Nach der Shoa
Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951
1026
2011
978-3-8649-6284-4
978-3-8676-4341-2
UVK Verlag
Dr. Peter Fassl
Dr. Markwart Herzog
Jim G. Tobias
In der unmittelbaren Nachkriegszeit lebten in Bayerisch-Schwaben fast zehntausend jüdische Displaced Persons (DPs). Sie warteten auf eine Möglichkeit zur Auswanderung nach Palästina oder Übersee. Neben den großen DP-Camps in Leipheim, Neu-Ulm und Lechfeld bestanden sogenannte Communities in mehr als einem Dutzend Städte und Gemeinden.
Hier entwickelte sich die fast vollständig vernichtete jüdische Kultur Osteuropas zu einer neuen Blüte. Die Überlebenden der Shoa gründeten religiöse Hochschulen, gaben eine jiddischsprachige Zeitung heraus und gründeten eigene Fußballvereine.
Dieses Kapitel der bayerisch-schwäbischen Geschichte ist nahezu unbekannt. Aufgrund intensiver Forschung in US-amerikanischen, israelischen und deutschen Archiven gelang es den Autoren, das Leben der jüdischen DPs in den Wartesälen nachzuzeichnen.
<?page no="0"?> Nach der Shoa Peter Fassl Markwart Herzog Jim G. Tobias (Hg.) Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951 <?page no="1"?> IRSEER SCHRIFTEN Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 7 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee <?page no="2"?> Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias (Hg.) Nach der Shoa Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951 UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Das vorliegende Buch ist Band IV der Reihe »Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben«. Abbildung Einbandvorderseite: Fußballmannschaft der zionistischen Jugendorganisation Dror im DP-Lager Leipheim. Foto: Beth Lochame Hagetaot. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-86496-284-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2012 Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Druck: Rosch Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhalt Peter Fassl / Markwart Herzog / Jim G. Tobias Vorwort..................................................................................................................7 Jim G. Tobias Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben ...................11 1. Von der Befreiung bis zum Aufbau der DP-Camps ...........................................11 2. Alltagsleben und Selbstverwaltung am Beispiel des Camps in Leipheim.............22 3. Neu-Ulm: Die jüdische Stadt in der Ludendorffkaserne ....................................44 4. Von Oberbayern nach Schwaben: Das Lager Lechfeld bei Augsburg..................50 5. Bad Wörishofen und Kempten: Jüdische Hospitäler und Sanatorien .................54 6. Lindau: Gemeinde und Camp in der französischen Besatzungszone ..................61 7. Leben nach Gottes Geboten (unter Mitarbeit von Michaela Fröhlich)...............63 8. Verzeichnis der DP-Camps und -Gemeinden in Bayerisch-Schwaben ...............76 Alois Epple Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung...................................................83 1. Anzahl der in Türkheim einquartierten jüdische DPs ........................................84 2. Wohnen und Essen ...........................................................................................90 3. Jüdisches Leben in Türkheim ............................................................................97 4. Jüdische DPs in der Umgebung von Türkheim ...............................................101 5. Resümee..........................................................................................................107 Nicola Schlichting „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“: A Heim - die Zeitung der jüdischen DPs in Leipheim ...............................111 1. Zur Geschichte der DP-Zeitungen ..................................................................112 2. Die Zeitung A Heim........................................................................................116 <?page no="5"?> Inhalt 6 Peter Fassl Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften nach dem Kriegsende in Bayerisch-Schwaben ..........................................127 1. Die historischen Quellen.................................................................................127 2. Die Wahrnehmung der jüdischen Displaced Persons in Schwaben ..................129 3. Resümee..........................................................................................................135 Abkürzungen....................................................................................................137 Glossar..............................................................................................................139 Autoren und Herausgeber..............................................................................140 <?page no="6"?> Vorwort Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias In der unmittelbaren Nachkriegszeit lebten in Westdeutschland nahezu 200 000 Juden in zahlreichen Auffanglagern und Privatunterkünften und warteten auf eine Möglichkeit zur Auswanderung nach Palästina oder Übersee. Deutsche Juden waren jedoch kaum darunter. Die überwältigende Mehrheit stammte aus Osteuropa: Flüchtlinge, die vor antisemitischen Übergriffen in ihren jeweiligen Heimatländern in das besetzte Deutschland geflohen waren. Sie hatten den Krieg und die nationalsozialistische Verfolgung im sowjetischen Exil oder im Untergrund überlebt. Aufgrund ihres besonders schweren Schicksals ordnete US-Präsident Harry S. Truman im Sommer 1945 den Aufbau von rein jüdischen Camps an, die überall in der US- Besatzungszone in ehemaligen Kasernen, Fabriken oder geräumten Wohnsiedlungen entstanden. Doch die Massenunterkünfte reichten bei weitem nicht aus, sodass vielerorts Juden auch in beschlagnahmten Wohnungen einzogen, aus denen die deutsche Zivilbevölkerung zuvor ausquartiert worden war. Teilweise mussten Opfer des nationalsozialistischen Rassismus mitten unter den Tätern leben. Die Menschen in den Camps und Communities unterstanden der Verwaltung und Versorgung einer Hilfsorganisation der Vereinten Nationen. Die US-Militärregierung gestattete den Juden jedoch eine weitgehende Selbstbestimmung. Noch nie in der deutschen Geschichte hatte es in so kurzer Zeit eine solche Vielfalt an neugegründeten jüdischen Berufs-, Volks- und Religionsschulen, jiddischsprachigen Zeitungen, Theatergruppen, zionistisch orientierten politischen Vereinigungen und Parteien gegeben. Auch im sportlichen Bereich fanden zahlreiche Aktivitäten statt. Mitten im Land der Täter entwickelte sich eine demokratisch verfasste, unabhängige jüdische Gesellschaft - eine Gemeinschaft auf Zeit. Knapp zehntausend dieser Displaced Persons (DPs), verschleppte, entwurzelte Menschen, hielten sich zwischen 1945 und 1951 im Regierungsbezirk Bayerisch- Schwaben auf. Neben den Camps sogenannte in mehr als einem Dutzend Städten und Gemeinden, unter anderem in Augsburg, Bad Wörishofen, Krumbach, Kempten, Kaufbeuren, Memmingen und Türkheim. Hier entwickelte sich die fast vollständig vernichtete jüdische Kultur Osteuropas zu einer neuen Blüte. In Leipheim und Krumbach entstanden religiöse Hochschulen, die Überlebenden der Shoa gaben eine jiddischsprachige Zeitung heraus und gründeten eigene Fußballvereine. Neben Hatikwa Türkheim, Bar Kochba Neu-Ulm, Hapoel Lechfeld und Makabi Leipheim spielten weitere fünf Mannschaften aus Bayerisch-Schwaben um die Meisterschaften in der ersten und zweiten jüdischen Fußball-Liga. in Leipheim, Neu-Ulm und Lechfeld bestanden Communities <?page no="7"?> Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias 8 Dieses fesselnde Kapitel der deutschen Regionalgeschichte wurde bisher erfolgreich ausgeblendet. Es ist weder dem öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig, noch steht es im Fokus der Medien, und auch von den Historikern wurde es bisher weder erforscht noch dokumentiert. In den Geschichtsbüchern, Heimatzeitschriften und örtlichen Chroniken wurden die bayerisch-schwäbischen „Wartesäle“ der Shoa- Überlebenden mit ihrer weitgehenden politischen und kulturellen Autonomie bislang nicht thematisiert, während über die angrenzenden DP-Camps im oberbayerischen Landsberg am Lech, im württembergischen Ulm oder im österreichischen Hohenems jeweils einschlägige Arbeiten vorliegen. 1 Unsere Dokumentation „Nach der Shoa: Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951“ ist ein erster Schritt auf einem langen Weg, diese Lücke der regionalhistorischen Forschung zu schließen. Sie kann nicht mehr liefern als ein weiteres Mosaiksteinchen, das zu dem erst rudimentär erschlossenen Gesamtbild über die Geschichte der jüdischen Displaced Persons gehört. Deshalb können wir manche Aspekte nur am Rand erwähnen, einige Probleme lediglich anreißen und etliche Details des überaus bunten und ungemein vielfältigen Lebens der jüdischen DPs in Bayerisch-Schwaben nur als Desiderate der Forschung benennen. Der Band soll daher auch Lust auf weitere Recherchen machen und insbesondere die junge Generation für ein nahezu vergessenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte interessieren. Alle Beiträge dieses Bandes basieren auf Referaten, die im Rahmen der 21. Jahrestagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“ im November 2009 an der Schwabenakademie Irsee vorgetragen wurden. Für das einleitende große Übersichtskapitel über die Camps und Communities der Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben wurden zusätzliche umfangreiche Recherchen in israelischen und US-amerikanischen Archiven durchgeführt. Vor allem die jüdischen Quellen geben einen tiefen Einblick in das facettenreiche Alltagsleben der Shoa-Überlebenden. In den Archiven des American Jewish Joint Distribution Committee, des YIVO Institute for Jewish Research (New York), des United States Holocaust Memorial Museum (Washington DC) von Beth Lochame Hagetaot und von Yad Vashem (Israel) finden sich neben Statistiken, Akten der Selbstverwaltung sowie Berichten der Wohlfahrtsorganisationen auch historische Fotografien. Eine wichtige Quelle war darüber hinaus die in Leipheim verlegte jiddischsprachige Zeitung A Heim, die in Reportagen, Meldungen und Essays anschaulich über das soziale, kulturelle und sportliche Leben der im bayerischen Schwaben ausharrenden DPs berichtete. Die ungeahnte Vielfalt des neu entstandenen und nun aufblühenden jüdischen Lebens in Deutschland war zeitlich begrenzt. Sehnsüchtig warteten die Menschen auf eine Auswanderungsmöglichkeit 1 Vgl. E DER , Flüchtige Heimat; H ABER , Displaced Persons; M AIHOFER , Jüdische Displaced Persons. <?page no="8"?