich sogar die Frage, ob Grundherren im Sinne einer Stärkung ihrer Herrschaftsdurchsetzung und/ oder zur Sicherung ihrer materiellen Versorgung Verschuldungen dieser Art förderten. Darauf weisen bisher Untersuchungen zu den Beziehungen des Heiliggeistspitals vor allem zu den Viehbauern im Appenzellerland und zu den Weinbauern im Rheintal hin. 46 Für die Höfe, welche vornehmlich Getreidebau betrieben, steht eine eingehende Untersuchung dieser Mechanismen noch aus. Gerade das - auf den ersten Blick als Dichotomie erscheinende - Spannungsfeld zwischen von Bauern und Lehensherrn gemeinsam getragenen Lösungen bei Ernteausfällen und einer zu überprüfenden herrschaftlichen Instrumentalisierung der bäuerlichen Verschuldung dürfte aufschlussreiche Resultate liefern. 5. Ergebnisse Welche Schlüsse sind aus dieser regionalen Momentaufnahme zu ziehen? Notizen zu Zinserlassen in Zinsbüchern erlauben Aussagen zu Witterungsverhältnissen und zu den Folgen für die Bevölkerung. In der Landwirtschaft der Ostschweiz scheinen die Jahre 1442 und 1444 schwierig gewesen zu sein, denn in Zinsbüchern ist 45 S TEFAN S ONDEREGGER , Wirtschaftliche Regionalisierung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz. Am Beispiel der Wirtschaftsführung des Heiliggeistspitals St. Gallen, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 105 (1987), S. 19-37. Mit Betonung der herrschaftlichen Komponente neuerdings J ULIEN D EMADE , Grundrente, Jahreszyklus und monetarisierte Zirkulation. Zur Funktionsweise des spätmittelalterlichen Feudalismus, in: Historische Anthropologie, Kultur, Gesellschaft, Alltag 17 (2009) 2, S. 222-244. 46 Gerade diese Höfe waren nicht nur feudal, sondern auch ökonomisch stark von ihrem Lehensherrn abhängig. Vgl. dazu die Beispiele in S TEFAN S ONDEREGGER / M ATTHIAS W EISHAUPT , Spätmittelalterliche Landwirtschaft in der Nordostschweiz, in: Appenzellische Jahrbücher 115 (1987), S. 29-71; D OROTHEE R IPPMANN , Bauern und Städter: Stadt-Land- Beziehungen im 15. Jahrhundert. Das Beispiel Basel, unter besonderer Berücksichtigung der Nahmarktbeziehungen und der sozialen Verhältnisse im Umland (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 159), Basel-Frankfurt/ Main 1999, S. 204-230; M ATTHIAS S TEIN - BRINK , Ulrich Meltinger. Ein Basler Kaufmann am Ende des 15. Jahrhunderts (VSWG Beih. 197), Stuttgart 2007, S. 169-172. A US HAND ELN VON S C HADEN S TEILUNGEN ZWIS CH EN G R UNDH ER R EN UND B AU ERN 157 gehäuft von Abgabenerlassen die Rede. Soweit dies überhaupt genauer bestimmt werden kann, liegen die Gründe dafür am ehesten in schlechten Wetterbedingungen vor allem für den Getreidebau. In Einzelfällen waren die Auswirkungen gravierend: Hagel oder - um die Schwere des Ereignisses zu betonen - mit demselben Begriff bezeichnete Unwetter zerstörten die bevorstehende Ernte von Bauernfamilien. Auch wenn Hagelschläge in der Regel lokal begrenzt vorkamen und dadurch nur Einzelne schädigten, sind sie als Katastrophen zu bezeichnen, weil aus ihnen substantielle Schäden für Private resultierten. 47 Die Bauern verloren mit der zerstörten Ernte nicht nur Nahrung und Saatgut, sondern auch jenen Teil des Ertrags, den sie zur Leistung der Abgaben an den Grundherrn benötigten und - je nach wirtschaftlicher Lage - darüber hinaus noch vermarkten konnten. Zerstörerische Unwetter kehrten die Bedingungen radikal um. Statt sich aus der eigenen landwirtschaftlichen Produktion genügend versorgen, Zinsen zahlen und noch Einnahmen aus Verkäufen generieren zu können, musste sogar für die Eigenversorgung Getreide gekauft werden. Unsere Beispiele zeigen, dass damit eine Verschuldung verbunden sein konnte. Welche Auswirkungen diese Form der bäuerlichen Verschuldung auf die Haushalte hatte, welche persönlichen Schicksale damit verbunden waren, ist ein weitgehend unbeackertes Forschungsfeld. Damit wird aber zumindest deutlich, dass eine in umfassendem Sinne verstandene Umweltgeschichte im hohen Maße auch Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sein muss. Dabei bieten seriell überlieferte Zinsbücher, wie sie in diesem Beitrag ausgewertet wurden, eine hervorragende Quellenbasis für interdisziplinäre Forschungen. Themen der neueren Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind nebst sozialen Ungleichheiten, wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Formen der Konfliktaustragung auch Formen der Kooperation zwischen Grundherren und Untergebenen. Vom Grundherrn gegenüber Bauern gewährte Abgabenerlasse nach wetterbedingten Ertragsverlusten weisen auf eine in den Grundzügen kooperative Beziehung hin. Lag kein offensichtliches Verschulden der Bauern vor, waren Herren häufig bereit, sich am Schaden der Bauern zu beteiligen. Bestimmungen in normativ abgefassten Quellen, wie die eingangs zitierte Vereinbarung zwischen den Klosterfrauen und ihrem Leihenehmer, er habe die jährlichen Abgaben ohne Rücksicht auf Ernteverluste wegen Hagel, Wind oder anderem Unwetter zu leisten, sind als präventiv zu verstehen. Zinsbücher zeigen demgegenüber, dass die Beziehung zwischen Untergebenen und Herren oder deren Vertretern bis zu einem bestimmten Grad geprägt war von einer Kultur des alltäglichen gemeinsamen Aushandelns. 47 M ONIKA G ISLER u. a., Naturkatastrophen, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 2003/ 3, S. 7-20, hier 7. III. Wandlungen von Wirtschaftsformen: Wald und Moor 161 G ERHARD I MMLER Probleme der Waldnutzung in Schwaben, dargestellt am Beispiel des Fürststifts Kempten Das Gebiet des Fürststifts Kempten, eines für die Verhältnisse des frühneuzeitlichen Schwaben ungewöhnlich geschlossenen Territoriums, das sich beiderseits der Iller zwischen Martinszell im Süden und Lautrach im Norden über eine Fläche von etwa tausend Quadratkilometern ausdehnte, ist bis heute sehr waldreich. Dieser frühneuzeitliche geistliche Kleinstaat entwickelte sich in einem langen und schwierigen Prozess ziemlich genau innerhalb der 853 abgegrenzten ›marca Campidonensis‹, einer Grenzlinie, die durch Urteilsspruch eines Königsboten Ludwigs des Deutschen festgelegt wurde, um sicherzustellen, dass innerhalb dieses Bezirks Rodungen nur mit Zustimmung des Abtes des Königsklosters Kempten vorgenommen würden. 1 Für das 9. Jahrhundert ist davon auszugehen, dass abgesehen von den breiten Talmulden der Iller und der Wertach, die die Ostgrenze der ›marca Campidonensis‹ bildeten, dieses Gebiet weitgehend von Urwald bedeckt war. Aufgrund der geographischen Verhältnisse blieben davon vor allem zwei Zonen bis heute bewaldet: Westlich von Kempten ein bis zu 1.125 Meter ansteigender Mittelgebirgsstock, auf dem sich der ausgedehnte Buchenberger und Kürnacher Wald sowie nördlich des engen Kürnachtals der Hohenthanner Wald erheben, wobei westlich der alten Mark, die hier bis heute die Landesgrenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg bildet, sich dieses riesige Waldareal im Höhenzug des Adelegg fortsetzt. Östlich von Kempten erstreckt sich auf den sanftgewellten Höhen zwischen dem Iller- und Wertachtal der Kempter Wald. Hinsichtlich der Nutzung hatten die beiden Waldgebiete, obwohl fast 1.000 Jahre von demselben Herrschaftsträger beeinflusst, ganz unterschiedliche Schicksale. Das Waldgebiet westlich von Kempten, geprägt durch teilweise steile Hänge und durch tief eingeschnittene, fast schluchtartige Tälchen, im Allgäu ›Tobel‹ genannt, verblieb bis ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend in seinem natürlichen Zustand und wurde nur in Randgebieten menschlicher Nutzung unterworfen. 1 P ETER B LICKLE , Kempten (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 6), München 1968, S. 22-24. G ERHA RD I MMLE R 162 1. Der Kempter Wald Ganz anders im Falle des Kempter Waldes, auf den also zunächst vor allem einzugehen ist. Bemerkenswert ist schon sein Name. Kempten liegt ja westlich der Iller. Die frühkaiserzeitliche Römerstadt Cambodunum war zwar auf der östlichen Hochterrasse der Iller errichtet worden, aber in der Spätantike hatte man die Siedlung auf die Burghalde verlegt, einen Berg, der damals noch von zwei Armen der Iller umflossen war. Dabei muss sich aber der Hauptarm aufgrund der Geographie schon damals östlich des Bergs mit seinem Kastell befunden haben. Der Kern der frühmittelalterlichen Siedlung Kempten wiederum lag zu Füßen der Burghalde und dehnte sich im Laufe der Zeit nach Westen aus, nachdem der westliche Illerarm immer mehr ausgetrocknet und schließlich ganz verschwunden war. Das im 8. Jahrhundert gegründete Kloster Kempten lag nach den Ergebnissen neuerer archäologischer Forschungen sehr wahrscheinlich von vornherein auf der westlichen Hochterrasse der Iller. 2 Dennoch ist der Kempter Wald nicht das Waldareal auf den Höhen westlich, sondern auf denen östlich der Iller. Das ganze Mittelalter hindurch war es nämlich vor allem dieser Wald, der im Fokus der Aufmerksamkeit der Mönche des Klosters wie der Bewohner der im Laufe des Hochmittelalters wieder zur Stadt heranwachsenden Ansiedlung Kempten stand. 3 Zur rechtlichen Situation ist zu bemerken, dass der Kempter Wald zwar vollständig innerhalb der ›marca Campidonensis‹ lag, doch war dies in den folgenden Jahrhunderten in Vergessenheit geraten, da es das Stift nicht vermochte, eine flächendeckende Herrschaft innerhalb der alten Mark aufzubauen. Wem das Eigentumsrecht an dem Wald zustand, war ohnehin ungeklärt, seine Nutzung als Allmende zur Holzversorgung und Viehweide der umliegenden Pfarreien sorgte so lange nicht für Probleme, als die Substanz unangetastet blieb. Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts mehrten sich jedoch infolge der Bevölkerungszunahme Rodungen, wobei neben Hintersassen der Abtei Kempten auch Eigen- und Vogtleute des Klosters St. Mang in Füssen und der Herren von Rettenberg, 4 Mittelberg 5 und 2 »Alles zu einem lauteren Steinhaufen gemacht«. Auf der Suche nach dem mittelalterlichen Kloster in Kempten. Begleitheft zur Ausstellung Zumsteinhaus Kempten 17.6 bis 8.11.1998, Kempten 1998; B IRGIT K ATA / G ERHARD W EBER , Die archäologischen Befunde im Bereich der Kemptener Residenz und ihrer Umgebung, in: B IRGIT K ATA u. a. (Hg.), »Mehr als 1000 Jahre …«. Das Stift Kempten zwischen Gründung und Auflassung 752 bis 1802 (Allgäuer Forschungen zur Archäologie und Geschichte 1), Friedberg 2006, S. 41-76. 3 P ANKRAZ F RIED , Anfänge und Frühgeschichte von Stadt und Bürgertum, in: V OLKER D OTTERWEICH u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 90-97; R OLF K IESSLING , Handel und Gewerbe, Stadt-Land-Beziehungen, in: Ebd., S. 124-139. 4 Namengebende Burg bei Vorderburg (Gde. Rettenberg, Lkr. Oberallgäu). 5 In der Gde. Oy-Mittelberg (Lkr. Oberallgäu). P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 163 Abb. 1: Das Fürststift Kempten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit den Grenzen der Pflegämter und den großen Waldgebieten. G ERHA RD I MMLE R 164 Kemnat 6 sowie die damals im Allgäu noch zahlreichen freien Bauern sich daran beteiligten. Nun erhob das Stift den Anspruch, dass der Kempter Wald ihm gehöre. Dabei war aber wohl nicht dessen Schmälerung an sich der Grund für den Widerstand. Die Tatsache, dass der Stiftadministrator Rudolf von Hohenegg sich besonders intensiv gegen Rodungen durch freie Bauern wehrte, zeigt vielmehr, dass es um Herrschaftsrechte ging. 7 Anstelle des stiftischen Wildbanns über ein Forstgebiet drohten wegen der im Allgäu hergebrachten Gerichtshoheit auf der Basis personenrechtlicher Abhängigkeit 8 Gerichtsrechte der jeweiligen Leib- oder Schirmherren der Neusiedler über deren Höfe zu treten. Im Jahre 1277 gelang es dem Stift schließlich, ein Urteil eines Schiedsgerichts aus fünf Adeligen zu erwirken, dass der Kempter Wald ihm gehöre. 9 Im Jahr darauf ließ es sich zusätzlich von König Rudolf I. einen angeblich von Kaiser Otto II. ausgestellten Markungsbrief bestätigen; 10 dieser war zwar eine Fälschung, beruhte der Sache nach aber auf der echten, jedoch verlorenen Urkunde von 853. Zu den traditionell im Kempter Wald Nutzungsberechtigten gehörten auch die Bewohner der Stadt Kempten. Solange diese völlig unter der Stadtherrschaft des Abts stand, spielte sie bei den Konflikten um die Waldnutzung keine Rolle. Dies änderte sich erst, als die Bürger, beginnend mit einem Privileg König Rudolfs I. von 1289, sich zunehmend der Unterordnung unter das Stift entzogen und nach dem Status einer Reichsstadt strebten. Hinsichtlich des Kempter Waldes bildet aber nicht die Emanzipation der Bürger von der Stadtherrschaft das entscheidende Element, sondern der Versuch der Bürgergemeinde, konkurrierend zum Stift Herrschaftsrechte oder zumindest einen mitbestimmenden Einfluss in dessen Landgebiet geltend zu machen. 11 Daneben waren natürlich auch wirtschaftliche Gesichtspunkte im Spiele, wenn die Bürger ihre Weiderechte möglichst expansiv interpretierten und dem Stift 1409 sogar das Eigentum am Wald abzusprechen versuchten. 12 Ein im folgenden Jahr geschlossener Vertrag bestätigte der Stadt das Recht, soviel Holz zu hauen wie sie für die Bedürfnisse der ganzen commune und der 6 Die namengebende Burg befand sich beim heutigen Ort Großkemnat, jetzt einem Ortsteil von Kaufbeuren. 7 Vgl. J OSEPH R OTTENKOLBER , Wem gehörte der Kemptener Wald? , in: Hochvogel 47 (1927), S. 282f., der den Streit jedoch etwas oberflächlich als solchen um das Eigentum am Wald ansieht. 8 Vgl. R UDOLF W IEDEMANN , Der »Allgäuische Gebrauch« einer Gerichtsbarkeit nach Personalitätsprinzip (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 11), München 1932. 9 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 26. 10 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 27. 11 G ERHARD I MMLER , Gerichtsbarkeit und Ämterbesetzung in Stadt und Stift Kempten zwischen 1460 und 1525. Eine Auseinandersetzung um Territorialisierung, Landeshoheit und Einflußsphären in Schwaben, in: ZBLG 58 (1995), S. 509-552, hier 549. 12 J. R OTTENKOLBER , Kemptener Wald (Anm. 7). P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 165 ganzen statt benötigte, und auch das Recht jedes einzelnen Bürgers, darin Holz für seine eigenen Bedürfnisse, jedoch nur für diese, zu schlagen. Die Frage des Eigentums am Wald wurde nicht angesprochen, blieb somit bewusst ausgeklammert. 13 Der nach einer um 1460 einsetzenden Phase intensiver Konflikte zwischen Stift und Stadt im Jahr 1494 von König Maximilian I. gefällte Kölner Schiedsspruch deutet dann aber schon eine Begrenzung der städtischen Ansprüche auf das rein ökonomische Feld an: War es der Stadt um 1470 noch gelungen, durch die Aufstellung eines eigenen Holzwarts und die Unterbindung von Rodungen der Klosteruntertanen Ansprüche zumindest auf eine Teilhabe an der Forsthoheit anzumelden, 14 so wurden nun, wie auf anderen Konfliktfeldern auch, städtische Ansprüche auf eine Art Mitherrschaft über das stiftische Landgebiet abgewiesen oder übergangen. Bestätigt wurde dagegen das Recht der Stadt und der Bürger, Bau- und Brennholz zu schlagen, allerdings nur zum Eigenbedarf. Das Stift sollte dagegen Holz nicht nur zum eigenen Gebrauch, sondern auch zum Verkauf und zum Kohlenbrennen entnehmen dürfen, beschränkt lediglich durch die Vorschrift, die Nutzung nicht so weit zu treiben, dass für den Bedarf der Stadt nichts übrig blieb. Hinsichtlich der von ihr beanspruchten Waldweide war der Stadt die Beweislast auferlegt. 15 Um die Epochenwende vom Mittelalter zur Neuzeit muss eine erhebliche Intensivierung der Waldnutzung stattgefunden haben, denn bei Streitigkeiten und Vertragsschlüssen ging es zunehmend um forstwirtschaftliche Gesichtspunkte und insbesondere das Weiderecht, 16 was freilich auch damit zusammenhängen dürfte, dass herrschaftsrechtliche Fragen mit dem allmählichen Übergang zu einem flächenhaften Verständnis von ›Obrigkeit‹ an Brisanz verloren. Im Jahre 1512 einigten sich der Bischof von Augsburg und der Fürstabt von Kempten darüber, die traditionellen Holznutzungsrechte der beiderseitigen um den Kempter Wald gesessenen Untertanen zwar im Grundsatz unangetastet zu lassen, doch sollten das Roden und Kahlschläge zum Zweck des Kohlenbrennens (Kohlschwenden) künftig verboten sein. Der Bischof erklärte sich damit einverstanden, dass auch seine Untertanen an die vom Fürstabt zu erlassende Waldordnung gebunden sein sollten. 17 13 StA Augsburg, Fürststift Kempten Acta Civitatica 78, S. 3-5. 14 R. K IESSLING , Handel (Anm. 3), S. 135. 15 Artikel 15 des Kölner Schiedsspruchs; s. G ERHARD I MMLER , Der Kölner Schiedsspruch König Maximilians I. zwischen Reichsstadt und Fürststift Kempten aus dem Jahre 1494, in: E LISABETH L UKAS -G ÖTZ u. a. (Hg.), Quellen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bayerischer Städte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festgabe für Wilhelm Störmer zum 65. Geburtstag (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 11), München 1993, S. 321-344, hier 338f. 16 F RANZ L UDWIG B AUMANN , Geschichte des Allgäus II, Kempten 1890, S. 660f. 17 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 2. G ERHA RD I MMLE R 166 Zur Schonung des Waldes verständigten sich das Stift und die Stadt Kempten 1520 darauf, durch fünf Beauftragte jeder Seite einen Bezirk im Kempter Wald ausmarken zu lassen, der künftig vor jedem Kahlschlag geschützt sein sollte. Innerhalb desselben sollten beide Seiten immer nur die gleiche Menge Holz schlagen dürfen und niemand sonst dazu berechtigt sein. Die Waldweide aber blieb allen Angrenzern frei. 18 Im Rahmen eines umfassenden Gütertausches gab das Stift sein halbes Nutzungsrecht an diesem Einfang jedoch 1538 im Tausch an das reichsstädtische Spital, das dafür insbesondere auf seine Rechte an der Pfarrei und Kirche zu Kimratshofen 19 verzichtete, was für das Stift aus Gründen der Abwehr eines Eindringens der Reformation in sein Landgebiet wichtig war. 20 Die Verträge von 1520 und 1538 sorgten bis Anfang des 17. Jahrhunderts in diesem Punkt für Frieden zwischen Stift und Stadt. 21 Die erste Waldordnung wurde 1527 erlassen. Sie war jedoch noch wenig detailliert und enthielt nur das Verbot einiger offenbar als besonders schädlich angesehener Nutzungsweisen: Verboten wurde das Roden, Bischlagen, Kohlenbrennen und das Schlagen junger Bäume zu Zaunholz, ausdrücklich befohlen dagegen, dass jeder, der einen Baum schlage, ihn ganz auffmachen und scheitten solle. Außerdem sollte keiner Holz aus dem Wald flößen, der Pferde und Wagen habe, die Seldner aber höchstens fünf Klafter flößen dürfen. 22 Ein Mandat von 1604 schärfte die Einhaltung dieser Ordnung ein, wobei der Fürstabt einleitend den Kempter Wald als sein Eigentum kennzeichnete, 23 wodurch ein Einfallstor für eine immer eingehendere Reglementierung der Waldnutzung in der Zukunft geschaffen war. 18 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2142. 19 In der Gde. Altusried (Lkr. Oberallgäu). 20 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2830. Zum konfessionellen Hintergrund s. G ERHARD I MMLER , Der Augsburg Religionsfriede und das Fürststift Kempten, in: W OLFGANG W ÜST u. a. (Hg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung (ZHVS 98), Augsburg 2005, S. 239-246, hier 240. 21 O TTO G EISS , Die Forstobrigkeit im Fürststift Kempten, in: Allgäuer Geschichtsfreund NF 19 (1923), S. 1-32, hier 24f. 22 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 4. Unter Bischlagen wird laut [A UGUST F RIEDRICH ] P AULY , Beschreibung des Oberamts Wangen, Stuttgart-Tübingen 1841, S. 65, eine Art der Waldweidenutzung verstanden, bei der abgeholzte Flächen der Weide in so lange überlassen werden, bis sie sich von selbst durch die angrenzenden höher gelegenen Fichtenbestände auf natürlichem Wege mit Holz bestocken, und durch den erfolgten Schluß des vorhandenen Holzes die Weide unmöglich gemacht ist. Dann bleiben sich diese Flächen, welche man Bischläge nennt, selbst überlassen, bis das Holz ein gewisses Alter, in der Regel 30-40 Jahre, erreicht hat, und als Zaunholz etc. verwendet werden kann; nun wird das Holz kahl abgetrieben und die Fläche, auf welcher der Boden sich inzwischen außerordentlich gebessert hat, anfänglich mit […] Sommerfrüchten angebaut, dann aber wieder als Weide benützt, bis sich dieselbe von Neuem wieder mit Holz bestockt hat. 23 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 5. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 167 Zehn Jahre später zog das Stift eine erste Konsequenz, indem es in gewissen ausgemarkten Bezirken den Nutzungsberechtigten das Holzhauen verbot. 24 Nur wenige Jahre später folgte ein allgemeines Verbot des Holzeinschlags zum Verkauf; jeder sollte nur noch soviel fällen dürfen, als er zum eigenen Hausgebrauch benötigte. 25 Veranlasst war dieses schärfere Zugreifen der Obrigkeit wohl auch durch eine immer intensivere Nutzung des Waldes durch die Berechtigten, bei der es nicht ohne Konflikte untereinander abging. Zweimal wurden im 16. Jahrhundert Prozesse wegen der Waldweide zwischen der Ortsgemeinde Bodelsberg 26 und den augsburgischen Untertanen in der Pfarrei Sulzberg 27 vor dem Reichskammergericht ausgetragen, 28 und im Jahre 1599 klagte die Stadt Kempten vor demselben Gericht gegen den Fürstabt, weil die stiftischen Bauern zu Leiterberg zwei städtische Ochsen gepfändet hatten, die von Bürgern angeblich in einen der Gemeinde Leiterberg 29 allein als Weide zustehenden Waldteil getrieben worden waren. 30 Der Dreißigjährige Krieg brachte eine völlige Änderung der Lage: An die Stelle der Gefahr einer Überhauung und allzu intensiver Weidenutzung war die der Verwilderung getreten. Auch diese aber bot Anlass zu obrigkeitlicher Kontrolle der Waldnutzung. In seiner Waldordnung von 1655 klagte Fürstabt Roman darüber, der Wald sei wegen der während des Kriegs unterlassenen Waldweide völlig verwachsen, so dass er geseübert werden müsse. Die nutzungsberechtigten Gemeinden sollten sich daher unter Zuziehung fürstlicher Beamter über Weidebezirke einigen und innerhalb derselben das Unterholz roden. Außerhalb dieser Bezirke sollte jeder Holzeinschlag nur mit Erlaubnis des Stifts gestattet sein. 31 Die Stadt Kempten aber sah in dieser Ausweisung separater Bezirke einen Eingriff in ihre traditionellen Rechte und lehnte daher die Waldordnung ab. Dasselbe Schicksal widerfuhr der Waldordnung des Fürstabts Bernhard Gustav von 1673, die die Vorschrift enthielt, die Bürger der Reichsstadt sollten sich das Holz durch den stiftischen Holzwart anweisen lassen. 32 Die Kempter Waldordnung vom 19. Januar 1693 dehnte die obrigkeitliche Reglementierung auch auf die Holzmarken der stiftischen Gemeinden aus, indem verordnet wurde, dass darin niemand mehr Holz schlagen solle ohne Anweisung durch die Hofkammer. Gänzlich verboten wurden das Abschälen von 24 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 7, Mandat des Fürstabts Heinrich vom 12.12.1614. 25 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 8, Mandat des Fürstabts Johann Euchar vom 25.1.1620. 26 In der Gde. Durach (Lkr. Oberallgäu). 27 Pfarrdorf, jetzt Markt, im Lkr. Oberallgäu. 28 BayHStA, Reichskammergericht 329 und 330. 29 Dorf in der Gde. Betzigau (Lkr. Oberallgäu). 30 BayHStA, Reichskammergericht 7573. 31 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 10 und 11. 32 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 24f. G ERHA RD I MMLE R 168 Rinden, das Laubstreifen und das Harzen; das Sammeln von Reisig war nur noch mit Erlaubnis der Jäger gestattet. 33 Fünf Jahre später wurde diesen auch die Aufgabe übertragen, den Untertanen das Rechtholz (d. h. das Holz, das einem Forstberechtigten zusteht) auszuzeigen, wobei sie intern allerdings bei der Hofkammer nachzufragen hatten. 34 Nachdem somit der selbständige Holzeinschlag allgemein untersagt worden und die Bindung an die Auszeigung durch das obrigkeitliche Forstpersonal allgemeinverbindlich geworden war, wagte ab Beginn des 18. Jahrhunderts auch die Reichsstadt Kempten keinen Widerstand mehr dagegen. 35 Schlauerweise hat nämlich das Stift 1702 einen Konflikt zwischen einigen Bürgern, die selbständig Holz einschlugen, und dem Hauptmann zu Betzigau 36 benützt, einen Präzedenzfall zu setzen. Man schickte einen Kammerschreiber in die Stadt, um dem Bürgermeister zu sagen, er solle bekanntgeben lassen, Bürger, die Brennholz aus dem Kempter Wald wollten, könnten zu einer bestimmten Zeit sich dieses vom Betzigauer Hauptmann anweisen lassen. Der offenbar entweder überraschte oder konfliktscheue Bürgermeister aber wusste darauf nur zu antworten, er bitte darum, seinen Mitbürgern das Holz nicht an den wildesten und entlegensten Plätzen anweisen zu lassen. 37 Die eigenen Untertanen erkannten im Landeshauptrezess von 1732, der langjährige Streitigkeiten zwischen dem Stift und seiner Landschaft beilegte, die Befugnis des Landesherrn, den Forstberechtigten ihr Rechtholz anweisen zu lassen, ausdrücklich an. Wichtig war ihnen dabei nur, dass das Stift zusicherte, über die herkömmliche Abgabe für die Forstrechte, den sogenannten Wittzins, hinaus keine weiteren Taxen und Verwaltungsgebühren zu erheben - es sei denn der Forstberechtigte hatte aus eigner Schuld und Saumseeligkeit einen erhöhten Verwaltungsaufwand verursacht. 38 Dass der Stadt das stiftische Anweisungsrecht aber doch recht lästig war, zeigte sich darin, dass sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Gedanken ins Spiel brachte, auf die unbegrenzte Beholzung ihrer Bürger im Kempter Wald ganz zu verzichten, wenn das Stift ihr einen Teil des Waldes als Eigentum überlasse, wobei man darauf rechnete, dass dem Stift als Eigentumsherren, der jedoch wegen der vielen Berechtigten kaum einen Nutzen von seinem Grund und Boden habe, an einer Ablösung von Forstrechten gelegen sein müsse. Wegen allzu unterschiedlicher Vorstellungen über die Größe des anzuweisenden Bezirks 33 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, o. Nr. 34 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1970, Nr. 19, Waldordnung vom 6.5.1698. 35 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 25. 36 Pfarrdorf im Lkr. Oberallgäu. 37 StA Augsburg, Fürststift Kempten Acta Civitatica 78, S. 313-317. 38 Vgl. Schwaben von 1268 bis 1803, bearb. von P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. II: Franken und Schwaben vom Frühmittelalter bis 1800 4), München 1979, Nr. 153, S. 496. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 169 sowie wegen der stiftischen Bedenken über die Reaktion anderer Forstberechtigter kam es aber nicht zur Umsetzung dieses Vorschlags. 39 2. Die großen Wälder westlich Kemptens Ganz anderen Bedingungen unterlag das große Waldgebiet, das in einer Höhenlage von 800 bis 1.125 m etwa acht Kilometer westlich von Kempten beginnt und sich dann ungefähr sieben Kilometer nach Westen erstreckt, während die Nord-Süd- Ausdehnung, unterbrochen durch das Kürnachtal, in dem eine Straße von Kempten nach Nordwesten in Richtung Leutkirch führt, sogar fast zehn Kilometer beträgt. Abgesehen von dem erstmals 1453 als Häfelin im Wald erwähnten Hof und späteren Weiler Häfeliswald 40 an der Vereinigung der Flüsschen Kürnach und Eschach war das Gebiet bis ins 17. Jahrhundert völlig siedlungsleer und lag weitestgehend ungenutzt da; selbst das Jagdrecht wurde noch 1605 vom damaligen Fürstabt auf zehn Jahre an die Truchsessen von Waldburg verpachtet. 41 Teile des Waldgebiets waren spätestens seit 1239 42 an das Kloster St. Georg in Isny als Zinswald gegen jährliche Lieferung von vier Pfund Wachs vergeben, wurden aber offenbar von diesem lange nur sehr extensiv genutzt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es dann aber Streit, als das Fürststift Kempten seinen Ordensbrüdern in Isny vorwarf, bei der Nutzung seines Waldes Vertragsbedingungen nicht eingehalten und über die festgelegten Grenzmarken hinausgegriffen zu haben, was die Isnyer aber bestritten. Auf Vermittlung des Truchsessen Wilhelm von Waldburg wurden daraufhin 1516 die Grenzen des Isnyer Zinswalds neu ausgemarkt, wobei weithin Bachläufe die Grenzen bestimmten und nur die Strecken dazwischen mit Steinen markiert wurden. Die vörstliche Oberkait aber wurde samt aller Gerichtsbarkeit ausdrücklich dem Fürstabt von Kempten zugesprochen; Rodungen waren untersagt. 43 39 StA Augsburg, Fürststift Kempten Acta Civitatica 190. 40 In der Gde. Buchenberg (Lkr. Oberallgäu). Zur Geschichte des Orts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts s. J ULIUS M IEDEL , Die Erschließung und Urbarmachung des Eschacher Berglands, in: Memminger Geschichtsblätter 6 (1920), S. 1-8, hier 2. 41 G ERHARD I MMLER u. a., Buchenberg 804 - 1275 - 1485 - 1929/ 30 (Buchenberger Geschichtshefte 2), Buchenberg 2005, S. 14f. Eine Darstellung der naturräumlichen Gegebenheiten bietet J. M IEDEL , Erschließung (Anm. 40), S. 1f. Im Folgenden befasst sich Miedel aber hauptsächlich mit den westlich und südlich der Eschach gelegenen Wäldern auf dem Gebiet der Herrschaft Trauchburg, weniger mit dem eigentlichen Eschacher Wald auf dem Territorium der Fürstabtei Kempten. 42 Aus diesem Jahr datiert der erste diesbezügliche Vergleich zwischen dem Stift Kempten und dem Kloster Isny; StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 23. 43 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2032. G ERHA RD I MMLE R 170 Erste Bemühungen um eine intensivere Nutzung dieser riesigen Urwälder setzten wohl gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein, als das Fischrecht im Weißwasser, einem zur Eschach fließenden Bach mit dem Kloster Isny strittig wurde. 44 Im Jahre 1606 verpachtete dann dieses Kloster der Reichsstadt Ulm auf siebzig Jahre das Schlagrecht in eben jenem Teilgebiet, das davon dann den Namen ›Ulmerthal‹ 45 bekam. Das Fürststift Kempten als Inhaber der Forstobrigkeit stimmte der Verpachtung zu, machte aber dabei zur Bedingung, dass die Ulmer stift-kemptische Untertanen beim Fällen und der Abfuhr des Holzes beschäftigen mussten. 46 Derartige Verträge über großzügige Abholzungen durch Städte mit hohem Energiebedarf waren nichts Ungewöhnliches. Unmittelbar vorher hatte das Stift Kempten selbst der Reichsstadt Ulm einen Wald an der Iller unterhalb Kemptens zum Kahlhieb mit der Klausel des Rückfalls nach vollständiger Abholzung verkauft - ein Ereignis das 1605 eintrat, 47 so dass ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Abschluss des Vertrages über das spätere Ulmerthal vermutet werden kann. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts war in Ulm Brennholz knapp, weshalb der Rat der Reichsstadt sich intensiv darum bemühte, dieses aus dem Allgäu herbeizuschaffen, von wo aus mittels der Flößerei auf der Iller und ihren Nebenflüssen günstige Transportmöglichkeiten bestanden. 48 Da Ulm in den Ursprungsgebieten des Holzes aber keinerlei obrigkeitlichen Rechte ausüben konnte, ja nicht einmal Grundstückseigentümer wurde, beschränkte sich sein Interesse auf den ›Abbau‹ des Rohstoffes Holz. Dem entsprach die angewandte Methode einer rein ausbeutenden und quasi wandernden Waldwirtschaft: Der Käufer trieb das Holz ab und kümmerte sich dann nicht mehr weiter um den Wald; der Grundherr erhielt bares Geld und verließ sich auf den natürlichen Anflug, der schon wieder Bäume würde wachsen lassen. 44 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 2121. 45 Jetzt eine Streusiedlung in der Gde. Buchenberg (Lkr. Oberallgäu) mit meist nur noch als Wochenend- und Ferienhäuser genutzten Anwesen. 46 J. M IEDEL , Erschließung (Anm. 40), S. 2; O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 25-27. Zu den Vertragsbedingungen vgl. auch F RIEDRICH S CHWARZ , Allgäuer Glasmacher. Zur Geschichte der Glasmacher im Fürststift Kempten. Dokumentation und Beiträge zur Heimatforschung des Kürnach-, Ulmer- und Eschachthales (Allgäuer Heimatbücher 87), Kempten 1985, S. 35. Das Weißwasser ist sehr wahrscheinlich der heutige Ulmerthalbach. 47 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 2664. Der Wald lag bei Ober- und Unterwaldegg und Kaltbronn in der heutigen Gemeinde Legau im Landkreis Unterallgäu. 48 Zur Bedeutung der Illerflößerei für die Brennholzversorgung Ulms s. K ARL F ILSER , »Die Yler ist ein groß Wasser/ Fisch und Flötzreich«. Zur Geschichte der Illerflößerei, in: O TTO K ETTEMANN / U RSULA W INKLER (Hg.), Die Iller. Geschichten am Wasser von Noth und Kraft (Druckerzeugnisse des Schwäbischen Bauernhofmuseum Illerbeuren 5), Kronburg- Illerbeuren 1992, S. 171-196, hier 180. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 171 Nach dem Dreißigjährigen Krieg schlug man dann neue Wege ein und suchte nach einer nicht nur fiskalisch einträglichen, sondern auch gesamtwirtschaftlich sinnvollen Nutzung. Möglicherweise im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Klosteranlage des Kemptener Stifts 49 kam es zur Ansiedlung von Glasmachern. Am 6. August 1654 schloss Fürstabt Roman Giel von Gielsberg, der Erbauer der Stiftskirche, mit dem Glasmacher Abraham Greiner aus Waldkirchen im Hochstift Passau einen Bestandskontrakt über die stiftische Glashütte im Kürnachtal, die schon vorhanden, aber noch nicht vollendet und vollständig eingerichtet gewesen sein muss. Der Fürstabt verpflichtete sich nämlich einerseits, auf seine Kosten die Hütten und das Dach richten zu lassen, Greiner aber, die nötigen Materialien herbeizuschaffen und sieben Gesellen einzustellen. 50 Der Standort war für diesen Produktionszweig insofern günstig, als einerseits die nächstgelegenen Glashütten sich erst im Raum nordwestlich des Bodensees und im Bayerischen Wald befanden, wodurch die Erzeugnisse der dortigen Konkurrenz auf dem heimischen Markt des Allgäus durch erhebliche Transportkosten belastet wurden. 51 Andererseits waren als unverzichtbare Ausgangsmaterialien Quarzsand und Kalkstein vorhanden, vor allem aber stand der als Energielieferant zum Glasschmelzen reichlich benötigte Rohstoff Holz in Hülle und Fülle zur Verfügung. 52 Das Stift Kempten verfuhr dabei gegenüber den Betreibern der Glashütten nicht grundsätzlich anders, als es selbst und das Kloster Isny Jahrzehnte zuvor gegenüber der Reichsstadt Ulm gehandelt hatten: Der Wald wurde auf eine bestimmte Anzahl von Jahren zur Abholzung verpachtet, wobei im Vergleich zu den früheren Verhältnissen allerdings in der Regel die wesentlich geringere Zehn-Jahres-Frist gewählt wurde. Außerdem wurden Bauplätze zur Errichtung der Hütten sowie Fischrechte, niemals aber das Jagdrecht mitverpachtet. 53 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde die ganze Forstwirtschaft im Eschachtal auf das aufstrebende Glasmacherhandwerk hin ausgerichtet - in enger Kooperation mit dem Kloster Isny. Als 1670 die Ulmer dem Kloster Isny sechs Jahre vor Ablauf der Pacht dessen Zinswald heimschlugen, erwarb das Stift Kempten, selbst Obereigentümer des Waldes, vom Kloster Isny als Nutzeigentümer das Recht, in dessen Zinswald für Zwecke seiner Glashütte Asche zu brennen - gegen Abgabe 49 Das vermutet M AXIMILIAN W ALTER , Das Fürststift Kempten im Zeitalter des Merkantilismus. Wirtschaftspolitik und Realentwicklung (1648-1802/ 03) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 68), Stuttgart 1995, S. 158f. 50 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1185. 51 M. W ALTER , Merkantilismus (Anm. 49), S. 160. Walter datiert die erste Ansiedlung von Glasbläsern auf 1651, was aber zweifelhaft erscheinen muss, da der Bestandsvertrag mit Greiner auf eine unfertige Glashütte hindeutet. 52 M. W ALTER , Merkantilismus (Anm. 49), S. 156. 53 M. W ALTER , Merkantilismus (Anm. 49), S. 169f. G ERHA RD I MMLE R 172 von zwölf Kreuzern von jedem dazu genutzten Baum. 54 Bei einer Neuvermarkung am 16. November 1695 werden erstmals Bauern der eschachabwärts gelegenen Orte als Anstößer mit Wald- und Wiesengrundstücken erwähnt, so dass offenkundig wird, dass auch die Landwirtschaft an der allmählichen Erschließung des Waldes Anteil hatte. 55 Fürstabt Rupert von Bodman (reg. 1678-1728) brachte dann ein Waldstück nach dem anderen durch Tausch an sich. Andererseits erklärte er sich aber auch 1705 nach langen Verhandlungen, die 1696 eingesetzt hatten, damit einverstanden, dass das Kloster Isny seine bisher am Westufer des Grenzbaches Eschach gelegene Glashütte nach Ulmerthal auf stift-kemptisches Territorium versetzte. 56 Dabei wurde eine geregelte Form der Abholzung des Waldes vereinbart: Kahlschlagsflächen sollten wieder aufgeforstet, ein Teil aber dauerhaft als Sennerei verwendet werden. 57 Der für letztere Nutzung vorgesehenen Umgriff der Glashütte wurde 1709 eigens sehr sorgfältig ausgemarkt. 58 Da die Hütten mit ihrem großen Bedarf an Feuerholz sich regelrecht in den Wald hineinfraßen, lange Transportwege für das Holz in dem bergigen Gelände aber offenbar vermieden werden sollten, wurden mehrfach Standortverlegungen nötig: Zunächst befand sich die stift-kemptische Glashütte beim Hofgut Unterkürnach, 59 das seit 1644 durch Ankauf und Tausch landwirtschaftlicher Flächen von benachbarten Bauern angelegt worden war. 60 Dazu kam 1686 ein weiterer, zwei Kilometer talaufwärts gelegener Produktionsstandort zu Oberkürnach, 61 während die ältere Glashütte schon 1690 nach Ulmerthal verlegt wurde, das mit dem vorangegangenen Holzeinschlag durch die Stadt Ulm verkehrlich erschlossen worden war. Die Hütte Oberkürnach stellte 1698 den Betrieb ein, die zu Ulmerthal wurde 1730 erneut verlegt, diesmal ins Eschachtal genau an die Stelle, wo der gerodete Talboden an die Waldwildnis stieß. 62 Der Holzeinschlag für die Glashütten benötigte einerseits Arbeitskräfte, hinterließ andererseits gerodete Flächen, so dass als Voraussetzung wie Folgewirkung sich eine Besiedelung der bisher leeren Mittelgebirgszone ergab. Im Kürnachtal konnte dies zwar noch nicht stattfinden, da hier der Talgrund bereits durch die herrschaftlichen Schwaighöfe besetzt und somit der Ansatzpunkt für neue Siedlungen blockiert war. Sobald die Abholzung für die Glashütten aber in das Eschachtal 54 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5517, Vertrag vom 15.6.1670. 55 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5665. 56 J. M IEDEL , Erschließung (Anm. 40), S. 3; F. S CHWARZ , Glasmacher (Anm. 46), S. 56. 57 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 17f.; StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5695. 58 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5704. 59 Jetzt Weiler in der Gde. Wiggensbach (Lkr. Oberallgäu). 60 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 484. 61 Jetzt Weiler in der Gde. Wiggensbach (Lkr. Oberallgäu). 62 M. W ALTER , Merkantilismus (Anm. 49), S. 161f. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 173 Abb. 2: ›Mappa der Grafschaft Trauchburg‹ mit den forstlichen, hohen und niederen Jurisdiktionsbezirken. Nachzeichnung von Pater Alphons Hirschfeld (1718) nach einer Landtafel des Reichenauer Malers Johann Rudolph Mohr von 1716. Papier auf Leinwand, gerollt, 124 x 86 cm. Abgebildet ist der rechte Teil der Karte mit den Glashüttenwäldern des Fürststifts Kempten und des Klosters Isny. G ERHA RD I MMLE R 174 und seine Seitentäler vorstieß, kam man in ein Gebiet, in dem auch die Talböden noch zu erheblichen Teilen mit Wald bestanden waren. Sowohl die Glasmacher wie die von den Hüttenbetreibern eingestellten Waldarbeiter brauchten Wohnungen und wegen der Abgelegenheit des Gebiets waren sie auf eine Grundversorgung mit Lebensmitteln durch eigene Landwirtschaft angewiesen. Schon im Vertrag von 1654 wurde dem Glasmacher Greiner vom Stift zugesichert, ihm soviel Gründe zuzuteilen, dass er selbst zwei Ochsen und zwei Kühe sowie jeder seiner Gesellen zwei Kühe halten könne. 63 Waldfrei gewordene Flächen überließ man daher in den Tälern und teilweise auch in Hanglage nicht mehr dem Anflug neuen Waldes, sondern legte Wiesen und Äcker an, wobei die Landwirtschaft von Glasmachern und Holzhauern im Nebenerwerb betrieben wurde. 64 Schließlich entstanden dadurch das zentral im Rodungsgebiet gelegene Dorf Kreuzthal mit seiner 1717 errichteten Pfarrei 65 und die beiden Streusiedlungen Ulmerthal und Eschachthal. Im Jahre 1728 wurden die neu angelegten Höfe erstmals in die Steuerbeschreibung einbezogen, 66 was als Indiz dafür zu werten ist, dass die Aufbauphase in ein Stadium geordneter Grundbesitzverhältnisse übergegangen war. Symptomatisch ist auch, dass das Rechtsverhältnis, unter dem dem Kloster Isny sein Zinswald verliehen war, 1731 erneut geändert wurde. Rodungen und die Ansiedlung von Leuten waren nun ausdrücklich gestattet; Waldweiderechte des Besitzers von Häfeliswald wurden dafür eingeschränkt. Alle landesherrlichen Rechte aber blieben dem Stift Kempten vorbehalten und die Leistungen des Klosters Isny an den Lehenherrn wurden kräftig erhöht: Außer dem Wachszins, der künftig nicht mehr jährlich, sondern nur noch bei jeder Lehenerneuerung, dafür dann aber in zehnfacher Höhe, zu entrichten war, sollte nach Verlauf von zwanzig Freijahren eine jährliche Abgabe von 50 Gulden fällig werden. 67 Wenn man bedenkt, dass 1516 Rodungen hier noch untersagt worden waren und man sich im 16. Jahrhundert darauf beschränkt hatte, durch Jagdverpachtungen und Verkauf des stehenden Holzes gelegentlich Einnahmen zu erzielen, so springt der Wandel zu einer Politik des inneren Landesausbaus besonders ins Auge. Den Anstoß dazu aber hatten die Glashütten gegeben. 68 63 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1185. 64 M. W ALTER , Merkantilismus (Anm. 49), S. 176-178. 65 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 747. Das Dorf Kreuzthal gehört ebenso wie die benachbarte Streusiedlung Eschachthal jetzt zur Gde. Buchenberg (Lkr. Oberallgäu). 66 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 1203. 67 J. M IEDEL , Erschließung (Anm. 40), S. 3. Bereits nach Verlauf von zehn Jahren sollte die Abgabe zur Hälfte entrichtet werden. 68 Anders J. M IEDEL , Erschließung (Anm. 40), S. 7, der der Holznutzung die primäre Rolle zuschreibt, dabei aber nicht beachtet, dass diese bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts sich in der Form zeitlich und örtlich beschränkter Kahlschläge vollzog, die zur Entstehung von Dauersiedlungen keinen Anlass boten. Erst nach der Ansiedlung der Glashütten ließen auch Holzhauer sich permanent in dem Waldgebiet nieder. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 175 3. Konflikte um die Waldnutzung zwischen Herrschaft und Untertanen Ursprünglich war im Stift Kempten allen Hintersassen, die keinen Anteil an einem Gemeindewald besaßen, ein nicht genau bestimmtes Nutzungsrecht am Wald ›nach Notdurft‹ gegen geringen Zins eingeräumt worden. 69 Ob der Wald dabei Klostergut oder Allmende war, blieb offen und war im Mittelalter gemäß den deutschen Rechtsauffassungen auch noch nicht von der entscheidenden Bedeutung, die diese Frage nach der Rezeption des römischen Rechts mit seinem strengen Eigentumsbegriff erlangen sollte. Vorher als quasi herrenlos angesehene Wälder wurden als herrschaftliches Eigentum in Anspruch genommen, deren Nutzung durch die Untertanen beschränkt und kontrolliert. Teils waren diese in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Eingriffe notwendig, um in dieser Epoche raschen Bevölkerungswachstums Raubbau am Wald zu verhindern, provozierend aber musste wirken, dass offenkundig auch das Interesse an der den Bauern ohnehin lästigen Jagd mit hereinspielte. 70 Der bäuerliche Unmut über diese Entwicklung gehört mit zu den Ursachen des Bauernkriegs von 1525. Im 5. der berühmten, in Memmingen entstandenen ›Zwölf Artikel‹ forderten die oberschwäbischen Bauern, alle Wälder, soweit sie nicht von den Obrigkeiten nachweislich erkauft seien, wieder zu Allmenden zu machen und die Entnahme von Brennholz jedem völlig frei zu stellen, während Bauholz zwar jedem ebenfalls kostenlos, jedoch unter Aufsicht der Gemeinde zu fällen erlaubt sein solle. 71 Im Memminger Vertrag vom 19. Januar 1526, der den Bauernkrieg im Stift Kempten juristisch abschloss, wird auf die strittige Waldnutzung nicht ausdrücklich eingegangen. Aus dem die Buße der Bauern für ihren Aufstand regelnden 14. Artikel ergibt sich indirekt aber eine Bestätigung des herrschaftlichen Anspruchs auf das Eigentum an allen Wäldern, die nicht eindeutig ein Eigen einzelner Untertanen oder Gemeinden darstellten, denn unter den Schäden des Klosters, für die Genugtuung zu leisten war, sind auch die an vorts, weld, höltzer und derselben ein- und zugeherd erwähnt, die die Aufständischen verwuest, undergetribenn und zergenutzt hätten. 72 Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts suchte man auch die Forstrechte der Untertanen einzuschränken und ihre Nutzung derselben einer verschärften obrigkeitlichen Kontrolle zu unterwerfen: Der Oberholzwart als Vertreter des Oberstjägermeisters hatte den jährlichen Holzbedarf jedes Berechtigten zu ermitteln 69 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 20f. 70 Gute Zusammenfassung der allgemeinen Entwicklung bei H ORST R ABE , Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600 (Neue Deutsche Geschichte 4), München 1989, S. 64f. 71 Vgl. Schwaben von 1268 bis 1803 (Anm. 38), Nr. 78, S. 289. 72 StA Augsburg, Altkemptische Landschaft Urk. 3. G ERHA RD I MMLE R 176 und entsprechend viele schlagbare Bäume anzuweisen. Lediglich Einödbauern wurde noch erlaubt, kleine Holzschachen eigenverantwortlich zu nutzen. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts begann das Stift, auch in die Nutzung der Gemeinde- und Privatwälder reglementierend einzugreifen. Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts verlangte man für Rechtholz Bezahlung, wenn der Preis auch niedriger als der Marktpreis war. 73 Eine gewisse Systematisierung des herrschaftlichen Zugriffs auf die Wälder erstrebte die von Fürstabt Rupert von Bodman 1680 erlassene Forstordnung, bestehend aus zwölf Artikeln, von denen allerdings acht der Jagd und nur vier der Holznutzung gewidmet waren. Fürstabt Engelbert von Syrgenstein erneuerte sie 1749, indem er zwei den Waldschutz betreffende Artikel hinzufügte. 74 Der Hauptlandesrezess von 1732 beschäftigt sich in zwei Artikeln mit dem Wald: Im sechsten verzichtet das Stift gegen Zahlung einer jährlichen Gebühr von 50 Gulden auf das bisher beanspruchte Recht, auch in Wäldern, die einzelnen Untertanen oder den Gemeinden gehörten, Harz gewinnen zu dürfen. 75 Die wichtigsten Normen finden sich jedoch in Artikel 7 und hier fiel die getroffene Regelung bemerkenswert modern aus; die Einigung erfolgte nämlich auf der Basis des Eigentumsrechts. Das Stift konnte durchsetzen, dass es den Gotteshaushubern, d. h. seinen zu Leibrecht auf den Gütern sitzenden Grundholden, das Holz um jeden beliebigen Preis abgeben könne, da es dabei eigentlich aus seinem Eigentum einen Verkauf tätige. Was die Untertanen hier erreichen konnten, war lediglich eine vage Zusage, den Preis moderat anzusetzen. Im Pflegamt Kemnat, wo den Gotteshaushubern offenbar häufig Waldanteile oder sogenannte Schachen, also kleine zwischen den Äckern und Wiesen gelegene Wäldchen, nur Nutzung überlassen waren, erfolgte eine eigene Einigung durch ein Kommissionsprotokoll vom 20. Juli 1735. Hier sah sich das Stift insbesondere dadurch übervorteilt, dass manche dieser Grundholden übermäßig viel Holz entnommen und verkauft hatten. Es wurde daher festgesetzt, dass diese Waldanteile zwar den derzeitigen Besitzern auf Lebenszeit verbleiben, künftig aber nur noch dann als Teil der Gotteshausgüter gelten sollten, wenn sie eigens in den Bestandbriefen erwähnt seien. Auf jeden Fall durfte darin Holz nur auf Anweisung und zur eigenen Hausnotdurft, keineswegs aber zum Verkauf geschlagen werden. 76 Gotteshaushuber konnten sogar bestraft werden, wenn sie auf ihren Grundstücken einzeln stehende Bäume ohne Erlaubnis fällten und das Holz verkauften. 73 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 20f. 74 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 10f. 75 Missverstanden bei P ETER B LICKLE , Die Landstandschaft der Kemptener Bauern, in: ZBLG 50 (1967), S. 201-241, hier 227 Anm. 84, der meint, es habe sich um die Ablösung eines Frondienstes gehandelt. 76 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 11. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 177 In einem derartigen Fall, der sich zu einer landschaftlichen Beschwerde auswuchs, wurde stiftischerseits allerdings betont, die Strafe sei in diesem Fall nur wegen des Verkaufs an einen Dritten, nicht wegen der Fällung an sich ausgesprochen worden. 77 Die Landschaft nahm sich hier ihrerseits nicht nur des Interesses der Gotteshausgutbesitzer an ungestörter Bewirtschaftung an, sie trieb noch etwas anderes um: Sie fürchtete, wenn das Stift, wie es im 18. Jahrhundert zunehmend seine Praxis war, Viehweidgehölze von Gotteshausgütern abmarkte und als herrschaftliches Eigentum deklarierte, dass diese dann auch dem steuerbaren Fundus entzogen würden. Verschärft wurde dies, wenn im Zuge der Vereinödung Gotteshausgüter statt bisheriger Nutzungsrechte am Gemeindewald derartige Gehölze in einer verteilten Gemeindeweide zugewiesen erhielten. Ihren Nutzanteil an der Allmende hatten die Gotteshaushuber bisher versteuert; was aber geschehe - so fragte die Landschaft -, wenn das Stift die dafür zugeteilten Holzmarken als Kammergut reklamiere, an dem dem Gotteshaushuber lediglich ein Forstrecht zustehe? 78 Da es sich insgesamt um 224 Einzelfälle handelte, 79 kam eine Einigung zwar 1794 noch in Gang, stieß dann aber auf die Grundsatzfrage, welche Dokumente in Zweifelsfällen als rechtserheblich anzusehen seien: Während das Stift sich auf den Standpunkt stellte, was nicht in den Steuerbeschreibungen stehe, gehöre hinsichtlich des Ober- und Nutzeigentums dem Landesherrn, reklamierte die Landschaft alles als Zubehör der steuerbaren Gotteshausgüter, was dazu gehören müsse, wenn man ältere Beschreibungen der Angrenzer zugrunde lege. Wenn sich an den Grenzen der Güter nicht steuerbare Wald- und Moosgrundstücke befänden, die inzwischen nutzbar gemacht seien, so müsse der Bauer, der das Nutzeigentum daran habe, sie eben künftig versteuern. 80 Der Streit blieb zur Aufhebung des Stifts 1803 unerledigt. Dieselbe Freiheit des Eigentums, die das Stift als Obereigentümer in sehr enger Auslegung des Eigentumsbegriffs gegenüber den Gotteshaushubern beanspruchte, wurde umgekehrt auch den kollektiven und privaten Waldeigentümern, also Gemeinden und einzelnen Bauern, die freieigene Wälder besaßen, eingeräumt, auch wenn das Stift aufgrund seiner ›forstlichen Obrigkeit‹ eine Oberaufsicht geltend machte. Die Grundregel war darum die freie Nutzung nach Gutdünken des Eigentümers, allerdings mit gewissen Einschränkungen: Genehmigungspflichtig waren Kahlschläge, die Fällung von Eichen und Ahornbäumen sowie die Holzabfuhr aus dem Wald inner der verbottenen Zeit. 81 Letzteres war wohl eher eine polizeiliche 77 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 11, Extractus landschaftlicher Gravaminum vom 25.8.1782 und Responsio. 78 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 12, Prod. 3. 79 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 14. 80 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 14. 81 Schwaben von 1268 bis 1803 (Anm. 38), Nr. 153, S. 496. G ERHA RD I MMLE R 178 Maßnahme zum Schutz der Belange benachbarter Grundeigentümer denn ein spezifisch forsthoheitlicher Eingriff, während für das Verbot von Kahlhieben ausdrücklich das jagdliche Interesse ins Feld geführt wird. Von einer übertriebenen Wildhege zur Pflege der Jagdleidenschaft des Landesherrn kann allerdings im Fürststift Kempten jedenfalls im 18. Jahrhundert keine Rede sein. Fürstabt Rupert bot 1725 den Untertanen an, für die fürstliche Jagd einen Tiergarten anzulegen und außerhalb desselben das meiste Wild abschießen zu lassen, doch wurde das Angebot wegen der daran geknüpften Bedingung, die Landschaft solle das Holz für die Zäune bezahlen, abgelehnt. Als allerdings 1791 diese von sich aus das frühere Angebot aufgriff, war der damalige Fürstabt nicht mehr daran interessiert. Wilderei wurde im Fürststift Kempten nur mit Geldstrafen geahndet, 82 auch der sich über zunehmenden Wildschaden beschwerenden Landschaft 1791 zugesagt, dass die Wildschweine gänzlich abgeschossen und den Bauern erlaubt werden solle, durch Schießen in die Luft und durch ihre Hunde das Wild von den Feldern zu vertreiben. 83 Artikel 9 der Waldordnung von 1749 suchte eine geregelte Schlagwirtschaft einzuführen und diese auch den Untertanen mit ihren Privat- und Gemeindewäldern aufzuerlegen. In der praktischen Ausführung verfuhr man dabei zwar nach dem Urteil eines Forstmanns des frühen 20. Jahrhunderts noch oft grob falsch, doch sei das, verglichen mit anderen Territorien, frühe Bemühen um eine systematische Forstwirtschaft anerkennenswert. 84 Freilich brachte dies auch wieder eine zunehmende obrigkeitliche Reglementierung mit sich. So wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts die von den Gemeinden selbst aufgestellten nebenamtlichen Holzwarte abgeschafft und die gesamte lokale Forstaufsicht den herrschaftlichen Jägern übertragen, die zugleich die Aufgaben von Revierförstern übernahmen. 85 Der Holzverkauf an Kunden außerhalb der Landesgrenzen war den Untertanen in der frühen Neuzeit allgemein verboten; Ausnahmen gab es nur für die Gemeindewälder und Inhaber größerer Waldlehen, außerdem seit einer fürstlichen Deklaration von 1754 für die Untertanen des Pflegamts Kemnat beim Verkauf von Bau- und Brennholz nach Kaufbeuren. Während man sich seit Ende des 17. Jahrhunderts in typisch merkantilistischer Weise bemühte, die Einhaltung des Verbots strenger als bisher zu kontrollieren, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts der private Holzverkauf nach auswärts wieder zugelassen, war aber oberhalb einer Bagatellgrenze von zehn Gulden meldepflichtig. 86 Über das eigene Geschäftsgebahren 82 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 13. 83 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung A 13, S. 37-41, Fürstäbtliche Resolution vom 12.4.1791 auf Gravamen Nr. 18. 84 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 14. 85 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 3f., 9f. 86 O. G EISS , Forstobrigkeit (Anm. 21), S. 25-28. P R OBL EM E DER W ALDNU T ZUNG IN S CHWA B EN 179 des Forstamts gibt die Forstrechnung für das Jahr 1790 detailliert Auskunft, wobei damals erstmals auch das gratis abgegebene Holz nach seinem Geldwert veranschlagt wurde. Der Verkauf von Holz erfolgte ausschließlich an eigene Untertanen, wodurch knapp 17.000 Gulden eingenommen wurden, darunter allerdings ca. 3.500 Gulden aus Forstnebennutzungen. Außerdem wurde für gut 15.000 Gulden Holz ohne Berechnung an Beamte und Hofdiener, an Pfarrer und Klöster, Schulen und wohltätige Stiftungen geliefert, insbesondere aber an die stiftischen Eigenbetriebe, darunter allein Holz für fast 3.900 Gulden an das Brauhaus in Kempten und nicht zuletzt an das Bauamt. Dieses bezog allein 1.000 Stämme, dazu kleinere Sorten im Gesamtwert von fast 2.100 Gulden. So nimmt es nicht wunder, dass als Barertrag nur knapp 600 Gulden verblieben. 87 4. Zusammenfassung Auf dem nicht allzu großen Territorium des Fürststifts Kempten lassen sich sehr verschiedene Arten der Waldnutzung erkennen. Da die naturräumlichen Gegebenheiten im Kempter und im Kürnacher Wald sich nicht wesentlich unterscheiden, kann der so auffällige Unterschied in der Art der Nutzung seine Ursache nur in den sehr unterschiedlichen Rechtsverhältnissen haben. Im Laufe der Jahrhunderte änderte zudem der Wald seine Bedeutung für die politischen Strukturen. War im Mittelalter die forstliche Obrigkeit ein Mittel zur Durchsetzung flächenhafter Herrschaft und zur Ausbildung der Landeshoheit, so trat in der Neuzeit der römischrechtliche Begriff des Eigentums in den Vordergrund, indem einerseits das Stift aus seinem Forstbann das Eigentum über alle Wälder ableitete, für die niemand anders einen Eigentumstitel vorweisen konnte, es andererseits zwischen den stiftseigenen herrschaftlichen und den Privatwäldern immer schärfer differenzierte. Über letztere wurde die Kontrolle im 18. Jahrhunderts gelockert, erstere wurden immer intensiver genutzt. Das Nachsehen hatten dabei die zu Leibrecht auf ihren Höfen sitzenden Gotteshaushuber, die es hinnehmen mussten, dass das Stift als Landes- und Grundherr ihre herkömmlichen Nutzungsmöglichkeiten an den ihren Höfen nahegelegenen Holzmarken als bloße Forstrechte an herrschaftlichem Wald interpretierte. Betroffen davon waren jedoch nur jene etwa zehn Prozent der bäuerlichen Untertanen des Stifts, die zu diesem relativ schlechten Leiherecht auf ihren Höfen saßen, wobei ihr Anteil im 18. Jahrhundert gegenüber den mittelalterlichen Verhältnissen zurückgegangen war, nachdem das Stift zwischen 1692 und 1704 in zahlreichen Fällen das grundherrliche Obereigentum an die Bauern verkauft hatte. 88 Die Mehrheit der Besitzer freieigener oder lehenbarer Höfe dagegen 87 StA Augsburg, Fürststift Kempten Forstamt B 49, insbesondere S. 293, 344f., 348, 363. 88 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 181. G ERHA RD I MMLE R 180 profitierte von den eigentumsfreundlichen Regelungen des Landesrezesses und der seitdem durchgehend eingehaltenen Linie einer zurückhaltenden Beanspruchung der aus Forstbann und Jagdregal ableitbaren Eingriffsrechte durch die Fürstabtei. Wie schon an der Durchführung der Vereinödung gezeigt werden konnte, zielte die Politik des Fürstabts und seiner Regierung im 18. Jahrhundert hierin auf die bevorzugte Förderung der Schicht auf freiem Eigentum sitzender Vollerwerbsbauern. 89 Auf das Verhältnis zur natürlichen Umwelt bezogen, war dies ein Konzept zur rationaleren Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Dabei traten vor allem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwei Zielsetzungen hervor, die man geschickt zum Ausgleich zu bringen suchte: Eine intensivere Ausbeutung des vorher nur punktuell oder extensiv, nämlich zur Jagd, in Anspruch genommenen Kürnacher Waldes einerseits, die verstärkte Beachtung des Prinzips der Nachhaltigkeit andererseits. In kleinen überschaubaren Bereichen setzte man im 18. Jahrhundert immer mehr darauf, dass der private Waldbesitzer aufgrund der eigenen betriebswirtschaftlichen Rationalität nachhaltig wirtschaften werde und lockerte darum die obrigkeitliche Kontrolle. Dort jedoch, wo eine komplizierte Gemengelage alter Waldnutzungsrechte bestand - im Kempter Wald -, griff das Stift, um einem nur am kurzfristigen eigenen Nutzen ausgerichteten Verhalten der Beteiligten zu steuern, immer stärker reglementierend ein. Die ursprünglich sehr unterschiedlichen Methoden der Nutzung im Kempter und Kürnacher Wald näherten sich dabei einander an, soweit die nicht überwindbaren Unterschiede der Rechtsverhältnisse dies zuließen. 89 G ERHARD I MMLER , Die Vereinödung im Fürststift Kempten als Ergebnis des Zusammenwirkens von Obrigkeit und Untertanen, in: B. K ATA u. a. (Hg.), »Mehr als 1000 Jahre …« (Anm. 2), S. 219-235, hier 233f. 181 K LAUS B RANDSTÄTTER Maßnahmen zur Sicherung der Holzversorgung in der frühen Tiroler Montanindustrie In der Tiroler Waldordnung des Jahres 1551 für die sogenannten ›Gemeinen Wälder‹ heißt es einleitend: Dann die Wäld und Helzer sollen und miessen auch mit gueter Ordnung erhalten und gezüglt [werden]. On das kann kain Perkhwerch erhalten vnnd gebawt werden. Ist wolzubesorgen. Es were ee Manngl an Holz als an Perkhwerch erscheint. 1 Deutlich wird hier die Sorge angesprochen, die Holzvorräte könnten sich früher als die Bergschätze erschöpfen. Dass Bergbau und die Notwendigkeit der Verfügung über Holz zusammengehören, war freilich längst zuvor bekannt. Unter anderem hatte der Bergrichter von Klausen 1483 formuliert: dann on holcz mag nicht pergkwerch sein. 2 Zur Frage der landesfürstlichen Maßnahmen zur Versorgung der Bergwerke mit Holz liegen für den Tiroler Raum zwar einige Arbeiten auch jüngeren Datums vor, so dass Aspekte der herrschaftlichen Waldpolitik in Grundzügen durchaus gut bekannt sind, allerdings müssen detaillierte Untersuchungen zur Waldnutzung, zum Ausmaß des Holzbedarfs, zur Frage der Holzknappheit und der Auswirkungen auf die Umwelt als Forschungsdesiderate bezeichnet werden. 3 Vielleicht vermag der vor einigen Jahren an der Universität Innsbruck als Spezialforschungsbereich eingerichtete Forschungsschwerpunkt (nunmehr Forschungszentrum) HiMAT , der dem Tiroler und insbesondere dem Schwazer Bergbau gewidmet ist, im Rahmen einer zweiten Förderphase einige Lücken zu schließen. An Quellen würde es für solche Fragestellungen nicht mangeln. Zwar sind die Akten des Schwazer Bergamtes nicht überliefert und vermutlich im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, 4 1 W OLFGANG T SCHAN , Das Schwazer Bergamt in der frühen Neuzeit. Quellen zur Verwaltungspraxis einer Tiroler Bergbaubehörde, o. O. (2009), S. 192 Anm. 677; vgl. auch A N - DREAS B INGENER u. a., Der Bochumer Entwurf und die Endfassung von 1556. Textkritische Editionen (»1556 Perkwerch etc.« Das Schwazer Bergbuch, 2. Bd.), Bochum 2006, S. 409. 2 TLA Innsbruck, Urk. I/ 3721 - zitiert bei H ERMANN W OPFNER , Das Almendregal des Tiroler Landesfürsten (Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs 3), Innsbruck 1906, S. 38. 3 C HRISTOPH B ARTELS / A NDREAS B INGENER , Der Bergbau bei Schwaz in Tirol im mittleren 16. Jahrhundert (»1556 Perkwerch etc.« Das Schwazer Bergbuch, 3. Bd.), Bochum 2006, S. 632. 4 W. T SCHAN , Schwazer Bergamt (Anm. 1), S. 14f. K LAUS B R AND S TÄTT ER 182 aber die reichen Bestände der landesfürstlichen Zentralbehörden warten noch auf ihre Aufarbeitung. 1. Der Holzbedarf In der Vormoderne war Holz der zentrale Energielieferant, 5 und gerade der Bergbau benötigte dieses Material in rauen Mengen. 6 Dies stellte Gewerken und Landesfürsten vor beträchtliche Herausforderungen, als der Erzbergbau in Tirol seit den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewann. Zunächst war es Gossensass bei Sterzing, dann seit den 1440er Jahren Schwaz, und dazu kam noch eine Reihe kleinerer Bergwerke wie etwa in Primiero, auf dem Nonsberg, in Klausen und seit 1504 in den Gerichten Rattenberg und Kitzbühel. Nirgends war die Problematik derart groß wie im Schwazer Bergwerk, das seit den 1470er Jahren die Fördermenge enorm steigerte und 1523 den absoluten Produktionshöhepunkt erreichte. Damals wurden hier 62 % der Gesamtproduktion der fünf führenden europäischen Reviere erwirtschaftet, und insgesamt wurde im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Schwaz mehr als die Hälfte des in diesen Revieren erschmolzenen Silbers gewonnen, 7 ehe der Schwazer Bergbau vor allem seit der Mitte des 16. Jahrhunderts deutlich rückläufig wurde. 5 Vgl. etwa nur E RNST S CHUBERT , Der Wald: wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: B ERND H ERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 257-274; K URT M ANTEL , Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch, Alfeld-Hannover 1990; J OSEF S EMMLER (Hg.), Der Wald in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora 17), Düsseldorf 1991; H EINZ -D IETER H EIMANN , Der Wald in der städtischen Kulturentfaltung und Landschaftswahrnehmung. Zur Problematik des kulturellen Naturverhältnisses als Teil der Umwelt- und Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: A LBERT Z IMMERMANN / A NDREAS S PEER (Hg.), Mensch und Natur im Mittelalter 2 (Miscellanea Mediaevalia 21/ 2), Berlin-New York 1992, S. 866-881; E LISABETH W EINBERGER , Waldnutzung und Waldgewerbe in Altbayern im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (VSWG Beih. 157), Stuttgart 2001. 6 Vgl. nur C HRISTOPH B ARTELS , Montani und Silvani im Harz. Mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bergbau und seine Einflüsse auf die Umwelt, in: A LBRECHT J OCKENHÖVEL (Hg.), Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt (VSWG Beih. 121), Stuttgart 1996, S. 112-127, hier 121. 7 C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 716-718; P ETER F ISCHER , Die gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkrieges (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21), St. Katharinen 2001, S. 63. M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 183 Abb. 1: Topographische Überschichtskarte Tirol-Südtirol. K LAUS B R AND S TÄTT ER 184 Gerade für Schwaz ist demnach von einem äußerst hohen Holzverbrauch in der Blütezeit auszugehen, und dieser ist im Schwazer Bergbuch von 1556 recht gut dokumentiert, wenn auch schwer zu quantifizieren: Hier findet sich ein Verzeichnis der Gruben am Falkenstein - dem bedeutendsten, aber nicht einzigen Abbaugebiet - mit Angaben der Länge der Stollen und Hinweisen, »welcher Anteil davon durch Auszimmerung gesichert werden musste«. Insgesamt waren etwa 76,5 km allein an Stollen und Strecken auszuzimmern, 8 wozu noch der Holzbedarf für die Abbauhohlräume ebenso wie für die zu den Stollen gehörigen Hütten für Gerätschaften oder zum Scheiden der Erze, für Förderwägen, Leitern und Förderkübel zu rechnen wären. 9 Gerade für die Auszimmerung waren Stämme in einer bestimmten Länge notwendig, und damit die Bäume die erforderliche Größe erreichten, waren recht lange Umtriebszeiten in Rechnung zu stellen. 10 Noch größer als der Holzbedarf der Bergwerke war freilich jener für die Verhüttung der Erze. Nach Rolf-Jürgen Gleitsmann benötigte die Herstellung einer Gewichtseinheit Silber die 35-fache Menge Holzkohle, was gleichbedeutend war mit der 200-fachen Menge Holz. 11 Gleichermaßen enorme Holzmengen verschlang aber auch der Salzbergbau bei Hall in der Nähe von Innsbruck. Für die erstmals 1232 genannte Saline ist noch für das ausgehende 13. Jahrhundert belegt, dass der Holzbedarf dazu geführt hatte, nicht nur zahlreiche Seitentäler des Inntales in der weiteren Umgebung von Hall zu bearbeiten, sondern dass bereits Waldungen am Volder- und Weerbach, im Stubaital, bei Roppen sowie sogar im Pitztal und im Paznaun geschlägert wurden, deren Holz seit 1307 durch einen Rechen im Inn unmittelbar bei der Stadt Hall aufgefangen wurde. Im Laufe des 14. Jahrhunderts wurde dann das gesamte oberste Inntal intensiv genutzt, und im 15. Jahrhundert war sogar das Engadin erreicht. 12 Holzschlagsunternehmer, denen bestimmte Wälder 8 C HRISTOPH B ARTELS , Grubenholz - Holz und seine Verwendung im Bergwerksbetrieb des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, in: W OLFGANG I NGENHAEFF / J OHANN B AIR (Hg.), Bergbau und Holz, o. O. 2006, S. 9-30, hier 10, das Zitat S. 9 (im Anhang, S. 29f., ist das Verzeichnis aus dem Schwazer Bergbuch wiedergegeben); vgl. auch C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 629. 9 C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 629. 10 C. B ARTELS , Grubenholz (Anm. 8), S. 12. 11 R OLF -J ÜRGEN G LEITSMANN , Rohstoffmangel und Lösungsstrategien: Das Problem vorindustrieller Holzknappheit, in: Technologie und Politik 16 (1980), S. 104-154, hier 111f. 12 F RANZ H UTER , Die Haller Saline und ihre Bedeutung für Forstwirtschaft und Holznutzung des Landes Tirol, in: D ERS ., Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Tirols, hg. von M ARJAN C ESCUTTI / J OSEF R IEDMANN (Schlern-Schriften 300), Innsbruck 1997, S. 131-137 (zuerst in: Forstwissenschaftliches Centralblatt 73 [1954], S. 152-157), hier 134-136; R U - DOLF P ALME , Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der inneralpinen Salzwerke bis zu deren Monopolisierung (Rechtshistorische Reihe 25), Frankfurt/ Main-Bern 1983, S. 93f., 241. Zur frühen Holzversorgung außerdem (mit weiteren Details): D ERS ., Die Anfänge der M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 185 zur Bearbeitung zugewiesen wurden, sorgten für die Schlägerung und Triftung der Stämme, 13 und dieses System funktionierte anscheinend bis ins ausgehende 14. Jahrhundert problemlos; zumindest sind keine Klagen über Holzmangel oder Lieferschwierigkeiten belegt. Mit dem Aufschwung des Erzbergbaus seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aber wurde dieses System aufgegeben; offensichtlich verlangte der steigende Bedarf nach neuen Organisationsformen. 2. Maßnahmen In den Anfangszeiten der Erzförderung versorgte man sich wohl überall zunächst in der näheren Umgebung mit Holz. Waren die benachbarten Wälder geschlägert, musste man sich nach neuen Beständen umsehen, wobei darauf zu achten war, dass das Holz möglichst kostengünstig zu den Bergwerken und Schmelzhütten transportiert werden konnte, 14 weshalb man in der Folge vielfach den Standort der Schmelzhütten hin zu günstig gelegenen Stellen am Inn verlegte. Die geschlagenen Baumstämme mussten über Holzriesen ins Tal gelassen bzw. in kleinen Gebirgsbächen zu den größeren Flüssen getriftet werden. Vielfach waren für das Triften Klausen anzulegen, um den Wasserstand zu regulieren und Schwellwasser bereitzustellen, 15 neue Straßen mussten gebaut werden, um die in den Meilern oder Gruben der Köhler fabrizierte Holzkohle zu den Schmelzhütten zu transportieren, 16 und all diese Maßnahmen bargen das Risiko, den Anrainern Schäden zu verursachen, wofür rechtliche Vorsorge zu treffen war. All dies erforderte eine entsprechende, großräumige Organisation, 17 und es war das Landesfürstentum, das im Laufe der Holzbeschaffung für die Saline und das Bergwerk Hall in Tirol, in: Centralblatt für das gesamte Forstwesen 92 (1975), S. 138-162. 13 R. P ALME , Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 12), S. 233. 14 Vgl. auch G ERT G OLDENBERG , Umweltbeeinflussung durch das frühe Montanwesen. Beispiele aus dem Schwarzwald, in: A. J OCKENHÖVEL (Hg.), Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung (Anm. 6), S. 230-246, hier 243; sowie H ANS -J OACHIM K RASCHEWSKI , Schmelzhütten und ihre Energieversorgung in der frühen Neuzeit (Das Beispiel Harz), in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 85-110, hier 85. 15 J OSEFA W ALCHER , Brandenberger Holz und Holzkohle als Brennstoffgrundlage für die Schmelzhütten und Bergwerke in Rattenberg und Brixlegg im Überblick, in: W. I NGEN - HAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 301-320, hier 306f., 309f. 16 C. B ARTELS , Grubenholz (Anm. 8), S. 16. - Vgl. den Abschnitt bei A. B INGENER u. a., Bochumer Entwurf (Anm. 1), S. 359: Von dem Holzwerch […] wie das Holzwech in den Wälden unnd auf den Pächen gebraucht, als mit Schlagen, Treiben, Verkollen etc. unnd in die Schmelzhutten gebracht wiert. Vgl. auch C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 629f. 17 K ARL -H EINZ L UDWIG , Der Wald im Bergrecht. Ein Quellenproblem, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Unterinntals, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau K LAUS B R AND S TÄTT ER 186 Zeit entsprechende Rahmenbedingungen schuf, die immer weiter ausgestaltet wurden, vor allem um auf die schon bald befürchtete Holzknappheit zu reagieren. Diese fürstlichen Maßnahmen folgten finanziellen Interessen, denn die Einnahmen aus dem Bergbau übertrafen alle anderen bei weitem: 1502 blieb vom Schwazer Silberwechsel - dem landesfürstlichen Vorkaufsrecht am Produkt der Schmelzherren, das zu erhöhten Preisen weiter- oder rückveräußert wurde - ein Nettoertrag von knapp 104.000 Gulden. Dazu unterhielt der Landesfürst auch Hüttenwerke zu Innsbruck und Mühlau, die gut 55.000 Gulden einbrachten. Diese zwei Posten zusammen machten einen beträchtlichen Teil der Gesamteinnahmen aus. 18 Welche Maßnahmen wurden nun getroffen? In rechtlicher Hinsicht wurden Berggerichte geschaffen und die Bergbautreibenden von der Gerichtsbarkeit der eigentlich zuständigen Landgerichte ausgenommen. 