> Vorwort 9 nach Übersee und vor allem ins Land Israel. Doch der jüdische Staat wurde erst im Mai 1948 Wirklichkeit. Auch die klassischen Einwanderungsländer wie etwa die USA, Kanada oder Australien liberalisierten ihre Einwanderungsgesetze nicht vor dem Ende der 1940er Jahre. Erst dann wurden die „Wartesäle“ nicht mehr gebraucht und nach und nach aufgelöst. Nur eine kleine Anzahl jüdischer DPs blieb aus unterschiedlichsten Gründen in Deutschland und bildete zusammen mit den überlebenden deutschen oder aus der Emigration zurückgekehrten Juden die Keimzellen der neuen Israelitischen Kultusgemeinden. Der vorliegende Sammelband ist Teil der seit 1989 alljährlich im Herbst stattfindenden Fachtagungen der Reihe „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“, die von der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Kooperation mit der Schwabenakademie Irsee im Schwäbischen Bildungszentrum Irsee veranstaltet werden. Ausgewählte Ergebnisse dieser Tagungen wurden in bisher drei Bänden dokumentiert. 2 Das Projekt über jüdische DP-Camps und -Communities im bayerischen Schwaben wurde angeregt von Jim G. Tobias, der am 15. November 2008 im Rahmen der 20. Tagung der genannten Reihe einen Vortrag über „Die Fußballmeisterschaften der DP-Camps“ gehalten hat. Darüber hinaus reiht sich der vorliegende Band ein in ein wissenschaftliches Projekt zum Kriegsende in Bayerisch- Schwaben (Irseer Tagung 2005) 3 einerseits und die Forschungen über die 1950/ 60er Jahre (Irseer Tagungen 2006 bis 2008) 4 andererseits. Überdies setzt er methodisch wie inhaltlich die Forschungen des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts über jüdische DP-Camps in anderen bayerischen Bezirken fort. 5 Und schließlich knüpfen die ausführlichen Kapitel über das Fußballspiel in jüdischen DP-Camps nahtlos an die Forschungsprojekte der Schwabenakademie Irsee zur Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Sports 6 an sowie an Forschungen und Publikationen über das Spiel mit dem runden Leder in jüdischen DP-Camps, 7 die vom Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts initiiert und durchgeführt wurden. Der Dank der Herausgeber gilt allen Mitarbeitern und Kollegen der deutschen, israelischen und US-amerikanischen Archive und Institute für ihre umfängliche Hilfe und konstruktive Kooperation. Ein herzliches Dankeschön auch an jene Menschen, die beim Entstehen dieses Buchs mitgewirkt haben, bei Layout und Satz, Korrekturlesen usw. 2 Vgl. F ASSL , Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bde. I-III. 3 Vgl. F ASSL , Kriegsende. 4 Vgl. F ASSL , Beiträge zur Nachkriegsgeschichte. 5 Vgl. T OBIAS , Vorübergehende Heimat; D ERS ., Die jüdischen DP-Lager Pürten. 6 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: H ERZOG , Fußball als Kulturphänomen; D ERS ., Skilauf - Volkssport - Medienzirkus; D ERS ., Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus; D ERS . / L EIS , Bahnhof; D IES ., Kunst und Ästhetik; W EBER / H ERZOG , „Ein Herz und eine Seele“. 7 Vgl. T OBIAS , Arojs mitn Bal; D ERS ., Ichud ojch wajter der Bester. <?page no="9"?> Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias 10 Ein besonderer Dank gilt dabei dem Bezirk Schwaben, der Schwabenakademie Irsee und dem Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts für vielfältige ideelle und finanzielle Unterstützung bei Vorbereitung und Drucklegung dieses Bandes. Literatur A NGELIKA E DER , Flüchtige Heimat. Jüdische Displaced Persons in Landsberg am Lech 1945 bis 1950, München 1998. P ETER F ASSL (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben: Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee, Sigmaringen 1994. - (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II: Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte, Stuttgart 2000. - (Hrsg.), Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben 1945, Augsburg 2006. - (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben III: Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit, Augsburg 2007. - (Hrsg.), Beiträge zur Nachkriegsgeschichte von Bayerisch-Schwaben 1945-1970: Tagungsband zu den wissenschaftlichen Tagungen von 2006, 2007 und 2008, Augsburg 2011. E STHER H ABER (Hrsg.), Displaced Persons. Jüdische Flüchtlinge nach 1945 in Hohenems und Bregenz, Innsbruck 1998. M ARKWART H ERZOG (Hrsg.), Fußball als Kulturphänomen: Kunst - Kult - Kommerz, Stuttgart 2002. - (Hrsg.), Skilauf - Volkssport - Medienzirkus: Skisport als Kulturphänomen, Stuttgart 2005. - (Hrsg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus: Alltag - Medien - Künste - Stars, Stuttgart 2008. - / M ARIO L EIS (Hrsg.), Der Bahnhof: Basilika der Mobilität - Erlebniswelt der Moderne, Stuttgart 2010. - / - (Hrsg.), Kunst und Ästhetik im Werk Leni Riefenstahls, München 2011. C HRISTOF M AIHOFER , Jüdische Displaced Persons in Ulm bis 1950, in: Untergang und Neubeginn. Jüdische Gemeinden nach 1945 in Südwestdeutschland, hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart 2009, 41-69. J IM G. T OBIAS , Vorübergehende Heimat im Land der Täter. Jüdische DP-Camps in Franken 1945-1949, Nürnberg 2002. -, Die jüdischen DP-Lager Pürten (Waldkraiburg) und das Kinderlager Aschau, in: J IM G. T OBI- AS / P ETER Z INKE (Hrsg.), nurinst 2004. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2004, 129-147. -, Arojs mitn Bal cu di tojznter wartnde Cuszojer. Die Fußballvereine und -Ligen der jüdischen Displaced Persons 1946-48, in: J IM G. T OBIAS / P ETER Z INKE (Hrsg.), nurinst 2006. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2006, 105-120. -, Ichud ojch wajter der Bester in undzer Zone, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 8 (2008), Nr. 2, 81-87. W OLFGANG E. J. W EBER / M ARKWART H ERZOG (Hrsg.), „Ein Herz und eine Seele“? Familie heute, Stuttgart 2003. <?page no="10"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben Jim G. Tobias 1. Von der Befreiung bis zum Aufbau der DP-Camps Nachdem die Alliierten den Hitler-Faschismus besiegt und die Konzentrationslager geöffnet hatten, bot sich den Soldaten ein Bild des Grauens: „Die Straßen im Camp waren mit Toten oder Sterbenden übersät. In den dreistöckigen Betten der Lagerbaracken befanden sich bis neun Personen; einige waren schon von ihren Leiden erlöst, andere so erschöpft und zu Skeletten abgemagert, dass es fast unmöglich erschien festzustellen, ob noch ein Hauch von Leben in ihnen wohnte.“ 1 Die Befreier des KZ Bergen-Belsen konnten es nicht fassen und diese schreckliche Erfahrung brannte sich für viele Jahre in ihr Gedächtnis ein. „Dieser faule Gestank, der die Luft verpestete, ekelte mich an“, berichtete ein Militärrabbiner. 2 Etliche der Opfer hatten aufgrund der jahrelangen Torturen bereits alle Hoffnung aufgegeben und waren daher nicht in der Lage, ihre Freude über die Rettung auszudrücken. Ungläubig und apathisch nahmen sie die Befreiung zur Kenntnis. Viele begrüßten die Soldaten allerdings mit großer Begeisterung: „Die Amerikaner sind da! Die Amerikaner sind im Lager! “, schrieb ein Häftling des Lagers Dachau in sein Tagebuch. „Wir küssen uns wie Brüder und beglückwünschen uns. Viele haben Tränen in den Augen.“ 3 In umgehend eingerichteten Displaced Persons (DP) Camps erhielten die entwurzelten und verschleppten Menschen erste Hilfe. Den DP-Status bekamen jedoch nicht nur die jüdischen Opfer; Verfolgte aus allen Ländern hatten Anspruch auf Unterkunft, Verpflegung und medizinische Hilfe. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene gehörten jedoch nicht zu dieser Personengruppe. Die Alliierten standen vor der ungeheueren Aufgabe, rund sieben Millionen Verschleppte, Zwangsarbeiter, ehemalige Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge aus etwa 20 Nationen zu versorgen und zu repatriieren. Bereits 1943 hatten auf Einladung von US-Präsident Franklin D. Roosevelt 44 Nationen Überlegungen angestellt, was nach Ende der Kampfhandlungen mit diesen Menschen geschehen sollte und die internationale Flüchtlingsbehörde United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) gegründet. Damit war die rechtliche und organisatorische Grundlage für die Arbeit der 1 U NION O.S.E, Report, 45. 2 G OODMAN , The Survivors, 2. Alle englischsprachigen Zitate sind Übersetzungen des Autors. 3 D ISTEL , Der 29. April 1945, 11. <?page no="11"?> Jim G. Tobias 12 Hilfsorganisation geschaffen worden und es konnten fast überall im besetzten Deutschland sogenannte Assembly Centers entstehen, in denen die DPs untergebracht wurden. Allein die russische Militäradministration verzichtete in ihrer Zone gänzlich auf die Einrichtung solcher Auffanglager. Obwohl Moskau zu den Signaturstaaten der UN-Organisation gehörte, verweigerte es der UNRRA jegliche Tätigkeit auf seinem Territorium und betrieb von Anfang an eine Politik der Zwangsrepatriierung. 