19 Dass es dabei zu Konflikten mit den Landrichtern, aber auch den Grundherren kam, muss nicht näher erörtert werden. Schon aus der Anfangszeit des Schwazer Bergbaus ist die Problematik des Holzbezugs dokumentiert: Die dem örtlichen Gerichtsherrn nicht unterstellten Bergleute beuteten die Wälder der Umgebung aus, was durch den zuständigen Richter kaum zu ahnden war. In einer Beschwerdeschrift des Grund- und Gerichtsherrn, Wolfgang von Freundsberg, aus den Jahren zwischen 1443 und 1446 heißt es, ihm sei durch den Bergbau grosser Bruch und Irrung in mancherlei Weg geschehen an unseren Gründen, Forsten, Wäldern, Bächen, an Leuten und Gütern, an unseren alten Freiheiten, Rechten und Gewohnheiten […]. 20 Die entnervten Freundsberger sollten und Holz (Anm. 8), S. 161-179, hier 172. - Auch andernorts begegnen ähnliche Formen der Holzversorgung wie im Schwazer bzw. Tiroler Raum (landesfürstliche Verleihungen von Waldstücken bzw. Nutzung auf bestimmte Zeit oder auch Ankauf von Holz bzw. Holzkohle von Privaten); vgl. etwa E LISABETH J OHANN , Geschichte der Waldnutzung in Kärnten unter dem Einfluß der Berg-, Hütten- und Hammerwerke (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 63), Klagenfurt 1968, S. 23. 18 Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493-1519, 4 Bde., bearb. von H ERMANN W IESFLECKER u. a. (RI XIV/ 1-4), Wien u. a. 1990-2004, hier 4. Bd., Nr. 20309. 19 Vgl. nur W OLFGANG T SCHAN , Struktur und Aufgabenbereiche der Tiroler Berggerichte und des landesfürstlichen Beamtenapparates im Schwazer Bergbau an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: Tiroler Heimat 67 (2003), S. 123-140. 20 C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 657. - Von E RICH E GG , Schwaz vom Anfang bis 1850, in: D ERS . u. a., Stadtbuch Schwaz. Natur - Bergbau - Geschichte, Schwaz 1986, S. 78-216, hier 99f., auf die Zeit um 1430 datiert; ebenso von D ERS ., Schwaz ist aller Bergwerke Mutter, in: Der Anschnitt 16 (1963) Nr. 3, S. 3-63, hier 8. Vgl. dagegen C HRISTIAN F ORNWAGNER , Geschichte der Herren von Freundsberg in Tirol. Von ihren Anfängen im 12. Jahrhundert bis 1295. Mit einem Ausblick auf die Geschichte der Freundsberger bis zur Aufgabe ihres Stammsitzes 1467 (Schlern-Schriften 288), Innsbruck 1992, S. 207. M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 187 schließlich 1467 das Landgericht Freundsberg und ihre Grundbesitzungen im Raum Schwaz dem Landesfürsten verkaufen, um sich in der Folge in Mindelheim ansässig zu machen. 21 Zudem war es notwendig, eine landesfürstliche Forstverwaltung aufzubauen. Schon Ende der 1420er Jahre (wohl 1429) baten die Gossensasser Gewerken und später auch jene von Schwaz den Landesfürsten, zwei Männer mit der regelmäßigen Beschau von Wäldern zu betrauen, was dem »Ruf nach Holz-, Wald- oder Forstmeistern« gleichkam. 22 Aber es sollte noch längere Zeit dauern, bis tatsächlich eine umfangreichere landesfürstliche Behördenorganisation aufgebaut war. Zunächst kam man offensichtlich noch mit dem seit 1414 dokumentierten Forstmeister 23 aus, zumal in den für die Bedürfnisse des Bergbaus zugewiesenen Wäldern der Salzmair bzw. die Bergrichter gewisse Kompetenzen innehatten. Neue Ämter entstanden schließlich vor dem Hintergrund der Ausweitung der landesfürstlichen Verfügungsmöglichkeiten über die Wälder. Da die in direkter landesfürstlicher Gewere stehenden Wälder nicht genügten, griff man auf die ausgedehnten Allmendwälder zurück 24 und erhob mit Hinweis auf das Forstregal Anspruch auf »uneingeschränkte Verfügung« über diese traditionellerweise von den Gemeindebewohnern genutzten Wälder, deren Nutzungsrechte nun massiv eingeschränkt wurden. 25 Hatten die Landesfürsten im Zusammenhang mit dem Holzbedarf der Saline bereits im 14. Jahrhundert die Forsthoheit deutlich betont und formuliert: Es ist auch ze wissen, das alle weld und päch in der graffschaft ze Tyrol der herschaft sind, 26 so wurde dieser Standpunkt »mit zunehmender Vehemenz« 27 seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vertreten, indem den Bauern zur Deckung des Eigenbedarfs anstelle der weitgestreckten Allmendwälder nur noch zugewiesene Waldanteile zur Verfügung stehen sollten. 28 Auch die Grundherren hatten sich zu beugen: So hatten z. B. die Klöster 21 C. F ORNWAGNER , Herren von Freundsberg (Anm. 20), S. 208f. 22 K.-H. L UDWIG , Der Wald im Bergrecht (Anm. 17), S. 169. Die Quelle ist ediert bei S TEPHEN W ORMS , Schwazer Bergbau im fünfzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte, Wien 1904, Beilage 3, S. 105f.; vgl. P ETER M ERNIK , Holz für den Bergbau aus Tirols Wäldern nach den Bestimmungen des Codex Maximilianeus, in: W. I NGEN - HAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 181-208, hier 186. 23 H EINRICH O BERRAUCH , Tirols Wald und Waidwerk. Ein Beitrag zur Forst- und Jagdgeschichte (Schlern-Schriften 88), Innsbruck 1952, S. 51. 24 H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 38. 25 W. T SCHAN , Schwazer Bergamt (Anm. 1), S. 193; vgl. H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 101. 26 R. P ALME , Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 12), S. 233; H. O BER - RAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 39. 27 W. T SCHAN , Struktur und Aufgabenbereiche (Anm. 19), S. 130. 28 H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 40. K LAUS B R AND S TÄTT ER 188 Georgenberg und Tegernsee ihre umfangreichen Waldungen im Achental den Interessen des Bergbaus dienstbar zu machen. 29 Betont wurden solche Ansprüche in den Bergordnungen, in denen immer Bestimmungen zur Holzversorgung enthalten waren, wie auch in den darauf folgenden Holz- und Waldordnungen. Hier finden sich zunehmend Regelungen, die die Wälder vor Schäden und Raubbau schützen und damit die langfristige Nutzung sicherstellen sollten. Bereits in der ersten Tiroler Bergordnung von 1427 wurden den Gewerken Schlägerungen ausschließlich zum Zweck der Verkohlung und der Gewinnung von Grubenholz erlaubt. 30 Gleichzeitig wurde der Kahlschlag zur Norm erklärt, 31 indem den Holzknechten geboten wurde, jeweils die Schlagflächen von unten nach oben untz an das joch (bzw. auch umgekehrt) zu bearbeiten und dabei alles holts, klaines und grosses zu schlägern und nicht die besten Stämme auszuwählen; bevor diese ›Maissen‹ (abgeholzter Waldteil) nicht fertig bearbeitet seien, sei keine weitere Schlagfläche in Angriff zu nehmen. 32 In der sehr ausführlichen Schwazer Bergordnung von 1449 wurde diese Form der flächenhaften Holznutzung im Verlauf der Hangneigung bestätigt. 33 In einer um 1460 für die Bedürfnisse 29 L UDWIG S ÖLDER , Das Achental (Achensee, Tirol). Landschaft, Wirtschaft und Siedlung (Schlern-Schriften 195), Innsbruck 1959, S. 22. - Allgemein zum Aspekt der Versorgung des Schwazer Bergwerks und der Hütte in Brixlegg vgl. auch F RANZ M ATHIS , Versorgungswesen in Bergbaugebieten am Beispiel Schwaz. Forschungsstand und Forschungslücken, in: K LAUS O EGGL / M ARIO P RAST (Hg.), Die Geschichte des Bergbaus in Tirol und seinen angrenzenden Gebieten. Proceedings zum 3. Milestone-Meeting des SFB HiMAT vom 23.- 26.10.2008 im Silbertal, Innsbruck 2009, S. 25-35, hier 30. 30 E. E GG , Schwaz vom Anfang bis 1850 (Anm. 20), S. 102. Die Bergordnung von 1427 ist gedruckt bei S. W ORMS , Schwazer Bergbau (Anm. 22), Beilage 1, S. 99-103, hier 101: […] Es sol auch niemand holtz slahn, er well das dann selber zu kol brennen oder das den grubmaistern gebn zu notturft des egenantn unsers perkwerks […]. 31 K.-H. L UDWIG , Der Wald im Bergrecht (Anm. 17), S. 162; H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 49. - In der Ordnung von 1427 heißt es: Und als weiten ainer ainen mayss [ = Holzschlag] an dem untristen für sich nimpt, als weiten sol er den verarbaiten von iar zu iar auf nach der hohe untz an daz joch und dazwischen kainen andern mayss für sich nehmen und auch alles holts klaines und grosses slahn und nicht die wal darinne haben; S. W ORMS , Schwazer Bergbau (Anm. 22), Beilage 1, S. 99-103, hier 100f.; H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 92. 32 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 184f. 33 E. E GG , Schwaz vom Anfang bis 1850 (Anm. 20), S. 103. Vgl. auch F RITZ S TEINEGGER , Waldordnungen für den Schwazer Bergbau und die Waldbeschreibung des Waldamtes Schwaz vom Jahre 1718, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 229-237, hier 230; H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 51. Die Bergordnung von 1449 ist gedruckt bei S. W ORMS , Schwazer Bergbau (Anm. 22), Beilage 7, S. 111- 127, hier 117: Als sich das bergwerck beschwährt und beklagt von wegen der walder und holzwerch in den schwarzwalden und anderstwo, da wollen wir, das solche wäld und holzwerch nutzbahrlich gearbeitet werde, alsdan von unseren alten herrn seliger gedächtnus [Herzog Friedrich IV.] herkommen ist, das M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 189 des Bergbaus erstellten Holzordnung stellte man vor allem die Brandrodung in den Wäldern seitens der Bauern - also das Schwenden und Brennen für den Waldfeldbau, der in der vormodernen Landwirtschaft eine große Rolle spielte - unter Strafe, damit das holz wider gewachsn mug. 34 Im ›Weißkunig‹ ist über den römisch-deutschen König Maximilian, der ab 1490 in Tirol regierte, zu lesen: er hat auch mit dem holz zu den perkwerchen sölich ordnung gemacht und geben, das er kunftigen mangel verhuet hat. 35 Tatsächlich wurden unter diesem Fürsten Reformen durchgeführt und zahlreiche Ordnungen erlassen, womit letztlich auch die Forstverwaltung auf eine neue Grundlage gestellt wurde: In der Saline installierte er eigene ›Amtswaldmeister‹, und die Schwazer Bergwerksordnung von 1490 machte das Bergwerk endgültig von allen bisherigen Verwaltungsinstanzen unabhängig, wobei dem Bergrichter nunmehr besondere ›Holzmeister‹ zur Seite gestellt wurden, die die Arbeit der Holzknechte zu überwachen hatten; 36 die Bergwerkswälder reichten von Rettenberg und Weer bis zum Schlitterer Berg, und dazu kamen die reichen Achentaler Wälder. 37 Während ein eigener ›Holzkäufer‹ für die Holzversorgung des Bergwerks zuständig war, ließen sich die schmelzenden Gewerken mit eigenen Hüttenwerken zum Teil vom Landesfürsten Wälder verleihen, 38 in denen die Schlägerung ausschließlich für Zwecke des Bergwerks zu erfolgen hatte; die Begünstigten durften außerdem nicht willkürlich Holzschläge anlegen, sondern hatten die Ausweisung durch Beauftragte des Bergrichters abzuwarten. 39 Teils bezogen die Gewerken auch Holz und Holzkohle direkt über die mans von unterist unzt zu oberst verarbeit treulich und ohngefährlich, damit dem bergwerk kein nachtheil darinnen bescheche. 34 S. W ORMS , Schwazer Bergbau (Anm. 22), Beilage 11, S. 135-138; vgl. H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 50. Schon 1385 hatte der Landesfürst Brandrodungen in Wäldern, die Holz für die Saline lieferten, verboten; H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 46. 35 Zitiert bei J ULIUS T RUBRIG , Die Organisation der landesfürstlichen Forstverwaltung Tirols unter Maximilian I., in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 3 (1906), S. 309-354, hier 315. 36 R. P ALME , Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 12), S. 412; H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 79; J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 318; W. T SCHAN , Struktur und Aufgabenbereiche (Anm. 19), S. 128f. 37 F. S TEINEGGER , Waldordnungen (Anm. 33), S. 230. 38 C. B ARTELS , Grubenholz (Anm. 8), S. 15. 39 J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 320. - Eine textkritische Edition der Ordnung wird von Wolfgang Ingenhaeff vorbereitet; Auszug (allerdings kaum Wald und Holz betreffend) gedruckt in I NGE W IESFLECKER -F RIEDHUBER (Hg.), Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 14), Darmstadt 1996, S. 50-54. K LAUS B R AND S TÄTT ER 190 landesfürstlichen Organe, wobei der Bedarf im Vorhinein errechnet und die benötigten Mengen durch landesfürstliche Schlagunternehmer gefällt wurden. 40 Alle Wälder des Ober- und Unterinntales sowie des Wipptales, die nicht der Saline bzw. den Bergwerken zugewiesen waren, wurden im Rahmen der Reformen Maximilians einem sogenannten ›gemeinen Waldmeister‹ unterstellt, und damit kam es endgültig zur Trennung der Verwaltung der landesfürstlichen Amtswälder von jener der ›gemeinen Wälder‹. 41 Nur in diesen Wäldern standen den Gemeinden Nutzungsrechte zu. Im Zusammenhang mit den Reformen war 1502 eine Bereitung durch eine Kommission erfolgt, die alle Wälder je nach Verwendungszweck ›auszuzeigen‹ hatte, falls dies nicht schon geschehen sei, wobei alle Holzbezugs-, Weide- oder sonstige Waldgerechtigkeiten urkundlich belegt werden mussten. 42 Einige dieser administrativen Maßnahmen wurden in der ältesten Tiroler Waldordnung von 1492 verkündet. Hier sind bereits Grundsätze einer schonenden Bewirtschaftung der Wälder zu finden, 43 die auch in der umfangreichen Ordnung für die Gemeinwälder von 1502 44 wiederkehren. Beide Ordnungen gelten als Marksteine in der Forstgeschichte, jedoch handelt es sich zweifellos nicht um die ältesten territorialen Regelungen dieser Art; Speyer ging etwa 1442 voraus. 45 Die Ordnung 40 J. W ALCHER , Brandenberger Holz (Anm. 15), S. 304f. 41 H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 79. 42 J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 335. Die Waldordnung für das Inn- und Wipptal vom 24. April 1502 ist ediert bei H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), Beilage 16, S. 128- 132. 43 Vgl. etwa F. S TEINEGGER , Waldordnungen (Anm. 33), S. 231; H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 55; P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 189. - Ediert bei H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), Beilage 15, S. 126f.: Wegen Beschwerden der Untertanen über für sie nachteilige Verleihungen von Gemeinden und Auen durch den Forstmeister sowie wegen des Holzmangels sollten künftig die Verleihungen gemeinsam durch Gerichtspfleger und Forstmeister mit Willen und Wissen der Gemeinde erfolgen. Jährlich habe es Waldbereitungen des Forstmeisters mitsamt einem Geschworenen und Waldknecht aus der Saline zu geben, wozu diese jeweils den Gerichtspfleger zu sich nehmen und auszeigen sollten, was die Gerichte an Brennholz, Kohlholz etc. benötigen würden. Diese ausgezeigten Wälder sollten sie dann vellen und abslahen vom unnderisten untz zum obristen. Eigenmächtige Rodungen wurden untersagt. 44 J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 335; ediert bei H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), Beilage 16, S. 128-132. 45 K URT M ANTEL , Forstgeschichte des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Forstordnungen und Noe Meurers (Schriftenreihe der forstwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br.), Hamburg-Berlin 1980, S. 293. Allgemein zu Waldordnungen vgl. etwa auch C HRISTOPH S ONNLECHNER / V ERENA W INIWARTER , Räumlich konzentrierter Verbrauch von Holz. Das Beispiel der Saline Hallein und der Stadt Salzburg vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: W OLFRAM S IEMANN u. a. (Hg.), Städtische Holzversorgung. Macht- M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 191 von 1502 war schließlich Grundlage für die umfassende Ordnung der Gemeinwälder des Jahres 1551 unter König Ferdinand I., 46 die wiederum 1626 mit der Amtswaldordnung von 1541 »zu einer einheitlichen Tiroler Waldordnung vereinigt« wurde. 47 Insgesamt erreichte die Forstgesetzgebung zur Mitte des 16. Jahrhunderts einen gewissen Abschluss. Endgültig wurde nun die landesfürstliche Forsthoheit durchgesetzt, indem die Nutzung der gemeinen Wälder durch die Untertanen nur noch als Gnade bezeichnet wird. 48 Die jeweils gültigen Waldordnungen waren anlässlich der alljährlichen ›Waldbereitung‹, der kommissionellen Waldinspektion zu Pferd, den Untertanen zu verkünden, und in diesem Zusammenhang erfolgte auch die Zuweisung der für den Eigenbedarf gedachten Waldstücke. Der Waldmeister wurde angehalten darauf zu achten, dass die Gerichtsleute ihre Mähder und Almen nicht ausweiteten, damit unnsere Wäld unnd Helzer nit geschmelert werden, und er sollte die abgeholzten Flächen zu Herwidererzuglung und Wachsung aines schenen Wald in Hege und Pflege nehmen. Der Verkauf oder auch nur Transport von Holz war verboten, solange dies nicht durch den Waldmeister bewilligt worden war. Die Gemeindebewohner sollten auf ihrer Waldweide (sofern ihnen diese erlaubt war) keinen Brand tun und die Abfälle zu ainem Hauffen tragen und verfaulen lassen oder anderweitig nutzen. Auch die jungen Peschl [Büschel], daraus ain schener Wald erwaxen mecht, nit abhackhen noch außreisen, allain es wer so dikh ineinannder erwachsen, das das Vich nit durchkomen mechte unnd ain Paum den anndern am Gewäx verhinderte, sol inen ain zimblichs Raumen darynnen vergonnt werden. Für die Viehweide durften Baumäste bis zu einer Höhe, die einer mit der Axt erreichen kann, abgeschnitten werden, ohne dass die Stämme dabei Schaden politik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750-1850) (ZBLG Beih. 22), München 2003, S. 55-77. 46 Die Ordnung wurde ins Schwazer Bergbuch aufgenommen und findet sich daher ediert bei A. B INGENER u. a., Bochumer Entwurf (Anm. 1), S. 409-417. 47 J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 337. - Die 1625 erlassene Ordnung für die Wälder beim Schwazer Bergwerk und die 1685 publizierte Ordnung für das Ober- und Unterinnsowie das Wipptal wurden neuerdings thematisiert von E LISABETH B REITEN - LECHNER u. a., Von der (Über)Nutzung eines ökologischen und sozialen Raumes am Beispiel des Montanreviers Schwaz im 17. Jahrhundert - eine interdisziplinäre Annäherung, in: L ARS K REYE u. a. (Hg.), Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch- Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit: Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen, Göttingen 2009, S. 51-76, hier 66f. 48 H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 113; J ULIUS T RUBRIG , Die Beschreibung und Schätzung der Tiroler Amtswälder vom Jahre 1555, in: Österreichische Vierteljahresschrift für Forstwesen NF 15 (1897), S. 207-237, hier 207; A NGELIKA W ESTER - MANN , Interessenkonflikte zwischen Forst- und Montanwirtschaft in der Frühen Neuzeit. Lösungsversuche des Hauses Habsburg, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 321-336, hier 331. K LAUS B R AND S TÄTT ER 192 nehmen sollten. Insgesamt wurde viel Wert auf Sparsamkeit und Pflege des Waldes gelegt: Das Windwurf- und Dürrholz sollte gesammelt und verkohlt werden. Um möglichst wenig zu verschwenden, sollten die Daubenmacher ihren Bedarf aus den Wäldern der Schmelzherren decken, damit das übrig Holz nit umbsonnst unnd unzimblichen erfaul, sonnder zu Laden und Gestenngen zu Nuz gebracht werde. Jeweils sollte das älteste Holz zuerst gefällt und das junge geschont und gehegt werden. Niemandem sollte gestattet sein, in Wäldern, die verhakht unnd verarbait waren oder worin bereits ain Jungholz widerumb darinn erwaxen würde, landwirtschaftlich nutzbare Flächen anzulegen; sollte man nicht in Erfahrung bringen können, wer für die Schäden verantwortlich sei, so sollte alßdann die gannz Nachperschafft daselbs […] darumb furgenomen und gestrafft werden. 49 Schon 1502 war die Bestellung von ›Holzrügern‹ dekretiert worden, zwei bis fünf Personen aus den grundbesitzenden Untertanen der Gemeinden, um die Arbeit der Waldmeister und Forstknechte, deren Zahl für eine rigorose Durchsetzung der Waldordnung offenbar nicht ausreichte, zu unterstützen. 50 Freilich zeigten sich hier die Grenzen des Systems, denn anlässlich der Waldbereitung von 1505 wurden Übertretungen von den Rügern nur ausnahmsweise auch tatsächlich angezeigt. 51 Neben diesen Ordnungen wären noch zahlreiche weitere lokale Ordnungen zu erwähnen, die allesamt das Ziel verfolgten, »keine Ressourcen zu verschwenden«, 52 die Geschlossenheit des Waldbestandes zu gewährleisten, den Jungwald zu hegen und vor allem die Allmendwälder für die Bedürfnisse des Bergbaus nutzbar zu machen; selbst der Holzverkauf aus im Eigenbesitz befindlichen Wäldern wurde erschwert, indem die Bergwerke ein Vorkaufsrecht geltend machen konnten. 53 Naturgemäß führte die Reduktion der Nutzung der ausgedehnten Allmendwälder auf einzelne zugeteilte Stücke zu ständigen Klagen, und gerade in besonders waldreichen Gegenden beschwerten sich die Untertanen, dass sie ihren Eigenbedarf nur noch mangelhaft decken könnten. 54 Wiederholt wurde im 16. Jahrhundert den 49 A. B INGENER u. a., Bochumer Entwurf (Anm. 1), S. 413. 50 M ARTIN P. S CHENNACH , Recht, Gesetz und Nutzungskonkurrenzen. Konflikte um den Wald in der frühen Neuzeit, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 209-228, hier 209. 51 M. P. S CHENNACH , Recht, Gesetz und Nutzungskonkurrenzen (Anm. 50), S. 210. - Das 1625 dekretierte Verbot der Waldweide wurde offenbar - nach einem Bericht des Schwazer Bergrichters von 1669 - häufig missachtet; E. B REITENLECHNER u. a., (Über)Nutzung (Anm. 47), S. 67f. 52 C. B ARTELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 631. 53 H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 117. 54 H. W OPFNER , Almendregal (Anm. 2), S. 101. - Der Eifer der Forstbeamten ging manchmal sogar so weit, die Ausrottung des Waldanfluges auf den Weiden der Bauern zu verbieten; vgl. die Beschwerde am Landtag von 1511 sowie die Klage der Gemeinde Mauern bei Steinach 1504 (ebd.). M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 193 Ansuchen von Gemeinden, für den Eigenbedarf den Gemeinwäldern Holz zu entnehmen, mit Hinweis auf die Bedürfnisse des Bergbaus nicht entsprochen. 55 Auch in anderen Territorien führte der steigende Holzbedarf und die Furcht vor Holznot vor allem seit dem 16. Jahrhundert zu Waldordnungen, wobei in der Regel die »Konzentration der willkürlichen plätzeweisen Nutzung auf Schlagflächen« 56 entscheidend war; gerade bei größerem Bedarf bot sich der großflächige Kahlschlag an. 57 In allen diesen Wald- und Forstordnungen findet sich der grundsätzliche Gedanke, dass Holz »kein unbegrenzt frei verfügbares, sondern ein ›Wirtschaftsgut‹ [sei], mit dem man ›haushalten‹ müsse«. 58 Am stärksten wurden Eigentums- und Nutzungsansprüche an den Wäldern allerdings in den Bergwerksgebieten im Gebirge erhoben, wohl weil hier der Bedarf durch Salzerzeugung und Metallgewinnung am größten war und weil man aufgrund der Salinenbetriebe bereits über umfangreiche Erfahrungen verfügte, ehe der Erzbergbauboom einsetzte. 59 3. Der Holzverbrauch und das Problem der Holzknappheit Aufgabe der landesfürstlichen Forstorgane war es auch, die Wälder im Hinblick auf die künftige Verwertbarkeit zu visitieren und Bestandsschätzungen abzugeben, die sich leider nur zum Teil erhalten haben. Erstmals fand 1459 eine Beschau der landesfürstlichen Wälder im oberen Inntal speziell für die Bedürfnisse der Haller Saline statt, deren Ergebnisse allerdings kaum präzise Angaben enthalten. 60 Maximilian ordnete 1502 an, den Bedarf der Saline und der fürstlichen Hofhaltung zu erheben, indem die in Innsbruck und Hall auf den Lenden angelieferten Stämme gezählt werden sollten. 61 Lässt sich der Bedarf näher quantifizieren? Christoph Bartels hat für das Oberharzer Revier, das um die 3.000 Mann beschäftigte, jährlich benötigte Holzmengen 55 Vgl. Mandat Ferdinands 1524 (TLA, Buch Tirol, Bd. 1, fol. 409); Entscheidung der Regierung 1553 (W. T SCHAN , Schwazer Bergamt [Anm. 1], Nr. 217, S. 207f.) usw. 56 K. M ANTEL , Forstgeschichte (Anm. 45), S. 116f. 57 K. M ANTEL , Forstgeschichte (Anm. 45), S. 315. 58 R.-J. G LEITSMANN , Rohstoffmangel (Anm. 11), S. 118. 59 K. M ANTEL , Forstgeschichte (Anm. 45), S. 262; vgl. auch K.-H. L UDWIG , Der Wald im Bergrecht (Anm. 17), S. 164; N ILS F REYTAG , Deutsche Umweltgeschichte - Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283 (2006), S. 383-407, hier 390; J OACHIM R ADKAU , Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 167f. 60 J ULIUS T RUBRIG , Eine »Holzbeschau« in den landesfürstlichen Wäldern des Ober-Innthales im Jahre 1459, in: Österreichische Vierteljahresschrift für Forstwesen NF 14 (1896), S. 346-359. 61 RI XIV/ 4, Nr. 16462. K LAUS B R AND S TÄTT ER 194 in der Höhe von über 40.000 Stämmen ermittelt; dazu trat der Bedarf an Holz für Holzkohle und Feuerholz, der etwa fünfbis sechsmal so groß wie der an Bauholz war. 62 Zu bedenken ist dabei, dass Schwaz in der Blütezeit weit mehr Leute beschäftigte. Kärnten, eines der Zentren der europäischen Eisenproduktion, soll für den Bergbau um die Mitte des 16. Jahrhunderts jährlich mehr als 220.000 Festmeter Holz und damit ca. 1.000 Hektar Wald verbraucht haben. 63 Für Tirol stehen zumindest einzelne Hinweise zur Verfügung: So soll allein die Kupferhütte zu Rattenberg im Jahr 1517 aus den Brandenberger Wäldern (nördlich von Rattenberg) bis zu 200.000 Stämme benötigt haben. 64 1616 wurden für die Produktion von 90.000 Fudern Salz in der Haller Saline 800.000 Stämme geschlagen. 65 Für die 1523 am Falkenstein gewonnenen Erze und die daraus erzeugten 15,6 Tonnen Silber und 1.120 Tonnen Kupfer hat Peter Mernik ca. 300.000 Festmeter Holz, für die jährliche Salzproduktion von etwa 15.000 Tonnen in Hall ca. 225.000 Festmeter Holz errechnet und auf dieser Basis »den notwendigen jährlichen Holzeinschlag für Bergbau, Hütte und Salzerzeugung« im gesamten Tiroler Raum auf mindestens 800.000 Festmeter geschätzt. 66 Heute beträgt der Holzeinschlag in Nordtirol ca. 1,3 Millionen Festmeter jährlich, wobei man aber selbstverständlich für frühere Zeiten die Probleme der Holzbringung zu berücksichtigen hat, weshalb vor allem Wälder, die möglichst nahe bei den Verbrauchern bzw. an für die Trift geeigneten Gewässern lagen, bewirtschaftet wurden. 67 Ob die Schätzungen zu hoch gegriffen sind oder nicht, der Bergbau benötigte in jedem Fall enorme Mengen Holz. In der Literatur wird nun fast durchgehend auf den »eklatanten Holzmangel« verwiesen, 68 der seit dem ausgehenden Mittelalter nicht nur in Tirol fühlbar gewesen sei. Dass sich überall die Transportwege verlängerten, hatte Auswirkungen auf die Kosten. Ob dies zum Abschwung des Bergbaus seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beitrug, ist eine offen diskutierte Frage. 69 Für manche Reviere wurde festgestellt, dass das Nachwachsen der Holzbestände nicht mit dem Verbrauch Schritt halten konnte, weshalb sich erst nach einer Phase des Rückgangs der Bergbauaktivitäten die Wälder wieder entsprechend 62 C. B ARTELS , Grubenholz (Anm. 8), S. 11f. 63 R.-J. G LEITSMANN , Rohstoffmangel (Anm. 11), S. 113. 64 J. W ALCHER , Brandenberger Holz (Anm. 15), S. 110. 65 H ERMANN W OPFNER , Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben des Tiroler Bergbauern, 3. Bd. (Schlern-Schriften 298 = Tiroler Wirtschaftsstudien 49), Innsbruck 1997, S. 576. 66 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 182f. mit Anm. 9. 67 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 183. 68 Z. B. R UDOLF P ALME , Das Messingwerk Mühlau bei Innsbruck. Ein Innovationsversuch Kaiser Maximilians I. Aus den Quellen dargestellt, Hall i. T. 2000, S. 88. 69 Vgl. E KKEHARD W ESTERMANN , Konflikte und Probleme bei der Holzversorgung von Berg- und Hüttenbetrieben Mittel- und Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 337-353, hier 353. M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 195 erholt hätten. 70 Auch nach Christoph Bartels belastete der enorme Holzbedarf »den Wald über die Grenzen der dauerhaften Regenerationsfähigkeit hinaus«, woraus sich in manchen Revieren der Zwang zu Betriebseinschränkungen ergeben habe. 71 Tatsächlich scheint auch aus den Tiroler Ordnungen wie aus weiteren Quellen hervorzugehen, dass das Holz seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert knapp war. Als etwa die Stollenbauten am Falkenstein in immer größere Tiefe vordrangen, forderten die Bergbauunternehmer 1524 die Regierung auf, Maßnahmen gegen die ›Verschwendung‹ und ›Verderbung‹ der Wälder zu ergreifen und ihnen außerdem die Wälder zu Roppen im Oberinntal für die Bedürfnisse des Bergbaus zu verleihen, und die benachbarten Wälder zu künftiger Verwendung zu schonen und zu hegen, aus Ursachen, das man lang und groß Zimerholz zum Bergkhwerch haben mues […], das man aus den engen Tälern und auf den clainen Pächen unzerbrochen und on grossen Costen nit bringen mag. 72 Freilich ging es den Gewerken in aller Regel darum, die Kosten möglichst gering zu halten; auf generelle Holzknappheit lässt dies nicht unmittelbar schließen. Auffällig ist z. B., dass unter den mannigfaltigen Beschwerden der Bergleute Probleme der Holzversorgung weit weniger intensiv thematisiert werden als solche rechtlicher Natur bzw. der Lebensmittelversorgung. 73 Und wenn die Waldordnung von 1551 in Erinnerung ruft, dass die Schmelzherren Holz aus dem ihnen verliehenen Wald nicht verkaufen, sondern ausschließlich für den Schmelzvorgang verbrauchen sollten, 74 so könnte man auch schlussfolgern, dass es offenbar immer wieder freie Ressourcen gab. Ebenso ist der in den Waldordnungen dokumentierte Versuch, die Wälder angesichts des großen Bedarfs für die Zukunft zu erhalten, nicht direkt mit gravierendem Holzmangel gleichzusetzen. Wenn seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stets zu sparsamem Umgang mit den Holzvorräten und zur Unterlassung unbefugter Rodungen aufgerufen und fast schon »stereotyp auf die ansonsten eintretende oder schon gegebene Holzverschwendung durch die Untertanen« verwiesen wird, so handelte es sich jedenfalls um die obrigkeitliche Wahrnehmung eines vereinzelten oder allgemein verbreiteten Missstands. 75 So wandte sich Herzog Sigmund 1473 in zwei Mandaten »gegen unkontrollierte Holzschlägerungen und Holzverkauf durch die Untertanen«. 76 In diesem Zusammenhang ist der Entstehungsprozess 70 G. G OLDENBERG , Umweltbeeinflussung (Anm. 14), S. 244. 71 C. B ARTELS , Montani und Silvani (Anm. 6), S. 122. 72 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 205. 73 Dies zeigt der Blick auf seit dem 15. Jahrhundert wiederholt dokumentierte Klagen. 74 A. B INGENER u. a., Bochumer Entwurf (Anm. 1), S. 410. 75 M. P. S CHENNACH , Recht, Gesetz und Nutzungskonkurrenzen (Anm. 50), S. 221. Vgl. auch C. S ONNLECHNER / V. W INIWARTER , Verbrauch von Holz (Anm. 45), S. 66. 76 M. P. S CHENNACH , Recht, Gesetz und Nutzungskonkurrenzen (Anm. 50), S. 221f. K LAUS B R AND S TÄTT ER 196 der Mandate rekonstruierbar: Ausgangspunkt war die Meldung über Missstände in zwei Gerichten, und am Ende stand der Erlass eines allgemein gehaltenen Mandats ohne räumlich beschränkten Geltungsbereich. 77 Letztlich diente der Hinweis auf die Verschwendung und Verwüstung der Wälder als Legitimation für Eingriffe in die Nutzungs- und Eigentumsrechte der Untertanen, worauf Joachim Radkau schon vor einiger Zeit hingewiesen hat. 78 Unschwer zu erkennen ist etwa das obrigkeitliche Interesse an der Jagd, wenn in der Ordnung von 1551 das Aufstellen unnötiger Zäune mit dem Hinweis verboten wurde, dass dardurch […] die Unndertanen unnsere Wäld und Helzer vasst ernemen, verschwenden und verderben. 79 Die bislang bekannt gewordenen Quellen scheinen mir jedenfalls kein eindeutiges Bild zu zeichnen, ob man für Tirol seit dem ausgehenden Mittelalter von spürbarem Holzmangel sprechen kann, abgesehen selbstverständlich von vorübergehenden Engpässen, denn Versorgungsprobleme gehörten zum Alltag. 80 So teilte etwa Maximilian 1501 dem Innsbrucker Regiment seine Absicht mit, die Salzproduktion in Hall zu erhöhen. Sollten die zur Saline gehörigen Wälder zur Deckung des vermehrten Holzbedarfs nicht ausreichend sein, so könnte man mit recht geringen Kosten genügend Holz aus dem Vinschgau, wo das Holz ansonsten verfaule, über den Reschenpass bzw. aus dem Allgäu über den Fernpass nach Hall liefern. 81 Im Gegensatz dazu meinte er zwei Jahre später, dass für Schwaz zu befürchten sei, dass einige Betriebe binnen kurzem aufgrund von Holzmangel stillgelegt werden müssten, weshalb man unverzüglich Verhandlungen über einen Austausch von Wald und Holz mit dem Salzburger Erzbischof aufnehmen solle. 82 Tatsächlich größere Probleme könnten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgetreten sein, die sich allerdings in der Folge aufgrund sinkender Produktionszahlen wieder relativiert haben mögen. 83 77 M. P. S CHENNACH , Recht, Gesetz und Nutzungskonkurrenzen (Anm. 50), S. 221f. 78 J OACHIM R ADKAU , Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 513-543, hier 516. 79 A. B INGENER u. a., Bochumer Entwurf (Anm. 1), S. 413. 80 Vgl. J. R ADKAU , Holzverknappung (Anm. 78), S. 523. Vgl. auch N. F REYTAG , Umweltgeschichte (Anm. 59), S. 389; E. W EINBERGER , Waldnutzung (Anm. 5), S. 42; P AUL W ARDE , Waldnutzung, Landschaftsentwicklung und staatliche Reglementierung in der frühen Neuzeit, in: S ÖNKE L ORENZ / P ETER R ÜCKERT (Hg.), Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten. Zur Umweltgeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg B/ 173), Stuttgart 2009, S. 199-217. 81 RI XIV/ 3, Nr. 11326. 82 RI XIV/ 4, Nr. 17250. 83 Im Zusammenhang mit einer Waldbereitung der Jahre 1718-1722 stellen E. B REITEN - LECHNER u. a., (Über)Nutzung (Anm. 47), S. 69, fest, dass trotz des Hinweises auf allenthalben »verhackte« Wälder nicht der Eindruck von Holznot vermittelt werde: »Es sei M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 197 4. Zur Diskussion um den Rückgang des Waldes Es ist bekannt, dass durch den Bergbau ganze Landstriche ihr Gesicht wandelten. »Sie wurden zu Montanlandschaften geprägt von Grubenbetrieben mit ihren Kauen und Scheidebänken, von hohen Göpelwerken und Halden, von rauchspeienden Schmelzhütten, schwelenden Röstplätzen und schlammigen Waschwerken und schließlich von großen künstlich angelegten Teich- und Grabensystemen […]«. 84 Der Zittauer Stadtschreiber und Humanist Paul Schneevogel (Paulus Niavis) gab zwischen 1493 und 1495 in Leipzig eine kleine Schrift heraus, worin Merkur als Anwalt der Erde mit Blick auf die 1479 gegründete Bergstadt Schneeberg im westlichen Erzgebirge auf die »Raserei der Menschen« verweist: Die Erde »sei nun am ganzen Körper voller Wunden und blutbespritzt: ›Keine Spur mehr von Anmut und Schönheit, ihr Aussehen ist völlig verändert gegen früher, nichts davon ist mehr da‹ «. Über die Köhler sei kaum zu sagen, welchen Schaden sie den heiligen Hainen und den Musen zufügten. »Auch den übrigen Göttern und Göttinnen, die in diesen Wäldern wohnen, hauen sie die Tannen, Eichen, Buchen und den Ahorn ab, verbrennen sie und verwandeln sie in Kohlen, damit die Erzschmelzer ihrer Leidenschaft frönen können«. Auch wenn dem bergbautreibenden Menschen am Ende Recht gegeben wird, so wird doch auf die damit zusammenhängenden Gefahren hingewiesen, während Agricola einige Zeit später die Argumente gegen den Bergbau als nicht stichhaltig wertet. 85 Für viele Bergbaureviere finden sich seit dem ausgehenden Mittelalter Berichte über große Waldzerstörungen; da die benachbarten Wälder vielfach abgeholzt waren, musste in weiter entfernten Gebieten geschlagen werden. 86 Eine 1521 erhobene Bestandsaufnahme für das Gastein-Rauriser Revier ergab, dass im Gasteiner Tal 75 % der Waldfläche verhackt war und in Rauris nur noch ca. 1 / 6 des Waldes existierte, so dass die Holzkohleversorgung lediglich für die nächsten 25 Jahre durchaus noch reichlich Holz für die Zwecke des Bergbaus vorhanden und auch die Zukunftsperspektiven der Waldungen um Schwaz wurden positiv beurteilt«. 84 L OTHAR S UHLING , Hüttentechnik und Umwelt im 16. Jahrhundert, in: G ÜNTER B AYERL u. a. (Hg.), Umweltgeschichte - Methoden, Themen, Potentiale, Münster 1996, S. 87-102, hier 88. 85 L. S UHLING , Hüttentechnik (Anm. 84), S. 89f.; H ELMUT L ACKNER , »Es ist die Bestimmung der Menschen, daß sie die Berge durchwühlen«. Bergbau und Umwelt, in: S YLVIA H AHN / R EINHOLD R EITH (Hg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder - Forschungsansätze - Perspektiven (Querschnitte 8), Wien-München 2001, S. 77-98, hier 81-83; J. R ADKAU , Natur und Macht (Anm. 59), S. 180f. 86 Vgl. etwa H ARALD T HOMASIUS , Der Einfluß des Bergbaus auf Wald- und Forstwirtschaft im sächsischen Erzgebirge bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tharandt 1995, S. 21. K LAUS B R AND S TÄTT ER 198 gesichert zu sein schien; außerdem gaben Lawinenabgänge bereits Anlass zur Sorge. 87 Dass der Raum Schwaz sich durch den florierenden Bergbau zu einem großen Montangebiet mit beträchtlicher Bevölkerungskonzentration entwickelte, ist bekannt. Der lange Zeit rücksichtslose Zugriff auf die Holzressourcen führte zu Umweltveränderungen, die gut nachweisbar sind. Gerade die Wälder in der Umgebung von Schwaz waren schon bald ausgebeutet, so dass es zum Streit um die Ressourcen kam. 88 Der vor dem Bergbauboom sicherlich bewaldete Falkenstein erscheint in der Abbildung im Schwazer Bergbuch fast zur Hälfte von Halden bedeckt. Der Bergbau hat, um Erich Egg zu zitieren, »den Wald fast ganz ›aufgefressen‹ «. »Der Wald ist heute ganz auf die Höhe des Falkenstein zurückgedrängt«, und die Halden sind teils nur am Rand und recht schütter mit Wald bewachsen. 89 Hier gab es vor allem seit dem 19. Jahrhundert viele Aufforstungsversuche, und nach langer, mühevoller Arbeit wurden schließlich um 1900 Erlenbestände gepflanzt. Dagegen erscheinen die wenig ergiebigen Grubengebiete, wo es nur kleine Halden gab, heute ziemlich bewaldet. Bei den oberen Grubenzonen, die im Fels lagen, waren die Halden wegen des abschüssigen Geländes lang und steil, und hier konnte sich die Vegetation nicht festsetzen. 90 Aber auch das siedlungsarme Achental veränderte sein Gesicht, denn die ausgedehnten und weitgehend noch unberührten Wälder traten schon bald in den Blick der Schwazer Gewerken und insbesondere der Schmelzherren, die Hütten in Jenbach, Brixlegg und Rattenberg errichteten. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden die holzreichen Bestände im Achental erschlossen und das gesamte Gebiet dem Schwazer Bergrichter unterstellt; 91 die Schmelzherren erhielten dementsprechend Nutzungsrechte an den Wäldern verliehen. 92 Für die Kohleherstellung entstanden neben den Meilern auf der Kramsacher und Brandenberger Lend 93 Brennereien in der Umgebung des Achensees, die allerdings den Bedarf schließlich nicht mehr decken konnten, so dass die Brennplätze bis ins hinterste 87 L. S UHLING , Hüttentechnik (Anm. 84), S. 93. 88 J. T RUBRIG , Organisation (Anm. 35), S. 315. 89 E RICH E GG / A LBERT A TZL , Die Schwazer Bergwerkshalden, in: Schwazer Buch. Beiträge zur Heimatkunde von Schwaz und Umgebung (Schlern-Schriften 85), Innsbruck 1951, S. 136-145, hier 139. 90 E. E GG / A. A TZL , Bergwerkshalden (Anm. 89), S. 141. 91 A LBERT J AUD , Achental im Glanz der Schwazer Silberzeit, in: Achentaler Heimatbuch, zusammengestellt von K ATHARINA S TAUDIGL -J AUD (Schlern-Schriften 241), Innsbruck 1965, S. 26-32, hier 27; L. S ÖLDER , Achental (Anm. 29), S. 21. 92 H ANS T USCH , Aus der Geschichte des Jenbacher Hüttenwerkes, in: Jenbacher Buch. Beiträge zur Heimatkunde von Jenbach und Umgebung (Schlern-Schriften 101), Innsbruck 1953, S. 252. 93 J. W ALCHER , Brandenberger Holz (Anm. 15), S. 323. M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 199 Achental verlegt wurden. Für den Transport der Kohle wurden Wege angelegt, und schließlich rauchten die Gruben auch in den meisten Seitentälern. 94 Bereits 1498 bewilligte der Abt von Georgenberg einen ständigen Seelsorger, hatte doch »wegen Holzarbeit und Kohlbrennerei die Bevölkerung zugenommen«. 95 Im Tiroler Landreim von 1558 ist zu lesen, dass man jährlich in den Schmelzhütten 12.000 Fuder Holzkohle verbrauchte: Wieviele Wälder müssen zu Grunde gehen, soll anders das Bergwerk bestehen. 96 Der Transport des Holzes zu den Abnehmern bewirkte vielfache Flurschäden, die immerhin bereits in den frühesten Regelungen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts thematisiert wurden, indem den Anrainern Schadenersatz zugesichert wurde. 97 Bekannt ist eine Beschwerdeschrift des Abtes von Georgenberg aus der Zeit um 1439/ 40, in der er auf die Probleme hinwies, die der Erzbergbau für die Innbrücke mit sich brachte; sie sei durch die swern wegen, geladen mitt ärz, kupfer, kol vnd holz schwer beschädigt worden. 98 Massiv waren in der Folge die Klagen der großen Grundherren, vor allem aber der Bauern über die enormen Schlägerungen zugunsten des Bergbaus. 99 Riesige Waldflächen wurden dem Bergbau geopfert: Für den Wald des Voldertales ist der Waldbereitung von 1555 zu entnehmen, dass aller Wald des hinteren Voldertales bis zur ›Edenhauser Aste‹ heraus auf die Lend zum Verkohlen zu triften sei. Von Neßlach gegen Vorberg gab es große Maißen, die 1543 94 A. J AUD , Achental (Anm. 91), S. 28. Vgl. auch L. S ÖLDER , Achental (Anm. 29), S. 20f. 95 E. E GG , Schwaz ist aller Bergwerke Mutter (Anm. 20), S. 14. 96 G EORG R ÖSCH VON G EROLDSHAUSEN , Der Tiroler Landreim (1558), hg. von F RANZ K IRNBAUER (Leobener grüne Hefte 75), Wien 1964, S. 34f. 97 So lautet ein Passus in der Bergordnung von 1449 (S. W ORMS , Schwazer Bergbau [Anm. 22], Beilage 7, S. 111-127, hier 116f.), der sich auf eine Entscheidung Herzog Friedrichs IV. († 1439) bezieht: Als ein geschäftbrief ist ausgangen von unseren genedigen alten herrn herzog Friderichen löblicher gedächtnus umb holz, weeg und steg gegen den nachbaurn, da wollen wir, das also gehalten soll werden treulich und ohngefehrlich; und welcher nachbaur sich solches beschwärt, daß alsdann der richter mit samt etlichen geschwornen den schaden beschau und was sie alsdan in der beschau erkennen und zu recht sprechen nach billichen dingen, das soll ihnen also widerkehrt werden. 98 W OLFGANG I NGENHAEFF , Der Schwazer Brückenstreit, in: W OLFGANG I NGENHAEFF / J OHANN B AIR (Hg.), Wasser. Fluch und Segen, o. O. 2004, S. 77-88, hier 80f.; C. B AR - TELS / A. B INGENER , Bergbau bei Schwaz (Anm. 3), S. 658, 709; E. E GG , Schwaz ist aller Bergwerke Mutter (Anm. 20), S. 8. Vgl. etwa auch G ERD W EISGERBER , Mittelalterliches Montanwesen und seine Wirkung auf Landschaft und Umwelt, in: A. J OCKENHÖVEL (Hg.), Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung (Anm. 6), S. 128-139, hier 128. 99 Vgl. z. B. die Klagen der Untertanen 1525: H ERMANN W OPFNER (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Deutschtirol 1525, Teil 1: Quellen zur Vorgeschichte des Bauernkrieges: Beschwerdeartikel aus den Jahren 1519-1525 (Acta Tirolensia 3), Innsbruck 1908 (ND Aalen 1984), passim. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts kam es zu wiederholten Beschwerden auf den Landtagen über die Ausweitung der fürstlichen Forsthoheit; vgl. H. W OPFNER , Bergbauernbuch III (Anm. 65), S. 542. K LAUS B R AND S TÄTT ER 200 verhackt worden waren und nach der damaligen Einschätzung vor 100 Jahren nit erwachsen sein würden. 100 War schon anlässlich der Holzbeschau im Pitztal 1459 davon die Rede, dass viele Wälder vast verarbait seien, 101 so mehren sich im 16. Jahrhundert entsprechende Hinweise, dass Wälder der näheren und weiteren Umgebung allesamt bereits abgeholzt seien. In der Waldordnung für Taufers zum Jahr 1521 heißt es, dass die Wälder in grosser Unordnung und gannz unwuestlich verhackht unnd gehalten seien, wobei man freilich diese triste Situation nicht auf die Folgen des Bergbaus zurückführte, sondern die Schuld bei der Bevölkerung suchte, durch die die Wälder so gar schädlich on Notturfft verprennt, verschwennt, verhawt und verderbt worden sind. 102 Anlässlich der jährlichen Waldbereitung der Amtswälder der Saline wurde 1569 festgestellt, dass sich ain grosser mangl vnnd abgang an wald vnd höltzern erzaige und notwendiges Holz zum Sieden nicht mehr vorhanden sei; die alten gewachsnen wäld seien fast alle durchaus verhackht und junge Wälder noch nicht ausreichend nachgewachsen. Das vorhandene Holz reiche nicht einmal mehr zur Deckung des Bedarfs des landesfürstlichen Hofes, denn die Holzarbeit im Sellraintal sey schon furuber, im Gericht Steinach auch khain sonnderlich holtzwerch mehr, und aus dem Stubaital sei auch nichts zu erwarten. 103 Eine Waldbereitung aus den Jahren 1718-1722 beschreibt die Baumbestände rund um das Kogelmoos als clain schitere waldung mit unregelmäßigem Bewuchs, »da für die Zwecke der Grubenbauten iederzeit das gröste nach notturfft herauß gehackht wird. Oberhalb des Kogelmooses sei jedoch ein dichter Jungwald im Entstehen, der sich im Jahre 1718 allerdings erst aus Buschwerk, vornehmlich jungen Fichten und Lärchen, zusammensetzte«; bis zur Schlägerung seien etwa 40 Jahre zu veranschlagen. »Andere Waldgebiete in der ferneren Umgebung wurden als ›völlig verhackt‹ oder aber in Aufforstung befindlich beschrieben«. 104 Für alle Reviere gilt, dass sich der Baumbestand stark veränderte. Überall wurden Laubbäume zugunsten von Nadelhölzern, die bevorzugt wurden, zurückgedrängt, der Mischwald wandelte sich zur Monokultur. 105 In Tirol wurden so 100 W ALTER G RABHERR , Beiträge zur Waldgeschichte des Voldertales bei Hall in Tirol, in: Tiroler Heimatblätter 40 (1965) 1/ 3, S. 4-9, hier 5f. 101 A NTON B ÄR , Das Pitztal. Eine landeskundliche Untersuchung, Innsbruck 1939, S. 382; die Beschau ist gedruckt bei J. T RUBRIG , »Holzbeschau« (Anm. 60). 102 R UDOLF T ASSER , Waldordnungen und Waldbeschreibungen für Taufers im 16. Jahrhundert, in: W. I NGENHAEFF / J. B AIR (Hg.), Bergbau und Holz (Anm. 8), S. 279-299, hier 282f. 103 C AROLIN S PRANGER , Der Metall- und Versorgungshandel der Fugger in Schwaz in Tirol 1560-1575 zwischen Krisen und Konflikten (Veröff. SFG 4/ 31 / Studien zur Fuggergeschichte 40), Augsburg 2006, S. 334. 104 E. B REITENLECHNER u. a., (Über)Nutzung (Anm. 47), S. 69. 105 Vgl. etwa C. B ARTELS , Montani und Silvani (Anm. 6), S. 122; A NTON S CHMIDT , Der Bergbau und sein Einfluss auf den Wald, in: H ELLMUT W OLF (Hg.), Holzwege. Wald und M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 201 allmählich Fichten, Lärchen und Kiefern vorherrschend. Bei der natürlichen Verjüngung hatten Nadelhölzer wie Föhren und Fichten Vorteile gegenüber Eichen und Buchen. Als dann seit dem 18. Jahrhundert tatkräftiger als zuvor Aufforstungen betrieben wurden, bevorzugte man die rascher wachsenden Nadelhölzer und darunter wiederum die Fichte »wegen kürzerer Umtriebszeit und vielseitiger Verwendbarkeit«. 106 Vor allem die Methode des Kahlschlags, der über die Schladminger Bergordnung von 1408 nach Tirol kam, 107 bewirkte bis zum heutigen Tag sichtbare Veränderungen. Für das Achental liegt eine Beschreibung von 1840 vor, die die Kahlhiebsflächen verzeichnet; damals hatten die Achentaler Waldungen offenbar »ein stark gelichtetes Aussehen«, wobei aber auf dem Schieferboden der natürlichen Wiederbestockung nichts im Wege stand - anders war es im Wetterstein- und im Dolomitgebiet, wo die ehemalige Nutzungsform deutlich hervortritt. An anderen großen Kahlhiebsflächen verhinderte man teils die Wiederbestockung bewusst zur Gewinnung von Grasland. 108 Insgesamt sank mancherorts die Vegetationsgrenze bedingt durch die Kahlschläge, was etwa heute noch am Kolsass- und Weerberg zu sehen ist; 109 diesbezüglich berücksichtigte das Schlagen »von unten hinauf bis zum Joch« den Hochgebirgscharakter des Landes nicht, 110 und gerade in den obersten Höhenlagen war ein Wiederaufkommen des Waldes durch natürliche Verjüngung viel schwerer möglich. Die Folge war wohl die »Kahllegung mancher Bergflanke« in einigen Nebentälern des Paznaun- und Pitztals, »die heute noch offene Wunden tragen«, 111 und dadurch wurden wiederum Lawinen und Muren begünstigt. Bereits für das 16. Jahrhundert finden sich Klagen von Gemeindebewohnern, dass die Felder und Siedlungen vermehrt von Muren und Lawinen heimgesucht würden. In der Waldordnung für den Schneeberg von 1545 wurde dem Bergwerk Wald im hinteren Passeier zugewiesen, wobei allerdings der Bergmeister darauf zu achten hatte, dass die »Wälder an diesem wilden und rauhen Ort wieder nachwachsen« und dass der Schutzwald zur Verhinderung von Lawinen nicht verhackt würde. 112 Bereits 1521 war selbst die landesfürstliche Regierung zum Schluss Wasser - Bergbau und Glashütte (Schriftenreihe des Bergbau- und Industriemuseums Ostbayern Schloss Theuern 44), Theuern 2002, S. 21-27, hier 23f. 106 H. W OPFNER , Bergbauernbuch III (Anm. 65), S. 531. 107 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 185. 108 L. S ÖLDER , Achental (Anm. 29), S. 23f. 109 H. O BERRAUCH , Wald und Waidwerk (Anm. 23), S. 50. 110 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 185. 111 P. M ERNIK , Holz (Anm. 22), S. 185. Zum Kahlschlag vgl. allgemein etwa auch J. R AD - KAU , Natur und Macht (Anm. 59), S. 180. 112 K URT S CHARR , Leben an der Grenze der Dauersiedlung. Grund und Boden im »Ötztaler Gebirgsraum« (Ötztal - Schnals - Passeier) vom 13. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Schlern-Schriften 314), Innsbruck 2001, S. 143. Die Ordnung ist gedruckt bei G EORG K LAUS B R AND S TÄTT ER 202 gekommen, die Schmelzhütten in Prettau weiter talauswärts zu verlegen, um den Waldbestand »im innersten Talbereich nicht noch mehr zu schädigen«. Außerdem sollte nun an den lawinen- und murengefährdeten Stellen genügend »Wald unverhackt stehen bleiben«. 113 Dies verhinderte freilich nicht, dass die Lawinengefahr in Prettau bis ins 20. Jahrhundert beachtlich war. Dazu reichte »die rücksichtslose Schlägerung des Waldes in den ersten hundert Jahren des Bergbaus« im Verein mit der nicht erfolgten Aufforstung aus, denn die abgeholzten Hochwälder wuchsen nicht nach. 114 Dass die Waldordnung für Taufers von 1521 den Bergschmieden einen besonderen Wald hinter Kasern zugewiesen hatte, sollte ebenfalls Folgen zeitigen, denn dieser Wald konnte die kalten Tauernwinde, »die heute das Klima des Ortes Prettau prägen«, nur bremsen, so lange es ihn gab. 115 Erst im 18. Jahrhundert wurde der Kahlschlag in Frage gestellt. Die Reduzierung der Waldflächen und das Sinken der Waldgrenze haben zweifellos mit der jahrhundertelangen Ausbeutung des Waldes für die Interessen der Bergwerke zu tun. Fraglich ist allerdings, wie hoch man den Anteil des Bergbaus an dieser Entwicklung veranschlagen kann. Zu berücksichtigen ist die Klimaverschlechterung im Rahmen der ›Kleinen Eiszeit‹, die die Waldgrenze nach unten drückte. 116 Auch die bäuerlichen Rodungen und die Umwandlung von Waldstücken in Weiden und Wiesen sowie die Almwirtschaft dürften einen maßgeblichen Anteil an solchen Prozessen gehabt haben. 1515 und 1527 wandte sich die Forstverwaltung »gegen die Umwandlung von Kahlschlägen in Dauerweide, wie sie im Oberinntal zu Silz und im Gericht Sterzing üblich war. Gleichwohl ließ sich diese Art von Vermehrung der Heim- und Almweide nur in beschränktem Ausmaß verhindern«, 117 stieg doch die Bevölkerung in der frühen Neuzeit stark an, was Kulturlanderweiterungen nötig machte. 118 Auffällig ist jedenfalls die stärkere Präsenz des Waldes auf den schattseitigen Hängen der Täler. 119 Für das Pitztal hatte sich der verfügbare Bestand zwischen 1555 und 1774 nach Schätzungen der Saline M UTSCHLECHNER , Die Waldordnung für den Bergbau am Schneeberg vom Jahre 1545, in: Der Schlern 46 (1972), S. 281-286. 113 R. T ASSER , Waldordnungen (Anm. 102), S. 281, 286. 114 R. T ASSER , Waldordnungen (Anm. 102), S. 282. 115 R. T ASSER , Waldordnungen (Anm. 102), S. 283f. 116 G EORG J ÄGER , Hochweidewirtschaft, Klimaverschlechterung (»Kleine Eiszeit«) und Gletschervorstöße in Tirol zwischen 1600 und 1850. Ein historisch-geographischer Beitrag zur Mensch-Umwelt-Forschung im mittleren Alpenraum, in: Tiroler Heimat 70 (2006), S. 5-83, hier 12-27. 117 H. W OPFNER , Bergbauernbuch III (Anm. 65), S. 563. 118 G EORG J ÄGER , Siedlungsausbau und soziale Differenzierung der ländlichen Bevölkerung in Nordtirol während der frühen Neuzeit, in: Tiroler Heimat 60 (1996), S. 87-127. 119 H. W OPFNER , Bergbauernbuch III (Anm. 65), S. 513. M A S S NAHMEN ZUR S I CH ER UNG D ER H OL ZVER S OR GUNG 203 deutlich um mehr als die Hälfte reduziert. 120 Nach Georg Fromme waren diese Bestände freilich im Vergleich zu den 1950er Jahren noch unvorstellbar groß, wie er anhand eines Vergleichs mit der Karte von Peter Anich meinte feststellen zu können; in der Zwischenzeit habe sich der Wald um mehr als 50 % reduziert. Almen, die auf der Anich-Karte noch waldumschlossen waren, lagen in den 1950er Jahren im Kahlgelände, und gerade die Einzugsgebiete von Muren und Lawinen seien im 18. Jahrhundert noch verwachsen gewesen. 121 Da man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die Saline vorwiegend schlesische Kohle anlieferte, dürfte daher - nach Fromme - vor allem die Land- und Almwirtschaft dem Wald geschadet haben; 122 dem entspreche, dass der Viehstand in Tirol zwischen 1820 und 1850 um 68 % zunahm, was zur Ausweitung der Almflächen durch Brandrodung führte. 123 Allerdings fehlen bislang für den Tiroler Raum dezidiert umwelthistorische Untersuchungen, die solche Aspekte behandelt und das umfangreiche Quellenmaterial zur frühen Neuzeit kritisch aufgearbeitet hätten. In den vorliegenden Arbeiten zur Wald- und Forstgeschichte oder zur Geschichte einzelner Täler stellt man wiederholt widersprüchliche Aussagen fest, und oftmals stößt man auf eine einseitige Argumentationsweise, indem die in der Tradition der im 19. Jahrhundert entstandenen forstwissenschaftlichen Schule stehenden Untersuchungen die Waldverwüstung durch den ungeordneten Plenterbetrieb der Bauern verdammen und im Gegenzug hervorheben, dass ohne landesfürstliche Forstgesetzgebung der Wald wohl fast überall verschwunden wäre. Auf der anderen Seite stehen Autoren wie Hermann Wopfner, die die negativen Auswirkungen der eingeschränkten Allmendrechte betonen und in den fürstlichen Normen nicht unbedingt einen Fortschritt sehen. 124 Angesichts des riesigen Holzbedarfs und der Bedeutung des Bergbaus für die landesfürstlichen Finanzen erscheint die Sorge vor Holzknappheit nachvollziehbar. Die in den Waldordnungen greifbaren landesfürstlichen Maßnahmen verfolgten Ansätze einer schonenden Nutzung, was freilich rein ökonomisch motiviert war - dabei sollte es über Jahrhunderte bleiben, und erst in der neuesten Zeit traten allmählich neben der Nutz- und teilweise Schutzfunktion auch weitere Aspekte in 120 A. B ÄR , Pitztal (Anm. 101), S. 382f.; H. W OPFNER , Bergbauernbuch III (Anm. 65), S. 534. 121 G EORG F ROMME , Der Waldrückgang im Oberinntal (Tirol). Untersuchungen über das Ausmaß, die Ursachen und Folgeerscheinungen des Waldrückganges in einem Gebirgslande sowie über die Aussichten der Wiederaufforstung, in: Mitteilungen der forstlichen Bundes-Versuchsanstalt Mariabrunn 54 (1957), S. 3-220, hier 40-42. 122 G. F ROMME , Waldrückgang (Anm. 121), S. 44f. 123 G. F ROMME , Waldrückgang (Anm. 121), S. 21. 124 Allgemein dazu vgl. etwa J OACHIM R ADKAU , Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: Revisionistische Betrachtungen über die »Holznot«, in: VSWG 73 (1986), S. 1- 37, hier 4; E. W EINBERGER , Waldnutzung (Anm. 5), S. 40. K LAUS B R AND S TÄTT ER 204 den Vordergrund; deshalb können die Waldordnungen kaum als Vorläufer moderner Naturschutzgesetze gelten. 125 Als größtes Feindbild tritt in den fürstlichen Ordnungen der Bauer entgegen, der durch die Nutzung der Waldweide und insbesondere die Brandrodung die langfristige Bedarfssicherung gefährde. 126 Die daher nicht nur in den Tiroler Ordnungen verordnete Zuweisung von Wäldern zur Deckung des Eigenbedarfs an die Untertanen schuf die Basis für langandauernde Konflikte; immerhin wurde damit ein gewisser Ausgleich mit den Interessen der Bauern zumindest versucht. Wie sehr die fürstlichen Normierungen freilich Wunschdenken blieben, wäre durch detaillierte Untersuchungen noch zu ermitteln. 125 Vgl. S ONJA P ALLAUF , Der Kampf um den Wald. Zur Geschichte der Forstgesetzgebung am Beispiel des Erzstiftes Salzburg, in: Das Mittelalter 13 (2008) 2, S. 85-91, hier 91. 126 J. R ADKAU , Holzverknappung (Anm. 78), S. 516. 205 P AUL H OSER Die Donaumooskultivierung und ihre Folgen 1. Innere Kolonisation als Anliegen der Aufklärungszeit: Der Plan Es war ein Grundzug der Aufklärungszeit, mit der universalen Orientierung an der Vernunft das Prinzip der Nützlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Die zeitgenössischen französischen Physiokraten sahen die Nutzung des Bodens und die Produktivität der Landwirtschaft als die eigentliche Quelle des Wohlstandes an. Ihre speziellen Theorien blieben zwar von begrenzter Reichweite, doch herrschte die allgemeine Grundüberzeugung auch im deutschen Raum vor. Folglich lag es nahe, dass man versuchte, neues Territorium für die landwirtschaftliche Erzeugung zu gewinnen. 1 Dabei sollten auch vom Klima benachteiligte Gegenden mit Böden minderer Qualität herangezogen werden. Stellvertretend für die Zeitauffassung konstatierte die Enzyklopädie von Krünitz: 2 Was die Sümpfe, Moräste und Brüche betrifft, so ist es ebenfalls eine mögliche Sache, sie nutzbar, d. i. theils zu gutem Acker-Land, theils zur Vieh-Weide geschickt zu machen. Und wer davon wirkliche Proben sehen will, der gehe in die Mark Brandenburg und nach Pommern, wo der sogenannte Oder-Bruch 3 durch die ganze Neumark und Pommern, seit etwas 40 Jahren auf sehr viele Meilen Weges dergestalt urbar gemacht worden ist, daß man an denen Orten, wo derselbe ehemahls gewesen ist, jetzt eine Menge neu angelegter Dörfer, und die fruchtbarsten Aecker und Wiesen antrifft. Von diesem geradezu unbegrenzten Optimismus waren auch die Reformer der Zeit des Kurfürsten Karl Theodor durchdrungen. Da Karl Theodor, der seit 1742 über die gesamten pfälzischen Gebiete regierte, 1777 noch dazu Kurbayern erbte, war eine Grundvoraussetzung gegeben, an eine Kultivierung des bis dahin zwischen 1 Dazu den Absatz Die Wohlfahrt des Landes aus der guten Verfassung der Land-Wirthschaft in dem Artikel Land-Wirtschaft in: J OHANN G EORG K RÜNITZ , Oekonomische Encyclopädie der Staats-, Stadt-, Hausu. Landwirtschaft in alphabetischer Ordnung 63, Berlin 2 1802, S. 714; zur ›Landeskultur‹-Bewegung in Bayern: R AINER B ECK , Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003, S. 126-135. 2 J. G. K RÜNITZ , Encyclopädie 63 (Anm. 1), S. 717 Abs. 2. 3 Dazu: R EINHARD S CHMOOK (Red.), 250 Jahre Trockenlegung des Oderbruchs. Fakten und Daten einer Landschaft, Frankfurt/ Oder [1997]; D ERS ., Ich habe eine Provinz gewonnen. 250 Jahre Trockenlegung des Oderbruchs, Frankfurt/ Oder 1997. P AUL H OS ER 206 Bayern und Pfalz-Neuburg geteilten Donaumooses zu denken. 4 Möglicherweise war insbesondere die durch Missernten verursachte Hungerkrise der Jahre 1770 bis 1773 ein Motiv, das dabei eine Rolle spielte. 5 Am 30. Mai 1778 machte der damalige Statthalter von Neuburg, Graf Friedrich von Pappenheim, dem Kurfürsten den Vorschlag, das Moor trockenlegen zu lassen. Der Kurfürst erwärmte sich für die Idee. Mit der Vorarbeit wurde der als Kenner der Gegend bekannte katholische Geistliche Johann Jakob Lanz aus Berg im Gau als Vertreter Bayerns zusammen mit dem für Neuburg agierenden Ingenieur-Hauptmann Regnier beauftragt, die Oberleitung behielt Pappenheim. Von 1778 bis 1881 war Lanz vor Ort, um das Gebiet genauer zu erforschen und zu vermessen. 6 Er war damit allerdings überfordert. Eine Aufzeichnung der Grenze des Lehensgebiets und der natürlichen Grenze des Donaumooses kam nicht zustande. 7 1781 lag sein Plan vor. 8 Er stellte fest, das dort wachsende Gras sei von so elender Beschaffenheit, dass manche Bauern nicht einmal ihren Anteil abmähten. Ein bei Pöttmes angefangener Kanal habe aber gezeigt, dass sich der Moosboden durch das Abzapfen von Wasser sogleich verbessere. Ein Hauptkanal durch die Mitte des Mooses könne den größten Teil trocken setzen. Für diesen genüge eine Breite von rund 4,7 m. 9 Entscheide man sich für einen noch breiteren Kanal, könne man mit der ausgeworfenen Erde die Straße erhöhen. Er eigne sich dann auch für den Güterverkehr, insbesondere den Transport von Salz aus der Ingolstädter nach der Augsburger Gegend. 10 Ein zusätzlicher Querkanal von Neuburg bis in die Gegend des Geisenfelder Forsts könne neben dem Effekt der Mooraustrocknung ebenfalls der Schifffahrt und damit der Versorgung Neuburgs mit Holz dienen. Das Wasser aus den Kanälen solle in die Donau abgeleitet werden. Die Länge des Hauptkanals solle rund 30,3 km betragen. 11 Den 4 Das Gebiet war in früheren Zeiten ein beständiger Streitgegenstand zwischen dem Herzogtum Neuburg und Bayern gewesen. Die Grenze durch das Moor war nicht genau festgelegt. 5 H ELMUT R ANKL , Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise von 1770-1773, in: K ONRAD A CKERMANN / H ERMANN R UMSCHÖTTEL (Hg.), Bayerische Geschichte, Landesgeschichte in Bayern. FS für Alois Schmid zum 60. Geburtstag, Bd. 2, München 2005, S. 745-779. 6 Siehe die ausführlichen Berichte in BayHStA, Pfalz-Neuburg Regierung 266. 7 Rund 8,4 % der Fläche waren nicht lehenspflichtig. 8 BayHStA, Donaumoosakten 486, [J OHANN J ACOB ] L ANZ , Anmerkungen über das Schrobenhausener Moos 1781. Das Schrobenhausener Moos wurde vom dortigen Mooslehengericht verwaltet, dessen Zuständigkeit sich auch auf das pfalz-neuburgische Gebiet erstreckte. 9 Im Original 16 Schuh. 10 In seiner zweiten Denkschrift erwähnte er außerdem die Möglichkeit des Transports von Kalkstein von Neuburg in das bayerische Gebiet. 11 Im Original 1.904.000 Schuh oder 17.333 Klafter. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 207 Querkanal könne man allein aus den zu erwartenden Einnahmen des Holztransports finanzieren. Um eine bessere Nutzung der Wiesen zu erreichen, sollte das noch bestehende Weiderecht der in der Gegend Ansässigen aufgehoben werden. Lanz schlug vor, zuerst auf dem Moos vereinzelte Wohngebäude anzulegen und dann den Boden zu Äckern oder guten Graswiesen auszubauen. In einer weiteren Denkschrift, die er auch veröffentlichte, beschrieb er die Gegend und die Beschaffenheit des Bodens ausführlich, ebenso wie Flora und Fauna und die landwirtschaftliche Nutzung: 12 In der Hauptsache wird das Moos mehr zur Weide als zu Wiesen benützt, wozu es doch am beßten tüchtig wäre. […] Die Viehzucht ist fast nirgends schlechter, als um das Moos herum. Für den Winter sind die Leute mit Futter nicht versehen, das Vieh ist vom schlechten Moosheue elend, giebt wenig Nutzen; jährlich im Frühjahre, wo man, sobald nur immer möglich, austreibt, gehen viele Stücke durch Frost, Nässe, Versinken, und andere Zufälle zugrunde. Zur Förderung der Trockenlegung des Moors sollten neben der Neuanlage des Hauptkanals schon vorhandene Gräben geräumt, erweitert, begradigt und mit Böschungen versehen und zu den Hauptgräben kleine Seitengräben geführt werden. Für den Hauptkanal benötige man Schleusen, um eine zu große Trockenheit, die für den Graswuchs schädlich sei, zu verhindern. Hindernisse seien die Mühlen, bei denen man dafür sorgen müsse, dass sie das Wasser nicht zu hoch stauten. Vielfach sollte auch Terrain eingeebnet werden, um ein Stehen des Wassers zu verhindern und den Graswuchs zu erleichtern. Allein eine richtig gesteuerte Bewässerung könne schon wie Düngung wirken. Außerdem solle man die im Moor stehenden Hügel abtragen und das so gewonnene Erdreich verteilen, um die Qualität des Bodens zu verbessern. Durch Verbrennung des Torfs im Moor könne man Asche gewinnen, die sich wie die aus den Gräben geholte Tonerde als Dünger eigne. Ebenso könnten Kalkerde und Kalkstein, die in der Neuburger Gegend reichlich vorhanden seien, in gebrannter Form dazu verwendet werden. Für besonders wichtig hielt Lanz auch die Anpflanzung von Bäumen und Stauden, die in einem feuchten Gebiet gediehen. Unerlässlich war für ihn die Abschaffung der Koppelweiden. Das ausgetriebene Vieh verheere den Boden. Ein großer Teil zur Mitte hin, etwa ein Drittel des gesamten Moors, solle völlig weidefrei bleiben. Als höchster Grad der Verbesserung solle nach und nach die Stallfütterung des Viehs eingeführt werden. Natürlich müssten die Kanäle, Wege und Brücken laufend durch Tagwerker instand gehalten werden. Sie sollten entlang des Hauptkanals angesiedelt werden. Lanz glaubte, dass in der Folge pro Tagwerk mindestens sechs bis 12 [J OHANN J ACOB L ANZ ], Über das schrobenhauser Lehenmoos, in: Baierische Beiträge zur schönen und nützlichen Literatur, 3. Jg., Bd. 2, München 1781, S. 1053-1081, hier 1064. P AUL H OS ER 208 zehn Zentner Heu mehr gewonnen werden könnten, was einer Ertragssteigerung um 2 fl. gleichkomme. Verbesserte Moosgründe könnten eine zehnfache Wertsteigerung erfahren. Auch die Torfgewinnung sei ein wichtiger Faktor. Als Pappenheim schließlich seine Statthalterschaft aufgab, erlosch das Interesse an den Plänen von Lanz. 2. Die Durchführung des Kultivierungsprojekts unter Stephan Freiherrn von Stengel 1783 machte der Kurfürst in Begleitung seines Kabinettssekretärs und unehelichen Sohns Stephan Freiherrn von Stengel eine Italienreise und informierte sich über den damaligen Versuch einer Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe im Kirchenstaat. Eine kurfürstliche Verordnung sah vor, dass alle öden Gebiete und Sümpfe landwirtschaftlich genutzt werden sollten und das Weiderecht dem nicht im Weg stehen dürfe. 13 Eine für das Donaumoos eingesetzte Hofkommission kam in der Folgezeit aber nicht voran. 14 Am 14. Juli 1787 wurde eine neue Kulturkommission aus dem kurfürstlichen Geheimrat Karl Albert Freiherrn von Aretin und dem Generaldirektor des Wasser- und Straßenbaus, Adrian von Riedl, eingesetzt. 1789 machte der Kurfürst in Begleitung von Stengel und dem Kriegsminister und Geheimrat Benjamin Thompson 15 eine Rundreise durch Nordbayern, die ihn auch ins Donaumoos führte. Anschließend wurde Freiherr von Stengel zum Leiter des Finanz-Departements und zum Direktor der Donaumoos-Kulturkommission 16 befördert. Die Kommission hatte drei Aufgaben zu lösen: die Klärung der Besitzverhältnisse, die Beschaffung der Geldmittel und die technische Durchführung des Projekts. Die frühere Kommission unter Lanz hatte nach der Realisierung die Lehensabgaben der nun meliorisierten Gründe erhöhen und so die Finanzierung sichern wollen. Dafür hatte der Kurfürst 20.000 fl. aus der Kabinettskasse vorgeschossen. 13 Ähnliche Verordnungen waren, offensichtlich ohne Erfolg, schon 1723, 1762 und 1773 herausgegangen. 14 Für Bayern bestand sie aus dem Oberlandesgerichtsrat Beno von Hofstetten und dem Hofkammerrat Paul von Hagn, für Neuburg aus dem Regierungsrat Johann Baptist Trögele und den Hofkammerrat von Bäbel. Vorsitzender war der Vizepräsident der Neuburgischen Hofkammer, Baron von Rummel; J OHANN G EORG F RHR . VON A RETIN , Aktenmäßige Donaumoos-Kulturs-Geschichte, Mannheim 1795 (darin eine Einleitung vom 30. Oktober 1794, gezeichnet von Stengel, Karl Albrecht Frhr. von Aretin und Riedl, S. I-XXII), S. 57. 15 1792 Graf Rumford. 16 Er löste in dieser Funktion den Reichsgrafen von Oberndorff ab, der Hofkammerpräsident in Neuburg wurde; J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 59. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 209 Die neue Kommission wollte dagegen den Besitzern ihre Moosgründe gegen Bezahlung als freies Eigentum überlassen. Sie sollten überdies für fünfzehn Jahre Abgaben- und Steuerfreiheit genießen. 17 Der Ertrag aus diesen Verkäufen reichte allerdings zur Finanzierung des Entwässerungsvorhabens nicht aus. Die Eigentümer, die ja durch Kultivierung ihres Bodens einen Vorteil gewannen, sollten dafür jeweils die Hälfte unentgeltlich an eine Aktiengesellschaft abtreten, die ihrerseits das Kapital für die Kosten der Donaumoossanierung aufzubringen hatte. In der am 11. Januar 1790 auf Stengels Initiative gegründeten Aktiengesellschaft hielten staatliche Instanzen die Mehrheit. 18 Sie hatte im Moor fast uneingeschränkte Handlungsfreiheit und konnte beispielsweise Kanäle anlegen lassen, ohne die Grundeigentümer entschädigen zu müssen. Auch Stengel war der von 17 Wer die Stallfütterung einführte und Klee anbaute, sollte sogar 25 Freijahre erhalten; F RANZ X. W ISMÜLLER , Geschichte der Moorkultur in Bayern, 2 Bde., München 1909/ 34, hier Bd. 1, S. 111. 18 Anteile an der Aktiengesellschaft zur Kultivierung des Donaumooses: Kurfürst 3 7/ 8 Hofkammer München 3 Hofkammer Neuburg 3 Landschaft Herzogtum Neuburg 1 Hofkriegsrat 4 Landschaft Bayern 1 Oberlehenshof als Entschädigung für die abgetretene Lehenshoheit 6 Riedl und K. A. Frhr. v. Aretin statt Gebühren und Reisekosten 2 Minister Graf von Vieregg 1 Bischof Frhr. von Haeffelin 1 Weinhändler Mayerl, München 1/ 8 Graf von Haslang, Minister am großbritannischen Hof 1 Kurkölnischer Kreisgesandter, Wilhelm Frhr. von Eckart 1 Kurfürstlicher Administrationsrat Mieg, Heidelberg 1 Devise pro Patria [möglicherweise Bezeichnung für eine Stiftung oder Motto einer Sammlung] 1 30 Nennwert einer Aktie: 10.000 fl. Der Oberstlehenhof und die beiden Kommissare brachten kein Geld für ihre Anteile ein. Staat und Fürst hielten praktisch drei Viertel des Kapitals und trugen auch drei Viertel der Kosten; J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 61f.; H EINRICH F RHR . VON P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung und der Cultur des Donaumoores in Bayern, München 1832, S. 37f. P AUL H OS ER 210 den Aufklärern und Physiokraten gehegten Ansicht, […] daß der Segen der Erde der einzige wahre Reichthum des Landes sey, […]. 19 Den Plan für die technische Realisierung entwarf Adrian von Riedl. Die gesamte Fläche des Donaumooses belief sich auf 17.709 ha (177,09 km 2 ). 