4 Viele der verschleppten Ostereuropäer machten sich ohnehin freiwillig auf den Weg in die Heimat. Einige sympathisierten auch mit den Ideen der neuen sozialistischen Machthaber und übernahmen wichtige Positionen in den entstehenden Volksrepubliken. DPs mit nicht sozialistischer Gesinnung oder Kollaborateure des NS-Systems siedelten schon früh in die westlichen Besatzungszonen über. Anfänglich unterstanden alle DP-Camps der alliierten Militärverwaltung, obwohl eine Übereinkunft getroffen worden war, dass die UNRRA allein für die Betreuung der Displaced Persons zuständig sein sollte. Da aber mehr entwurzelte Menschen Hilfe benötigten, als vorauszusehen war, traute die Armee einer zivilen Organisation die Aufgabe nicht zu und verweigerte der UNRRA die alleinige Zuständigkeit. Die UN-Mitarbeiter mussten sich dem militärischen Reglement unterwerfen und eigene Uniformen tragen. 5 Gleichwohl bemühten sich Militärbehörden und die UNRRA beziehungsweise ihre Nachfolgeorganisation International Refugee Organization 6 (IRO) nach besten Kräften um die medizinische Versorgung und belieferten die DPs mit Kleidung und Lebensmitteln. Unterstützt wurden sie dabei durch das große Engagement des jüdisch-amerikanischen Wohlfahrtsverbands American Jewish Joint Distribution Committee 7 (AJDC), kurz Joint genannt, der zwischen 1945 und 1948 allein über 194 Millionen US-Dollar Spendengelder bei den amerikanischen Juden zur Unterstützung für die Überlebenden der Shoa eingesammelt hatte. Zusätzlich schickte der Joint Mitarbeiter und Hilfsgüter aller Art nach Europa. 8 Displaced Persons Camps entstanden überall dort, wo entsprechende Gebäude zur Verfügung standen: in Kasernen, Krankenhäusern, Sanatorien, Wohnsiedlungen, Hotels, Ställen, ehemaligen Zwangsarbeiter-, Kriegsgefangenen-, aber auch Konzentrationslagern. Um die Repatriierung zu erleichtern und zu beschleunigen, wurden die Menschen gemäß ihrer Nationalität untergebracht. Eine Folge dieser Aufteilung war, dass beispielsweise Juden aus dem Baltikum, Ungarn, der Ukraine oder Jugoslawien zusammen mit Bürgern dieser Staaten unter demselben Dach leben mussten. Darunter waren auch nicht jüdische DPs, die mit den Nationalsozia- 4 Vgl. dazu W OODBRIDGE , UNRRA, 3 Vols. 5 J ACOBMEYER , Zwangsarbeiter, 33f. 6 Die IRO übernahm die Arbeit der aufgelösten UNRRA ab Juli 1947. 7 Die amerikanisch-jüdische Wohlfahrtsorganisation AJDC wurde 1914 gegründet. 8 B AUER , Ashes, XVIII. <?page no="12"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 13 listen kollaboriert hatten. Somit waren Shoa-Überlebende mit ihren früheren Peinigern, wie etwa baltischen SS-Männern oder Angehörigen von faschistischen osteuropäischen Milizen, in der gleichen Baracke einquartiert. Unter ihnen befanden sich „begeisterte Helfer des Naziregimes, insbesondere bei der systematischen Judenvernichtung, [...] darunter einige der blutrünstigsten Schergen der SS und der Gestapo“, wie Koppel S. Pinson, Joint-Mitarbeiter, mit Entsetzen feststellte. 9 Schrecklich war auch die Situation der Juden mit deutscher oder österreichischer Staatsangehörigkeit. Diese Personen wurden von der Besatzungsmacht als „frühere Feinde“ eingestuft und damit faktisch den Tätern gleichgestellt. Dies hatte eine schlechtere Verpflegung zur Folge und sie wurden, was ebenfalls bestürzend war, in Arbeitsbrigaden eingesetzt, die Leichen begruben, Trümmer beseitigten oder Straßen wiederherstellten. 10 Anfänglich zeigten die Militärs wenig Verständnis für die besonderen Bedürfnisse der jüdischen DPs, zumal die Soldaten nicht über die nötigen Kenntnisse im Umgang mit schwer traumatisierten Menschen verfügten. Die Soldaten waren nach Europa gekommen, um gegen die Nazis zu kämpfen und nicht, um deren Opfer zu betreuen. 11 1.1. Kursänderung nach dem Harrison-Report Die Überlebenden wurden jedoch insbesondere von jüdischen US-Soldaten und Mitgliedern der Jewish Brigade Group mit zusätzlicher Nahrung und medizinischer Hilfe unterstützt. Diese Kampfeinheit der britischen Armee, bestehend aus rund 5 000 Juden aus Palästina, hatte bereits im Herbst 1944 mit dem Aufbau eines geheimen Unterstützungszentrums begonnen, dem Merkaz la Gola (Zentrum in der Diaspora). Das Zusammentreffen von jüdischen Kämpfern aus Palästina und den ehemaligen Konzentrationslagerinsassen war eine bewegende Erfahrung für beide Seiten: „Wir weinen vor Glück, lass dich küssen, jüdischer Soldat, das Volk Israel lebt! “, 12 riefen die befreiten Juden und fielen den Brigadisten um den Hals. Manchem erschienen sie sogar wie Abgesandte des Himmels: „Hätten die Soldaten sie aufgefordert, ins Meer zu gehen, wären sie gegangen, mit der Gewissheit, dass sich das Wasser vor ihnen teilen würde“, 13 berichtete ein Mitarbeiter der Jewish Agency. Trost und Beistand brachten auch die zahlreichen Militärrabbiner, die die amerikanische Öffentlichkeit über die unhaltbaren Zustände in den Camps alarmierten. Mit Erfolg: US-Präsident Harry S. Truman ordnete eine Untersuchung an und schickte umgehend einen Sonderbeauftragten nach Deutschland. Der ehemalige Kommissar für Einwanderung Earl G. Harrison sollte die Lebensbedingungen in den Camps 9 P INSON , Jewish Life, 102. 10 D INNERSTEIN , DP-Politik, 110. 11 D INNERSTEIN , America, 15. 12 Zit. in: B ARTOV , Brigade, 148. 13 Zit. in: S EGEV , Million, 160. <?page no="13"?> Jim G. Tobias 14 untersuchen. Eine Kommission brach Anfang Juli 1945 nach Europa auf und besuchte etwa 30 DP-Camps in Deutschland und Österreich. Die Ergebnisse wurden im sogenannten Harrison-Bericht am 25. August 1945 vorgelegt; das Papier enthielt eine scharfe Kritik an der US-Militärverwaltung: 14 „Viele jüdische DPs und andere nichtrepatriierbare Personen leben unter Bewachung hinter Stacheldraht, in Camps verschiedenster Art (von den Deutschen für Zwangsarbeiter und Juden erbaut), darunter befinden sich einige der berüchtigsten Konzentrationslager, auf engstem Raum, oft unter schlechten hygienischen, in der Regel schrecklichen Bedingungen. [...] Abgesehen davon, dass sie die Gaskammern, Folter und andere Formen des gewaltsamen Todes nicht mehr fürchten müssen, hat sich wenig geändert. Wir scheinen die Juden wie die Nazis zu behandeln, mit der Ausnahme, dass wir sie nicht vernichten.“ 15 Abschließend empfahl Harrison die Einrichtung spezieller Lager nur für jüdische DPs, denn „obwohl es zugegebenermaßen normalerweise nicht wünschenswert ist, bestimmte rassische oder religiöse Gruppen von ihren nationalen Kategorien zu trennen, so ist es doch die reine Wahrheit, dass dies so lange von den Nazis praktiziert wurde, dass sich eine Gruppe gebildet hat, die besondere Bedürfnisse hat. Juden als Juden (nicht als Angehörige ihrer Nationalitäten) wurden wesentlich schwerer verfolgt als nicht jüdische Angehörige der gleichen oder anderer Nationalitäten.“ Verweigere man den Juden eine besondere Anerkennung, so die Überzeugung Harrisons, würde das bedeuten, die „Augen vor ihrer früheren und viel barbarischeren Verfolgung zu verschließen, die aus ihnen doch bereits eine besondere Gruppe mit größeren Bedürfnissen gemacht“ habe. 16 Einen positiven Effekt hatte der Harrison-Bericht auch auf die Ernährungssituation. General Eisenhower verfügte, die tägliche Lebensmittelzuteilung für rassisch, religiös und politisch Verfolgte auf ein Minimum von 2 500 Kalorien anzuheben. 17 Zusätzlich richtete die Militärregierung ein Koordinationsbüro für jüdische Belange beim Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen ein. Der Leiter dieser Dienststelle führte den Titel „Advisor on Jewish Affairs“ und diente im Wesentlichen als Bindeglied zwischen den jüdischen DPs und den verantwortlichen Behörden. 18 14 D INNERSTEIN , America, 39-41. 15 Der Report von Earl G. Harrison ist abgedruckt in: D INNERSTEIN , America, 291-305. 16 Zit. in: D INNERSTEIN , America, 295. 17 H YMAN , Undefeated, 460. 18 Der Berater für jüdische Angelegenheiten war dem Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen direkt unterstellt. Simon H. Rifkind, ein ehemaliger New Yorker Richter, übernahm den Posten als Erster von Oktober 1945 bis Mai 1946. Bis zur Auflösung der Dienststelle zum Ende des Jahrs 1949 bekleideten insgesamt fünf Advisors das Amt. Der bekannteste Leiter der Behörde und der Advisor mit der längsten Amtszeit war Rabbiner Philip S. Bernstein. Er hatte den Posten von Mai 1946 bis August 1947 inne. Vgl. dazu H YMAN , Undefeated, 307f. <?page no="14"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 15 Ab Ende August 1945 setzte die amerikanische Militärregierung die Vorgaben des Harrison-Reports in ihrer Zone um und ließ weitere Gebäude und sogar ganze Siedlungen für jüdische DPs beschlagnahmen. Vielerorts, wie etwa in München, Bad Wörishofen, Türkheim und Augsburg bezogen die Juden auch Wohnungen, aus denen die deutsche Zivilbevölkerung vorher ausquartiert worden war. Grundlage dieser Requirierungen war eine Verfügung des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman: „Wir müssen unsere Bemühungen, die Menschen von den Camps in anständige Häuser umzuquartieren, noch deutlich steigern. [...] Diese Häuser sind von der deutschen Bevölkerung zu beschlagnahmen.“ 19 Anders als die US-Verwaltung trugen Franzosen und Briten dem schweren Verfolgungsschicksal der Juden keine Rechnung: Die jüdischen Überlebenden wurden von ihnen nicht als eine besonders zu behandelnde Gruppe anerkannt. Gleichwohl kam es auch in der französischen als auch in der britischen Zone zur Bildung von jüdischen DP-Camps, doch erhielten die Menschen nicht die Fürsorge, die der im US-Besatzungsgebiet vergleichbar gewesen wäre. Zudem wurde in der britischen Zone aufgrund des Palästinamandats der Briten eine sehr restriktive, antijüdische DP-Politik betrieben: Aus wirtschafts- und geopolitischen Überlegungen waren die Briten an guten Beziehungen zu den arabischen Staaten in Nahost interessiert und wollten eine verstärkte Einreise von Juden nach Palästina unter allen Umständen verhindern. Ungeachtet dieser Abwehrhaltung hielten sich auf einem Kasernengelände in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen zeitweise über 11 000 jüdische Bewohner auf. Damit war das DP Camp Belsen, das größte im Nachkriegsdeutschland. 20 Waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur einige zehntausend jüdische Überlebende zu betreuen, änderte sich das im Lauf des Jahres 1946 dramatisch: Bereits im Februar war die Zahl der jüdischen DPs auf zirka 70 000 angewachsen und stieg im Sommer auf über 100 000 an. 21 Diese Menschen stammten vor allem aus Polen; sie hatten sich nach dem deutschen Überfall in die Sowjetunion retten können und wollten nach Kriegsende wieder in ihre Heimat zurück. Doch den Heimkehrern schlugen Ablehnung und Hass entgegen. Nach einer regierungsamtlichen Aufstellung wurden zwischen November 1944 und Oktober 1945 in Polen 351 Juden ermordet. 22 Ein weiteres Pogrom in der Ortschaft Kielce, dem im Juli 1946 über 40 Menschen zum Opfer fielen, löste eine panische Fluchtwelle nach Deutschland, insbesondere in die US-Besetzungszone, aus. 23 So hielten sich im Oktober 1946 bereits über 155 000 Juden im besetzten Westdeutschland auf. Da- 19 Zit. in: H YMAN , Undefeated, 455. 20 Vgl. hierzu S CHLICHTING , Erez Israel. 21 D INNERSTEIN , America, 278. 22 B AUER , Brichah, 115. 23 B ACHMANN , Pogrom, 160. <?page no="15"?> Jim G. Tobias 16 von entfielen 139 000 auf die amerikanische Zone. 24 Geleitet wurden die osteuropäischen Flüchtlinge von der Bricha, einer von Soldaten der Jewish Brigade, Ghettokämpfern und Partisanen gegründeten geheimen Organisation. Der in Kowno (Litauen) gebürtige Zwi Katz hatte sich nach seiner Befreiung aus einem Zwangsarbeiterlager dieser Fluchthilfeorganisation angeschlossen. Mit falschen Papieren, die ihn und etwa 50 Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung Dror als griechische Repatrianten ausgaben, fuhren sie mit dem Zug von Lodz nach Prag und von dort ins deutsch-tschechische Grenzgebiet. In einer Winternacht 1946 überquerte die Gruppe illegal die Grenze und fand Aufnahme im DP-Camp Leipheim. 25 Insgesamt schleuste die Bricha weit über 200 000 jüdische Überlebende aus Osteuropa nach Westen in die DP-Camps. Damit war sie die größte illegale Fluchthilfeorganisation im 20. Jahrhundert. 26 Im Distrikt Oberbayern und Schwaben registrierten die Behörden im Sommer 1946 rund 33 600 Juden, die in 27 Jewish Centers untergebracht waren. Darunter befanden sich auch DP-Krankenhäuser in Gauting, St. Ottilien und Bad Wörishofen, in denen man sich um die kranken Flüchtlinge kümmerte. 27 Da die bestehenden Lager nicht ausreichten, die große Zahl an Menschen aufzunehmen, errichteten die amerikanischen Besatzungstruppen in aller Eile provisorische Auffanglager. Der Joint-Mitarbeiter Joseph Levine schildert die katastrophale Situation in den Notunterkünften, wie sie in der Nähe von Landshut und Cham für jeweils bis zu 5 000 Personen aus dem Boden gestampft wurden. „Was sie vorfanden, war eine Zeltstadt, die auf einem Flugplatz errichtet wurde. Etwa dreihundert Zelte, in denen sich jeweils sechs Feldbetten befinden, waren aufgestellt worden. Jeder Person wurden lediglich zwei Decken zugeteilt, sonst nichts. Es gibt kein fließendes Wasser und eine Reihe von Latrinen wurde in der Mitte des Lagers angelegt. [...] Alle besaßen kaum mehr als die armseligen Kleider, die sie am Leib trugen.“ 28 Die Behörden waren bemüht, den Aufenthalt der Menschen in den Zeltstädten auf maximal vier Wochen zu begrenzen. In der Regel war dieses Ziel wohl umzusetzen, da überall neue Unterkünfte bereitgestellt wurden: Im fränkischen Windsheim in der ehemaligen Hermann-Göring-Siedlung, in der Neu-Ulmer Ludendorffkaserne, in Wehrmachtsbaracken auf einem Truppenübungsplatz im oberpfälzischen Vilseck und ein zentrales Kinderlager in der Rosenheimer Pionierkaserne. 24 J ACOBMEYER , Jüdische Überlebende, 436. 25 Testimony of Zvi Katz, YVA 03-4433. 26 Vgl. hierzu D EKEL , Flight. 27 Central Committee for Liberated Jews, List of Centers and Communities in the American Zone, 25.8.1946, YIVO DPG, fol. 1529. 28 Schreiben von Joseph Levine, 23.8.1946, AJDC Archive New York, 45/ 64, file 390. <?page no="16"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 17 1.2. Die Befreiten organisieren sich Frühzeitig hatte sich bei den Juden in den DP-Camps die Erkenntnis durchgesetzt, dass für die Gestaltung und Organisation ihrer Zukunft Eigenverantwortung unumgänglich sei. Schon am 1. Juni 1945 fand in Feldafing die erste überregionale Zusammenkunft von jüdischen DPs statt. Mit überwältigender Mehrheit beschlossen Vertreter aus allen süddeutschen Camps die Gründung des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern. Zu ihrem Präsidenten wählte der Kongress den litauischen Mediziner Dr. Zalman Grinberg. Obwohl die Delegierten noch unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit standen, richteten sie ihren Blick in die Zukunft: „Im Scheine des Feuers der Krematorien und Gaskammern und angesichts des vergossenen jüdischen Blutes rufen wir, die gewesenen Häftlinge in Bayern, rufen wir den Jischuw in Erez Israel, rufen wir das ganze jüdische Volk zur Einigung, zum Vergessen der alten Parteikämpfe auf, [...] damit es mit vereinten Kräften einen jüdischen Staat aufbaue! Wir, die wir auf den eigenen Schultern soviel Leiden durchgetragen haben, sind in den finsteren Tagen in den Ghettos und Konzentrationslagern nicht nur in Gedanken unserer gemeinsamen Sache nähergekommen, nun wollen wir es auch verwirklicht sehen und wenn wir nach Palästina kommen, uns mit allen unseren Kräften für die heilige Arbeit der Einigung einsetzen.“ 29 Vom 27. bis 29. Januar 1946 fand ein weiterer Kongress, diesmal in München, statt. Im Beisein von David Ben Gurion schlossen sich die befreiten Juden aus den Länden Hessen und Württemberg-Baden dem Komitee an. Insgesamt 212 Delegierte versammelten sich im Rathaus der bayerischen Metropole. Ein großes Transparent an der Stirnseite des Saals verkündete in hebräischen Lettern: „Solange ein jüdisches Herz in der Welt schlägt, schlägt es für Erez Israel.“ 30 Die Politik des erweiterten Zentralkomitees, das sich nun Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone nannte (ZK), orientierte sich strikt an den zionistischen Hauptforderungen: Anerkennung der Juden als eigenes Volk, das Recht auf eine nationale Heimstatt in Palästina und die freie Einwanderung nach Erez Israel. Das Zentralkomitee mit Sitz in München untergliederte sich in fünf Regionalkomitees: Hessen, Württemberg-Baden, Franken, Oberbayern und Schwaben sowie Niederbayern und Oberpfalz. Der Verband betrachtete sich als die alleinige Vertretung aller Juden in der amerikanischen Zone. Dies stieß auf heftigen Widerstand der deutschen Juden, die den zionistischen Idealen eher ablehnend gegenüber standen und Deutschland weiterhin als ihre Heimat ansahen - eine Auswanderung nach Palästina kam für sie kaum in Frage. Weil sich die neu entstehenden Israelitischen Kultusgemeinden nicht dem Diktat des ZK unterordneten, erhielten sie zunächst auch keine Zuwendungen der internationalen Hilfsorganisationen. Alle Lieferungen 29 Protokoll der Konferenz der befreiten Juden in Bayern, 2.7.1945, Feldafing, YIVO LWSP, fol. 135. 30 Zit. in: H YMAN , Undefeated, 139. <?page no="17"?> Jim G. Tobias 18 wurden vom ZK beansprucht und von hier aus an die DP-Lager oder -Gemeinden verteilt. Die US-Militärregierung teilte diese fragwürdige Rechtsauffassung jedoch nicht und verweigerte dem Zentralkomitee daher zunächst die Anerkennung. Die Interessenvertretung der jüdischen DPs beugte sich dem Druck der Amerikaner und revidierte ihre Satzung. 31 Daraufhin sprach US-Gouverneur General McNarney am 7. September 1946 den im US-Hauptquartier versammelten Mitgliedern des ZK offiziell die Vertretungsrechte zu. Die demokratisch verfasste Scheerit Haplejta (Rest der Geretteten) erhielt nun weitgehende Befugnisse und entwickelte sich zu einer Art jüdischer Regierung ohne Land. Ein Reporter des US-Soldatensenders AFN kommentierte das Ereignis wie folgt: „Mit dieser Verfügung hat General McNarney ein neues Kapitel unserer Geschichte geschrieben. Er hat eine kleine Demokratie von 160 000 befreiten Juden mitten im Herzen von Deutschland anerkannt.“ 32 Jährlich sollte eine Konferenz einberufen werden, auf der die demokratisch gewählten Abgeordneten ihren Präsidenten und die Ressortleiter der einzelnen Fachbereiche bestimmten. Der zweite Kongress tagte im Februar 1947, das dritte und letzte Parlament der Sheerit Haplejta versammelte sich Ende März 1948. Zudem fanden regelmäßige Wahlen auf regionaler Ebene sowie in den Camps und Communities statt. Angesichts der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 entschied das ZK im Februar 1949, keine weiteren Abstimmungen mehr durchführen zu lassen. Dennoch dauerte es noch über ein Jahr, bis sich die jüdische Interessenvertretung in der US-Zone im Dezember 1950 offiziell auflöste. Das Zentralkomitee mit seinen verschiedenen Fachressorts kümmerte sich um alle Belange der jüdischen DPs. Das Organisationsamt verteilte die DPs gleichmäßig auf die Lager und bildete Verwaltungsfachleute aus. Das Gesundheitsamt betreute die Kranken und bot medizinische Weiterbildungsseminare für Ärzte an, die aufgrund der Verfolgung jahrelang ihren Beruf nicht hatten ausüben können. Daneben wurden Kurse für Krankenschwestern abgehalten. Die Kulturabteilung organisierte ein eigenes Schulwesen, richtete Bibliotheken ein und unterstützte die Gründung von Theater- oder Musikgruppen. Das Rabbinat versorgte die Gläubigen mit Gebetbüchern und Ritualgegenständen und sorgte dafür, dass einige der von den Nazis zerstörten oder zweckentfremdeten Synagogen wieder für den Gottesdienst genutzt werden konnten. Das Arbeitsamt entwickelte Beschäftigungspläne und gründete Ausbildungswerkstätten. In den vielen Trainingskibbuzim erhielten zudem tausende junge Männer und Frauen Unterricht in Ackerbau und Viehzucht. Die Historische Kommission sammelte Dokumente und Zeugenaussagen über die Shoa. Obendrein gab es eine Sportabteilung und ein Pressebüro. 