20 Von Westen nach Osten hatte es eine Länge von rund 28 km, die Breite von Süden nach Norden betrug zwischen 5 und 8 km. Der schon vorhandene Bach der Ach wurde in einen bei Pöttmes angelegten Hauptkanal geleitet, der im Süden des Moors in Ost-West-Richtung führte. Auf seinen beiden Seiten wurde jeweils die ausgegrabene Erde zu einem Damm aufgeschüttet. Der Kanal hatte eine Länge von rund 33,8 km. 21 Wegen des erhöhten Geländes im Süden verlief der Hauptkanal in nordöstlicher Richtung. Nahe an der Grenze des Moors wurde er dann in nördlicher Richtung zur Donau hin geführt. Dazu legte man noch eine Reihe von Seitenkanälen an. Einer, der im östlichen Teil des Moors nördlich des Hauptkanals lief, hieß ›Militärkanal‹, weil er auf Befehl des Kriegsministers Thompson von Soldaten gegraben worden war. Außerdem wurde die Donau zwischen Neuburg und Ingolstadt an fünf Stellen begradigt. Eine Ost-West-Straße von Reichertshofen im äußersten Südosten wurde bis Lichtenau bei Neuburg an der Donau im Nordwesten gebaut und an beiden Seiten mit Ebereschen bepflanzt. Sie war an die alte Landstraße von Neuburg nach München angebunden. Das Moos wurde überdies durch ein Wegenetz durchzogen. Die Arbeiten begannen im Frühjahr 1790. Auf die früheren Pläne, den Hauptkanal mit Heranziehung der Bewohner zum Scharwerk zu erstellen, verzichtete man und kommandierte zuerst auch dafür Soldaten ab; weil dies aber zu teuer kam, beschäftigte man schließlich Tagwerker. Für die leichteren Arbeiten wurden auch Kinder aus der Gegend eingesetzt, für die schweren Landstreicher oder Zuchthausinsassen mit geringen Strafen, für die ein eigenes Zuchthaus bzw. eine Eisenfronfeste, wie man damals die Gefängnisse nannte, im Donaumoos gebaut wurde. Stengel, Aretin und Riedl verzichteten auch entgegen dem ursprünglichen Plan darauf, für das benötigte Holz die umliegenden kurfürstlichen und Gemeindewälder auszubeuten, sondern kauften es vor allem in entfernteren Gegenden. Ihrer Ansicht nach sollten aus Rücksicht auf die künftigen Siedler die nahen Wälder geschont werden. Im November 1793 waren die Arbeiten abgeschlossen. Im Mai 1794 besuchte der Kurfürst selbst das trockengelegte Donaumoos. Die für das Projekt notwendige teilweise Enteignung und das Weideverbot gingen nicht ohne Widerstand vor sich. So zerstörten Betroffene heimlich Teile der 19 S TEPHAN F RHR . VON S TENGEL , Die Austrocknung des Donaumooses. An dem Jahrtage der akademischen Stiftung in einer öffentlichen Versammlung vorgetragen, München 1791, S. 21. 20 Der heutige Landkreis Schrobenhausen Neuburg umfasst 739,72 km 2 . 21 115.700 Fuß. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 211 Kanäle. Eine Protestschrift warf der Mooskommission vor, […] dem Unterthanen sein Eigenthum zu rauben. 22 Die betroffenen Eigentümer leiteten eine Prozesslawine ein. Neben Bauern, Gemeinden und Hofmarksbesitzern 23 leisteten auch die Landstände wegen der Verletzung der Privatrechte Widerstand. Sie hatten über die lange Zeit hinweg, als die Regierung sich um die Moosgründe kaum gekümmert hatte, die Besitzverhältnisse zu ihren Gunsten verändert. Es bestanden aber auch eine Reihe sachlicher Bedenken gegen die Moorkultivierung an sich. 24 Man bildete schließlich ein eigenes Schiedsgericht, das sogenannte iudicium delegatum mixtum. 25 Diesem gelang es schließlich nach und nach, die Streitfragen zu regeln. 22 N EPOMUK D ELAGERA , in: Vier wichtige Aktenstücke zur Kulturgeschichte des Donaumooses in Bayern. Ein Beytrag zu einer allgemeinen Kulturgeschichte dieses Landes, o. O. 1796 [ = Beiträge von Nepomuk Delagera, Friedrich Frhr. von Schotte, Stephan Frhr. von Stengel, Karl Albrecht Frhr. von Aretin und Bericht des Judicium delegatum mixtum], S. 11. Ähnlich sah das der pfalz-neuburgische Justizrat Friedrich Frhr. von Schotte. Für Frhr. von Stengel war dies eine sehr beleidigende Unwahrheit; F. F RHR . V . S CHOTTE , in: Vier Aktenstücke; und die Erwiderung Stengels, in: Ebd., S. 38f., 45f. Karl Albrecht Frhr. von Aretin stellte das Verfahren als völlig gerecht dar. Insbesondere könne von Raub keine Rede sein, da das gesamte Moos lehenbar gewesen sei und daher mit einer einzigen Ausnahme kein Begüterter ein Eigentumsrecht gehabt hätte; ebd., S. 124-131. 23 Marquard Frhr. von Pfetten zu Arnbach, Anton Graf von Sandizell, Franz Reichsfreiherr von Gumppenberg zu Pöttmes, Frhr. von Brutscher zu Schorn und Graf Preysing; J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 196. Das Handbuch des größeren Grundbesitzes von 1907 nennt das Fideikommissgut Niederarnbach sowie die freien Güter Oberarnbach und Schorndorf im Besitz von Frhr. Sigmund von Pfetten-Arnbach, das Fideikommissgut Sandizell im Besitz von Karl Theodor Graf von und zu Sandizell, den Fideikommissbesitz der Herrschaft Pöttmes im Besitz von Hanns Georg Frhr. von Gumppenberg-Pöttmeß-Oberbrennberg und das Fideikommissgut Schorn, seit 1885 im Besitz der Frhr. von Herman auf Wain; Handbuch des größeren Grundbesitzes in Bayern, München 2 1907, S. 92-97, 105-107, 116-118, 648f. Der Besitz der Frhr. von Weveld war wohl zu klein, um dort Erwähnung zu finden. Zu dem Grundbesitz der Frhr. von Pfetten im Donaumoos auch: J OSEF S PÖTTLE , Kurze Darstellung der Kulturentwicklung im Donaumoos, Augsburg 1896, Anlage II, S. 39f.; S IGMUND F RHR . VON P FETTEN - A RNBACH , Der Freiherrlich v. Pfetten’sche Grundbesitz im Donaumoose nach dessen Cultur und Bewirtschaftung in den Jahren 1880-1905, Ingolstadt 1905. Rund ein Drittel seines Gesamtbesitzes war Moorboden. 24 O SWALD W ARMUTH , Geschichte der Mooskultur in Bayern unter Kurfürst Karl Theodor mit besonderer Berücksichtigung der Kolonisierung, München 1908, S. 87-90. 25 Ihm gehörten an: Graf La Rosée (Vizedirektor des Revisionsrats der obersten Justizstelle) als Vorstand, Revisionsrat Franz von Berger, Oberlandesregierungsrat Max von Dreern, Hofrat Joseph Faistenberger, Hofkammerrat Joseph Utzschneider, Gottfried Roth (Regierungsrat in Amberg und Justizrat in Neuburg), Franz Xaver Gietl, Hofkammerrat und Fiskal in Amberg. P AUL H OS ER 212 Die Aktiengesellschaft verfügte vor dem Verkauf nicht über die Mittel, um die laufenden Arbeiten zu finanzieren. Insgesamt musste der Kurfürst durch Aufnahme von Krediten und Hypotheken über 331.450 fl. aufbringen. Die Landschaft, der das Unternehmen ein Dorn im Auge war, gab keinen Heller. Dazu waren 195.000 fl. des Aktienkapitals noch nicht aufgetrieben. Zusammen machte das Schulden von 526.450 fl. aus. Die Aktiengesellschaft verkaufte dann das Land an interessierte Siedler. Schon im Frühjahr 1792 wurden die ersten 15 Häuser gebaut. Als erste Siedlung entstand Karlskron. 26 1794 standen in den Siedlungen Karlskron, Karlsruhe und Fruchtheim bereits 39 Häuser. Bis 1804 waren insgesamt 22 Siedlungen gegründet worden. In Karlskron wurde zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein eigenes Moosgericht eingerichtet, das im Moos die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit besaß. 27 Typisch für die Siedlungsanlagen waren die heute noch bestehenden schnurgerade angelegten Entwässerungsgräben mit sich dort erstreckenden Reihendörfern. Die Siedler stammten teils aus dem altbayerischen Gebiet, teils aus Franken, Württemberg und der Rheinpfalz. Angeblich kamen die aus dem bayerischen Wald zugezogenen und an harte Bedingungen gewohnten am besten zurecht, während sich die aus Gegenden mit angenehmerem Klima und besseren Böden schwertaten. Die Kriegszeiten aber ließen die Frage der weiteren Kultivierung und der Instandhaltung des Kanalsystems in den Hintergrund treten. 3. Verkauf und Verfall des Donaumooses Am 25. März 1797 kam der von einem Gegner spöttisch als ›Mooßkönig‹ 28 titulierte Freiherr von Stengel, der die Seele des Unternehmens gewesen war und dem man die Verantwortung für die Schulden zuschob, als Kabinettssekretär zu Fall. Der Staat entledigte sich des Problems, indem er das Moos am 4. Mai 1798 für 575.000 fl. an den Kommerzienrat Bresselau 29 verkaufte, der es zur Torfgewinnung in großem Stil ausbeuten wollte. 30 Dies bedeutete nichts anderes, als dass der große 26 Zu seiner Geschichte: S IGMUND F RHR . VON H ERLING u. a., 200 Jahre Karlskron. Dorfchronik, Karlskron [1991]. Zu dem 1795 entstandenen Karlshuld: Karlshuld. Ein Rückblick auf 200 Jahre Geschichte, Karlshuld [1995]. Zu Klingsmoos und den zugehörigen Orten Untermaxfeld und Ludwigsmoos: W ENDELIN H UBER , Besiedelungsgeschichte und Haus- und Hofchronik von Klingsmoos. Eine Dokumentation, Ingolstadt 2008. 27 Geleitet wurde es vom Amberger Hofkammerrat Johann Georg Frhr. von Aretin; J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 103. 28 N. D ELAGERA , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 17. 29 Später auch unter dem Namen Breslauer bekannt. 30 Er musste sich mit der Niedergerichtsbarkeit zufriedengeben, die Hochgerichtsbarkeit ging an das Moosgericht über, das dem kurpfalzbayerischen Ökonomierat unterstand. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 213 Kultivierungsgedanke aufgegeben war. Bresselau erwies sich aber bald als unfähig, die zugesagten Gelder aufzubringen. Am 18. Januar 1800 beschloss die Generallandesdirektion, den Aktienbesitz auf den Staat zu übernehmen. Bresselau hatte an der Erhaltung der Mooskulturanlagen kein Interesse gehabt und sie verfallen lassen. Die Gräben waren nicht geräumt worden, die Brücken eingestürzt, von den 210.000 Pappeln an den Kanalböschungen waren gerade noch 1.000 übrig. Was auf den Feldern angebaut wurde, war kümmerlich, die Häuser der ärmlich lebenden Siedler baufällig. Dies änderte sich auch nicht unmittelbar nach der Übernahme durch den Staat. Die einzige Abgabe zur Instandhaltung, der sogenannte Kanalbatzen, reichte bei weitem nicht aus. Die Ach wurde nicht geräumt, ebenso wenig die Nebenkanäle. Die Wege wurden nicht unterhalten, die Brücken fielen zusammen, die Bäume wurden niedergehauen. Die an das Moor angrenzenden Gemeinden nutzten es weiter zur Viehweide, das an den Ufern der Kanäle weidende Vieh trat deren Böschungen zusammen, und das Rentamt hatte Teile der Dämme verkauft. Erst 1818 interessierte sich der Staat wieder für das Donaumoos. In einem Bericht für die Regierung des Oberdonaukreises hieß es: 31 Der Boden bringt nur kärglich schlechtes Getreide hervor. Es wächst auf demselben nur saures Gras, und nur in trockenen Jahren und in guten Lagen genießbare Kartoffeln. Der ökonomische Zustand der Colonisten ist der armseligste und ein Bild des tieffsten Elendes. Ihre auf nassen Gründen erbauten Häuser drohen den Einsturz, und fast überall […] ist nichts als Ruin und Verderben zu finden. Alle Hauptkanäle waren verwachsen und verschlammt. Wiederinstandsetzung und Ansätze zur Verbesserung des Donaumooses Der Staat ernannte nun einen eigenen Donaumoosinspektor 32 zur Aufsicht und stellte auch das Geld für die Wiederherstellung zur Verfügung. 1818 begann man mit der Erneuerung. Im Sommer 1820 entsandte die Regierung den Oberbaurat Heinrich Freiherrn von Pechmann in das Moor, um einen Bericht über dessen Zustand zu erhalten. Zwar waren die Wiederherstellungsarbeiten vorangeschritten, aber noch waren die Mängel groß, insbesondere dort, wo die Austrocknungsmaßnahmen schon ganz am Anfang unvollkommen geblieben waren. Der Hauptkanal 31 Zit. in: H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. 104. 32 Simon Eisele. Nach seinem Tod folgte Mannhard nach. Er starb 1825. Sein Nachfolger wurde der Gutsverwalter des Grafen von Grafenreuth, Willibald Häutle. 1837 folgte auf ihn der Donaumoosinspektor Wiedemann. Zu dem Amt: J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 16f. Zu Kreisbaurat Beyschlag: Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern 1824, München 1824, S. 292. P AUL H OS ER 214 war verwachsen und weiter den Beschädigungen durch das weidende Vieh ausgesetzt; teilweise war an den Ufern Torf gestochen worden. Nach einer erneuten Vermessung entwarf Kreisbaurat Christian Friedrich Beyschlag einen neuen Plan zur Verbesserung und zum Ausbau der Anlagen. Vor allem sollte die Ach vertieft werden, um ein gleichmäßiges Fließen des Wassers zu erreichen und Überschwemmungen zu vermeiden. Daneben waren auch noch die Kanäle reparaturbedürftig. Bis 1825 wurde weiter an dem gesamten System gearbeitet, insgesamt wurden nochmals 25.470 fl. investiert. Auch die Brücken und Durchlässe wurden erneuert und entlang der Kanäle 14.500 Pappeln und Weiden angepflanzt. Gleichzeitig zog man neue Siedler in das Gebiet. 1833 machte man anscheinend nochmals einen Ansatz zur Schaffung einer staatlichen Kommission, die dem Donaumoos aufhelfen sollte. Ludwig I. erklärte sein Interesse. Falls die Kommission noch nicht ernannt sei, wünsche er, […] daß Joseph von Baader, dieser zwar gewiß kenntnisreiche Gelehrte, aber gewaltige Projektenmacher, dieser in der Ausführung äußerst unzuverlässige Mann keinen Theil daran zu nehmen habe. 33 Die Sache verlief dann offenbar im Sand. Versuche zur Schaffung von Musterwirtschaften im Donaumoos Als gegen Aretin und Riedl 1794 der Vorwurf laut wurde, jeder von beiden habe sich ein schönes Schloss im Moos bauen lassen und sie hätten sich die Gründe genommen, ohne etwas dafür zu bezahlen, 34 antwortete Aretins Sohn Georg in einer Verteidigungsschrift, die Häuser seien keineswegs Paläste und er und Riedl hätten teuer für den Grund bezahlt, der nicht kultiviert gewesen sei. 35 Sie hätten durch die Bewirtschaftung den Kolonisten ein Beispiel geben wollen. Ähnliches beabsichtigte Johann Peter Kling. Er hatte als Direktor der kurfürstlichen Regierung in München 1795 das Moor nach der Austrocknung inspiziert. Da die Siedler bei Karlshuld nach seiner Ansicht den Torfboden nicht richtig behandelten, war er 1798 dafür eingetreten, eine Fläche von rund 816 ha, die der Regierung für Aktienanteile zustanden, für den Staat zu übernehmen und darauf eine Musterwirtschaft anzulegen. Mit dem Verkauf an Bresselau war aber die Regierung andere Wege gegangen. Da Kling überzeugt war, dass die Asche ein geeigneter Dünger sei, pachtete er 1801 34 ha Land, auf dem im Jahr zuvor eine große Fläche abgebrannt 33 A NDREAS K RAUS (Hg.), Signate König Ludwigs I., Bd. 2: 1832-1835 (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 2), München 1989, S. 162. Baader hatte sich den Unmut Ludwigs zugezogen, weil er statt dessen Kanalprojekt das einer Eisenbahn bevorzugte; H EINZ G OLLWITZER , Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 1986, S. 657-659. 34 K. A. F RHR . V . A RETIN , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 189-197. 35 J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 209. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 215 war, um seine Theorie in größerem Stil erhärten zu können. Er siedelte eine Pfälzer Bauernfamilie an und nannte die Siedlung Probfeld. Kling behauptete, mit der Aschedüngung seien große Erfolge erzielt worden. 36 Auch von Pechmann trat später für die Errichtung einer Musterwirtschaft ein. 37 1832 erwarb Donaumoos-Inspektor Willibald Häutle vom Donaumoosverein 38 den Stengelhof mit dem dazugehörigen Grund vom Staat, um eine Musterwirtschaft einzurichten, doch wurde er schon 1845 an 14 verschiedene Grundbesitzer verkauft. 39 Selbst den als Spezialisten für Landwirtschaft in Maxweiler angesiedelten Mennoniten war kein Erfolg beschieden. 40 4. Die zeitgenössische Debatte um den Sinn und Erfolg der Kultivierung des Donaumooses Schon 1791 hatte von Stengel das noch nicht abgeschlossene Projekt als einen gigantischen Erfolg bejubelt: 41 Oede, grundlose Steppen, wo noch vor kurzem keines Menschen Fußtritt seit Jahrhunderten hinzugekommen war, sind in erndeschwangere Gefilde umgestaltet; mit grossen geladenen, vier- und sechsspännigen Wägen fährt man über ehemalige Abgründe, und uneingedenk der alten Gefahren ziehet der Landmann auf der neugeschaffenen Erde mit seiner schweren Heuernde nach Haus. Der traurige Aufenthalt einsamer Wasser- und Sumpfvögel ist in einen Garten umgeschaffen; nach dem lange gedulteten Elend heitert sich Himmel und Erde um die erstaunenden Nachbarn aus, welche, indem sie an den künftigen Szene für sich, ihre Kinder und Enkel arbeiten, die Belohnung ihres Fleißes in goldenen Strömmen einziehen. 36 J OHANN P ETER K LING , Beschreibung eines Kulturversuches im Donaumoos. Nebst Nachricht von einigen angelegten Kolonien im Donaumoos, dann im Kolbermoos bei Rosenheim, München 1806, S. 8-11, 27-29. 37 H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. 158. 38 Ludwig I. hatte 1826 die geplante Gründung dieses Vereins sehr begrüßt; A NDREAS K RAUS (Hg.), Signate König Ludwigs I., Bd. 1: 1825-1831 (Materialien zur Bayerischen Landesgeschichte 1), München 1987, S. 281. Zu dem Verein: H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. 120f. 39 H ANS K RELL , Die Besiedlung des Donaumooses. Kultivierung und Besiedlungsgeschichte, in: Neuburger Kollektaneenblatt, Jahrbuch 130 (1977), S. 42-146, hier 113. 40 F. X. W ISMÜLLER , Geschichte der Moorkultur 2 (Anm. 17), S. 177. 41 S T . F RHR . V . S TENGEL , Austrocknung des Donaumooses (Anm. 19), S. 18f. P AUL H OS ER 216 Kommissar Karl Albrecht Freiherr von Aretin rühmte sich: Die Trockenlegung des Donaumooses ist eine Unternehmung, die in der Europäischen Staatengeschichte kein Beispiel findet. 42 Dagegen bestritt der Neuburger Regierungsrat und zeitweilige Pflegskommissär des pfalz-neuburgischen Pfleggerichts Reichertshofen, Nepomuk Delagera, ein Gegner des Kultivierungsprojekts, den vielgerühmten Erfolg: 43 Die Mooserde gleicht bekanntlich ganz einem Schwamm, welcher Schwamm wenn er von aller Feuchtigkeit entblößt wird, nicht und niemal mehr einige Frucht bringen, oder tragen kann, es seye dann, ein solcher Grund werde gehörig mit guter Erde vermischt, und wohl angefüllet. Durch die übertriebene Austrocknung sei nichts erreicht, sondern nur Schaden angerichtet worden. Aretin konterte, die Böden seien ideal: 44 Die herrlichsten Früchte, das üppigste Getreid wächst auf dem Moos, […] Die Mooserde ist die beste, man darf sie nur umreißen, und schlechterdings mit Heublumen und Klee besäen, dann mit der Zeit düngen, so entstehen daraus die schönsten Wiesen oder Äcker. Delagera hielt theoretisch eine Verbesserung des Bodens nur durch die Vermischung mit guter Erde für möglich. Darauf erwiderten Stengel und Aretin, dies würde für die gesamte kultivierte Moosfläche 4,8 Milliarden Gulden kosten. 45 Doch trafen sie damit Delagera nicht, der dies zwar theoretisch für möglich gehalten, es aber seinerseits auch praktisch als unsinnig dargestellt hatte, weil es Millionen fressen würde. 46 Ebenso sei die bei Hitze unerlässliche zusätzliche Bewässerung völlig unrentabel. 47 42 K. A. F RHR . V . A RETIN , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 110. Er verwies auf ähnliche Kultivierungen im Fürstentum Mörs in Westfalen, in der oberen Grafschaft Lingen, im Fürstentum Corvey, in der Grafschaft Pyrmont, in der Herrschaft Limburg, in der Grafschaft Montfort und in den Schweizer Kantonen Zug und Schaffhausen. 43 N. D ELAGERA , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 21. 44 K. A. F RHR . V . A RETIN , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 178f.; vgl. J. G. F RHR . V . A RE - TIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 148: Der Torf […] geht nun allmählig in Fäulnis über, und löset sich dadurch nach und nach in eine schwarzbraune Erde auf, die gewissermassen die beste von allen, und wahre Gartenerde ist. Ebd., S. 152: Anstelle der Sumpfpflanzen kömmt nun allmählig ein besseres und süsses Gras hervor, […]. 45 K. A. F RHR . V . A RETIN , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 179f.; ebenso S T . F RHR . V . S TENGEL , in: ebd., S. 59f.; J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 146. 46 N. D ELAGERA , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 25. 47 Frhr. von Stengel hielt dagegen eine zusätzliche Bewässerung für kontraproduktiv, da sie D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 217 Der geistliche Rat und Professor der Ingolstädter Universität, Franz von Paula Schrank, sprach noch 1794 von einer goldenen Aehrenkrone, die sich Karl Theodor verdient habe. 48 Auch für ihn schien es ein Kinderspiel, den Boden fruchtbar zu machen: Durch Düngung des Bodens, auch nur mit gemeinem Straßenkothe, würde […] die baldige Verwandlung des Torfes in wahre Gartenerde zuwege gebracht, […]. 49 Das Jahrhunderte alte Wurzelfilz wird nun zersetzt, und giebt eine Gartenerde. Bei welcher man mehr über ihre für den Fruchtbau zu große Geilheit als über ihre Unfruchtbarkeit zu klagen hat; die aber für Gartenfrüchte ganz vortrefflich ist. 50 Überdies glaubte Schrank, man könne Wälder aus Eichen, Birken, Erlen und Hagebuchen anpflanzen. Auch der Anbau von Tabak, Krapp und Flachs sei möglich. 51 An der Fruchtbarkeit des Bodens hielt noch Donaumoos-Inspektor Häutle entschieden fest: 52 Da, wo die Entwässerung hinlänglich geschehen ist, und Gräben und Kanäle ordentlich unterhalten sind, ist die Produktionskraft so groß, daß man mit einer Düngung, durch welche auf den angrenzenden, schon seit Jahrhunderten urbaren Feldern zehnfacher Saamenertrag erzielt, im Moose 10 bis 12facher, erhalten wird. Ebenso glaubte Freiherr von Pechmann noch daran, sprach von der Beschaffenheit des […] guten und fruchtbaren Bodens 53 und pries die natürliche Fähigkeit des Moores, eine sehr blühende Gegend zu werden, […]. 54 Gegen das Argument, die viel gepriesene Stallfütterung sei in der Moosgegend unausführbar, behauptete Aretin, die Kleingütler seien damit bereits sehr erfolgreich. 55 diejenigen Pflanzen am Leben halten würde, die die Nässe liebten, und so ihre Auflösung in Humus blockiert würde; S T . F RHR . V . S TENGEL , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 64. In ähnlichem Sinn K. A. F RHR . V . A RETIN , in: ebd., S. 173f. 48 F RANZ VON P AULA S CHRANK , Naturhistorische und ökonomische Briefe über das Donaumoor, Mannheim 1795, S. 1. 49 F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48), S. 45f. 50 F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48), S. 113f. 51 F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48), S. 152f., 165-172. 52 Beschreibung des Donaumooses in Beziehung seines Einflusses auf die Umgegend vor und nach der Austrocknung, dann seiner Produktionsfähigkeit und der Kolonisierungsweise mit einem Actien-Plane. Entworfen Neuburg im December 1830 von dem Donaumoos-Vereine, Augsburg 1831, S. 9. 53 H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. 76. 54 H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. IV. 55 K. A. F RHR . V . A RETIN , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 168-171. Sein Sohn reagierte auf die skeptischen Bemerkungen, die Ställe seien nicht geräumig und nicht luftig genug, P AUL H OS ER 218 Zukunftsweisend war Schranks Warnung davor, in zu großem Umfang Torf zu stechen. Man solle das nur dort tun, wo das Moor trotz der Trocknung völlig unbrauchbar sei: 56 Das angebliche Nachwachsen des Torfes gründet sich nur auf äusserst flüchtige Beobachtungen; Niemand hat Erfahrungen für seine Behauptung. Man verwandelt durch das Torfstechen noch immer brauchbares Moorland in einen wahren Schlammgrund, und vergiftet dadurch die Gegend weit umher. Da keine der Ursachen weggeräumt wird, die das Moor zum Sumpfe machen, so werden sie durch die Wegnahme der Torfschichten nur noch vergrößert, indem die Höhe des Grundes erniedriget wird. Schrank hatte auch schon vor einem Abbrennen des Moores gewarnt: 57 Ich kann mir auch die Verbrennung eines großen Torfmoores nicht ohne Entsezen vorstellen, weder die Mittel enträthseln, die man einschlagen dürfte, sowohl die Zerstörung nahe gelegener Gründe und Dorfschaften zu verhüten, als auch zu verhindern, daß nicht das ganze Moor in einen unfruchtbaren Aschenhaufen verwandelt, und auf diese Weise der ganze Endzweck des Abbrennens vereitelt werde. Die ein Vierteljahrhundert später geäußerten Kritikpunkte waren vielfältiger Art. 58 Zum einen betrafen sie die technische Seite. Freiherr von Pechmann räumte ein, man habe den Hauptkanal zu breit angelegt. Da er für seine Volumen zu wenig Wasser führte, sei der Schlamm nicht weggeschwemmt worden. 59 Außerdem hätte man die Ach vertiefen müssen, um ihr ein stärkeres Gefälle zu geben. Als besonderen Fehler sah er es an, dass nahezu alle Mühlen stehen geblieben waren, die den Abfluss störten. In Karlskron hatte man sogar den Bau einer Mühle am Hauptkanal gestattet. So war das ganze südwestliche Gebiet immer noch sumpfig. Die Mühle musste dann teuer gekauft und abgerissen werden. Ein weiterer grundlegender Fehler sei mit der Besitzverteilung gemacht worden. Zwar könne eine Fläche von neun Tagwerken, wie sie die Siedler erhielten, auf fruchtbarem, kultiviertem Boden, verbunden mit einem kleinen Nebenerwerb, ausreichen, um eine Familie zu ernähren. Auf einem unkultivierten Boden reiche diese Fläche aber bei weitem nicht aus. Anders als die späteren Ansiedler aus der Rheinpfalz hatten die ersten meist keinerlei Vermögen. Man hatte auf diese Weise nur um für eine Stallfütterung zu taugen, es treffe genau das Gegenteil zu; J. G. F RHR . V . A RE - TIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 159-163. 56 F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48), S. 111f. 57 F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48), S. 108. 58 Siehe dazu auch: S. F RHR . V . H ERLING u. a., 200 Jahre Karlskron (Anm. 26), S. 16f. 59 H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18), S. 42-44. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 219 Armenkolonien zustande gebracht. Delagera hatte schon 1794 festgestellt, die Kolonisten seien zum größten Teil Lumpen und könnten meist nicht einmal ihren Ansitz bezahlen. 60 In krassem Gegensatz dazu stand die 1795 erschienene Darstellung des Moosgerichts-Vorsitzenden Johann Georg von Aretin zur Lage in Karlshuld: 61 Professionisten bekamen Häuser, Bauern bekamen Gründe und Vieh geschenkt, und was sie käuflich übernommen haben, dürfen sie erst nach 5 Freijahren in 10 und 15jährigen Fristen bezahlen. Sie brauchten also nicht mehr Geld, als um sich Hausrath, Saamgetreid und Holz anzuschaffen […] Die meisten hatten wenigstens mehrere hundert Gulden im Vermögen, und die besten Attestaten ihres Lebenswandels von ihren bisherigen Obrigkeiten, und gegenwärtig besitzen sie gesunde und geräumige Häuser, zum Theil viele Grundstücke, und werden, sobald nur die ersten Jahre vorüber sind, in kurzer Zeit wohlhabend werden, um so mehr, als sie nun auch vom Churfüstliche geistlichen Rathe mit verhältnißmäßigen Darlehen aufs kräftigste unterstüzt werden. Für das Jahr 1826 schilderte der Pfarrvikar Lutz die Verhältnisse in der Kolonie Karlshuld als äußerst prekär: 62 Wer das menschliche Elend in jeder Beziehung in seiner tiefsten Tiefe kennen lernen wollte, der durfte nur wenige Tage in Karlshuld verweilen […]. Die einstöckigen Wohnungen der Kolonisten sind nur aus Holz armselig zusammen gezimmert. Eine enge, niedere und finstre Stube nebst einem noch elendern Kämmerchen bilden gewöhnlich den ganzen Raum, worin die ganze Familie den Tag über wohnt und des Nachts schläft. Die Wohnstube hat oft gar keinen bretternen Fußboden oder ist doch nur mit einigen Trümmern halbverfaulter Bretter belegt. Tritt nun langanhaltende Nässe ein, so dringt das Wasser aus dem ohnehin schon feuchten Fußboden heraus, und macht das Wohnen daselbst äusserst ungesund. Donaumoos-Inspektor Häutle stellte die Lage 1829 ebenfalls ganz anders dar, als die Leiter des Projekts knapp 35 Jahre zuvor: 63 60 N. D ELAGERA , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 25; dagegen J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 156-159. 61 J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos-Kulturs-Geschichte (Anm. 14), S. 157. 62 J OHANN E VANGELIST G EORG L UTZ , Geschichtliche Notizen über die bürgerlichen und religiösen Verhältnisse der Kolonisten-Pfarr-Gemeinde Karlshuld auf dem Donau-Moos, Heft 1, Neuburg 1832, S. 17f. 63 StA Augsburg, Donaumoosakten 481, Beschreibung des Donaumooses von seinem Werden bis zu seinem gegenwärtigen Bestehen, 10.11.1829 (veröffentlicht 1831); Beschreibung des Donaumooses (Anm. 52), S. 9. P AUL H OS ER 220 Man war […] bemüht, Kolonisten zu bekommen: der schon verbreitete Ruf aber hat sehr dafür gesorgt, daß sich nur wenig geeigenschaftete Individuen, wohl aber viele vermögenslose und arbeitsscheue Menschen und zuweilen auch wahre Taugenichtse hiezu meldeten. Diesem nach mußten die Kolonien schon bei der Errichtung den Keim des Mißlingens um so mehr in sich tragen, als die Natur selbst in der Verwesung noch zu wenig fortgeschritten war, um daß der Boden hätte entsprechen können, und so sah man die Kolonisten statt zu nützlichen Staatsbürgern, größtentheils zu einer Bettlerherde anwachsen. - Ausserdem wurde ein zweiter Fehler begangen, indem man die Grundbesitze zu sparsam austheilte, weil man auch im Donaumoose dem seit 30 Jahren herrschenden Systeme der Stallfütterung und einer complicirten Benützung des Grundeigenthums huldigte. Ein dritter Fehler war es Pechmann zufolge gewesen, den Käufern von mindestens 68 ha (200 Tagwerk) die Hofmarksgerichtsbarkeit zu verleihen. Die Hofmarksbesitzer interessierten sich nicht für die Kultivierung des Donaumooses insgesamt, sondern versuchten nur ohne Rücksicht auf Verluste, für sich möglichst viele Vorteile herauszuschlagen. Sie siedelten im Verhältnis zum Ertrag des Bodens viel zu viele Leute an, um deren Arbeitskraft für sich auszunutzen und Abgaben aus ihnen herauszupressen. Franz Seraph Grill war vom Schreiber in Landshut zum Administrator des Moosgerichts aufgestiegen und lebte von da an in großem Stil. Er war durch Güterkäufe Hofmarksherr von Karlsruhe und Grillheim geworden. Grill siedelte ein Mehrfaches der vorgesehenen Höchstzahl an Familien an, an denen er sich durch Gebühren aller Art bereicherte. Er schädigte den Ruf des Donaumooses in allen benachbarten Städten. Kriminalität war in seiner Hofmark an der Tagesordnung. Da sich Grill um ein Verbot, weitere Familien anzusiedeln, nicht scherte, wurde 1808 seine Patrimonialgerichtsbarkeit eingezogen und stand zehn Jahre unter Zwangsverwaltung. 64 Neben der Wiederinstandsetzung der verfallenen Kanalanlagen versuchte man bei den erneuten Ansiedlungen, die alten Fehler zu vermeiden. Die Kolonisten sollten jetzt eine ausreichende Fläche erwerben und über genug Vermögen verfügen. 64 H. K RELL , Besiedlung des Donaumooses (Anm. 39), S. 93-95. Zum Vorwurf der Bereicherung gegen Grill s. a. N. D ELAGERA , in: Vier Aktenstücke (Anm. 22), S. 22f. Ganz ähnlich wie Grill ging Graf von Benzell in Karlshuld vor. Statt 20 Familien, für die der Grund reichte, ließen sich 126 nieder. Seine Verwaltung rechtfertigte dieses Verhalten mit der Notwendigkeit, Arbeitskräfte zu beschaffen. In einem Tauschgeschäft ging die heruntergekommene Kolonie dann 1826 an den Staat über; BayHStA, Landesdirektion Neuburg 422, Pfarrer Rieger an Landesdirektion Neuburg, 31.7.1801; Hofmarksgericht des Grafen Benzell an Landesdirektion Neuburg, 22.8.1801; J. E. G. L UTZ , Geschichtliche Notizen (Anm. 62); S. F RHR . V . H ERLING u. a., 200 Jahre Karlskron (Anm. 26), S. 14-16, 22-24. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 221 So glaubte man jetzt auch, das Prinzip der Stallfütterung zukünftig verwirklichen zu können. 65 5. Die Entwicklung im Donaumoos von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war dann der Enthusiasmus verflogen. 1850 ließ Maximilian II. eine Kommission von Fachleuten einsetzen, die darüber beraten sollte, auf welche Weise die südbayerischen Moore und Ödungen kultiviert werden oder wenigstens einen höheren Ertrag abwerfen könnten. 66 Praktische Folgen hatte dies nicht. Skepsis hinsichtlich des Donaumooses spricht aus einer ausführlichen Darlegung des Gutsverwalters des Grafen von Sandizell aus dem Jahr 1857, in der das Kultivierungsprinzip der Trockenlegung grundsätzlich in Frage gestellt wurde: 67 Sechzig Jahre sind nun verflossen seit Cultur des Donaumooses […]. Die Hoffnungen und Erwartungen der damals aufgestellten unmittelbaren Donaumoos Cultur Comission sind jedoch in der That weit übergriffen gegen die vor dem Auge liegenden Resultate der Jetztzeit. […] Dieselben Einwürfe und Beschuldigungen, welche schon im Jahre 1790 der Direction gemacht wurden, bestehen noch immer, ohne jemals gründlich beseitiget werden zu können. […] 1. Ohne Wässerung ist keine Kultur des Donaumooses möglich. Die Gründe müssen in heißen Jahren ausbrennen, während die Reife welche sich im Moose bis in den Monat Juni erstrecken, die an und für sich kümmerliche Grasnarben erstarren machen. 2. Stallfütterung, welche man durch die Cultur erzwecken will, ist im Donaumoose unausführbar. […] Von Jahr zu Jahr mindern sich in auffallender Weise die Erträgnisse der Donau-Mooswiesen, bis sie zu kümmerlichen Viehweiden herabsinken. […] Elendes, kümmerliches Füttern, an Nahrungswerth dem Roggenstroh gleich, wird eingeheimst, um doch theilweise Vieh zu überwintern; und will man nur annähernd die Wirtschaft verbessern, muß Futter angekauft werden, um doch einigen Dünger für die Sommerfruechte Felder zu erzielen. - Vom künstlichen Futterbau kann unter den obwaltenden climatischen Verhältnissen keine Rede sein u. jede umfangreiche Hoffnung muß gleich 65 S. F RHR . V . H ERLING u. a., 200 Jahre Karlskron (Anm. 26), S. 18f. 66 A LOIS S CHLÖGL (Hg.), Bayerische Agrargeschichte. Die Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts, München 1954, S. 213. 67 StA München, LR 72402, Gräflich-Sandizell’scher Gutsverwalter Cornet an Landgericht Schrobenhausen, 7.1.1857. Neben dem Grafen Sandizell unterschrieben auch die Freiherrn von Pfetten und Gumppenberg diesen Bericht. P AUL H OS ER 222 einer Seifenblase zerstäuben, wenn wissenschaftliche u. practische Grundsätze dagegen sprechen. Ohne Futterbau und natürliche Wiesen keine Viehstand, ohne Viehstand kein Dünger, ohne Dünger kein nachhaltiger erträglicher Getreidebau, ohne diesen kein ersprießliches Einkommen, ohne dieses kein Mittel zum Fortschreiten der Cultur. Die Entwässerung habe sich als Fehlschlag erwiesen: 68 Der Culturplan, das Moos völlig zu ertrocknen, hat den natürlichen Graswuchs zerstört; wo keine Feuchtigkeit ist, kann auch die künftige Futterproduktion nicht gedeihen; wo kein Futter ist, gibt es keinen Viehstand, wo dieser nicht ist, keinen Dünger, und ohne Dünger keinen Getreidebau. Die zu starke Abtragung von Torf führe dazu, dass die Hauptableitungskanäle immer tiefer gelegt werden müssten, im höher gelegenen oberen Moos verursache das Trockenheit, die vor allem in heißen Jahren die Unfruchtbarkeit des Bodens herbeiführe. Wegen der Übersiedlung seien 3.000 Menschen brotlos. Die Frauen und Kinder würden meist zum Betteln geschickt. 69 Ähnlich wie der Sandizell’sche Gutsverwalter klagte drei Jahre später die Gemeinde Pobenhausen: Der Ertrag der Moosgrundstücke sei zu gering. Nur bei ganz günstigen Jahren lohne sich die investierte Arbeit einigermaßen. Selbst in einem guten Jahr sei das Moosheu immer noch ein schlechtes Futter. Die Kolonisten in Karlskron und Karlsruhe tauschten alle zwei bis drei Jahre ihr Vieh aus, um es nicht durch das Ungeziefer, das wegen des schlechten Futters in den Tieren 68 StA München, LRA 72442, Cornet an Landgericht Schrobenhausen, 15.3.1860, fol. 54- 64; vgl. dazu die schon am 3. März 1822 bei der Kammer der Abgeordneten eingebrachte Klage der Gemeinde Hohenried, über die zu große Trockenheit ihrer Wiesen nach der Austrocknung des Donaumooses; D IRK G ÖTSCHMANN (Bearb.), Die Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags 1819-1918 (Beiträge zum Parlamentarismus, Sonderbd.), München 1997, S. 179. Schon aus Anlass der Melioration des Havelbruchs unter Friedrich Wilhelm I. von Preußen klagten die Betroffenen über die Austrocknung ihrer Wiesen. Auch bei Meliorationsmaßnahmen in der Boker Heide im östlichen Münsterland um die Mitte des 19. Jahrhunderts traten ähnliche Probleme auf; R ITA G UDERMANN , Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliorationen in Westfalen und Brandenburg (1830-1880) (Forschungen zur Regionalgeschichte 35), Paderborn u. a. 2000, S. 64f., 302-309. 69 Zeitweise versuchte man schließlich, Zuzug und Neuansiedlungen zu verhindern. Der 1852 gegründete Donaumoos-Regulierungsfonds kaufte Grundstücke verarmter Moosbauern auf, um sie an ansässige Landwirte weiter zu veräußern oder zu verpachten; H. K RELL , Besiedlung des Donaumooses (Anm. 39), S. 119f. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 223 wachse, umkommen zu lassen. Eine Besserung sei wegen des Mangels an Dünger nicht möglich. 70 1866 und 1867 stellten verschiedene Donaumoosgemeinden den Antrag auf Einstellung der Entwässerungsarbeiten, weil sie die Trockenheit für die schlechten Erträge der Wiesen und den starken Frost des Jahres 1865 verantwortlich machten. 71 Am 21. Januar 1869 erließ schließlich die Regierung von Schwaben und Neuburg im Einverständnis mit der Kreisregierung von Oberbayern eine neue Donaumoosordnung. Die kleineren Kanäle und Seitengräben durften demnach nur mehr auf Antrag der betreffenden Gemeinden geräumt werden. In einem 1872 abgefassten Memorandum über das Donaumoos im Bereich des Bezirksamts Neuburg, das dem Landrat 72 für Schwaben und Neuburg vorlag, blickte der Verfasser auf die gesamte Entwicklung des Donaumooses seit dem Kultivierungsprojekt zurück: 73 Es hat wohl selten ein Unternehmen gegeben, welches von Anfang an und bis heute noch, nach mehr als 70 Jahren so entschieden und widersprechend beurtheilt worden ist, und beurtheilt wird, als die Cultivierung des Donaumooses. […] Während von den einen das Moos nur als ein stinkender Sumpf bezeichnet wurde, der Miasmen, Krankheiten und Viehseuchen verbreite und häufig von verheerenden Hagelwettern heimgesucht werde, als ein unzugängliches Terrain, worauf nur wenig, noch dazu ungesundes Futter wachse, welches man nicht einmal herausbefördern könne, werden von anderer Seite die Nachtheile weit weniger hoch angeschlagen, und namentlich hielten die umliegenden Gemeinden die Moosweide für eine Existenzbedingung. Während die einen sich und anderen von der Entwässerung ein Paradies versprachen, prophezeiten die anderen, es werde dann gar nichts mehr wachsen. 74 70 StA München, LRA 72442, Gemeinde Pobenhausen an Landgericht Schrobenhausen, 24.4.1860, fol. 30f. 71 M ICHAEL H AUSHOFER , Die Entwässerung des Donaumooses bei Neuburg, hier die Verbesserung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse und Kulturzustände im Donaumoose, Augsburg 1907, S. 26. 72 Zu diesem Gremium: B ERNHARD H AGEL , Der Landrath von Schwaben und Neuburg 1852-1919 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 2), Augsburg 1982. 73 StA München, RA 64230, Bericht über das Donaumoos im Bezirksamt Neuburg vorgelegt dem ständigen Ausschusse des Landraths von Schwaben und Neuburg, 31.8.1872. Es handelte sich um das bei M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 76f., 102, zitierte Gutachten des Bezirksamtsmanns von Neuburg, Beisler; vgl. dazu auch J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 18f. 74 Auch Haushofer sah das Projekt von Lanz als das eigentlich zukunftsweisende an; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 69f. P AUL H OS ER 224 Zu der seinerzeitigen enthusiastischen Darstellung des Freiherrn von Stengel merkte der Berichterstatter an: Leider finden sich in den Akten keine Anhaltspunkte für die Glaubwürdigkeit dieser Schilderung und der Verfasser dieser Dithyrambe hat wohl selbst nicht an seine Prophetengabe geglaubt. Inzwischen seien zwar die Miasmen, also die Ausdünstungen aus dem Sumpf, die man immer noch für Krankheitsursachen hielt, beseitigt und auch die Anziehungskraft für verheerende Gewitter sei reduziert. Es träten aber immer noch Fröste im Frühjahr und im Herbst auf. Bei einigen an das Moos angrenzenden Gemeinden seien durch die Entwässerung die Wiesen vertrocknet, so dass nicht genug Futteranbau für das Vieh möglich sei. Es fehle im Sommer an Feuchtigkeit und der Boden habe Mangel an mineralischen Bestandteilen. Das Getreide sei nur in trockenen Jahren von guter Qualität, die der Kartoffeln sei gering. Nur wenige Großgrundbesitzer hätten wertvolles Vieh. Rinder vertrügen auf die Dauer das Moosfutter nicht. Noch immer lebte die ärmere Bevölkerung in schlecht gebauten Häusern. Viele müssten auswärts Arbeit suchen. Durch höheren Torfabbau könne man zwar für mehr Beschäftigung sorgen, gefährde aber die Landwirtschaft. Eine auf Initiative der Kreisregierung aufgestellte Kommission sah in einem Gutachten vom April 1873 die zu starke Entwässerung als Hauptproblem und befürwortete eine regulierte Bewässerung und empfahl erstmals den systematischen Einsatz von Kunstdünger. 75 Im Mai 1874 bereiste der Kreis-Kultur-Ingenieur Hintz aus Bayreuth im staatlichen Auftrag das Donaumoos und legte im Juli dieses Jahres einen Bericht vor. 76 Auch er war der Ansicht, dass das Donaumoos zu stark entwässert worden sei und empfahl zum einen, für eine genügende Befeuchtung des Bodens zu sorgen; zum anderen sollte die Torfnutzung im Interesse der Bewohner noch erweitert werden können. Zur besseren Regulierungsmöglichkeit der Bewässerung sollten unter den Zuleitungskanälen langgezogene, beliebig verschließbare Wasserreservoire angelegt werden. Eine 1876 in Neuburg zusammengestellte Kommission aus Bau- und Kulturtechnikern wollte dagegen das Problem mit zusätzlichen Stauschleusen regeln, was Hintz entschieden ablehnte. 77 In ähnlichem Sinn wie die Kommission urteilte 1875 ein Gutachten des Spezialisten von Rimpau, eines sächsischen Gutsbesitzers. 78 Er wollte zusätzlich den Boden mit Sand bedecken und sprach sich für eine intensivere Verwendung von 75 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 75f. 76 J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 19-21; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 77f. 77 J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 21; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 78f. 78 J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 22; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 77f. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 225 Kunstdünger aus. Dies empfahl 1876 auch die Regierung von Oberbayern. 79 Eine ihr vorliegende Darstellung führte die Trockenheit auf den Stand der Technik zu Ende des 18. Jahrhunderts zurück. 80 Die Geodäsie sei damals noch sehr unvollkommen gewesen. Man habe die Kanäle nur horizontal darstellen können. Das scheinbar ebene Moos habe aber Höhen und Tiefen. Hätte man sämtliche Kanäle in die Tallinien des Mooses gelegt, wäre die Grundwasserbewegung in der normalen Stromrichtung geblieben. Stattdessen habe man die natürliche Grundwasserströmung zerstört. Der Gutachter verwies auf die Entwässerung des Dachauer, Erdinger und Freisinger Mooses, 81 bei der man die Hauptkanäle richtigerweise in die Tallinie gelegt habe. Außerdem habe man dort die das Moos begrenzenden Hügel angegraben und mit dem so gewonnenen Material den Moorboden angereichert. Im Donaumoos stünden allerdings Hügel, aus denen man Lehm gewinnen könne, nicht zur Verfügung. Die norddeutsche Methode, das Moos abzubrennen, eigne sich ebenfalls nicht. Die Gründe seien danach nämlich nur sehr begrenzte Zeit ertragreich und müssten anschließend sehr lange brach liegen. Dies sei bei dem begrenzten Grundbesitz der Siedler nicht möglich. So bleibe einstweilen nur die Düngung mit Torfmull übrig. 1877 unternahm man im Bezirksamt Neuburg den ersten Anlauf zur Bildung von Genossenschaften, um das Kanalsystem zu erneuern und zu verbessern. 82 Die Bereitschaft dazu war allerdings gering. Unter der Moosbevölkerung herrschte noch vielfach die Ansicht vor, man wolle ihr die Neubewässerung aufzwingen und 79 StA München, RA 642390, Darlegung vom 4.8.1876. 80 StA München, RA 64230, Anlage zum Bericht der Regierung von Oberbayern betr. Verbesserung der wirtschaftlichen Zustände im Donaumoos vom, 29.10.1876. 81 1774 hatte die Regierung Moosgründe an Bürger von Erding verteilt. Auch einzelne Gemeinden erhielten Moosflächen zugewiesen. Die Durchführung der Kultivierung blieb ihnen überlassen, daneben ergriffen adlige Grundbesitzer die Initiative. Die Kultivierung im Erdinger Moos war nicht einem einzigen Plan gefolgt wie im Donaumoos, sondern sukzessive durchgeführt worden. Systematisch gefördert wurde sie durch den Landrichter von Widnmann, der mit seinen Großprojekten aber scheiterte. Im Fürstbistum Freising hatte man ebenfalls große Flächen für die Kultivierung aufgeteilt. Auch hier war es ohne Fehler und Rückschläge nicht abgegangen. Große Fortschritte hatte man erst seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Gründung von Genossenschaften zur systematischen Entwässerung erzielt. Dazu H ANS O. D IENER , Geschichte der Besiedelung und Kultivierung des Erdinger Mooses (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 7), München 1931, S. 89-176; C LAUDIUS S TEIN , Staatskirchentum, Reform-Katholizismus und Orthodoxie im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. Der Erdinger Landrichter Joseph von Widnmann und sein Umfeld (1781-1803) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 157), München 2007, S. 376-384. 82 StA Augsburg, Regierung 14530, Bezirksamt Neuburg an Regierung von Schwaben, 10.12.1877. Diesen Weg hatte man schon bei anderen Kultivierungsprojekten in Oberbayern gewählt; A. S CHLÖGL (Hg.), Bayerische Agrargeschichte (Anm. 66), S. 214. P AUL H OS ER 226 sie dauernd in der Nutzung ihres Eigentums einschränken. 83 Man befürchtete jetzt überdies erneut, trotz der vorherrschenden Klagen über die schädlichen Folgen der Entwässerung, durch eine Neubewässerung werde zu starke Feuchtigkeit zum Nachteil der landwirtschaftlichen Interessen auftreten. Außerdem hatte man Bedenken, dass das Ausmaß des Torfstechens stark verringert werde. Der Kreisbaumeister versicherte, dass die Befürchtungen unbegründet seien, da die Genossenschaft durch eine in der Ach einzubauende Schleuse den Wasserstand jeweils selbst regulieren könnte. 84 Im September 1879 bildete man erneut eine Kommission. 85 Sie tagte jeweils in Karlshuld und umfasste 22 Mitglieder. Sie sollte einerseits zwischen Bevölkerung und Verwaltung vermitteln, andererseits die bestehenden Anlagen kontrollieren und neue Anregungen geben. Die Errichtung von Stauschleusen erklärte sie 1884 als unzweckmäßig. Die Regierung von Schwaben, die zunächst eine Musterschleuse hatte bauen wollen, ging danach von diesem Vorhaben ab. Seit den 1890er Jahren hielt man dann allgemein wieder die verbesserte Entwässerung, verbunden mit entsprechender Düngung, für das wahre Heilmittel. 86 1897 entstand die Donaumooskulturstation in Karlshuld zur wissenschaftlichen Untersuchung der agrarischen Nutzungsmöglichkeiten, die langfristig erheblich zum Aufschwung der Landwirtschaft im Donaumoos beitrug. 87 Anders als die im 19. Jahrhundert gescheiterten Ansätze zu Mustergütern erwies sie sich als wegweisend für die landwirtschaftliche Nutzung des Moorbodens. Im Februar 1900 erinnerte der Gutsbesitzer Siegmund Freiherr von Pfetten das Bezirksamt daran, dass in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wegen mehrerer trockener Jahre auch mehrere Ernten als Missernten ausgefallen seien. 88 Damals sei der Eindruck entstanden, dass die Moosbevölkerung vor dem Ruin stehe. Sie sei zu der Überzeugung gelangt, dass nur eine verbesserte Bewässerung dies verhindern könne. Es sei aber kein Stauschleusensystem angelegt worden. Der 83 StA Augsburg, Regierung 14530, Stellungnahme des Kreisbaurats vom 10.3.1878. 84 Dazu auch J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 23. Ein erster Schritt sollte die Bepflanzung der Kanalböschungen mit Bäumen sein. Man hatte den Fehler gemacht, an den Donaumoosstraßen Alleen anzulegen. Die Straßen waren aber zu schmal, so dass die Bäume durch Fuhrwerke immer wieder beschädigt worden waren. Zukünftig wollte man die Straßen nur einseitig bepflanzen oder, falls zweiseitig, mit großen Abständen zwischen den Bäumen. 1877 ließ man auch das Moos neu aufnehmen. 85 J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23), S. 24f., und Anlage I, S. 35-38. 86 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 31. 87 A. S CHLÖGL (Hg.), Bayerische Agrargeschichte (Anm. 66), S. 217. 88 StA Augsburg, Regierung 14532, Von Pfetten an Bezirksamt Neuburg, 26.2.1900; vgl. seine späteren Ausführungen in der Bayerischen Staatszeitung in ähnlichem Sinn. Von Pfetten war Reichstagsabgeordneter und Mitglied der Donaumooskommission. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 227 Ackerbau habe auch so wegen besserer Düngung einen Aufschwung genommen. 89 1893 habe wieder eine Dürre große Ausfälle in der Futter- und Getreideernte zur Folge gehabt. Als Ursache habe man die Anreicherung des Bodens durch mineralische Stoffe als Folge der Kunstdüngung angesehen. Damit sei die Vegetation widerstandsfähiger geworden, der Untergrund habe sich deshalb gelockert und gesenkt. Da als Folge auch das Wasser wieder höher gestiegen war, war die allgemeine Meinung jetzt von der Forderung nach besserer Bewässerung zu der nach einer stärkeren Entwässerung umgeschwenkt. Von Pfetten, der sich gegen eine zu extreme Entwässerung aussprach, plädierte für die Anlage eines Systems von Nebenkanälen zwischen den großen Maschen des Kanalnetzes. Er selbst habe dies bereits erfolgreich in seinen Besitzungen in Ober- und Niederarnbach und in Schornhof realisiert. Die Gemeindeverwaltung von Karlshuld verlangte dagegen im November 1900 beim Bezirksamt Neuburg, dass der Moosbezirk vollständig trockengelegt werden müsse. 90 Der Kreiskulturingenieur im Raum Schwaben und Neuburg, Michael Haushofer, sah die Lösung ebenfalls in der Wiederinstandsetzung und Verbesserung der Entwässerungsanlagen. 91 Für ihn war die Argumentation, wonach die häufigen Missernten und Fröste auf die zu große Austrocknung zurückzuführen seien, völlig falsch - eine Sichtweise, die einst schon Häutle gehabt hatte. 92 Es treffe das gerade Gegenteil zu. Die Gesamtfläche des Kulturlandes an Äckern, Wiesen und Wald machte 86,7 % der Fläche des Donaumooses aus. Intensiv bewirtschaften konnte man aber nur 58,05 %, bei der übrigen Fläche war der Ertrag zu schlecht. 93 Haushofer war fest davon überzeugt, dass bei einer durchdachten Regulierung des Wasserabflusses und bei rationeller Bewirtschaftung das Kulturland auf 80 %, möglicherweise sogar auf 95,5 % ausgedehnt werden könne. 1906 veröffentlichte er einen großzügig angelegten Plan, der die Grundlage für die folgenden Maßnahmen bot, wenn er auch nicht in allem umgesetzt wurde. 94 Für sehr wichtig hielt Haushofer die Aufforstung öder oder minderwertiger Grundstücke. Die Waldkulturen sollten einen Windschutz zugunsten der Kultur- 89 Zum zunehmenden Einsatz von Kunstdünger seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts: M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 227. 90 StA Augsburg, Regierung 14532, Gemeindeverwaltung Karlshuld an Bezirksamt Neuburg, 12.11.1900. Auch in der Viehzucht war der Zustand noch immer schlecht. Noch nach hundert Jahren hatte man miserable Stallungen, und das Vieh musste auf dem Moosboden liegen. Noch immer taugte auch das auf den Moorwiesen angebaute Futter nichts; StA Augsburg, Regierung 14531, Haushofer an Regierung von Schwaben, 20.11.1900. 91 StA Augsburg, Regierung 14532, Gedruckte Niederschrift über die Sitzung der Donaumooskommission am 17.3.1902 im Staatsministerium des Innern. 92 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 14. 93 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 82-84. 94 StA Augsburg, Regierung 14539, Protokoll vom 21.3.1914. P AUL H OS ER 228 pflanzen bieten und das Auftreten des schädlichen Reifs vermindern. 95 Kerngedanke war aber die systematisch durchdachte Entwässerung. 96 Die Region wurde in vier Untergebiete unterteilt. 97 Für jedes wurde eine Genossenschaft gebildet. Im Zentrum des Moors stand das Teilprojekt III. 98 1920 war dieser Bereich der wichtigste für den Anbau von Saatkartoffeln und Saatgetreide. 99 Die Sanierungsmaßnahmen liefen schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an. 1908 war es auch endlich gelungen, die Weicheringer Mühle anzukaufen, 100 die von jeher als Hindernis gegolten hatte. 101 6. Die Entwicklung des Donaumooses von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart Durch den Ersten Weltkrieg geriet das Gesamtprojekt der Neuregulierung offenbar ins Stocken. Freiherr von Weveld in Sinning schlug vor, Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter einzusetzen, um in seinem Gebiet die Sache voranzutreiben und den Lagenmühlbach räumen zu lassen. Das Kulturbauamt Donauwörth lehnte das aber ab, da Wevelds Gutsbesitz zu klein sei, so dass die Verwendung von Kriegs- 95 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 65-68. 96 M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 107-214. 97 Das untere und südliche, das mittlere, das nordwestliche und nördliche sowie das südwestliche und westliche Donaumoos; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71), S. 84-98 (mit einer genauen Beschreibung der einzelnen Regionen). 98 Es umfasste Grundbesitz der Orte Hollenbach, Dezenacker, Dinkelshausen, Fermittenhausen, Ortlfing, Seiboldsdorf, Sinning, Wagenhofen, Karlshuld, Neuschwetzingen, Kleinhohenried, Untermaxfeld, Ludwigsmoos, Klingsmoos, Dettenhofen, Dirrschhofen, Edelshausen mit Linden, Eppertshofen, Lampertshofen, Alteneich, Stiefhofen, Schrobenhausen, Brunnen, Deinhausen, Hohenried, Hohenwart, Kaltenherberg, Niederarnbach, Waidhofen, Wangen, Unsernherrn, Haßlangkreit, Weilenbach, Rettenbach, Lagenmoosen, Malzhausen, Sandizell, Winkelhausen, Mühlried, Diepoldshofen, Weichering, Bruck, Neuburg, Zell, Heinrichsheim, Ingolstadt, Lichtenau, Hagau, Winden, Zuchering mit Seehof, Ober- und Unterbrunnenreuth, Grasheim, Obergrasheim, Untergrasheim, Karlskron, Adelshausen, Aschelsried, Pobenhausen, Reichertshofen, Steinerskirchen und Manching; StA München, LRA 60938, Aufstellung vom 29.4.1924. 99 StA Augsburg, Regierung 14540, Bezirksamt Neuburg an Regierung von Schwaben, 5.5.1920. 100 StA Augsburg, Regierung 14540, Notarieller Vertrag vom 30.7.1908. 101 StA Augsburg, Regierung 14530, Stellungnahme des Kreisbaurats vom 10.3.1878; ebd. 14532, Gemeindeverwaltung Karlshuld an Bezirksamt Neuburg, 12.11.1900; F. X. W IS - MÜLLER , Geschichte der Moorkultur 1 (Anm. 17), S. 169. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 229 gefangenen sich nicht lohne. 102 Nach dem Krieg wurden die Arbeiten wieder aufgenommen, gingen aber nur stockend voran. Der nasse Juni des Jahres 1923 richtete erheblichen Schaden an. Noch immer sah man potentiell in dem Gebiet eine blühende Landschaft. In der ›Bayerischen Staatszeitung‹ konnte man im August 1923 lesen: Ganz München könnte von dem Ueberschusse an Kartoffeln und Getreide leben, der bei völliger Entwässerung des Gebietes gewonnen würde. 103 Ein Problem war das Tauziehen darum, was der Staat und was die Genossenschaften zu bezahlen hatten. 104 Der Staat war schließlich zu hohen Zuschüssen bereit, wofür die Genossenschaften im Gegenzug die Unterhaltung übernehmen mussten. 105 Ausgenommen waren die schon bis dahin vom Staat aus den Mitteln des Kanalbatzens instand gehaltenen Wasserläufe und Gräben. Auch der Kreis Oberbayern und der Kreis Schwaben und Neuburg leisteten finanzielle Hilfe. Der Kartoffelanbau wurde seit den dreißiger Jahren der wichtigste Wirtschaftsfaktor im Donaumoos. 106 Bis 1936 waren von den vier Projekten drei systematisch in Angriff genommen. Von Seiten des Freiherrn von Pfetten wurde auch auf die Verwirklichung des Projekts IV gedrängt. Die hohen Niederschläge des Frühjahrs 1936 und die im Sommer davor hätten ungeheure Wasserschäden verursacht. Wiesen, Getreide- und Kartoffeläcker in der Gegend hätten unter Wasser gestanden. Auf 60 Tagwerk Mooräckern seines eigenen Besitzes sei das Wasser so lange gestanden, dass die Ernte vernichtet sei. 107 Bis zu diesem Zeitpunkt war aber die Stimmung für die Gründung einer Genossenschaft für das Gebiet IV nicht günstig gewesen. 108 Während die Betroffenen im Bezirksamt Neuburg im Allgemeinen dafür waren, waren die Meinungen im Bezirksamt Schrobenhausen geteilt, im Bezirksamt Ingolstadt herrschte Ablehnung vor. 109 Eine Schwierigkeit war auch die nicht gesicherte Finanzierung. Von Seiten der von Pfetten schen Verwaltung drängte man weiter 102 StA Augsburg, Regierung 14539, Straßen- und Flussbauamt Neuburg an Regierung von Schwaben, 6.5.1915. 103 Bayerische Staatszeitung vom 9.8.1923, Nr. 183, S. 4. Verfasser war Sigmund Frhr. von Pfetten. 104 Dazu StA Augsburg, Regierung 14540, Denkschrift von Pfettens vom 8.7.1920, und seine Argumentation in Bayerische Staatszeitung vom 9.8.1923, Nr. 183, S. 4. 105 StA München, LRA 60938, Staatsministerium für Land- und Forstwirtschaft an Regierung von Schwaben, 22.3.1924. 106 W OLFGANG G ÖTZ / J OACHIM B IRKHOLZ , Die Landwirtschaft im Donaumoos. Von 1900 bis heute, in: Neuburger Kollektaneenblatt, Jahrbuch 130 (1977), S. 150-179, hier 158. 107 StA München, LRA 60914, Freiherrlich von Pfetten’sche Saatzuchtwirtschaft Niederarnbach an BA Schrobenhausen 28.7.1936. 108 StA München, LRA 60914, Kulturbauamt Donauwörth an Bezirksamt Schrobenhausen, 4.8.1936. 109 StA München, LRA 60914, Bezirksamt Neuburg an Regierung von Schwaben 12.2.1937. P AUL H OS ER 230 und berief sich auf eine Rede des preußischen Ministerpräsidenten Göring als dem Beauftragten für die Durchführung des Vierjahresplans. Danach sollten unverzüglich alle Maßnahmen getroffen werden, durch Bodenverbesserung die Ernteerträge zu steigern. Man schlug auch schon den zeitüblichen Ton an: 110 Wenn es da und dort noch Leute gibt, die aus Unverstand oder aus egoistischen Gründen dem Projekt ablehnend gegenüberstehen, so müssen diese Elemente eben zur Aufgabe des Widerstandes gezwungen werden. Die überwiegende Mehrheit der Beteiligten schreit heute sowieso nach raschester Durchführung. Am 27. April 1940 kam endlich die Gründung des Wasserverbandes Donaumoos IV zustande. 111 Die Kosten waren zwei Jahre später auf 1.265.350 RM veranschlagt. 112 Der Krieg verhinderte aber eine Realisierung der verbesserten Entwässerung. 1947 wollte man dann die Arbeiten für den Abschnitt IV bei Karlskron wieder in Angriff nehmen und verwirklichte sie auch. 113 Doch war dann in den fünfziger Jahren schon wieder eine Nachentwässerung erforderlich. Sie wurde in den Jahren 1958 bis 1962 unter der Oberaufsicht des Wasserwirtschaftsamts Donauwörth für 1,2 Millionen DM durchgeführt. Der Unterhaltungsaufwand wurde auf 200.000 DM pro Jahr geschätzt. Eine Bestandsaufnahme der landwirtschaftlichen Entwicklung zwischen 1900 und 1977 stellte fest: Die letzten 25 Jahre Landwirtschaft im Donaumoos haben gezeigt, daß der Mösler […] immer noch in Krisenzeiten zuerst nach der Hilfe des Staates ruft. 114 Noch immer war die laufende Entwässerung unvermeidlich. 115 Das Moorbodenprofil sackte dadurch gegenüber den Straßendämmen und Kiesschottern der Moosrandgebiete ab; der Moosboden sank und der Grundwasserspiegel stieg. Dies förderte wiederum die Nässe des Bodens, die zu Ernteertragsausfällen führte. Auch die Ausführung von Bauten war und ist dadurch erschwert. 110 StA München, LRA 60938, Freiherrlich von Pfetten’sche Saatzuchtwirtschaft Niederarnbach an BA Schrobenhausen, 19.4.1937. 111 Amtsblatt für den Landkreis Neuburg an der Donau vom 4.9.1939, Nr. 38. 112 StA München, LRA 60914, Regierungspräsident von Schwaben an Regierungshauptkasse München, 21.1.1941. 113 StA München, LRA 60914, Bericht vom 15.8.1947; W OLFGANG G ÖTZ / W ERNER V ITZ - THUM , Die wasser- und bodenwirtschaftliche Situation im Donaumoos, in: Neuburger Kollektaneenblatt, Jahrbuch 130 (1977), S. 198-206, hier 200. 114 W. G ÖTZ / J. B IRKHOLZ , Landwirtschaft (Anm. 106), S. 174. 115 W. G ÖTZ / W. V ITZTHUM , Die wasser- und bodenwirtschaftliche Situation im Donaumoos (Anm. 113), S. 198. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 231 Am 1. Oktober 1970 fasste der bayerische Landtag einen Beschluss, in dem die Staatsregierung ersucht wurde, die Entwässerungsanlagen 116 wasserwirtschaftlich und rechtlich zu überprüfen, erforderliche Baumaßnahmen vorzuschlagen und Beihilfen zu gewähren. 117 Auf einer Besprechung bei der Obersten Baubehörde mit Vertretern der Ministerien für Landesentwicklung und Umweltplanung, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden hielt man Teillösungen für unsinnig und eine Gesamtsanierung des Gebiets der Wasserverbände Donaumoos I bis IV für notwendig. Eine derartige Gesamtsanierung musste die Neuregelung des Entwässerungsnetzes sowie Maßnahmen des Hochwasserschutzes, der Abwasserbeseitigung und der Wasserversorgung umfassen. Insgesamt schätzte man die Kosten mindestens auf 170 Millionen DM. Eine Sanddeckkultur zur Verhinderung der Moorabsackung hätte weitere 70 Millionen DM gekostet. Seit der Kultivierung waren insgesamt etwa 3 Meter Moorauflage und 6.000 ha Moorfläche verloren gegangen, das heißt gut ein Drittel des gesamten Gebiets. Der Umweltschutzgedanke begann in der Folgezeit immer mehr an Raum zu gewinnen. 1985 beschloss der Bayerische Landtag, ein ökologisches Gesamtgutachten zur Entwicklung des Naturhaushalts unter dem Einfluss des Menschen ausarbeiten zu lassen. 118 Obwohl das Entwässerungsnetz inzwischen eine Gesamtlänge von 450 km hatte, traten immer wieder Vernässungserscheinungen auf, die die landwirtschaftliche Bodennutzung erschwerten. 90 % des Donaumooses wurden inzwischen dank der Möglichkeiten moderner Agrartechnik und Agrarchemie landwirtschaftlich genutzt. Die landwirtschaftliche Nutzung von Grundwassermoorböden war nach Auffassung des Bundesamts für Naturschutz wegen des Torfschwundes umweltbelastend. Um dies zu beenden, wäre das Gebiet auf weiten Flächen wieder zu vernässen gewesen. 119 Dem stehen die dichte Besiedlung 120 und die zersplitterte Besitzstruktur entgegen. Das ökologische Gutachten sah daher 116 Neben Neuburg an der Donau, Schrobenhausen und Ingolstadt auch in Pfaffenhofen an der Ilm und Aichach. 117 Sanierung des Donaumooses: Das staatliche Planungsvorhaben 1970-1977. Exposé aus den Vorträgen von Dr. Walter Asam, Landrat, in: Neuburger Kollektaneenblatt, Jahrbuch 130 (1977), S. 207-212, hier 207f. 118 J ÖRG P FADENHAUER / S ABINE H EINZ , Renaturierung von niedermoortypischen Lebensräumen. 10 Jahre Niedermoormangement im Donaumoos (Naturschutz und Biologische Vielfalt 9), Bonn-Bad Godesberg 2004, S. 20-23; ferner Entwicklungskonzept Donaumoos. Zukunft für das größte Niedermoor Süddeutschlands, Neuburg a. d. Donau 2002. 119 Das heißt in allen Bereichen mit einem Meter Torfmächtigkeit, also einer Schicht von nur mehr einem Meter Höhe. 120 Einwohnerzahl 1804: 1.350; 1840: 3.510; 1895: 5.046, heute rund 12.000. W OLFGANG G ÖTZ / W ERNER V ITZTHUM , Werdegang des Donaumooses im Spiegel der Statistik, in: Neuburger Kollektaneenblatt, Jahrbuch 130 (1977), S. 180-195, hier 180. P AUL H OS ER 232 eine schrittweise Umwandlung von Ackerzu Grünland vor; damit sei der Torfschwund zu zwei Dritteln reduzierbar. Doch würde dies eine völlig neue Struktur voraussetzen, die ohne erheblichen finanziellen Aufwand nicht machbar ist. Das 1986 fertig gestellte Donaumoosgutachten löste in der Bevölkerung Aggressionen aus. Man verstand die Umwandlung von Nutzin Brachflächen, die eventuell sogar mit Vernässungsmaßnahmen verbunden sein sollte, als Rückschritt in Zustände vor der großen Kultivierung. Diese galt immer noch als gewaltiger Fortschritt. Erst 1991 wurde am Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen der Donaumoos- Zweckverband gegründet. In ihm schlossen sich die betroffenen Donaumoosgemeinden zusammen. Ziel ist der Ausgleich von ökonomischen und ökologischen Interessen. Durch Flächenankauf und Flächentausch will er für ausreichende sogenannte Retentionsräume sorgen, in denen das Wasser seinen Raum findet. 1995/ 96 wurde im Auftrag des Donaumooszweckverbands die ›Arbeitgsruppe Donaumoossanierung‹ bei der Regierung von Oberbayern gegründet. Sie sollte die verschiedenen Interessenlagen integrieren und ein gemeinsames Leitbild erarbeiten. 1997 wurde die Umweltbildungsstätte ›Haus im Moor‹ eingerichtet. Mit dem ›Entwicklungskonzept 2000-2030‹ hat der Zweckverband zusammen mit allen beteiligten Interessengruppen einen Plan für die Entwicklung des Donaumooses für die nächsten dreißig Jahre geschaffen. Hauptziele sind der Hochwasserschutz für die Siedlungen, die nachhaltige landwirtschaftliche Nutzung und der Schutz des Torfkörpers im Verbund mit Arten- und Biotopschutz. Alle Maßnahmen sollen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Ob der neue Plan nicht versucht, die Quadratur des Kreises zu lösen, muss die Zukunft zeigen. Das Donaumoos scheint prädestiniert für großangelegte menschliche Experimente mit dem Ziel zum Glück. Schwärmte man ursprünglich von einer neuen Kornkammer mit reicher Viehzucht, verbunden mit ertragreichem Handel durch Schifffahrt, 121 sah man später die Kartoffelproduktion als Gewinnung von »schwarzem Gold« 122 an, so träumt man heute von einer gelungenen Verbindung von Ökonomie und Ökologie. 7. Quellen und Literatur und Zielsetzung des Beitrags Quellen zur ursprünglichen Phase der Kolonisierung des Donaumooses sind reichlich überliefert. Zahlreiche Akten zu den Anfängen des Projekts liegen im Staatsarchiv Augsburg, im Staatsarchiv München und im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Im Staatsarchiv Augsburg handelt es sich neben den unter ›Bezirksamt 121 Insbesondere die Schifffahrt hatte es dem Kanalenthusiasten Ludwig I. angetan; A. K RAUS (Hg.), Signate König Ludwigs I., Bd. 1 (Anm. 38), S. 504. 122 W. G ÖTZ / J. B IRKHOLZ , Landwirtschaft (Anm. 106), S. 158. D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 233 Neuburg‹ eingeordneten Unterlagen um Akten der Regierung von Schwaben und Neuburg vor allem um den Bestand der Donaumoosakten. Im Zuge der Provenienzbereinigung wurde dieser früher geschlossene Bestand ›Donaumoosakten‹ zwischen dem Staatsarchiv Augsburg und dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufgeteilt. Die nach München abgegebenen Akten werden dort im Sinne dieser formalistisch bis zum äußersten getriebenen Neuordnung inzwischen auf eine ganze Reihe anderer Bestände aufgesplittert. 123 Ferner finden sich Akten im Bereich ›Staatsministerium des Innern‹ und im Bestand ›Stengel-Archiv‹, Donaumoosakten der Abt. V (Geheimes Hausarchiv). Im Staatsarchiv München sind die entsprechenden Betreffe des Rentmeisteramts München Unterbehörden, der Regierung von Oberbayern und des Landratsamts Schrobenhausen heranzuziehen. Die an der Planung und ersten Verwirklichung der Donaumooskultivierung beteiligten Zeitgenossen und ihre mit der Regenierung der Anlagen befassten Nachfolger verfassten, je nach ihrer Rolle und Sichtweise, auf Akten gestützte Rechtfertigungsschriften oder kritische Abhandlungen. 124 Gegen Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erschienen einige ausführliche Abhandlungen zur Geschichte des Großprojekts. 125 Zwei weitere Darstellungen, die für das Thema von Belang sind, kamen zwischen 1977 und 2001 heraus. 126 In der Darstellung der Planung und Verwirklichung des Donaumoos-Projekts im letzten Drittel des 18. und im ersten des 19. Jahrhunderts stützt sich dieser Beitrag weitgehend auf die genannte Literatur, die ihrerseits in breitem Umfang das überlieferte Aktenmaterial ausgewertet hat. Die Hauptintention besteht jedoch darin, in einem Längsschnitt seine weiteren Folgen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegenwart hin herauszuarbeiten. 123 Unter anderem Landesdirektion Neuburg, Pfalz Neuburg Archivalien, Pfalz Neuburg Hofgericht, Pfalz Neuburg Lehenspropstamt und Pfalz Neuburg Regierung. 124 [J. J. L ANZ ], Schrobenhauser Lehenmoos (Anm. 12), S. 1053-1081; S T . F RHR . V . S TEN - GEL , Austrocknung des Donaumooses (Anm. 19); J. G. F RHR . V . A RETIN , Donaumoos- Kulturs-Geschichte (Anm. 14); F. V . P. S CHRANK , Briefe über das Donaumoor (Anm. 48); Vier Aktenstücke (Anm. 22); J. P. K LING , Beschreibung (Anm. 36); Beschreibung des Donaumooses (Anm. 52); H. F RHR . V . P ECHMANN , Geschichte der Austrocknung (Anm. 18); J. E. G. L UTZ , Geschichtliche Notizen (Anm. 62). 125 J. S PÖTTLE , Donaumoos (Anm. 23); J OSEF A. H ENSELE , Donaumoos-Studien. Arbeiten der k. b. Moorkulturanstalt, 2 Bde., München 1899/ 1902; M. H AUSHOFER , Entwässerung des Donaumooses (Anm. 71); O. W ARMUTH , Geschichte der Mooskultur in Bayern (Anm. 24); F. X. W ISMÜLLER , Geschichte der Moorkultur (Anm. 17). 126 H. K RELL , Besiedlung des Donaumooses (Anm. 39), S. 42-146; M ONIKA G ROENING , Karl Theodors stumme Revolution. Stephan Freiherr von Stengel (1750-1822) und seine staats- und wirtschaftspolitischen Innovationen in Bayern (Mannheimer Geschichtsblätter NF Beih. 3), Ubstadt-Weiher 2001. P AUL H OS ER 234 8. Zusammenfassung und Perspektiven Der Optimismus der Aufklärer, die durch großflächige Trockenlegung von Sümpfen dauerhaft fruchtbares Acker- und Wiesenland zu schaffen hofften und damit die Ernährung der Bevölkerung verbessern und ärmeren Schichten durch Ansiedlung eine bessere Existenz ermöglichen wollten, machte auch vor dem Kurfürstentum Bayern nicht halt und ließ das Großprojekt der Kultivierung des Donaumooses gegen die verschiedensten Widerstände Wirklichkeit werden. Von Anfang an warnten allerdings Kritiker, dass man durch bloße Austrocknung noch keinen fruchtbaren Boden gewinne und sich das Torfstechen und das Abbrennen des Moorbodens schädlich auswirken werde. Der schnelle Erfolg des mit staatlichen Mitteln eingeleiteten Projekts wollte sich trotz aller gegenteiliger Beschwörungen nicht einstellen. Als besonders gravierender Fehlschlag erwies sich die als Notbremse gedachte Privatisierung. Der Verkauf an einen Spekulanten, der die Kanalanlagen verkommen ließ, endete in einem völligen Fiasko. Ein weiterer Missgriff war es gewesen, dass man den Siedlern von den Böden, die eben nicht die erwartete Qualität annahmen, zu kleine Flächen zugewiesen hatte, von deren Ertrag sie nicht leben konnten. Auch technische Fehler waren gemacht worden. Die Kanäle hatten ein zu geringes Gefälle, und die nicht beseitigten Mühlen störten den Wasserabfluss. Zwischen 1820 und 1825 ließ man die Anlagen erneut auf staatliche Kosten einigermaßen instand setzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte die Meinung vor, die Entwässerung sei schädlich für die Böden und eine verbesserte Bewässerung nötig, wenn auch noch Stimmen laut wurden, die der gegenteiligen Ansicht waren und zu feuchte Böden als Folge befürchteten. Die Errichtung einer mit wissenschaftlichen Methoden arbeitenden Donaumooskulturstation erwies sich schließlich als wegweisend für die landwirtschaftliche Nutzung. Durch einen großangelegten Plan, der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entstand, wurde das Moos in vier Gebiete aufgeteilt, in denen jeweils eine Genossenschaft für die Erneuerung und Instandhaltung der Anlagen sorgen sollten. Die Umsetzung des Plans dauerte bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre mußte aber schon wieder eine Sanierung stattfinden. All dies erforderte jeweils hohe staatliche Zuschüsse. Die Kultivierung reduzierte die Moorfläche im Lauf der Zeit um ein Drittel. Dank der modernen Agrartechnik und Agrarchemie werden inzwischen 90 % des Bodens landwirtschaftlich genutzt. 