33 31 Satzung des Verbandes der befreiten Juden in der US Besatzungszone in Deutschland, YIVO DPG, fol. 21; überarbeitete Satzung, YIVO DPG, fol. 94. 32 H YMAN , Undefeated, 153. 33 T OBIAS , Vorübergehende Heimat, 25. <?page no="18"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 19 Organisatorische Hilfe, aber auch die dringend erforderliche finanzielle Unterstützung erhielt die jüdische Selbstverwaltung vom Joint, der auch den größten Teil der Verwaltungskosten für die Münchner Zentrale aufbrachte. Bereits im Juli 1945 hatte der Wohlfahrtsverband erste Helfer in die Camps entsandt, einen Monat später schickte die Organisation weitere 20 Sozialarbeiter nach Deutschland. 34 Die Bewältigung der Alltagsprobleme wie Verköstigung, Beschaffung von Wohnraum und Bekleidung war für die jüdische Selbstverwaltung eine große Herausforderung. Erschwert wurde die Arbeit, da sich trotz der gemeinsamen Absicht nahezu aller DPs, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen, unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft herauskristallisierten. Nicht alle wollten nach Palästina, einige bevorzugten die Emigration in die USA, Kanada oder Australien. Doch alle Länder hielten ihre Tore zunächst verschlossen. Zudem traten Konflikte zwischen Religiösen und Säkularen sowie den unterschiedlichen zionistischen Gruppierungen offen zu Tage. Diese Entwicklung trug aber auch dazu bei, dass das Leben in den Camps seinen Übergangscharakter verlor und der Alltag immer mehr dem der kleinen osteuropäischen jüdischen Schtetl entsprach. 1.3. Die Shoa-Überlebenden verlassen das Land Im Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben befanden sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit drei jüdische Displaced Persons Camps (Leipheim, Neu-Ulm und Lechfeld) sowie weit über einem Dutzend DP-Gemeinden (wie etwa in Augsburg, Bad Wörishofen, Buchloe, Kempten, Krumbach, Memmingen, Mindelheim, Schwabmünchen oder Türkheim). Im Jahr 1947 lebten allein in den drei genannten Camps rund 7 400, in den Gemeinden zirka 1 800 jüdische Menschen. 35 Der von den Vereinten Nationen im November 1947 verkündete Teilungsbeschluss Palästinas und die damit verbundene absehbare Gründung des jüdischen Staates leitete die Auflösung der jüdischen Sammelunterkünfte und der DP-Gemeinden ein. Nach Proklamation des Staates Israel verließen die Juden Deutschland zuhauf, diese Ausreisewelle hielt bis etwa Juli 1949 an. 36 Nur ein kleiner Teil wollte im Land der Täter bleiben. Sie schlossen sich den im Aufbau befindlichen jüdischen Gemeinden an, wie etwa Julius Spokojny, das langjährige Vorstandsmitglied des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Spokojny lebte einige Jahre im DP-Camp Landsberg und trat 1950 der Jüdischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben bei. 37 34 K EMPNER , Operations, 2. 35 Jewish Population, 30.9.1947, AJDC 45/ 64, file 432. 36 Final Report Abraham S. Hyman, 30.1.1950, CZA Z6/ 369. 37 S POKOJNY , Wiederaufbau, 414. <?page no="19"?> Jim G. Tobias 20 1.4. Antisemitismus in der Nachkriegszeit Auch wenn die Juden Kontakte mit den Ortsansässigen auf das Notwendigste beschränkten, sind solche dokumentiert. Dabei konzentrierte sich die deutsche Wahrnehmung oft auf ein Bild: das des jüdischen Schwarzhändlers. „Die meisten Lagerinsassen sind in kurzer Zeit reiche Leute geworden. Sie haben fast alle das Geld bündelweise oder kofferweise aufgehoben“, empört sich etwa ein deutscher Zeitgenosse über die Bewohner des DP-Camps Leipheim. „Dies ist in erster Linie auf den umfangreichen Schwarzhandel, den von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, fast alle betreiben, zurückzuführen.“ 38 Gleichwohl gehörte der ungesetzliche Schleichhandel in der Nachkriegszeit bei allen Bevölkerungsschichten zum normalen Alltag. Eine Studie belegt beispielsweise, dass von 11 445 amtlich registrierten Schwarzmarktdelikten lediglich 401 der jüdischen Bevölkerung zugeschrieben werden konnten. 39 Dennoch hält sich bis heute hartnäckig das Vorurteil vom schachernden Ostjuden, der das Elend der einheimischen Bürger ausnutzte und sich maßlos bereicherte. 40 Häufig wurden Juden Opfer antisemitischer Angriffe, sowohl verbal als auch tätlich. In Rammingen, einer kleinen Ortschaft mit vierhundert Bewohnern und einigen Dutzend DPs, wurden zwei jüdische Motorradfahrer von deutschen Jugendlichen angegriffen. Die Juden setzten sich zur Wehr, jagten vier Angreifer in die Flucht, wobei sie einen festhalten konnten, den sie der Militärpolizei überstellen wollten. Nachdem der Bürgermeister davon erfuhr, lief er auf die Straße und rief: „Die Juden schlagen unsere Jungens tot.“ Die Dorfbevölkerung rottete sich zusammen; die Juden flüchteten in die Dorfschule, während die wütende Menge Steine warf und „Heraus mit den Juden, Heil Hitler“ schrie. Eine Polizeistreife aus dem nahen Bad Wörishofen machte dem Spuk schließlich ein Ende. 41 In Krumbach lehnten es die deutschen Kaufleute ab, den jüdischen DPs Waren zu verkaufen, obwohl sie Bezugsscheine vorweisen konnten. Die Einwohner der Stadt Kaufbeuren wurden nach dem Krieg erstmals mit Juden konfrontiert, 42 die sie bisher nur aus der Nazipropaganda kannten, und begafften sie wie seltene Tiere. Zudem weigerten sich die Kaufbeurer dem örtlichen Jüdischen Komitee Einrichtungsgegenstände für deren Büro zu verkaufen. 43 Ablehnung und Hass gegen die jüdischen Nachbarn waren Ausdruck einer tief verwurzelten antisemitischen Überzeugung, die ungebrochen weiterlebte. Am deutlichsten wird dies an einem Gerichtsprozess in Memmingen. Diese Stadt im Allgäu 38 Zit. in: B ROY , Leipheim, 217f. 39 W ETZEL , Jüdisches Leben in München, 342. 40 T OBIAS , Vorübergehende Heimat, 26f. 41 S CHWARZ , Redeemers, 106. 42 In Kaufbeuren existierte eine mittelalterliche jüdische Gemeinde, die vermutlich während der Pestepidemie 1439 ausgelöscht wurde. Vgl. S CHWIERZ , Steinerne Zeugnisse, 265. 43 Report on Communities, 24.7.1947, YIVO LWSP, fol. 203. <?page no="20"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 21 hatte sich schon in den 1920er Jahren als nationalsozialistische Hochburg profiliert. Die NSDAP-Ortgruppe entwickelte sich zu einer der stärksten und aktivsten in ganz Bayern. 44 Nach dem Krieg lebten kurzzeitig über 100 Juden aus Osteuropa sowie befreite KZ-Häftlinge in der Stadt, die ausnahmslos in Wohnungen oder Häusern einquartiert worden waren. Der 1918 in Polen geborene Max G. bekam um die Jahreswende 1945/ 46 zwei Zimmer in der Seyfriedstraße 15 zugewiesen. 45 Ein Jahr später zog seine Ehefrau Branka zu ihm. Die Hauswirtin, eine überzeugte Nationalsozialistin, war ihren Untermietern nicht wohlgesonnen. Mit allen Mitteln versuchte sie, sich der ungeliebten Mitbewohner zu entledigen. Eine uralte antisemitische Stereotype, nämlich dass Juden Christenblut zum Mazzebacken benötigten, half dabei: An Ostern 1947 (sie meinte offensichtlich das jüdische Pessachfest) soll ihrem vierjährigen Kind von den Juden zunächst Wein eingeflößt worden sein, so behauptete Bertha G., um dem Wehrlosen dann Blut abzuzapfen. Ihr Rechtsanwalt brachte diese absurde Beschuldigung zu Papier und zeigte das „Verbrechen“ beim Amtsgericht Memmingen an. Der zuständige Richter wollte die Klageschrift nicht annehmen. Erst auf Intervention des damaligen Gerichtspräsidenten wurde dem Verfahren stattgegeben und die aberwitzigen Beschuldigungen auf einer öffentlichen Sitzung am 2. Dezember 1948 vorgetragen. „An Ostern 1947 veranstaltete der Beschuldigte in seiner Wohnung ein Fest, an dem auch das vierjährige Kind der Klägerin, ohne deren Erlaubnis, teilnahm“, gab Anwalt Heinrich A. zu Protokoll. „Als das Kind später heimkam, verhielt es sich sehr aufgedreht und unnatürlich.“ Zudem entdeckte die Mutter an seinem linken Arm einen Einstich, wie man ihn nach einer Blutentnahme feststellen kann. Weiterhin wurde ausgeführt: „Soweit der Klägerin bekannt ist, besteht ein Brauch in den Kreisen des Beklagten, nach welchem Ostergebäck ein Tropfen Christenblut zuzusetzen ist.“ Mitarbeiter des Joint stellten Strafantrag gegen Rechtsanwalt Heinrich A. und seine Mandantin Bertha G. Als Rechtsgrundlage diente das Bayerische Gesetz Nr. 14 gegen Rassenwahn und Völkerhass vom März 1946. Da keine Störung des öffentlichen Friedens vorliege, wies das Landgericht Memmingen diese Klage jedoch zurück. Erst nach Beschwerde beim Oberlandesgericht in München und starkem Druck der Militärregierung wurde am 19. Juli 1949 das Verfahren gegen Heinrich A. und Bertha G. vor dem Schöffengericht in Memmingen eröffnet. Bei ihrer Vernehmung bekräftige Bertha G. nochmals ihre Auffassung, dass Juden Blut für ihre Pessachrituale benötigten. Anwalt Heinrich A., ein ehemaliger SA-Mann, trug zudem vor, dass er überhaupt nichts über Judenverfolgungen während des NS- Regimes gehörte habe. Nach Abschluss der Beweisaufnahme forderte die Staatsanwaltschaft für die uneinsichtigen Angeklagten Haftstrafen: für Rechtsanwalt A. 18 und Bertha G. acht Monate Gefängnis. Ein Urteil sollte am 26. Juli 1949 verkündet 44 O PHIR / W IESEMANN , Die jüdischen Gemeinden in Bayern, 480. 45 Einwohnerkarte, Stadt Memmingen, StaM. <?page no="21"?> Jim G. Tobias 22 werden. 46 Das Gericht aber sprach beide Angeklagten von einem Vergehen gegen das Gesetz Nr. 14, das Rassenwahn und Völkerhass mit Strafe bedroht, frei. Die Angeklagten wurden lediglich wegen „übler Nachrede“ zu zwei beziehungsweise drei Monaten Haft verurteilt. 47 Max und Branka G. emigrierten im November 1949 in die USA. 48 Wie eine von der US-Militärregierung 1946 durchgeführte Umfrage belegt, waren Fälle von offener Judenfeindschaft nicht nur ein Phänomen, das im ländlichen und katholischen Bayerisch-Schwaben auftrat: 19 Prozent der Deutschen bezeichneten sich als Nationalisten, 22 Prozent als Rassisten, 21 Prozent als Antisemiten und 18 Prozent sogar als radikale Antisemiten. 