1970 war erneut eine Gesamtsanierung in der Diskussion. Das wiederholte Ansteigen des Grundwassers, das die Vernässung der Böden zur Folge hatte, war offenbar nie dauerhaft in den Griff zu bekommen. Mit dem zunehmenden Vordringen des Umweltschutzgedankens seit den achtziger Jahren kam auch eine mögliche Renaturierung ins Gespräch. Nutzflächen sollten in Brachflächen zurückverwandelt und eine Vernässung in Kauf genommen werden. Hiergegen protestierte die in der Gegend D IE D ONAUMOOSKULTIVIERUNG UND IHRE F OLGEN 235 ansässige Bevölkerung entschieden. 1991 wurde dennoch ein Zweckverband gegründet, der damit begann, Flächen für die Renaturierung anzukaufen. Da aber auch auf die landwirtschaftliche Nutzung des Donaumooses in großem Umfang nicht verzichtet werden soll und diese auch rechtlich nicht einfach auszuhebeln wäre, ist es fraglich, ob dieser Weg zu einer Lösung führen kann. Die Donaumoosentwässerung ist ein weit in die Geschichte zurückreichender und in seinen Folgen immer noch Probleme verursachender Fall, der wie eine Reihe anderer zeigt, daß Großeingriffe in den Wasserhaushalt der Natur unkontrollierbare Wirkungen haben können, die nicht den Nutzen grundsätzlich in Frage stellen, sondern zum Teil irreparable Schäden hinterlassen. 127 127 Verheerende Folgen hatte etwa die Ableitung von Wasser aus dem Aral-See im 20. Jahrhundert, große Nebenschäden löst auch die Umleitung des Wassers aus dem Jordanfluss zur Bewässerung von Wüstengebieten durch den Staat Israel aus. Das bisher gigantischste Projekt dieser Art blieb Gedankenspielerei: Zwischen 1928 und 1932 entwarf der in München lebende Architekt Hermann Sörgel den Plan, das Mittelmeer durch einen Staudamm bei Gibraltar abzuriegeln, um Energie zu gewinnen. Die teilweise Trockenlegung des Mittelmeers sollte auch die Gewinnung von wertvollem Neuland ermöglichen; A LEXAN - DER G ALL , Das Atlanropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Hermann Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt/ Main 1998. IV. Umgang mit Seuchen: ›Heiliges Feuer‹ und ›Pest‹ 239 P EER F RIESS Das ›Heilige Feuer‹. Umweltgeschichtliche Aspekte eines medizinischen Phänomens Die Erforschung der Umweltgeschichte hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem etablierten Teilgebiet der Geschichtswissenschaft mit einem stark ausdifferenzierten Forschungsfeld entwickelt. 1 So wurden etwa die unmittelbaren Auswirkungen der Klimaschwankungen nicht mehr nur in Bezug auf die Agrarwirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln untersucht, sondern auch Bezüge zur Frömmigkeitsgeschichte, zur bildenden Kunst oder zu dem Phänomen der Hexenverfolgungen hergestellt. 2 Eine ähnliche Öffnung nahm die medizinhistorische Forschung. Ursprünglich als Teilgebiet an medizinischen Fakultäten gelehrt und im Selbstverständnis ein Teilgebiet der Geschichte der Naturwissenschaften, erfolgte auch hier eine Ausweitung hin zu einer Sozialgeschichte der Medizin. Sie stellt sich die Aufgabe, »Medizin als gesellschaftlich bedingtes Phänomen zu erfassen«. 3 So wurden nicht mehr allein die Entwicklung medizinischer Kenntnisse oder die Leistungen bedeutender Mediziner behandelt, sondern auch der gesellschaftliche Umgang mit Gesundheit und Krankheit in den verschiedenen Epochen. Besonders intensiv erforscht ist dabei die Reaktion der Menschen auf Seuchen wie Pest oder Cholera. Ähnlich wie Pocken oder Grippe handelt es sich dabei um Infektionskrankheiten, denen Menschen vor allem dann zum Opfer fielen, wenn sie durch Hungersnöte und lange, harte Winter geschwächt waren. Diese Zusammenhänge machen deutlich, dass 1 N ILS F REYTAG , Deutsche Umweltgeschichte - Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283 (2006), S. 383-407, hier 386; V ERENA W INIWATER / M ARTIN K NOLL , Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007, S. 14. Vgl. auch den jüngsten Literaturüberblick von F RANK U EKÖTTER , Umwelt- und Technikgeschichte, in: GWU 9/ 10 (2010), S. 518-530. Vgl. die Einleitung zu diesem Sammelband von Rolf Kießling und Wolfgang Scheffknecht. 2 W OLFGANG B EHRINGER u. a. (Hg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit« (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005; D ERS ., Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 4 2009, S. 173-195; S USANNE K IERMAYR -B ÜHN , Leben mit dem Wetter. Klima, Alltag und Katastrophen in Süddeutschland seit 1600, Darmstadt 2009. 3 R OBERT J ÜTTE / W OLFGANG U. E CKART , Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 15, siehe auch S. 156-169. P EER F RI ES S 240 Umweltfaktoren von entscheidender Bedeutung für das Auftreten von epidemischen Erkrankungen und für ihre Auswirkungen waren. Die Reaktion der Menschen auf epidemische Erkrankungen wurde allerdings vornehmlich im Hinblick auf die Entwicklung von Diagnose- und Therapieansätzen unter medizinhistorischem sowie im Hinblick auf obrigkeitliche Maßnahmen wie Quarantäne oder Massenimpfungen unter kultur- und gesellschaftsgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet. 4 Umweltgeschichtliche Komponenten wurden kaum untersucht. Die Verknüpfung medizinhistorischer und umweltgeschichtlicher Ansätze erscheint jedoch aus mehreren Gründen sinnvoll zu sein. Zum einen legt die ursächliche Verbindung von Krankheiten und Umwelteinflüssen, wie etwa bei der Malaria, eine integrative Betrachtung nahe. Zum anderen lassen sich an der Art der zeitgenössischen Berücksichtigung der Umweltfaktoren Rückschlüsse auf den epochentypischen Kenntnisstand im Bereich der Medizin wie auch auf die verbreiteten Rezeptions- und Deutungsmuster von Krankheiten ziehen. Im Folgenden soll versucht werden, am Beispiel einer im Mittelalter epidemisch 5 auftretenden Krankheit, die in den Quellen als ›ignis sacer‹ bezeichnet wurde, medizin- und umweltgeschichtliche Ansätze zu verbinden, um so ein umfassenderes Bild von der Reaktionsweise der Menschen auf diese existentielle Bedrohung zu erhalten. Dazu gilt es zunächst das Erscheinungsbild und die Häufigkeit des Auftretens des ›ignis sacer‹ oder des ›Heiligen Feuers‹ im Mittelalter sowie die Reaktionen der Menschen auf diese Krankheit darzustellen. Die anschließende Analyse untersucht mögliche Ursachen des ermittelten zeitlichen und räumlichen Verbreitungsmusters. Ausgehend von den zeittypischen Perzeptionsmustern wird dann das weitere Auftreten dieser Krankheit in der Neuzeit verfolgt und auch für diese Epoche die Reaktionen der Zeitgenossen ermittelt. Der so gewonnene Gesamtüberblick über die Verbreitung des ›Heiligen Feuers‹ bildet die Grundlage für die Entwicklung eines Grundrasters der für den Ausbruch von ›ignis sacer‹-Epidemien relevanten Naturbzw. Humanfaktoren und ihres Zusammenspiels. Abschließend wird die auf diese Weise entwickelte Modellvorstellung anhand von drei Regionalstudien auf ihre Anwendbarkeit und ihre heuristische Wirksamkeit hin überprüft. 4 W OLFGANG U. E CKART / R OBERT J ÜTTE , Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen, in: GWU 2 (2008), S. 76-84. 5 Der Begriff ›Epidemie‹ wird im Folgenden im weiteren Sinn gebraucht, das heißt, dass damit keine Infektionskrankheit, sondern ganz allgemein eine Krankheit bezeichnet werden soll, die in einer menschlichen Population zeitlich und örtlich gehäuft auftritt. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 241 1. Das ›Heilige Feuer‹ im Mittelalter und das Wirken der Antoniter Bereits in antiken Texten wird vom ›Heiligen Feuer‹ gesprochen, ohne dass genau geklärt werden kann, welche spezifische Krankheit damit gemeint war. Im Frühmittelalter taucht der Begriff in Chroniken wieder auf und wird für die Beschreibung einer Krankheit verwendet, die heute als Mutterkornbrand bezeichnet wird. 6 Die erste Nachricht über Erkrankungen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit als Mutterkornbrand identifiziert werden können, findet sich in den Xantener Annalen. Zum Jahre 857 wird berichtet: Plaga magna vesicarum turgentium grassatur in populo et detestabili eos putredine consumpsit, ita ut membra dissoluta, ante mortem deciderent. 7 In den folgenden Jahrhunderten kam es in ganz Mitteleuropa immer wieder zu epidemieartigen Ausbrüchen des ›Heiligen Feuers‹. Die verschiedensten Chronisten berichten davon, dass die Menschen bei lebendigem Leibe verfaulten. In der Chronik des Mönchs Sigebert von Gembloux finden wir eine der ältesten Beschreibungen der Auswirkungen des Mutterkornbrandes. Zum Jahre 1089 berichtet er: annus pestilens, maxime in occidentali parte Lotharingiae, ubi multi, sacro igni interiora consumente computrescentes, exesis membris instar carbonum nigrescentibus, aut miserabiliter moriuntur, aut manibus et pedibus putrefactis truncati, miserabiliori vitae reservantur. 8 Wahnvorstellungen und unsägliche Schmerzen quälten sie. Wie von einem inneren Feuer verzehrt, peinigten sie unsäglicher Durst und unerträgliche Schmerzen. Viele starben innerhalb weniger Tage. Andere siechten langsam dahin. Wer die Erkrankung überlebte, musste sein Dasein oft als Krüppel fristen, denn ein Merkmal der Krankheit war es, dass Hände oder Füße brandig schwarz wurden, austrockneten und abfielen. Dieses Phänomen wurde nicht nur in den zeitgenössischen Chroniken erwähnt, sondern auch in der bildenden Kunst insbesondere vom 13. bis ins 16. Jahrhundert 6 Zur historischen Entwicklung der Begrifflichkeit vgl. E RNEST W ICKERSHEIMER , Ignis sacer - Bedeutungswandel einer Krankheitsbezeichnung, in: CIBA-Symposium 8 (1960), S. 160-169. 7 ›Eine große Plage mit anschwellenden Blasen wütete und rafft die Menschen mit so verabscheuungswürdiger Fäulnis dahin, dass die Glieder sich auflösten und schon vor dem Tod abfielen‹; Annales Xantenses, in: MGH (SS) II, S. 230. Zur Historia des Rudolfus Glaber siehe Historiarum libri quinque ab anno incarnationis DCCCC usque ad annum MXLIV oder Historiae (Titel nicht zeitgenössisch überliefert). Auszüge in: MGH (SS) VII, S. 48-72. 8 ›Es war ein Seuchenjahr, besonders im westlichen Teil Lothringens, wo viele, deren Inneres das heilige Feuer verzehrte, an ihren zerfressenen Gliedern verfaulten, die schwarz wie Kohle wurden. Sie starben entweder elendig oder sie setzten ein noch elenderes Leben fort, nachdem die verfaulten Hände und Füße abgetrennt waren‹; in: MGH (SS) VI, S. 268-535, hier 366. Vgl. M ICHEL P OPULER , Aspects historiques de l’intoxination par l’ergot du seigle et de son utilisation volontaire, in: J EAN - P IERRE D EVROEY u. a. (Hg.), Le Seigle. Histoire et Ethnologie, Brüssel 1995, S. 175-209, hier 176 mit der älteren Literatur. P EER F RI ES S 242 immer wieder dargestellt. 9 Das legt die Vermutung nahe, dass das ›Heilige Feuer‹ bis an die Schwelle zur Frühen Neuzeit hinein zu den Geißeln der Menschen in Europa gehörte. Die folgende Grafik 1 bestätigt diese Hypothese. Sie basiert auf einer Zusammenstellung aller bislang bekannten Nachrichten über das Auftreten dieser Krankheit im Mittelalter. 10 Grafik 1: Das ›Heilige Feuer‹ im Mittelalter Das ›Heilige Feuer‹ war demnach tatsächlich eine Krankheit, die nicht nur auf das Frühmittelalter beschränkt blieb. Die insbesondere in älteren Quellen genannten Zahlen, z. B. von 40.000 Toten im Jahre 994 oder 14.000 Toten allein in Paris im Jahre 1128, sind zwar zweifellos übertrieben. Von einer Mortalitätsrate um 25 % kann allerdings ausgegangen werden. 11 Im Gegensatz zu den bekannten Seuchen wie der Pest oder den Pocken, die sich wellenförmig ausbreiteten, fällt bei den Ergotismus-Epidemien ihre räumliche Begrenzung auf. Dies liegt daran, dass es sich beim Ergotismus nicht um eine ansteckende Krankheit, sondern um eine Lebensmittelvergiftung handelt. Sie tritt nach dem Genuss von Mutterkorn (›secale cornutum‹) auf und hat ihren Ursprung in einem Pilz, ›claviceps purpurea‹, der vor 9 V EIT H AROLD B AUER , Das Antonius-Feuer in Kunst und Medizin (Historische Schriftenreihe der Sandoz AG 2), Basel 1973. 10 Siehe Anhang 1. 11 A DALBERT M ISCHLEWSKI , Das Antoniusfeuer in Mittelalter und Früher Neuzeit in Westeuropa, in: N EITHARD B ULST / R OBERT D ELORT (Hg.), Maladies et societé (XII eme - XVIII eme siècles), Paris 1989, S. 249-268, hier 254. 0 2 4 6 8 10 12 14 9. Jh 10. Jh 11. Jh 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh Häufigkeit der Epidemien pro Jahrhundert Entwurf P. Frieß D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 243 allem die Fruchtknoten der Roggenblüte durchwuchert und schwarze, längliche, kornähnliche Wucherungen in der Getreideähre bildet. 12 Den Menschen des Mittelalters war das nicht bekannt. Sie standen der Erkrankung, die sie als Strafe Gottes verstanden, zunächst machtlos gegenüber. In ihrer Hilflosigkeit wandten sie sich meist an den Schutzheiligen ihrer Landschaft, so an Sankt Martial im Limousin, an Sankt Martin in der Touraine, an Sankt Laurentius in der Normandie oder an die Jungfrau Maria im Artois. 13 Sie erhofften sich von den Heiligen Schutz vor der grausamen Krankheit bzw. Heilung durch Gebete, Wallfahrten oder fromme Gelübde. Getragen von großer Bußfertigkeit und begleitet von Endzeiterwartungen und Prophezeiungen von der Ankunft des Antichristen zogen etwa die Dorfbewohner der Île-de-France zu den Marienheiligtümern der nahe gelegenen Städte. 14 Die Rückkehrer berichteten immer wieder von wundersamen Heilungen. In den Mirakelbüchern von Soisson oder Coutances, die im 12. Jahrhundert entstanden, finden sich wiederholt Berichte über Pilger, die sich in den Kirchen drängten, wo sich bereits zahllose andere Kranke befanden, die sich mühselig auf Krücken ins Innere geschleppt hatten. 15 Besondere Berühmtheit erlangte der Bericht des Adamus von Einesham, der als Begleiter des Heiligen Hugo, Kartäuser und Bischof von Lincoln, im Jahr 1200 das Grab des Heiligen Antonius in der Nähe von Grenoble besuchte. Er wurde dabei Zeuge […] non miraculum unum aut duo, immo non centena set innumera perspeximus miracula, omnibus ubicumque a nobis antea uisis miraculis plus stupenda. Vidimus enim iuuenes et uirgines, senes cum iunoribus per sanctum Dei Antonium saluatos ab igne sacro, semiustis carnibus consumtisque ossibus uariisque mutilatos artuum compagibus, ita in dimidiis uiuentes corporibus ut quasi integra uiderentur incolumitate gaudentes. 16 12 H ENRY C HAUMARTIN , Le mal des ardents et le feu Saint-Antoine, Vienne-la-Romaine 1946. 13 W OLFRAM A ICHINGER , Das Feuer des Heiligen Antonius. Kulturgeschichte einer Metapher. Spanien im Kontext der Romania (Historisch-anthropologische Studien 22), Frankfurt/ Main u. a. 2008, S. 41. 14 G ABRIELA S IGNORI , Maria zwischen Kathedrale, Kloster und Welt. Hagiographische und historiographische Annäherungen an eine hochmittelalterliche Wunderpredigt, Sigmaringen 1995, S. 130. 15 W. A ICHINGER , Kulturgeschichte einer Metapher (Anm. 13), S. 42. 16 ›[ …] von unzähligen Wundern, von denen alle erstaunlicher waren als irgendein sonstwo gesehenes. Wir sahen junge Männer und Mädchen, alte Männer und jüngere, geheilt durch Gottes Heiligen Antonius von dem vernichtenden Feuer, das bereits zur Hälfte ihr Fleisch und ihre Knochen verzehrt hatte und sie mit verstümmelten Körpern am Leben ließ, wofür sie so dankbar waren, als wenn ihre Körper intakt gewesen wären‹; D ECIMA L. D OUIE / D AVID H. F ARMER (Hg.), Adamus von Einesham, Magna Vita Sancti Hugoni. The Life of St. Hugh of Lincoln, Bd. 2, Oxford 1985, S. 159. P EER F RI ES S 244 Die Nachricht, dass es in Südfrankreich einen Ort gab, wo Menschen, die vom ›Heiligen Feuer‹ befallen waren, tatsächlich wieder gesund wurden, hat sich offenbar auch überregional verbreitet und einen wachsenden Strom von Hilfesuchenden selbst aus weiter entfernten Gegenden angelockt. Dabei war das zunächst gar nicht beabsichtigt. Ursprünglich verbanden sich in der Nähe des kleinen Ortes La- Motte-aux-Bois zwischen Valence und Grenoble nur einige Menschen, um den zahlreichen Pilgern, die hier auf dem Jakobsweg vorbeikamen, zu helfen. Sie wollten den christlichen Geboten folgend bedürftigen Mitmenschen Werke der Barmherzigkeit erweisen. 17 Die erstaunlichen Erfolge in der Behandlung des Mutterkornbrandes führten zu einem rasanten Wachstum der Gemeinschaft. Schon nach wenigen Jahrzehnten war sie zu einem regelrechten Orden angewachsen, der über 100 Niederlassungen in ganz Europa unterhielt. 18 Bis 1300 war der größte Teil der schließlich über 370 Niederlassungen in ganz Europa gegründet worden. 19 Die Ursache für diesen Erfolg war für die Zeitgenossen ganz offenkundig. In der Kirche des kleinen Ortes in der Dauphiné befanden sich die Gebeine des Heiligen Antonius. Der im 3. Jahrhundert in Ägypten als Eremit lebende Sohn wohlhabender Kaufleute war schon bald als wundertätiger Heiliger verehrt worden. In der ›Legenda Aurea‹ des Jacobus de Voragine im 6. Jahrhundert ist seine Vita aufgezeichnet. Darin wird auch von der Peinigung des Heiligen in der Wüste und von dem höllischen Feuer erzählt, das er angeblich verspürte. Diese allgemein bekannte Darstellung bot einen scheinbar idealen Anknüpfungspunkt für eine Verehrung als Nothelfer für alle, die an den Symptomen des Mutterkornbrandes litten, denn auch sie spürten ein inneres Feuer und quälenden Durst. Dies dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass die Bezeichnung ›Heiliges Feuer‹ zunehmend durch ›Antoniusfeuer‹ ersetzt wurde. 20 Dass den Kranken in den Ordensspitälern Wasser und Wein gereicht wurde, die mit den Reliquien des Heiligen gesegnet waren, unterstützte diesen Glauben 17 Grundlegend hierzu A DALBERT M ISCHLEWSKI , Un ordre hospitalier au Moyen Age. Les Chanoines Reguliers de Saint-Antoine-en-Viennois, Grenoble 1995; D ERS ., Männer und Frauen in hochmittelalterlichen Hospitälern. Das Beispiel der Antoniusbruderschaft, in: K ASPAR E LM / M ICHEL P ARISSE (Hg.), Doppelklöster und andere Formen der Symbiose männlicher und weiblicher Religiosen im frühen und hohen Mittelalter (Berliner Historische Studien 18), Berlin 1992, S. 165-176, hier 167f. 18 Seine Grundregel, die Antoniusregel, wurde zur Richtschnur für andere hospitalische Bruderschaften; vgl. K AY P. J ANKRIFT , Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 21. 19 A DALBERT M ISCHLEWSKI , Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Caprariis (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8), Köln-Wien 1976, S. 73-76. 20 E. W ICKERSHEIMER , Ignis sacer (Anm. 6), S. 164. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 245 ebenso wie die entsprechende Liturgie und eine künstlerische Ausgestaltung des jeweiligen Kirchenraumes. Durch Fresken, Altarbilder und Heiligenstatuen wurde die Anrufung des sich zunehmend zum spezialisierten Nothelfer entwickelnden Heiligen Antonius gefördert. 21 Während die Berichte von Wunderheilungen, die insbesondere aus dem Hochmittelalter erhalten sind, vermutlich auf spontane Genesungen infolge der Abstoßung von abgestorbenen Händen und Füßen zurückzuführen sind, 22 konnten die Antoniter auf Grund ihrer Spezialisierung auf die Behandlung der Mutterkornvergiftungen durchaus eigene Erfolge erzielen. Die mittlerweile aus unterschiedlichen Bereichen zusammengetragenen Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass die Antoniter eine spezifische Therapie entwickelt hatten, die den Heilungsprozess unterstützen sollte. Sie war eingebettet in einen normierten Prozess der ritualisierten Aufnahme von Kranken in die Spitäler. 23 Die wesentlichen Elemente sind in den Reformstatuten des Ordens aus dem Jahre 1477 festgehalten. Nach vorbereitenden Gebeten und Bußübungen musste der Kranke zunächst die Beichte ablegen. Er wurde dabei stets von einem Mitbruder begleitet, der mit ihm betete. 24 Anschließend führte man ihn vor das Bildnis des Heiligen Antonius. Noch am ersten Tag erhielt er zur Stärkung frisches Brot, so wie auch Antonius und Paulus der Legende nach täglich von einem Raben Brot erhielten. Nach allem, was bislang bekannt ist, bemühten sich die Antoniter darum, qualitativ hochwertiges Weißbrot aus Dinkel- oder Weizenmehl auszuteilen. 25 Da Dinkel und Weizen kaum von Mutterkorn befallen wurden, wirkte allein schon diese Umstellung der Ernährung gegen die Vergiftung. Am nächsten Tag wurde die ›Saint Vinage‹, der ›Heilige Wein‹, gereicht. Dieser vorab feierlich gesegnete Wein war mit Heilkräutern versetzt worden, die entzündungshemmend, schmerzlindernd und die Blutgefäße erweiternd wirkten. 26 Zusammen bekämpften sie demnach die typischen 21 G ERALDINE M OCELLIN -S PICUZZA , L’Abbaye de Saint-Antoine au Moyen-Age: hôpiteaux et thaumaturgie, in: Antoniter-Forum 15 (2007), S. 32-46. 22 W. A ICHINGER , Kulturgeschichte einer Metapher (Anm. 13), S. 42. 23 H ANS -F ERDINAND A NGEL , Kampf gegen die Krankheit als Kampf gegen die höllischen Mächte - Die Antoniter als Strategen religiöser Krisenbewältigung, in: Antoniter-Forum 4 (1996), S. 66-81. 24 R EGIS D ELAIGUE , L‘accueil des malades dans les hôpiteaux des Antonins, in: Antoniter- Forum 15 (2007), S. 16-31. 25 An seinem Patronatstag, dem 17. Januar, erhielten alle, die am Festgottesdienst teilnahmen, dieses Antoniusbrot, das im Elsass tonimetschala hieß. Siehe E LISABETH C LEMENTZ , Les Antonins d’Issenheim. Essor et dérive d’une vocation hospitalière à la lumière du temporel, Bar le Duc 1999, S. 73. 26 Diese Kräuter, davon geht man heute aus, sind auf dem Altargemälde des Isenheimer Altars abgebildet. Sie befinden sich am unteren Bildrand der linken Bildtafel der dritten Schauseite. Es handelt sich durchweg um Kräuter, die im Elsass beheimatet sind. Da sie P EER F RI ES S 246 Krankheitssymptome des Mutterkornbrandes und linderten die Auswirkungen. In einem erst vor wenigen Jahren entdeckten Dokument, das an versteckter Stelle überliefert wurde, findet sich noch eine weitere Verwendung dieser Kräuter. Es handelt sich um die Rezeptur eines eigenen Balsams, der schmerzlindernd und entzündungshemmend wirkte, wenn man ihn auf die brandigen Körperteile auftrug. Durch die Pflege der Kranken mit entsprechenden Heilkräutern sowie durch die Stärkung mit Wein und reinem Brot vermochten die Antoniter offenbar den Heilungsprozess bei leichten Formen des Mutterkornbrandes zu unterstützen. 27 In allen Fällen, in denen die Krankheit schon weiter fortgeschritten war, blieb der damaligen Medizin keine andere Wahl, als die betroffenen Gliedmaßen zu amputieren. Dies war eine lebensgefährliche Prozedur. Sterile Instrumente waren ebenso unbekannt wie die Möglichkeiten der modernen Anästhesie. Wer sich auf diese Operation einließ, musste damit rechnen, sie nicht zu überleben. Die zahlreichen Berichte von Todesfällen nach den von Feldscherern und Badern in Kriegszeiten durchgeführten Amputationen geben bis heute ein Zeugnis davon, wie gefährlich das war. Auch bei den Antonitern überlebten nicht alle. Doch ihre Erfolgsquote war so hoch, dass sich ein legendärer Ruf von der medizinischen Heilkunst der Antoniter verbreitete. 28 Dies lag daran, dass die Antoniter externe Spezialisten engagierten, wie z. B. Hans von Gersdorf im Antoniterhof zu Straßburg. 29 Nach erfolgreicher Amputation erhielten die neuen Mitglieder der Präzeptorei nicht nur Kleidung, einen Schlafplatz und die gegebenenfalls nötigen Krücken, sie erhielten auch einen Platz in der Gemeinschaft, für die sie fortan tätig waren. aber in der abgebildeten Form niemals nebeneinander in einem Biotop vorkamen, muss man davon ausgehen, dass sie auf diesem Altarbild bewusst zusammengestellt wurden. Allesamt sind es Heilkräuter. Breitwegerich, Eisenkraut, Spitzwegerich und Taubnessel wirken beispielsweise entzündungshemmend, Klatschmohn schmerzlindernd und Kreuzenzian erweitert die Blutgefäße; vgl. M ICHAEL S CHUBERT , Der Isenheimer Altar. Geschichte - Deutung - Hintergründe, Stuttgart 2007, S. 121-128 und 157-162. 27 E LISABETH C LEMENTZ , Vom Balsam der Antoniter, in: Antoniter-Forum 2 (1994), S. 13-21; vgl. auch P IERRE B ACHOFFNER , Bemerkungen zur Therapie des Antonierfeuers, in: Antoniter-Forum 4 (1996), S. 82-89; W OLFGANG M ETTERNICH , Der Färberwaid - eine Heilpflanze der Antoniter, in: Antoniter-Forum 6 (1998), S. 71f. 28 E LISBETH C LEMENTZ / B ERNHARD M ETZ , »Ir were ir hand schwartz als ein kole«. Wie eine Oberelsässerin am Antoniusfeuer erkrankte und 1457 in Basel starb und wie um ihr Erbe gestritten wurde, in: Antoniter-Forum 8 (2000), S. 7-20, hier 13. 29 In seinem ›Feldbuch der wundartzney‹ von 1517 hat er seine Tätigkeit dargestellt und darauf verwiesen, etwa 200 Amputationen durchgeführt zu haben; H ANS VON G ERSDORF , Feldbuch der wundatzney, Straßburg 1517; vgl. W OLFGANG F. R EDDIG , Bader, Medicus und Weise Frau. Wege und Erfolge der mittelalterlichen Heilkunst, München 2000, S. 96- 98 und 115f.; L UDWIG B RANDT , Illustrierte Geschichte der Anästhesie, Stuttgart 1997, S. 36-46. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 247 Diese Mosaiksteine ergeben zwar am jeweiligen Fundort kein geschlossenes Bild. Wenn man sie aber insgesamt zusammenfügt, dann vermitteln sie einen plastischen Eindruck davon, wie die Antoniter mit den Menschen umgingen, die an Mutterkornbrand erkrankt waren. Sie boten eine umfassende, ganzheitliche Therapie, die geeignet war, die Symptome der Krankheit zu lindern, das Leben zu erhalten, eine seelische Stabilisierung zu bewirken und den Betroffenen auch als Behinderten ein würdiges Weiterleben zu ermöglichen. 30 Auffällig ist allerdings, dass die räumliche Verteilung der Niederlassungen des Antoniterordens nicht dem Verbreitungsgebiet des ›Heiligen Feuers‹ entspricht. Mit zahlreichen Niederlassungen in Italien, aber auch in Deutschland und Spanien sowie vereinzelten Ordenshäusern in Ungarn, Ostpreußen, Dänemark und Schottland griffen die Antoniter weit über den Raum hinaus, in dem vom Auftreten des ›Ignis sacer‹ berichtet wurde. 31 Die Ausdehnung des Ordens fiel interessanterweise auch in die Jahrhunderte, in denen die Zahl der Epidemien deutlich rückläufig war. Am Ende des 15. Jahrhunderts, in dem von keiner größeren Epidemie des ›Heiligen Feuers‹ berichtet wird, verfügte der Orden über 41 Generalpräzeptoreien und 372 Niederlassungen in fast ganz Europa. Die epidemiologischen Studien einerseits sowie die hospital- und insbesondere ordensgeschichtlichen Forschungen andererseits, deren wesentliche Ergebnisse hier zusammengefasst wurden, haben das Bild einer Krankheit gezeichnet, die im Sinne der ›longue durée‹ zu den Grundkonstanten der europäischen Geschichte des Mittelalters gehört. Die vorliegenden Befunde werfen allerdings eine Reihe von Fragen auf. Dazu zählt insbesondere die Frage nach den Hintergründen ihrer ungewöhnlichen räumlichen Verteilung und der Varianz in der Häufigkeit der Epidemien. 30 Dies war eine durchaus zeittypische Form des Umgangs mit Kranken; vgl. J OHN H EN - DERSON , The Art of Healing. Hospital wards and the sick in Renaissance Florence, in: P HI - LINE H ELAS / G ERHARD W OLF (Hg.), Armut und Armenfürsorge in der italienischen Stadtkultur zwischen 13. und 16. Jahrhundert. Bilder, Texte und soziale Praktiken (Inklusion, Exklusion 2), Frankfurt/ Main u. a. 2006, S. 79-96, hier 80-83; C AROLE R AWCLIFFE , Medicine for the Soul: The medieval English hospital and the quest for spiritual health, in: J OHN H INNELS / R OY P ORTER (Hg.), Religion, Health and Suffering, London 1999, S. 316-338. 31 Vgl. T AMÁS G RYNAEUS , Die Antoniter in Ungarn, in: Antoniter-Forum 13 (2005), S. 80- 111; D ERS ., Die Antoniter in Ungarn (16.-18. Jh.) - Wandel in Tätigkeit und Lebensstil, in: Antoniter-Forum 15 (2007), S. 90-117; W OLFRAM A ICHINGER , Die Antoniusspitäler und das Antoniusfeuer in Spanien, in: Antoniter-Forum 11 (2003), S. 50-74; D ERS ., Dienst an Kranken in spanischen Antoniterhäusern. Der Visitationsbericht von 1502, in: Antoniter- Forum 15 (2007), S. 80-89. P EER F RI ES S 248 Grafik 2: Aufschwung der Antoniter Bei aller Vorsicht, die insbesondere bei der statistischen Auswertung mittelalterlicher Seuchenberichte angebracht ist, lassen sich doch drei Phasen unterscheiden: (1) Das frühmittelalterliche Aufleben der Krankheit, (2) die hochmittelalterliche Phase extremer Häufigkeit des ›Heiligen Feuers‹ und (3) die spätmittelalterliche Phase des nahezu vollständigen Verschwindens der Epidemien. In der ersten Phase tritt die Krankheit ohne erkennbaren Vorlauf massiv in Erscheinung, um im 11./ 12. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Verbreitung zu erfahren. Im Spätmittelalter geht die Häufigkeit dann wieder zurück. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts fehlen Nachrichten über Ergotismus-Epidemien völlig. Wie lässt sich diese ungewöhnliche Variabilität erklären? Für das plötzliche Auftreten der Krankheit im 9./ 10. Jahrhundert kann aus den Ergebnissen der modernen Agrargeschichtsforschung eine plausible Hypothese abgeleitet werden. Unter der Herrschaft der Karolinger wurde die traditionelle Viehwirtschaft schrittweise zurückgedrängt und sukzessive durch Ackerbau ersetzt. In diesem Prozess der Vergetreidung setzte sich Roggen als Wintergetreide und Hafer als Sommergetreide durch. Dies steht im Zusammenhang mit dem weiträumigen Aufkommen von Wassermühlen, die auf den Herrenhöfen errichtet wurden. Spelzgetreidesorten, wie z. B. Dinkel, erforderten eine aufwändigere Verarbeitung in den Mühlen als Roggen, der sich als Nacktgetreide für den Einsatz dieser neuen Technologie besser eignete. Die parallel erfolgende Verbreitung des schweren Wendepfluges unterstützte die Verbreitung des Roggens ebenfalls, da nun auch die schweren und feuchteren Böden des Nordens urbar gemacht werden konnten, auf denen der relativ genügsame Roggen besser gedieh als andere Sorten. Die guten 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 9. Jh 10. Jh 11. Jh 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh Anzahl der ignissacer-Epidemien Anzahl der Generalpräzeptoreien Entwurf P. Frieß D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 249 Backeigenschaften des Roggens machten diese Pflanze für viele Jahrhunderte zum dominanten Brotgetreide. 32 Zusammen mit dem Roggen erhöhte sich allerdings auch das Vorkommen des Mutterkorns, das auf dieser Getreideart besonders gut gedeiht. Da es seine Toxizität bei längerer Lagerung verliert, kam es nicht permanent zu Vergiftungen. Die größte Wirkung rufen die giftigen Alkaloide des Mutterkorns dann hervor, wenn sie in großer zeitlicher Nähe zur Reife des Roggens - also kurz vor bzw. kurz nach der Ernte - konsumiert werden. 33 Und das geschah vor allem dann, wenn sich eine durch Plünderung der Vorräte oder wegen vorangegangener Missernten ausgehungerte Bevölkerung förmlich auf die neue Ernte stürzte. So schuf die frühmittelalterliche Agrarrevolution zwar einerseits die Grundlagen für ein deutliches Bevölkerungswachstum, brachte aber gleichzeitig die Gefahr massenhafter Lebensmittelvergiftungen in Krisenzeiten. Insbesondere der Zeitraum von 750 bis 1100 war von 29 europaweiten Hungersnöten geprägt, wobei vor allem das 10. Jahrhundert erheblich belastet war. Regionaler Schwerpunkt scheint Frankreich gewesen zu sein, wo allein für das 11. Jahrhundert 26 Hungersnöte festgestellt werden konnten. 34 Der Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Roggenanbaus, dem Ausbruch des ›Heiligen Feuers‹ und dem Wachstum der Bevölkerung erklärt außerdem, warum die mediterranen Gebiete, in denen Weizenanbau vorherrschte, weitgehend verschont blieben. 35 Auch für den deutlichen Rückgang der ›ignis sacer‹-Epidemien im Spätmittelalter könnte eine Kombination mehrerer sozioökonomischer Faktoren verantwortlich sein. Als Auslöser für massive Bevölkerungsverluste in weiten Teilen Europas gelten die Pestepidemien der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Sie führten in einzelnen Regionen zu einem demographischen Einbruch bislang ungekannten 32 M ICHAEL M ITTERAUER , Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2 2003, S. 19-23. So erklären sich sowohl die epidemieartigen Ausbrüche des ›Heiligen Feuers‹, etwa in den Jahren 874, 943, 993 oder 1125, wie auch die insbesondere im Früh- und Hochmittelalter in die Tausende gehende Zahl von Opfern. Da die Plünderungszüge der Wikinger, etwa 911 und 921, insbesondere im Norden Frankreichs zur Verschärfung der Krisen beigetragen haben könnten, sind sie in Anlage 1 eigens vermerkt. 33 M ARIE L. W INDEMUTH , Das Hospital als Träger der Armenfürsorge im Mittelalter (Sudhoffs Archiv Beih. 36), Stuttgart 1995, S. 55f. 34 M ASSIMO M ONTANARI , Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1999, S. 53-55; erst im 18. Jahrhundert wird Frankreich mit 16 regionalen Hungersnöten wieder ähnlich stark belastet. 35 Gerade in höher gelegenen Regionen Italiens oder auf den Britischen Inseln wurde zwar auch Roggen angebaut, er erreichte aber in beiden Teilräumen Europas bei weitem nicht die Verbreitung wie in Zentral- und Osteuropa; vgl. E. J. T. C OLLINS , Rye in Britain, in: J.- P. D EVROEY u. a., Le Seigle (Anm. 8), S. 117-132, hier 121-123; C ORINNE B EUTLER , Le seigle dans le sud de l‘Europe au XVI e siècle, in: Ebd., S. 147-174, hier 169. P EER F RI ES S 250 Ausmaßes. Von den ca. 75 Millionen Europäern kam etwa ein Drittel ums Leben. 36 Ganze Landstriche verödeten. Die zurückgebliebene bzw. überlebende Landbevölkerung bebaute nur mehr die ertragreicheren, besseren Böden. Grenzertragsböden wurden aufgegeben. Diese Wüstungsperiode, die auch durch die zahlreichen Fehden der Epoche und eine seit etwa 1300 einsetzende Klimaverschlechterung beeinflusst wurde, lässt sich beispielsweise in Württemberg, in Franken, in Baden oder im Elsass nachweisen. 37 Sie ging einher mit einem zumindest in Südwestdeutschland nachweisbaren Wechsel der Anbaufrüchte. Der genügsame, aber als Armeleutenahrung weniger angesehene und auch billigere Roggen wurde zunehmend durch Dinkel ersetzt, der für höhere Preise zur Herstellung des begehrteren Weißbrotes auf den städtischen Märkten verkauft werden konnte. 38 Diese Märkte entwickelten im ausgehenden 14. und im 15. Jahrhundert außerdem ein zunehmend genauer arbeitendes System der Qualitätssicherung, das sowohl Getreidetransport und -lagerung als auch die Tätigkeit der Müller und Bäcker genau kontrollierte. 39 Zur selben Zeit ermöglichte die Ausweitung des Fleischangebots in den Städten durch den überregionalen Viehhandel eine Ergänzung zumindest des bürgerlichen 36 K LAUS B ERGDOLT , Der schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 5 2003, S. 192. Insbesondere für die regionale Ebene dürfen diese Aussagen jedoch nicht generalisierend übernommen werden, da die Pest offenbar zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich intensiv aufgetreten ist. Vgl. R OLF K IESSLING , Der Schwarze Tod und die weißen Flecken. Zur Großen Pest von 1348/ 49 im Raum Ostschwaben und Altbayern, in: ZBLG 68 (2005), S. 519-539. 37 R OLF S PRANDEL , Wüstungsprozesse in systematischer Betrachtung nach Schriftquellen des Spätmittelalters, in: S ÖNKE L ORENZ / P ETER R ÜCKERT (Hg.) Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten. Zur Umweltgeschichte im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Veröff. der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 173), Stuttgart 2009, S. 113-129; R AINER S CHREG , Archäologische Wüstungsforschung und spätmittelalterliche Landnutzung. Hausbau und Landnutzung des Spätmittelalters in Südwestdeutschland aus archäologischer Sicht, in: Ebd., S. 131-163; H ELMUT H ILDEBRANDT / B IRGITT K AUDER , Wüstungsvorgänge im westlichen Steigerwald, Ebrach 1993, S. 46-50. 38 H ENDRIK W EINGARTEN , Landnutzung im Spätmittelalter am Beispiel der Klostergrundherrschaft Zwiefalten und Bebenhausen, in: S. L ORENZ / P. R ÜCKERT (Hg.), Landnutzung (Anm. 37), S. 41-57; E LSKE F ISCHER / M ANFRED R ÖSCH , Pflanzenreste aus Lehmgefachen, in: Ebd., S. 77-98, hier 88; W OLFGANG W ILLE , Württembergische Getreideerträge im 15. und 16. Jahrhundert, in: Ebd., S. 165-177; E LSKE F ISCHER / P ETER R ÜCKERT , Getreideanbau im Umbruch: Die ›Verdinkelung‹, in: Archäologie in Deutschland 22 (2006), S. 26f. 39 F RANK G ÖTTMANN , Die Frankfurter Bäckerzunft im späten Mittelalter. Aufbau und Aufgaben städtischer Handwerksgenossenschaften (Studien zur Frankfurter Geschichte 10), Frankfurt/ Main 1975, S. 74-82. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 251 Speiseplans. 40 Insgesamt gesehen führte die Kombination von Bevölkerungsrückgang, Vordringen des Dinkelanbaus, Intensivierung städtischer Qualitätskontrollen und Ergänzung der Lebensmittelversorgung durch Fleisch und Gemüse dazu, dass die Wahrscheinlichkeit einer Mutterkornvergiftung im spätmittelalterlichen Europa deutlich sank. 2. Das ›Heilige Feuer‹ in der Neuzeit - Veränderungen in Wahrnehmung, Erscheinungsbild und Verbreitung Seit dem 15. Jahrhundert trat die Krankheit scheinbar nicht mehr auf. 1673 erklärten die Antoniter selbst, dass das ›Antoniusfeuer‹ im Hochmittelalter verschwunden sei. 41 In den großen Kompendien der französischen Enzyklopädisten und auch in Zedlers Universallexikon erscheint nicht einmal mehr der Begriff. 42 Lange Zeit hat man daraus gefolgert, dass die Krankheit tatsächlich aus Europa verschwunden sei. Das Phänomen, dass weder das ›Heilige Feuer‹ noch das ›Antoniusfeuer‹ in den Quellen der Frühen Neuzeit genannt wird, liegt jedoch im Wandel des medizinischen Denkens begründet. Obwohl weite Teile der Bevölkerung noch bis ins 19. Jahrhundert hinein mittelalterliche Vorstellungen über die Ursachen von Krankheiten bewahrten, wandten sich die Mediziner neuen Sichtweisen zu. Die mittelalterliche Humoralpathologie, die die antike Säftelehre mit Aspekten der Astrologie, des Aberglaubens und echter religiöser Überzeugung im Rahmen der Heiligenverehrung verband, wurde schrittweise durch eine zunehmend rationale, an naturwissenschaftlichen Methoden und Kriterien orientierte medizinische Wissenschaft verdrängt. 43 Der Heilige Antonius eignete sich daher immer weniger 40 Ernst S CHUBERT , Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 109-112. 41 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 37. 42 In Zedlers Universallexikon wird nur der Begriff ignis sacer angeführt, allerdings fälschlich mit Erysipelas bzw. Rotlauf gleichgesetzt (Sp. 1833); im Artikel Korn wird auf das Mutterkorn verwiesen, dessen Konsum eine Krankheit hervorrufe, die im französischen mal de pain Antoine heiße (Sp. 1525f.); vgl. Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste http: / / www.zedler-lexikon.de/ . 43 Vgl. R OBERT J ÜTTE , Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München-Zürich 1991, S. 40-54; D ANIELLE J ACQUART , Die scholastische Medizin, in: M IRKO D. G RMEK (Hg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, S. 216-259; K LAUS B ERGDOLDT , Medizin und Naturwissenschaften zur Zeit Karls V., in: P ETRA K RUSE (Hg.), Kaiser Karl V. (1500-1558). Macht und Ohnmacht Europas, Bonn 2000, S. 99-107; G ÜNTHER S TILLE , Kräuter, Geister, Rezepturen. Eine Kulturgeschichte der Arznei, Stuttgart 2004, S. 62-66; M ICHAEL S TOLBERG , Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: GWU 59 (2008), S. 85-95. P EER F RI ES S 252 als Verursacher einer besonderen Krankheit oder gar als Nothelfer, zumal im Zuge der Reformation die Heiligenverehrung im Allgemeinen und der Antoniterorden im Besonderen deutlich zurückgedrängt wurden. 44 Die mittelalterliche Konzeption des ›Heiligen Feuers‹ hatte sich überlebt. An ihre Stelle trat zunächst eine von religiösen Elementen losgelöste, um faktische Objektivität bemühte Forschung. Die universitär geschulten Ärzte gingen dazu über, mit natürlichen Ursachen, wie etwa klimatischen oder hygienischen Faktoren, in ihren Diagnosen zu argumentieren. Namen wie Andreas Vesalius, Michael Servetus oder Francis Bacon stehen für diese Weiterentwicklung der Medizin. 45 Die Syphilis oder der ›Englische Schweiß‹ werden so näher untersucht und schließlich auch die Wirkungszusammenhänge der Mutterkornvergiftung erkannt. 46 Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis sind die im ›Mutterkorn‹ enthaltenen Alkaloide, wie z. B. Ergotamin, Auslöser der eingangs genannten Krankheitssymptome. 47 Dieser Wirkstoff wird heute in geringer Dosierung als medizinisches Heilmittel verwendet, etwa zum Blutstillen nach Entbindungen oder bei Migräneanfällen. In größeren Mengen eingenommen kann er allerdings äußerst schädlich wirken, denn das Ergotamin führt zur starken Verengung der Blutgefäße und damit zu massiven Durchblutungsstörungen. Hände und Füße werden brandigschwarz und sterben ab. Wenn man keine Gegenmaßnahmen ergreift, schreitet diese als Ergotismus gangränosus bezeichnete Form der Krankheit weiter fort. Im günstigen Fall kommt es zur Selbstabstoßung der brandigen Körperteile. Im ungünstigen Fall kann es zum Tod durch Blutvergiftung kommen. 48 Die Symptome treten relativ rasch nach der Aufnahme des Giftstoffes im Körper auf und klingen insbesondere im Frühstadium ebenso schnell auch wieder ab, wenn die Zufuhr des giftigen Alkaloids unterbrochen wird. 44 Vgl. P EER F RIESS , Die Reformation und der Niedergang des Antoniterordens in Deutschland, in: D ERS . (Hg.), Auf den Spuren des Heiligen Antonius. FS für Adalbert Mischlewski zum 75. Geburtstag, Memmingen 1994, S. 65-85; A DALBERT M ISCHLEWSKI , Die Antoniter, in: F RIEDHELM J ÜRGENSMEIER / R EGINA E. S CHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500-1700, Bd. 3 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 67), Münster 2007, S. 123-136. 45 W OLFGANG U. E CKART , Geschichte der Medizin, Berlin 1990, S. 131-149; R. J ÜTTE / W. U. E CKART , Medizingeschichte (Anm. 3), S. 352f. 46 Vgl. C LAUDIA S TEIN , Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih. 19), Stuttgart 2003. 47 A LBERT H OFMANN , Die Mutterkornalkaloide. Vom Mutterkorn zum LSD - die Chemie der Mutterkornalkaloide, Stuttgart 1964; A. M ISCHLEWSKI , Antoniusfeuer (Anm. 11). 48 Vgl. die jüngste Abhandlung zu dieser Thematik, in der auch die ältere Literatur verarbeitet ist: K LAUS S TARKE , Die Pharmakologie des Mutterkorns, in: Antoniter-Forum 12 (2004), S. 7-29. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 253 Die Mutterkornvergiftung konnte allerdings auch noch einen anderen Verlauf nehmen, der als Ergotismus convulsivus bezeichnet wird. Die klassischen Symptome sind Krämpfe, Kopfschmerzen, andauernde schmerzhafte Kontraktionen und heftiger Durst. Die Erkrankten können in dieser Variante außerdem von massiven Wahnvorstellungen und Halluzinationen gequält werden. Manchmal spüren sie ein heftiges Kribbeln in Armen und Beinen, weswegen diese Form der Mutterkornvergiftung auch ›Kriebelkrankheit‹ genannt wurde. Die Symptome können sofort, aber auch mit einer zeitlichen Verzögerung von bis zu zwei Monaten nach dem Konsum des Mutterkorns auftreten. Sie klingen durch Unterbrechung der Zufuhr auch nicht sofort ab. In einzelnen Fällen traten bleibende Schäden, insbesondere Beeinträchtigungen des Nervensystems auf. 49 Gemeinsam ist beiden Erscheinungsformen des Ergotismus, dass als Frühsymptome Schwindelgefühl, Stirnkopfschmerzen, Schwäche, Niedergeschlagenheit, Rücken- und Gliederschmerzen auftreten. 50 Vor diesem Hintergrund können Seuchen- und Krankheitsberichte der Frühen Neuzeit neu interpretiert werden. So beschrieb etwa Balduinus Ronsseu in seinen ›Epistolae medicinales‹ den Ausbruch einer neuen, nie gehörten Krankheit im August 1581 in verschiedenen Dörfern des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg. Die Krankheit begann mit Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen. Unter extremen Schmerzen verkrampften sich die Hände. Die Schmerzensschreie waren häuserweit zu hören. Gleichzeitig klagten die Opfer über unerträgliche Hitzegefühle. 51 Die Beschreibung war genau und frei von metaphysischen Deutungen. Ronsseu fehlte aber ein medizinischer Begriff dafür. Ähnlich erging es zahlreichen anderen Medizinern in Deutschland und Frankreich. Wenn man in ihren Berichten nun nicht primär nach dem Krankheitsbegriff des ›Heiligen Feuers‹ oder des ›Antoniusfeuers‹ sucht, sondern die Epochenzäsur des 16. Jahrhunderts berücksichtigt und die dargestellten Symptome mit dem aktuellen klinischen Bild vergleicht, dann ergibt sich aus der Rückschau eine relativ eindeutige Zuordnung der Epidemie zum Krankheitsbild des Ergotismus, in diesem Fall des Ergotismus convulsivus. 52 Dieses Verfahren konsequent angewandt erweitert das Bild des ›Heiligen Feuers‹ erheblich. 49 M ERVYN J. E ADIE , Convulsive ergotism: epidemics of the serotonin syndrome? , in: The Lancet Neurology 2 (2003), S. 429-434. 50 K LAUS O PITZ , Der Ergotismus und seine heutige Bedeutung, in: Getreide, Mehl und Brot 9 (1984), S. 281-284. 51 V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 42. 52 Auch bei diesem Verfahren der retrospektiven Symptomdeutung ist Vorsicht geboten, da zeitgenössische Symptombeschreibungen von Krankheitskonzepten beeinflusst waren, die unseren heutigen Vorstellungen meist nicht entsprechen; vgl. K ARL -H EINZ L EVEN , Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: N ORBERT P AUL / T HOMAS P EER F RI ES S 254 Zum einen entdeckt man auch in mittelalterlichen Dokumenten Hinweise auf die seltenere Form des Ergotismus convulsivus. 53 Zum anderen ergeben sich aber vor allem für die Frühe Neuzeit so viele Belege für Ergotismus-Epidemien (Anhang 2), dass von einem Verschwinden der Krankheit oder einem rein mittelalterlichen Phänomen nicht mehr gesprochen werden kann. Grafik 3: Ergotismus in Europa S CHLICH (Hg.), Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt-New York 1998, S. 153-185. 53 Bereits Sigebert von Gembloux hat in seinem Bericht über die Epidemie des Jahres 1089 davon gesprochen, dass viele Kranke von nervösen Krämpfen gequält wurden (multi vero nervorum contractione distorti tormentantur; MGH SS VI, S. 366); 1279 wird den Antonitern vom Lyoner Erzbischof Adémar de Roussillon Kirche, Friedhof und Hospital des hl. Andreas übergeben, wo an ›Ergotismus convulsivus‹ (›Mal Saint André‹) Erkrankte behandelt wurden. Für das Jahr 1374 berichten einige Chroniken von einer Epidemie am Niederrhein, die zu krampfartigen Zuckungen oder Veitstänzen führte, was auf eine Ergotismus- Vergiftung zurückführbar wäre; vgl. E UGÈNE L. B ACKMAN , Religious Dances in the Christian Church and in Popular Medicine, London 1952, S. 317-321. Archäologische Funde bei Grabungen im dänischen Kloster Aebelholt brachten weitere Hinweise für Ergotismus-convulsivus-Erkrankungen vor 1550; V ILHELM M ØLLER -C HRISTENSEN , Umwelt im Spiegel der Skelettreste vom Kloster Aebelholt, in: B ERND H ERRMANN (Hg.) Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 134-136. Die zahlreichen Berichte über contracti, etwa im nordfranzösischen Coutance des Jahres 1128, könnten vor diesem Hintergrund ebenfalls auf ›Ergotismus convulsivus‹ schließen lassen; vgl. G. S IGNORI , Maria (Anm. 14), S. 125, 127. 0 5 10 15 20 25 30 9. Jh 10. Jh 11. Jh 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh 16. Jh 17. Jh 18. Jh 19. Jh Anzahl Eg Anzahl Ec Eg = Ergotismus gangränosus; Ec = Ergotismus convulsivus (Entwurf P. Frieß) D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 255 Grafik 3 berücksichtigt ausschließlich die bislang bekannten größeren Epidemien und klammert Einzelereignisse aus. Dabei wird deutlich, dass der Ergotismus eine stete Bedrohung der europäischen Bevölkerung blieb. Einige Befunde sind allerdings ungewöhnlich. Während in der hochmittelalterlichen Phase vor allem Lothringen und das Pariser Becken vom ›Heiligen Feuer‹ betroffen waren, ist die frühneuzeitliche Phase durch ein kleinräumigeres Auftreten des Ergotismus und eine deutliche Ausweitung nach Nord- und Osteuropa gekennzeichnet. Außerdem fällt ein phänomenologischer Ost-West-Gegensatz auf. Während etwa in der Sologne die gangränöse Form vorherrschte, trat östlich des Rheins ausschließlich die convulsivische auf. Als mögliche Ursache hierfür wird vermutet, dass sich bedingt durch andersartige Umweltfaktoren eine westliche und eine östliche Variante des Mutterkornpilzes entwickelt haben könnte, die auf Grund eines unterschiedlichen Alkaloidmixes jeweils andere Formen des Ergotismus hervorrief. 54 Hatten die zahlreichen Ausbrüche des ›Heiligen Feuers‹ im Laufe des Mittelalters kaum Niederschlag in der medizinischen Literatur gefunden, so wurde das erneute verstärkte Auftreten des Ergotismus in der Frühen Neuzeit zunehmend von Ärzten beobachtet und dokumentiert, die sich wissenschaftlich mit den medizinischen Phänomenen beschäftigten. So berichten die Professoren der Marburger medizinischen Fakultät 1596/ 97 Von einer ungewöhnlichen/ und biß anhero in diesen Landen unbekannten Seuche, die sie als ›Kriebelkrankheit‹ bezeichneten. 55 Während die universitär geschulten Ärzte noch von einer ansteckenden Krankheit ausgingen, glaubten die Bauern in Hessen eher an verdorbenes Mehl als Ursache der ›neuen‹ Krankheit. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts haben sich die Gelehrten endgültig vom Konzept einer Infektionskrankheit verabschiedet und die toxische Wirkung des Mutterkorns als Ursache der sogenannten ›Kriebelkrankheit‹ akzeptiert. Ähnlich verlief die Reaktion auf die gangränöse Form der Mutterkornvergiftung. 1630 wurde die Ursache der Krankheit erstmals von einem Arzt aus Angers, Doktor Tullier, erkannt. In einem Bericht an die Académie française im Jahre 1676 berichtet Denis Dodart über eine Epidemie in der Sologne. Er greift dabei die Erklärung Tulliers auf und macht damit den Zusammenhang vom Konsum verunreinigten Roggens und Mutterkornbrand in den Gelehrtenkreisen Frankreichs bekannt. Aus dem französischen Wort ›ergot‹ - für die spornartige Wucherung in der Roggenähre - entwickelte sich die Krankheitsbezeichnung ›Ergotismus‹. Sowohl die gangränöse als auch die convulsivische Form wird als neue, bislang unbekannte Krankheit wahrgenommen und diskutiert. Im 18. und 19. Jahrhundert kann durch intensive Beobachtungen und Experimente die Rolle des Pilzes 54 V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 54, 57-60. 55 V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 42. P EER F RI ES S 256 genauer beschrieben werden. 56 Dieses zunehmend präzisere Wissen um die Krankheit trug allerdings nicht dazu bei, ihr Auftreten einzuschränken. Eine wirksame Therapie gab es nicht. Trotz Amputationen starben in der Sologne Hunderte von Patienten. In Hessen und Niedersachsen waren die Erfolge der zeittypischen Behandlungsmethoden mit Bädern, Purgierungen und ersten Versuchen mit Elektrotherapien ebenfalls begrenzt. Auch 1770, als massenweise Ergotismuserkrankungen auftraten, hatte sich das noch nicht geändert. 57 Betroffen waren allerdings kaum die Bürger von Städten, sondern meist die ärmsten Schichten der ländlichen Bevölkerung, worauf der Name ›Arme-Leute-Krankheit‹ zurückzuführen ist. Prophylaxe im heutigen Sinne war jedoch unbekannt. Wohl wurden Warnungen ausgesprochen. Trotzdem verzehrte die arme Landbevölkerung in Hungerjahren auch mutterkornhaltiges Getreide. 58 Die Wahrnehmung der Krankheit verlief in der Frühen Neuzeit demnach zweigleisig. Während der kleine Kreis gelehrter Fachleute die Krankheitszusammenhänge zunehmend besser verstand, blieb sie in beiden Varianten, der gangränösen wie der convulsivischen Form, für die Masse der Bevölkerung ein unerklärliches Phänomen. 59 3. Hintergründe der räumlichen und zeitlichen Varianz Wenn man das ›Heilige Feuer‹, das ›Antoniusfeuer‹, die ›Kriebelkrankheit‹ und die Vielzahl der nur über die Symptombeschreibung identifizierbaren Mutterkornvergiftungen unter den Begriff des ›Ergotismus‹ subsumiert, erweist sich diese Krankheit als eine die Epochen übergreifende Bedrohung der Menschen in Europa. Das ungewöhnliche Auf und Ab im zeitlichen Verlauf vom Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert bedarf allerdings ebenso einer Erklärung wie die räumliche Verteilung. Da in den zeitgenössischen Quellen im Zusammenhang mit den Berichten von Epidemien häufig Hinweise auf kalte und feuchte Witterung zu finden sind, liegt es nahe, klimatische Veränderungen als Auslöser für das Aufflackern bzw. das Abklingen der Ergotismus-Epidemien zu vermuten. Dank der zunehmend präziseren Ergebnisse der klimageschichtlichen Forschungen kann diese These mittlerweile 56 W ULF D AHLKE , Zur Ätiologie und Diagnose des Ergotismus, in: Antoniter-Forum 13 (2005), S. 112-137, hier 117-119. 57 M ANFRED V ASOLD , Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, München 1991, S. 193. 58 V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 41. 59 Diese Diskrepanz zwischen dem Wissen eines kleinen Kreises Gebildeter einerseits und der breiten Masse der Bevölkerung andererseits war ein charakteristisches Merkmal der frühneuzeitlichen Medikalkultur; vgl. M. S TOLBERG , Medizin und Krankheit (Anm. 43), S. 92. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 257 überprüft werden. Vergleicht man den Verlauf der Häufigkeit der Epidemien mit der Entwicklung des Klimas in Europa, so zeigt sich folgendes Bild. 60 Grafik 4: Korrelation Klima/ Ergotismus Die erste Phase mittelalterlicher Ergotismus-Epidemien ist durch eine leichte Abkühlung gekennzeichnet, während der Rückgang der Epidemien-Häufigkeit mit dem mittelalterlichen Klimaoptimum korreliert. 61 Das erneute Ansteigen der Zahl der Epidemien in der Frühen Neuzeit fällt dann in die Jahrzehnte, die aufgrund ihrer deutlichen Abkühlung als ›Kleine Eiszeit‹ bezeichnet werden. Das legt auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass zwischen dem Rückgang der Durchschnittstemperaturen und der Epidemie-Häufigkeit ein Zusammenhang bestehen müsste. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass diese Korrelation selbst für die Entwicklung vom 11. zum 12. Jahrhundert korrekt ist: Die Zahl der Epidemien erreicht 60 Zu den dem Diagramm zugrunde liegenden Klimadaten siehe R ÜDIGER G LASER u. a., Zur Temperatur- und Hochwasserentwicklung der letzten 1000 Jahre in Deutschland, in: Deutscher Wetterdienst (Hg.), Klimastatusbericht 2003, Offenbach 2004, S. 55-67, hier 61; zu den allgemeinen Grundlagen vgl. F RANZ M. M AUELSHAGEN , Klimageschichte der Neuzeit 1500-1900, Darmstadt 2010, S. 6-15. 61 Vgl. H UBERT H. L AMB , Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 188-194. 0,15° 0,1° 0,05° 0,1° 0,15° 0,1° 0° -0,15° -0,2° -0,15° 0° 0 5 10 15 20 25 30 9. Jh 10. Jh 11. Jh 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh 16. Jh 17. Jh 18. Jh 19. Jh EG EC T Eg = Ergotismus gangränosus; Ec = Ergotismus convulsivus; T = Abweichung von der durchschnittlichen Jahresmitteltemperatur (Entwurf P. Frieß) P EER F RI ES S 258 zwar hier ihren mittelalterlichen Höhepunkt, obwohl die Temperaturen im langjährigen Mittel ansteigen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man die Temperaturschwankungen etwas genauer betrachtet. 62 Von 1090 bis 1140 kann eine deutliche Abkühlung um 0,4 °C rekonstruiert werden. Im folgenden Jahrzehnt steigen die Durchschnittswerte fast ebenso stark wieder an, um sich im letzten Viertel des Jahrhunderts dann auf einem Niveau von -0,2 °C unter dem langjährigen Mittel zu bewegen. Genau in diesen Kaltphasen ereignen sich fast alle Ergotismus- Epidemien dieser Epoche, während die Warmphasen weitgehend verschont bleiben. Die Entwicklung in der Neuzeit verläuft allerdings mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Auch die Zunahme an Ergotismus-convulsivus-Epidemien im 18. Jahrhundert - in einer Phase, in der die Durchschnittstemperaturen wieder ansteigen - passt nicht ganz ins Bild. Eine monokausale Verknüpfung zwischen Temperaturverlauf und Häufigkeit der Ergotismus-Epidemien greift demnach zu kurz. Zu plausibleren Deutungsangeboten gelangt man, wenn man den klimageschichtlichen Ansatz durch einen sozialgeschichtlichen Ansatz ergänzt, wie das bereits für den frühmittelalterlichen Anstieg und den spätmittelalterlichen Rückgang der Epidemien geschehen ist. 63 Als gesichert gilt, dass trotz der verschiedenen weiterhin grassierenden Seuchen, trotz Kriegen und Hungersnöten die Bevölkerungszahl seit dem 15. Jahrhundert wieder anstieg und ab Mitte des 16. Jahrhunderts das hochmittelalterliche Maximum überschritt. In manchen Regionen mag die Bevölkerungsdichte damit wieder an die Tragfähigkeitsgrenze gestoßen sein. Interessanterweise ähnelt die Kurve der Ergotismus-Epidemien in Frankreich, dem einzigen Land, das vom 9. bis ins 18. Jahrhundert hinein durchgehend von dieser Krankheit betroffen war, weitgehend der Bevölkerungsentwicklung. 64 Während der Rückgang der Seuchenhäufigkeit im Spätmittelalter ab dem 13. Jahrhundert auf die klimatische Gunstphase zurückgeführt werden kann, führten die Pestepidemien zu dem massiven Bevölkerungseinbruch des 14./ 15. Jahrhunderts und der darauf folgenden Reduktion der Ackerflächen. Für den erneuten Anstieg der Population im 16./ 17. Jahrhundert ist es nun durchaus denkbar, dass die Basisversorgung der Bevölkerung nicht mehr durchgehend auf der Grundlage der verringerten Anbaufläche gewährleistet werden konnte. Ein verstärkter Landesausbau, aber auch die verschiedenen Auswanderungsbewegungen des 17. Jahrhunderts, z. B. aus der Grand Perche nach Québec oder aus Lothringen und Süddeutschland ins Banat, sind Indikatoren dafür, dass die Versorgung der gewachsenen Bevölke- 62 R. G LASER u. a., Temperatur- und Hochwasserentwicklung (Anm. 60), S. 61. 63 Vgl. oben Abschnitt 1. 64 Die Daten für die französischen Ergotismus-Epidemien sind den Anhängen 1 und 2 entnommen. Zur Bevölkerungsentwicklung vgl. A NDREAS T IETZE , Bevölkerung, in: Lexikon des Mittelalters 2, München 1983, Sp. 10-21, hier 14; sowie J OSEF E HMER , Bevölkerung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 2, Stuttgart 2005, Sp. 94-119, hier 104. rung angesichts einer weith gestoßen ist. Grafik 5: Bevölkerungsentw Einzelne Spezialstudien ha alter wüst gefallenen Dörfe seit langem unter dem Pflu tät als Ergänzungsflächen besten, da dieses Winterge sächlich traten die Epidem kammern, sondern vor all verfügen, wie z. B. in der S Als weiterer Faktor, de haben könnte, wären die Fleischkonsum ging deutlic Mehlspeisen im Mittelpunk 65 H ANS J ÄNICHEN , Beiträge der Kommission für Geschic schungen 60), Stuttgart 1970, 66 Die dort vorwiegend auftr 30-35. Zum Vergleich, die M wert von 100 auf. 67 Dietrich S AALFELD , Wandl zur Neuzeit, in: I RMGARD B I zeit. Vorträge eines interdisz Liebig-Universität Gießen, Sig 0 10 20 30 9. Jh 10. Jh 11. Jh 1 Ergotismus-Epidemie D A S ›H EILIG E F E hin stagnierenden Flächenproduktivität an ihre Gren wicklung Frankreichs aben nachgewiesen, dass die Parzellen von im Spätmi ern wieder bewirtschaftet wurden. 65 Da die guten Bö ug waren, konnten nur Areale mit minderer Bodenq n genutzt werden. Und hier eignete sich Roggen etreide wesentlich genügsamer war als etwa Dinkel. mien der Frühen Neuzeit nicht in den klassischen K lem in Gegenden auf, die über eher schlechtere Bö Sologne oder im Raum Celle. 66 er die Wahrscheinlichkeit erneuter Erkrankungen erh veränderten Ernährungsgewohnheiten zu nennen. ch zurück. Stärker als im Spätmittelalter standen Brot kt der täglichen Kost. 67 zur Wirtschaftsgeschichte des schwäbischen Dorfes (Ve chtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: S. 215. retenden Podsolböden erreichen nur eine Bodenwertzahl Magdeburger Börde weist den deutschen Richt- und Maxi lungen der bäuerlichen Konsumgewohnheiten vom Mittel ITSCH u. a. (Hg.), Essen und Trinken in Mittelalter und N ziplinären Symposions vom 10.-13. Juni 1987 an der Ju gmaringen 1987, S. 59-76, hier 62, 70-72. 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh 16. Jh 17. Jh 18. Jh n Bevölkerung/ Mio Entwurf P. Fr EU ER ‹ 259 nzen ittelöden qualin am Tat- Kornöden höht Der und eröff. Forl von imallalter Neuustusrieß P EER F RI ES S 260 Karte 1: Regionale Verteilung der Ergotismus-Epidemien im Mittelalter Entwurf P. Frieß 1 = Spanien (3) 2 = Aquitanien (6) 3 = Pariser Becken (15) 4 = Limousin (3) 5 = Dauphine (5) 6 = Lothringen (10) 7 = Flandern (5) 8 = Niederrhein (3) 1-5 Epidemien 6-10 Epidemien mehr als 10 Epidemien D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 261 Karte 2: Regionale Verteilung der Ergotismus-Epidemien in der Neuzeit Entwurf P. Frieß 1-5 Epidemien 6-10 Epidemien mehr als 10 Epidemien 1 = Aquitanien (3) 2 = Sologne (11) 3 = Flandern (4) 4 = Schweizer Mittelland (4) 5 = Dauphiné/ Languedoc (5) 6 = Limousin/ Auvergne (2) A = Niederrhein (2) B = Nordhessen/ Westfalen (9) C = Böhmen/ Schlesien (4) D = Schweden (4) E = Oberitalien (4) F = Russland (3) P EER F RI ES S 262 Die Kumulation dieser Faktoren erhöhte die Gefahren einer Mutterkornvergiftung insbesondere dann, wenn durch Kriege oder klimatisch bedingte Ernteausfälle großer Hunger herrschte. Dies sind allerdings eher vage Korrelationen, die im Einzelnen überprüft und um weitere Faktoren ergänzt werden müssten. Noch schwieriger zu erklären als die Schwankung der Häufigkeit von Ergotismus-Epidemien ist ihre regionale Streuung. Für das Mittelalter (Karte 1) ergibt sich bei Berücksichtigung der derzeit bekannten und als gesichert geltenden Nachrichten über Ergotismus-Epidemien eine eindeutige Konzentration auf das Gebiet des Pariser Beckens und die sich daran anschließenden Gebiete Flanderns, des Niederrheins und der Champagne. Daneben waren vor allem Lothringen und Aquitanien besonders stark betroffen. In der Neuzeit verschiebt sich das Bild. Während Lothringen offenbar verschont bleibt und sich das Aufflackern der Krankheit insbesondere auf die Sologne konzentriert, häufen sich die Nachrichten von Ergotismus-Erkrankungen in Südfrankreich und im Schweizer Mittelland. Ein völlig verändertes Bild ergibt sich östlich des Rheins. Hier treten mit Norddeutschland, Schweden, Böhmen und Russland Verbreitungsräume des Ergotismus convulsivus in Erscheinung, die im Mittelalter nicht aufgefallen waren. Das gleiche gilt für Oberitalien. Die zeitlichen und räumlichen Schwankungen im Auftreten der Ergotismus- Epidemien in Europa können durch die angeführten Hypothesen zwar partiell plausibel gemacht, aber weder durch klimageschichtliche noch durch sozialgeschichtliche Deutungsansätze vollständig erklärt werden. Der Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie muss demnach komplexere Ursachen haben. 4. Bedingungsfaktoren von Ergotismus-Epidemien Auszugehen ist bei der Beantwortung der Frage nach den Faktoren, die einen Krankheitsausbruch begünstigen bzw. deren Fehlen den Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie verhindert, von dem Faktum, dass der Mutterkornpilz in ganz Europa verbreitet ist und mittlerweile an mehreren hundert verschiedenen Gräserarten nachgewiesen werden konnte. 68 Die Überwinterungsform des Pilzes, die dunklen, schlauchförmigen Sklerotien, überleben allerdings in der Regel im Feld nur bis zur nächsten Vegetationsperiode. Sie überdauern zwar auch kalte und lange 68 Die folgende Zusammenstellung und das Schaubild nach A LFRED O BST / K LAUS G EH - RING , Getreide. Krankheiten, Schädlinge, Unkräuter, Gelsenkirchen-Buer 2002, S. 96-99. Vgl. auch P ETER D OLESCHEL , Weizen, in: M ANFRED M UNZERT / J OHANN F RAHM (Hg.), Die Landwirtschaft. Lehrbuch für Landwirtschaftsschulen, Bd. 1: Pflanzliche Erzeugung, München 12 2006, S. 438-462, hier 446f.; D ERS ., Roggen, in: Ebd. S. 493-502, hier 493f., 497. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 263 Winter, keimen im Frühjahr aber nur in Oberflächennähe aus. Feuchte Witterung im Frühjahr begünstigt das Wachstum der Sporenschläuche und den Ausstoß der Sporen. Durch Luftströmungen gelangen sie auf die Getreide- oder Gräserblüte und dringen in den Fruchtknoten ein. Abb. 1: Der Entwicklungszyklus von Claviceps purpurea. Als Folge dieser Primärinfektion entsteht bei früh blühenden Gräsern oder Getreideblüten der sogenannte Honigtau, ein zuckerhaltiger Saft, der zahlreiche Pilzsporen enthält und durch Insekten, Regenspritzer oder unmittelbaren Kontakt auf die benachbarten Pflanzen übertragen wird. Dort kommt es dann ebenfalls zu einem Befall der Blüten, der sogenannten Sekundärinfektion. Aus primär und sekundär infizierten Fruchtanlagen entwickeln sich innerhalb von vier bis sechs P EER F RI ES S 264 Wochen die typischen Dauerkörper des Mutterkornpilzes. Ein Großteil fällt allerdings vor der Ernte zu Boden. Im Gegensatz zu anderen Getreidearten ist Roggen für eine Mutterkorninfektion besonders anfällig, da diese Getreideart auf Fremdbestäubung angewiesen ist. Dazu öffnet sich die Blüte weit und deutlich länger als bei anderen Getreidearten. Kühle und feuchte Witterung fördert nun nicht nur das Wachstum des Pilzes, sie verlängert zudem die Blütephase. Dies geschieht auch, wenn z. B. durch Schneefäule nach langen Wintern die Pollenproduktion beeinträchtigt ist und sich die Befruchtung verzögert. Diese Verlängerung der Blütezeit führt zu einer Verlängerung der Infektionsmöglichkeiten durch die Mutterkornsporen. Magere oder feuchte Böden erhöhen ebenfalls die Anfälligkeit des Roggens und fördern dadurch die Verbreitung des Pilzes. Neben diesen Naturfaktoren wirken auch Humanfaktoren auf die Verbreitung des Mutterkornpilzes ein. Dazu zählt zum einen die Form der Bodennutzung und -bearbeitung. Bereits in Lehrbüchern des Spätmittelalters wird erläutert, welche Arbeitsgänge vom Pflügen über das Eggen bis zur Aussaat erfolgen mussten, um einen guten Ertrag zu erhalten. Hierzu war neben der technischen Ausrüstung mit einem Räderpflug auch Zugvieh nötig. 69 Lange und harte Winter konnten allerdings bewirken, dass dieses Zugvieh geschlachtet werden musste. Die durch Mangelernährung geschwächte, ärmere ländliche Bevölkerung konnte dann oft keine aufwändige Bodenbearbeitung mehr durchführen, so dass mehr Mutterkornsklerotien oberflächennah liegen blieben. War in so einem Gebiet dann nur die Zweizelgenwirtschaft, wie etwa in Rheinhessen oder im Breisgau, oder gar eine permanente Nutzungsform verbreitet, stieg das Risiko einer Mutterkornvergiftung. 70 Bei einer Dreifelderwirtschaft wurde das Winterfeld erst zwei Jahre später mit Roggen bebaut, sodass ein Großteil der auf den Boden gefallenen Sklerotien nicht mehr keimfähig war. Auch hier konnte es aber zum Ausbruch der Krankheit kommen. Wenn in Notjahren zu wenig Saatgetreide übrig blieb, um dicht genug auszusäen, verlängerte sich die Blütezeit des Roggens und damit die Anfälligkeit. Wurde zudem keine ausreichende Saatgutkontrolle durchgeführt, gelangten die Sklerotien direkt ins neue Winterfeld. War auch die dann folgende Ernte schwach, dann war die Versuchung gerade für die ärmere Landbevölkerung groß, im Sommer unbedacht das verunreinigte Getreide direkt vom Halm zu konsumieren oder vom Boden aufzulesen. In manchen Regionen wurde die Situation dadurch verschärft, dass die Entlohnung von Landarbeitern durch die Grundherrn in Form 69 H. J ÄNICHEN , Dorf (Anm. 65), S. 31-36. 70 D IETER C URSCHMANN , Zweizelgenwirtschaft, Brachbesömmerung und freie Fruchtwechselwirtschaft in Rheinhessen, in: Alzeyer Geschichtsblätter 22 (1988), S. 146-162; H UGO O TT , Studien zur spätmittelalterlichen Agrarverfassung im Oberrheingebiet (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 23), Stuttgart 1970, S. 61, 69, 92. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 265 minderwertigen Getreides erfolgte, das in ungünstigen Jahren erheblich mutterkornverseucht sein konnte. Je mehr dieser Natur- und Humanfaktoren zusammenwirken, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Krankheitsausbruchs. Abb. 2: Bedingungsfaktoren von Ergotismus-Epidemien. Neben den anthropogenen Bedingungsfaktoren spielen demnach Naturfaktoren, wie die Bodengüte und die klimatischen Gegebenheiten eine wesentliche Rolle. Die Komplexität der Wirkungszusammenhänge erklärt allerdings auch, warum die Häufigkeitsverteilung der Ergotismus-Epidemien nicht einfach mit der allgemeinen Klimaentwicklung in Mitteleuropa korrelierbar ist. 71 Das zeigt sich bereits bei der Abhängigkeit der Entwicklung des Mutterkornpilzes von den klimatischen Rahmenbedingungen. So haben sowohl die Jahresdurchschnittstemperatur als auch die Länge der Winter keinen unmittelbaren, sondern nur einen indirekten Einfluss, weil durch niedrige Temperaturen und lange Winter die Anfälligkeit des Roggens für den Mutterkornbefall erhöht wird. Wichtiger für die Entwicklung des Mutter- 71 W ILFRIED E NDLICHER , Klima, Wasserhaushalt, Vegetation. Grundlagen der physischen Geographie 2, Darmstadt 1991, S. 59. P EER F RI ES S 266 kornpilzes sind allerdings die Feuchtigkeitsverhältnisse im Frühjahr und die Witterung bis in den Sommer hinein. Die hygrischen und thermischen Verhältnisse im Herbst sind dagegen wieder von sekundärer Bedeutung. Auch die regionale Begrenzung der dokumentierten Ergotismus-Epidemien lässt letztlich einen Vergleich ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung mit den europäischen Mittelwerten des Temperaturverlaufs wenig aussagekräftig erscheinen. Wesentlich aufschlussreicher für das Wirkungsgeflecht von Natur- und Humanfaktoren sind demzufolge regionale Studien. 72 5. Regionale Fallstudien: Frankreich, die Schweiz und Oberschwaben Die folgenden Fallstudien versuchen jeweils die Bedingungsfaktoren für den Ausbruch von Ergotismus-Epidemien zu erschließen. Außerdem wird die Quellenüberlieferung dahingehend überprüft, ob neben den bekannten Krankheitsbezeichnungen, wie z. B. ›Heiliges Feuer‹ oder ›feu sacré‹, auch andere Hinweise für das Auftreten von Ergotismus-Erkrankungen feststellbar sind. Auf der Basis der aktuellen Forschungslage lassen sich insbesondere zu einzelnen Regionen Frankreichs genauere Angaben machen. Das Elsass, Lothringen und die Freigrafschaft Burgund gehörten zu den Kernräumen des rasch wachsenden Antoniterordens, der hier zahlreiche Niederlassungen unterhielt. 73 Interessanterweise wird aber nur in Lothringen von Ergotismus-Epidemien berichtet, die sich im Hochmittelalter häufen und ab dem 13. Jahrhundert scheinbar völlig verschwinden. 74 Wie die Freigrafschaft Burgund zählt auch Lothringen nicht zu den klassischen Getreidebaulandschaften Frankreichs, die eher in der Picardie, der Beauce und der Champagne lagen. 75 Die beiden Regionen gehören vielmehr zu den Gebieten Frankreichs mit dem kontinentalsten Klima. Die Schichtstufenlandschaft ist geologisch, pedologisch und morphologisch mit der Schwäbischen und Fränkischen Alb vergleichbar. 