49 Dieses „gefährliche Gebräu entstand aus der Vermischung von traditionellen antijüdischen Vorurteilen mit der Abneigung gegen die als Kompensation für die Leiden unter den Nazis erfolgte privilegierte Behandlung sowie gegen die angeblichen massiven Schwarzmarktaktivitäten“, erklärt der Historiker Constantin Goschler die Situation im Bayern der Nachkriegszeit. 50 2. Alltagsleben und Selbstverwaltung am Beispiel des DP- Camps Leipheim Das erste DP-Camp in Bayerisch-Schwaben wurde im Dezember 1945 auf einem ehemaligen NS-Fliegerhorst eingerichtet. Mitte der 1930er Jahre hatten die Nationalsozialisten mit dem Bau des Flugplatzes und Unterkünften für Piloten, Soldaten und Techniker begonnen. Von 1940 an bestand auf dem Gelände auch eine Fertigungsstätte der Messerschmidt Werke, die hier das erste Düsenflugzeug, die Me 262, bauten. Die Reichsluftwaffe stationierte auf dem Militärflugplatz Leipheim Bomberstaffeln und Kampfgeschwader. Nach der Befreiung beschlagnahmten die Amerikaner das durch Kampfhandlungen arg in Mitleidenschaft gezogene Areal. Da einige Mannschafts- und Offiziersunterkünfte sowie Verwaltungsgebäude jedoch unzerstört geblieben waren, 51 konnten jüdische Überlebende in diesen Häusern untergebracht werden (Abb. 1). 52 46 Incident at Memmingen, 30.12.1948; Memmingen Case, 25.7.1949, AJDC 45/ 54, file 379; Ritualmord 1948, in: Jüdisches Gemeindeblatt, 14.1.1949. Die Zeitungskopie wurde mir freundlicherweise von Andrea Sinn, München, zur Verfügung gestellt. 47 Der Ritualmordschwindel von Memmingen, in: AUFBAU, 23.9.1949. 48 Einwohnerkarte, Stadt Memmingen, StaM. 49 B ENZ , Antisemitismus, 350. 50 G OSCHLER , The Attitude, 450. 51 H ÖRNER / R EMP , Gigantische Zeiten, 15, 33f., 130. 52 AJDC Report, Third Army Area, Dezember 1945 / Januar 1946, AJDC 45/ 54, file 335. <?page no="22"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 23 Abb. 1: Die ehemaligen Offiziersunterkünfte des Fliegerhorstes Leipheim hatten den Krieg nahezu unbeschadet überstanden. Nachdem das DP-Lager aufgelöst worden war, übernahm die US-Armee den Komplex (Repro: Roland Remp). Am 21. Dezember 1945 übersiedelten die ersten 67 Juden aus dem nahegelegenen DP-Camp Landsberg nach Leipheim. Bei der Registrierung und Einquartierung in die nur mit einer Grundausstattung möblierten Zimmer erhielt jede Person zusätzlich drei Decken. Zwei Tage später bezogen weitere 258 jüdische DPs die Unterkünfte. Diese Gruppe setzte sich aus 124 unverheirateten Männern, 72 ledigen Frauen und 31 Ehepaaren zusammen. Sofort konstituierte sich ein provisorischer Ausschuss, der einen Vorsitzenden sowie verantwortliche „Block- und Etagenaufseher“ wählte. In Absprache mit dem zuständigen UNRRA-Direktor baute das zwölfköpfige Komitee innerhalb weniger Tage einen Sicherheitsdienst auf, entwickelte Pläne für eine eigene Lagerschule und stellte verschiedene Gremien zusammen, wie ein Arbeits-, Wohnungs- und Gesundheitsamt. 53 Im Januar 1946 lebten bereits 2 900 Juden in Leipheim. 54 Weitere DPs, insbesondere aus dem Camp Landsberg, wollten sich im neuen Lager niederlassen. Doch noch nicht alle Unterkünfte waren in einem brauchbaren baulichen Zustand, sodass zu diesem Zeitpunkt keine Menschen mehr aufgenommen werden konnten. Der UNRRA-Direktor war gezwungen, Neuankömmlinge nach Landsberg zurück zu transportieren, 55 da das Lager aus allen Nähten zu platzen drohte. UNRRA und die provisorische jüdische Lagerleitung waren mit der Versorgung der vielen Menschen überfordert. Es mangelte an allem: Aus Protest gegen die Missstände verweigerten 53 UNRRA Report Leipheim, 25.12.1945, UNA, S-0435, box 15, file 7. 54 Jewish Population, 27.1.1946, YIVO DPG, fol. 1529. 55 Infiltrees from Landsberg, 11.1.1946 UNA, S-0435, box 15, file 3. <?page no="23"?> Jim G. Tobias 24 am 3. Februar 1946 hunderte von DPs ihr in der zentralen Kantine vorbereitetes Frühstück, formierten einen Demonstrationszug und marschierten durch das Lager. Ein spontan gebildetes Streikkomitee forderte unter anderem größere Essenszuteilungen für Kinder, Schwangere und Kranke, Verbesserung der Wohnverhältnisse, Einzelzimmer für Verheiratete, ausreichende medizinische Versorgung, koschere Nahrung für Religiöse sowie wöchentliche Zigarettenrationen. Nach stundenlangen Verhandlungen mit den UNRRA-Verantwortlichen einigte man sich. Die Hilfsorganisation versprach den DPs, ihre Forderungen zu erfüllen, verlangte für die Zukunft jedoch, von Streiks Abstand zu nehmen. Etwaige Probleme sollten am Verhandlungstisch gelöst werden. Dazu war es notwendig, unverzüglich eine demokratisch legitimierte Interessenvertretung der Lagerbewohner zu wählen. 56 Der Urnengang wurden für den 3. März 1946 anberaumt 57 - teilnahmeberechtigt waren alle Einwohner, die vor dem 25. Februar 1929 geboren waren, also mindestens 17 Jahre alt waren. Das neue Lagerkomitee bestand aus einem Präsidenten und den Leitern folgender Fachabteilungen: Allgemeine Verwaltung, Arbeits-, Wohnungs-, Finanz-, Bekleidungs-, Wirtschafts-, Gesundheitsamt und dem Ressort Kultur und Fachschule. Schon zuvor hatte Leipheim eine gewählte Delegation zum Ersten Kongress der befreiten Juden in der US-Zone entsandt, der vom 27. bis zum 29. Januar im Münchner Rathaus stattfand. 58 Das Leipheimer Camp gehörte dem Regionalkomitee für Oberbayern und Schwaben an, das als politische Vertretung der Region zusätzliche Beratung und Hilfe in wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und kulturellen Fragen anbot. 59 Mit vereinten Kräften gelang es den verschiedenen Selbstverwaltungsorganen, im Frühjahr die Lagerbedingungen in Leipheim offensichtlich zu verbessern sowie die Umbauarbeiten erfolgreich abzuschließen, da sich die Belegzahlen im Mai 1946 deutlich um 250 auf 3 150 Campbewohner erhöht hatten. 60 2.1. Kinder, Schule und Ausbildung Im Mittelpunkt aller Aktivitäten stand die Erziehung und Bildung der wenigen geretteten Kinder. Sie wurden als lebendes „Denkmal“ der vernichteten jüdischen Welt und der weit über eine Million ermordeter Jungen und Mädchen angesehen. 56 UNRRA Report Oberbayern-Schwaben, 5.2.1946, USHMM, RG 19.047.02*14, Zisman Papers. 57 Wahlaufruf: Cu ale jidisze Ajnwojner in Lager Leipheim, März 1946, YVA, RG M.P. 16. 58 Waln fun a Lager-Farwaltung, Leipheimer Delegatn ojf der Münchner Konferenc, in: A Heim - Wechntleche Cajtung. Arojsgegebn fun di bafrajte Jidn in Leipheim D.P. Lager, 28.2.1946. Alle jiddischsprachigen Zitate sind Übersetzungen des Autors. 59 List of Centers and Communities belonging to the 5 Regional Committees in the American Zone, 25.8.1946, YIVO DPG, fol. 1529. 60 Jewish Population, 31.5.1946, YIVO DPG, fol. 1529. <?page no="24"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 25 Hohe Erwartungen und Zukunftshoffnungen seitens der Erwachsenen lasteten damit auf den Schultern der jungen Generation. Zu den vordringlichsten Aufgaben gehörte daher der Aufbau eigener Volksschulen, die allerdings nicht ohne Probleme umzusetzen waren, da es kaum ausgebildete Lehrer gab und es an Lehrbüchern fehlte. Anfänglich wurde der Stundenplan hauptsächlich dadurch bestimmt, was der Lehrer selbst in der Schule gelernt hatte. Übereinkunft bestand lediglich darin, dass die Jungen und Mädchen erst einmal Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollten. Eine große Anstrengung für die Kinder, wie die Joint-Mitarbeiterin Miriam Warburg berichtete: „Unser Gehirn ist nicht mehr daran gewöhnt zu denken“, zitiert sie eine Schülerin. „Viele können nicht lesen und schreiben, viele wissen nicht, wie viel fünf plus sechs ist, und es wird eine ungeheure Aufgabe sein, jedem Kind gerecht zu werden.“ 61 Einige hatten noch nie eine Schule besucht, manche ihre Ausbildung abbrechen müssen. Wiederum andere, so zum Beispiel die Kinder, die aus dem sowjetischen Exil zurückkehrten, waren in russische Schulen gegangen. Darüber hinaus war noch die Frage nach einer gemeinsamen Unterrichtssprache zu entscheiden. Es war wichtig, den Kindern eine „gemeinsame Sprache beizubringen, die sowohl die Einheit untereinander stärken als auch als Weg zur Verständigung dienen sollte.“ 62 Obwohl sich nach den Vorstellungen der Zionisten Hebräisch anbot, war die sofortige Umsetzung nicht ohne Probleme möglich, weil viele DP-Lehrer und Pädagogen der amerikanischen Hilfsorganisation Joint kaum Hebräisch sprachen. Daher sollte zunächst in Jiddisch unterrichtet werden, die gemeinsame Muttersprache der osteuropäischen Juden. Da in Leipheim eine große Gruppe von ungarischen Kindern lebte, die des Jiddischen nicht mächtig war, musste hier zeitweise auch in Ungarisch gelehrt werden. 63 Neben dem Hebräisch-Unterricht standen in den fünf Klassen umfassenden Volksschulen Mathematik, palästinensisch-jüdische Geschichte, Englisch, Sport, Singen, Handarbeit, Geschichte und Naturwissenschaft auf dem Plan. Die Wochenstundenzahl betrug in den ersten Klassen 23 Stunden und erhöhte sich bis auf 31 Unterrichtseinheiten in der fünften Jahrgangsstufe. 64 Erste Vorbereitungen für den Aufbau einer Volksschule waren in Leipheim bereits Ende 1945 getroffen worden: Ein Cultural and Education Committee stellte den Bildungsgrad der Kinder fest, teilte sie in entsprechende Gruppen ein und wollte unverzüglich mit dem Unterricht beginnen. 65 Vermutlich im Februar 1946 nahm die Schule den Lehrbetrieb auf, da in diesem Monat die feierliche Fahnenweihe stattfand: Wie der Lagerzeitung A Heim 66 zu entnehmen ist, erhielten Vertreter aller 17 Klassen ein 61 Report Miriam Warburg, 19.9.1945, CZA S75/ 1566. 62 S YRKIN , The D.P. Schools, 15. 63 AJDC Report, Third Army Area, Dezember 1945 / Januar 1946, AJDC 45/ 54, file 335. 64 G IERE , Erziehung und Kultur, 353. 65 UNRRA Report Leipheim, 25.12.1945, UNA, S-0435, box 15, file 7. 66 Zur Geschichte der Lagerzeitung siehe den Artikel von Nicola Schlichting in diesem Band. <?page no="25"?