76 72 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt K AY P. J ANKRIFT , The Language of Plague and its Regional Perspectives: The Case of Medieval Germany, in: Medical History Supplement 27 (2008), S. 53-58. 73 A. M ISCHLEWSKI , Ordre Hospitalier (Anm. 17), S. 39-59. 74 Vgl. Anhang 1. G UY C ABOURDIN , Les Gens, le temps et l’argent. Terre & Hommes en Lorraine (1550-1635), Nancy 1984, S. 49-55, erwähnt zwar verschiedenste Krankheiten, wie z. B. Lepra, Pest oder Typhus, jedoch nicht den Ergotismus. 75 P IERRE R ACINE , La Lorraine entre mer du Nord et mer Méditerranée au Moyen-Âge, in: L OUIS C HATELLIER (Hg.), La France de l’Est et l’Europe du Moyen Âge à nos Jours, Nancy 1995, S. 13-31. 76 A LFRED P LETSCH , Frankreich, Darmstadt 1997, S. 39f. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 267 Grafik 6: Ergotismus-Epidemien in Lothringen Im Gegensatz dazu weist das Elsass als Teil des Oberrheingrabens deutlich günstigere Klimabedingungen auf und verfügt über teilweise sehr fruchtbare Böden. 77 In allen drei Teilregionen Nordostfrankreichs war im Hochmittelalter der Roggenanbau verbreitet. 78 Er nahm zwar im Spätmittelalter auf Grund des Vordringens des Weizens ab, verschwand aber nie vollständig. 79 Da auch aus dem Spätmittelalter, etwa für die Jahre 1314-1319, Nachrichten über harte und lange Winter bzw. besondere Trockenheit sowie Berichte über Hungersnöte überliefert sind, wären die natürlichen und die ackerbaulichen Voraussetzungen für Mutterkornvergiftungen gegeben. 80 Eine genaue Untersuchung der lokalen Überlieferungen zeigt, dass es nach dem Rückgang der großen hochmittelalterlichen Epidemien in allen drei Regionen in den folgenden Jahrhunderten zumindest vereinzelt immer wieder zu Ergotismus- Erkrankungen kam. 81 Zum Teil sind die Erkrankten namentlich bekannt, zum Teil 77 A UGUSTE H ANAUER , Les paysans de l’Alsace au moyen-âge, Paris 1865, S. 276; H ENRI V OGT / H ENRI M ETTAUER , Les sols d’Alsace, in: J EAN -M ICHEL B OEHLER u. a. (Hg.), Histoire de l’Alsace rurale (Société Savante d’Alsace et des Régions de l’Est: Collection Grandes Publications 24), Strasbourg u. a. 1983, S. 13-19. 78 Der Roggenanbau konzentrierte sich allerdings auf die pedologisch und klimatisch weniger günstigen Regionen; G UY C ABOURDIN , Les temps modernes 2 (Encyclopédie illustrée de la Lorraine), Nancy 1991, S. 27: »Le seigle n’était guère cultivé que dans les vallées vosgiennes et dans le nord-mosellan en particulier vers Sierck et Bitche«. 79 B ERNHARD V OGLER / M ICHEL H AU , Histoire économique de l’Alsace. Croissance, crises, innovations. Vingt siecles de développement régional, Strasbourg 1997, S. 30f.; M ICHEL P ARISSE , Histoire de la Lorraine, Rennes 2005, S. 19. 80 J EAN T HOMAS , Lorraine. 2000 ans d’Histoire, Haroué 2009, S. 58. 81 E LISABETH C LEMENTZ , Die Spitaltätigkeit der Antoniter im heutigen Nordostfrankreich (Elsass, Lothringen, Freigrafschaft Burgund), in: Antoniter-Forum 15 (2007), S. 66-79. 0 1 2 3 4 5 6 7 9. Jh 10. Jh 11. Jh 12. Jh 13. Jh 14. Jh 15. Jh 16. Jh Ergotismus-Epidemien Entwurf P. Frieß P EER F RI ES S 268 wird nur unbestimmt von der Gruppe bzw. der Gemeinschaft der Erkrankten einer Ordensniederlassung gesprochen. Einzelbelege von Erkrankungen Zeitraum Ort Anzahl der Kranken 1237 Aumonières unbestimmt 1238 Aumonières unbestimmt 1298 Isenheim 1 1383 Straßburg 2 1385 Isenheim 5 1424 Pont-à-Mousson unbestimmt 1437 Maastricht unbestimmt les infermes 1451 Colmar 1 1454 Aumonières unbestimmt 1457 Basel 1 1459 Besançon 1 1526 Isenheim 18 1589 Isenheim unbestimmt viele 1626 Isenheim 1 1632 Isenheim 2 1677 Isenheim 1 Bis ins 17. Jahrhundert reichen damit die Belege von den krankenpflegerischen Aktivitäten des Antoniterordens in Nordostfrankreich. Dabei ist zwar nicht auszuschließen, dass auch scheinbar ähnliche Krankheiten, wie z. B. der Wundbrand, behandelt wurden. Angesichts der häufigen Klagen über die letztlich hohen Kosten der Krankenpflege darf aber davon ausgegangen werden, dass die Antoniter so genau wie möglich darauf geachtet haben, nur die Kranken aufzunehmen, zu deren Versorgung sie gemäß ihren Statuten verpflichtet waren. Die tabellarisch zusammengefassten Belege können daher als Indizien dafür gewertet werden, dass bis in die Frühe Neuzeit hinein Menschen am Mutterkornbrand erkrankten. Mit der Gründung des ›Antönierhauses‹ in Uznach im Jahre 1373 hatte der Antoniterorden auch im heutigen Kanton St. Gallen Fuß gefasst. 82 Das Schweizer 82 P AUL O BERHOLZER , Die Pfarrei Russikon und das Antoniusspital Uznach, in: Antoniter- Forum 1 (1993), S. 42-44; D ERS ., Die Niederlassungen der Antoniter in der Schweiz als Orte der Krankenpflege, in: Antoniter-Forum 15 (2007), S. 47-65. Vgl. A DALBERT M ISCH - D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 269 Mittelland, also die Region von Lausanne über Luzern bis St. Gallen, entspricht morphologisch dem ebenfalls eiszeitlich überformten süddeutschen Alpenvorland und weist ähnliche klimatische Bedingungen auf. Roggenanbau war allerdings stets von nachrangiger Bedeutung, da der Dinkel das bevorzugte Wintergetreide war. 83 Dies könnte der Grund dafür sein, dass aus dem Spätmittelalter keine Ergotismusfälle belegt sind. 84 Erst in der Frühen Neuzeit wird von verschiedenen Fällen berichtet. Sie konzentrieren sich zeitlich auf die Jahrzehnte von 1650 bis 1709. Die Hintergründe der Krankheitsausbrüche in der Frühen Neuzeit sind bislang noch nicht näher untersucht worden. Am Beispiel der Epidemie von 1709 soll dies hier in knappen Zügen versucht werden. In einem 1717 veröffentlichten Bericht beschreibt der Luzerner Stadtarzt Carl Niclaus Lang die von ihm beobachteten Symptome einer ihm bis dahin unbekannten Krankheit: 85 Erstlich erkalteten ihnen die eusserste Glider […] die Adern verschluffen sich völlig […] worauff entlichen eine gäntzliche Entschläffung deß angegriffenen Glids erfolgte/ also das kein einige Empfindlichkeit mehr darinnen verspühret wurde. […] Diese also enschläffte/ zusamen geschmurrte und ohne einige Empfindligkeit und Blut gleichsam annoch lebente Glider wurden letstlichen mit einem entsetzlichen und undleydenlichen Schmertzen angefochten und überfallen […] worauff die völlige Außdöhrung und eine abscheuliche Schwärze deß erkranckten Glids darzuschluge/ biß es endtlichen von dem übrigen Leib auffgelöset wurde/ und vorsich selbsten abfallen thäte. Lang führte die Krankheit auf den biß dahin bey uns unerhörten Genuß des Kornzapffen oder Rocken-Mutter […] in dem Rocken-Brot zurück. Die Erkenntnisse der französischen Ärzte waren ihm offenbar noch nicht bekannt, sonst hätte er die Symptome LEWSKI , Der Antoniterorden und seine Generalpräzeptoreien für die Niederlassungen in der Schweiz, in: E LSANNE G ILOMEN -S CHENKEL (Hg.), Helvetica Sacra IV/ 4: Die Antoniter, die Chorherren vom Heiligen Grab in Jerusalem und die Hospitaliter vom Heiligen Geist in der Schweiz, Basel-Frankfurt/ Main, 1996, S. 37-75. 83 C HRISTIAN P FISTER , Klimageschichte der Schweiz 1525-1860. Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 2 Bde. (Academica helvetica 6), Bern-Stuttgart 3 1988, hier Bd. 2, S. 35; H. J ÄNI - CHEN , Dorf (Anm. 65), S. 95f. 84 P AUL O BERHOLZER , Das Ordenshaus der Antönier in Uznach, in: Antoniter-Forum 3 (1995), S. 7-11, hier 8; Oberholzer bezeichnet die Darstellung in der Chronik des Johannes Stumpf von 1548, der von einer entsprechenden Krankenpflege berichtet, als nicht ernst zu nehmende Rückprojektion. 85 Zitiert nach V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 14f. P EER F RI ES S 270 eindeutig einer Mutterkornvergiftung des Typs Ergotismus gangränosus zuordnen können. 86 Zu fragen bleibt allerdings, warum es in einem Gebiet, das über Jahrhunderte vom ›Heiligen Feuer‹ verschont geblieben ist, plötzlich zu Ergotismus-Erkrankungen kommt? Die Antwort ergibt sich aus der für Ergotismus-Epidemien typischen Kombination von Natur- und Humanfaktoren. Für die Frühe Neuzeit lässt sich im Schweizer Mittelland ein deutlicher Bevölkerungsanstieg feststellen, der insbesondere in Mangelzeiten zur Nutzung von Grenzertragsböden führte. 87 Die klimageschichtlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte belegen, dass die Verhältnisse in diesem Raum während der sogenannten ›Kleinen Eiszeit‹ vor allem durch starke Schwankungen und die Häufung von Extremsituationen gekennzeichnet waren. 88 Mangelzeiten waren aber nicht nur durch harte Winter und verregnete Ernten bedingt. Die seit dem Spätmittelalter von Getreideimporten aus Schwaben abhängige Nordostschweiz litt in Teuerungszeiten auch darunter, dass Exportverbote des Schwäbischen Kreises, die sogenannten Fruchtsperren, die notwenige Zufuhr einschränkten oder gar verhinderten. Im Jahre 1709 kamen alle Faktoren zusammen. Missernten, ein extrem harter Winter und ein feuchter, mäßig warmer Sommer haben nicht nur die Widerstandskraft der Bevölkerung geschwächt, sondern boten auch dem Mutterkornpilz beste Wachstumsbedingungen. 89 Im Zusammenhang mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, bei dem die Eidgenossenschaft als Zulieferer des französischen Königs galt, verhängte der Schwäbische Kreis ein striktes Exportverbot, das den Mangel noch verstärkte. 90 Vor diesem Hintergrund wäre es gut vorstellbar, dass ärmere Landbewohner durch den Anbau von Sommerroggen, der hier den Hafer verdrängt hatte, ihre Versorgung verbessern wollten, angesichts 86 V. H. Bauer, Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 13. 87 F RANK G ÖTTMANN , Aspekte der Tragfähigkeit in der Ostschweiz um 1700: Nahrungsmittelversorgung, Bevölkerung, Heimarbeit, in: J OACHIM J AHN / W OLFGANG H ARTUNG (Hg.), Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung (Regio Historica. Forschungen zur süddeutschen Regionalgeschichte 1), Sigmaringendorf 1991, S. 142-182, hier 165f. 88 C H . P FISTER , Klimageschichte (Anm. 83), Bd. 1, S. 149f. 89 C H . P FISTER , Klimageschichte (Anm. 83), Bd. 1, S. 150. Vgl. auch F. M. M AUELSHAGEN , Klimageschichte (Anm. 60), S. 71. 90 F RANK G ÖTTMANN , Getreidemarkt am Bodensee. Raum - Wirtschaft - Politik - Gesellschaft (1650-1810) (Beiträge zur südwestdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 13), St. Katharinen 1991, S. 65-67. Vgl. auch D ERS ., Kreuzschiffe auf dem Bodensee. Die grenzpolizeiliche Überwachung des Getreidehandels im 18. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 106 (1988), S. 145-182; D ERS ., Der Bischof und die Fruchthandelspolitik des Schwäbischen Kreises im 18. Jahrhundert, in: E LMAR L. K UHN u. a. (Hg.), Die Bischöfe von Konstanz, Bd. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, S. 199-208, 443-444. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 271 mangelnder Erfahrung die Verunreinigung mit Mutterkorn jedoch nicht erkannten oder nicht gebührend berücksichtigten. 91 In einer sehr frühen Aufzählung der Heiligen, die während eines Ausbruchs des ›Heiligen Feuers‹ um Hilfe angefleht wurden, findet sich auch der Name des Heiligen Ulrich. Da im 10. Jahrhundert ausschließlich im Umfeld Augsburgs ein entsprechender Ulrichskult praktiziert wurde, könnte aus diesem Hinweis darauf geschlossen werden, dass auch in Oberschwaben im Frühmittelalter eine Ergotismus-Epidemie unter der Bevölkerung ausgebrochen war. 92 Verlässliche Nachrichten liegen jedoch weder für diese Zeit noch für die folgenden Jahrhunderte vor. Dennoch verfügte Oberschwaben mit der Generalpräzeptorei in Memmingen und der Filialniederlassung der Freiburger Generalpräzeptorei in Ravensburg über zwei Häuser des Antoniterordens, die über mehrere Jahrhunderte hinweg Bestand hatten. 93 Der scheinbare Widerspruch kann auch in diesem Fall durch eine nähere Untersuchung der relevanten Natur- und Humanfaktoren aufgelöst werden. Die Region Oberschwaben ist ähnlich wie das Schweizer Mittelland stark glazial überformt. Im westlichen Bereich dominiert eine hügelige Endmoränenlandschaft, während im östlich angrenzenden Teil der Iller-Lech-Platten in Süd-Nord-Richtung verlaufende Schotterterrassen vorherrschen. Die Bodenbildung wurde hier durch eine glazial angewehte Lößschicht begünstigt. Im Allgemeinen herrschen Braunerden mittlerer Güte vor. 94 Im Staubereich der Alpen kommt es in der Regel zu ergiebigen Niederschlägen. 95 Die ackerbauliche Nutzung hat auf diese Bedingungen reagiert. Während in den feuchten Talniederungen bereits im Spätmittelalter Flachsanbau verbreitet war und auf den Jungmoränenhügeln im westlichen Oberschwaben vor allem Dinkel angebaut wurde, dominierte der Roggenanbau die 91 C H . P FISTER , Klimageschichte (Anm. 83), Bd. 2, S. 26-28, 95-100. 92 M. P OPULER , Aspects historiques (Anm. 8), S. 192. 93 A DALBERT M ISCHLEWSKI , Klöster und Spitäler in der Stadt (Die Antoniter, das Schottenkloster), in: J OACHIM J AHN (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 247-291; A NDREAS S CHMAUDER , Leben in der Isolation: Lepra, Pest und Syphilis, in: D ERS . (Hg.), Macht der Barmherzigkeit. Lebenswelt Spital (Historische Stadt Ravensburg 1), Konstanz 2000, S. 120-142, hier 124f., 140f. 94 A RNO S EMMEL , Relief, Gestein, Boden (Grundlagen der physischen Geographie 1), Darmstadt 1991, S. 95f. 95 H ANS G EBHARDT (Hg.), Geographie Baden-Württembergs: Raum, Entwicklung, Regionen (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 36), Stuttgart 2008, S. 117-123; die aktuelle Jahresmitteltemperatur beträgt 6,9 °C. Der mittlere Jahresniederschlag variiert von 900 mm (Linzgau) bis 1600 mm (Isny). P EER F RI ES S 272 Terrassenflächen der Iller-Lech-Platten. 96 Insbesondere im Raum Memmingen lässt sich auch für das 16. Jahrhundert nachweisen, dass sich diese Nutzung nicht verändert hat. Sowohl die Gülteinnahmen des städtischen Heilig-Geist-Spitals als auch die Einkünfte der benachbarten Abtei Ottobeuren und der adeligen Herrschaft Kronburg weisen Roggen als Hauptanbaufrucht aus. 97 Ähnlich sind die Befunde aus den Urbaren des Heilig-Geist-Spitals von Biberach, den Gülteinnahmen des städtischen Kastneramtes in Mindelheim oder den privaten Getreidevorräten der Augsburger Bürger. 98 Während am Bodensee, am Neckar, am Hoch- und Oberrhein der Dinkel, das sogenannte Schwabenkorn dominierte, 99 hatte die spätmittelalterliche Verdinkelung Südwestdeutschlands offenbar vor dem östlichen Oberschwaben Halt gemacht. Roggen war damit die Ernährungsbasis für die ärmere Bevölkerung, Roggenbrote bildeten auch den Kern der Lebensmittelversorgung in den Spitälern, wie z. B. in Kaufbeuren. 100 Ähnlich wie im Elsass oder in Lothringen waren damit auch im östlichen Teil Oberschwabens die naturgeographischen und ackerbaulichen Voraussetzungen für 96 Zum Flachsanbau siehe H ANSJÖRG K ÜSTER , Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 4 2010, S. 295-297; zur Bedeutung des Roggens siehe H. J ÄNICHEN , Dorf (Anm. 65), S. 87. 97 H ANNES L AMBACHER , Das Spital der Reichsstadt Memmingen. Geschichte einer Fürsorgeanstalt, eines Herrschaftsträgers und wirtschaftlichen Großbetriebs und dessen Beitrag zur Entwicklung von Stadt und Umland (Memminger Forschungen 1), Memmingen 1991, S. 302f.; G OVIND P. S REENIVASAN , The Peasants of Ottobeuren, 1487-1726: a rural society in early modern Europe, Cambridge 2004, S. 88, 104f.; B URKHARD A SMUSS , Die Einkünfte der Herrschaft Kronburg im frühen 16. Jahrhundert, in: MGbll. (1979), S. 88- 121, hier 93. Vgl. die Nutzungsvorgaben für die Memminger Ackerfluren, die für die Jahre 1572-1580 als Winterfrucht ausschließlich Roggen vorsahen; P HILIPP L. K INTNER , Die Spieläcker - schon vor vier Jahrhunderten, in: MGbll. (1993/ 96), S. 27-46. 98 C HRISTIAN H EIMPL , Die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben des Heiliggeistspitals zu Biberach an der Riß von 1500 bis 1630 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 15), Stuttgart 1966, S. 19-28; R OLF K IESSLING , Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 29), Köln-Wien 1989, S. 670; B ERND R OECK , Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 31), Sigmaringen 1987, S. 83-93, 97-101. 99 Vgl. U DELGARD K ÖRBER -G ROHNE , Nutzpflanzen in Deutschland. Kulturgeschichte und Biologie, Stuttgart 1987; E. F ISCHER / P. R ÜCKERT , Verdinkelung (Anm. 38), S. 27. 100 W OLFGANG P ETZ , Reichsstädte zur Blütezeit. Alltag und Kultur im Allgäu und in Oberschwaben 1350 bis 1550, Kempten 1989, S. 92f; S TEFAN F ISCHER , Das Heilig-Geist- Hospital der Stadt Kaufbeuren von seiner Gründung bis zum Jahre 1963 - Ein historischer Überblick, in: »… geben zuo iren ewgenn Selenheil …« 750 Jahre Hospitalstiftung zum Heiligen Geist in Kaufbeuren 1249-1999, Thalhofen 1999, S. 8-43, hier 20. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 273 das Wachstum des Mutterkornpilzes gegeben. Und auch hier finden sich in den lokalen Quellen Hinweise auf entsprechende Erkrankungen. Die erhaltenen Dokumente belegen für das 15. und das beginnende 16. Jahrhundert, dass der Memminger Niederlassung des Antoniterordens kontinuierlich Erkrankte übergeben worden sind. Soweit erkennbar, konzentriert sich die Herkunft der Betroffenen auf das östliche Oberschwaben, was eben nicht nur auf die Diözesangrenze, sondern auch auf die Verbreitung des Roggenanbaus zurückzuführen wäre. 101 Kranke im Memminger Antoniusspital Zeitraum Herkunftsort Anzahl der Kranken 1444 Augsburg 1 1451 Egling 1 1452 Reute 1 1456 ? 1 1458 Immental 1 1459 ? 1 1461 ? 1 1466 Memmingen 1 1467 ? 1 1468 Dischingen 1 1471 Memmingen 1 1473 Stetten 1 1475 Augsburg 1 1512 ? Unbestimmt mehrere 102 1531 ? 5 103 101 A. M ISCHLEWSKI , Grundzüge (Anm. 19), S. 269f., stellt fest, dass mit einer Ausnahme alle bekannten Kranken des Memminger Antoniterspitals aus der Diözese Augsburg stammten. 102 Der Präzeptor Caspar von Leuzenbronn berichtet kurz nach seinem Amtsantritt 1512 davon, dass sein Haus […] mit armen sant anthonis kranncken […] mer dann hieuor […] je gewesen erfüllt […]. Zitiert nach A. M ISCHLEWSKI , Klöster und Spitäler in der Stadt (Anm. 93), S. 281. 103 C HRISTOPH E NGELHARD , »Was das silber haut gewogen und was daraus braucht worden ist«. Anmerkungen zur Verwaltung der Antoniterpräzeptorei durch die Reichsstadt Memmingen 1531 bis 1549, in: P. F RIESS , Antonius (Anm. 44), S. 124-133, hier 125 Anm. 9; A DALBERT M ISCHLEWSKI , Die Kranken im Memminger Antoniusspital, in: Antoniter-Forum 4 (1996), S. 48-59, hier 52. P EER F RI ES S 274 Das ›Heilige Feuer‹ war in Oberschwaben zwar nicht als Massenerscheinung aufgetreten, wie im mittelalterlichen Lothringen oder in der neuzeitlichen Sologne, eine latente Bedrohung der Bevölkerung war jedoch stets gegeben. Mit dem Niedergang des Antoniterordens im Zuge der Reformation verschwinden allerdings sämtliche Hinweise über das Auftreten des Antoniusfeuers aus den Quellen. Die agrarischen und naturgeographischen Rahmenbedingungen hatten sich jedoch kaum verändert. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist gleichzeitig bei weiter wachsender Bevölkerung eine erste Verschlechterung des Klimas festzustellen. Insbesondere der Zeitraum von 1569 bis 1573 war durch kalte und lange Winter, kühle und meist feuchte Frühjahrswitterung und überdurchschnittlich feuchte Sommer gekennzeichnet. 104 In weiten Teilen Mitteleuropas kam es in diesen Jahren zu einer gravierenden Getreideverknappung und Teuerung. 105 Dies führte auch in Oberschwaben zu massiven Hungersnöten, da die Ernteerträge weit unter dem notwendigen Minimum blieben. 106 Nur mit allergrößtem Aufwand konnten die Obrigkeiten durch die Verteilung verbilligten oder gar kostenlosen Brotes die große Zahl hilfsbedürftiger Bürger versorgen. 107 Nachrichten über besondere Krankheiten oder gar böse läuft finden sich aber nur für den östlichen Teil Oberschwabens. 108 Eine Memminger Reimchronik berichtet z. B. aus dieser Zeit: 109 Als ward gezeltt sibenzig Jar Ein feuchter naßer sommer war, die früechten thetten gar verfließen In heusern wollte nichts erschießen Dz obs an beumen nit gerathen 104 R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 120f. 105 W ILHELM A BEL , Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg-Berlin 1974, S. 76-78; W OLFGANG B EHRINGER , Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit, in: M ANFRED J AKUBOWSKI -T IESSEN (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 51-156. 106 G. P. S REENIVASAN , Ottobeuren (Anm. 97), S. 128. 107 P HILIP L. K INTNER , Die Teuerung von 1570/ 72 in Memmingen, in: MGbll. (1987/ 88), S. 27-75. 108 K ONRAD M. M ÜLLER , Das große Sterben im Allgäu. Pest und andere Seuchen in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: MGbll. (2004/ 2005), S. 157. In der Kaufbeurer Chronik des Wolfgang Ludwig Hörmann (StadtA Kaufbeuren 101/ I, fol. 415) wird zum Jahr 1569 davon berichtet, dass in einem städtischen Dorf eine ungewöhnliche Krankheit regiert habe. Der Stadtarzt Dr. Johannes Funk, der 1588 nach Memmingen wechselte, habe nach einer vorgenommenen Anatomia ein Bedenken über diese Krankheit verfasst, die allerdings im Archiv nicht mehr auffindbar ist. 109 StadtB Memmingen 4°.2.46 fol. 275 v -276 r . D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 275 Man hat wenig zesiden noch zubraten Im folgend ein vnd sibzig jar Die nott noch immer größer war Vnd alle ding im höchsten geltt Die leute liefen in das feld Klaubtten wurzen drinn zu nießen Ob sie den hunger möchten ließen Insonder ich euch auch vermeldt Man kauft abgangen flaisch vmbs geldt Die kornschitten waren fast leer Die Krise war demnach so heftig, dass sich insbesondere die ärmeren Menschen nicht mehr anders zu helfen wussten, als auf die Felder zu laufen und alles mitzunehmen, was irgendwie essbar erschien. Die Memminger Quellen belegen, dass nicht nur viele Menschen verhungerten, sondern auch zahlreiche Tote durch eine Epidemie oder Seuche zu beklagen waren. 110 Christoph Schorer, selbst studierter Arzt, berichtet in seiner 1660 erschienenen Chronik von der großen Hungersnot und der Explosion der Preise. Zum Jahr 1571 heißt es dann: Nach dieser langwirigen Theurung folgete ein grausame Haupt-Kranckheit/ welche/ so sie in ein hauß kam/ einen großen Raum thaete/ vnd sonderlich die jenigen/ welche ihr Leben kaum mit einem Stuck Brod erhalten/ hinweg nahm. 111 Ähnlich erging es den Menschen im Raum Augsburg, von wo ebenfalls von Krankheiten berichtet wurde, die verallgemeinernd als Fieber oder Pestilenz bezeichnet wurden. Beides waren Sammelbegriffe, die ganz allgemein eine lebensbedrohende Krankheit bezeichneten. 112 Man muss daher auch hier auf die dargestellten Merk- 110 Im Register der Einnahmen und Ausgaben des städtischen Spitals sind für das Jahr 1571 ungewöhnlich viele Ausgaben für die Beerdigung von Kindern aufgeführt; StadtA Memmingen D Bd. I/ 203, fol. 105 r -106 v . 111 C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronik, Memmingen 1660, zit. nach der Faksimileausgabe Kempten 1964, S. 101. 112 M ANFRED V ASOLD , Die »Pest« in Europa. Handelt es sich tatsächlich um die von dem Pesterreger Yersina pestis verursachte Seuche? , in: GWU 59 (2008), S. 96-106. Wenn man dies berücksichtigt und die Möglichkeit zulässt, dass sich hinter dem Begriff ›Pest‹ auch ganz andere Krankheiten verbergen können, ist man nicht genötigt, Quellentexte als lückenhaft zu bezeichnen, um sie dem traditionellen Pestbild anzupassen, wie es Max Radlkofer tut; Die Teuerung in den Jahren 1570 und 71, in Versen beschrieben von Barnabas Holzmann, Maler und Bürger zu Augsburg. Mit Einleitung und Noten von M AX R ADL - KOFER , in: ZHVS 19 (1892), S. 45-87, hier 58 Anm. 45. Der von ihm zitierte Beschluss des Augsburger Stadtrates vom 24.11.1571 lautete: Der an der Pestis Verstorben Personen Kleider, P EER F RI ES S 276 male der Krankheit zurückgreifen. Diese finden sich in dem zeitgenössischen Krisengedicht des Augsburger Malers Barnabas Holzmann. 113 In dem im September 1571 begonnenen Teil seiner Chronik berichtet er von einer Krankheit, deren besondere Charakteristika starke Kopfschmerzen, inneres Feuer, Schlafstörungen und unstillbarer Durst gewesen seien. 114 Als weiteres Merkmal wird angeführt: 115 Gemaincllich thuet In wohnnen bey, wunderbarliche fanntasey, Sie wissen nit, an welchem Enndt, oder bey was Leuthen sie seind, Können nicht Ire aigne glider, legen sich seltzam hin und wider, Ir vil verlieren das gehör, Ir vil Künen nicht reden mer, Gewonlich clagen sy und schreyen, wie das sy nicht dahaimen seien, […] Was sollten die zeitgenössischen Ärzte mit einer derartigen Krankheit anfangen? Sie passte weder in das Konzept der Pest, da offenkundig keine Bubonen auftraten, noch in das der Blattern oder der Syphilis. Das mittelalterliche Konzept des ›Heiligen Feuers‹ oder des ›Antoniusfeuers‹ stand nicht mehr zur Verfügung und das des Ergotismus war noch nicht entwickelt. Die damals publizierten Traktate spiegeln die Unsicherheit wider. Die verbreitete zeitgenössische Reaktion der Ärzte war es, die Krankheit nach ihrem ersten Auftreten als Ungarisches Fieber oder nach ihrem dominanten Symptom - den Kopfschmerzen - als Hauptwehkrankheit zu bezeichnen. 116 Aus der Distanz von mehr als vierhundert Jahren bleibt es ein Bettgewand u. Anders am Trendlmarkt zu verkaufen. Da dies den gängigen Vorstellungen vom Umgang mit den Hinterlassenschaften der an der Pest Verstorbenen eindeutig widerspricht, geht Radlkofer davon aus, dass vor verkaufen ein nicht stehen müsse. Wenn man dagegen eine andere Erkrankung, wie z. B. eine Mutterkornvergiftung, annimmt, wäre das nicht nötig. 113 Zitiert nach W. B EHRINGER , Krise (Anm. 105), S. 51-156, 301-355. 114 W. B EHRINGER , Krise (Anm. 105), S. 345, Vers 1316-1323. Ähnliche Symptome berichtet J ACOBUS T HEODORUS , Kurtzer vnderricht vnd Rahtschlag, wie man dem jetzigen Pestlenzischem gifftigen vnd hitzigen Feber, in welchem groß hauptwehthumb, Breün vnd ander gefarliche zufäll mit vnderlauffen, begegnen vnd vorkommen, auch wie man das so jetzt vorhanden abwenden vnd curieren soll, Heidelberg 1573, fol. 2 r , 5 v . 115 W. B EHRINGER , Krise (Anm. 105), S. 345f., Vers 1331-1340. 116 Vgl. Anzeig und Bericht der Statt Nürnberg verordneten vnnd geschwornen Doctoren […] die jetztregierende geuerliche Haubtkranckheit belangend […], Nürnberg 1572; N ICO - LAUS W INCKLER , Regiment, sehr Nothwendiger und nutzlich, von der jetz schwebenden D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 277 schwieriges Unterfangen, die überlieferten Symptome mit modernen Krankheitsbeschreibungen zu korrelieren. Die Identifikation der Epidemie von 1571/ 72 als Typhusepidemie kann keineswegs ausgeschlossen werden. Gerade vor dem Hintergrund der Entstehungsbedingungen von Ergotismuserkrankungen, die allesamt gegeben waren, und der Übereinstimmung der charakteristischen Symptome erscheint die Möglichkeit einer Mutterkornvergiftung aber ebenso plausibel zu sein. 117 6. Resümee Das ›Heilige Feuer‹ war bislang ausschließlich im Rahmen kirchen- und medizingeschichtlicher Studien behandelt worden. Durch die in dieser Abhandlung vorgenommene Ergänzung um demographie-, agrar- und umweltgeschichtliche Perspektiven entsteht ein interdisziplinärer Forschungsansatz, der neue Einblicke in die Komplexität des untersuchten Phänomens erlaubt. ›Ignis sacer‹ erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Krankheit, die die Menschen in Mitteleuropa vom ausgehenden Frühmittelalter bis weit in die Neuzeit hinein bedrohte. Besonders häufig trat sie im Hochmittelalter und dann wieder in der Frühen Neuzeit auf, wobei der räumliche Schwerpunkt für die gangränöse Form in Frankreich und für die convulsivische Form in Deutschland lag. Die Reaktion der Menschen auf diese lebensbedrohende Krankheit war stark geprägt von den jeweils zeittypischen Perzeptionsmustern. 118 So überwog im Frühmittelalter die Vorstellung von einer göttlichen Strafe, deshalb auch die Bezeichnung als ›ignis sacer‹. Hilfe und Linderung suchten die Menschen folgerichtig bei den verschiedenen lokalen Heiligen, die sie um Fürsprache und Heilung anflehten. Im Hochmittelalter erfolgte ein Konzentrationsprozess, an dessen Ende die Krankheit ausschließlich mit dem Heiligen Antonius Eremita korreliert wurde. In ihm sahen die Menschen des Mittelalters sowohl den Verursacher der Erkrankung wie auch den potentiellen Retter. Die Monopolisierung seines Kultes durch den Antoniterorden unterstützte diesen Prozess. Während die convulsivische Form möglicherweise auf Grund ihrer mangelnden Repräsentanz in der Heiligenvita Hauptkranckheit, was dieselbige eygentlich sey, und wie solcher zubegegnen, Augsburg 1572. 117 Wolfgang Behringers Verdikt, der Wilhelm Abels Hinweis auf Mutterkornvergiftungen als absurde Obsession bezeichnet, erscheint in diesem Zusammenhang zumindest überzeichnet zu sein; W. B EHRINGER , Krise (Anm. 105), S. 97 Anm. 163. 118 Das von Martin Dinges für die Interpretation der Seuchengeschichte entwickelte Modell der sozialen Konstruktion ließe sich auch auf das ›Heilige Feuer‹ übertragen; vgl. M ARTIN D INGES , Neue Wege in der Seuchengeschichte? , in: D ERS ./ T HOMAS S CHLICH (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte (Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Beih. 6), Stuttgart 1995, S. 7-24, hier 17. P EER F RI ES S 278 weitgehend ausgeblendet wurde, bewirkte die Spezialisierung der Antoniter auf die Behandlung der gangränösen Form respektable Heilungserfolge. Dies spiegelt sich auch im Wandel der Bezeichnung wieder. Im Spätmittelalter findet sich überwiegend der Ausdruck ›mal de saint antoine‹ oder des ›Heiligen Antonius Plage‹. Die Reformation einerseits und die mit der Renaissance einsetzende Veränderung des medizinischen Denkens andererseits modifizierten die Perzeptionsmuster ein weiteres Mal. Während das Konstrukt einer überirdischen Strafe zusehend als Krankheitsursache verschwand, führte die naturwissenschaftliche Analyse bald zur Erkenntnis der biologischen Zusammenhänge, die hinter der nun als Ergotismus bezeichneten Krankheit standen. Auf Grund des kulturellen Traditionsbruchs und des Niedergangs des Antoniterordens war allerdings das Wissen um eine hilfreiche Therapie verloren gegangen. Heute weiß man, dass es sich beim ›Heiligen Feuer‹ im Gegensatz zu den bekannten ansteckenden Seuchen, wie Pest oder Cholera, nicht um eine Infektionskrankheit, sondern um eine Lebensmittelvergiftung handelt. Sie beruht auf dem Konsum von Getreide, das mit Mutterkornalkaloiden verunreinigt ist. Eine gesundheitsgefährdende Anreicherung dieser Alkaloide im Brotgetreide tritt allerdings nur dann auf, wenn eine ganze Reihe von Natur- und Humanfaktoren zusammenwirken. Dazu zählen eine Dominanz des Roggenanbaus, unzureichende Ackerbautechnik, mangelnde Saat- und Erntegutkontrollen, schwache Böden sowie feuchte und kühle Witterung im Frühjahr. Das Klima hat demnach zwar einen wesentlichen, aber keinen allein bestimmenden Einfluss auf den Ausbruch der Krankheit. Die Schwankungen der Häufigkeit wie auch der regionalen Verteilung resultieren aus Veränderungen des Ackerbaus, der staatlichen Fürsorge- und Vorratspolitik sowie der Varianz der Bevölkerungsdichte in Verbindung mit hygrischen, thermischen und pedologischen Faktoren. Da im frühmittelalterlichen Europa die Anbaubedingungen und -praktiken wie auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse über ganze Landstriche hinweg relativ ähnlich waren, konnten klimatische Ungunstphasen zu einem flächenhaften Ausbruch des ›Heiligen Feuers‹ - etwa von Lothringen über die Îlede-France bis ins Poitou - führen. In der Frühen Neuzeit hatten sich sehr viel stärker ausdifferenzierte Strukturen gebildet, sodass die Krankheit nur mehr lokal oder - wie in der Sologne - regional begrenzt auftrat. Gerade die genauere Untersuchung einzelner Regionen konnte die Kenntnisse über das Auftreten der Krankheit vertiefen und differenzieren. So zeigte eine Fallstudie zu Nordostfrankreich, dass das ›Heilige Feuer‹ im 15. und 16. Jahrhundert nicht verschwand, sondern auch im Spätmittelalter immer wieder aufflackerte, was das Bewusstsein der latenten Bedrohung wach hielt und ein Faktor dafür gewesen sein könnte, dass der Antoniterorden trotz des Fehlens großer Epidemien gerade D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 279 in dieser Zeit seine Hochblüte erlebte. 119 Das Beispiel des Schweizer Mittellandes zeigte, wie die Berücksichtigung der zeittypischen Perzeptionsmuster zu neuen Erkenntnissen führen kann. Anstatt vom zeitgenössischen Begriff der ›Zapfenkrankheit‹ auszugehen, führte die Orientierung an den beschriebenen Symptomen zu einer Zuordnung der ungewöhnlichen Erkrankung zu dem zeitlich und räumlich übergreifenden Phänomen des Ergotismus. Vor diesem Hintergrund konnten neueste Forschungsergebnisse zur Klimaentwicklung einerseits und zu den politisch motivierten Fruchtsperren andererseits herangezogen werden, um ein in sich stimmiges Bild des Krisenjahres 1709 zu zeichnen. Durch die Übertragung der verschiedenen heuristischen Prinzipien - der Regionalisierung, der Interdisziplinarität und der Orientierung an den Symptombeschreibungen anstatt der Suche nach Krankheitsbegriffen - auf die Region Oberschwaben ließen sich die in Nordostfrankreich und dem Schweizer Mittelland erarbeiteten Ergebnisse bestätigen. Zum einen konnte auch hier die Kontinuität von Mutterkornerkrankungen nachgewiesen werden. Zum anderen legte es die Neuinterpretation zeitgenössischer Krankheitsberichte nahe, einige pauschal als ›pestis‹ bezeichnete Epidemien als Ergotismus-Erkrankungen zu identifizieren und nicht als einen Ausbruch von ›yersina pestis‹. Diese Ergebnisse regen dazu an, weitere Regionalstudien durchzuführen. Für Süddeutschland erscheinen die Krisenjahre 1312, 1432-38, 1486, 1569-72, 1624 und 1770 besonders interessant zu sein. Darüber hinaus bieten sich insbesondere die Sologne, Nordhessen, Böhmen und Schlesien, aber auch die klassischen Roggenanbaugebiete Osteuropas als Forschungsareale an. 119 W. A ICHINGER , Kulturgeschichte einer Metapher (Anm. 13), S. 269, vertritt die These, dass zumindest für die iberische Halbinsel nicht das Antoniusfeuer die Antoniterspitäler bedingt habe, sondern dass sich die Antoniterspitäler des Antoniusfeuers als Mythos und elementare Daseinsberechtigung bedient hätten. P EER F RI ES S 280 Anhang 1: Ergotismus-›Epidemien‹ im Mittelalter 120 Zeitraum Region Bemerkung 121 857 Niederrhein 122 Wikingervorstoß nach Tours 123 874 Gallien, Germanien Hungersnöte 873/ 74 124 912 Île-de-France 125 911 Wikingervorstoß nach Chartres 922/ 23 Frankreich, Spanien 921 Wikingervorstoß nach Nantes 943 Limoges 126 Hungersnöte 941 945 Île-de-France, Champagne 127 993 Île-de-France 994 Limousin, Angoumois, Périgord 128 996/ 97 Auvergne, Lothringen Hungersnöte 996-1002 129 999 Leon 1006 Lothringen 1039 Westfrankreich 130 1041/ 42 Lothringen 131 1070 Limousin 132 120 Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Daten aus dem Werk von A UGUST H IRSCH , Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Bd. 2: Die chronischen Infections- und Intoxications-Krankheiten, parasitäre Wundkrankheiten und chronische Ernährungs- Anomalieen vom historisch-geographischen Standpunkte und mit besonderer Berücksichtigung der Aetiologie, Stuttgart 1883, S. 456-467. 121 In der Rubrik ›Bemerkungen‹ wurden Informationen über Faktoren aufgenommen, die den Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie begünstigt haben könnten. 122 MGH (SS) II, S. 230. 123 J EAN R ENAUD , Les Vikings en France, Tours 2000, S. 47. 124 F RITZ C URSCHMANN , Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900, S. 22; hieraus auch alle folgenden Angaben über Hungersnöte, wenn nicht anders angegeben. 125 K. P. J ANKRIFT , Krankheit und Heilkunde (Anm. 18), S. 126f. 126 E. S CHUBERT , Essen und Trinken (Anm. 40), S. 35. 127 MGH (SS) III, S. 393. 128 R UDOLF C REUTZ , St. Antonius der Einsiedler und das Antoniusfeuer, in: Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge 4 (1927), S. 257-266, hier 259; V. H. B AUER , Antonius- Feuer (Anm. 9), S. 34. 129 K. P. J ANKRIFT , The Language of Plague (Anm. 72), S. 56. 130 Raoul Glaber zit. nach: E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 32. 131 B ERNHARD M. L ERSCH , Geschichte der Volksseuchen nach und mit den Berichten der Zeitgenossen, mit Berücksichtigung der Thierseuchen, Berlin 1896, S. 74. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 281 Zeitraum Region Bemerkung 133 1085 Lothringen, Spanien 134 Stürme, hohe Feuchtigkeit 135 1086 Lothringen, Italien 136 1088/ 89 Lothringen, Flandern, Dauphiné Regnerischer Sommer 137 1090 Lothringen 138 , Kiew, Katalonien 139 1092 Flandern, Aquitanien 140 1094/ 95 Île-de-France, Flandern 1095 Hungersnöte 1096 Île-de-France 1099 Dauphiné 1099-1101 Hungersnöte 1100/ 01 Lothringen 141 1105 Artois 142 1106 Artois 143 1109 Pariser Becken, Dauphiné 1109/ 10 England 144 1125 Lothringen, Frankreich 145 1124-1126 Hungersnöte; strenge Winter 146 1128/ 29 Pariser Becken, Flandern 147 , Niederrhein 148 Hohe Feuchtigkeit im Frühjahr 149 132 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 32. 133 In der Rubrik ›Bemerkungen‹ wurden Informationen über Faktoren aufgenommen, die den Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie begünstigt haben könnten. 134 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 76. 135 P IERRE A LEXANDRE , Le climat en Europe au Moyen Age, contribution à l’histoire des variations climatiques de 1000 à 1425, d’après les sources narratives de l’Europe occidentale, Paris 1987, S. 342. 136 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 77. 137 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 687. 138 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 77. 139 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 78. 140 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 78. 141 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 33. 142 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 34. 143 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 81. 144 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 81. 145 R UDOLF K OBERT , Zur Geschichte des Mutterkorns, in: Historische Studien aus dem Pharmakologischen Institut der Kaiserlichen Universität Dorpat, Bd. 1, Halle a. d. Saale 1889, S. 1-47, hier 34. 146 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 347f. 147 A. M ISCHLEWSKI , Antoniusfeuer (Anm. 11), S. 254. P EER F RI ES S 282 Zeitraum Region Bemerkung 150 1129/ 30 Lothringen, Pariser Becken 151 1142-44 152 Pariser Becken 1152 Aquitanien 1150/ 51 Hungersnöte; strenge Winter, hohe Feuchtigkeit 153 1180 Lothringen Starke Regenfälle 154 1186 Lothringen 155 1189 Portugal 156 1192/ 93 Flandern 157 1196 England 158 1195-98 Hungersnöte 1198 Lothringen 159 1200 Dauphiné 160 , England 161 1204 Frankreich 162 1214/ 15 Frankreich, Altkastilien Langer Winter 163 1230 Spanien, Portugal und Mallorca 164 1235 Pariser Becken, Aquitanien 165 Trockener Sommer 166 148 Chronicon Brunwylrense, zitiert nach: M. P OPULER , Aspects historiques (Anm. 8), S. 192. 149 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 349, 685. 150 In der Rubrik ›Bemerkungen‹ wurden Informationen über Faktoren aufgenommen, die den Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie begünstigt haben könnten. 151 H. C HAUMARTIN , Feu Saint-Antoine (Anm. 12), S. 131. 152 F RANZ M EFFERT , Caritas und Volksepidemien, Freiburg i. Br. 1925, S. 157f.; E. C LE - MENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 32. 153 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 353f. 154 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 365. 155 H. C HAUMARTIN , Feu Saint-Antoine (Anm. 12), S. 135. 156 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 90. 157 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 35. 158 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 35. 159 H. C HAUMARTIN , Feu Saint-Antoine (Anm. 12), S. 135. 160 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 36. 161 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 92. 162 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 93. 163 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 376. 164 M ACIA T OMAS I S ALVA , El foc de Sant Antoni a Mallorca. Medicina, història i societat, Palma de Mallorca 1996; A LVARO DE C AIRES , Le Feu Saint-Antoine et l’ordre des Antonins au Portugal, in: Bulletin de la Société française d’Histoire de la Médecine 32 (1938), S. 101-112, hier 108. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 283 Zeitraum Region Bemerkung 167 1236 Poitou Große Trockenheit 168 1254 Marseilles 1256 Salamanca 169 1321 Tournai 170 1347 Bretagne 1373 Frankreich Anhang 2: Ergotismus-Epidemien in der Neuzeit Zeitraum Region Bemerkung 1581 Braunschweig-Lüneburg 171 convulsivus 1587/ 88 Böhmen 172 convulsivus 1593 Schlesien convulsivus 1596/ 97 Hessen 173 convulsivus 1626 Flandern 174 1630 Sologne 1650 Sologne, Guyenne, Schweizer Mittelland 1670 Guyenne, Sologne 1672 Westfalen convulsivus 1674 Montargis, Schweizer Mittelland 165 E. C LEMENTZ , Les Antonins (Anm. 25), S. 36. 166 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 388. 167 In der Rubrik ›Bemerkungen‹ wurden Informationen über Faktoren aufgenommen, die den Ausbruch einer Ergotismus-Epidemie begünstigt haben könnten. 168 P. A LEXANDRE , Climat (Anm. 135), S. 388. 169 J EAN -N OEL B IRABEN , Das medizinische Denken und die Krankheiten in Europa, in: M. D. G RMEK , Geschichte des medizinischen Denkens (Anm. 43), S. 356-401, hier 398. 170 B. M. L ERSCH , Volksseuchen (Anm. 131), S. 107. 171 Die Epidemie forderte 523 Tote; vgl. V. H. B AUER , Antonius-Feuer (Anm. 9), S. 42; hieraus auch alle anderen Angaben, wenn nicht anders belegt. 172 Beschrieben von C ASPAR S CHWENCKFELD , Theritropheum silesiae, Liegnitz 1603, zit. nach M. P OPULER , Aspects historiques (Anm. 8), S. 175-209, hier 182. 173 W. D AHLKE , Ergotismus (Anm. 56), S. 117-119. 174 R EGIS D ELAIGUE , Le Feu Saint-Antoine et l’étonnante intoxication ergotée, Saint romain en Gal 2002, S. 41ff. P EER F RI ES S 284 Zeitraum Region Bemerkung 1675 Gatinois 1675 Westfalen, Vogtland convulsivus 1676 Frankreich, Schweiz 1687 Hessen, Westfalen convulsivus 1693 Schwarzwald convulsivus 1694 Sologne 1695 Heidelberg 175 convulsivus 1699 Harz convulsivus 1700 Thüringen convulsivus 1709 Sologne, Languedoc, Dauphiné, Luzern 1710 Orleans, Dauphiné, Languedoc, Italien 1710 Baltikum convulsivus 1716/ 17 Holstein, Schlesien (Annaberg, Liegnitz) convulsivus 1722 Russland, Mecklenburg (Prignitz) convulsivus 1736/ 37 Schlesien, Böhmen convulsivus 1741 Westfalen convulsivus 1745 Schweden convulsivus 1746/ 47 Schweden convulsivus 1747-50 Sologne, Flandern, Artois, Bordeaux 1750 Brandenburg convulsivus 1754 Schweden convulsivus 1755 Orléans 1756/ 57 Rheinland convulsivus 1764 Artois, Arras 1765 Smaland (Schweden) convulsivus 1770/ 71 Sologne, Maine, Limousin, Auvergne; Böhmen, Mähren 176 1770 Celle 177 convulsivus 1777 Sologne 178 175 W. D AHLKE , Ergotismus (Anm. 56), S. 118. 176 W. A BEL , Massenarmut und Hungerkrisen (Anm. 105), S. 289. 177 W. D AHLKE , Ergotismus (Anm. 56), S. 119. D A S ›H EILIG E F EU ER ‹ 285 Zeitraum Region Bemerkung 1785 Schweden, Toskana convulsivus 1785/ 87 Ukraine convulsivus 1789 Piemont convulsivus 1793 Apulien convulsivus 1794 Niederrhein (Stolberg) convulsivus 1795 Lombardei convulsivus 1855 Südfrankreich 179 1855/ 56 Hessen 180 1879-81 Hessen 1926/ 27 Perm/ Zentralrussland 181 1927 Manchester 182 178 H ENRI A LEXANDRE T ESSIER , Mémoire sur la maladie du seigle appelée Ergot. Histoire de la Société Royal e Médecine. Anné 1776, Paris 1779, S. 61-72; die Epidemie forderte angeblich 8.000 Tote. 179 G EORGE B ARGER , Ergot and Ergotism: A Monograph, London-Edinburgh 1931, S. 61f. 180 T HEODOR O TTO H EUSINGER , Über den Ergotismus, insbesondere sein Auftreten im neunzehnten Jahrhundert; aus Anlass einer Epidemie in Oberhessen im Winter 1855/ 56, Marburg 1856. 181 G. B ARGER , Ergot and Ergotism (Anm. 179), S. 81f., berichtet von über 11.000 Erkrankungen. 182 G. B ARGER , Ergot and Ergotism (Anm. 179), S. 64f., berichtet von 200 Erkrankungen. 287 C HRISTINE W ERKSTETTER … eine so gefährlich güfftig und anstekende Krankheit und … warum es die Juden vorzüglich betroffen habe. Zum Seuchendiskurs im 18. Jahrhundert Die in der Frühen Neuzeit als ›Pest‹, ›pestilenzische Seuche‹, ›Contagion‹ etc. bezeichneten epidemischen Krankheitsgeschehen brachen sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder und mit teilweise verheerenden Konsequenzen Bahn. Die Feststellung von Umwelthistorikern, es sei inzwischen mithilfe molekularbiologischer Verfahren erwiesen, dass es sich bei den beiden großen europäischen Pestwellen - der ersten zwischen 541 und der Mitte des 8. Jahrhunderts sowie der zweiten zwischen 1347 und dem 18. Jahrhundert - um Infektionen mit dem 1894 durch den Bakteriologen Alexandre Émile Jean Yersin (* 1863, † 1943) entdeckten Pestbakterium ›Yersinia pestis‹ gehandelt habe, ist in der Forschung umstritten. 1 Uneinigkeit besteht daneben in Bezug auf verschiedene Erklärungsmodelle hinsichtlich der Übertragungswege und -bedingungen (Ratte - Rattenfloh - Mensch? Verunreinigung von Lebensmitteln durch Ratten? Übertragung durch Nutz- und Haustiere? ) wie auch des Erlöschens der Pest in Europa (klimatische Veränderungen durch die ›Kleine Eiszeit‹? Verdrängung der Wanderratte durch die Hausratte? Entwicklung von der Holzbauweise zum Steinhaus? ). 2 Dies alles aber sind heutige Diskussionen. Im vorliegenden Beitrag geht es dagegen um den Blick der Zeitgenossen auf die Seuchen, um ihre Wahrnehmungen und Sichtweisen. Die ›Pest‹ war im kollektiven Bewusstsein der Menschen so tief verankert, dass schon das bloße Gerücht von einer an einem bestimmten Ort aufgetretenen Krankheit, die binnen kurzem mehrere Todesopfer gefordert hatte, die mit ihr verknüpften Vorstellungen wachrufen und vielfältige, keineswegs nur die Kranken betreffende Realitäten schaffen konnte. 1 Vgl. V ERENA W INIWARTER - M ARTIN K NOLL , Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007, S. 247f. Zur Diskussion siehe O TTO U LBRICHT , Die Pest - medizinisch/ medizinhistorisch, in: D ERS . (Hg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln 2004, S. 326-332, hier 229f.; zur Problematik retrospektiver Diagnosen vgl. auch M ARY L INDEMANN , Medicine and Society in Early Modern Europe (New Approaches to European History 16), 2. überarb. Aufl. Cambridge 2010. 2 Vgl. hierzu neben O. U LBRICHT , Die Pest (Anm. 1), S. 326-332; M ANFRED V ASOLD , Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, Augsburg 1999, S. 174-177. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 288 Über welches Wissen aber verfügten die Menschen? Wie kam ihr Wissen zustande und wie und mit welchen Konsequenzen kommunizierten sie es? ›Wissen‹ soll hier mit dem Kulturhistoriker Achim Landwehr nicht als »Ensemble zeitlich und geographisch übergreifender Bedeutungen und Überzeugungen« verstanden werden, sondern vielmehr als »von gesellschaftlichen Gruppen produziert«. 3 Dies impliziert eine »grundsätzliche Pluralität« von Wissen sowie »seine soziale Determiniertheit«. 4 Dementsprechend wäre das Thema, der Seuchendiskurs im 18. Jahrhundert, der hier an einem Fallbeispiel, also aus der Mikroperspektive, 5 beleuchtet werden soll, unzureichend dargestellt, wollte ich mich allein auf die Diskurse gelehrter Mediziner, auf die wissenschaftliche Ebene also, beschränken. Im konkreten Geschehen zeichnen sich mindestens zwei weitere Diskursebenen ab, die einzubeziehen sind. Dies ist zum einen die administrative Ebene, die hier am Agieren des Schwäbischen Reichskreises und seiner Kreisstände sowie - aufgrund ihrer speziellen Rolle - am Agieren der Reichsstadt Memmingen aufgezeigt werden soll. Zum anderen gilt es, den Diskurs der ›einfachen Menschen‹ vor Ort, das ›lokale Wissen‹, in den Blick zu nehmen. Am Beginn meines Beitrags steht eine kurze Darstellung der spezifischen Situation in Fellheim sowie der dortigen Ereignisse im Winter 1777. Danach möchte ich mich gewissermaßen von außen nach innen bewegen: vom größeren Rahmen des administrativen Diskurses zum Diskurs vor Ort und schließlich zu den Kranken bzw. zum medizinischen Diskurs. Eine besonders spannende Facette erhält das hier betrachtete Fallbeispiel dadurch, dass die in Fellheim an der Iller erkrankten und verstorbenen Menschen überwiegend jüdischen Glaubens waren, was die verschiedenen Diskurse durchaus prägte. 3 A CHIM L ANDWEHR , Einleitung: Geschichte(n) der Wirklichkeit, in: D ERS . (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens (Documenta Augustana 11), Augsburg 2002, S. 9-27, hier 17. 4 A CHIM L ANDWEHR , Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ›Wissen‹ als Kategorie historischer Forschung, in: D ERS . (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit (Anm. 3), S. 61-89, hier 86. 5 Die Mikroperspektive zielt - wie es Otto Ulbricht jüngst noch einmal formulierte - auf »die Erforschung im Kleinen - nicht des Kleinen«; O TTO U LBRICHT , Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main 2009, S. 13. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 289 1. Die christlich-jüdische Doppelgemeinde Fellheim und der Ausbruch einer Krankheit Fellheim an der Iller befand sich seit 1555 im Besitz der Freiherren Reichlin von Meldegg. Als Angehörige der schwäbischen Reichsritterschaft waren diese im Ritterkanton Donau immatrikuliert. 6 Dass es in Fellheim ab 1670 zur Ansiedlung jüdischer Familien kam, ist der Entvölkerung und fast völligen Zerstörung des Ortes im Dreißigjährigen Krieg zuzuschreiben. 7 Die Juden erlangten dort gegen entsprechende Abgaben den Rechtsstatus von Schutzjuden. 8 Sie lebten vom Vieh- und Fellhandel, vom Salz- und Getreidehandel sowie vom Handel mit Metall und Textilien; diese Tätigkeit führte sie quer durch den ostschwäbischen Raum, auf württembergisches und schweizerisches Territorium. 9 Der Erwerb von Grundbesitz blieb ihnen bis in das 19. Jahrhundert hinein versagt, sie wohnten in vom 6 Vgl. G ERHARD K ÖBLER , Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichsunmittelbaren Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 6 1999, S. 515. 7 Bis 1672 war die Zahl von zunächst fünf jüdischen Familien bereits auf zehn angewachsen, danach sank sie bis 1699 auf sechs Familien. Für 1722 jedoch kann Wilhelm Rapp wieder 18 Familien namentlich auflisten; 1747 sind 24 und 1751 35 Familien verzeichnet. Zwischen 1779 und 1813 wurden weitere jüdische Familien in den Schutz aufgenommen. Einer Statistik von 1819 zufolge standen in diesem Jahr 50 christliche Familien mit insgesamt 235 Personen 331 jüdischen Ortsbewohnern gegenüber. Siehe W ILHELM R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim an der Iller/ Landkreis Memmingen, Fellheim 1960, S. 128-134. Siehe hierzu auch R OLF K IESSLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation - Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit, in: D ERS . (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (Colloquia Augustana 2), Berlin 1995, S. 154-180, hier 165f. Zur weiteren Entwicklung vgl. K ARL F ILSER , »… weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen.« Lokalstudie zur Effektivität bayerischer Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 249-281, passim. 8 Im Staatsarchiv Augsburg befindet sich ein Fellheimer Amtsprotokoll, das Auf widerholt unterthänig = gehorsamstes Ansuchen der gemeinen Judenschaft hin die Rechte und Pflichten der Fellheimer Juden festschreibt. In diesem Kontext sichert der Ortsherr ›seiner‹ Judenschaft zu, sie also zu erhalten, wie solche unter Regierung des Hochseeligen Herrn Papa gehalten worden; StA Augsburg, Schlossarchiv Fellheim, Akten 40, Auszug aus den Amtsprotokollen des Freiherrn von Reichlin vom 28.8.1777, Resoluta 1. Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, denen sich die Judengemeinden Ostschwabens gegenüber sahen, vgl. R. K IESSLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation (Anm. 7), S. 160-166; zur Definition der Judenschutzbriefe als Herrschaftsmedium siehe J OHANNES M ORDSTEIN , Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806 (Veröff. SFG 11/ 2), Epfendorf 2005, S. 11-17. 9 Vgl. K. F ILSER , »… weil es gefährlich wäre« (Anm. 7), S. 261. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 290 Ortsherrn zur Verfügung gestellten Häusern zur Miete. 10 Fellheim war ein ›Straßendorf‹, in dessen Mitte das herrschaftliche Schloss stand. Nördlich von diesem lagen die Höfe der christlichen Dorfbewohner, südlich davon die Judenhäuser. 11 Nach Wilhelm Rapp fand »ums Jahr 1712« erstmals ein einfacher Betsaal Erwähnung, die Errichtung des »eigentliche[n] Synagogenbaus« datiert er auf 1786. 12 Mitte November 1777 brach in Fellheim unter den 42 dort lebenden jüdischen Familien 13 eine Krankheit aus, die - außerhalb! - schnell im Ruf stand, die ›Pest‹ zu sein. In kurzer Zeit starben vor Ort zehn Juden und eine Christin, des Weiteren eine auswärtige Hebamme, die zu einer Fellheimer Jüdin gerufen worden war, und deren Tochter. 14 Schon am 9. Dezember aber konnte der Memminger Arzt Dr. Jodokus Ehrhart im Auftrag des Ortsherrn von Reichlin den Memminger Bürgermeister bitten, die dort gegen die Fellheimer Juden verhängte Sperre aufzuheben, weil die Krankheit am Abklingen war. 15 Memmingen entsprach dieser Bitte und gewährte den Juden wieder Zugang zur Stadt. Ab dem 20. Dezember kam es jedoch zu Neuerkrankungen. Da die Juden teils aus Armut, teils aus Abneigung gegen Dr. Ehrhart auf weiteren ärztlichen Beistand verzichten wollten, veranlasste der Memminger Rat ihre Vorsteher, Ärzte ihres Vertrauens auszuwählen, die sich der Kranken annehmen sollten. 16 Diese Ärzte fanden bei ihrer ersten Visitation am 24. Dezember neben einer schwer kranken, aber heilbaren Jüdin nur noch wenige 10 Vgl. W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 133, sowie: Fellheim an der Iller. Eine bebilderte Führung durch den ehemals jüdischen Ortskern Fellheims, hg. durch den AK Geschichte, Brauchtum und Chronik der Gemeinde Fellheim, Fellheim 2007, S. 4f. 11 Vgl. die Darstellung in: Fellheim an der Iller (Anm. 10), S. 5, sowie die umfangreiche Häuserbeschreibung bei W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 159-246. Zu christlich-jüdischen Doppelgemeinden in Schwaben vgl. die grundlegende Studie von S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650-1750 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999. 12 W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 219. Zu dieser Datierung vgl. Kap. 5 dieses Beitrags. 13 Diese Anzahl jüdischer Familien führt der Oberamtmann des Reichsstiftes Rot an. Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Acta die zu Velheim an der Iller ausgebrochene anstekende Seüche betr. 1777, Schreiben des Reichsstiftes Rot an den Bischof von Konstanz, 16.12.1777. 14 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport des Obristwachtmeisters von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 15 StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 401/ 10, Schreiben von Dr. Ehrhart an den Bürgermeister der Reichsstadt Memmingen, 9.12.1777: weil nunmehro die Kranckheit unter [diesen] nachlasse, seit etlichen Tagen sich keiner mehr gelegt, und keiner mehr gestorben, auch die dasige Christen, welche ich besorgt, sich bessern. 16 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 291 weitere Kranke vor. 17 Anfang Januar schließlich war lediglich eine einzige Person noch nicht vollständig genesen. 18 2. Fern- und Nahperspektiven: Der Seuchendiskurs auf der administrativen Ebene Als reichsritterschaftliches Dorf unterstand Fellheim nur seinem Grundherrn - und natürlich dem Kaiser als Reichsoberhaupt. Das Schwaben des Alten Reiches war eine ›vielherrige‹ Region, die sich jedoch in einem gut funktionierenden Reichskreis sammelte. Die Reichskreise bildeten eine in der Verfassungsstruktur des Reiches verankerte Zwischenebene zwischen den einzelnen Reichsständen und dem Reichstag. 19 Neben spezifischen, vom Reich übertragenen Aufgabenfeldern (res imperii) übernahmen insbesondere die süddeutschen Reichskreise eine Vielzahl regionaler Aufgaben (res circuli). 20 Zu diesen zählte die ›Gesundheitspolicey‹. Anders als die Kreisbeschlüsse in Reichsangelegenheiten entfalteten die sich auf Kreisinterna beziehenden Beschlüsse nur für die ›eingekreisten‹ Territorien eine bindende Wirkung. Die ›nicht eingekreisten‹, dem Reichskreis also nicht angehörenden Reichsritterschaften mussten derartigen Beschlüssen nicht zwingend Folge leisten. 21 Je nach Notwendigkeit bemühte sich der Kreis jedoch, auch diese in die Pflicht zu nehmen und gegebenenfalls entsprechenden Druck aufzubauen. Wie sich zeigen wird, bekam diesen auch Franz Marquard Freiherr Reichlin von Meldegg zu spüren, als in Fellheim ›die Pest‹ ausbrach. In einem früheren Beitrag über die ›Gesundheitspoliceylichen Maßnahmen des Schwäbischen Reichskreises in Zeiten der Pest‹ konnte ich zeigen, dass die zum 17 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Bericht von Dr. Johann Georg Kölderer, Dr. Johann Conrad von Wogau und Dr. Johann Sigmund von Wogau an den Rat der Reichsstadt Memmingen, 24.12.1777. 18 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Bericht von Dr. Johann Georg Kölderer und Dr. Johann Conrad von Wogau an den Rat der Reichsstadt Memmingen, 12. Januar 1778. 19 Vgl. hierzu z. B. K ARL S. B ADER , Der Schwäbische Kreis in der Verfassung des Alten Reiches, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kunst 37 (1964), S. 9- 24; W INFRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998. 20 Vgl. K. S. B ADER , Der Schwäbische Kreis (Anm. 19), S. 19. Auf diese Doppelfunktion verweist auch H EINZ M OHNHAUPT , Die verfassungsrechtliche Einordnung der Reichskreise in die Reichsorganisation, in: K ARL O. F RHR . VON A RETIN (Hg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648 1746. Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden (Veröff. des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte Beih. 2), Wiesbaden 1975, S. 1 29. 21 H. M OHNHAUPT , Die verfassungsrechtliche Einordnung (Anm. 20), S. 14f. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 292 Reichskreis gehörenden Reichsstände in solchen Fällen in aller Regel sowohl einzeln als auch in Zusammenarbeit mit den Organen des Reichskreises Maßnahmen ergriffen, die sie für geeignet hielten, sowohl sich selbst, die eigenen Untertanen und das Kreisterritorium vor einer Ansteckung zu schützen, als auch den Handel vor Abschottungsmaßnahmen von außen zu bewahren. 22 Die dem Schwäbischen Kreis vorstehenden Fürsten - der Herzog von Württemberg und der Bischof von Konstanz - koordinierten die gemeinschaftlichen Sicherheitsvorkehrungen und schrieben sie gegebenenfalls in Form sogenannter ›Pestpatente‹ fest. 23 Um von möglichen Gefährdungen Kenntnis zu erlangen, bedurfte es eines dichten Nachrichtennetzes, dessen Effektivität am Beispiel der zwischen 1709 und 1713/ 14 grassierenden Pest sichtbar gemacht werden konnte. 24 Eine intensive Briefkommunikation, die neben herrschaftsinternen Dienstwegen reichsstädtische Beziehungsnetze und Querverbindungen zwischen verschiedenen Kreisständen offenbart, löste die Zusammenarbeit im Kreis aus und begleitete sie. Wer Informationen erhielt, gab diese weiter. Wie reagierten nun die Administrationen der benachbarten Landesherrschaften Schwabens auf die Fellheimer Krankheitsfälle? Die Nachricht, in Fellheim herrsche die Pest, fand schnelle Verbreitung, zumal der Ort nicht außerhalb, sondern innerhalb des Kreises lag, was die Gefährdung ja noch potenzierte. Wenn hier dennoch von einer ›Fernperspektive‹ gesprochen wird, dann deshalb, weil diese ›Nachricht‹ nicht auf ›Augenschein‹, sondern auf ›Hörensagen‹ beruhte. Vollzieht man die Wege nach, die die entsprechenden Mitteilungen nahmen, wird verständlich, warum diese so gleichförmig klingen: In der Regel wurden die Informationen aus erhaltenen Schreiben nahezu im Wortlaut weitergegeben, zudem wurden diesen Briefen meist Abschriften der eingegangenen Schreiben beigelegt. Der nächste Adressat verfuhr ebenso. So lieferten die ersten in der Sache verfassten Briefe sozusagen den Plot: Ein reisender, aus Polen stammender Betteljude habe in Fellheim eine - so zieht es sich durch die Schreiben - so gefährlich güfftig und anstekende Krankheit - wie die Reichsstadt Buchau zu berichten wusste 25 -, die 22 Vgl. C HRISTINE W ERKSTETTER , … auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt: Gesundheitspoliceyliche Maßnahmen des Schwäbischen Reichskreises in Zeiten der Pest, in: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN (Hg.), Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, S. 225-257. 23 Zu den Zuständigkeiten und Verfahrensweisen vgl. detaillierter C H . W ERKSTETTER , … auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt (Anm. 22), S. 231-234. 24 Vgl. hierzu C HRISTINE W ERKSTETTER , Die Pest in der Stadt des Reichstags. Die Regensburger »Contagion« von 1713/ 14 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive, in: J OHANNES B URKHARDT / D IES . (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (HZ Beih. NF 41), München 2005, S. 267-292. 25 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Buchau an das reichsgräfliche Königseggische Oberamt zu Aulendorf, 6.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 293 Leydige Pest - so das Obervogteiamt Neufra 26 -, eine Pest-ähnliche Kranckheit - wie es in einem Konstanzer Schreiben heißt 27 - eingeschleppt, die dazu geführt habe, dass - auch diese Hiobsbotschaft findet sich allenthalben - allbereits 8 Judenfamillen gänzlich ausgestorben, und auch einige Christen, die nur Juden-Häuser betretten hatten, von dem übel so bald ergriffen und durch plözlichen Todt hingerafft worden seien. 28 Das ›Wissen‹ um eine so gefährliche Krankheit zwang zum Handeln, und so entsandte der Herzog von Württemberg am 14. Dezember Obristwachtmeister von Mylius nach Ulm, Memmingen, Biberach und das Umland, wo er herausfinden sollte, was es mit der Seuche auf sich hatte und welche Schutzmaßnahmen die benachbarten Stände bereits getroffen hatten. Zugleich wurde er beauftragt, notfalls mit Hilfe des Kreismilitärs einen Kordon zu ziehen und weder Juden noch Christen aus betroffenen Orten passieren zu lassen. 29 Bereits drei Tage später schickte Mylius seinen ersten Bericht, der auf zuverlässige[r] Erkundigung basierte und zum einen die Zahl der Opfer korrigierte - etwa zehen Juden und ein Christ seien gestorben - und zum anderen erläuterte, dass der verbreitete allgemeine Schrecken mehr als die Meinung derer Aerzte, die diese Kranckheit weder für Pestartig noch anstekend erfunden hatten […], die benachbarten Stände bewogen habe, den Fellheimer Juden allen Handel und Wandel auf das schärffste zu verbieten. Den Ort selbst habe man jedoch nicht gesperrt. Mylius teilte mit, dass die Juden zwischenzeitlich wieder frei handeln dürften, dass er aber noch genauer prüfen wolle, ob die Gefahr tatsächlich gebannt sei. 30 Sein zweiter, umfangreicherer Rapport vom 23. Dezember stellte dann dar, dass die Informationen, die er bekam, je näher ich dem Orth Fellheim […] kame, desto unzuverlässiger waren. Erst in Memmingen habe er von einer eigens für ihn abgestellten Deputation und dem Stadtphysikus Ehrhart etwas ganz zuverlässiges erfahren. Er etikettierte die Krankheit nun als ein bösartiges Faul-Fieber, präzisierte die Zahl der Verstorbenen - zehn Juden und eine Christin vor Ort sowie zwei auswärtige Christinnen -, und stellte dann fest: Es ist aber diese Krankheit keinesWegs durch einen polnischen Juden nach Fellheim gebracht worden, im Gegentheil hat ein polnischer Jude solche daselbst geerbt, wovon er jedoch wiederum genesen. Mylius legte nun aufgrund seines in Fellheim genommenen Augenschein[s] dar, dass die Krankheit denen Ausdünstungen des Begräbniß Orthes 26 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Fürstlich-Fürstenbergischen Obervogteiamts Neufra an die Fürstlich-Fürstenbergische Regierung zu Donaueschingen, 11.12.1777. 27 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Bischofs von Konstanz an den Herzog von Württemberg, 12.12.1777. 28 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Bischofs von Konstanz an den Herzog von Württemberg, 12.12.1777. 29 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Herzogs von Württemberg an den Bischof von Konstanz, 14.12.1777; Order an Obristlieutnant von Mylius, 14.12.1777. 30 HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 17.12.1777. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 294 derer Juden zu Fellheim, der sehr klein und bereits hoch von Leichen angefült ist, indem die Juden bekandtermassen immer Leichen auf Leichen legen ohne die verwesten Körper auszugraben, gröstentheil zuzuschreiben sei. Eine Bestätigung seiner These sah er in der Tatsache, dass die in unmittelbarer Nähe zum Friedhof lebenden Juden zuerst und allgemein befallen worden seien. 31 Nun kann man zwar die Diskrepanz zwischen der hier genannten Ursache der Krankheit und der anderslautenden Begründung in den nachbarlichen Schreiben durch die Fernperspektive erklären, wie aber kam es überhaupt dazu, dass man durchgängig einem polnischen Juden die Einschleppung der ›Pest‹ anlastete? Welche Rolle spielten Juden in den Seuchendiskursen der Frühen Neuzeit? Um diesen Fragen auf der administrativen Ebene nachzugehen, scheinen mir die Pestpatente des Schwäbischen Kreises eine geeignete Quelle zu sein, da sie das Ergebnis interner Beratungen des zuständigen Beamtenapparats über notwendige Maßnahmen waren und damit Bewertungen der Administration spiegeln. Für die Zeit zwischen 1709 und 1786 konnten insgesamt 14 derartige Patente des Schwäbischen Kreises eruiert werden. Neun dieser Patente nahmen Bezug auf Juden, wobei sich alle neun ausdrücklich gegen den Eintritt fremder Juden, unbekannter Juden, Bettel-Juden und polnischer Juden wandten. 32 Ein weiteres Patent erwähnte die Juden zwar nicht eigens, hob aber eindringlich auf die weitere Gültigkeit des Patents aus dem Vorjahr ab, das die Ausschaffung der Betteljuden befahl. 33 Zehn von 14 Patenten rekurrierten also negativ auf Juden. Wie kam es dazu? Fünf der zehn Patente, die in Juden eine explizite Gefahrenquelle sahen, richteten sich ausdrücklich auf die Abwehr einer in Polen wütenden Pest. Ein Patent ohne eine derartige Ortsnennung erfolgte zweifellos im Kontext einer Seuche in Polen. 34 In vier weiteren Patenten zeigt sich, dass sich die Seuche jeweils vom Osten her - Ungarn, Böhmen, Mähren - auf das Reich zubewegte. Somit scheint es naheliegend, dass dies die Beamten veranlasste, neben den Betteljuden, die über keinen Schutzbrief verfügten, daher zu dauernder Wanderung gezwungen und so selbst einem hohen Risiko für ihre Gesundheit ausgesetzt waren, auch reisende 31 HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 32 StadtA Augsburg, Kreisakten, Bd. 159, Nr. 133, 12.1.1709; HStASt, C 9, Bd. 41, 9.11.1709; 17.3.1710; StadtA Augsburg, Kreisakten, Bd. 159, Nr. 22, 28.10.1710; Nr. 35, 30.9.1713; HStASt, C 9, Bd. 41, 28.9.1715; HStASt, C 10, Bü. 1072, 11.8.1739; 9.2.1771; 4.2.1786. 33 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1072, Patent des Schwäbischen Kreises, 27.2.1740. Der Verweis auf das Vorjahrespatent bezog sich auf das Patent vom August 1739: HStASt, C 10, Bü. 1072, Patent des Schwäbischen Kreises, 11.8.1739. 34 Vgl. StadtA Augsburg, Kreisakten, Bd. 159, Nr. 22, Patent des Schwäbischen Kreises, 28.10.1710. Dieses Patent bezieht sich auf die Pestilentialische Seuche in zerschiedene Königreiche und Lande. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 295 ›polnische Juden‹ - wohl ein Synonym für alle jüdischen Migranten aus dem Osten - auszugrenzen. 35 Dagegen bezogen sich von den vier Patenten, die Juden nicht explizit erwähnten, allein zwei auf die Abwendung der 1709 und 1720 in Frankreich grassierenden Pest. 36 Die Gefahr kam also aus dem Westen und wurde so vermutlich weniger mit Juden in Verbindung gebracht. 37 Ein weiteres dieser Patente nahm Bezug auf die 1713 bereits innerhalb der Reichsgrenzen grassierende Pest, das vierte war ein Patent des Engeren Kreises, das Militärkontrollen innerhalb der Kreisviertel festlegte. 38 Die generelle, unterschiedslose Verdächtigung fremder Juden als Seuchenträger - die sich insbesondere darin zeigte, dass selbst vorhandene Gesundheitszeugnisse nicht anerkannt werden sollten 39 - nährte sich wohl nicht zuletzt aus tief verwurzelten antijüdischen Stereotypen. Zugleich aber war es auch dieser Personenkreis, der - oft aus gefährdeten Gebieten kommend - berufsbedingt vielfältigen Umgang mit in Seuchenzeiten als ›gefährlich‹ erachteten Gütern hatte, also mit Gütern, »an denen die Krankheitsmaterie haftete«, 40 die Krankheiten übertrugen: alte Kleider, Lumpen, Federn, Bettzeug etc., so dass diese Personen durchaus als eine reale Gefahrenquelle wahrgenommen werden konnten. 41 Erst das letzte, im Februar 35 Vgl. J. F RIEDRICH B ATTENBERG , Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), München 2001, S. 45-47, 112- 116. 36 Vgl. StadtA Augsburg, Kreisakten, Bd. 159, [ohne Nummer] Patent des Schwäbischen Kreises die verbotene Fruchtausfuhr betr., 5.12.1709; sowie HStASt, C 9, Bd. 41, Patent des Schwäbischen Kreises wegen der in der Stadt Marseille und dortiger Gegend eingerissenen Contagion, 30.9.1720. 37 Im Grenzgebiet zu Frankreich gab es neben einer großen jüdischen Gemeinde in Metz, die im 18. Jahrhundert ca. 3.000 Personen umfasste, nur einige hundert im Elsass lebende jüdische Familien. Das übrige Frankreich »blieb den Juden weitgehend verschlossen«; S TEFAN L ITT , Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500-1800 (Geschichte kompakt), Darmstadt 2009, S. 20. Vgl. hierzu auch J. F. B ATTENBERG , Die Juden in Deutschland (Anm. 35), S. 13. 38 Vgl. FA Dillingen 63.1.34, Patent des Schwäbischen Kreises zur Contagion, 30.8.1713; sowie HStASt, C 10, Bü. 756, Instruction […] der in Ungarn und Siebenbürgen grassirenden Seuche halber, 9.11.1738. 39 Siehe z. B. StadtA Augsburg, Kreisakten, Bd. 159, Nr. 35, Patent des Schwäbischen Kreises In puncto contagionis, 30.9.1713. 40 M ICHAEL S TOLBERG , Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln 2003, S. 158. 41 Vgl. hierzu S ABINE U LLMANN , Zwischen Pragmatismus und Ideologie - Entwicklungslinien der Judenpolitik des Schwäbischen Reichskreises, in: W OLFGANG W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium. Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichs- C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 296 1786 erlassene Patent gegen eine Pestartige Seuche in Polen differenzierte hier deutlicher: es warnte zwar durchaus vor den aus Polen kommenden Personen, besonders denen Juden, fügte dann aber an, wann sie nicht mit richtigen Gesundheits = Päßen versehen. 42 Vielleicht darf man diesen kleinen Fortschritt einem zwischenzeitlich aufgeklärteren Blick auf die Juden zuschreiben. Die Publikation und vor allem die Umsetzung der ›Pestpatente‹ des Kreises, die den Kreisständen in gedruckter Form überschickt wurden, oblag der Beamtenschaft in den Territorien. 43 Dieser war der Inhalt der Patente also sehr präsent - wohl so sehr, dass das in den Patenten deutlich situationsbezogen festgemachte Gefährdungspotential vagierender Juden eine so stereotype Verwendung finden konnte, wie sie uns in den Schreiben im Fellheimer Fall entgegentritt. Diese Generalisierung von ›Wissen‹ trug nicht zur Beruhigung der Lage bei. Der Umgang, den die Reichsstadt Memmingen mit den Fellheimer Schutzjuden pflegte, war eindeutig von anderen Aspekten des frühneuzeitlichen Seuchendiskurses sowie von ihrer ›Nahperspektive‹ geprägt. Fellheim lag unweit von Memmingen an der nach Ulm führenden Reichsstraße. Die räumliche Nähe zu dem unter Seuchenverdacht stehenden Ort veranlasste die Stadt, sich so zu verhalten, wie es vielfach für direkt von Seuchen gefährdete Orte nachgewiesen wurde. 44 Um eine Ansteckung der eigenen Bürgerschaft zu verhindern und nicht selbst vom Wirtschaftsgeschehen ausgesperrt zu werden, verweigerte man den Fellheimer Juden zunächst den Eintritt in die Stadt, 45 kam ihnen aber zugleich zu Hilfe. kreise (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 7), Stuttgart 2000, S. 211 231, hier 223f. 42 HStASt, C 10, Bü. 1072, Seuchenpatent des Schwäbischen Kreises, 4.2.1786. 43 Zur Implementierung der Patente in den Kreisterritorien vgl. C H . W ERKSTETTER , … auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt (Anm. 22), S. 234-243. 44 Aus der Fülle entsprechender Forschungsarbeiten seien hier nur einige wenige angeführt: C H . W ERKSTETTER , Die Pest in der Stadt des Reichstags (Anm. 24); D IES ., … auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt (Anm. 22); A NDREAS E RDEL , Die Pest und andere ansteckende Krankheiten in der Freien Reichsstadt Ulm im 18. Jahrhundert, Diss. med. masch. Ulm 1985; C AROLIN P ORZELT , Die Pest in Nürnberg. Leben und Herrschen in Pestzeiten in der Reichsstadt Nürnberg (1582-1713) (Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte 7), St. Ottilien 2000; K LAUS S CHWARZ , Die Pest in Bremen. Epidemien und freier Handel in einer deutschen Hafenstadt 1350-1713 (Veröff. aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 60), Bremen 1996; K ATHRIN B OYENS , Die Krise in der Krise. Die Maßnahmen Hamburgs während der letzten Pest 1712-1714, in: O. U LBRICHT (Hg.), Die leidige Seuche (Anm. 1), S. 295-325; V OLKER G AUL , Kommunikation zur Zeit der Pest. Das Herzogtum Holstein-Gottorf in den Jahren 1709-1713, in: Ebd., S. 258-284; S TEFAN K ROLL , Die Pest in Stade 1712 und ihre Opfer, in: Stader Jahrbuch 80 (1990), S. 47-67. 45 Siehe HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Freiherrn von Reichlin an die Reichsstadt Memmingen, 17.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 297 Während Memmingen vor Ort mehr als vorbildlich handelte und dann auch mit dem Beauftragten des Kreises kooperierte, hüllte es sich nach außen in Schweigen, bis es Entwarnung geben konnte. 46 Die befürchteten Sperren kamen schließlich Mitte Dezember doch - also zu einem Zeitpunkt, als die Krankheit bereits verebbt und neue Krankheitsfälle noch nicht bekannt waren. Dass der entstandene Druck von außen nicht nur für Memmingen groß war, sondern immer weitere Kreise zog, zeigt sich deutlich im Schreiben der Republik Bern, die den Handel mit ganz Schwaben und den Vorderösterreichischen Landen aus der Sorge heraus sperrte, dass ansonsten unsere Lande von Seiten Frankreich und den Italianischen Staten, deren Vormauer die Schweiz ausmacht, gesperrt würde. Auch dieser Brief aus Bern enthielt den oben dargestellten Plot: Es ist Uns die leidige Nachricht eingegangen, daß zu Vellheim in Schwaben, unweit Weingarten, am rechten Ufer der Ill gelegen, eine durch einen Pohlnischen Juden dahin gebrachte anstekende Krankheit, unter den Menschen herrsche, welche die Leüte sehr schnell und innert zweyen Tagen dahin raffe, So daß daran würklichen 8. famillen ausgestorben seyn sollen. 47 Im Bemühen, diesen Sperren entgegenzuwirken, druckte und verschickte die Memminger Kanzlei am 19. Dezember einige 100. Exemplar eines Avertissements, das das Ende der bösartig hitzige[n] Krankheit verkündete, an alle, die sich in Memmingen besorgt nach dem Stand der Dinge erkundigt hatten. Zusätzlich ließ man es über zahlreiche Zeitungen verbreiten. 48 Auch in Memmingen hatte man trotz des Abebbens der Krankheit Mitte Dezember ein Auge auf die weitere Entwicklung und profitierte dabei von der räumlichen Nähe: Wurde der Rat während der Phase, in der den Juden der Zugang verboten war, von deren Arzt informiert, zeigte sich danach ein unmittelbarer, von Vertrauen getragener Umgang zwischen dem Rat und den Fellheimer Juden - mit denen man offenbar keine Berührungsängste hatte - als hilfreich. Täglich wurden von den in die Stadt kommenden Juden jene zur Canzley erforder[t], auf deren Aussage Wir uns sicher verlassen konnten. Diese bekannten offen, dass es neue Krankheitsfälle gab, machten deutlich, dass sie dem Stadtphysikus Ehrhart nicht vertrauten, 46 Die Tatsache, dass der Memminger Rat der Bitte der Kreiskanzlei vom 14. Dezember um Informationen erst am 27. Dezember nachkam, erklärte man mit dem Hinweis, man hätte früher geschrieben, wenn nicht von Mylius sowieso von der gemeinsamen Konferenz nach Stuttgart berichtet hätte; vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777. 47 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Stadt und Republik Bern an den Stuttgarter Magistrat, 19.12.1777. 48 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777, und Beilage ›Avertissement‹ vom 19.12.1777. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 298 erhielten die freie Wahl unter den Memminger Ärzten sowie einen Kredit über 300 fl., damit sie ihren Friedhof erweitern und die Ärzte bezahlen konnten. 49 Während die übrigen Kreismitglieder also bis zum ersten Bericht des von Mylius im Wesentlichen auf Gerüchte reagierten, agierte Memmingen auf der Grundlage konkreter Informationen und trat - wie der Rat betonte - gerne in jene Pflichten ein, die eigentlich dem Orts Herrn gebühret hätten. 50 Die Ortsherrschaft dagegen wird auf der administrativen Ebene kaum sichtbar. 3. Ein Vernehmungsprotokoll: Der Seuchendiskurs auf der lokalen Ebene Die Quellen für eine Darstellung der Diskurse vor Ort sind alles andere als zahlreich. Immerhin aber findet sich in den Akten ein umfassendes Protokoll der Vernehmung zweier Untertanen der Kommende Mainau, das auf Ansuchen des Bischofs von Konstanz durch die Mainauische Komtur-Kanzlei erstellt wurde. Die beiden Männer hatten sich vom Donnerstag, dem 11. Dezember mittags bis zum Mittag des 12. Dezember in Fellheim aufgehalten. Sie sollten befragt werden, was sie wegen der allda grassiren sollenden Pestartigen Seuche gehört, gesehen, und beobachtet haben. 51 Der Rebmann Andreas Schlögel aus Staad, Pächter eines dortigen Reichlin’schen Guts, und Hans Jörg Beller, ein Küfer aus Allmannsdorf, hatten sich am 8. Dezember auf den Weg nach Fellheim gemacht. Ihr Bericht über die auf der Reise erhaltenen ›Informationen‹ spiegelt die typischen Kommunikationsmuster in Seuchenzeiten: Solange sie noch ein gutes Stück Wegs von Fellheim entfernt waren, herrschte dort die Pest, je näher sie aber kamen, desto weniger wollte jemand von einer Pest wissen. Während sie etwa der Bürgermeister von Waldsee der dort ausgebrochenen ›Pest‹ wegen davor warnte, nach Fellheim zu gehen, wurden sie im ohngefähr 5 = oder 6. stund von Vellheim gelegenen Helmenschweil von Reichlins dortigem Schlossverwalter scharf gerügt, als sie davon erzählten. Auch im nur eineinhalb Stunden von Fellheim entfernten Ort Berkheim wusste der Wirt zwar, daß Es bey denen Juden zu Vellheim nicht recht richtig seye, indessen seye Es Keine Pest. Auch Reichlin selbst, den sie am 11. Dezember schließlich in Fellheim antrafen, reagierte verärgert auf ihren Bericht, man habe sie auf ihrer Reise vor einer in Fellheim grassierenden Pest gewarnt: habe derselbe Ihnen solches verwiesen, und sich stark darüber aufgehalten, daß man solche unwahrheiten auswärtig ausgeben möge. Freilich hatte er 49 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777. 50 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777. 51 HStASt, C 10, Bü. 1242, Extractus Komthur Maynau. Verhör Protocoll, 15.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 299 durch sein Verhalten bei Ausbruch der Krankheit erheblich zur Bildung von Gerüchten beigetragen, wie aus den Schreiben des von Mylius nach Stuttgart und der Reichsabtei Rot an der Rot an Konstanz hervorgeht. Reichlin habe - so die Reichsabtei - das Lärmen selbsten in der Nachbarschafft Rings herum vermehret, als er sich am 2. Dezember mit Frau und Kindern nach Memmingen zurückgezogen habe, nachdem mit seinem Verwalter und dessen Familie Personen seines unmittelbaren Umfeldes erkrankt seien. 52 Das ›Wissen‹ vor Ort und in der näheren Umgebung nährte sich nicht zuletzt aus derartigen Beobachtungen - die somit Realitäten erzeugten. Reichlins Rückkehr nach Fellheim am 7. Dezember 53 und sein weiterer Umgang mit seinen Schutzjuden schuf wiederum Realitäten, diesmal jedoch mit entschärfender Wirkung. So wussten die beiden reisenden Männer bei ihrer Vernehmung zu berichten, dass Ein Jud zu dem gnädigen Herren gekommen und über Ein Stund bey demselben geblieben. Reichlin sorgte sich also nicht mehr vor Ansteckung und - er demonstrierte dies deutlich. Das Verhalten der Dorfbewohner selbst war - wie die Männer beobachteten - offenbar ambivalent. Während sich einige gar nicht [scheuten], mit denen Juden Umgang zu haben, zeigten sich andere durchaus ängstlich. So wussten unsere Zeugen zu berichten, dass die Schabbesmagd, eine Christin, es am Samstag vor ihrer Ankunft nicht gewagt hatte, den Juden die Kerzen anzuzünden. 54 Gegen die Zahlung eines Conventions Thalers hatte dies schließlich die Wirtstochter übernommen. Wie sie nach ihrer Abreise hörten, erledigte die Magd am Samstag darauf, also am 13. Dezember, ihren Dienst bereits wieder - drei Tage, nachdem der Memminger Rat die Sperre gegen die Juden aufgehoben hatte. 55 Man kann also annehmen, dass die ärztliche und in deren Folge die obrigkeitliche Entwarnung, vermutlich aber auch der im Ort sichtbare und diskutierte Rückgang der Krankheitsfälle zu einer Beruhigung geführt hatte. 52 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Reichsstifts Rot an den Bischof von Konstanz, 15.12.1777. 53 Rot berichtete nach Konstanz ebenfalls, dass Reichlin schon vor 8. Tagen wieder zu Hause rückeingetroffen sei; HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Reichsstifts Rot an den Bischof von Konstanz, 15.12.1777. 54 Zur Praxis der Sabbatdienste christlicher Frauen vgl. S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 11), S. 426-429. 55 Da die Aufhebung der Sperre bereits am 10. Dezember erfolgt war, mutet es etwas eigenartig an, dass von Reichlin Memmingen am 17. Dezember 1777 bat, seiner Judenschaft den freyen Handel und Wandel nicht nur allein in der freyen Reichs Stadt Memmingen, sondern auch in dero angehörigen Land und Gebiete zu gestatten; HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Freiherrn von Reichlin an die Reichsstadt Memmingen, 17.12.1777. Die Memminger Antwort darauf ging dahin, dass man dies bereits tue und auch keine Bedenken mehr trage, solchen nunmehro allhier auch den Auffenthalt über Nacht zu erlauben; HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an Freiherrn von Reichlin, 20.12.1777. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 300 Ambivalenzen lassen sich auch bei den Berichterstattern selbst erkennen. So gaben sie an, auf ihrer Reise allerlei gehört zu haben, etwa daß, wenn Ein Jud nur zum Fenster hinaus schaue, und wider davon hinweggehe, derselbe plötzlich Tod darnieder falle. Zwar bezeichneten sie derartige Aussagen als Mährlein, gaben dann aber doch zu, dass sie sich zuerst nicht trauten, zu denen Juden Häuseren in die nähe zu gehen. Sie seien erleichtert gewesen, dass sich alles […] bey ihrer dahinkunft falsch zu seyn erfunden habe. Obwohl ihnen die Darstellung, dass schon der Blick eines Kranken zum Tod führen könne, als Mär erschien, waren sie sich letztlich nicht sicher. Die Vorstellung, jemand könne völlig unvermittelt an einer Seuche sterben, findet sich auch in Schreiben obrigkeitlicher Amtsträger. 56 Sie ist auf die im Mittelalter entstandene und besonders im 16. und 17. Jahrhundert vertretene ›Imaginationslehre‹ zurückzuführen. Nach dieser Lehre konnten heftige Gemütsbewegungen - Angst, Furcht, Schrecken, ein von Entsetzen Ergriffenwerden - eine Ansteckung und sogar den Tod herbeiführen. Zahlreiche medizinische Fachbücher erörterten dieses Phänomen, bis es im 18. Jahrhundert schließlich in Frage gestellt wurde. 57 Wir sehen uns hier also einem aus dem medizinischen Diskurs abgesunkenen ›Wissensbestand‹ gegenüber, der gleichwohl auch auf Zweifel traf. Der Bericht von Schlögel und Beller, dessen Wahrheitsgehalt sie beeiden mussten, gelangte über den Bischof von Konstanz zum Herzog von Württemberg, wo er noch vor den Berichten des Obristwachtmeisters von Mylius einlangte. Diese vergnügliche Aufklährung - so der Bischof - trug deutlich zur Entspannung im Kreis bei. 58 4. Ärzte und ärztliches Wissen: Der Seuchendiskurs auf der wissenschaftlichen Ebene Was hatte es mit der Krankheit aus medizinischer Sicht auf sich? Die vier involvierten Ärzte - in der ersten Phase der Stadtphysikus Dr. Jodokus Ehrhart (* 1740, † 1805), in der zweiten Phase dessen beide Kollegen Dr. Johann Georg Kölderer (* 1719, † 1799) und Dr. Johann Conrad von Wogau (* 1727, † 1798) sowie als Extraordinarius Johann Sigmund von Wogau (* 1752, † 1828) - kamen zur selben Diagnose. Ehrhart attestierte am 9. Dezember, daß diese hizige Fieber […] nicht von der 56 Siehe z. B. HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Buchau an das reichsgräfliche Königseggische Oberamt zu Aulendorf, 6.12.1777. 57 Vgl. J OHANN W ERFRING , Der Ursprung der Pestilenz. Zur Ätiologie der Pest im loimographischen Diskurs der frühen Neuzeit (Medizin, Kultur und Gesellschaft 2), Wien 2 1999, S. 174-187. 58 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Bischofs von Konstanz an den Herzog von Württemberg, 16.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 301 anstekenden Kraft gewesen, die wie Seuchen über Land getragen werden können. Zudem machte er deutlich, dass die eingebrochene Kälte nicht nur eine weitere Verbreitung der Krankheit verhindern, sondern diese ›zerstören‹ würde. 59 Stimmten alle vier Ärzte in ihrer Diagnose überein, lagen sie in der Beschreibung der Ursache für das besondere Betroffensein der Juden weit auseinander. Nach dem Bericht des Kreisbeauftragten von Mylius war Dr. Ehrhart der Meinung, daß diese Kranckheit durch die Unreinlichkeit unter den Juden, unter den Christen aber durch apprehension sich ausgebreitet habe. 60 Auch der Mediziner berief sich also - nach von Mylius - auf ein unnatürliches Entsezen, das die Christen erfasst habe. 61 Dass die erkrankten Juden aus Abneigung gegen den bisher gebrauchten Doctorem Ehrhart keine Hülfe eines Arztes begehrten, wie der Memminger Rat dem Herzog von Württemberg berichtete, dürfte seine Ursache in der Zuschreibung von ›Unreinlichkeit‹ gehabt haben. 62 Die Auffassung, es habe sich bei den Krankheitsfällen um nichts als ein heftiges hiziges Fieber [gehandelt], das bey der bekannten unordentlichen Lebensart der Juden andre ansteckte, findet sich auch in einem Artikel der ›Ulmischen Teutschen Chronik‹ vom 22. Dezember 1777, dessen Autor betonte, er habe seine Informationen von dem rechtschaffenen Arzte aus Memmingen, Herrn Dr. Ehrhart. 63 Damit verfügen wir über drei verschiedene Quellen, die Jodokus Ehrharts Sichtweise anführen, die Krankheitsursache liege in der ›Unreinlichkeit‹ der Juden. Leider enthalten die Akten kein umfassenderes Gutachten von Ehrhart, das über seine hier schon dargestellten Aussagen hinausginge. Dagegen liegt uns mit dem Bericht des Ärzteteams, das nach dem Wiederaufflackern der Krankheit die Betreuung der Patienten übernommen hatte, eine umfangreiche und tiefgreifende Analyse vor. 64 Im Zentrum der Argumentation Kölderers und der beiden Wogau standen die [von der Welt Anfang an] niemals aus ihrem Geleis sich verirrende[r] Natur Geseze. Diese Ärzte folgerten aus genauer Beobachtung […], angestellter Untersuchung […] sowie de[n] Regeln unserer Wissenschaft und der 59 StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 401/ 10, Schreiben von Dr. Ehrhart an den Bürgermeister der Reichsstadt Memmingen, 9. Dezember 1777. 60 HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 17.12.1777. 61 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport des Obristwachtmeisters von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 62 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Herzog von Württemberg, 27.12.1777. Aus diesem Schreiben geht eindeutig hervor, dass die ärztliche Meinung, die Mylius in seinem Rapport dargestellt hatte, die von Dr. Jodokus Ehrhart war. 63 Dieser Artikel referiert auch das von Memmingen in Umlauf gegebene Avertissement; HStASt, C 10, Bü. 1242, Beilage zum Schreiben des Stuttgarter Magistrats an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 64 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Bericht von Dr. Johann Georg Kölderer, Dr. Johann Conrad von Wogau und Dr. Johann Sigmund von Wogau an den Rat der Reichsstadt Memmingen, 24.12.1777. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 302 Erfahrung. Um ihrer Diagnose Überprüfbarkeit angedeihen zu lassen - [d]amit aber, wer dieses unser Erachten zu prüfen die Fähigkeit hat, hiezu in den Stand gesezt werde - führten sie die Symptome an, die sie vor dem Kranckbett selbst genau erkundiget, und erläuterten sie. Wir sehen uns hier Ärzten gegenüber, die ihren Gelehrtenstatus, ihr Expertenwissen, distinguiert zu betonen wussten, aber zugleich das Krankenbett einfacher Menschen nicht scheuten. 65 Mittelst genauer Beobachtung hat die Erfahrung gelehrt, daß lang anhaltende Witterung gleicher Art grossen Einfluß in die Cörper der Menschen habe, so ihr Bericht. Die Witterung sei nahezu die einzige Ursache der epidemischen Krankheiten, und die Art der Witterung führe zu spezifischen Erkrankungen: Eine lange Zeit feuchte und windlose Witterung bringe Krankheiten von faulender Natur hervor; trockenes und windiges Wetter erzeuge dagegen Krankheiten von entzündter Natur; wechselhaftes Wetter wiederum führe zu Fluß-Cathaar und dergleichen Fiebern. Die von Ende Juli bis in den Oktober hinein vorherrschende trockene, windreiche und regenlose Witterung habe zu der ihrer Natur nach im geringsten nicht ansteckenden, und eben so wenig […] bößartigen Kranckheit geführt, die aus einem Cathaaru: Flußähnlichem Fieber entzündter art bestünde. Warum aber erkrankten an diesem Fieber entzündter art so viel mehr Juden als Christen? Kölderer und die Wogau hatten auch dafür eine rationale Erklärung: Sie glaubten, nicht irrig zu dencken, wenn wir behaubten, daß theils ihre Hungervolle Nahrungs- Art, wie es bey armen, die nicht betteln, gewöhnlich ist, theils die ihrer Religion gemäss lange u: viele Fasten, hievon die Schuld habe. Als Folge der herrschenden Witterung habe sich der die Bestandtheile des Bluts zusammen bindende Leim zu sehr […] verzehrt, dergestalt aber dasselbe zu viel erhizt u: aufgelößt wird […], zumal, wenn zu gleicher Zeit zu wenig frischer Nahrungs Safft in das Geblüt gebracht wird. Ihr medizinisches Lehrgebäude, das in der aus der Antike stammenden, über die Jahrhunderte hinweg aber deutlich ausdifferenzierten Humoralpathologie, der ›Säftelehre‹, wurzelte, erweist sich hier als in sich schlüssig. 66 65 Vgl. hierzu auch M ICHAEL S TOLBERG , Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin, in: W ULF O ESTERREICHER u. a. (Hg.), Autorität der Form - Autorisierung - Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität 1), Münster 2003, S. 205-218. 66 Die Humoralpathologie beruhte auf der Vorstellung, der menschliche Körper enthalte in sich Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Seien diese Säfte im Gleichgewicht, sei der Mensch gesund. Krankheit entstünde dagegen aus einem Ungleichgewicht der Säfte, für das ein ›naturwidriges‹ Erhitzen, Abkühlen, Austrocknen oder Befeuchten eine Rolle spiele. Hier zeigte sich der Einfluss der Jahreszeiten von Belang. Je nach Konstellation entstünden verschiedene Krankheiten und Fieberarten; vgl. E RICH S CHÖNER , Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie (Sudhoffs Archiv Beih. 4), Wiesbaden 1904; K LAUS -D IETRICH F ISCHER , Vom Säfteschema der hippokratischen Medizin, in: P ETER K EMPER (Hg.) Die Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 303 Wie kam es zu einer so unterschiedlichen Bewertung der Ursachen für die Erkrankung speziell der Juden? War Dr. Ehrhart ein ›ungebildeter‹ Arzt, ein Arzt, der nur über eine geringe wissenschaftliche Qualifikation verfügte? Der am 2. Juni 1740 geborene Jodokus Ehrhart entstammte einer Memminger Medizinerdynastie. Waren schon sein Urgroßvater und sein Großvater angesehene Ärzte, genoss insbesondere sein Vater, Dr. Johann Balthasar Ehrhart (* 1700, † 1756), eine weit über die reichsstädtischen Grenzen hinausreichende Reputation - sowohl als Mediziner als auch als Botaniker. 67 Jodokus Ehrhart studierte zunächst in Tübingen, dann in Jena, wo er 1761 promoviert wurde. Unter der Bedingung, noch für ein halbes Jahr nach Straßburg zu gehen, um sich dort in der Entbindungskunst zu perfectioniren, bekam er bereits 1762 eine Physikatsstelle in Memmingen. 68 Die medizinischen Fakultäten aller drei Studienorte genossen ein hohes Ansehen. Straßburg kam zudem aufgrund seiner bereits 1728 eingerichteten geburtshilflichen Abteilung des Bürgerspitals eine Vorreiterrolle zu. 69 Ehrharts Dissertation über den Puls folgten zunächst Studien über die Blattern und Pocken und schließlich 1773 die ›Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshülfe‹, mit der er sich in der Fachwelt einen Namen machte. 70 Im Mai 1770 führte Ehrhart die Geheimnisse der Gesundheit, Frankfurt/ Main-Leipzig 1994, S. 76-94; M. S TOLBERG , Homo patiens (Anm. 40), passim. 67 Vgl. hierzu G OTTLIEB VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie der königl. baier. Stadt Memmingen im Illerkreis, Memmingen 1813, S. 343-347, 350. Der Autor dieser ›Topographie‹, von Beruf ebenfalls Arzt, war ein Sohn von Jodokus Ehrhart. Die Familie war im Jahr 1800 in den Adelsstand erhoben worden; vgl. A UGUST H IRSCH , Art. Ehrhart, Gottlieb von, in: ADB 5 (1877), S. 714 [Onlinefassung]; URL: http: / / www. deutsche-biographie.de/ artikelADB_pnd100124992.html. Zu seinem Großvater vgl. auch R UDOLF H IRSCH , Art. Ehrhart, Johann Balthasar, in: NDB 4 (1959), S. 358 [Onlinefassung]; URL: http: / / www.deutsche-biographie.de/ artikelNDB_pnd11640809X.html. Einen im Wesentlichen auf der ›Physisch = medizinischen Topographie‹ von Gottlieb von Ehrhart beruhenden Überblick über diese Familie gibt auch [Vorname nicht eruierbar] H OLLER , Memminger Ärzte aus der Familie Ehrhart. Vortrag gehalten am 16. Januar 1897, Memmingen 1897. 68 Vgl. hierzu G. VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie (Anm. 67), S. 350f.; sowie StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 404/ 05, Schreiben von Jodokus Ehrhart an den Memminger Magistrat, 16.4.1762. 69 Vgl. J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Mütter und Kinder retten. Geburtshilfe und Entbindungshospitäler im 18. und frühen 19. Jahrhundert - europäische Netze und lokale Vielfalt, in: H ANS E. B ÖDEKER / M ARTIN G IERL (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 224), S. 323-343, hier 335. 70 J ODOKUS E HRHART , Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshülfe, Frankfurt-Leipzig 1773 [SuStBA, Sign. Med 6177]. Vgl. zudem G. VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie (Anm. 67), S. 352. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 304 erste Zangenentbindung in Memmingen durch. So kritisch diese neue Methode gesehen wurde, machte sie doch - so die Sicht vieler Zeitgenossen - der »Zerbohrung und Zerstückelung« des Kindes im Mutterleib ein Ende. 71 Von seinen Memminger Kollegen war es insbesondere Dr. Johann Georg Kölderer, der Ehrharts diesbezügliche Tätigkeit mit vernichtender Kritik überzog. 72 Gleichwohl wurde diesem von den Befürwortern eine besondere ›Virtuosität‹ im Umgang mit der Zange bescheinigt, und 1775 erhielt er einen Ruf als Professor an die Universität Göttingen, den er - so sein Sohn - wegen seinen Verhältnissen und dem großen Zutrauen, das seine hiesigen Kranke in ihn setzten, ausschlagen mußte. 73 Die Göttinger Entbindungsanstalt war 1751 als eine der ersten in Deutschland gegründet worden. Sie »gilt als die erste überhaupt, die Teil einer Universität war«. 74 Nach Einschätzung Friedrich Benjamin Osianders (* 1759, † 1822), der ebenfalls in Tübingen und Straßburg studiert hatte und ab 1792 die Göttinger Entbindungsanstalt leitete, zählte Ehrhart zu den ausgezeichnetesten deutschen Geburtshelfern und Schriftstellern aus diesem Fache in dem achtzehnten Jahrhundert. 75 Die Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt stand eindeutig im Zeichen der Aufklärung. Auch Ehrharts Pflege einer intensiven gelehrten Korrespondenz mit so berühmten Ärzten wie Albrecht von Haller (* 1708, † 1777) und Johannes Geßner (* 1709, † 1790) sowie seine Mitgliedschaften in der ›Römisch Kaiserlichen Akademie der Naturforscher‹, der ›Physikalischen Gesellschaft in Zürich‹ und der ›Vaterländischen Gesellschaft der Aerzte und Naturforscher Schwabens‹ verweisen auf seine Teilhabe an der ›Gelehrtenrepublik‹ des 18. Jahrhunderts. 76 Man wird diesem Arzt 71 H OLLER , Memminger Ärzte (Anm. 67), S. 27f. 72 Kölderers gedruckte ›Anmerkungen über des Herrn Jodokus Ehrhart Sammlung von Beobachtungen zur Geburtshülfe‹ sind dem Exemplar der in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek vorhandenen Ehrhartschen Dissertation beigebunden: SuStBA, Sign. Med 6177. 73 G. VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie (Anm. 67), S. 351, 353. 74 J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Der Blick des Arztes, oder: wie Gebärende zu Patientinnen wurden. Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800, in: D ERS . u. a. (Hg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, S. 170-191, hier 170. Vgl. auch D ERS ., Mütter und Kinder retten (Anm. 69). 75 Zitiert nach G. VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie (Anm. 67), S. 354f. Zu Osiander vgl. F RANZ VON W INCKEL , Art. Osiander, Friedrich Benjamin, in: ADB 24 (1887), S. 486-487 [Onlinefassung]; URL: http: / / www.deutsche-biographie.de/ artikelADB_ pnd104103663.html; sowie J. S CHLUMBOHM , Mütter und Kinder retten (Anm. 69), passim. 76 Im Rahmen des Forschungsprojektes ›Albrecht von Haller und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts‹, das vom Institut für Medizingeschichte der Universität Bern und der Burgerbibliothek Bern durchgeführt wurde, konnten 28 Briefe Ehrharts an Haller, jedoch keine Briefe Hallers an Ehrhart eruiert werden. Letzteres sagt jedoch nichts über die Intensität des Briefwechsels aus, stehen doch 13.330 Briefen an Haller nur 3.700 Briefe von ihm gegenüber. Haller korrespondierte mit rund 1.200 Personen. Vgl. hierzu die auf der Web- Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 305 also mitnichten eine generell rückwärts gewandte oder unreflektierte Weltsicht unterstellen können. Ehrharts Äußerung, die Fellheimer Fieberfälle seien der Unreinlichkeit unter den Juden zuzuschreiben, lässt so wohl nur den Schluss zu, dass aufgeklärte Gelehrsamkeit nicht zwangsläufig dazu führen musste, sich auch von antijüdischen Stereotypen zu lösen. Denn wäre seine Bezugnahme auf ›Unreinlichkeit‹ tatsächlich im Kontext eines ›Hygienediskurses‹ - wobei dies ein Begriff erst des 19. Jahrhunderts ist - zu sehen, hätte sein Urteil zumindest lauten müssen: Während ein Teil der Betroffenen aufgrund von Unreinlichkeit erkrankt sei, seien andere aus Furcht und Schrecken krank geworden. 77 Ehrhart wusste hingegen, daß diese Kranckheit durch die Unreinlichkeit unter den Juden, unter den Christen aber durch apprehension sich ausgebreitet habe. 78 Damit stellte er sich in eine lange Traditionslinie derer, die in den Juden generell eine Gefahrenquelle für die Gesundheit - ihre eigene wie die anderer - sahen, sie als ›unrein‹ und ihr Hauswesen potentiell als ›unflätig‹ betrachteten. 79 Offenbar hatte er sein Ressentiment den jüdischen Bewohnern Fellheims nicht verhehlt - hätten sie sonst lieber auf ärztliche Betreuung verzichtet, als sich von Ehrhart behandeln zu lassen? Das Gutachten seiner Kollegen dagegen verweist auf eine unideologische Betrachtungsweise, die das Krankheitsgeschehen aus einer medizinischen Perspektive zu erklären und das unterschiedliche Betroffensein von Juden und Christen zudem auf soziale Verhältnisse - die Armut der Juden - und religiöse Erfordernisse - ihre site des Projektes installierte Korrespondentenliste: Http: / / www.haller.unibe.ch/ akor_d. html#Korrespondentenliste. Zu Haller vgl. zudem M ARTIN S TUBER , Brief und Mobilität bei Albrecht von Haller. Zur Geographie einer europäischen Gelehrtenkorrespondenz, in: J. B URKHARDT / C H . W ERKSTETTER (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Anm. 24), S. 313-334, sowie E DUARD K. F UETER / A DALBERT E LSCHENBROICH , Art. Haller, Albrecht von, in: NDB 7 (1966), S. 541-548 [Onlinefassung]; URL: http: / / www.deutsche-biographie.de/ artikelNDB_n07-541-02.html. Zu Geßner, dem Hauptbegründer der ›Physikalischen Gesellschaft in Zürich‹, vgl. E DUARD K. F UETER , Art. Geßner, Johannes, in: NDB 6 (1964), S. 345-346 [Onlinefassung]; URL: http: / / www.deutschebiographie.de/ artikelNDB_n06-345-01.html. Vgl. des Weiteren G. VON E HRHART , Physisch = medizinische Topographie (Anm. 67), S. 353; sowie E RICH H AEHL , Die »Vaterländische Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher Schwabens« (1801-1808): eine Vorgängerin der »Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte«. Eine geschichtliche Studie, Stuttgart 1925. 77 Wie oben bereits angesprochen kam der Imaginationslehre im 18. Jahrhundert nur noch geringe Relevanz zu; vgl. J. W ERFRING , Der Ursprung der Pestilenz (Anm. 57), S. 174-187. 78 So zitierte ihn von Mylius; HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 17.12.1777. 79 Vgl. z. B. M ANUEL F REY , Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 119), Göttingen 1997, S. 84f. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 306 Fastengebote - zurückzuführen vermochte. Der sachliche Blick auf die besonderen Bedingungen der Juden spricht für eine aufgeklärte Denkweise und die Fähigkeit zur religiösen Toleranz. 80 5. Der Begräbniß Orth derer Juden zu Fellheim Da der Kreisbeauftragte von Mylius in seinem zweiten Bericht an den Herzog von Württemberg davon sprach, dass der Ausbruch der Krankheit seines Erachtens mit den Ausdünstungen des stark überfüllten jüdischen Friedhofs in Fellheim zu tun habe, rückte dieser auf der administrativen Ebene in das Blickfeld und wurde Teil der gesundheitspoliceylichen Debatte. 81 Am 20. Dezember 1777 teilte der Memminger Rat Freiherrn von Reichlin mit, man habe sicher vernommen, daß der Vellheimische Juden Gottes Acker von also kleinem Umfang seye, daß wenn nur wenige hintereinander sterben, die Leichnamme kaum mit etwas Erde bedecket werden können, er auch dermassen nahe an die Wohnhäuser stosse, daß auch hievon eine ansteckende Kranckheit leicht entstehen könne. Infolgedessen forderte man von Reichlin, schleunige und sichere Anstalten vorzukehren, damit der Gottes Acker anders wohin an ein entfernters Ort locirt und ihm gehöriger Umfang gegeben werde. 82 Wie aus einem Bericht der Kreiskanzlei an den Herzog von Württemberg ersichtlich wird, wurde auch der Kreis aktiv. Um Reichlin Druck zu machen, wandte sich die Kreiskanzlei an den Ritter-Kanton Donau, dem Reichlin angehörte, und forderte diesen auf, sein Mitglied zur Verlegung des Friedhofs zu veranlassen. 83 Reichlin zeigte sich willfährig. Er ließ den Memminger Rat wissen, dass er seiner Judenschaft bereits einen etwas außerhalb des Orts gelegenen Platz 84 - an anderer Stelle heißt es: einen bequemen und ohngefähr ein ¼ Stund von hier entlegenen 80 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beeinflusste der Toleranzgedanke der Aufklärung auch das Verhältnis zwischen Christen und Juden; vgl. z. B. S. L ITT , Geschichte der Juden (Anm. 37), S. 123-125; B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 264-270; R EINHARD R ÜRUP , Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15), Göttingen 1975, bes. S. 11-36. 81 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 82 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an Freiherrn von Reichlin, 20.12.1777. 83 Vgl. HStASt, C 10, Bü. 1242, Anzeige der Kreiskanzlei des Schwäbischen Kreises an den Herzog von Württemberg, 8.1.1778. 84 StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 401/ 10, Schreiben des Freiherrn von Reichlin an die Reichsstadt Memmingen, 24.12.1777. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 307 Plaz 85 - für die Begräbnisse zugewiesen habe. Ihm gegenüber, so Reichlin, hätten die Doktoren Kölderer und Wogau jedoch geäußert, der Friedhof müsse nicht verlegt werden, wenn die Juden ihre Toten sechs Schuh tief begraben würden. Er wolle nun anfragen, ob man dies in Memmingen akzeptieren würde. 86 Der Rat kannte zwar diese Stellungnahme der Ärzte - jedoch mit dem Zusatz, dass der Friedhof unbedingt zu erweitern sei, und der Erklärung, dass die Juden damit bereits begonnen hätten. Damit zeigte sich Memmingen einverstanden. 87 Die Haltung der Doktoren Kölderer und Wogau in der Friedhofsfrage mag auf den ersten Blick eher rückwärtsgewandt wirken - hatte doch bereits Martin Luther aus gesundheitlichen Erwägungen den Verzicht auf innerörtliche Friedhöfe angeregt. Traditionell aber lagen noch Mitte des 18. Jahrhunderts die (christlichen) Friedhöfe in den Orten. Erst »im letzten Drittel« dieses Jahrhunderts, genauer ab 1770, kam es - so Barbara Happe - »in fast allen deutschen Staaten« unter dem Einfluss »veränderter Geruchswahrnehmung, der Sensibilisierung des hygienischen Empfindens und demographischer Zwänge« zu Verordnungen, die Friedhöfe außerhalb von Orten zu errichten. 88 Der Bedeutung der ›reinen Luft‹ war man sich freilich schon früher bewusst. Michael Stolberg stellt eindrücklich dar, in welcher Weise ›Miasmen‹, üble Düfte, in der Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit zur Verunreinigung der Luft und damit zu Krankheiten führten: »Sümpfe, stehende Gewässer, verrottendes Gemüse, menschliche und tierische Exkremente, Kadaver und dergleichen mehr galten als ihre wichtigste Quelle.« 89 Anordnungen, die Stadt sauber und die Luft rein zu halten, häuften sich zwar in Seuchenzeiten, waren aber auch ansonsten ein obrigkeitliches Anliegen. 90 Die medizinische Laienaufklärung 85 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Freiherrn von Reichlin an das Direktorium des Ritterkantons Donau, 11.3.1778. 86 StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 401/ 10, Schreiben des Freiherrn von Reichlin an die Reichsstadt Memmingen, 24.12.1777. 87 StadtA Memmingen, Reichsstadt Memmingen, Akten, A 401/ 10, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an Freiherrn von Reichlin, 3.1.1778. 88 Barbara H APPE , »Tod ist nicht Tod - ist nur Veredelung sterblicher Natur«. Friedhöfe in der Aufklärung, in: H ANS E. B ÖDEKER / M ARTIN G IERL (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 224), S. 345-367, hier 356. 89 M. S TOLBERG , Homo patiens (Anm. 40), S. 158. Auf frühe theoretische Schriften zur Hygieneproblematik und entsprechende Wandlungsprozesse verweist A LFONS L ABISCH , »Hygiene ist Moral - Moral ist Hygiene« - Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin, in: C HRISTOPH S ACHSSE / F LORIAN T ENNSTEDT (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt/ Main 1986, S. 265-285; umfassender und aus diskursanalytischer Perspektive P HILIPP S ARASIN , Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/ Main 2001. 90 Vgl. hierzu den Beitrag von Barbara Rajkay in diesem Band. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 308 nutzte beispielsweise die verbreiteten ›Intelligenzblätter‹, um die Bedeutung von frischer Luft und Reinlichkeit publik zu machen. 91 Die Ausdünstungen des jüdischen Friedhofs waren es nach von Mylius auch, denen der Ausbruch der Fellheimer Krankheitsfälle gröstentheils zuzuschreiben war. Was aber hatte es mit seiner Aussage auf sich, der Begräbnisplatz sei bereits hoch von Leichen angefült […], indem die Juden bekandtermassen immer Leichen auf Leichen legen ohne die verwesten Körper auszugraben? 92 Dass die Juden die Leichen gleichsam ›stapelten‹, hatte eindeutig mit dem vorherrschenden Platzmangel zu tun, denn nach den jüdischen Begräbnisriten durften Gräber nicht neu belegt werden. Die Juden mussten ihre Toten gleichsam in ›jungfräulicher‹ Erde bestatten - erst der Platzmangel zwang sie zu der Notlösung, ein Grab wieder zu öffnen, frische Erde aufzuschütten und darauf einen weiteren Leichnam zu bestatten. 93 Das Ausgraben der verwesten Körper hätte - wohl nicht nur nach jüdischem Glauben - die Totenruhe gestört. Nicht ohne tieferen Sinn lautet eine der jüdischen Bezeichnungen für einen jüdischen Friedhof ›Haus der Ewigkeit‹. 94 Als die Fellheimer Friedhofsfrage 1777 zu klären war, erwies sich das ärztliche Gutachten der Doktoren Kölderer und Wogau gewissermaßen als salomonisch: Der Überfüllung des Platzes trug die geforderte Erweiterung Rechnung, dem Wissen um die Gefährlichkeit austretender Leichengifte die Auflage, die Toten tief zu begraben. Auch in diesem Punkt begegneten die Ärzte den jüdischen Gemeindemitgliedern gewogen und sachlich. Dem Kreisbeauftragten von Mylius, der den Friedhof als ›Verursacher‹ erkannt hatte - ob er dies tatsächlich auch war, entzieht sich der Prüfbarkeit -, wird man aufgeklärtes Denken, zumindest aber die Kenntnis zeitgenössischer Diskurse im administrativen Bereich zusprechen müssen. Da in der bisherigen Forschung offen geblieben ist, wo genau der jüdische Friedhof Fellheims im hier relevanten Zeitraum lag oder wohin er verlegt wurde, soll diese Frage hier noch einmal aufgegriffen werden. Für Verwirrung sorgt zunächst, dass der Memminger Rat Ende Februar 1778 dem Bischof von Konstanz und dem Herzog von Württemberg noch einmal mitteilte, Reichlin habe versichert, den Juden einen von dem Ort und der Land-Strasse entfernten hinlänglichen Plaz 91 Vgl. U LRIKE G ROSSE , Der ›Augsburgische Intelligenz-Zettel‹ als populärmedizinischer Ratgeber zu Fragen der Prävention und Selbstbehandlung von Krankheiten, in: S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL u. a. (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001, S. 517-536, hier 523. 92 HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 93 Vgl. hierzu P ETER K UHN , Die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Georgensgmünd, in: D ERS . (Hg.), Jüdischer Friedhof Georgensgmünd, Berlin 2006, S. 73-147, hier 81. 94 Vgl. M ICHAEL B ROCKE / C HRISTIANE E. M ÜLLER , Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001, S. 18f. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 309 zugewiesen zu haben. 95 Nach Wilhelm Rapp wies Reichlin den Juden jedoch damals »den jetzt noch bestehenden Friedhof bei der Synagoge an« - das hieße aber, der Friedhof wäre infolge der Seuche erst in den Ort verlegt worden. 96 Den »älteste[n] Begräbnisplatz der Juden« verortet Rapp dagegen »südlich des Dorfes am sogenannten Judenberg, jetzt [1960, C. W.] Kiesgrube«. 97 Die Broschüre des Fellheimer Arbeitskreises hält fest, dass der noch heute bestehende Friedhof »etwa zeitgleich mit dem Bau der Synagoge angelegt« worden sei, der sich jedoch nach einer ersten Genehmigung durch den Ortsherrn im Jahr 1712 »[a]ufgrund eines Einspruchs des Fürstbischofs von Augsburg verzögerte […], so dass die Fellheimer Synagoge erst 1786 errichtet werden konnte«. 98 Dies wiederum würde darauf hindeuten, dass der Friedhof erst einige Jahre nach der Fellheimer Seuche entstand. Von ihrer auf eigene Kosten erbaut, und in der Reparation zu unterhalten habender Synagog war jedoch schon in einem amtlich protokollierten Vertrag vom August 1777 die Rede, den die Fellheimer Juden mit ihrem Ortsherrn geschlossen hatten. 99 Wenn die Synagoge aber bereits vor dem von den Fieberfällen beherrschten Winter 1777 errichtet worden war, scheint es naheliegend, dass es zu diesem Zeitpunkt auch den dortigen Friedhof schon gab. Dafür, dass der Friedhof schon 1777 an diesem Ort bestand, spricht des Weiteren die Aussage des von Mylius, der die Krankheit verursachende Begräbnisplatz liege sehr nahe an den Wohnhäusern der Juden. 100 Dies trifft z. B. auf das heute noch existierende, zu Beginn des 18. Jahrhunderts erbaute so genannte ›Lange Haus‹ zu, das in unmittelbarer Nähe der Synagoge und des jüdischen Friedhofs steht. 101 Es scheint daher plausibel, dass die Meinung der Ärzte, eine Erweiterung des Begräbnisplatzes würde ausreichen, sofern die Toten tief genug begraben würden, dazu führte, dass der jüdische Friedhof blieb, wo er war: inmitten des Ortsteils, in dem die Juden lebten, also am heutigen Platz. 102 95 HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben der Reichsstadt Memmingen an den Bischof von Konstanz und den Herzog von Württemberg, 28.2.1778. 96 W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 131. 97 W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 220. 98 Fellheim an der Iller (Anm. 10), S. 12. Auch Rapp führt das Jahr 1786 als Baujahr der Synagoge an; vgl. W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 219. 99 StA Augsburg, Schlossarchiv Fellheim, Akten 40, Auszug aus den Amtsprotokollen des Freiherrn von Reichlin vom 28.8.1777, Petita 8. 100 HStASt, C 10, Bü. 1242, Rapport von Obristwachtmeister von Mylius an den Herzog von Württemberg, 23.12.1777. 101 Vgl. W. R APP , Geschichte des Dorfes Fellheim (Anm. 7), S. 221. 102 So auch der Artikel von C ORNELIA B ERGER -D ITTSCHEID , Fellheim, in: B ERNDT H AMM / W OLFGANG K RAUS / M EIER S CHWARZ (Hg.), Mehr als Steine … Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1: Oberfranken, Oberpfalz, Niederbayern, Oberbayern, Schwaben, Lindenberg 2007, S. 431-439, hier 432. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 310 6. Resümee Diskurse werden - so Günther Lottes - »nicht nur um ihrer selbst willen [geführt], sondern um eine wie immer geartete Lebenswirklichkeit zu bewältigen und Probleme aus welchen Wissensbereichen auch immer zu lösen«. 103 Die hier vorgenommene Diskursanalyse macht sichtbar, dass die Denk- und Vorgehensweisen im Kontext der Fellheimer Seuche des Jahres 1777 vielfach von regelmäßig wiederkehrenden Aussagefeldern strukturiert waren, dass also überliefertes Denken, Sprechen und Tun das aktuelle prägte - wenn auch nicht völlig ohne Brüche. Die Quellenanalyse lässt deutlich drei unterschiedliche Diskursebenen hervortreten. Ebenso unverkennbar führt sie aber auch das Aufeinanderverwiesensein dieser drei Ebenen und ihre vielfältigen Verknüpfungen vor Augen. Am Ende dieses Beitrags soll ein knappes, diese drei Diskursebenen reflektierendes Resümee stehen: Auf der administrativen Ebene wurden - wie schon in früheren Seuchenfällen - deutlich divergierende Fern- und Nahperspektiven sichtbar. Ein auf der Fernperspektive beruhendes mangelndes Wissen über die tatsächliche Lage vor Ort führte zu Gerüchten, die Nachrichtencharakter annahmen und immer weitere Kreise zogen. Hatte sich ein solches Nachrichtennetz in der letzten großen Pestwelle, die das Reich 1708 bis 1713 massiv getroffen hatte, als hochwirksam erwiesen - durch frühzeitigen Austausch und gemeinschaftliche Sicherheitsvorkehrungen war es dem Kreis gelungen, die Pest tatsächlich vom Kreisterritorium fernzuhalten - wirkte es jetzt völlig kontraproduktiv: Der Kreis sah sich Wirtschaftssperren ausgesetzt, obwohl es keinerlei Epidemie gab. Dass dieses ganze Prozedere überhaupt in Gang kam, ist überkommenen, nahezu automatisch ablaufenden Handlungsmustern zuzuschreiben, deren Initiatoren zumeist landesherrliche Beamte waren. Diese erwiesen sich zudem über die Generalisierung von zwar relativ regelmäßigen, aber situativ begründbaren Ausgrenzungen fremder Juden durch vorausgegangene ›Pestpatente‹ des Kreises als Kolporteure antijüdischer Stereotypen. Das auf einer Nahperspektive beruhende Vorgehen der Memminger Administration spiegelte ein zwar gegenläufiges, aber nicht weniger ›typisches‹ Verhalten. Der häufige Aufenthalt Fellheimer Juden in Memmingen brachte der Reichsstadt das Risiko, ebenfalls als ›infiziert‹ zu gelten. Deshalb verweigerte man ihnen den Zutritt, leistete aber umfassende Hilfen. Zugleich hüllte man sich nach außen in Schweigen, bis die Gefahr gebannt war. Die räumliche Nähe beinhaltete aber nicht nur Gefahren, sondern brachte auch konkretes ›Wissen‹ und führte - offenbar - zu Vertrauen. 103 G ÜNTHER L OTTES , »The State of the Art«. Stand und Perspektiven der »intellectual history«, in: F RANK -L OTHAR K ROLL (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. FS für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 27-45, hier 45. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 311 Die Analyse des Seuchendiskurses auf der lokalen Ebene führte zu möglicherweise so nicht erwarteten Erkenntnissen. Dazu gehört die Tatsache, dass in den Aussagen der beiden Zeugen zu den Geschehnissen vor Ort keinerlei antijüdische Ressentiments - weder auf Seiten der Zeugen noch auf Seiten der christlichen Bewohner des Orts - erkennbar werden. Die berechtigte Sorge, sich mit einer womöglich todbringenden Krankheit zu infizieren, führte nicht zu Ausschreitungen gegen die jüdischen Mitbewohner. Dies bestätigt aus einer ganz neuen Perspektive Forschungsergebnisse von Sabine Ullmann in Bezug auf das friedliche und kooperative Miteinander von Juden und Christen in den Landgemeinden Schwabens. 104 Des Weiteren spiegelt sich in den Darlegungen der beiden Reisenden aus dem medizinischen Diskurs ›abgesunkenes‹ Wissen wider, das sie jedoch durchaus in Frage zu stellen vermochten. Dass ihnen eine über Jahrhunderte gültige wissenschaftliche Theorie als Mährlein erschien, deutet auf eine - wo auch immer erworbene - ›aufgeklärte‹ Haltung hin. Unsere Zeugen vertrauten dem, was sie mit eigenen Augen sahen. Und dies taten auch andere: Dass das Vernehmungsprotokoll dazu diente, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, und unübersehbar ernst genommen wurde, 105 zeigt, wie sehr die administrative Ebene auf die Wahrnehmungen und Deutungen der Menschen vor Ort, auf ihr ›Wissen‹, angewiesen war. Der Anthropologe Clifford Geertz bezeichnete solches Wissen als ›local knowledge‹. 106 Man könnte sagen, ›Untertanenwissen‹ stieg zu ›Herrschaftswissen‹ auf. Eine keineswegs geringere Bedeutung kam freilich den Gutachten der Ärzte zu, wenngleich das erste dieser Gutachten keine durchschlagende Wirkung entfaltete. Wenn die Mediziner auch übereinstimmend zur Diagnose gekommen waren, dass es sich in Fellheim um keine Seuche, schon gar nicht um eine Pest handelte, lassen sich ihre diesbezüglichen Ausführungen doch auf die Seuchendiskurse des 18. Jahrhunderts beziehen. Die Vorstellung, eine bestimmte Planetenkonstellation könnte die Krankheit verursacht haben, war in diesem Jahrhundert nicht mehr virulent. 107 Auch die in den Pestpatenten der Jahre 1709 bis 1713 durchaus noch explizit geäußerte Sichtweise, es handele sich bei der Pest - was auch immer die Zeitgenossen darunter verstanden haben mochten - um ein ›Strafgericht Gottes‹, klingt nicht 104 Vgl. S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 11). 105 Am 28. Dezember bezeichnete der Bischof von Konstanz in einem Schreiben an den Herzog von Württemberg den Rapport des von Mylius als die Volle Bestättigung jener Tröstlichen nachrichten, die er schon ehevor erhalten, womit er sich auf den Bericht der beiden Reisenden bezog; HStASt, C 10, Bü. 1242, Schreiben des Bischofs von Konstanz an den Herzog von Württemberg, 28.12.1777. 106 Vgl. C LIFFORD G EERTZ , Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983. 107 Vgl. J. W ERFRING , Der Ursprung der Pestilenz (Anm. 57), S. 83-99. C HRIS TIN E W ER KS T ET T ER 312 mehr an. 108 Alle vier Ärzte sprachen den ›klimatischen Einflüssen‹ Bedeutung zu. Während sich Dr. Ehrhart in dieser Sache aber im Wesentlichen die Imaginationslehre zu eigen machte, spielte diese auf Seiten seiner Kollegen - und keineswegs nur seiner Memminger Kollegen - eine eher geringe Rolle. Der medizinische Seuchendiskurs des 18. Jahrhunderts wurde, wie der medizinische Diskurs überhaupt, noch weitgehend von der Humoralpathologie - die die Bedeutung der Körpersäfte und des Klimas betonte - und von der Miasmen-Theorie - und damit letztlich von einem ›Hygienediskurs‹, der in der Zeit freilich noch nicht so bezeichnet wurde - geprägt. Das Gutachten der Doktoren Kölderer und Wogau sen. und jun. deckte sich deutlich mit diesen Diskursen. Damit hingen sie gleichwohl nicht lediglich einer überholten Lehre an, sondern vollzogen durchaus das nach, »was man« - so Philipp Sarasin - »als neohippokratische Wende bezeichnet: eine neue Genauigkeit in der Beobachtung von Krankheitsverläufen, gepaart mit dem Glauben an die Heilkraft der Natur, und ein wieder akzentuierter pragmatischer Blick auf Klima, Wasser, Ernährung und Wohnort als Parameter von Krankheit und Gesundheit«. 109 Es war jedoch nur vordergründig die jeweilige Positionierung im medizinischen Seuchendiskurs, die zur gänzlich konträren Begründung des besonderen Betroffenseins der Juden führte. Die günstige Quellenlage zu den beruflichen Werdegängen der im Fellheimer Fall praktizierenden Ärzte, die hier angesichts der Problemlage auf den Werdegang von Dr. Jodokus Ehrhart begrenzt dargelegt wurden, erlaubte eine genauere Bestimmung des wissenschaftlichen Niveaus ihrer Ausbildung und Berufsausübung und ermöglichte so die Aufdeckung eines eklatanten Widerspruchs: Das ärztliche Wirken Jodokus Ehrharts - insbesondere seine innovativen Behandlungsmethoden im Bereich der Geburtshilfe - wie auch sein berufsbezogenes Netzwerk spiegeln nicht weniger als der Duktus der Gutachten seiner Kollegen und deren diagnostische Darlegungen die beginnende ›Verwissenschaftlichung‹ des frühneuzeitlichen Gesundheitswesens im 18. Jahrhundert und die deutliche Verankerung dieser Ärzte in Wissensbeständen der Aufklärung. Auf diesem Hintergrund kann Ehrharts Aussage, die ›Unreinlichkeit unter den Juden‹ sei für ihre Erkrankung verantwortlich, die Christen dagegen seien aus Angst und Schrecken 108 Für den Nachweis der Patente vgl. die Anmerkungen 32, 33, 36 und 38. 109 P H . S ARASIN , Reizbare Maschinen (Anm. 89), S. 39. Einer der Protagonisten dieser Wende war der Leidener Arzt Hermann Boerhaave (* 1668, † 1738), »der führende Mediziner der Frühaufklärung«, der betonte, Hippokrates - auf den die Säftelehre zurückgeht - habe »die Einflüsse der Umwelt, der Luft, des Bodens, der Hitze und Kälte auf die menschliche Gesundheit zutreffend beschrieben«. Da Boerhaave eine enorm große Schülerschaft verzeichnen konnte, perpetuierte sich seine medizinische Weltsicht entsprechend; vgl. K LAUS B ERGDOLT , Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999, S. 251. Z UM S E UC H ENDI SK UR S IM 18. J AHRHUND ER T 313 erkrankt, nur als antijüdisches Stereotyp verstanden werden. Neben der Begründung seiner Kollegen, die die spezifischen Bedingungen der Juden berücksichtigte, wirkte diese Ansicht umso drastischer. Immerhin aber ist hier ein gewisser Bruch mit einer überkommenen Argumentationslinie zu konstatieren: In aufklärerisch geprägten Diskursen erhielten diskriminierende Deutungsmuster zumindest einen dissonanten Klang. V. Wahrnehmungen: Tiere und Tierschutz 317 B ARBARA R AJKAY Hunde in der Kirche, Schweine auf den Gassen Die Beschäftigung mit Tieren hat in der kulturhistorischen Forschung eine lange Tradition. Zur Erfolgsgeschichte im deutschsprachigen Raum wurde sie aber erst dank Paul Münch: Dessen breit angelegter Sammelband ›Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses‹ ging bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen 1998 in die zweite Auflage. 1 Seitdem reißt die Publikationswelle zu diesem Thema nicht mehr ab. Allein im Zeitraum 2008-2011 widmeten drei historische Zeitschriften den Tieren jeweils ein ganzes Heft. 2 Hinzu kommen zahlreiche Sammelbände als Ergebnisse von Tagungen und Vortragszyklen. 3 Die Mediävistik steuerte 2010 einen ausführlichen kommentierten Quellenband unter dem Titel ›Tiere als Freunde im Mittelalter‹ bei. 4 Während in der historischen Kulturanthropologie ausgehend vom Menschen das Verhältnis zu Tier und Natur hinterfragt wird, 5 beziehen sich die Autorinnen und Autoren der jüngsten Veröffentlichungen auf eine neuere Forschungsrichtung, die im angloamerikanischen Raum ihren Ausgang nahm. 6 Sie plädieren für einen 1 P AUL M ÜNCH (Hg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u. a. 1998. 2 S ILKE B ELLANGER u. a. (Hg.), Tiere - eine andere Geschichte (Traverse 2008/ 3), Zürich 2008; C LEMENS W ISCHERMANN (Hg.), Tiere in der Stadt (Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2009/ 2), Berlin 2009; und zuletzt die 56. Ausgabe der ›WerkstattGeschichte‹, erschienen im Juli 2011 unter dem schlichten Titel ›Tiere‹. 3 C LEMENS W ISCHERMANN (Hg.), Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007; S OPHIE R UPPEL / A LINE S TEINBRECHER (Hg.), »Die Natur ist überall bey uns«. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009; C AROLA O TTER - STEDT / M ICHAEL R OSENBERGER (Hg.), Gefährten - Konkurrenten - Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009; D OROTHEE B RANTZ / C HRISTOF M AUCH (Hg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn u. a. 2010. 4 G ABRIELA K OMPATSCHER u. a. (Hg.), Tiere als Freunde im Mittelalter. Eine Anthologie, Badenweiler 2010. 5 So etwa bei W OLFGANG R EINHARD , Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004. Das »Verhältnis zur Natur und zum Tier« findet sich als Unterpunkt des großen dritten Kapitels »Umwelten«, S. 401-416. 6 M IEKE R OSCHER , Forschungsbericht: Human-Animal-Studies, in: C. W ISCHERMANN (Hg.), Tiere in der Stadt (Anm. 2), S. 94-103. B A R BA R A R A JKAY 318 Perspektivenwechsel, wollen eine andere Tiergeschichte, »die die Tiere als Akteure und Subjekte der Geschichte begreift«, wie Aline Steinbrecher in ihrem ausführlichen Artikel über die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit Tieren darlegt. 7 Der vorliegende Aufsatz will nicht nur einen regionalen Beitrag zu dieser aktuellen Debatte leisten, und anders als Clemens Wischermann wird auch nicht nach dem Ort des Tieres in der städtischen Gesellschaft gesucht. 8 Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach dem Platz und der Bewegungsfreiheit der Tiere in den öffentlichen Räumen der frühneuzeitlichen Stadt. Nicht das interaktive Verhältnis von Menschen und Tieren, sondern die Auseinandersetzungen der städtischen Einwohner als Tierhalter mit den sich wandelnden obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen sollen im Folgenden skizziert werden. Städte waren und sind Orte mit ausgedehnten und vielfältigen öffentlichen Räumen. Dazu zählen Straßen, Plätze und Befestigungsanlagen ebenso wie Wirtshäuser, Rathäuser und Kirchen. Sie alle wurden in den verschiedensten Funktionen benutzt, waren Verkehrsraum und Verkaufsstätte, Arbeitsplatz und Bühne, dienten der Kommunikation wie der Nahrungsgewinnung. Sowohl mit Hilfe einzelner Dekrete als auch im Rahmen umfangreicherer Policeyordnungen versuchten die städtischen Obrigkeiten vom Spätmittelalter bis zum Ende des Alten Reichs, die Nutzung der öffentlichen Räume zu reglementieren und damit auch augenfällig ihre Durchsetzungskraft zu demonstrieren. Am Beispiel der Städte Kempten, Memmingen, Augsburg und Nördlingen zeigen sich diesbezüglich die Gemeinsamkeiten wie die Eigenheiten reichsstädtischer Politik. Vor allem für Schweine und die meisten der Hunde machten die Straßen und Plätze einen Großteil ihres Lebensraums aus. Daher stehen sie im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Während Schweine nur der Nahrungsmittelgewinnung dienten, agierten Hunde in den unterschiedlichsten Funktionen. Sie waren Statussymbol und Sozialpartner, wurden als Zugtiere und beim Herdentrieb eingesetzt und bewachten Haus und Hof. Als engste Begleiter des Menschen gingen sie in allen öffentlichen Gebäuden ein und aus, einschließlich der Kirchen. Damit bewegten sie sich in einem Raum, dessen sakraler Charakter bei allen Konfessionen unbestritten war. Eine geweihte und heilige Stätte büßte in den Augen der weltlichen Obrigkeit wie der Theologen zwangsläufig ihre Sonderstellung ein, wenn umtriebige Hunde den Handlungsablauf bei den Gottesdiensten störten bzw. den Raum verunreinigten. Trotzdem konnten ausgerechnet in der Kirche die Hunde ihren Platz bis ins 19. Jahrhundert 7 A LINE S TEINBRECHER , »In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede« (Elias Canetti) - Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: C. O TTERSTEDT / M. R OSENBERGER (Hg.), Gefährten (Anm. 3), S. 264-286, hier 276. 8 C LEMENS W ISCHERMANN , Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: D ERS . (Hg.), Tiere in der Stadt (Anm. 2), S. 5-12. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 319 behaupten, wie die vielen schriftlichen und bildlichen Quellen belegen. 9 Der Verweis auf das große Repräsentationsbedürfnis der zunehmend bürgerlichen Hundehalter greift als Erklärung zu kurz. 10 Gerade am Beispiel des ebenso hartnäckigen wie vergeblichen Versuchs, die Hunde auf Dauer von den Kirchenräumen fern zu halten, zeigt sich die Grenze der obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen der ständisch differenzierten Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. 1. Hunde in der Kirche Allein im Katalog der Jubiläumsausstellung ›450 Jahre Augsburger Religionsfrieden‹ finden sich vier Abbildungen von Kircheninnenräumen, auf denen auch Hunde zu sehen sind. 11 Ihre Präsenz ist im wahrsten Sinne überkonfessionell und zeitlos. Auf den holländischen Kirchenbildern des 17. Jahrhunderts gehören Hunde fast zum Standard, und durch ihre Körperhaltungen verweisen sie mitunter auf sehr profane Tätigkeiten. 12 Trotzdem ist ihre Anwesenheit in den Kirchen kein Beweis mangelnder Religiosität und kein Vorbote der Säkularisierung. Hunde bevölkerten auch schon die Kirchenräume des Mittelalters, wie man etwa bei Rogier van der Weydens ›Altar der sieben Sakramente‹ sehen kann. 13 Selbst in der prächtigen 1675 in Amsterdam eingeweihten Synagoge hielten sie Einzug. 14 Aus theologischer Sicht gibt es durchaus Gründe, Hunde vor der Kirchentüre zu lassen. In der Offenbarung des Johannes (22,15) heißt es: Draußen [außerhalb des Paradieses] bleiben die Hunde und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die 9 Zum Aussagewert von Hunden auf Bildquellen vgl. A LINE S TEINBRECHER , Eine Stadt voller Hunde - Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich, in: C. W ISCHERMANN (Hg.), Tiere in der Stadt (Anm. 2), S. 26-40, hier 26-33. 10 A. S TEINBRECHER , Eine Stadt voller Hunde (Anm. 9), S. 36. 11 C ARL A. H OFFMANN u. a. (Hg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005, S. 382, 395, 452 und 540. 12 Emanuel de Witte, Die Oude Kerk in Amsterdam, Privatsammlung, abgebildet in: U WE M. S CHNEEDE (Hg.), Holländische Kirchenbilder von Helmut R. Leppien und Karsten Müller, Hamburg 1995, S. 57; in dem dort veröffentlichten Beitrag von T HOMAS K ETEL - SEN , Duftmarken am Bau. Signaturen, streunende Hunde und Anstandsfragen in holländischen Kirchenbildern, S. 66-68, werden die von de Witte häufig abgebildeten Italienischen Windspiele als dessen persönliche Form des Signierens interpretiert (vgl. S. 67); zu den niederländischen Kirchenbildern siehe auch U LLA F ÖLSING , Gebell im Gotteshaus, in: Weltkunst 03 (2008), S. 43-46. 13 Rogier van der Weyden, Altar der sieben Sakramente, linker Flügel, um 1445-1450, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen. 14 Emanuel de Witte, Inneres der portugiesischen Synagoge in Amsterdam, um 1680, Rijksmuseum Amsterdam. B A R BA R A R A JKAY 320 Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut. Paulus warnte im Brief an die Philipper: Hütet Euch vor den Hunden, und Matthäus forderte: Gebt das Heilige nicht den Hunden. 15 Trotz dieser eindeutig negativen Aussagen wurde in der Diözese Lyon im 12. Jahrhundert ein Hund, der dem Kind seines Herrn das Leben gerettet hatte und anschließend von ihm irrtümlich getötet wurde, von der Bevölkerung unter dem Namen St. Guinefort als Heiliger verehrt. An seinem Grab soll es zu Wunderheilungen kranker Kinder gekommen sein. 16 Viele Theologen verdammten die Hunde dagegen pauschal als schamlos, gefräßig und promiskuitiv. 17 Die Nördlinger Priesterschaft fühlte sich offenbar durch den Hundelärm so gestört, dass 1502 die städtische Obrigkeit mit diesem Argument tagsüber einen allgemeine Leinenzwang in der Stadt verordnete. 18 Die enge Beziehung der Menschen zu ihren Hunden und anderen Tieren drohte nach Ansicht der Autoren von Beichtbüchern das erste Gebot zu verletzten: Die große Liebe zu den Kreaturen beeinträchtige die Liebe zu Gott. 19 Martin Luther sah dagegen in Tieren generell Kreaturen mit einer unsterblichen Seele: Ich glaube, dass auch die Belferlein, die Hündlein, in den Himmel kommen und jede Kreatur eine unsterbliche Seele habe. 20 Offen ließ der Reformator aber dabei die Frage, ob der Platz im Himmel auch den Anspruch auf einen Platz in der Kirche rechtfertige. In der Praxis störte das Verhalten der Tiere, vor allem ihr Bellen, die Andacht der Gemeinde und ihre Hinterlassenschaften verunreinigten den Kirchenraum. Aus diesem Grund regte schon um 1440 der Scholaster von St. Florian in Koblenz an, es den Prälaten und Benefiziaten zu verbieten, ihre Hunde zur Kirche und zum Chor mitzubringen. 21 15 Paulus, Brief an die Philipper 3,2; Evangelium nach Matthäus 7,6. Eine umfassende Zusammenstellung zum Stichwort ›Hund‹ in der Bibel machten W OLFGANG W IPPERMANN / D ETLEF B ERENTZEN , Die Deutschen und ihre Hunde. Ein Sonderweg in der Mentalitätsgeschichte, Berlin 1999, S. 11-17. 16 J EAN -C LAUDE S CHMITT , Der heilige Windhund. Die Geschichte eines unheiligen Kults, Stuttgart 1982. 17 K EITH T HOMAS , Man and the natural world. A history of the modern sensibility, New York 1983, S. 105. 18 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 20, Gepott der Hund halten. 19 F RANZ F ALK (Hg.), Drei Beichtbüchlein nach den zehn Geboten aus der Frühzeit der Buchdruckerkunst (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 2), Münster 1907, S. 27; Spiegel des Sünders, Augsburg um 1475 (http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0003/ bsb00035040/ images/ index.html? id = 00035040&fip = 193.171.63.242&no = 46&seite = 154.). 20 R ICHARD B RÜLLMANN , Lexikon der treffenden Martin-Luther-Zitate. Die eindrucksvollsten Zitate nach Stichwörtern von A-Z geordnet. Lieder-Sammlung im Anhang, Thun 1983, S. 173. 21 W OLFGANG H ERBORN , Hund und Katz im städtischen und ländlichen Leben im Raum Köln während des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: G UNTHER H IRSCHFELDER u. a. (Hg.), Kulturen - Sprachen - Übergänge. FS für H. L. Cox zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2000, S. 397-413, hier 412f. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 321 Abb. 1: Innenansicht der evangelischen St.-Ulrichs-Kirche in Augsburg während eines Gottesdienstes. Im Vordergrund ein Mann mit Kind und Hund; Kupferstich von Melchior Küsel, 1660. B A R BA R A R A JKAY 322 Abb. 2: Innenansicht der katholischen Basilika St. Ulrich und Afra in Augsburg anlässlich der Wahl Josephs I. zum Römischen König am 24. Januar 1690; Radierung von Philipp Neuß, 1690 (Ausschnitt). H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 323 Der Nürnberger Bürger Sigmund Örtel wollte um 1485 mit Hilfe einer frommen Stiftung die Hunde aus den Kirchen vertreiben. 22 In der Frühen Neuzeit fühlten sich vielerorts die Obrigkeiten in der Pflicht, die Hunde aus der Kirche fern zu halten. Die Kanzlei des Fürststifts Kempten veröffentlichte 1693 ein entsprechendes Dekret. Zur Erklärung wurden zwei Argumente angeführt: Die unanständige Unruh der umherlaufenden Hunde störe die Andacht und die Tiere verursachten Schäden an den Altären und Paramenten. 23 In der Reichsstadt Kempten befahl der Rat im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum 200-jährigen Jubiläum der Confessio Augustana erstmals im Juni 1730 die Vertreibung der Hunde aus der Kirche. Acht Jahre später, zwischen September 1738 und April 1739, unternahm der Rat nochmals mehrere Anläufe in dieser Angelegenheit. 24 Die Augsburger Protestanten sahen dagegen von einem generellen Kirchenverbot für Hunde ab. In der Kirchenordnung vom 12. Januar 1738 heißt es dazu lediglich, der Mesner habe während des Gottesdienstes darauf zu sehen, dass durch mutwillige Kinder oder andere Leute, wie auch durch die Hunde keine Unruhe gemacht, und solche baldmöglichst aus der Kirche geschafft werden. 25 Selbst die großen Umbrüche im Gefolge der Französischen Revolution gingen an diesem Thema offenbar spurlos vorüber. Der Memminger Stadtphysikus Gottlieb von Ehrhart notierte in der 1813 erschienenen ›Physisch-medicinischen Topographie‹ Memmingens: Beinahe jeder Bürger hält sich einen Hund, der ihn Sonntags früh auf das Land in die Kirche begleitet, und Nachmittags auf den Spaziergang. 26 Mit diesem Verhalten standen die Memminger nicht allein: Noch im ›Augsburger Intelligenzblatt‹ vom 13. Juni 1827 wird den Gläubigen bei Strafe verboten, ihre Hunde mit in die Kirche zu nehmen. 27 Zur Erklärung dieser langlebigen Verhaltensweise müssen drei Bereiche betrachtet werden: Der Ort der Handlung, die Halter der Hunde sowie die Vollstrecker der obrigkeitlichen Dekrete. Wie Rathaus und Wirtshaus zählte die Kirche in der Frühen Neuzeit zu den öffentlichen Räumen. 28 Im Gegensatz zu den profanen Orten Rathaus und Wirts- 22 W ALTER L EHNERT , Entsorgungsprobleme der Reichsstadt Nürnberg, in: J ÜRGEN S YDOW (Hg.), Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte (Stadt in der Geschichte 8), Sigmaringen 1981, S. 151-163, hier 156. 23 StA Augsburg, Dekret Fürststift Kempten, Archiv Akten 2700. 24 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 52 (1729-1732), Eintrag vom 23.6.1730, fol. 217r; sowie 55 (1738-1741), Eintrag vom 20.10.1738, fol. 81r; 10.4.1739, fol. 149r. 25 SuStBA, 2° Cod S 225, Der Stadt Augspurg Evangelische Kirchen = Rechte und Ordnungen (12.1.1738), Punkt 11. 26 G OTTLIEB VON E HRHART , Physisch-medicinische Topographie der k. b. Stadt Memmingen im Illerkreis, Memmingen 1813, S. 397. 27 Intelligenz = Blatt und wochentlicher Anzeiger von Augsburg, Nr. 46, 13.6.1827. 28 S USANNE R AU / G ERD S CHWERHOFF , Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: D IES . (Hg.), Zwischen B A R BA R A R A JKAY 324 haus bot die Kirche den großen Vorteil, mit Hilfe der Glocken zu eindeutig kommunizierten Zeiten alle Gruppen der Bevölkerung zu versammeln. In der Frühen Neuzeit entwickelte sich diese Eigenschaft zu einem Alleinstellungsmerkmal, denn während der Gottesdienste mussten die Wirtshäuser geschlossen bleiben. 29 Nördlingen verbot 1557 sogar das Spazieren auf dem Marktplatz während der Predigt. 30 Im Zusammenhang mit dem 200-jährigen Jubiläum der Confessio Augustana verordneten die Kemptener Räte ihren Bürgern auch eine ebenso lange Wirtshausabstinenz. 31 Damit bot der Kirchenraum an Sonn- und Feiertagen die öffentlichkeitswirksamste Plattform für die visuelle Kommunikation. Der Zustand des Kirchenraums und des Kirchhofs war in den Augen der Obrigkeit in der Frühen Neuzeit so etwas wie die Visitenkarte ihrer guten Ordnung. 32 Jede Konfession bemühte sich darum, den ehemals multifunktionalen Charakter beider Orte neu und ausschließlich sakral zu definieren. 33 Alles Profane wurde verlagert oder verboten. In Kempten störten sich die Ratsherren 1730 eben nicht nur an den Hunden, sondern auch an der Tatsache, dass im Kirchenraum Wäsche zusammengelegt wurde. 34 Zur Nutzung des Kirchhofs heißt es im Statutenbuch aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: An dem Donnerstag anteo währendem Gottesdienst alle Arbeit auf dem Kirchhoff, alles Seil spannen, und Wäsch trucknen verbotten, auch überhaupt der Kirchhof also rein zu halten, daß weder Pferdt, Kuh, Kälber, Enten, Gänß noch anders Geflügel, unter erwartende Pfandung dahin gelassen und geführt werden sollen. 35 Ganz ließ sich die Trennung allerdings nicht durchsetzen. Kirchen blieben profaner Kommunikationsraum und oft der einzige Ort, um die ganze Gemeinde zu versammeln. In Kempten fanden z. B. die jährlichen Schwörtage in der St.-Mang- Kirche statt. Allein zu diesem Zweck wurde in der Kirche vorübergehend eine Bühne aufgerichtet. Der Magistrat sollte in erhöhter Position der Bürgerschaft Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln u. a. 2004, S. 11-52, hier 33-40. 29 S. R AU / G. S CHWERHOFF , Öffentliche Räume (Anm. 28), S. 33-40. 30 StadtA Nördlingen, R2F3 Nr. 1, um 1557, Verbot under der predigt uff dem markt zusten auch deß gotßlestern halb. 31 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 52 (1729-1732), fol. 219. 32 M ANFRED B ALZER , Kirchen und Siedlungsgang im westfälischen Mittelalter, in: J AN B RADEMANN (Hg.), Leben bei den Toten: Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme 19), Münster 2007, S. 83-115, hier 114. 33 A NDREAS H OLZEM , Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33), Paderborn 2000, S. 248. 34 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 52 (1729-1732), fol. 249. 35 StadtA Kempten, B 12, Statutenbuch (nach 1763), S. 9. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 325 gegenübersitzen können. 36 Wichtige Bekanntmachungen wurden von der Kanzel verlesen. Die politische Kultur behielt ihren Platz in der Kirche. 37 Außerdem waren es die Gläubigen, die für den Unterhalt des Kirchenbaus zu sorgen hatten und daher die Kirche als ihr Gebäude ansahen. 38 Reisende wiederum besuchten Kirchen, um die dortigen Kunstschätze zu besichtigen, der konfessionelle Hintergrund spielte dabei keine Rolle. Der Hamburger Arzt Jonas Ludwig Heß beklagte 1795 in seinem Reisebericht, dass ihm seine Hündin im Gotteshaus des Klosters Melk bei Wien gestohlen worden sei. 39 2. Herr und Hund Die Halter der Hunde kamen also zu ihrer Kirche in der Rolle des Bürgers und Hausherren, manchmal des bildungsbeflissenen Touristen, aber selten als Sünder. Im Zusammenhang mit dem Verhalten der Männer während der Messfeier war das verbotene Tragen von Waffen sowie das Mitbringen von Tieren, vor allem Hunden, in den Visitationsprotokollen eine immer wieder aufgelistete Beschwerde. 40 Beides zusammen, Hund und Waffe, wiesen den Besitzer in der Öffentlichkeit als Herrn aus, als Teilnehmer der politischen Kultur. Der Platz des Einzelnen in der Kirche war festgelegt, häufig sogar vererbt. 41 Durch die Kleiderordnungen bestand nur wenig Möglichkeit der Distinktion. Samt 36 W OLFGANG P ETZ , Zweimal Kempten - Geschichte einer Doppelstadt (1694-1836) (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 54), München 1998, S. 76f. 37 V ERA I SAIASZ , »Nicht ein gemein Bürgerhauß/ nicht ein Rathausß oder Cantzley«: Der Kirchenbau des Luthertums und seine Repräsentationen zwischen Sakralort und Funktionsraum, in: M ATTHIAS P OHLIG u. a., Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (ZHF Beih. 41), Berlin 2000, S. 200-235, hier 204. 38 P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg u. a. 2006, hier Bd. 2, S. 703; und G ERD S CHWERHOFF , Handlungswissen und Wissensräume in der Stadt. Das Beispiel des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg (1518-1597), in: J ÖRG R OGGE (Hg.), Tradieren Vermitteln Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, 6), Berlin 2008, S. 61- 102, hier 73-79. 39 H ILDEBRAND D USSLER (Hg.), Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben und seinen Randgebieten in Oberbayern, Franken, Württemberg, Vorarlberg und Tirol. Reiseberichte aus sechs Jahrhunderten (Veröff. SFG 6/ 2), Weißenhorn 1974, S. 311. 40 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 38), Bd. 2, S. 705. 41 T HOMAS W ELLER , »Ius subselliorum templorum«. Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht, in: C HRISTOPH D ARTMANN B A R BA R A R A JKAY 326 und Seide blieben den obersten Ständen vorbehalten. Die Obrigkeit schätzte und schützte die Statik der ständischen Gesellschaft. Allein durch den richtigen Hund war auch ein Mann von niederem Stand - aber guter ökonomischer Ausstattung - in der Lage, wenigstens optisch seinen Status aufzuwerten. Bereits in der Antike finden sich Belege für die enge Beziehung zwischen Herr und Hund. Der listenreiche Odysseus wurde bei seiner Rückkehr von seinem treuen Hund Argos mit wedelndem Schwanz begrüßt. Ähnlich wie sein Herr vermittelte das Tier einen verwahrlosten Eindruck und konnte sich nicht mehr schnell bewegen: Oder war er nur so, wie die Hunde am Tische der Männer/ Werden, welche die Herren des Prunkes wegen sich halten. 42 Schon in der Odyssee wurde also fein unterschieden zwischen dem Hund als Nutztier bei der Jagd, wie es Argos ursprünglich gewesen war, und jenen Hunden, die ihre Existenz nur dem Prestigedenken ihrer Halter zu verdanken hatten. Der Gebrauch des edlen Hundes als Attribut der männlichen Selbstdarstellung setzte sich im Mittelalter fort. Zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert bezeugen die Hofordnungen der landesfürstlichen Höfe die enorme Bedeutung der Hundehaltung. Der Reiter mit Jagdhund und Falke etablierte sich als »die Standarddarstellung des Adligen«. 43 Selbst umgekehrt funktionierte die Beziehung: Wer sich öffentlich mit Jagdhunden und Falken zeigte, konnte damit in Dijon im 15. Jahrhundert vor Gericht Adelsprivilegien geltend machen. 44 Auf diese Weise hielten Hunde und Falken Einzug in den Kirchen. 45 Am Hof wiederum spiegelte die Anwesenheit der Hunde den Rang ihres Halters. Denn das Recht, sein Tier bei Ausritten mitzuführen, es in die repräsentativen Räume der Residenz mitzubringen und während des Tafelzeremoniells zu füttern, war in vielen Hofordnungen nur einem kleinen exklusiven Personenkreis vorbehalten. 46 Der Status des Herrn bestimmte stets auch den gesellschaftlichen Rang des Hundes; dieser Sachverhalt u. a. (Hg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 5), Münster 2004, S. 199-224. 42 J OST P ERFAHL (Hg.), Wiedersehen mit Argos und andere Nachrichten über Hunde in der Antike (Kulturgeschichte der Antiken Welt 15), Mainz 1983, S. 62. 43 S IMON T EUSCHER , Hunde am Fürstenhof. Köter und »edle wind« als Medien sozialer Beziehungen vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 347- 369, hier 349. Als Wappentier erfreute sich der Hund dagegen keiner großen Beliebtheit; vgl. F RANK M EIER , Mensch und Tier im Mittelalter, Ostfildern 2008, S. 43. 44 S. T EUSCHER , Hunde am Fürstenhof (Anm. 43), S. 350. 45 H ERMANN K AISER , Ein Hundeleben. Von Bauernhunden und Karrenkötern. Zur Alltagsgeschichte einer geliebten und geschundenen Kreatur (Materialien zur Volkskultur - nordwestliches Niedersachsen 19), Cloppenburg 1993, S. 32. 46 S. T EUSCHER , Hunde am Fürstenhof (Anm. 43), S. 362. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 327 Abb. 3: Die Augsburger Zirbelnuss auf einem Piedestal. Im Vordergrund ein Mann mit Waffe und Hund als Zeichen politischer Partizipation; Kupferstich von Johann Georg Mannasser, 1632. B A R BA R A R A JKAY 328 zählt offensichtlich zu den Strukturen der langen Dauer, noch Bismarcks Doggen Tyras und Sultan wurden als ›Reichshunde‹ tituliert. 47 Stellvertretend für ihre Herren rauften die Hunde, als sogenannter ›Nachtskandal‹ wurde das Thema auch ein beliebtes Bildmotiv. 48 Ein Dekret der Reichsstadt Augsburg vom 29. April 1762 bezeugt die Problematik in der umgekehrten Richtung: Hunde, die sich gegenseitig anfielen, würden Zank und Schlägereien bei den Besitzern provozieren, heißt es dort als eine der Begründungen für die Festsetzung eines allgemeinen Termins, an dem alle frei laufenden Hunde in der Stadt erschlagen werden sollten. 49 Seit der Antike waren Hunde beliebte Geschenke unter Königen wie auch von Fürsten an ihre Gefolgsleute. Im Gegensatz zu Wertgegenständen lag bei hierarchischen Beziehungsmustern der besondere Wert für den Schenkenden dabei in der Vorstellung, dass der Hund ihm weiterhin die Treue halten und den Beschenkten stets an diese Verbindung erinnern würde. 50 Beim gemeinsamen Auftritt von Herr und Hund setzte der Kaiser qualitativ und quantitativ die Maßstäbe. Karl V. ließ sich nicht nur mit einem geschorenen englischen Wasserhund portraitieren, bei seinem feierlichen Einzug anlässlich des Reichstags in Augsburg am 15. Juni 1530 konnten die Schaulustigen auch seine 200 Jagdhunde bewundern, die er samt den Jägern aus Spanien mitgebracht hatte. 51 Im Laufe der Frühen Neuzeit nahm die Größe der Hundemeuten, die vor allem bei Treib- und Parforcejagd benötigt wurden, noch weiter zu. Erzherzog Leopold setzte 1626 schon 250 Tiere zur Hofjagd ein. 52 47 J UTTA B UCHNER , »Im Wagen saßen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen«. Zur städtischen Hundehaltung in der wilhelminischen Klassengesellschaft um 1900, in: S IEG - FRIED B ECKER / A NDREAS C. B IMMER (Hg.), Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 27), Marburg 1991, S. 119-138, hier 121. 48 B ARBARA K RUG -R ICHTER , Hund und Student - eine akademische Mentalitätsgeschichte (18.-20. Jahrhundert), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), S. 77-106, hier 90. 49 SuStBA, 2° Cod S 155, Instructionen Bürgermeister. 50 J. P ERFAHL (Hg.), Wiedersehen mit Argos (Anm. 42), S. 16-18; S. T EUSCHER , Hunde am Fürstenhof (Anm. 43), S. 360-362. 51 K ARIN Z ELENY , Chloridis Epigrammata. Zwei zeitgenössische (? ) lateinische Gedichte zu Tizians Portrait Karls V. mit englischem Wasserhund, in: S YLVIA F ERINO -P AGDEN / A NDREAS B EYER (Hg.), Tizian versus Seisenegger. Die Portraits Karls V. mit Hund. Ein Holbeinstreit, Turnhout 2005, S. 163-178, hier 169; Die Chronik von Clemens Sender von den ältesten Zeiten der Stadt bis zum Jahre 1538 (Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg 4), Leipzig 1894, S. 267. 52 N ORBERT S CHINDLER , Hundekonflikte und Menschenrechte - zur Wahrnehmung politischer Willkür am Ende des Ancien Régime, in: G ERHARD A MMERER / A LFRED S T . W EISS (Hg.), Die Säkularisierung Salzburgs 1803. Voraussetzungen Ereignisse Folgen (Wissenschaft und Religion 11), Frankfurt/ Main u. a. 2005, S. 84-119, hier 109; und J UTTA H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 329 Was dem Kaiser und dem Adel recht war, das wurde den jeweiligen Untertanen billig. Auch der gemeine Mann benutzte extensiv Hunde (mit Vorliebe Jagdhunde, nicht Schoßhunde oder gar ›Straßenköter‹), um seine Stellung in der Öffentlichkeit zu dokumentieren. 53 Der Sohn des berühmten Augsburger Kattunfabrikanten Johann Heinrich von Schüle besaß 1784 gleich sechs Jagdhunde, vier Hühnerhunde und zwei Windspiele. 54 Die Tiere begleiteten ihre Herren bei öffentlichen Auftritten, beim Besuch im Wirtshaus wie im Rathaus, 55 und selbst die Studenten mochten auf die Tiere in der Universität nicht verzichten. Nicht nur die Jäger, sondern auch Wilderer legten Wert auf einen gut ausgebildeten und stattlichen Hund. Mathias Klostermayr, der berühmte Bayerische Hiasl, wurde schon in der zeitgenössischen Publizistik mit einem großen Hund dargestellt, wie es auf dem Titelkupfer seiner Biographie ausdrücklich heißt. 56 Das Interesse an dressierten Hunden, die vor entsprechendem Publikum Kunststücke aufführten, war im 18. Jahrhundert offenbar groß. Der Augsburger Bierbrauer Rudolph Lang zog in den 1730er Jahren mit zwei künstlichen Hunden drei Jahre lang durch Europa. Anschließend vermarktete er sein Wissen in Buchform. 57 Angeblich verkaufte Lang die beiden Tiere nach seiner Rückkehr nach Augsburg für 200 fl. 58 Lang, der außerdem Pferde dressierte N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier ›unehrlicher Berufe‹ in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994, S. 131. 53 Frauen und Hundehaltung galt eher als »kuriose Erscheinung«; vgl. A LINE S TEINBRE - CHER , Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: Travers. Zeitschrift für Geschichte 15/ 3 (2008), S. 45-59, hier 47. Zu dem nicht weniger spannenden Thema ›Frauen und Hunde‹ bzw. ›Kinder und Hunde‹ vgl. ferner D IES ., Die gezähmte Natur in der Wohnstube. Zur Kulturpraktik der Hundehaltung in frühneuzeitlichen Städten, in: S. R UP - PEL / D IES . (Hg.), Die Natur (Anm. 3), S. 125-141, hier 133-140; und H ELMUT B RA - CKERT / C ORA VAN K LEFFENS , Von Hunden und Menschen. Geschichte einer Lebensgemeinschaft, München 1989, S. 168-176; sowie K ATHLEEN K ETE , Verniedlichte Natur. Kinder und Haustiere in historischen Quellen, in: D. B RANTZ / C H . M AUCH (Hg.), Tierische Geschichte (Anm. 3), S. 123-140. 54 W OLFGANG Z ORN , Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648-1870. Witschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums (Veröff. SFG 1/ 6), Augsburg 1961, S. 283. 55 Vgl. hierzu auch das Bild von Pieter de Hooch, Die Ratsstube der Bürgermeister im Rathaus zu Amsterdam, um 1664/ 66, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid. 56 Leben und Ende des berüchtigten Anführers einer Wildschützenbande, Mathias Klostermayrs, oder sogenannten Bayerischen Hiesels, aus gerichtlichen Urkunden gezogen, und mit genau nach den Umständen jeder Begebenheit gezeichneten Kupfern gezieret, Augsburg u. a. 1772. 57 R UDOLPH L ANG , Kurtzverfaßte Reiß-Beschreibung, Oder oft beschuldigte aber niemals erwiesene Zauber-Kunst, so in 2 künstlichen Hunden bestunde, Augsburg 1739 [SuStBA 4° Aug 897]. 58 R. L ANG , Reiß-Beschreibung (Anm. 57), S. 126. B A R BA R A R A JKAY 330 und seltene Tauben hielt, fand immerhin noch fünfzig Jahre später in Paul von Stettens ›Kunst-, Gewerb- und Handwerksgeschichte‹ Erwähnung. 59 Abb. 4: Dressierte Hunde auf Europatournee; kolorierte Zeichnung aus Rudolf Lang, Die von mir auf das h chst gebrachte Nat rliche Zauberey […], 1740. Indirekt erhöhten die Obrigkeiten den sozialen Stellenwert des Hundes, indem sie bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Recht der Hundehaltung ausschlossen. Sehr früh setzte diese Entwicklung in Nördlingen ein: Bereits ab 1541 war Almosenempfängern der Besitz eines Hundes verboten und auch die Bauern durften ihre Tiere nicht mehr in die Stadt mitbringen. 60 1555 erweiterte der Rat den Personenkreis um die Paktbürger. 61 In Memmingen finden sich entsprechende Verbote im Zusammenhang mit der Tollwutbekämpfung 1766. 62 In Frankfurt traf das Verbot 59 P AUL VON S TETTEN , Kunst-, Gewerb- und Handwerksgeschichte der Reichs-Stadt Augsburg, Zweiter Theil oder Nachtrag, Augsburg 1788, S. 177f. 60 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 21; R37F4 Nr. 23 (Ordnung vom 8.7.1541). 61 StadtA Nördlingen, R2F3 Nr. 1, 1555, Verkundung vile der hund auch der umblaufenden schwein halben. 62 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 126, 17.11.1766, fol. 140r. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 331 1786 neben den Bewohnern städtischer Stiftungen auch die Invaliden, Soldaten und Unteroffiziere. 63 Die Salzburger Hofkammer beschränkte 1792 das Recht auf Hundehaltung beim Gerichtspersonal sogar auf den Amtmann. Ein Affront, denn damit rangierten die unteren Beamten faktisch auf einer Ebene mit den Knechten. 64 Abb. 5: Hunde im öffentlichen Raum: Das erste Fürstenzimmer im Augsburger Rathaus; Kupferstich von Johann Georg Pinz nach einer Zeichnung von Salomon Kleiner (Ausschnitt). Auf der anderen Seite etablierten sich bereits in der Frühen Neuzeit einzelne Rassen als Luxushunde. Pudel und Mops waren teuer in der Anschaffung und als Jagd-, Hüte- oder Hirtenhund nur bedingt tauglich. Nach einem Verzeichnis der an der Universität Tübingen von Akademikern gehaltenen Hunde erfreute sich besonders der Pudel großer Beliebtheit. 65 Der Modehund Pudel taucht auch in Augsburger Quellen auf. In der Faschingszeit des Jahres 1759 konnten die Bewohner der Reichsstadt viele Schlittenfahrten mit großen Fanghunden und Budel bespannt, zu 30 bis 63 A. S TEINBRECHER , Fährtensuche (Anm. 53), S. 51. 64 N. S CHINDLER , Hundekonflikte und Menschenrechte (Anm. 52), S. 95f. 65 B. K RUG -R ICHTER , Hund und Student (Anm. 48), S. 103f. B A R BA R A R A JKAY 332 vierzig Schlitten stark, bestaunen. Es handelte sich dabei um die Kinder der wohlhabenden Familien, die bei Fackelschein einen maskierten Umzug veranstalteten. 66 Abb. 6: Besucher in der Augsburger Stadtbibliothek; Kupferstich von Andreas Geyer, 1713 (Ausschnitt). Für die enge Beziehung von Herr und Hund gibt es eine Vielzahl von Beispielen. Karl V. gab um 1530 in Augsburg sogar für einen Jagdhund bei Desiderius Helmschmid einen Harnisch in Auftrag. 67 Helmschmid war einer der bekanntesten Plattner seiner Zeit und belieferte auch den Kaiser selbst mit Rüstungen. 68 Die Bestattung von Menschen und Tieren in Gärten und Parks erfreute sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit, zunächst vor allem beim protestantischen Adel. Friedrich II. schätzte diese neue Form der Erinnerungskultur sehr und ließ unter der obersten Gartenterrasse von Schloss Sanssouci eine unterirische 66 F RIEDRICH K ARL G ULLMANN , Geschichte der Stadt Augsburg seit ihrer Entstehung bis zum Jahre 1806, Bd. 5, Augsburg 1822, S. 516. 67 C HRISTIAN B EAUFORT -S PONTIN , Des Kaisers bevorzugte Kleidung. Zur Bekleidung Kaiser Karls V. in den Portraits von Tizian und Seisenegger, in: S. F ERINO -P AGDEN / A. B EYER (Hg.), Tizian versus Seisenegger (Anm. 51), S. 101-108, hier 105. 68 A NNETTE K RANZ , Reiterharnisch Kaiser Karls V. aus der ›Mühlberg-Garnitur‹, in: C. A. H OFFMANN u. a. (Hg.), Als Frieden möglich war (Anm. 11), S. 299f. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 333 Gruft einrichten, elf seiner Windhunde wurden dort begraben, und der König selbst wollte neben ihnen beigesetzt werden. 69 Hundeliebe war aber kein Privileg des Adels. So ertranken in Augsburg 1709 und 1739 zwei Hundehalter jeweils beim Versuch, ihren Vierbeinern aus der Wertach bzw. dem Wassergraben beim Jakobertor zu helfen. 70 Suchanzeigen verschwundener Tiere in den Zeitungen können ebenfalls als Beleg großer Zuneigung gewertet werden. 71 Hunde bevölkerten häufig aber auch ohne Begleitung ihrer Herren die Straßen. In der ›Ökonomisch-Technologischen Enzyklopädie‹ des Johann Georg Krünitz heißt es dazu: Man kann auch eben nicht jedem auflegen, seine Hunde selbst zu füttern, die er nur deswegen herum laufen lässet, weil er sie nicht selbst füttern will oder kann. 72 Das Straßenbild dürften also weniger die Rassehunde geprägt haben, die meist ausgestattet mit kostbaren Halsbändern einen hohen materiellen Wert darstellten und entsprechend sorgfältig gehalten wurden. 3. Obrigkeitliche Maßnahmen gegen streunende Hunde Nach dem Willen der Memminger Obrigkeit sollten seit 1679 Waisenknaben unter der Kirchentüre stehen und die Hunde forttreiben, damit ihr Bellen nicht den Gottesdienst störe. 73 Bereits 1612 wurde in Danzig eigens ein Hundepeitscher ernannt, um die Marienkirche hundefrei zu halten. 74 Andernorts trugen diese Aufseher die Bezeichnung Hundevogt oder Chasse-chien. Der Abt des Fürststifts Kempten machte im Dekret von 1693 keine Aussage zur Durchführung der neuen Vorschrift. Er beschränkte sich auf eine Strafandrohung von zwanzig Reichstalern. 75 Sein Mesner jedenfalls bekam keine zusätzliche Aufgabe, denn in den Amtspflichten des Jacob Moser aus dem Jahr 1707 findet sich nur ein ganz allgemeiner Absatz zur Sauberkeit in der Kirche. 76 69 S ASCHA W INTER , »Könnt’ man mit Tieren Freundschaft haben, so läge hier mein Freund«. Grab- und Denkmäler für Tiere in Gärten und Parks des 18. Jahrhunderts, in: Traverse 15/ 3 (2008), S. 29-43, hier 36. 70 A LBERT H AEMMERLE , »Aus der guten alten Zeit«. Eine Augsburger Malheur- und Malefiz-Chronik von 1690 bis 1733, in: Vierteljahresschrift zu Kunst und Geschichte Augsburgs 4 (1947/ 48), S. 37-107, hier 59, 93. 71 A. S TEINBRECHER , Die gezähmte Natur in der Wohnstube (Anm. 53), S. 127. 72 J OHANN G EORG K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft 26, Brünn 1789, Sp. 396f. 73 P HILIPP J AKOB K ARRER , Memminger Kronik. Oder Topographie und Geschichte der kurpfalzbayerischen Stadt Memmingen, Memmingen 1805, S. 81. 74 V. I SAIASZ , Der Kirchenbau des Luthertums (Anm. 37), S. 224. 75 StA Augsburg, Fürststift Kempten, Archiv Akten 2700. 76 StA Augsburg, Fürststift Kempten, Archiv Akten 931. B A R BA R A R A JKAY 334 Als die evangelischen Ratsherren der Reichsstadt Kempten 1730 zur großen Vertreibung der Hunde aus der Kirche ansetzten, delegierten sie diese Aufgabe an einige der städtischen Bediensteten. Zwei Salzlader, zwei Knechte des Güterstadels sowie der Salzmesser, der Bettelvogt und der Oeschey 77 sollten unter der Kirchentüre stehen und mit Peitschen die Hunde von der Kirche abtreiben. Auch der Mesner wurde miteinbezogen, er sollte von nun an stets eine Peitsche bei sich tragen. 78 Doch die Genannten zeigten offenbar wenig Diensteifer, denn in den Ratsprotokollen 1738 heißt es, die Befragten hätten die große Kälte zur Entschuldigung angeführt. 79 Im April 1739 forderten sie vom Amtsbürgermeister schließlich die gänzliche Entbindung von dieser Aufgabe, diesmal ohne weitere Argumente. 80 Der wirkliche Grund dürfte weniger bei den eisigen Temperaturen des Allgäus zu finden sein als im schlechten Ansehen der Tätigkeit selbst. In Adelungs Wörterbuch der hochdeutschen Mundart wird der Hundsvogt als geringer Aufseher über die Hunde, besonders sie während des Gottesdienstes aus den Kirchen abzuhalten; mit einem anständigen Ausdrucke der Kirchenknecht beschrieben. 81 Aus der Sicht eines Bürgers war allerdings nicht die Bezeichnung des Akteurs das Problem, sondern dessen prinzipiell unanständige bzw. unehrenhafte Handlung. Unehrlichkeit betraf zum einen Berufe, die im Zusammenhang mit dem Strafvollzug standen, zum anderen Tätigkeiten aus dem Spektrum der gesundheitspolizeilichen Hygienemaßnahmen wie etwa die ›Nachtarbeiter‹. 82 Regionale Unterschiede lassen sich zwar auch bei der Zuschreibung der Unehrlichkeit feststellen, doch der gemeinsame Nenner blieb stets der peinliche Strafvollzug. 83 Jenseits von Kirche und Kirchhof, auf den Straßen und Plätzen, fiel das Einfangen bzw. Töten der Hunde seit alters entweder in den Zuständigkeitsbereich des Scharfrichters oder des Abdeckers. In kleineren Herrschaften und Städten wurden diese beiden Aufgaben häufig in Personalunion vergeben. 84 Deren Motivation speiste sich aus 77 Oeschey (Eschai): eigentlich Bezeichnung für Flurhüter; vgl. K ATHY S TUART , Unehrliche Berufe. Status und Stigma in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Veröff. SFG 1/ 36), Augsburg 2008, S. 149 Anm. 58; und H ERMANN F ISCHER / W ILHELM P FLEIDERER , Schwäbisches Wörterbuch, 6 Bde., Tübingen 1904-1936, hier Bd. 2, Sp. 866f. 78 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 52 (1729-1732), fol. 208, 249. 79 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 55 (1738-1741), fol. 108-111. 80 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 55 (1738-1741), fol. 149. 81 J OHANN C HRISTOPH A DELUNG , Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart 2, Wien 1811, Sp. 1326. 82 J UTTA N OWOSADTKO , Die Ehre, die Unehre und das Staatsinteresse. Konzepte und Funktionen von »Unehrlichkeit« im historischen Wandel am Beispiel des Kurfürstentums Bayern, in: GWU 44 (1993), S. 362-381, hier 366. 83 J. N OWOSADTKO , Die Ehre, die Unehre und das Staatsinteresse (Anm. 82), S. 373. 84 In Schwaben war das Amt des Scharfrichters und Wasenmeisters bis auf Augsburg in einer Person vereint; vgl. J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 125. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 335 materiellen Gründen, viele Obrigkeiten zahlten Prämien für jeden erschlagenen Hund. 85 Der Verkauf der Häute - Hundehäute wurden gerne zur Herstellung von Handschuhen und Geldbeuteln genutzt - bzw. des vom Scharfrichter hergestellten Hundeschmalzes an Kranke wie Apotheker war eine wichtige Einnahmequelle. 86 Sie wurde im 18. Jahrhundert umso bedeutender, als andere lukrative Tätigkeitsfelder wegbrachen: Der Aufklärung verbundene Juristen sorgten für eine Reduzierung der Anwendung der Folter. Die Ärzte erhoben für ihre anatomischen Studien Anspruch auf die Leichen der Hingerichteten. In Augsburg musste der Scharfrichter seit 1742 die Leichen im Hospital abgeben. 87 Folglich konnte er auch keine Heilpräparate mehr aus den Leichenteilen gewinnen - begehrt war vor allem das ›Armesünderfett‹; Herstellung und Vertrieb gingen nach dem Willen des Rats in die Hände der Ärzte über. 88 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die Scharfrichter ihrerseits aktiv um die Erlaubnis zum ›Hundschlag‹ nachsuchten. 89 Der Memminger Scharfrichter Mayer wandte sich in dieser Angelegenheit im März 1731 an den Rat mit der Begründung, schon seit zwei Jahren seien keine Hunde mehr geschlagen worden. 90 Die Obrigkeit wiederum sah im Scharfrichter den einzig verlässlichen und seit Jahrhunderten institutionalisierten Partner, um effektiv gegen uneinsichtige Hundehalter vorzugehen. 1730 drohte der Memminger Rat, die gefürchteten Bärenbeißerhunde vom Scharfrichter direkt beim Besitzer abholen zu lassen. 91 In Kempten sollte er 1783 ein Verzeichnis der Hundehalter erstellen und die Besitzer frei laufender Hunde verwarnen. 92 Ent- 85 F RANZ I RSIGLER / A RNOLD L ASSOTTA , Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Randgruppen und Außenseiter in Köln 1300-1600 (Aus der Kölner Stadtgeschichte), Köln 1984, S. 272f. 86 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 143-148. 87 K. S TUART , Unehrliche Berufe (Anm. 77), S. 173. 88 K ATHY S TUART , Des Scharfrichters heilende Hand - Medizin und Ehre in der Frühen Neuzeit, in: S IBYLLE B ACKMANN u. a. (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8), Berlin 1998, S. 316-347, hier 325f. 89 Zum sinkenden Einkommen der Scharfrichter im 18. Jahrhundert vgl. J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 363. Vielerorts gab es auch regelmäßige Termine für den Hundschlag; vgl. D ORIS H UGGEL , Abdecker und Nachrichter in Luzern, fünfzehntes bis neunzehntes Jahrhundert, in: J ÜRG M ANSER u. a., Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (16.-19. Jahrhundert). Archäologische und historische Untersuchungen zur Geschichte von Strafrechtspflege und Tierhaltung in Luzern 2 (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 19), Basel 1992, S. 193-221, hier 209. 90 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 91, 2.3.1731, fol. 32r. 91 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 90, 24.7.1730, fol. 117. 92 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 72 (1781-1783), fol. 652. B A R BA R A R A JKAY 336 sprechende Verordnungen finden sich in vielen anderen Städten und Herrschaften. 93 Aus der Sicht der Stadtväter war die Einbindung des Scharfrichters ebenso naheliegend wie praktisch, denn mit den ständischen Ehrvorstellungen ließ sich effizient Sozialdisziplinierung betreiben. 94 Weite Kreise der Bevölkerung, allen voran die Handwerkerschaft, empfanden jedoch allein dessen Auftreten in der Öffentlichkeit als eine Zumutung. Der Henker verkörperte zusammen mit dem Abdecker auch noch im 18. Jahrhundert die höchste Stufe der Unehrlichkeit und befand sich sozial wie topographisch außerhalb der Gesellschaft. 95 Selbst die Ausübung von Tätigkeiten, die in Verbindung mit den gerichtlichen Funktionen standen, z. B. das Anlegen von Handfesseln, konnte eine bürgerliche Existenz vernichten - so geschehen 1660 in Augsburg im Falle eines Gerichtsdieners. 96 Einzig Kontakte in Verbindung mit seiner Rolle als anerkanntem Heilkundigen für Menschen und Tiere sowie rein wirtschaftliche Beziehungen wie der Handel mit Häuten hatten keinerlei soziale Konsequenzen für die Einwohner. 97 In diesem Zusammenhang ist die Weigerung der städtischen Kemptener Bediensteten, gesetzliche Maßnahmen auszuführen, die außerhalb des Kirchhofs allein dem Scharfrichter vorbehalten waren, gut nachzuvollziehen. Die Ratsherren in Kempten waren sich des sensiblen Themas wohl bewusst, wie viele andere Obrigkeiten bestimmten sie ausdrücklich Peitschen, um die Hunde zu vertreiben. So konnte die befohlene Aktion schon visuell deutlich vom Hundschlag der Henker und Abdecker, die in der Regel mit Prügeln vorgingen, unterschieden werden. Bedrohlich wäre die Situation allerdings dann geworden, wenn ein Hund dabei zu Tode gekommen wäre. Für jeden Handwerker bedeutete der Vorwurf des Totschlags an einem Hund nicht nur einen Frontalangriff auf seine berufliche Existenz, sondern gefährdete auch eine standesgemäße Ausbildung und Partnerwahl seiner Kinder. 98 In Memmingen trugen die Ratsherren ebenfalls der Problematik Rechnung, indem sie Waisenkinder zur Abwehr der Hunde vor der Kirche 93 In Frankfurt mussten die Hundehalter ab 1786 beim Wasenmeister ein Zeichen kaufen, das am Halsband des Tieres zu befestigen war; vgl. A. S TEINBRECHER , Fährtensuche (Anm. 53), S. 52. 94 J. N OWOSADTKO , Die Ehre, die Unehre und das Staatsinteresse (Anm. 82), S. 378. 95 B ARBARA R AJKAY , Verflechtung und Entflechtung. Sozialer Wandel in einer bikonfessionellen Stadt. Oettingen 1560-1806 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 25), Augsburg 1999, S. 112-115. 96 K. S TUART , Unehrliche Berufe (Anm. 77), S. 148. 97 K. S TUART , Des Scharfrichters heilende Hand (Anm. 88), S. 329-336. 98 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 297; und M ICHAELA L AICHMANN , Hunde in Wien. Geschichte des Tieres in der Großstadt (Wiener Geschichtsblätter Beih. 1), Wien 1998, S. 11f. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 337 schickten bzw. die Nachtwächter und Stadtsoldaten 1766 nur zur Anzeige großer Hunde verpflichteten, nicht aber zum Einfangen oder gar Töten. 99 In den Augen der Obrigkeit bedrohten die vielen Hunde die Gesundheit der Bevölkerung, sei es als Auslöser von Unfällen im Zusammenhang mit scheuenden Pferden, sei es durch die Bisse tollwütiger Tiere. Mancherorts wurden sie sogar für die Verbreitung der Pest verantwortlich gemacht. 100 In jedem Fall konkurrierten Hunde um die stets knappen Nahrungsmittel. Jenseits der großen Abdeckerbetriebe, die für die Ernährung der landesherrlichen Jagdhundebestände zuständig waren, bekamen Hunde vor allem Getreideprodukte, meist aus Kleie und Roggenmehl, das sogenannte Hundebrot. 101 Problematisch war ferner die Neugier und Spürfreude der Tiere. Nicht selten störten sie sogar die Totenruhe, vor allem wenn die Totengräber das Grab nicht tief genug ausgehoben hatten. 102 Versuche, durch Leinenzwang und Maulkorbpflicht die Gefahren zu mindern, zeigten bestenfalls kurzzeitig Erfolg. Einzig die Hunde der Metzger waren von den Restriktionen zumindest bis ins 18. Jahrhundert im geringeren Maße betroffen. Schließlich waren die Metzger auch für den Herdentrieb verantwortlich und brauchten ihre Hunde zur Unterstützung dieser Aufgabe. 103 4. Schweine auf den Gassen Tierhaltung war in den Städten der Frühen Neuzeit kein Auslaufmodell der mittelalterlichen Lebensweise, sondern gehörte weiterhin zur Stadt wie zum Dorf und folgte den allgemeinen wirtschaftlichen Konjunkturen. 104 In Memmingen half etwa 99 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 126, fol. 150. 100 E LKE S CHLENKRICH , Hygiene in oberdeutschen und schlesischen Städten unter den Bedingungen von Pestgefahr und Pest im späten 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), S. 55-73, hier 66f. 101 H. K AISER , Hundeleben (Anm. 45), S. 43. 102 E. S CHLENKRICH , Hygiene (Anm. 100), S. 66; sowie S ILKE L INDEMANN , Jüdisches Leben in Celle. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Emanzipationsgesetzgebung 1848 (Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 30), Bielefeld 2004, S. 87. 103 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 21; R37F4 Nr. 23 (Ordnung vom 8.7.1541). Metzger durften in Nördlingen zwei Hunde abgabenfrei halten. Im 18. Jahrhundert sahen sich auch die Metzger zunehmenden Restriktionen bei ihrer Hundehaltung ausgesetzt; vgl. A. S TEIN - BRECHER , Fährtensuche (Anm. 53), S. 50f. 104 G ERHARD F OUQUET , »Annäherungen«: Große Städte Kleine Häuser. Wohnen und Lebensformen der Menschen im ausgehenden Mittelalter (ca. 1470-1600), in: U LF D IRL - MEIER (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 2: 500-1800. Hausen, Wohnen, Residieren, Stuttgart 1998, S. 347-502, hier 362f.; und J ENS F RIEDHOFF , »Magnificience« und »Utilite«. Bauen und Wohnen 1600-1800, in: Ebd., S. 503-788, hier 565; U LF D IRLMEIER , Die kom- B A R BA R A R A JKAY 338 im ausgehenden 18. Jahrhundert die Ausweitung der Schafzucht dem überbesetzten Nahrungsmittelhandwerk aus der Krise. 105 Daher prägten nicht nur freilaufende Hunde, sondern auch freilaufende Schweine das Straßenbild in der Frühen Neuzeit. Beide Tierarten ernährten sich von gefundenem Fressen im wortwörtlichen Sinn. Die Größe der Stadt spielte dabei keine Rolle, Schweine streunten durch Hamburg und Frankfurt, Dresden, Augsburg und Nördlingen. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Eigenversorgung der Städte mit Fleisch und zählen zu den erfolgreichen Exportartikeln Europas in die Neue Welt. 106 Im Gegensatz zu den Hunden setzten hier Züchtungsbestrebungen erst im ausgehenden 18. Jahrhundert ein. Die Hausschweine waren deutlich kleiner als die Wildschweine. 107 Die Abbildung bei Albrecht Dürers Kupferstich ›Der verlorene Sohn‹ gibt einen sehr wirklichkeitsnahen Eindruck vom Aussehen dieser mittelalterlichen Hausschweine. 108 Bürger hatten in der Regel das Recht, eine bestimmte Anzahl von Mastschweinen zu halten, in Augsburg waren es z. B. laut einer Verordnung von 1609 zwei Tiere. 109 Bäcker und Müller, Metzger und Bierbrauer betrieben darüber hinaus Schweinezucht im großen Stil, dadurch konnten sie die anfallenden Lebensmittelabfälle sinnvoll weiterverwerten. Hamburg war in der Frühen Neuzeit nicht nur berühmt als die Stadt der Bierbrauer, sondern auch berüchtigt wegen der vielen Schweine. 110 Im Jahr 1567 erließ der Hamburger Rat ein generelles Verbot der Schweinehaltung in der Stadt, das sich jedoch nicht durchsetzen ließ. 111 munalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter, in: J. S YDOW (Hg.), Städtische Versorgung (Anm. 22), S. 113-150, hier 146f. 105 R ITA H UBER -S PERL , Reichsstädtisches Wirtschaftsleben zwischen Tradition und Wandel, in: J OACHIM J AHN (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 680-782, hier 711. 106 K. T HOMAS , Man and the natural world (Anm. 17), S. 25. 107 R. J OHANNA R EGNATH , Art. Schweine, in: F RIEDRICH J AEGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 11, Stuttgart-Weimar 2010, Sp. 980f. 108 G UNTHER H IRSCHFELDER , Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/ New York 2005, S. 140; und A LBRECHT D ÜRER , Kunststück Natur. Tier- und Pflanzenstudien. Mit einer Einleitung von V ICTORIA S ALLEY , München 2003, S. 78; sowie N ORBERT B ENECKE , Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung, Stuttgart 1994, S. 259. 109 B ERND R OECK , Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 31), Sigmaringen 1987, S. 47. 110 M ARIE -E LISABETH H ILGER , Umweltprobleme als Alltagserfahrung in der frühneuzeitlichen Stadt? Überlegungen anhand des Beispiels der Stadt Hamburg, in: Die alte Stadt 11 (1984), S. 112-138, hier 126f. 111 N ICOLE L ANGE , »Policey« und Umwelt in der Frühen Neuzeit. Unweltpolitik in Hamburg als Sozialdisziplinierung, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 76 (1990), S. 13-40, hier 31f. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 339 Abb. 7: Hausschweine im Mittelalter; Kupferstich ›Der verlorene Sohn‹ von Albrecht Dürer, 1496. B A R BA R A R A JKAY 340 Mit einem sehr ausführlichen und detaillierten Edikt hatte Franz I. von Frankreich bereits im November 1539 versucht, Paris auf Dauer von allem Unrat zu befreien. Sowohl die Handwerker der Lebensmittelbranche als auch alle übrigen Einwohner sollten zukünftig weder Schweine noch Vögel oder Kaninchen in der Stadt halten dürfen. Der König sorgte sich dabei allerdings weniger um die Gesundheit der vielen Pariser Einwohner als vielmehr um die Wertschätzung der Stadt durch die Vertreter der oberen Stände. Denn Kot und Schlamm auf den Straßen behindere das Fortkommen der Reiter und Kutschen, wie in der Einleitung des Erlasses zur Begründung angeführt wird. 112 Ähnlich wie Franz I. äußerten sich auch die die Nürnberger Ratsherren, die das Missfallen der Fürsten und anderer Gäste gegen die öffentliche Schweinehaltung als Argument vorbrachten. 113 Die Unvereinbarkeit von Schmutz und Herrschaft blieb bestehen. Noch 1770 erging anlässlich der Brautfahrt der Marie Antoinette in Freiburg ein Verbot, während der Anwesenheit des erzherzoglichen Gefolges Kühe und Schweine auf die Weide zu führen. 114 Neben der Tierhaltung führte aber auch der Handel mit Tieren zur Verschmutzung und Beschädigung der Straßen. Aus diesem Grund verlagerte der Augsburger Rat den Schweinemarkt 1559 vor das Vogeltor. 115 Kempten verlegte 1626 den Rossmarkt in die Vorstadt. 116 Wie die Hunde so richteten Schweine bei ihren Streifzügen ebenfalls großen Schaden an. Bereits 1529 gebot der Nördlinger Rat an den Markttagen deshalb die Stallhaltung der Tiere. Außerdem sollte insgesamt die Anzahl der in der Stadt gehaltenen Schweine reduziert werden. 117 Ab 1502 durften beispielsweise die Antoniter nur noch sechs Schweine auf die Gassen lassen und jeder Metzger nur noch zwei Hunde abgabenfrei halten. 118 112 D OMINIQUE L APORTRE , Eine gelehrte Geschichte der Scheiße, Frankfurt/ Main 1991, S. 8-12. 113 J OSEPH B AADER (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, Stuttgart 1861, S. 281. 114 C ARMEN Z IWES , Die Brautfahrt der Marie Antoinette 1770. Festlichkeiten, Zeremoniell und ständische Rahmenbedingungen am Beispiel der Station Freiburg, in: K LAUS G ERTEIS (Hg.), Zum Wandel von Zeremoniell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung (Aufklärung 6/ 2), Hamburg 1992, S. 47-68, hier 60. 115 P AUL VON S TETTEN , Geschichte Der des Heil. Röm. Reichs Freyen Stadt Augspurg 1, Frankfurt 1743, S. 536. 116 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 12 (1622-1627), fol. 471 (Ordnung vom 18.5.1626). 117 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 20; R37F4 Nr. 17 (Ordnung vom 5.2.1529), Nr. 23 (Ordnung vom 11.6.1521). 118 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 20, Anthoniers halben; R2F2 Nr. 20, Gepott der hund halben. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 341 Abb. 8: Herdentrieb durch die Augsburger Bäckergasse; Kupferstich von Simon Grimm, 1683 (Ausschnitt). Der Augsburger Rat begann 1478 mit der Einschränkung der Schweinemast der Müller. Die Tiere durften nicht mehr verkauft werden, sondern sollten nur noch für den Eigenbedarf gemästet werden. Um die unterschiedliche Haushaltsgröße der einzelnen Mühlen zu berücksichtigen, wurde 1553 die Anzahl der Mühlräder bestimmend für die Anzahl der Schweine. 119 Die Memminger Bürger mussten sich ab 1598 mit vier Schweinen auf der Weide begnügen. 120 Schweine ernährten sich nicht nur von Abfällen, sie produzierten auch reichlich Mist. Vor der Erfindung des Kunstdüngers war dieser Mist ein gefragtes Gut. Im Jahr 1491 erließen die Nördlinger Stadtväter sogar ein Ausfuhrverbot, der städtische Mist durfte nur noch auf dem Nördlinger Etter als Dung verwendet werden. 121 Auch die Bauern der Nördlingen umgebenden Grafschaft Oettingen 119 C LAUS -P ETER C LASEN , Die Augsburger Getreidemühlen 1500-1800 (Veröff. SFG 1/ 27), Augsburg 2000, S. 464-466. 120 StadtA Memmingen, Verkündzettel, 1574-1601, Bd. 13, Verordnung vom 24.8.1598. 121 K ARL O. M ÜLLER (Bearb.), Nördlinger Stadtrechte des Mittelalters (Bayerische Rechtsquellen 2), München 1933, S. 239. B A R BA R A R A JKAY 342 durften Mist an Fremde nur mit Wissen der Gemeinde weitergeben. 122 Ähnliche Regelungen finden sich in Köln oder Zürich. 123 Probleme ergaben sich vor allem bei der Frage der Lagerung des Mistes, denn die Düngung der Äcker konnte nur zu bestimmten Zeiten erfolgen. Nürnberg versuchte dieses Problem durch verordnete Miststätten zu lösen. 124 Wer in Kempten den Dung auf der Straße lagern wollte, brauchte dazu eine besondere Gerechtigkeit. 125 In Zeiten ›sterbender Leuff‹ kehrte sich die Wertschätzung der Dunghäufen rasch ins Gegenteil um. Spätestens seit dem berühmten Gutachten der Pariser medizinischen Fakultät vom Sommer 1348 galt das Einatmen übel riechender Ausdünstungen als eine der Ursachen für die Ausbreitung der Pest. 126 Allmählich etablierte sich im Umgang mit ansteckenden Krankheiten überregional ein Katalog von Sofortmaßnahmen. Beim ersten Verdacht einer drohenden Seuche befahl man die Reinigung der Straßen und Plätze kombiniert mit der Aufforderung, alle Misthäufen zu entfernen bzw. keine neuen mehr anzulegen. 127 Für Schweine galt in solchen Zeiten strikte Stallpflicht, so auch in Nördlingen 1562 und in Memmingen 1564. 128 Manche Städte gingen noch einen Schritt weiter. Breslau verbot während einer Seuche im Jahr 1680 ganz die Haltung unsauberen Viehs. 129 In der Umsetzung stieß gesundheitspolitisches Wunschdenken allerdings schnell an die Grenzen von ökonomischen Zwängen und Lebensgewohnheiten. Schweine entliefen häufig beim Misten der Ställe. 130 Die Anlage von Misthäufen auf Straßen und Plätzen geschah auch durch die Vertreter der Obrigkeit selbst. Dies wird aus einer detaillierten ›Specification aller Mist- und Schutthäufen‹ in Dresden 1680 ersichtlich. Sogar ein Mitglied der Dresdner Gesundheitsdeputation sowie ein Apotheker befanden sich darunter. 131 Nicht nur im Seuchenfall sahen sich die Obrigkeiten vor dem Dilemma, gleichzeitig für ausreichend Ernährung und Hygiene zu sorgen. 132 122 R OLF K IESSLING / B ERNHARD B RENNER (Hg.), Die ländlichen Rechtsquellen aus der Grafschaft Oettingen (Veröff. SFG 5b/ 2), Augsburg 2005, S. 181 Artikel 56. 123 Vgl. B RITTA P ADBERG , Die Oase aus Stein. Humanökologische Aspekte des Lebens in mittelalterlichen Städten, Berlin 1996, S. 84. 124 W. L EHNERT , Entsorgungsprobleme der Reichsstadt Nürnberg (Anm. 22), S. 154. 125 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 23 (1673-1677), fol. 171. 126 G UNDOLF K EIL , Seuchenzüge des Mittelalters, in: B ERND H ERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 2 1986, S. 109-128, hier 116. 127 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 11 (1619-1622), fol. 247. 128 StadtA Nördlingen, R2F3 Nr. 1; R39F2 Nr. 6, Ordnung in Zeit sterbender leuff, 20.11.1562; und StadtA Memmingen, Verkündzettel 12, Verordnung vom 5.11.1564. 129 E. S CHLENKRICH , Hygiene (Anm. 100), S. 58 Anm. 11. 130 S IGRID S CHIEBER , Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Wetzlar. Herrschaftspraxis zwischen Rat, Bürgerschaft und Reichskammergericht, Frankfurt/ Main 2008, S. 328. 131 E. S CHLENKRICH , Hygiene (Anm. 100), S. 59. 132 J. F RIEDHOFF , Bauen und Wohnen (Anm. 104), S. 565. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 343 5. Sauberes Wasser und Wasser zum Säubern Vormoderne Städte verdankten ihre Existenz und ihr Wachstum der Ressource Wasser, es galt als das »eigentliche Kapital«. 133 Wasserqualität und Tierhaltung hingen auf das Engste zusammen. Letztere bescherte den Städten nicht nur üble Gerüche, Ausdünstungen und schmutzige Kleider, sondern beeinträchtigte auch die Wasserqualität. Vor allem Sickerwasser aus Kloaken und Dunghaufen gefährdete die Qualität der Trinkwasserbrunnen. 134 In Nördlingen zieht sich der Kampf um sauberes Wasser der Eger wie ein roter Faden durch die Policeygesetzgebung. Mit dieser Begründung wurde bereits 1505 die Zahl der Bäckerschweine reduziert und 1513 die Schwemme der Tiere verlegt. Fäkalien, Haushalts- und Gewerbemüll durften ab 1556 nicht mehr in die Eger geworfen werden. 135 Auf der anderen Seite sahen vielerorts die Stadtväter in fließenden Gewässern eine bequeme Methode, sich von Problemmüll zu trennen. So musste die Milch kranker Kühe nach einem Beschluss des Kemptener Rates 1732 im Beisein der Schauer gemolken und dann in fließendes Wasser geschüttet werden. 136 Beim Neubau der Stadtmetzg 1606- 1609 in Augsburg führte Elias Holl den Lechkanal offen unter dem Gebäude hindurch. Damit löste er die Probleme Abfallbeseitigung und Kühlung der leicht verderblichen Fleisch- und Wurstwaren mit einem Streich. 137 Fäkalien, die nicht als Dünger in die stadtnahen Felder eingetragen wurden, landeten in aller Regel in den Flüssen. Deren Selbstreinigungskraft reichte, mit Ausnahme der Themse bei London, in der Frühen Neuzeit noch aus. 138 Innerhalb der Gruppe menschlicher und tierischer Fäkalien wurde der Schweinemist von vielen städtischen Obrigkeiten wohl nicht zuletzt aufgrund seines intensiven Geruchs negativ bewertet und daher gesondert behandelt. Der Nürnberger Schweinemist sollte schon im 15. Jahrhundert in der Pegnitz entsorgt werden, die Fäkalien, die in der Stadt während des Triebs der Schweine zur Wässerung anfielen, in einem Gefäß eingesammelt und ebenfalls dorthin gebracht werden. 139 Den Bäckern von Ochsenfurt, die noch 1774 uneingeschränkt Schweinemast betreiben durften, 133 B. P ADBERG , Oase aus Stein (Anm. 123), S. 50. 134 T ANJA Z WINGELBERG , Die Wasserkunst in Wismar. Beispiel einer städtischen Frischwasserversorgung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, in: B ERND H ERRMANN / C HRISTINE D AHLKE (Hg.), Schauplätze der Umweltgeschichte. Werkstattbericht. Graduiertenkolleg 1024: Interdisziplinäre Umweltgeschichte, Göttingen 2008, S. 195-202, hier 200. 135 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 20, Gebot der Schwein halben, 11.7.1505; R2F3 Nr. 1, Verkundung der Eger, 11.9.1556; sowie K. O. M ÜLLER (Bearb.), Stadtrechte (Anm. 121), S. 272. 136 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 53 (1732-1734), fol. 31. 137 B ERND R OECK , Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt, Regensburg 1985, S. 110. 138 B. P ADBERG , Oase aus Stein (Anm. 123), S. 90. 139 J. B AADER (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen (Anm. 113), S. 281. B A R BA R A R A JKAY 344 wurde befohlen, den Mist ohne Zwischenlagerung in der Stadt hinaus im Mayn tragen lassen. 140 Der Mist der Augsburger Schweine sollte nach den Vorgaben des Rats in den Lech geworfen werden. 141 Das Entsorgungsproblem im Zusammenhang mit Fäkalien und Kadavern zählt zu den frühesten Themen im Zusammenhang mit städtischer Unweltgeschichte. 142 Verantwortlich für die Kadaver war stets der Wasenmeister bzw. Scharfrichter. Er verdiente dabei doppelt: Der Besitzer bezahlte eine Gebühr und der Erlös aus dem Verkauf der Haut gehörte ebenfalls dem Abdecker. Für die Stadt Siegen kennt man auch Zahlen: in den Jahren 1552/ 53 beseitigte der Abdecker dort 141 Tierkadaver, 1563/ 64 waren es schon 339. 143 Meist war den Wasenmeistern das Vergraben des enthäuteten (abgedeckten) Viehs von den Obrigkeiten vorgeschrieben. In München dagegen sollten die Abdecker die Tierkörper in einen Bach neben der Bleichwiese werfen. 144 Die Reste der enthäuteten Hunde wurden mancherorts auch verbrannt. 145 Die Einwohner scheuten jedoch oft die Kosten für den Abdecker und ließen die verendeten Tiere lieber in Bächen und Flüssen verschwinden. 146 6. Das Prinzip der Differenzierung beim Umgang mit Tieren Während der Frühen Neuzeit erfasste ein fundamentaler Differenzierungsprozess alle Bereiche und Lebensformen der Gesellschaft. Er bedeutete im religiösen Bereich Konfessionalisierung und in der Wirtschaft Spezialisierung. Er trennte den öffentlichen Raum in sakrale und profane Zonen, den privaten Raum in funktionale Einheiten und die Lebenden von den Toten. Er unterschied Familienmitglieder von Haushaltsangehörigen, Beamte von Höflingen, Werktage von Sonn- und Feiertagen und Arbeitzeit von Freizeit. Auch der Umgang mit Tieren lässt sich als Teil dieses Prozesses beschreiben. Hier zeigt sich die wachsende Komplexität der städtischen wie der ständischen Ordnung. Öffentlicher Raum stand nur begrenzt zur Verfügung, erfüllte unterschiedlichste Funktionen und war häufig noch mit 140 W OLFGANG W ÜST , Die »gute« Policey im Reichskreis, Bd. 2: Die »gute« Policey im Fränkischen Reichskreis, Berlin 2003, S. 334. 141 B. R OECK , Getreide (Anm. 109), S. 47. 142 V ERENA W INIWARTER / M ARTIN K NOLL , Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 188f. 143 A NDREAS B INGENER , Sauberkeit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Siegen, in: Siegerland 73 (1996), S. 71-86, hier 84. 144 J. N OWOSADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 144. 145 H ANS R. S TAMPFLI , Die Tierreste von Wasenplatz und Richtstätte, in: J. M ANSER u. a., Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (Anm. 89), S. 157-177, hier 173. 146 Diese Beschwerde führte auch 1775 der Augsburger Wasenmeister; vgl. J. N OWO - SADTKO , Scharfrichter und Abdecker (Anm. 52), S. 142. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 345 tradierten Rechtsansprüchen verknüpft. Die Gesellschaft des Ancien Régime war stets knapp an Ressourcen und daher reich an Reglementierung. Anders als heute zeigte sich das Wachstum der Städte in der Frühen Neuzeit nicht in der Anlage neuer Vorstädte, sondern vor allem durch verdichtete Bebauung und die Aufstockung bestehender Gebäude. 147 Trotz der Verknappung des Lebensraums wurde das Recht der Bürger auf ein gewisses Maß an Selbstversorgung kaum angetastet. Dadurch kam es zu einer intensiven Nutzung jeder freien Fläche, angefangen beim Kirchhof bis hin zu den Wallanlagen. Schweine, Schafe, Ziegen, Rinder und Pferde bevölkerten den öffentlichen Raum und rückten dabei immer mehr in den Fokus obrigkeitlicher Gesetzgebung. 148 Im Spagat zwischen dem wachsenden Wunsch nach Hygiene und den tradierten Rechtsansprüchen bzw. den Lebensgewohnheiten entstand ein feines Koordinatensystem der Differenzierung, definiert durch die Achsen von Raum und Zeit. Multifunktionale Räume sollten durch »Synchronisierung von Handlungen« für jeweils eine Nutzung reserviert werden. 149 Erste Vorstöße in dieser Richtung finden sich schon im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. Eine regelmäßige Müllabfuhr in Nördlingen dienstags und samstags beschränkte die Lagerung des Unrats vor den Häusern auf zwei Tage in der Woche. In der Nördlinger Messeordnung von 1468 wurde festgelegt, dass das Vieh am Tag der Fronleichnamsprozession erst am Nachmittag herausgelassen werden dürfe. Offenbar wollte man während der Pfingstmesse mit den vielen fremden Besuchern für das kirchliche Fest einen besonders würdigen Rahmen schaffen. Am Ende der langen Entwicklung stand das Dekret vom Januar 1796. Danach sollten die Schweine schließlich nur noch in der Mittagszeit zur Schwemme getrieben werden und hatten sonst nichts mehr auf den Straßen verloren. 150 Im Dezember 147 In Augsburg war die Form und Ausdehnung der Stadt bereits Ende des 14. Jahrhunderts durch den Mauerring festgelegt, erst im 19. Jahrhundert kam es zu einer Erweiterung des Stadtgebietes; vgl. J ÜRGEN Z IMMER , Die Veränderungen im Augsburger Stadtbild zwischen 1530 und 1630, in: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock, Bd. 3: Wende zur Neuzeit, Augsburg 1981, S. 25-65, hier 26. 148 Vgl. J UTTA N OWOSADTKO , Die policierte Fauna in Theorie und Praxis. Frühneuzeitliche Tierhaltung, Seuchen- und Schädlingsbekämpfung im Spiegel der Policeyvorschriften, in: K ARL H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Ius commune, Sonderhefte Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 129), Frankfurt/ Main 2000, S. 297-340. 149 K ARL H ÄRTER , Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A RNDT B RENDECKE u. a. (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 10), Berlin 2007, S. 187-232, hier 190. 150 Messordnung von 1468, in: K. O. M ÜLLER (Bearb.), Stadtrechte (Anm. 121), S. 123- 128; StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 20, Dekret vom 8.12.1503; R37F4 Nr. 23, Dekret vom 27.1.1796. B A R BA R A R A JKAY 346 1776 befahl das Augsburger Bauamt dem Führer der Roten Torhut, dass der Austrieb an Sonn- und Feiertagen früher als werktags zu geschehen habe. 151 Bei den Hunden realisierte sich die Differenzierung vor allem in einer generellen nächtlichen Ausgangssperre, in Nördlingen 1555 erstmals verkündet. Den Ratsherren war dabei durchaus klar, dass die Gefährdung der Nachtruhe nicht allein von den Hunden ausging, denn schon 1546 war das Gesinde zur Nachtzeit in die Häuser verwiesen worden und 1695 traf es auch die Söhne der Einwohnerschaft. 152 Sie bedeutete ferner im ersten Schritt die Trennung in streunende herrenlose Tiere und liebe Hunde, die mit Halsbändern und Abzeichen vor dem Hundschlag geschützt werden konnten. 153 Immer stärker rückten die Kategorien Größe und Funktion in den Blickpunkt der Policeygesetze. 154 Dienten die Hunde dem Herdentrieb oder wurden sie allein zur Plaisir gehalten, wie es in einer Augsburger Verordnung steht? 155 Die Triebhunde waren in der Regel große ausgebildete Tiere, Bären- und Bullenbeißer genannt, und galten als besonders aggressiv. Der Memminger Rat wollte sie 1766 zunächst im Kampf gegen die Tollwut ganz verbieten. Eine Missachtung des Verbots sollte mit zehn Reichstalern Bußgeld geahndet werden. Nach anhaltenden Protesten der Metzger durften die Besitzer die Tiere zwar behalten, mussten sie aber zu Hause wegsperren. Doch die an Bewegung gewöhnten Hunde reagierten auf den plötzlichen Freiheitsentzug ganz wild und fast toll. Schließlich einigte man sich auf Leinenzwang und Maulkorbpflicht außerhalb des Triebs. 156 Immer häufiger spielte auch das Geschlecht des Hundes in den Verordnungen eine Rolle. Schon 1541 sollten in Nördlingen läufige Hündinnen zu Hause weggesperrt werden. 157 Im ausgehenden 18. Jahrhundert schritten die Behörden zu immer radikaleren Lösungsversuchen, um die Anzahl der Hunde dauerhaft zu reduzieren. Im Zusammenhang mit einem Todesfall, verursacht durch Tollwut, gebot ein Memminger Dekret 1767 die Abschaffung aller Hündinnen. 158 Kempten 151 StadtA Augsburg, Bauamt VIII, Dekretebücher 135, 4.12.1776. 152 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 21, Verordnung vom 15.12.1546; R2F3 Nr. 1, Verkündigung 1555; R2F3 Nr. 8, Dekret vom 23.9.1695. 153 StadtA Nördlingen, R2F3 Nr. 7; R37F4 Nr. 23, Dekret vom 23.7.1659; und F. K. G ULL - MANN , Geschichte der Stadt Augsburg 6 (Anm. 66), S. 263. 154 Wolfgang Wippermann und Detlef Berentzen widmeten in ihrem Buch ein ganzes Kapitel der »Erfindung der ›unnützen Hunde‹ in der frühen Neuzeit«; vgl. W. W IPPERMANN / D. B ERENTZEN , Die Deutschen und ihre Hunde (Anm. 15), S. 26-43. 155 SuStBA, 2° S 14 Anschläge, Nr. 290 vom 29.8.1747. 156 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 127, 19.3.1767, fol. 30. 157 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 21; R37F4 Nr. 23, Verbot vom 8.7.1541. 158 StadtA Memmingen, Ratsprotokolle 27, 30.1.1767, fol.13r. Zum Umgang mit der Tollwut in Memmingen im 18. Jahrhundert vgl. P HILIP L. K INTNER , Vorsicht Tollwut! Mem- H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 347 legte 1783 nach und beschränkte das Recht, Hündinnen zu halten, allein auf den Scharfrichter, der wiederum aus seiner Zucht nur Rüden an die Bürger abgeben durfte. 159 1791 wurde das Verbot gelockert, gegen eine Abgabe an das Zucht- und Arbeitshaus konnte man sich auch wieder Hündinnen anschaffen. 160 Bei den Nutztieren erfolgte die Differenzierung zunächst in Form einer räumlichen Trennung. In Nördlingen sollten seit 1583 Schafe nicht mehr zusammen mit Schweinen oder Gänsen in den Ställen gehalten werden. 161 Auch auf dem Land begann man in den größeren Gemeinden bei der Hut die Schweine von den Rindern zu trennen. 162 Neben der erwähnten Stallpflicht sah man in Absperrungen aller Art ein probates Mittel, um den öffentlichen Raum dauerhaft zu ordnen. Dazu zählte die Einzäunung der Äcker und Gärten wie in Memmingen 1639 oder der Weiden wie in Kempten 1654, aber auch die Absperrung des Kemptener Kirchhofs um St. Mang mit Ketten und Schlössern 1741. 163 Kempten veröffentlichte außerdem 1689 eine ausführliche Auflistung aller Orte, wo die Schafe der Metzger und Bürger weiden durften. 164 Während der Nördlinger Rat mit immer restriktiveren Vorschriften besonders den Schweinehaltern das Leben schwer machte, waren in Kempten die Besitzer der Pferde und Schafe einer zunehmenden Reglementierung ausgesetzt. Pferde durften dort seit 1665 nicht mehr auf dem Kirchhof, seit 1681 nicht mehr auf den Gassen und seit 1742 nicht mehr in den Gräben weiden. Selbst auf die Allmende kamen sie nur noch unter Aufsicht eines eigens dafür bestellten Hirten. 165 In Augsburg trennte die Stadt schon früh die gewerbliche Schweinemast von derjenigen der Bürger. Entlang der Stadtmauer, vom Wertachbrucker Tor bis zum Roten Tor, unterhielt das Bauamt Schweineställe, die vor allem an die Bäcker verpachtet wurden. Pro Woche durften die Bäcker z. B. 1728 zwischen 11 und 15 Schweine zur Schlachtbank bringen, was doch auf eine Mast in beträchtlichem Umfang schließen lässt. 166 Während der grenzüberschreitende Schweinehandel mingen vor 250 Jahren - Eine tolle Geschichte, in: Memminger Geschichtsblätter 2008, S. 185-213. 159 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 72 (781-1783), fol. 703. 160 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 77 (1790-1791), fol. 572f. 161 StadtA Nördlingen, R2F2 Nr. 22, Schafschauer Bescheid und Ordnung vom 20.3.1583. 162 R AINER G. S CHÖLLER , Der gemeine Hirte. Viehhaltung, Weidewirtschaft und Hirtenwesen vornehmlich des nachmittelalterlichen Umlandes von Nürnberg (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 18), Nürnberg 1973, S. 133. 163 StadtA Memmingen, Verkündzettel 16, 1632-1642, Dekret vom 24.2.1639; StadtA Kempten, Ratsprotokolle 18 (1653-1658), fol. 46; 1741-1743, fol. 72f. 164 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 1688-1669, fol. 253. 165 StadtA Kempten, Ratsprotokolle 1663-1669, fol. 107; Ratsprotokolle 1667-1682, fol. 230; 1741-1743, fol. 155f. 166 SuStBA, 2° Aug 324-4, Nr. 209, Dekret vom 8.4.1728. B A R BA R A R A JKAY 348 nach Bayern ausschließlich über das Jakobertor geleitet wurde, führte der Austrieb der Schweine, Geißen und Schafe zu den Weideflächen durch die Bäckergasse und das Rote Tor. Nach der Ernte auf dem Acker vor dem Roten Tor hatte das Hornvieh wiederum das Vorrecht vor den Schafen. Eine undatierte Ordnung der Rosshirten aus dem 18. Jahrhundert zeigt, wie das Problem der Überweidung durch ständig wechselnde Aufenthalte der Herde gelöst wurde: Am Aftermontag auch bei Fridberger Brukhen zu nachts bey der Lechhütten und gegen dem Prügelholz hinauf. Am Mittwoch vormittag auf der Assamer Ställein, nachmittag bey der Küehbrukhen zu nacht bei Heinrich Mayer Seegmeister. Am Donnerstag vormittag auf dem hohen Weeg bey denen zwey Ablässen, gegen der Aun hinauf, nach mittag bey St. Servatius Siechhaus zu nachts bey dem Abdecker. Am Freitag, den ganzen Tag bey Lechhauser Brucken und hinter der Lechhüten hinauf, zu nachts bei dem Zimmerhof oder Lechhütten und gegen dem Prügelholz hinauf. 167 Ähnlich präzise Vorgaben machte man auch in der Dorfordnung von Ebermergen (Ries) dem Hirten, der für die Ochsenweide zuständig war. 168 7. Ergebnisse: Tiere in der ›Ordnung‹ der Stadt Die ständische Ordnung blieb bis zum Ende des Alten Reichs Fundament der Gesellschaft und Richtschnur der Gesetzgebung. Auf dieser Basis erfolgte die Sinnfestlegung der natürlichen Umwelt. Dies gilt auch für den Umgang mit den Hunden. Der soziale Status betraf immer Tier und Halter. 169 Der Windhund im Besitz eines Bauern stellte das Jagdprivileg der Herrschaft in Frage, der Windhund in Begleitung eines Adligen war ein Standesattribut, während der Windhund des Stadtbewohners seinen Herrn als freien Mann auswies. Als Mittel männlicher Selbstdarstellung war das Erscheinungsbild der Hunde den Moden der jeweiligen Zeit unterworfen, die Haarpracht des Mannes und des Hundes folgten bei der Rasur nationalen Vorlieben. 170 Ordnung etablierte sich in der Frühen Neuzeit als der zentrale Begriff herrschaftlichen Handelns. Die Aufsicht über den öffentlichen Raum zählte neben wirtschaftlichen Fragen zu den wichtigsten Themen der guten Policey. Reinlichkeit 167 StadtA Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv 185. 168 R. K IESSLING / B. B RENNER (Hg.), Die ländlichen Rechtsquellen (Anm. 122), S. 176. 169 J UTTA N OWOSADTKO , Zwischen Ausbeutung und Tabu. Nutztiere in der Frühen Neuzeit, in: P. M ÜNCH (Hg.), Tiere und Menschen (Anm. 1), S. 247-274, hier 248; und K. T HOMAS , Man and natural world (Anm. 17), S. 106. 170 Der englische Wasserhund wurde z. B. zur Zeit Karls V. auf dem Kontinent ganz geschoren, während er in England im Kopfbereich seine Haare behielt und so ein löwenähnliches Aussehen erzielt wurde; vgl. K. Z ELENY , Chloridis Epigrammata (Anm. 51), S. 177 Anm. 23. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 349 war der äußere Ausdruck dieser Ordnung. 171 Mit der zunehmend differenzierten Raumordnung ging die Etablierung einer abstrakten und einheitlichen Zeitordnung einher. Für die Haustiere in Stadt und Land bedeutete diese Entwicklung langfristig vor allem einen großen Verlust an Bewegungsfreiheit. 172 Die Knüppelung der bäuerlichen Hofhunde und der Leinenzwang der städtischen Hunde waren zwei Seiten einer Medaille. 173 Schweine verschwanden mit der Zeit in die Ställe und damit aus dem Straßenbild, nicht aber aus der Stadt. Die Frage, wer sich wann, wie lange und aus welchem Grund auf den Straßen und Plätzen aufhalten durfte, betraf jedoch nicht nur die Tiere, sondern auch bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche und ganz besonders die Bettler. Letztere galten nicht nur als lästig, sondern in erster Linie als unsauber und daher als potentielle Überträger von Krankheiten. 174 Ständisches Ordnungsdenken dominierte zunächst auch zentrale Bereiche der Hygienepolitik in den Städten. Im 16. und 17. Jahrhundert behinderten Unrat und Fäkalien auf den Straßen vor allem die Mobilität und Gesundheit der guten Gesellschaft. Mit der Aufklärung emanzipierte sich die Wahrnehmung von Schmutz und Dreck von der ständischen Perspektive. In Zeitschriften, Zeitungen und Büchern etablierten sich öffentliche Diskussionsforen und diese generierten einen zusätzlichen Handlungsdruck. 175 Daher führte der Biss eines Hundes, der das Pferd eines Adeligen zum Scheuen gebracht hatte, in Kempten zu ähnlich radikalen gesetzgeberischen Reaktionen wie die Bekämpfung der Tollwut in Memmingen. Die Obrigkeiten zielten mit ihren Verordnungen immer mehr auf die systematische Erfassung der Tiere mit dem Ziel, deren Zahl im öffentlichen Raum radikal zu vermindern, die Bekämpfung der Tollwut lieferte dafür lediglich ein willkommenes Argument. 176 »Abstrakte machtstaatliche Kalküle« 177 bestimmten nicht nur im Erzstift Salzburg die Frage der Hundehaltung. Tollwut löste bei den jeweiligen Ratsgremien bzw. Behörden in aller Regel eine ausgeprägte Ordnungswut aus. 171 M ANUEL F REY , Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 119), Göttingen 1997, S. 85. 172 So verbot auch z. B. die Policey = und Gerichtsordnung von Hainhofen bei Augsburg 1753 das ledig halten der Hunde; StA Augsburg, Adel, von Rehlingen, Nr. 135, Abschnitt 24. 173 Zur Knüppelung der Hunde siehe N. S CHINDLER , Hundekonflikte und Menschenrechte (Anm. 52), S. 107. 174 M. F REY , Der reinliche Bürger (Anm. 171), S. 85. 175 W OLFGANG G RIEP , Die reinliche Stadt. Über fremden und eigenen Schmutz, in: C ON - RAD W IEDEMANN (Hg.), Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion (Germanistische Symposien, Berichtsbde. 8), Stuttgart 1988, S. 135-154. 176 B. K RUG -R ICHTER , Hund und Student (Anm. 48), S. 85. 177 N. S CHINDLER , Hundekonflikte und Menschenrechte (Anm. 52), S. 110. B A R BA R A R A JKAY 350 Im Zeitalter der Aufklärung sollte die Ordnung der Gesellschaft denselben Prinzipien folgen wie die Ordnung der Natur. 178 Der Mensch erhob die Natur zur obersten Lehrmeisterin. Philosophen und Theologen, Staatsrechtler, Ökonomen und Künstler beriefen sich auf sie. Doch der Paradigmenwechsel veränderte nur die Vorzeichen, nicht den Ansatz selbst. So blieb die Vorstellung von der Natur ein Konstrukt der Menschen, sie bestimmten den Fächerkanon ihrer neuen Lehrmeisterin. 179 Ebenso wenig schützte ihre Vorbildfunktion die Natur selbst davor, als nützliches »Warenhaus« gebraucht zu werden. 180 Die Frage nach dem Nutzen war eng verknüpft mit der Frage nach dem Schaden. Die Menschen unterteilten die Tiere konsequent in Schädlinge und Nützlinge. Der Bezugspunkt war die Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen. Wer dem schädlichen Lager zugeordnet wurde, sollte möglichst schnell und systematisch ausgerottet werden. Außerdem ließ sich das Angebot des Warenhauses durchaus verbessern. Das Schwein, selbst Nahrungsmittel, wurde im 18. Jahrhundert Objekt der Tierzucht. Die Haltung der Schweine erfolgte langfristig allein nach der »Logik der modernen Verwertungsrationalität«. 181 Da der Hund nur noch über seinen Halter definiert wurde, gab es für herrenlose Tiere keinerlei Lebensberechtigung mehr, genauso wenig wie für Sperlinge, Würmer oder Schnecken. 182 Mit dem Verschwinden der Standesgrenzen im 19. Jahrhundert verbreiterte sich das Angebot im Katalog männlicher Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Der Kirchenbesuch an Sonn- und Feiertagen verlor seine herausragende Bedeutung als gesellschaftliches Ereignis. Der Kirchenraum spielte als Bühne politischer Inszenierungen und obrigkeitlicher Kommunikation keine Rolle mehr. Das Bürgerrecht lieferte nicht länger den Schlüssel zu Immobilienerwerb und Gewerbeausübung, sondern umgekehrt. In der bayerischen Gemeindeverfassung des 19. Jahrhunderts 178 M ARTIN G IERL , Das Alphabet der Natur und das Alphabet der Kultur im 18. Jahrhundert, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18 (2010), S. 1-27; und W OLFGANG E. J. W EBER , Aufklärung - Staat - Öffentliche Meinung oder: Die Räson des Räsonnements, in: S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL u. a. (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001, S. 43-68, hier 46f. 179 W. R EINHARD , Lebensformen Europas (Anm. 5), S. 401f. 180 G ÜNTHER B AYERL , Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der Frühen Neuzeit, in: S YLVIA H AHN / R EINHOLD R EITH (Hg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder Forschungsansätze Perspektiven (Querschnitte 8), Wien/ München 2001, S. 33-52. 181 K LAUS E DER , Die Vergesellschaftung der Natur: Studien zur sozialen Evolution der praktischen Vernunft, Frankfurt/ Main 1988, S. 139. 182 J. N OWOSADTKO , Policierte Fauna (Anm. 148), S. 325; und G. B AYERL , Natur als Warenhaus (Anm. 180), S. 45. H UNDE IN DER K IR C H E , S CHW EINE AUF D EN G A S S EN 351 regelte sich die politische Teilhabe des Mannes ausschließlich über seine Steuerleistung. 183 Die Steuerleistung betraf auch seinen Hund. Aufsicht und Verwaltung der Hunde wechselte von der Policey zum Fiskus und damit von den Scharfrichtern zu den Beamten. 184 Damit wurde der Hund schließlich selbst für die Städte zu einem gefundenen Fressen. 183 F RANK M ÖLLER , Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790-1880 (Stadt und Bürgertum 9), München 1998, S. 31. 184 W. W IPPERMANN / D. B ERENTZEN , Die Deutschen und ihre Hunde (Anm. 15), S. 44. 353 G ERHARD H ETZER Mensch und Tier im Schlachthaus. Über Zustände und Wandlungen im 19. Jahrhundert Die Eröffnung des neuen Schlacht- und Viehhofes der Stadt Augsburg im Oktober 1900 zog bereits im Vorfeld die Aufmerksamkeit der örtlichen Tagespresse auf sich. So wurde zum einen über die Vorschriften zur Benützung der neuen Einrichtung und die Regelung der Gebühren berichtet. Einem vorerst eher skeptischen Publikum, in dem ein Unbehagen über die künftige Höhe der Fleischpreise umging, wurde zum anderen eine Besichtigung empfohlen, um sich von der Großzügigkeit der Anlagen, deren zweckmäßige Einteilung und der Ausstattung ein Bild zu machen, nicht zuletzt von der Beleuchtung, der Wasserversorgung und den Kühlsystemen. Ein Mitarbeiter der katholisch orientierten ›Neuen Augsburger Zeitung‹ äußerte sich nach einem vorab unternommenen Rundgang etwas befremdet über einzelne kräftig-lebensnahe Sinnsprüche an den Wänden der Schlachthof- Gaststätte. So werde im Nebenzimmer die Erkenntnis vermittelt, dass alles ein Ende habe, nur die Wurst eben zwei. Im Vorraum immerhin begleite - ganz im Sinne des Tierschutzvereins - folgender Vers den Metzger auf den Arbeitsweg: Drei Dinge rühmt man am Schlächter allerwärts: die sich’re Hand, den ernsten, starken Muth und in der Brust ein mitleidsvolles Herz. 1 Im Übrigen würdigten die nun folgenden Festreden den hier greifbaren Fortschritt in hygienischer Beziehung für eine in den letzten Jahrzehnten stark gewachsene und weiter wachsende Stadt. 2 Die liberalen Zeitungen zumal huldigten den baulichen und technischen Errungenschaften und dem Beitrag der Augsburger Gewerbebetriebe zu einem Versorgungsbetrieb mit mehr ›Luft und Licht‹. Das sozialdemokratische Organ bedachte die Eröffnungsveranstaltung und den Umzug der aus Kämpfen um Verbraucherpreise und Arbeitsbedingungen als zäher Gegner bekannten Metzger-Innung mit säuerlichen Bemerkungen. In den zum Besuch freigegebenen Stallungen mochten manchen Proletarier […] bei dem Anblicke dieser modernen Viehwohnungen trübe Gedanken beschlichen haben, wenn er eine Parallele mit seiner 1 ›Neue Augsburger Zeitung‹, Nr. 228, 2.10.1900. 2 Der neue Schlacht- & Viehhof in Augsburg, eröffnet am 4. Oktober 1900 [Augsburg 1900]; F RIEDRICH S TEINHÄUSSER , Augsburg in kunstgeschichtlicher, baulicher und hygienischer Beziehung. FS den Teilnehmern an der 15. Wander-Versammlung des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine, gewidmet von der Stadt Augsburg, Augsburg 1902, S. 103-112. G ERHA RD H ET ZER 354 eigenen Behausung gezogen habe. 3 Anlieferung und Unterbringung der Tiere standen jedoch nicht im Mittelpunkt der Berichterstattung, desgleichen nicht der eigentliche Schlachtvorgang. Großen Zulauf fand allerdings eine Schlachtviehausstellung mit selbst aus dem Allgäu antransportierten Tieren, darunter Stieren mit bis zu 20 Zentnern und Schweinen mit über fünf Zentnern Gewicht. Die Prämierung fand unter Musikbegleitung statt. Bei einem Tusch scheute ein Jungrind und sprang in die Menge, wurde freilich rasch gebändigt: Eine Frau wurde zu Boden geworfen, ohne Schaden zu nehmen. Einer Dame wurde […], wahrscheinlich mittelst eines Stockes oder Schirmes, ihr schwarz-seidenes Kleid von oben bis unten aufgeschlitzt. 4 Der nach jahrzehntelanger Planungsphase seit März 1898 gebaute Schlachthof hatte nach langem Widerstreben vor allem der älteren Metzgermeister die noch zahlreichen Hausschlächtereien im Stadtgebiet und ein Schlachthaus aus dem Jahre 1850 abgelöst. Dieses ebenfalls unter Leitung des Stadtbaurates entstandene Gebäude hatte seinerseits einen Vorgängerbau abgelöst, der im April 1850 auf Abbruch versteigert worden war. Der Platz beider Schlachthäuser war neben der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Stadtmetzg am Vorderen Lech gelegen, um deren Eigentum sich übrigens zu dieser Zeit ein Rechtsstreit zwischen Stadtgemeinde und Metzgerinnung angebahnt hatte. 5 Zu Jahresende 1850 war das neue Schlachthaus mit dem Auftrieb von zehn Ochsen, zehn Kälbern und zehn Schafen in Betrieb genommen worden. Drei Jahrzehnte später galt die vom Metzgergewerbe unter einem Dach genützte Halle als »schönes Muster einer alten zünftigen Anlage«, und zwar im Gegensatz zu den Schlachthöfen, die nach französischem Vorbild ein Kammersystem bevorzugten oder aber die einzelnen Abläufe des Schlachtens und Zubereitens auf voneinander getrennte Gebäude verteilten. 6 1850 freilich war an dieser Augsburger Schlachtstätte, für 28 Rind- und 48 Bratmetzger eingerichtet, die neuzeitliche Ausstattung, mit hellen, hohen, das Fleisch 3 ›Augsburger Volkszeitung‹, Nr. 56, 8.10.1900. 