> Jim G. Tobias 26 Abb. 2: Bei ihrem Besuch in Leipheim erzählt eine junge Frau aus dem Kibbuz Maagan Michael den Kindern von Erez Israel (Repro: Beth Lochame Hagetaot). blau-weißes Banner mit dem Davidstern überreicht. 67 Das jiddische Blatt wies die Bewohner auch regelmäßig auf die Schulpflicht ihres Nachwuchses hin: „Alle Kinder im schulpflichtigen Alter müssen in die Volksschule geschickt werden, um dort zu lernen“, war zu lesen. „Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren müssen den Kindergarten im Block 1 besuchen.“ 68 Im ersten Schuljahr 1946 gingen 329 Jungen und Mädchen in die jüdische Volksschule, 33 noch nicht schulpflichtige Kinder wurden im Kindergarten pädagogisch betreut. 69 Nach Abschluss des ersten Schuljahrs versammelten sich Erzieher und Kinder im Speisesaal zu einem Festbankett. Im Anschluss dran luden die Schüler und Lehrer alle Lagerbewohner zu einem bunten Abend mit kulturellen und sportlichen Darbietungen in den Theatersaal ein (Abb. 2). 70 Insgesamt lebten im Oktober 1946 812 Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren in Leipheim, darunter 217 Säuglinge unter einem Jahr. 71 Ein solcher Kindersegen war keine Seltenheit in den jüdischen DP-Camps. Seit Mitte des Jahres 67 Szul-Fajerung. Bajm ibergebn di Cijons-Fon, in: A Heim, 28.2.1946. 68 Farordnung, in: A Heim, 12.6.1946. 69 School Census 1946, YIVO LWSP, fol. 410. 70 Fajerlicher Sijum fun Lern-Jor fun der Folks-Szule in Leipheim, in: A Heim, 26.7.1946. 71 Jewish Children in UNRRA Assembly Centers, Oktober 1946, YIVO DPG, fol. 1536. <?page no="26"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 27 1946 sorgten die in Deutschland gestrandeten Juden für die höchste Geburtenrate aller jüdischen Gemeinden weltweit. Dieser Trend setzte sich fort, sodass Ende 1947 jeden Monat rund 700 Babys in den DP-Camps geboren wurden und etwa ein Drittel aller jüdischen Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren schwanger war beziehungsweise gerade entbunden hatte. 72 Viele Eltern wollten mit der Zeugung neuen Lebens ein Zeichen setzen; sie sahen es als ihre Pflicht an, der Welt zu beweisen, dass Hitler sein Ziel, das europäische Judentum gänzlich auszurotten, nicht erreicht hatte. „Demonstrative Umzüge von Müttern mit ihren Kinderwagen waren in den jüdischen DP-Camps häufig anzutreffen“, 73 erinnert sich etwa Abraham S. Hyman, der „Beauftragte für jüdische Angelegenheiten“ bei der US-Militärregierung. Ob die Leipheimer Juden ihre Freude an den Kindern gleichfalls so demonstrativ zur Schau stellten, ist nicht überliefert. Dokumentiert ist aber, dass die Gebärfreudigkeit anhielt, da im Oktober 1948 erneut 240 Kleinkinder im Alter bis zu zwei Jahren im Camp lebten. Insgesamt verzeichnet die Lagerstatistik für diesen Zeitraum 462 Jungen und Mädchen bis zu 14 Jahren. 74 Neben der Volksschule bestand in Leipheim noch eine berufsbildende Schule. Diese Einrichtung, ORT-Schule genannt, sollte den Juden, die bedingt durch die nationalsozialistische Verfolgung keinen Beruf hatten lernen können, nachträglich eine Ausbildung ermöglichen. Im Hinblick auf die spätere Auswanderung in dennoch zu gründenden jüdischen Staat wurde darüber hinaus Hebräisch unterrichtet. An erster Stelle stand allerdings die praktische handwerkliche Ausbildung. Deshalb war es ab Herbst 1946 keinem Bewohner unter 25 Jahren mehr gestattet, ungelernte Tätigkeiten wie etwa Hilfsdienste in der Küche zu verrichten. 75 Dieser Personenkreis sollte einen Lehrgang an der ORT-Schule belegen. Diese berufliche Bildungseinrichtung hatte bereits im Frühjahr 1946 ihren Lehrbetrieb aufgenommen, da Ende Mai die ersten 31 Kursteilnehmer ihre Abschlusszeugnisse erhielten. 76 In Leipheim wurden dreibis sechsmonatige Kurse für Installateure, Schlosser, Automechaniker, Krankenpfleger, Schreiner, Radiotechniker, Schneider oder Weber angeboten. 77 Zusätzlich sollten etwa 200 Männer und Frauen in einer nahegelegenen Textilfabrik zu Webern ausgebildet werden. 78 Im Frühjahr 1947 wurden in den verschiedenen Werkstätten, wie etwa der Schuhmacherei, Schreinerei, Klempnerei, der Textilfabrik und an der ORT-Schule, rund 1 000 Menschen auf ihr späteres 72 AJDC U.S. Zone Bulletin, München, Oktober 1947, AJDC 45/ 54, file 316. 73 H YMAN , Undefeated, 247. 74 Toys for Chanukah, 18.10.1948, YIVO LWSP, fol. 400. 75 AJDC Monthly Report Oktober 1946, YIVO LWSP, fol. 50. 76 Der erszter Arojsloz fun Leipheimer Fach-Szule, in: A Heim, 23.5.1946. 77 UNRRA Monthly Report, Juli 1946, YIVO DPG, fol. 1044. 78 AJDC Monthly Report, Oktober 1946, YIVO LWSP, fol. 50. <?page no="27"?> Jim G. Tobias 28 Berufsleben vorbereitet. 79 Nach Beendigung der Ausbildung konnte man sich einer Prüfung unterziehen und ein Diplom erwerben. Das Zertifikat wurde von vielen Staaten anerkannt. In dem 1947 vom US-Kongress angeordneten Bericht Displaced Persons and the International Refugee Organization wurde die Arbeit der ORT wie folgt kommentiert: „Im Rahmen der beruflichen Ausbildung haben sie die beste Arbeit in den DP-Camps geleistet.“ 80 1945 knüpften die jüdischen Überlebenden an die schon vor dem Krieg bestehende Bewegung Hachschara (Vorbereitung) an, die junge jüdische Pioniere seit den 1920er Jahren auf ein Leben mit körperlicher Arbeit im Kibbuz vorbereitete. Nur wenige Wochen nach der Befreiung entstand im Juni 1945 die erste Trainingsfarm in der Nähe von Weimar. Zwischen 1945 und 1948 existierten rund 40 dieser jüdischen Bauernschulen in der US-Zone. Die benötigten landwirtschaftlichen Anwesen wurden von den US-Behörden beschlagnahmt. Zumeist handelte es sich um Höfe, deren Eigentümer aktive und organisierte Nationalsozialisten waren. Am bekanntesten war der „Kibbuz auf dem Streicher-Hof“, der sich auf einem großen Landgut befand, das bis Kriegsende dem NS-Gauleiter von Franken, Julius Streicher, gehörte. 81 Auch in Leipheim ist eine solche Bauernschule nachweisbar. Auf 15 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche wurden unter anderem Gemüse, Salat und Kartoffeln angepflanzt. Zum Hof gehörten darüber hinaus zehn Hektar Wiesen und Weideland sowie acht Ochsen und zwei Pferde, die den Kibbuzniks als Arbeitstiere zur Verfügung standen. Ursprünglich sollten die 35 landwirtschaftlichen Umschüler nur täglich vier Stunden auf dem Feld verbringen, doch die Auszubildenden setzten durch, dass sie, wie auf einem Bauernhof üblich, mit ihrer Arbeit um 7.30 Uhr begannen, um täglich acht Stunden arbeiten zu können. Mit großer Begeisterung machten sich die jungen Männer ans Werk, wobei sie aus Ungeschicklichkeit anfänglich 1 000 Setzlinge vernichteten. „Doch sie haben ihre Lektion mittlerweile gelernt“, notierte der UNRRA-Berichterstatter. Der Ausbilder lobte seine Schützlinge und insbesondere die Ungarn in der Gruppe, die eine „naturgegebene Einstellung zur Gärtnerei“ zeigten. In der jiddischsprachigen Zeitung Landwirtschaftlecher Wegwajzer sind die Regeln für die solide Ausbildung der zukünftigen Landwirte nachzulesen. „Die praktische Arbeit im Kibbuz muss in vier Abschnitte unterteilt werden: 1. Feldarbeit, 2. Arbeit im Gemüse- und Obstgarten, 3. Versorgung der Tiere, 4. Organisation und Aufgabenverteilung. Die Mitglieder des Kibbuz durchlaufen alle Bereiche, für jede Abteilung sind zwei bis drei Wochen vorgesehen. Theoretischer Unterricht ist eine wichtige Ergänzung zur praktischen Arbeit, daher muss 79 Baricht iber di Inspekcje in Lager Leipheim, Organizacje Optejlung, 25.4.1947, YIVO LWSP, fol. 151. 80 Zit. in: H YMAN , Undefeated, 398. 81 Vgl. hierzu T OBIAS , Der Kibbuz auf dem Streicher-Hof. <?page no="28"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 29 jeder Kibbuz mit einer landwirtschaftlichen Fachbibliothek und entsprechenden Zeitungen ausgestattet sein. Außerdem sollten Kurse für Hühner-, Karnickel- und Fischzucht sowie Imkerei angeboten werden.“ 82 Obwohl kaum einer der DPs vor der Shoa Berührung mit Ackerbau und Viehzucht hatte, war die Arbeit im Lehrkibbuz in Leipheim bei den jungen Leuten sehr beliebt. Bereits im März 1946 hatten sich weitere 170 Umschüler angemeldet. 83 Denn in Palästina warteten unfruchtbare Landstriche darauf, in Äcker umgewandelt zu werden, um die Ernährung der vielen jüdischen Einwanderer zu gewährleisten. Alle diese Aufgaben konnten am effektivsten gemeinschaftlich gelöst werden, daher war der Kibbuz die ideale Arbeits- und Lebensform für die künftigen Bürger Israels. 2.2. Religiöses Leben Abgesehen von den allgemein- und berufsbildenden Schulen existierte in Leipheim eine von der orthodox-jüdischen Organisation Vaad Hatzala unterstützte Talmud- Thora-Schule, in der 30 Knaben die Grundlagen des jüdischen Glaubens vermittelt bekamen. Weiterhin studierten an der von Rabbiner M. Litzman geleiteten religiösen Hochschule Jeschiwa Chjofetz Chaim bis zu 45 Studenten die heiligen Schriften. 84 Zum Gottesdienst versammelte man sich in einer kleinen Betstube, die allen gläubigen Lagerbewohnern offen stand. 85 Obwohl die Mehrheit der Leipheimer Juden säkular ausgerichtet war, fand im Camp ein an den Buchstaben der Thora orientiertes Leben statt, das zunächst von Rabbiner Baruch Jehuda Leibowitz und später von Rabbiner Mendel Rubin ausgestaltet wurde. 86 Dazu gehörte auch das Überprüfen der vorschriftsmäßigen Zubereitung der Speisen in der Koscheren Küche. Die Verantwortlichen gingen davon aus, dass etwa 700 DPs koschere Verpflegung bevorzugten. Letztlich verlangten im Frühjahr 1946 jedoch rund 900 der knapp 3 200 Bewohner koschere Mahlzeiten. Die Küche war am Rand ihrer Kapazität angelangt. 87 Auch wenn etwa 30 Prozent der Juden die Einhaltung der religiösen Speisevorschriften beachteten, ignorierte die Mehrheit das Gebot der Schabbatruhe, wie das Rabbinat einräumen musste. 88 Zudem kümmerten sich die Mitarbeiter des „Religionsamtes“, mit dem Mohel 89 Elijzer 82 Richtlinjes far der Organizacje un Arbet fun der landwirtszaftlecher Hachszara, in: Landwirtszaftlecher Wegwajzer, 15.5.1946. 