4 ›Neue Augsburger Zeitung‹, Nr. 232, 6.10.1900; siehe auch ›Augsburger Neueste Nachrichten‹, Nr. 232, vom gleichen Tage. 5 E RICH K AEFERLEIN , Die Rechtsverhältnisse an den Eigenbänken in der Augsburger Stadtmetzg, jur. Diss. Erlangen, Ichenhausen 1927, S. 7. 6 G EORG O STHOFF , Die Schlachthöfe und Viehmärkte der Neuzeit. Studien und Mittheilungen über ausgeführte Anlagen nach eigenen und fremden Reiseberichten, unter ausgedehntester Benutzung der vorhandenen Litteratur, Leipzig 1881, S. 3. Die Publikation des nachmaligen Berliner Stadtbaurates und Regierungsbaumeisters Osthoff über die zweckmäßige Einrichtung von Schlachthöfen in kleineren und mittleren Städten erlebte als Beratungsliteratur in den 1880er und 1890er Jahren drei Neuauflagen. Die meiste Verbreitung fand dann eine 1902, nach dem Tode Osthoffs, erschienene 5., verbesserte und vermehrte Auflage. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 355 abkühlenden Räumen, mit Brunnen, Aufzügen und eben allen für eine bessere Schlachtmethode nöthigen Einrichtungen gerühmt worden. 7 Zeitgleich hatte es in der Berichterstattung und in Leserzuschriften der örtlichen Presse übrigens nicht an kritischen Worten zur Tötung von Vertretern selten gewordener Fauna 8 gemangelt oder auch an Hinweisen auf Fälle sonstigen rügenswerten Verhaltens gegenüber Haus- oder frei lebenden Tieren 9 , die der namentlichen Bekanntgabe der Übeltäter oder der Meldung beim Verein gegen Tierquälerei wert seien. Die Anliegen der in den davor liegenden dutzend Jahren in Württemberg, Sachsen und auch in Bayern entstandenen Vereine, die sich dem Schutze der Tiere verschrieben hatten, waren also 1850 gegenwärtig. Auch in Augsburg gab es einen entsprechenden Zusammenschluss. 1. Vordenker des Tierschutzes Dass Nutztiere weder überanstrengt noch im Tode unnötiger Pein ausgesetzt werden sollten, konnte aus dem Alten Testament wie aus der christlichen Glaubenslehre hergeleitet werden. Das enzyklopädische Monumentalwerk des 18. Jahrhunderts in deutscher Sprache, das Zedlersche Universallexikon, vermerkte unter dem Stichwort ›Schlachten‹: Die Schlachtarten seyn unterschiedlich und jedes Orts Metzgern am besten bekannt; wiewohl auch manche mit dem Schlachtvieh so unbarmherzig umgehen, als wenn es keine Sünde wäre, seine Augenlust an dem Abkählen eines so unschuldigen Thieres und an seiner Todesqual zu weyden, da doch ausdrücklich steht, daß sich der Gerechte auch seines Viehes erbarme, und zwar im Leben […]; wie vielmehr auch, da es unserer Nahrung halber sterben muß und uns gleichsam einen Denckzettel, daß dermahleinst der Tod auch seine Gewalt an uns ausüben werde, in die Augen stellet. 10 Diese Textpassage enthält wichtige Hinweise für künftige Argumentationslinien von Tierschützern in der Publizistik und in Vereinen: Mitleid mit der Kreatur als die einer christlichen Lebensführung zukommende Haltung, Menschen und Tiere als einem gemeinsamen Schöpfungswerk zugehörig. Daneben klang an, was in der Folgezeit der Einführung neuer Schlachtbedingungen lange im Wege stehen sollte: 7 Statistische Notiz über das öffentliche Bauwesen betreffend, in: ›Intelligenz-Blatt der königlich Bayer[ischen] Stadt Augsburg‹, Nr. 101, 18.12.1850; siehe auch ›Augsburger Tagblatt‹, Nr. 309, 10.11.1850. 8 Zur Erlegung eines Schwarzstorchs bei Bobingen die Briefkasten-Einsendung im ›Augsburger Anzeigblatt‹, Nr. 339, 10.12.1850. 9 Siehe etwa ›Augsburger Tagblatt‹, Nr. 212, 4.8.1850 (Neckerei eines Ochsen); oder Nr. 300, 1.11.1850 (ein Schwan als Opfer der kannibalsten Rohheit, verübt angeblich von einem Metzger-Sohn). 10 J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […] 34, Leipzig-Halle 1742, Sp. 1634f. G ERHA RD H ET ZER 356 handwerklicher Stolz, der vom Meister auf den Lehrling die Sichtweise weitergab, wie gemäß Erfahrung mit lebendem Schlachtvieh zu verfahren sei, schließlich wie ein Könner die tödlichen Hiebe und Stiche zu führen habe und wie dann zerlegt und zubereitet werden müsse. 1794 erschien im Deutschen Schulfonds-Bücherverlag in München eine Schrift mit 62 Druckseiten, die Ratschläge für die Aufgabe beisteuerte: Wie kann man Kinder von dem Fehler: Thiere zu martern, am leichtesten abbringen? Das Büchlein konnte die für pädagogische Literatur erforderliche Genehmigung des kurbayerischen Geistlichen Rates vorweisen. Als zunächst nicht genannter Verfasser galt der Hofkupferstecher, Lithograph und Mitarbeiter an belehrender Literatur und an Musikalien, Johann Michael Mettenleiter (1765-1853), 11 nachmals Leiter der staatlichen Lithographieanstalt und als ›bayerischer Chodowiecki‹ hervorgehoben. Den in der Schrift enthaltenen vier ›Erzählungen‹ war das auch bei Zedler anklingende Zitat aus 12,10 der Sprüche Salomos vorangestellt, nämlich Der Gerechte erbarmet sich auch seines Viehes, samt einem entsprechenden Titelkupfer. Adolph Freiherr von Knigge hatte sich in seinem wenige Jahre zuvor vorgelegten Ratgeber ›Über den Umgang mit Menschen‹ ebenfalls auf diesen biblischen Text bezogen, als er einen Seitenblick auf den Umgang des Menschen mit Tieren geworfen hatte. Die Münchener Publikation enthielt in diesem Punkt eine erzieherische Umsetzung der Kniggeschen Regeln. Sie gab Erläuterungen zum Wesen der Tiere 12 und wandte sich vor allem gegen das kindliche Jagdvergnügen, gezielt auf Kleintiere, wie Vögel, Frösche und Insekten, und die anschließende grausame Behandlung der Beute. Insgesamt trafen diese Ermahnungen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bei meinungsbildenden Gruppen, im Adel, bei höheren Beamten, in der Geistlichkeit oder an den Universitäten, auf eine wohlwollende Haltung. Die Schrift ›A dissertation on the duty of mercy and the sin of cruelty to brute animals‹ des anglikanischen Geistlichen Humphrey Primatt war bereits zwei Jahre nach ihrem Erscheinen, nämlich 1778, in Halle in deutscher Übersetzung erschienen (›Ueber Barmherzigkeit und Grausamkeit gegen die thierische Schöpfung‹). In Sammlungen von Entscheidungen angewandten Rechts waren die ersten Urteile wegen tierquälerischen Verhaltens aufgenommen worden. Neben den der Gedankenwelt der Aufklärung verpflichteten Lehrern und Erziehern hatte der Tierschutz bereits traditionelle Wurzeln in den pietistischen Strömungen im deutschen Protestantismus, nicht zuletzt in Württemberg. Diejenigen Gedanken, die der Pfarrer 11 Zu Mettenleiter siehe F ELIX J OSEPH L IPOWSKY , Baierisches Künstler-Lexikon 1, München 1810, S. 205; ADB 21 (1885), S. 524f., jeweils ohne Erwähnung der genannten Schrift. 12 […] das Thier besteht aus Leib und Seele. Es verrichtet willkürliche Handlungen, die es von selbst durch eine Art von eigenem Willen thut […] (S. 49). M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 357 Christian Adam Dann (1758-1837) 13 ein halbes Menschenalter später in seinen Schriften vortrug und in denen er zum Schutze der Tiere biblische, pädagogische und schöpfungstheologische Gründe in das Feld führte, waren also nicht neu. Sie fanden jedoch weitreichenden und zu konkretem Handeln führenden Widerhall. Dann hatte in jüngeren Jahren mit Johann Caspar Lavater in Zürich und seit 1795 mit Johann Michael Sailer in Verbindung gestanden. 14 1822, als er Pfarrherr in Mössingen war, erschien im nahebei gelegenen Tübingen eine Druckschrift von 44 Seiten unter dem Titel ›Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn die Menschen‹. Auch dieser Text trug keine Angabe des Verfassers, ebenso wie schließlich ein 1832 in Stuttgart - Dann war dort inzwischen Pfarrer an der St.-Leonhards-Kirche - in ähnlichem Umfang und ebenfalls im Oktavformat erschienener ›Nothgedrungener durch viele Beispiele beleuchteter Aufruf an alle Menschen von Nachdenken und Gefühl zu gemeinschaftlicher Beherzigung und Linderung der unsäglichen Leiden der in unserer Umgebung lebenden Thiere‹. Die Autorenschaft Danns ergibt sich jeweils erst aus den zweiten und dritten Auflagen dieser Schriften, die nach seinem Tode gedruckt wurden. 15 Danns Aufruf enthielt auch Ermahnungen zum Umgang mit Schlachtvieh, vom sogenannten Kälberhetzen über die Transportbedingungen bis zum Schlachtvorgang selbst: Warum müssen jene, schon geraume Zeit mit einander zugekehrten Rücken auf dem Schragen liegende[n] Kälber, ihre Köpfe weit herunter hängend, so lange auf ihren Tod warten, und das Todesgefühl an den bereits abgeschlachteten Thieren und an den auch zu ihrer Abschlachtung ihnen sichtbar genug getroffenen Anstalten so bitter voraus empfinden? O sieh’ doch die angstvollen, gleichsam um Hülfe flehenden Blicke! 16 Einer von Danns Pfarrerkollegen in Stuttgart sollte kurz nach dessen Tod den ersten deutschen Tierschutzverein initiieren: Albert Knapp (1798-1864), seit seinen Studienjahren mit Dann bekannt und ab 1845 ebenfalls Pfarrer an St. Leonhard, war als Verfasser und Bearbeiter 13 ADB 4 (1876), S. 740f.; zuletzt U WE A LBRECHT , Himmelreich auf Erden. Evangelische Pfarrer als Naturforscher und Entdecker, Stuttgart 2007, S. 141-147. 14 Die Verbindungen Sailers zur württembergischen Erweckungsbewegung gingen offenbar in die Entscheidungsfindung der päpstlichen Kurie zu ungunsten Sailers bei der Besetzung des Augsburger Bischofsstuhles im Jahre 1819 ein: H UBERT S CHIEL , Geeint in Christo. Bischof Sailer und Christian Adam Dann, ein Erwecker christlichen Lebens in Württemberg, Schwäbisch Gmünd 1928, S. 17f. 15 Kommentierte Wiedergabe in: M ARTIN H. J UNG (Hg.), Christian Adam Dann/ Albert Knapp. Wider die Tierquälerei. Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus (Kleine Texte des Pietismus 7), Leipzig 2002, S. 4-64. 16 Zitiert nach der 3., 1871 in Stuttgart erschienenen Auflage des Aufrufes bei H EIKE B ARANZKE u. a. (Hg.), Leben - Töten - Essen. Anthropologische Dimensionen, Stuttgart- Leipzig 2000, S. 249-257, hier 252. G ERHA RD H ET ZER 358 von Kirchenliedern bekannt geworden. 17 Seine Schrift ›Die fernere Bildung von Vereinen zur Verhütung der Thierquälerei betreffend‹ erschien im März 1838, zwei Monate nach Beginn der Kammerverhandlungen für ein württembergisches Polizeistrafgesetzbuch. Ende März 1838 wurde bereits das sächsische Kriminalgesetzbuch verkündet, das eine Sanktion für tierquälerisches Verhalten enthielt. 18 Dies machte in den nächsten Jahren Schule. Ebenso fiel der Aufruf Knapps, sich in Vereinen zu organisieren, auf fruchtbaren Boden. In diesen späten 1830er Jahren begannen die Beziehungen von Einzelpersonen und Zirkeln, die für konkrete Maßnahmen gegen tierquälerisches Verhalten eintraten, zu einem Netz zusammenzuwachsen. Den ersten württembergischen Vereinen folgten 1839 Gründungen in Karlsruhe, Dresden und Nürnberg. Im Umfeld des süddeutschen Protestantismus schrieben auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Charaktere gegen die Tierquälerei: der großherzoglich-hessische Pfarrer Johann Jakob Kromm (1793-1857), der neben religionspädagogischen und homiletischen Texten eine »historisch-kritische Abhandlung« gegen David Friedrich Strauß und einen Aufruf zur Bildung einer deutschen evangelischen Nationalkirche verfassen sollte, ebenso wie der mit dem Pietismus seiner Jugendjahre zerfallene fränkische Religionsphilosoph und Dichter Georg Friedrich Daumer (1800-1875). 19 Auf katholischer Seite gab es parallele Vorgänge. 1829 erschien bei einem Drucker in Mindelheim mit den ›Katechetischen Reden das Thierquälen‹ eine Schrift, die auf 47 Seiten zwei Beiträge des örtlichen Stadtpfarrers Dr. Gottfried Angelikus Fischer mit entsprechenden pädagogischen Hinweisen sowie den ›Versuch einer Katechese über die Pflichten gegen die Thiere‹ aus der Feder des Mindelheimer Stadtkaplans Sebastian Egger enthielt. Unter dem Titel ›Über das Thierquälen‹ 17 ADB 16, S. 263-265, und NDB 12, S. 153f. (jeweils ohne Erwähnung seiner Aktivitäten für den Tierschutz); U. A LBRECHT , Himmelreich auf Erden (Anm. 13), S. 148-156. Knapp stand auch in Verbindung mit Heinrich Puchta, Verfasser geistlicher Lieder und von Andachtsliteratur. 1860 veröffentlichte Knapp eine Auswahl an Gedichten des zwei Jahre zuvor verstorbenen Puchta, der seit 1852 als Pfarrer bei St. Jakob in Augsburg gewirkt hatte. 18 R OBERT VON H IPPEL , Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung des In- und Auslandes, historisch, dogmatisch und kritisch dargestellt, nebst Vorschlägen zur Abänderung des Reichsrechts, Berlin 1891, S. 3. Es handelt sich hierbei um das Standardwerk für die einschlägige Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert. 19 J OHANN J AKOB K ROMM , Der Thierfreund oder über das pflichtmäßige Verhalten des Menschen gegen die Thierwelt. Zur Belehrung und Unterhaltung für Jung und Alt, Reich und Arm, Hoch und Niedrig; mit besonderer Beziehung auf das Großherzogthum Hessen, das Königreich Württemberg und die freie Stadt Frankfurt, Stuttgart 1838; [G EORG F RIED - RICH D AUMER ], Über Thierquälerei und Thiermißhandlungen. Ein Gespräch, herausgegeben und vertheilt durch den Nürnberger Verein zur Verhütung der Thierquälerei, Nürnberg 1840. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 359 wurde hierzu 1831 eine zweite, auf 60 Seiten erweiterte Fassung veröffentlicht, nunmehr bei Kollmann und Himmer in Augsburg, die den Verlag der Jos. Wolffschen Buchhandlung weiterführten. Beide Autoren verdienen Augenmerk: Fischer war Mindelheimer Stadtpfarrer seit 1824. Er stammte aus der altbayerischen Nachbardiözese, war bis 1803 im Münchener Augustinerkloster als Seelsorger und Lektor der Moraltheologie tätig gewesen und hatte auch der bayerischen Provinz der Augustiner als Sekretär gedient. 20 Mit der Säkularisation hatte ein verhältnismäßig bewegtes Berufsleben als Lehrer an Gymnasien und ab 1817, nach vorübergehendem Ruhestand, als Seelsorgegeistlicher auf verschiedenen Pfarreien und Benefizien der Diözesen Regensburg und Freising eingesetzt. 21 Seit 1804 war er mit Schriften zur Gestaltung des Religionsunterrichts hervorgetreten - Aktivitäten, die er weiter pflegen sollte. 22 In seiner Zeit als Progymnasial-Lehrer und Seminar-Präfekt in München hatte er sich auch an eine Übersetzung des Tacitus gewagt. Zum Teil erschienen Arbeiten von ihm noch posthum. Sein Ko-Autor Egger 23 war ebenfalls als Verfasser katholischer Erziehungsliteratur hervorgetreten, 24 aus der Folgezeit stammten von ihm Gebetbücher und Predigttexte. Auch Fischer und Egger wandten sich in erster Linie gegen die Misshandlung von Tieren durch Kinder und Jugendliche, sei es nun in boshafter Absicht oder aus Unbedachtheit. Das Schlachten spielte dabei eine Nebenrolle. Fischer sprach es im Zuge abschließender Ermahnungen an: Wenn du Tiere zur Erhaltung deines Lebens tötest, so sollst du sie niemals quälen und Soll das zu meiner Nahrung bestimmte Tier sein 20 Geboren 1768 in München, Priesterweihe 1791, verstorben 1847 als Stadtpfarrer in Mindelheim. 21 Siehe die Vorgänge in den Akten des BayHStA, MInn 23219; und AEM, PA-P VN 1935. 22 Sein 1822 - Fischer war damals Pfarrer in Schliersee - in München erschienenes ›Vollständiges katholisches Religions-Lehrbuch für die gelehrten Schulen und Leute höherer Bildung‹ hatte ihm allerdings den Vorwurf des Plagiats nach Art schreibseliger und nach Honorar begieriger Autoren eingetragen, da er von August Fischers in Erfurt erschienenem ›Lehrbuch der christlichen Religion‹ abgeschrieben habe; Anzeige und Rüge in der ›Münchener Politischen Zeitung‹, Nr. 193, 15.8.1822, Beilage. 23 Geboren 1803 in Denklingen bei Landsberg am Lech, Priesterweihe 1826, 1831 Pfarrer in Amendingen bei Memmingen, 1837 Stadtpfarrer in Memmingen, verstorben 1866 als Kommorant in Mindelheim. Zu seinem Widerspruch auslösenden und dem konfessionellen Frieden wenig dienenden Wirken in Memmingen P AUL H OSER , Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 2: Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945, Stuttgart 2001, S. 321-323. 24 Seine Schrift ›Die Firmung nach katholischem Lehrbegriffe. Ein Weihegeschenk für die Jugend‹ erschien 1830 bereits in 2., verbesserter Auflage, ebenfalls bei Kollmann und Himmer in Augsburg. G ERHA RD H ET ZER 360 Leben, gewürzt für mich, verhauchen, so will ich ihm, erbarmend, den Todesschmerz verkürzen und selbst in seinem Schmerze Dich, Geber der Empfindung, des Lebens Herr, - des Todes - auch meines Todes, ehren! 25 Bemerkenswert sind Fischers konfessionsübergreifende Verweise auf die Veröffentlichungen aufklärerischer Pädagogen oder auch früher Tierschützer, auf ›Vom Verdienste‹ von Thomas Abbt und Friedrich Nicolai (1765), Heinrich Gottlieb Zerrenners ›Neuen deutschen Schulfreund‹, die Predigtsammlungen von Georg Friedrich Götz, auf Christian Felix Weisse und dessen Bezüge zu Primatt, schließlich auf den 1793 in Kopenhagen in deutscher Sprache erschienenen ›Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Thiere und der Pflichten des Menschen gegen die Thiere‹ von Laurids Smith. Ungeklärt muss vorläufig bleiben, inwieweit die ›Katechetischen Reden‹ in einem direkten Zusammenhang mit einer Initiative des Regierungspräsidenten des Oberdonaukreises und nachmaligen Innenministers Fürst Ludwig Kraft zu Oettingen-Wallerstein (1791-1870) zu sehen sind. Dieser hatte sich im März 1829 auf der Grundlage eines eigenhändigen Entwurfs an die Landgerichte, Stadtmagistrate und Schulbehörden in seinem Zuständigkeitsbereich mit der Aufforderung gewandt, verschiedene Erscheinungsformen von Tierquälerei abzustellen und bei der heranwachsenden Jugend die Erweckung einer milden Denkweise gegen Tiere zu fördern. 26 Dieser Aufruf fügt sich ein in den Fächer von Initiativen des rasch für etwas einzunehmenden, ideenreichen und dabei eigenwilligen Mannes, von dem auch Anstöße zur Formung des vaterländischen Geschichtsbewusstseins und zur Denkmalpflege ausgingen. Oettingen-Wallerstein verwies ausdrücklich auf die Schrift Mettenleiters, die zeitweilig als Schulpreis zur Auszeichnung von Schülern verteilt worden war und deren Titel bei der Bildung des Betreffs auf dem entsprechenden Akt des Regierungspräsidiums noch mitschwang. In Oberkuchen bei Neresheim geboren, stammte Mettenleiter aus historischem Wallersteiner Territorialverband. Seine Broschüre freilich war inzwischen vergriffen, und der jetzige Zentralschulbücherverlag in München vertröstete die Regierung in Augsburg auf eine überarbeitete Neuauflage, die dann offenbar nicht zustande kam. Zwar scheint eine obrigkeitlich gestützte Verbreitung von Fischers und Eggers Schriften an den Schulen nicht erfolgt zu sein. Hingegen wurde ein weiterer Text Eggers, nämlich die ›Pflichten gegen die Thiere, ein praktischer Unterricht für Kinder‹, vom Münchener Verein gegen Tierquälerei 1847 als Druckschrift heraus- 25 [A NGELIKUS F ISCHER / S EBASTIAN E GGER ], Katechetische Reden über das Thierquälen, Mindelheim 1829, S. 10, 20f. 26 Regierungspräsidium an alle Distriktspolizeibehörden und Distriktsschulinspektionen des Oberdonaukreises (29.3.1829) betreffend das ›Verfahren der Jugend gegen Thiere und die in dieser Beziehung den Polizei- und Lehr-Behörden obliegenden Pflichten‹; StA Augsburg, Regierung 7160. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 361 gegeben, die zusammen mit einem Aufruf der Vereinsleitung an die Dienstboten zu ehrlichem Verhalten gegenüber ihren Dienstherrschaften 18 Seiten umfasste. Der Memminger Stadtpfarrer griff hier den Titel eines einige Jahre zurückliegenden Aufrufes des nunmehrigen Vereinssekretärs, nämlich des pädagogischen und populärhistorischen Schriftstellers, Lyrikers und Erzählers Joseph Jakob Zagler, 27 auf, der 1844 in einer Auflage von hunderttausend Stück verbreitet worden war. Zaglers Schrift hatte für das Bekanntwerden der Vereinsziele - 1845 erschien in Mailand eine italienische Übersetzung - wie für die Mitgliederwerbung große Bedeutung. 2. Bayern auf dem Wege zu gesetzlichen Regelungen In Preußen hatte König Friedrich Wilhelm III. 1836 Strafandrohungen für tierquälerisches Verhalten angeregt, und zwar nach der Lektüre von Pressemeldungen. Auch in Bayern hatten Zeitungsberichte Behörden in Einzelfällen zum Einschreiten veranlasst oder auf Ministerialebene Überlegungen für allgemeinere Regelungen befördert. Als im Herbst 1832 einige Augsburger Jung-Metzger in einem Wirtshaus der Jakobervorstadt einer Gans, einem Hahn und einigen Hennen den Kopf abgebissen, sich an den krampfhaften Sprüngen und schmerzhaften Zuckungen ergötzt und später noch gegenseitig geprügelt hatten, 28 verlangte Regierungspräsident Karl Graf Seinsheim als Vertreter des ihm gleich gesonnenen Innenministers Fürst Oettingen-Wallerstein die Untersuchung und Bestrafung einer feststellbaren Verletzung der Gebote der Menschlichkeit und der öffentlichen Sitte. 29 Der Hinweis in der Presse auf die verrohende Wirkung derartiger Schauspiele und den ungünstigen Eindruck, den Fremde vom Kulturstand einer Stadt mitnehmen müssten, fehlte auch nicht bei der Schilderung, die der Fürst selbst in Bezug auf die Behandlung der Schlachtkälber in München gab: Nach stundenlangem Transport in gebundenem Zustand würden sie von Hunden bis zum Schäumen gehetzt, was zum einen die Fleisch- 27 Zu J. J. Zagler (1810-1865), der sich nach Jahren des Lehrberufes an Volksschulen und Münchener Erziehungsinstituten in das Privatleben zurückgezogen hatte, der Nachruf durch M AX VON K REMPELHUBER im XXVIII. Jahresbericht des Historischen Vereins von und für Oberbayern (erschienen 1866), S. 125-129. Zagler habe das ihm von früh auf eigene Mitleiden der Jugend vermitteln wollen, um »den Kern des Guten, des Mitleides und der Schonung schon früh in die zarten Seelen der Jugend zu pflanzen und so der so oft und vielfach sich zeigenden Rohheit und Fühllosigkeit in Behandlung der Tiere vorzubeugen.« (S. 127). 28 ›Augsburger Tagblatt‹, Nr. 331, 1.12.1832. 29 BayHStA, MInn 54143, Innenministerium an Regierungspräsidium des Oberdonaukreises (10.12.1832). Zur Behandlung auf der Ebene der Kreisregierung der Vorgang in StA Augsburg, Regierung 7141. G ERHA RD H ET ZER 362 qualität mindere, zum anderen einer Hauptstadt und selbst der Nation in den Augen der Besucher Münchens zur Schande gereiche. 30 Im Innenministerium nahm man auch von dem im April 1832 im englischen Unterhaus vorbereiteten, zunächst vertagten Gesetzentwurf für ein Tierschutzgesetz Kenntnis, der sich unter anderem gegen Misshandlungen beim Viehtrieb und bei der Unterbringung vor dem Schlachten wandte und die Aufstellung von Inspektoren für Viehmärkte und Schlachthäuser verlangte. Tatsächlich gaben neuerliche Presseberichte 1836 in Bayern Anlass, von Mittel- und ausgewählten Unterbehörden Stellungnahmen einzuholen, wie verschiedene Erscheinungsformen von Tierquälerei am besten zu bekämpfen seien. Ergebnis dieses administrativen Denkprozesses, der den Wechsel im Ministeramt von Oettingen-Wallerstein zu Karl von Abel 1837 überdauerte, war das Reskript des Innenministeriums an die Kammern des Innern der Kreisregierungen ›Thierquälerei betreffend‹ vom 16. Juni 1839. 31 Die eingeholten Gutachten hatten die Schwierigkeit betont, bei der Vielfalt der Erscheinungsformen von Tierquälerei zu allgemein gültigen Vorschriften zu finden. Mit polizeilichen Maßnahmen könnten nur diejenigen Handlungen geahndet werden, die öffentlich verübt würden. Das Reskript setzte auf die Wirkung des Schulunterrichts, auf das allmähliche Zurückdrängen alter Gebräuche durch die Verwaltung, in konkreten Einzelfällen hingegen auf das Einschreiten im Rahmen von Polizeiinstruktionen aus den Jahren 1808 und 1812, und zwar gegen Vorgänge, die wider die Sittlichkeit gerichtet seien oder die Schädlichkeit von Lebensmitteln bedingten. Die Vorbereitung des dann im Oktober 1839 verkündeten württembergischen Polizeistrafgesetzbuches mochte den Erlass dieser Weisung, die für die nächsten zwanzig Jahre die einschlägige Rechtslage in Bayern bestimmte, beschleunigt haben. Einen Tag nach Erlass des Reskripts empfahl Abel gleichsam flankierend dem König die Zulassung eines Privatvereins zu Verhütung der Thierquälerei, den in Nürnberg Beamte, Priester, Lehrer und bürgerliche Kreise zu gründen beabsichtigten. Das Wohlwollen König Ludwigs I. 32 begleitete auch die Entstehung weiterer Tierschutzvereine in München (Mai 1842) und Regensburg (November 1842) und erhielt erst eine ärgerliche Beimengung, als Gesuche um die Gewährung geldwerter Vorteile, etwa um Portofreiheit für den Versand der Vereinsschriften, einliefen. 30 BayHStA, MInn 54143, Vermerk zum Schreiben an das Regierungspräsidium des Oberdonaukreises vom 24.12.1832. 31 Entwurf in BayHStA, MInn 54143; Abdruck bei F RIEDRICH F RHR . VON S TRAUSS , Fortgesetzte Sammlung der im Gebiete der innern Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen von 1835 bis 1852, Bd. 9 (Döllinger’sche Sammlung XXIX), S. 746f.; und bei R. VON H IPPEL , Tierquälerei (Anm. 18), S. 20. 32 Siehe dessen Signat vom 8.7.1839: […] genehmigt nicht nur, sondern mein Wohlgefallen darüber auszudrücken; BayHStA, MInn 54143. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 363 Vor allem der Münchener Verein mit seinem Kern gesellschaftlich angesehener Aktivisten agierte von Anfang an vielfältig und ideenreich. 33 Nach zweijährigem Bestehen nahm er für sich in Anspruch, die größte Organisation dieser Art in Europa zu sein, deren Mitgliederzahl mittlerweile auf 3.600 gestiegen sei. Inzwischen hätten sich annähernd hundert Zweigvereine gegründet. 34 Die in 25.000- 30.000 Exemplaren gedruckten frühen Jahresberichte des Vereins zeigen an, wo die Ansätze für Tierschutzvereinigungen in Schwaben lagen. 1843 bestanden Filialvereine in Augsburg, Donauwörth, Dinkelscherben, Füssen, Memmingen sowie Neuburg a. d. Donau und in den angrenzenden oberbayerischen Gebieten in Aichach, Bayerdilling und Friedberg. Beamte, kommunale Führungskräfte - in Augsburg und Memmingen die Bürgermeister Carron du Val und von Schellhorn - und Pfarrer hatten die Leitung übernommen. 35 Im Frühjahr 1843 bildete sich ein Verein für Kempten und Umgebung, der sich im Allgemeinen nach den Satzungen des Münchener Vereins richtete. 36 In den folgenden Jahren kamen Zweigvereine hinzu im Bereich Lindau, im dortigen Landgerichtsbezirk ebenso wie - unter dem Vorsitz von Bürgermeister Rebmann - in der Stadt Lindau selbst, in Buchloe und Immenstadt sowie in Oettingen. Der Verlag der ›Augsburger Abendzeitung‹ versah seine Abonnenten mit dem Text von Zaglers Aufruf, der Landrichter von Kempten ließ dessen Text in den Schulen verteilen, und der Memminger Stadtmagistrat übersandte Spendengelder für neue Publikationen, daneben auch Eggers Schrift von 1831. Bischof von Richarz in Augsburg wurde Mitglied, desgleichen der Regierungspräsident Anton von Fischer. 37 3. Der Verein gegen Tierquälerei und der Schlachtviehtransport Seit seinem Bestehen hatte der Münchener Verein eine Verbesserung der Zustände bei den Viehtransporten angestrebt und sich vor allem augenfällige Missstände bei 33 Zur Vereinsentwicklung siehe auch: 150 Jahre Tierschutzverein München. 1842-1992, [München] 1992. 34 Jahres-Bericht des Münchener-Vereins gegen Thierquälerei für das Jahr 1844, erstattet von Hofrath Dr. Perner, München 1845. 35 Das Gesamtverzeichnis der Filialvereine im Jahresbericht des Münchener Stammvereins für 1843, erschienen München 1844, S. 171f. 36 Grundbestimmungen im Akt BayHStA, MInn 54144. 37 Auf die unter dem 29.5.1846 geäußerte Bitte des Prinzen von Sachsen-Altenburg als Vereinsvorsitzendem, der Regierungspräsident möge seinen Einfluss geltend machen, um einen im Sinne des Tierschutzvereins gehaltenen Aufsatz von Friedrich von Thiersch in die ›Allgemeine Zeitung‹ zu bringen, antwortete Fischer: Meine Bestrebungen und amtliche Unterstützung werden […] immer der heiligen Sache des Vereines gewidmet bleiben; StA Augsburg, Regierung 7160. G ERHA RD H ET ZER 364 der Zufuhr von Schlachtkälbern auf die städtischen Märkte vorgenommen. In gefesseltem Zustand in Wägen auf- und nebeneinander geladen, wobei die Köpfe zum Teil aus dem Wagen hingen, waren die Tiere vielfach der Witterung ausgesetzt und fanden bei diesen manchmal Tage währenden Fahrten keine oder nicht hinreichende Fütterung und Tränkung. 38 Die Tierschützer machten publizistisch mobil und brachten tierärztliche Gutachten bei, die dem begehrten weißen Fleisch der unter diesen Umständen übermüdet, verstört und zum Teil verletzt eintreffenden Kälber attestierten, für menschlichen Genuss weniger zuträglich zu sein. Bei Erlass des Verbotes von Transporten gebundener Kälber und Lämmer, das mit Genehmigung des Königs vom Innenministerium Ende April 1843 an die Kreisregierungen hinausgegeben wurde, 39 lag ein nur wenige Tage altes Gutachten des königlichen Hof- und Leibapothekers Franz Xaver Pettenkofer vor, das an Lebern von gebunden und ungebunden angelieferten Kälbern erstellt worden war und den Behörden Gründe für ein sanitätspolizeiliches Einschreiten lieferte. Ein Verein erschien hier als Veranlasser polizeilicher Maßnahmen, die in vierwöchiger Frist zu treffen waren, was zweifellos unter den Empfängern des Erlasses für Stirnrunzeln sorgte. Auf diesen gleichsam halbamtlichen Charakter des Münchener Vereins hatte auch der Versand seiner Schriften auf dem Verwaltungswege hingedeutet. Da mit Widerspruch aus den Kreisen der Viehhändler und Metzger zu rechnen war, hatte die Vereinsleitung seit 1842 mit einem neuen, breiteren Wagentyp experimentiert, der einen ungebundenen Transport gewährleisten sollte. Das Ergebnis ihrer Versuche stellte sie in lithographierter Zeichnung vor und kündigte deren Verbreitung in ganz Europa an. Die betroffenen Berufsgruppen verharrten ab Mai 1843 zunächst überwiegend in grimmigem, lauerndem Zuwarten. Unruhen gab es allerdings ab Anfang Juni in München, wo sich die Erregung von Markttag zu Markttag steigerte. Es kam zu Aufläufen, Schmährufen und Spottchören beim Eintreffen der ersten Transporte neuer Art, auch zu Handgreiflichkeiten. Der seit alters eingespielte Austausch von Viehhändlern und Metzgern rund um die Marktplätze bewährte sich nun in der Abwehr eines behördlichen Eingriffes, der für sie durch den Einfluss hochwohlgeborener Ignoranten zustande gekommen war. Beim Verein hatte man die Einwendungen der Kälberhändler als Produkt 38 Neben Gleichgültigkeit und Spartrieb beruhte die mangelhafte Versorgung der Schlachttiere in ihren letzten Lebenstagen auch auf althergebrachten Zwecken der Fleischkonservierung. Der durchaus nicht hartleibige Autor des Beitrages ›Schlachten‹ im Zedlerschen Lexikon (Anm. 10) hatte weitergegeben: Den Schweinen und andern Vieh soll man, ehe sie abgethan werden, einen halben Tag nichts zu fressen und einen gantzen Tag vorher nichts zu trincken geben, damit das Fleisch desto trockener bleibe; denn so man sie trincken lässet, so bleibt die Saltzbrühe von dem eingeböckelten Fleisch nur desto wässeriger. (Sp. 1638). 39 Entwurf der Entschließung vom 28.4.1843, ›den Transport des Schlachtviehes betr[effend]‹ im Akt BayHStA, MInn 54143. Druck bei F R . VON S TRAUSS , Fortgesetzte Sammlung, Bd. 9 (Anm. 31), S. 747f. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 365 entweder eingewurzelter Grausamkeit oder unbesiegbaren Vorurtheils abgetan. 40 Unter den Händlern gab es zahlreiche grob gestrickte Naturen, die zudem mit jedem Kreuzer rechneten. Die Anlieferung von Kälbern nach München sank binnen dreier Wochen auf ein Drittel des bisherigen Auftriebes, Ende Juni zeigten sich die ersten Steigerungen bei den Fleischpreisen, die mit Verknappung begründet wurden und damit, dass die Händler die ihnen zudiktierten Bußgelder auf die Verkaufspreise aufschlagen würden. Der Münchener Stadtmagistrat arbeitete gegen die Vereinsaktivisten, einige Magistratsräte sympathisierten offen mit den protestierenden Händlern und Metzgern. Die bisher für München gedachten Fuhren gingen teils nach Tirol, teils nach Augsburg und andere Orte in Bayern, wo man Kälber für eine Übergangsfrist noch gebunden anfahren konnte. Schließlich wies die Kreisregierung von Oberbayern die Münchener Polizeidirektion an, vorläufig wieder Transporte herkömmlicher Art zu dulden. Der Vollzug der Anordnung vom April wurde somit in und um München Ende Juni ausgesetzt. Zwar wurde die Presse nicht informiert, doch die Nachricht sprach sich blitzschnell herum und ließ Anfang Juli die Anlieferung wieder steigen. Innenminister von Abel sprach dem König in einem langen Schreiben zu, hart zu bleiben, da ein Nachgeben in Folge solcher Renitenz […] den Unverstand und die Vorurtheile und somit weitere Widerspenstigkeit gegen die Obrigkeit nur reizen würde. Gegen Tumulte und Preistreibereien solle konsequent vorgegangen werden. 41 Tatsächlich schien es, als würde mit einer einheitlichen Durchsetzung des Erlasses vom April Ernst gemacht. Nun bot die oberbayerische Kreisregierung Stellungnahmen vom Kreismedizinalausschuss, von Verwaltungsbehörden, Tierärzten, Landwirten und anderen Männern von Fach auf, die eine Gesundheitsschädlichkeit des Fleisches gebundener Tiere verneinten, wenn bestimmte Erleichterungen des Transports Platz griffen, während die ungebundene Anlieferung neben anderen Nachteilen den kostspieligen Einbau von Fächern für jedes Tier erfordere. Ende September legte ein in die bisherige Sachbehandlung nicht involvierter Stellvertreter des Innenministers dem König angesichts einer bedrohlichen Höhe der Fleischpreise eine Vertagung beim Vollzug des April-Erlasses nahe. Ludwig I. stimmte zu, zweifellos schweren Herzens, wollte freilich gesichert wissen, daß die Köpfe nicht aus dem Wagen heraushängen, Umlegung [der Tiere] u[nd] gehörige Fütterung u[nd] Tränkung unterwegens erfolge. Und: Er wollte haben, dass diese Änderung nicht stillschweigend, das setzt der Regierung Ansehen herab, sondern zu veröffentlichen sei. 42 Wenige Tage später 40 BayHStA, MInn 54144, Münchner Verein gegen Thierquälerei (Eduard Prinz von Sachsen-Altenburg) an das Innenministerium (9.6.1843). 41 BayHStA, MInn 54144, Innenminister von Abel an den König (12.7.1843). 42 BayHStA, MInn 54144, Signat vom 27.9.1843 zum Schreiben des Inneministeriums vom 25.9.1843. G ERHA RD H ET ZER 366 wurde den Kreisregierungen die Vertagung des Vollzuges bis zu erfolgter näherer Prüfung der neuerlichen Erhebungen und bis auf weitere Verfügung mitgeteilt. 43 Diese Vorgänge muten wie ein Menetekel für Ereignisse der Jahre 1847/ 49 an, sowohl im Verhalten einzelner Charaktere wie im Agieren und Reagieren von Behörden in dieser Kraftprobe mit gewerblichem Traditionalismus und informellen Interessenverbünden, immer die Furcht vor zornigem städtischem Janhagel im Hintergrund. Bei leitenden Beamten der inneren Verwaltung blieb eine Verstimmung gegen die Führung des Vereins, gegen deren Hartnäckigkeit sowie dem Sichrühmen mit hochgestellten Verbindungen und dem europaweiten Echo auf die Vereinstätigkeit. Bis Mai 1852 führte Generalleutnant Eduard Prinz von Sachsen- Altenburg den Vorsitz, nach dessen Tod folgte mit Prinz Adalbert von Bayern ein Bruder des regierenden Königs nach. Die Vereinsleitung erinnerte mit Blick auf die Weisung vom April 1843 wiederholt daran, dass ›vertagt‹ nicht ›aufgehoben‹ sei und argumentierte politisch nicht ungeschickt. Für sie hatte in der Rückschau über die Revolutionszeit hinweg bereits im Sommer 1843 der Umsturz seine Zähne gezeigt. 44 Das Ministerium war zwar für Verlautbarungen gegen das Zuschauen der Schuljugend beim Schlachten zu gewinnen oder für eine Erinnerung an das Reskript von 1839. Man wollte aber keine neuerliche Entschließung gegen eine bestimmte Erscheinungsform von Tierquälerei und riet in diesem Sinne auch Max II. Josef wie schon dessen Vorgänger ab. Der Schöpfer habe die meisten Tiere dem Menschen zur Nahrung und zur Arbeit gegeben, hatte ein Ministerverweser im Spätsommer 1847 Ludwig I. belehrt. Sie vor unnützen Quälereien zu schützen, dürfe jedoch nicht den betroffenen Berufen zu gewerblichem oder sonst materiellem Nachteil gereichen oder in die Sphäre amtlicher Anordnungen übergreifen. Ein zu rasches Eingehen auf die Vorschläge des Vereins habe mit einem Rückzieher geendet. Und den mit einer Kabinettswie mit einer persönlichen Autoritätskrise kämpfenden Monarchen hatte er gemahnt: Nichts kann […] kompromittierlicher für die Regierung seyn als ein solcher Rückzug. 45 Zwei Umfragen des Ministeriums nach dem Stand der Dinge bei den Kälbertransporten, nämlich im Februar 1847 und im April 1852, hatten diese Sicht der Dinge bestätigt. 43 BayHStA, MInn 54144, MInn (Staatsrat Max Prokop von Freyberg-Eisenberg) an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern (mit Mitteilung an die Regierungen in Augsburg, Regensburg und Landshut) (5.10.1843). 44 So in einer Stellungnahme gegenüber dem Polizeidirektor von München vom 17.1.1852 mit zahlreichen Wünschen: Es sei eben jetzt günstig, auf die Anordnung vom April 1843 zurückzukommen, weil […] den Revolutionärs und Conspiranten, die früher die Suspension erwirkten, der Muth etwas gesunken zu seyn scheint; BayHStA, MInn 54146. 45 MInn (Staatsrat Johann Baptist von Zenetti) an den König (30.7.1847). Die Antwort des Königs unter dem 2.8.1847: Auf so lange der König [in größeren Buchstaben] nicht anders verfügt, diesen Antrag genehmigt; BayHStA, MInn 54145. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 367 Abb. 1: Ansicht eines zum Transporte ungebundener Kälber geeigneten Wagens. Lithographiertes Muster nach einem Entwurf des Münchener Vereins gegen Tierquälerei, 1843. G ERHA RD H ET ZER 368 Die Kreisregierungen, die ihrerseits Äußerungen der Landgerichte und Stadtmagistrate eingeholt hatten, empfahlen weit überwiegend, es bei dem im Oktober 1843 verfügten Moratorium zu belassen. Mit den zwischenzeitlich erzielten Verbesserungen solle es sein Bewenden haben, zu Transporten ohne Fesselung und zur Anschaffung der vom Verein vorgeschlagenen Transportwägen bestehe bis auf Einzelfälle unter den Viehhändlern weiterhin keine Neigung. 46 Im Innenministerium schloss man sich gerne dieser Meinung an, der neue Minister Graf Reigersberg beschied in diesem Sinne im Januar 1853 auch den Prinzen Adalbert. Im Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg waren Wagen für ungebundene Transporte gelegentlich in Nordschwaben anzutreffen, nicht aber in den Hauptgebieten der Rindviehzucht, nämlich im Allgäu, und auf den Wegen von dort nach Augsburg und München. 1852 wurde schon ein erheblicher Teil der Transporte stehend in Eisenbahnwaggons abgewickelt. 16 Jahre vorher hatte Graf Seinsheim als damaliger Regierungspräsident des Isar-Kreises bereits Hoffnungen auf Viehtransporte per Eisenbahn gesetzt, um den Missständen beim Überlandfahren abzuhelfen. Tatsächlich war - wohl vereinzelt - bereits in den frühen 1840er Jahren auf der noch von einer privaten Gesellschaft betriebenen Strecke zwischen Augsburg und München Schlachtvieh auf der Schiene angefahren worden. Im Spätherbst 1844 - kurz nach der Verstaatlichung des dortigen Betriebes - hatte das Innenministerium schnell reagiert und zur Korrektur von in der Stadt München herrschenden Fleischpreisen eine beschleunigte Heranführung von Mastrindern aus Mittelfranken in die Wege geleitet. Hierzu sollten Waggons nachgerüstet oder auch neu gebaut werden, die bis zu sechs Tiere aufnehmen konnten. 47 In der Zwischenzeit hatten nach Sachsen und Württemberg weitere Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes Bestimmungen mit Bezug auf tierquälerische Handlungen in anstehende Strafrechtskodifikationen aufgenommen, so Schwarzburg- Sondershausen (1845), Hessen-Darmstadt und Hannover (1847) und Preußen (1851). Waldeck und Braunschweig (1855), Frankfurt am Main (1856), Oldenburg (1858), Baden und Lübeck (1863) sowie Hamburg (1869) sollten folgen. Dem waren, wie in Bayern, zum Teil seit den 1830er Jahren Regelungen auf dem Verordnungswege vorausgegangen. In den Artikel 100 des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches vom 10. November 1861 wurde ein Absatz aufgenommen, der denjenigen, der Thiere roh misshandelt oder boshaft quält, wer den zur Verhütung einzelner Arten von Thierquälerei durch Verordnung erlassenen Bestimmungen zuwiderhandelt, mit einer Geld- oder Arreststrafe (maximal 25 Gulden oder acht Tage) bedrohte. Ein zweiter Absatz dieses Artikels enthielt übrigens eine Strafandrohung bei Verstößen gegen den Vogelschutz. Interessant ist, dass der in die Vorberatungen der Abgeordnetenkammer eingebrachte Referentenentwurf noch die öffentliche Begehung als 46 Die Ergebnisse der Erhebungen in BayHStA, MInn 54145 und 54146. 47 Vorgänge hierzu in BayHStA, MInn 46358. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 369 Kriterium der strafbaren Handlung enthielt, wobei der Mehrheit der neueren Gesetzgebungen gefolgt werden sollte. Verschiedene Mitglieder des zuständigen Ausschusses verlangten hingegen mit Erfolg die Streichung des Erfordernisses der öffentlichen Begehung, auch der anwesende Innenminister wollte zwischen öffentlicher und nicht öffentlicher Tierquälerei nicht unterschieden wissen und verwies dabei auf eine mögliche sanitätspolizeiliche Dimension tierquälerischer Akte. 48 Damit hatte Bayern zusammen mit einigen anderen deutschen Staaten ein gegenüber dem zehn Jahre später zur Einführung kommenden Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich weitergehendes Strafrecht im Bereich der Tierquälerei. 49 Das Reichsstrafgesetzbuch sah nämlich in § 360 Nr. 13 tierquälerische Handlungen, soweit sie öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise verübt wurden, als mit Geldstrafe bedrohte Übertretungen an und folgte damit dem Rechtsverständnis, wie es im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 und im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund zur Geltung gekommen war. 50 Die folgenden Jahrzehnte waren von Bemühungen der seit 1881 in einem deutschen Dachverband agierenden Tierschutzvereine, aber auch von einer wachsenden Zahl von Veterinärmedizinern gekennzeichnet, diese Strafbestimmung zu erweitern und zu verschärfen. 51 Letztlich fiel das Erfordernis der Öffentlichkeit der Begehung oder der Ärgerniserregung für eine Bestrafung von Tierquälereien erst mit der Novellierung der einschlägigen Strafrechtsbestimmungen im Mai 1933. 4. Das Schlachten kommt unter öffentliche Kontrolle Gleichzeitig drängten die Veränderung der Hygienevorstellungen und die Entwicklung der veterinärpolizeilichen Untersuchungsmethoden auf eine Konzentration der Schlachtvorgänge selbst. Die tierärztliche Fleischbeschau musste sich erst durchsetzen, machte aber in Bayern nach der seit August 1872 wirksamen 48 Protokoll über die Sitzung vom 30.10.1860 zum Entwurf für den seinerzeitigen Art. 109. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages 1859/ 61. Beilagen, Bd. 3: Verhandlungen des Gesetzgebungs-Ausschusses, S. 143. Die abschließend genehmigte Fassung des Gesetzestextes in Beilagen, Bd. 2, S. 423-449. Siehe auch R. VON H IPPEL , Tierquälerei (Anm. 18), S. 21. 49 R. VON H IPPEL , Tierquälerei (Anm. 18), S. 44-47. 50 K LAUS D IETER W IEGAND , Die Tierquälerei. Ein Beitrag zur historischen, strafrechtlichen und kriminologischen Problematik der Verstöße gegen § 17 Tierschutzgesetz (Kriminalwissenschaftliche Abhandlungen 11), Lübeck 1979, S. 37f. 51 Auch die Rechtsprechung tendierte in diese Richtung; als Beispiel ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts von 1905 bei K. D. W IEGAND , Tierquälerei (Anm. 50), S. 38. G ERHA RD H ET ZER 370 Reorganisation des Zivil-Veterinärwesens Fortschritte. 52 Auf dem Lande schlachteten die Bauern weiter überwiegend selbst. Wo gesalzenes oder geräuchertes Fleisch verzehrt wurde, bestand wenig Bedarf für gemeinsame Schlachteinrichtungen. Die Vornahme der Fleischbeschau durch sogenannte empirische Beschauer aus der Landbevölkerung galt als wenig verlässlich. Aber auch in den Städten zeigten sich Probleme. Während in München 1876/ 78 ein neuer Schlachthof erbaut wurde, zogen sich in Nürnberg Planung und Errichtung des schließlich 1891 eröffneten Vieh- und Schlachthofs über zwanzig Jahre hin. Es waren in erster Linie die von den Steuerbürgern gewählten Kollegien der Gemeindebevollmächtigten, die, grundsätzlich argwöhnisch gegenüber kommunaler Ausgabenpolitik, hinhaltenden Widerstand leisteten. In Klein- und Mittelstädten hatten in diesen Gremien wiederum die Angehörigen der Lebensmittelgewerbe, gerade auch Gastwirte und Metzger, eine herkömmlich starke Stellung. Zu Anfang der 1870er Jahre bestanden in Schwaben außerhalb Augsburgs in Ichenhausen, Kaufbeuren, Kempten, Lindau, Memmingen, Mindelheim und Nördlingen gemeinschaftliche, teils von den Städten, teils von Metzgerverbänden betriebene Schlachthäuser. Hiervon galten vor allem die Einrichtungen in Kaufbeuren und Mindelheim unter veterinärpolizeilichen Gesichtspunkten als mangelhaft. Auch bestand noch kein Schlachthauszwang. Vor allem Schweine, Kälber und Schafe wurden weiterhin in privaten Wohn- und Betriebsstätten der Metzger geschlachtet, die Durchführung der Fleischbeschau wurde damit erschwert. Laut dem Tierarzt der Stadt Augsburg, Theodor Adam, der seit 1872 zugleich als Kreisveterinär bei der Regierung von Schwaben und Neuburg die Aufsicht über die schwäbischen Tierärzte führte, ließ dies genügend Raum, die Verwertung kranker Tiere zu verheimlichen und vor allem die Feststellung des Tuberkulose-Befalls zu behindern. Auf der Grundlage der ihm zugegangenen Berichte der Tierärzte vor Ort forderte also Adam beharrlich die Einrichtung gemeinschaftlicher Schlachthäuser auch in kleineren Städten und Marktflecken. Er mochte sich hierbei an der Entwicklung in Preußen orientieren, wo die Rechtslage den Gemeinden 1868 Mittel an die Hand gegeben hatte, das Fleischereigewerbe in Richtung gemeinsamer Schlachthöfe zu bewegen. Zwar erwartete Adam bei den betroffenen Kommunen wenig Neigung, mit finanziellem Aufwand selbst tätig zu werden. Allerdings würden die sanitären Verhältnisse der meisten Städte […] bald die Forderung stellen, die in engen Straßen und Winkeln angelegten, schlecht gepflasterten, die Nachbarschaft belästigenden und das Grundwasser mit faulenden tierischen Stoffen verunreinigenden Privatschlachtlocalitäten einer 52 Instrumente waren hierbei die auf der Grundlage der allgemeinen Polizeistrafbestimmungen von der Kammer des Innern der Kreisregierung erlassenen oberpolizeilichen Vorschriften bezüglich der Fleischbeschau von 1862 bzw. 1872; K. B. Kreis-Amtsblatt von Schwaben und Neuburg 1862, Sp. 769-779; 1872, Sp. 672-678. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 371 besonderen Aufmerksamkeit zu unterstellen […]. 53 Spätestens seit 1877 hatte Adam, damals schon annähernd 40 Jahre als Veterinär tätig und seit 1852 in den Diensten der Stadt Augsburg, 54 in Zusammenhang mit Überlegungen für einen neuen Viehmarkt beim dortigen Magistrat auf die Errichtung eines zentralen Schweineschlachthauses gedrungen. 55 Dies wurde freilich eben erst 1900 verwirklicht. In Kempten betrieb die Stadtgemeinde seit 1864 ein in der Neustadt in der Nähe der Residenz gelegenes Schlachthaus für Großvieh, dessen Bau jahrelange Verhandlungen vorausgegangen waren und der erst mit Bestätigung des Innenministeriums durchgesetzt worden war. Abgeprallt waren dabei auch die Einsprüche seitens der im Residenzschloss untergebrachten staatlichen Behörden und von Wohnungsinhabern. Als der Magistrat 1896 dort auch eine Schweineschlächterei plante, um die über das Stadtgebiet verteilten Privatschlächtereien zu konzentrieren, erhob sich erneut Widerspruch der Nachbarn. Nicht genug damit, dass bereits vom jetzigen Schlachthausbetrieb Gerüche, Fliegen und Lärm ausgingen, wenn etwa im Sommer zu nächtlicher Stunde bei geöffneten Fenstern geschlachtet werde, so werde künftig also auch mit Störungen des Betriebes in den Ämtern zu rechnen sein, und zwar durch Ausdünstungen und das Geschrei und Grunzen der Schweine, die vor der Schlachtung nicht gefüttert würden. 56 Die Antwort des Kemptener Stadtmagistrats enthielt sowohl den Verweis auf die veterinärpolizeilichen Notwendigkeiten als auch darauf, dass eine genaue Schlachthausordnung künftig unverständige Behandlung der Thiere und unvernünftige Thierquälerei hintanhalten werde: Wenn beim Abladen die Thiere nicht einige Meter weit an Ohren und Schweif gezogen werden, wenn die Thiere vielmehr in einer sogenannten Rutsche […] auf den Boden gelangen, wenn vor dem Schlachten die vorgeschriebene Betäubung stattfindet, dann fällt jedes Geschrei fort. 57 Beide Seiten hatten sich somit im Konflikt auch auf Aspekte einer tadelsfreien Behandlung der Schlachttiere berufen, der Stadtmagistrat konnte schließlich nach einigen Zugeständnissen bauen. In Neu-Ulm war ein magistratischer Beschluss von 1871 zu Jahresbeginn 1877 mit dem Bezug eines städtischen Schlachthauses verwirklicht worden, das die 53 StA Augsburg, Regierung 5571, Hauptbericht über das Zivil-Veterinärwesen im Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg für 1876 (vom 5.5.1877). In diesem Akt sind die zusammenfassenden Berichte für den Zeitraum 1872-1879 erhalten. 54 Siehe seine Qualifikationstabelle in StA Augsburg, Regierung 7204. 55 Hierzu auch J OHANNES S CHNEIDER , Der Schlacht- und Viehhof der Stadt Augsburg, Augsburg 1906, S. 3. 56 StA Augsburg, Regierung 16516, Landbauamt Kempten bzw. Rentamt Kempten an Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern (7.3.1896 und 27.3.1896). 57 StA Augsburg, Regierung 16516, Stellungnahme des Stadtmagistrats Kempten (Bürgermeister Horchler) (11.6.1896). G ERHA RD H ET ZER 372 Privatschlächtereien von elf Metzgern und vier Gastwirten abgelöst hatte. 58 In Mindelheim, Nördlingen oder Weißenhorn hingegen lebte man trotz der Bemühungen, die ein Nachfolger von Adam 1911/ 13 zur Behebung lange gerügter Missstände unternahm, auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit veralteten, kleinen und zum Teil baufälligen Einrichtungen weiter. 59 Hierbei erwies es sich nur als bedingt wirksam, über den § 35 des Reichsgesetzes vom 30. Juni 1900 - ›die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten betreffend‹ 60 - Druck auszuüben, der die Gemeinden zur Beseitigung von Missständen bei der Wasserversorgung und Abfallentsorgung verpflichtete. Es gab natürlich auch die Gegenbeispiele, deren Einrichtungen Besuchern aus anderen Städten vorgezeigt werden konnten - so in Straubing, wo der Schlachthofdirektor nicht nur Abordnungen aus Schwaben empfing, sondern auch österreichische Städte beim Bau ihrer Schlachthöfe beriet. 61 5. Ordnung im Schlachthaus Die im Oktober 1896 in Kraft getretene Schlachthofs-Ordnung für die neu gebaute Betriebsstätte der Stadt Breslau dürfte mit ihren relativ ausführlichen Bestimmungen zur Ausführung der Schlachtungen (§ 16) und zum Schächten (§ 17) der Höhe der Zeit entsprochen haben. 62 Regelwerke der Fleischbeschauer befürworteten um die Jahrhundertwende eindeutig eine Schlachtung nach vorheriger Betäubung als die humanste und schmerzloseste, wenn auch […] eine ideale, allen Anforderungen entsprechende Schlachtmethode ein fruchtloses Beginnen bleiben wird. 63 1912 schließlich veröffentlichte der Leiter des städtischen Schlachthofes in Lennep (Rheinland) 58 StA Augsburg, Bezirkstierarzt Neu-Ulm 76, Jahresbericht des Bezirkstierarztes von Neu- Ulm für 1877 (vom 10.2.1878). Die Jahresberichte dieses Amtsveterinärs liegen für 1872- 1897 nahezu lückenlos vor, eine für diesen Zeitrahmen sehr seltene Überlieferung. Siehe auch StA Augsburg, Regierung 16547. 59 Siehe die Vorgänge in StA Augsburg, Regierung 16556, 16667 und 16685. 60 Reichs-Gesetzblatt 1900, S. 306. 61 H ELMUT L ACKNER , Ein »blutiges Geschäft«. Zur Geschichte kommunaler Vieh- und Schlachthöfe. Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich, in: W AL - TER S CHUSTER u. a. (Hg.), Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. FS für Fritz Mayrhofer zur Vollendung seines 60. Lebensjahres (Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2003/ 04), Linz 2004, S. 805-828, hier 807, 825, 828. 62 Schlachthof und Viehmarkt zu Breslau, hg. vom Magistrat der königl[ichen] Haupt- und Residenzstadt Breslau, Breslau 1900, S. 74f. 63 M ARTIN R EUTER / K ONRAD R OGNER , Katechismus der Schlachtvieh- und Fleischbeschau. Eine Anleitung zur Abhaltung und zum Bestehen der Fleischbeschauer-Prüfung nach dem Reichsgesetze betr[effend] die Schlachtvieh- und Fleischbeschau, Ansbach 1904, S. 34. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 373 eine Übersicht zu den auf Schlachthöfen im Deutschen Reich geübten Tötungsverfahren, die auf einer Umfrage mit annähernd 330 Einsendungen beruhte. 64 Die als human empfohlenen Schlagbolzen sowie Schussapparate für Bolzen oder Kugel hatten sich beim Großvieh in rund 80 Prozent der Schlachtstätten durchgesetzt. Der althergebrachte freie Schlag wurde bei Rindern noch an einer Reihe von Orten (darunter in Berlin, Nürnberg und Erlangen) - allerdings nicht von Schlachthausangestellten, sondern von Metzgern - geführt, zum Teil war er wahlweise bei leichteren Rindern im Gebrauch (so in Nördlingen und Regensburg). Schweine wurden inzwischen auf den unter Kontrolle stehenden Schlachtanlagen zu gut 60 Prozent per Bolzen getötet oder betäubt, wobei in Bayern freilich noch mehrheitlich frei geschlagen wurde. Der Einsatz des Bolzens sank dann bei Kälbern, Schafen und Ziegen auf etwa zwölf Prozent. Bei diesen Tieren wurde somit der Betäubungsschlag noch weit überwiegend mit Keule, Hammer oder Knopfbeil geführt. Hier gab es vereinzelt noch altertümliche Methoden - den Genickstich oder das unbetäubte Abstechen -, etwa in Nördlingen, wo man beim Schlachten auch sonst am Hergebrachten hing. 65 Dabei waren die Regeln, nach denen man sich in Nördlingen seit den 1870er Jahren zu richten hatte, sobald nicht in Privatlokalitäten, sondern im Schlachthaus getötet wurde - was also überwiegend Rinder betraf-, im Wortlaut nicht tierunfreundlich. Man verließ sich allerdings auf das handwerkliche Geschick der Schlachtenden. So bestimmten zwei von zwölf Paragraphen der seinerzeit geltenden Vorschriften: Das Vieh darf erst unmittelbar vor der Schlachtung in das Schlachthaus eingetrieben werden. Bei dem Einführen und Anbinden des Großviehes, wozu nur erwachsene und im Umgange mit Vieh vertraute Personen verwendet werden dürfen, haben sich dieselben eines entsprechend starken Seiles zu bedienen (§ 3) und: Das Schlachten darf nur unter Aufsicht der Meister oder dazu qualifizierter Gehilfen geschehen. Bei jeder Schlachtung ist schnell und ohne Quälerei mit aller Vorsicht zu verfahren (§ 5). 66 Mit dem Begriff des Handwerksgebrauchs operierte noch der einschlägige von insgesamt 41 Paragraphen einer im März 1903 vom Stadtmagistrat Würzburg erlassenen Vorschrift (§ 11). 67 Eine schnellstmögliche und Unfälle vermeidende Schlachtung sollte also durch den Traditionsstandard gewährleistet werden. Ansonsten wurde das Füttern der für höchstens einen Tagesaufenthalt in die Stallungen 64 K[ ARL ] K LEIN , Aus öffentlichen und privaten Schlachthäusern Deutschlands, München [1912]. Kleins Vorwort ist vom August 1912 datiert. 65 Die Angaben der einzelnen Schlachthöfe, geordnet nach Schlachtmethode, bei K. K LEIN , Schlachthäuser (Anm. 64), S. 90-107. 66 StA Augsburg, Regierung 16556, Ortspolizeiliche Vorschriften für das städtische Schlachthaus in Nördlingen vom 1.2.1877, Abschrift. 67 Satzung zur Vornahme der Schlachtungen und der Fleischbeschau sowie zum städtischen Freibankbetrieb, in: Neue Sammlung der Ortspolizeilichen Vorschriften, Statuten, Normativbestimmungen u.s.w. der Stadt Würzburg 15, Würzburg 1909, S. 1-14. G ERHA RD H ET ZER 374 eingetriebenen Tiere verlangt, die erst nach Abschluss der Schlachtvorbereitungen in die Schlachthallen geführt werden sollten. Kindern unter zehn Jahren war der Zutritt verboten, Frauen sollten nur mit besonderer Genehmigung beschäftigt werden. Betrunkene waren des Schlachthofes zu verweisen. Für Großvieh und Pferde war der Schussapparat vorgeschrieben, Kälber durften nicht lebend mit den Hinterbeinen (Flechsen) an die Fleischerhaken gehangen werden. Für das Schächten war eine Verwendung der zum Niederwerfen vorgesehenen Winden und Aufzüge vorgeschrieben, zu Fall gebracht werden sollte das Tier erst, wenn der Schächter anwesend war. Kopf und Schweif des geschächteten Tieres sollten während der Muskelkrämpfe festgehalten werden. Engmaschiger war das wenige Jahre zuvor erlassene Regelwerk in Augsburg. 68 Es gab Anweisungen für den Zutrieb per Eisenbahn oder auf dem Landweg 69 sowie eine Treib- und Fahrordnung auf dem Schlachthofgelände, die Stricke und Fallseile vorschrieb, die Bindung (Knebelung) der Kälber verbot und überhaupt zu Schonung und Vorsicht mahnte. Nach grundsätzlichen Aussagen, dass alles Schlachten regelrecht und auf die schnellste Weise unter Vermeidung jeder Tierquälerei zu geschehen habe und alle Schlachttiere - mit Ausnahme der zu schächtenden - zu betäuben seien, wobei das Schlachten erhitzter oder ermüdeter Tiere verworfen wurde, traf die Schlachthausordnung Anweisungen für jede Art von Schlachtvieh. Bestimmungen für das Anbinden, Anlegen von Fesseln und Blenden, die Vornahme der Betäubung und das Ausblutenlassen nach Brust- oder Halsstich reagierten offensichtlich auf die in öffentlicher Kritik stehenden Missstände des Schlachtens vergangener Tage. Bei Großvieh führte in Augsburg ein städtischer Schlagmeister, der zugleich das Amt des Wagmeisters versah, den Stirnschlag per Knopfbeil, frei oder bei schweren Tieren mit Schlagmaske. Seine Leistung war unentgeltlich. Wo die Metzger selbst betäubten, hatten sie sich der Werkzeuge zu bedienen, die der Schlachthof zur Verfügung stellte. Mit dem Verarbeiten durch Enthäuten, Abbrühen etc. durfte erst begonnen werden, wenn keine Bewegung oder Zuckung […] mehr wahrzunehmen sei. Für das Schächten durch Metzger jüdischer Konfession oder solchen mit nachgewiesen jüdischer Kundschaft legten je ein Paragraph der ortspolizeilichen Vorschriften 68 Ortspolizeiliche Vorschriften des Magistrats der Stadt Augsburg für die Benützung des Schlachthofes vom 20.9.1900 sowie eine eigene Schlachthaus-Ordnung vom gleichen Tag. Amts-Blatt der königl[ich] Bayer[ischen] Stadt Augsburg, Nr. 77, 23.9.1900. Mit der Vornahme der Schlachtungen beschäftigten sich in den Texten die §§ 25-30 (von 100 Paragraphen) bzw. 4 und 5 (von 16 Paragraphen). 69 In Augsburg fand noch lange Jahre nach Eröffnung des mit Lokalbahnanschluss versehenen Schlachthofes ein kilometerlanger archaischer Viehtrieb durch die Stadt statt, und zwar vom Güterbahnhof aus, dabei auch durch bürgerliche Wohnviertel und dies manchmal an Feiertagen, da den Händlern der Bahntransport angeblich zu teuer war. Siehe ›Neue Augsburger Zeitung‹, Nr. 14, 18.1.1911. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 375 und der Schlachthaus-Ordnung Einzelheiten fest. Im Übrigen galt: Die zum Schächten notwendigen Apparate werden nicht vom Magistrat gestellt. Abb. 1: Innenansicht der Großvieh-Schlachthalle im neuen Augsburger Schlacht- und Viehhof, um 1907. Neben Eingaben gegen Tierversuche (Vivisektionen) hatten in den 1880er Jahren auch Anträge von Tierschutzverbänden gegen das Schlachten durch Blutentziehung ohne vorherige Betäubung mehrmals den Reichstag beschäftigt und in Zusammenhang mit den Speisevorschriften nach jüdischem Bekenntnis eine Vielzahl von Adressen an das Parlament ausgelöst, desgleichen ein lebhaftes Pro- und Contra-Echo in Presse und Broschüren. Eine der ersten Eingaben gegen das Schächten kam 1877 vom Münchener Tierschutzverein. Bereits 1840 hatte der Nürnberger Verein gegen Tierquälerei in einem ersten Rechenschaftsbericht das Schächten als ein barbarisches Verfahren bezeichnet und den Staat als nicht verpflichtet gesehen, religiöse Vorurtheile zu dulden, welche die Humanität so tief verletzen, wobei allerdings Hoffnungen auf einen Wandel in der Anschauung der Israeliten geäußert wurden. 70 1893 wurde das Schlachten ohne vorherige Betäubung in der Schweiz nach einer Volksabstimmung untersagt. Als im Januar 1911 im Reichstag über Vorschläge zur Novellierung des Reichstrafgesetzbuches von 1871 debattiert 70 ›Erster Jahresbericht des Nürnberger Vereines zur Verhütung der Thierquälerei‹, Nürnberg 1840, S. 13f. Exemplar in BayHStA, MInn 54143. G ERHA RD H ET ZER 376 wurde, waren Unterschriftensammlungen unter Schlachthoftierärzten und bei tierärztlichen Vereinen unterwegs, die das Schlachten ohne Betäubung als tierquälerisch definierten. Tatsächlich war die Debatte von einem Anbringen der entsprechenden Reichstagskommission bestimmt, landesrechtliche Bestimmungen für unzulässig zu erklären, die in die rituellen Vorschriften einer religiösen Gemeinschaft eingriffen. 71 Im Königreich Sachsen hatte nämlich von 1892 bis 1910 ein faktisches Schächtverbot bestanden. In der Begründung ihrer dann mehrheitlich angenommenen Vorlage hatte die Kommission ausgeführt, dass sie Schächten nicht als Tierquälerei ansehe. Auf dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Entwicklung des Verhältnisses Reich - Bundesstaaten am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist es bemerkenswert, dass in den letzten Jahren der Weimarer Republik Verbote für ein betäubungsloses Schlachten auf Länderebene erfolgten. Sonach ist die Mitschrift über die Debatte des Bayerischen Landtages vom 29. Januar 1930, als über einen Entwurf der Staatsregierung für ein Gesetz über das Schlachten von Tieren gesprochen wurde, da eine reichsrechtliche Regelung auf sich warten lasse, ein interessantes Dokument. 72 Die Fraktion der Bayerischen Volkspartei, die den Ministerpräsidenten stellte, erlitt mit einem Abänderungsantrag, der das Schächten in Ausnahmeregelung als Zeichen religiöser Gewissensfreiheit weiter gestatten wollte, eine Niederlage gegen die hier gemeinsam votierenden Abgeordneten aller anderen Fraktionen (Bauernbündler, Deutsche Volkspartei, Deutschnationale Volkspartei, Kommunisten, Nationalsozialisten und Sozialdemokraten). Den ausführlichsten Redebeitrag lieferte der Fraktionsvorsitzende der NSDAP, Dr. Rudolf Buttmann. Dem bayerischen Gesetz vom Mai 1930 73 folgten in den Jahren 1931/ 32 Gesetze in Braunschweig, Oldenburg, Anhalt und Thüringen, wo die NSDAP teils an der Regierung beteiligt war, teils bereits die Ministerpräsidenten stellte. Das ›Gesetz über das Schlachten von Tieren‹ vom 21. April 1933 verbot dann auf Reichsebene betäubungsloses Schlachten warmblütiger Tiere außer im Falle von Notschlachtungen. Dieses Schlachtgesetz vom April 1933, das ›Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften‹ vom Mai 1933 und das ›Reichstierschutzgesetz‹ vom November 1933 nahmen für sich in Anspruch, ältere 71 In Augsburg sah die liberale Presse in dem Kommissionsvorschlag ein Werk des Zentrums, das in Verfolgung eigener Interessen die Rechte der Bundesstaaten zugunsten des Reiches zu beschneiden versuche. Gleiches gelte für die wortreiche Verteidigung der jüdischen Religionsvorschriften durch den Zentrumsredner: ›Augsburger Abendzeitung‹, Nr. 13, 13.1.1911. Die dem Zentrum nahe stehenden Organe fassten unterschiedlich ausführlich die Redebeiträge zusammen, enthielten sich aber eines Kommentars. 72 Verhandlungen des Bayerischen Landtags 1929-1930, Stenographische Berichte, Bd. 3, S. 106-120 (57. öffentliche Sitzung). 73 Gesetzu[nd] Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern 1930, S. 133. M EN S CH UND T IE R IM S C HLA C HT HA US 377 Anschauungen des Mensch-Tier-Verhältnisses zugunsten von mehr Eigenrechtlichkeit des Tieres überwunden zu haben. Im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage greife nämlich der Gedanke, daß das Tier des Tieres wegen geschützt werden muß. 74 In der Landtagsdebatte vom Januar 1930, als es um das bayerische Schlachtgesetz gegangen war, hatte der katholische Geistliche und Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising, Dr. Anton Scharnagl, als Redner für die Bayerische Volkspartei nochmals den menschenzentrierten Tierschutz auf den Punkt gebracht: Wir wollen jeden Ausschluß der Tierquälerei deshalb, damit die Zuschauer und diejenigen, die diese Handlungen vornehmen, nichts sehen und nichts tun müssen, was zur Verrohung beiträgt. Ich glaube, dass dieser Standpunkt des Menschenschutzes gegenüber dem Standpunkte des Tierschutzes […] den Vorzug verdient. 75 Und rund 85 Jahre früher hatte für den Gründer und Geschäftsführer des Münchener Vereins gegen Tierquälerei, den Juristen Dr. Ignaz Perner, gegolten, Mitleid in die Herzen der Menschen zu pflanzen, Mitleid, die Quelle fast aller übrigen Tugenden, Mitleid, nicht bloß mit den Tieren, […] sondern mehr noch mit den Menschen. 76 Dabei hatte er eine Reihe von Verbrechern angeführt, die ihren Weg als Tierquäler begonnen hätten. Nur wenig später prägte Arthur Schopenhauer, der mit Perner und dessen Verein in lockerem Kontakt stand, den inzwischen viel zitierten Aphorismus zu dem Erbarmen, das der Gerechte mit seinem Vieh habe: »Erbarmt! « - Welch ein Ausdruck! […] Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man dem Thiere schuldig, […]. 77 Drei Aussagen, drei Standpunkte, die gleichwohl nicht völlig getrennt waren, Zeugnisse für Denkströmungen, die alle an der 74 Deutscher Reichsanzeiger, Nr. 281, 1.12.1933. Zur Kritik der bis zum Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26.5.1933 (RGBl I, S. 295) geltenden Regelung des Reichsstrafgesetzbuches siehe die Einleitung bei [K LEMENS ] G IESE / [W ALDEMAR ] K AHLER (Bearb.), Das deutsche Tierschutzrecht. Bestimmungen zum Schutze der Tiere, Berlin 1939, S. 12f.: Die bisherige Sanktion für Tierquälerei sei keine Strafandrohung gewesen, »die dem Schutz der Tiere dienen […] sollte, sondern […] den Schutz menschlicher Gefühle und Empfindungen vor dem peinlichen Gefühl, eine tierquälerische Handlung mit ansehen zu müssen, bezweckte.« Nun aber werde »die Quälerei als solche, nicht wegen ihrer Rückwirkung auf das Empfinden« bestraft. Hierbei beriefen sich die Autoren auf die bereits von Hippel erhobenen Forderungen. Siehe auch K. D. W IEGAND , Tierquälerei (Anm. 50), S. 39-41, 123-125. 75 Verhandlungen (Anm. 72), S. 109. 76 I GNAZ P ERNER , Über das Mitleid, seinen Ursprung und seinen bisher viel zu wenig beachteten Einfluß auf das Glück der ganzen menschlichen Gesellschaft, psychologisch und historisch betrachtet. Jahresbericht des Münchner Vereins gegen Thierquälerei für 1846. 77 Schopenhauer nahm hier direkt Bezug auf eine Schrift des Münchener Vereins von 1852, die den Spruch Salomos 12,10 angeführt hatte; A RTHUR S CHOPENHAUER , Sämtliche Werke, neu bearb. u. hg. von A RTHUR H ÜBSCHER , Bd. 6: Parerga und Paralipomena, Bd. 2, Wiesbaden 1947, S. 395. G ERHA RD H ET ZER 378 Veränderung der Bedingungen in den Schlachthäusern des 19. Jahrhunderts ihren Anteil gehabt hatten, ohne am Kern, dem Tod für den menschlichen Verzehr, etwas zu ändern. Allerdings fand am Ende dieses Jahrhunderts eine kulturkritische und lebensreformerische Haltung immer mehr Anhänger, mit deren Naturverständnis sich die Tötung und Konsumierung von Tieren nicht mehr vereinbaren ließ. 3 79 Autorenverzeichnis P ROF . D R . K LAUS B RANDSTÄTTER Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck D R . H EIDI E SCHER -V ETTER Kommission für Erdmessung und Glaziologie, Abtl. Glaziologie, Bayerische Akademie der Wissenschaften, München D R . P EER F RIESS Ministerialrat, Bayerische Staatskanzlei, München D R . G ERHARD H ETZER Leiter des Hauptstaatsarchivs, München D R . P AUL H OSER Historiker, München D R . G ERHARD I MMLER Leiter der Abteilungen I (Ältere Bestände) und III (Geheimes Hausarchiv) des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, München D R . C HRISTIAN J ÖRG Universität Trier P ROF . EM . D R . R OLF K IESSLING ehem. Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, Universität Augsburg D R . H ANS -J ÖRG K ÜNAST Historiker, Mering b. Augsburg D R . B ARBARA R AJKAY Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, Universität Augsburg D R . W OLFGANG S CHEFFKNECHT PH Vorarlberg in Feldkirch und BG Bregenz-Blumenstraße PD D R . S TEFAN S ONDEREGGER Leiter des Stadtarchivs der Ortsbürgergemeinde St. Gallen D R . C HRISTINE W ERKSTETTER Historikerin, Stadtbergen b. Augsburg P ETER W INKLER Leiter i. R. des Meteorologischen Observatoriums Hohenpeißenberg 38 1 Nachweis der Abbildungen Beitrag H EIDI E SCHER -V ETTER Abb. 1: ›Atlas Tyrolensis‹ von Peter Anich - Blasius Hueber; Foto: M. Kuhn, Innsbruck Abb. 2: Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 3: Christoph Mayer, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 4: Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 5: Christoph Mayer, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 6: Heidi Escher-Vetter, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 7: Heidi Escher-Vetter, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 8: Heidi Escher-Vetter, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 9: BayFORKLIM-Atlas, S. 46 Abb. 10: Markus Weber, Kommission für Erdmessung und Glaziologie (KEG) Abb. 11: W. Hagg Beitrag P ETER W INKLER alle Abb. von Peter Winkler Beitrag H ANS -J ÖRG K ÜNAST Abb. 1 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Titelblatt Abb. 2 StadtA Augsburg, Amtsbibliothek, Kal. 1 d (1579), Bl. A3b Beitrag S TEFAN S ONDEREGGER Abb. 1 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 22r Abb. 3 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,37, fol. 113v Beitrag G ERHARD I MMLER Abb. 1 nach einer Karte in: ›Bürgerfleiß und Fürstenglanz‹. Reichsstadt und Fürstabtei Kempten. Katalog zur Ausstellung in der Kemptener Residenz 16. Juni bis 8. November 1998, hg. v. Wolfgang Jahn [u. a.] (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 38), Augsburg 1998, S. 178; Entwurf: Gerhard Immler Abb. 2 Original im Archiv des Fürsten von Quadt zu Wykradt und Isny, Bestand Kloster Isny, Karte Nr. K 1; Reproaufnahme von Karin Volz, Haus für Fotografie, Ravensburg Beitrag K LAUS B RANDSTÄTTER Abb. 1: Kartengrundlage: Tirol Atlas, Zeichnung & Entwurf K. Scharr, Juli 2011 38 2 Beitrag P EER F RIESS Abb. 1 Alfred O BST / Klaus G EHRING , Getreide. Krankheiten - Schädlinge - Unkräuter, Bonn-Gelsenkirchen 2002, S. 97 Beitrag B ARBARA R AJKAY Abb. 1 SuStBA Aug 656 a, S. 65; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Abb. 2 SuStBA Graph 28/ 84; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Abb. 3 SuStBA 2° Aug 170, nach Blatt 220; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Abb. 4 SuStBA 4 Aug 808; Foto: Wolfgang Mayer, Augsburg Abb. 5 SuStBA Graph 23 (1b B2.13; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Abb. 6 SuStBA Graph 23/ 38; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Abb. 8 SuStBA Graph 17/ 3b; Foto: Eberhard Pfeuffer, Augsburg Beitrag G ERHARD H ETZER Abb. 1 BayHStA, MInn 54143 Abb. 2 aus: J OHANNES S CHNEIDER , Der Schlacht- und Viehhof der Stadt Augsburg, Augsburg 1906, [S. 47]