83 UNRRA-Welfare Report Leipheim, 31.3.1946, UNA S-0436, box 17, file 1. 84 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. Zur Rolle der Orthodoxie in den DP-Camps vgl. auch das Kapitel: Leben nach Gottes Geboten. 85 UNRRA Report, 15.7.1946, YIVO DPG, fol. 1044. 86 D ECKELMAN , Solution, 300. 87 UNRRA Report Leipheim, 30.3.1946, UNA, S-0436, box 17, file 1. 88 Fun Rabinat-Amt, in: A Heim, 4.4.1946. 89 Beschneider. <?page no="29"?> Jim G. Tobias 30 Jakow Rajch, darum, dass die Beschneidung der neugeborenen Jungen gemäß dem Ritus erfolgte. Die erste Brit Mila (Beschneidung) fand am zweiten Tag des Pessachfestes, am 17. April 1946, im Speisesaal der Koscheren Küche statt. Der Junge war im Krankenhaus Günzburg zur Welt gekommen und wurde eigens für die Beschneidung nach Leipheim gebracht. An der religiösen Feier nahm auch die UNRRA-Direktorin des Lagers, Mrs. E. Robertson, teil. 90 Materielle Unterstützung erhielten die frommen Juden vom Joint, der Gebetsriemen, -mäntel und -bücher verteilte sowie vom Vaad Hatzala, der dafür sorgte, dass Thora-Rollen und weitere Ritualgegenstände vorhanden waren, um Gottesdienste und Religionsunterricht durchführen zu können. Mit Hilfe des Joint gelang es, eine Mikwe, ein Tauchbad, in dem die Gläubigen sich rituell reinigen konnten, zu bauen. 91 Unentbehrlich war das Rabbinat für heiratswillige Paare, die sich nach jüdischem Brauch vermählen wollten. Vor der Eheschließung musste geprüft werden, ob Braut und Bräutigam rechtmäßig ein Paar werden konnten. Manchmal waren sie noch verheiratet, hatten ihren Partner aber in der Shoa verloren. In diesem Fall musste der Nachweis über den Tod des früheren Lebensgefährten durch Dokumente oder Zeugenaussagen erbracht werden. Dazu wurden die Namen der Heiratswilligen in der Zeitung A Heim unter folgender Überschrift abgedruckt: „Die unten genannten haben die Absicht zu heiraten. Wer Einwände gegen eine Hochzeit hat, soll sich beim Rabbinat melden.“ 92 2.3. Politik und Kultur Die Bereiche Politik und Kultur waren untrennbar miteinander verbunden und prägten das soziale Leben der DPs. Nahezu jede kulturelle Darbietung thematisierte die jüngste Vergangenheit oder das zukünftige Leben in Erez Israel. Träger dieser Veranstaltungen waren meistens politische Organisationen, wie etwa die sozialistischen Haschomer Hazair (Abb. 3), der rechtsgerichtete Betar, der religiöse Mizrachi oder andere zionistische Vereinigungen, die schon vor dem Krieg in Osteuropa tätig waren. Obwohl auch kleine Gruppen von Nichtzionisten wie beispielsweise Kommunisten oder Bundisten im Lager lebten, bestimmten die Zionisten, gleich welcher Prägung, den politischen und gesellschaftlichen Alltag. Da die Realisierung der zionistischen Idee, ein jüdischer Staat in Palästina, zum Greifen nahe war, versuchte man ideologische Unterschiede innerhalb des zionistischen Spektrums zu überwinden und eine geeinte Bewegung aufzubauen. In Leipheim wurde diese Absicht schon bald mit der Aufstellung des Ferejnikter Cijonistiszer Blok zu den anstehen- 90 Frejleche Bris-Mila Fajerung, in: A Heim, 16.5.1946. 91 Rabbi Chone Person, Religious Activities, Mai 1948, YIVO LWSP, fol. 250. 92 Fun Rabinat-Amt, in: A Heim, 16.5.1946. <?page no="30"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 31 Abb. 3: Mitglieder der Haschomer Hazair (Die jungen Wächter) werben in Lechfeld für ihre Organisation (Foto: ushmm 32439). den Wahlen des Lagerkomitees im März 1946 in die Tat umgesetzt. 93 Mit überwältigender Mehrheit gewannen die Kandidaten der Einheitsliste die Abstimmung und stellten damit komplett die siebenköpfige Selbstverwaltung. 94 Zu den wichtigsten politischen Veranstaltungen gehörten Trauer- und Gedenkfeiern, bei denen entweder Persönlichkeiten aus der jüdischen Geschichte oder Jahrestage im Mittelpunkt standen. Am 26. März 1946 fand eine Konferenz von ehemaligen Partisanen und Ghettokämpfern im Leipheimer Kinosaal statt. Neben Vertretern aus den Lagern Pocking, Zeilsheim, Bamberg, München, Stuttgart, Feldafing und Belsen, referierte als prominentester Gast „Antek“ Jizchak Zuckerman, 95 einer der Kommandeure des Warschauer Aufstands, im bis auf den letzten Platz besetzten Saal, über den heldenhaften Widerstand gegen das NS-Regime. 96 Einige Wochen später, am 14. Ijar des jüdischen Kalenders (1946 fiel dieser Tag auf den 15. Mai), erinnerten sich die DPs in ganz Deutschland an den Tag ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus. Nach Abschluss der Feierlichkeiten machte sich in Leip- 93 Wahlaufruf, März 1946, YVA, RG: M.P. 16. 94 Gewelt a naje Lager-Farwaltung, in: A Heim, 7.3.1946. 95 Zuckerman war Mitbegründer und Kommandeur der ZOB - Zydowska Organizacja Bojowa (Jüdische Kampforganisation), die den jüdischen Aufstand im Ghetto von Warschau initiierte. 96 Cuzamenfor fun jidisze Partizaner un Front-Kemfer in Leipheim, in: A Heim, 28.3.1946. <?page no="31"?> Jim G. Tobias 32 heim eine Kolonne von dreißig mit blau-weißen Fahnen und Transparenten geschmückten Autos und Bussen auf den Weg nach Ichenhausen. Unter dem Spruchband „Trotz alledem, das jüdische Volk lebt“, richteten die Juden dort den alten jüdischen Friedhof wieder her und enthüllten eine Tafel zur Erinnerung an die Opfer der Shoa. 97 Im Unterschied zu dieser Gedenkveranstaltung stand bei der Hercl- Akademje die Zukunft im Mittelpunkt: Am 20. Juli wurde an den 42. Todestag von Theodor Herzl erinnert und damit der große Traum vom eigenen Land in den Fokus gerückt. Die Redner würdigten den Begründer des modernen Zionismus, zitierten ihn mit den Worten: „Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben“, und legten dar, warum es ein Recht auf einen unabhängigen, jüdischen Staat in Palästina gebe. 98 Darüber hinaus waren Konzerte und Theateraufführungen bei den Lagerbewohnern sehr beliebt. Diese Darbietungen sollten die Menschen erfreuen und zerstreuen, aber auch die einstige Fülle der jüdischen Kultur wieder ins Gedächtnis rufen. Dabei waren viele Probleme zu bewältigen: Es gab kaum Instrumente, Kostüme und Requisiten. Dessen ungeachtet formierte sich in Leipheim rasch eine Laienspielgruppe, die eigene Produktionen auf die Bühne brachte, zumeist Unterhaltung aber auch Teile aus klassischen jiddischen Dramen. Erschwerend mussten die Mitglieder des Dramatiszer Kraijz ohne entsprechende Vorlagen arbeiten und die Dialoge oder Lieder aus der Erinnerung rekonstruieren. 99 Mit Unterstützung des Zentralkomitees konnten aber im Laufe des Jahres 1946 professionelle Theater aufgebaut werden, die regelmäßig durch die Camps tourten, wie etwa die Föhrenwalder Truppe Bamidbar. Der Name bedeutet „In der Wüste“ und bezieht sich auf die biblischen Zeiten, als das Volk Israel noch nicht im „Gelobten Land“ lebte. Am 7. und 8. August 1946 gastierte Bamidbar in Leipheim und zeigte zwei Produktionen - eine für Kinder und eine für Erwachsene. 100 Kurz zuvor hatte sich außerdem das Minchner Jiddischer Klainkunst Thiater (MIKT) zusammengefunden. Die MIKT- Schauspieler traten nur einen Monat später mit dem Stück Der blutiker Szpas des berühmten Dichters Scholem Alejchem in Leipheim auf. 101 Neben literarischer Unterhaltung fanden auch Konzerte auf der Lagerbühne statt. So spielten bereits im Mai 1945 Musiker des ehemaligen Kownoer Ghetto-Orchesters für die Patienten im DP-Hospital St. Ottilien auf. Von den einst 45 Mitgliedern des Ensembles hatten nur neun überlebt, die nun mit hebräischen und jiddischen Liedern die Herzen ihrer Leidensgenossen erwärmten. Das Ensemble gastierte in nahezu allen DP- Camps, 102 zwei Aufführungen sind in Leipheim nachweisbar. Am 18. und 19. Juni 97 M ANKOWITZ , Life, 200. 98 Di grojse fajerleche Hercl-Akademje, in: A Heim, 26.7.1946. 99 Unzer Kultur-Leben in Lager, in: A Heim, 23.8.1946. 100 Fernwalder Teatertrupe Bamidbar in Leipheim, in: A Heim, 16.8.1946. 101 Der blutiker Szpas, in: A Heim, 25.9.1946. 102 K ÖNIGSEDER / W ETZEL , Lebensmut, 82; H YMAN , Undefeated, 234. <?page no="32"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 33 1946 war der Theater- und Kinosaal des Lagers zum Bersten voll. Die Musiker traten in gestreifter KZ-Kleidung, mit dem aufgenähten gelben Stern und der Häftlingsnummer an der Jacke auf und spielten neben klassischen Stücken, etwa von Giacomo Meyerbeer, jiddische Volksweisen, Partisanen- und Ghettolieder. Zum Abschluss des Konzerts wurde die Hymne des jüdischen Widerstands Zog nit kejnmol, az du gejst dem letstn Weg (Sage nimmermehr, du gehst den letzten Weg) von Hirsch Glik intoniert, bei der das gesamte Publikum ergriffen mitsang. 103 Häufiger als die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, stand im Mittelpunkt der Kulturarbeit der Ausblick auf die Zukunft im eigenen Staat. Das geschriebene Wort übernahm dabei eine wichtige Rolle, die jiddische Presse veröffentlichte regelmäßig Reportagen, Gedichte und Prosatexte über Erez Israel. Die ersten DP-Zeitungen erschienen schon kurz nach der Befreiung. Zu den wichtigsten Blättern gehörte das Organ des Zentralkomitees Undzer Weg und die Landsberger Lager Cajtung. Insgesamt erschienen rund 150 Tages- und Wochenzeitungen sowie Magazine. 104 Nahezu jedes Camp, jede nationale oder politische Gruppe gab eine eigene Publikation heraus. Dazu wurden noch Fachblätter, wie Ilustrirter Techniszer Zsurnal, Landwirtszaftlecher Wegwajzer oder die Jidisze Sport Cajtung verlegt. Die Leipheimer Juden erhielten ihre Informationen aus der jiddischsprachigen Zeitung A Heim, produziert im Camp und gedruckt auf den Rotationsmaschinen der Druckerei des Volksblatts in Günzburg. 105 Da sich das Judentum wesentlich durch die Thora und die rabbinischen Schriften definiert, war der Aufbau von Lesesälen und Lagerbibliotheken eine logische Konsequenz. Sogar während der Shoa fühlte sich das „Volk des Buches“ mit dem gedruckten Wort eng verbunden, wie die geheimen Bibliotheken in den Ghettos und Konzentrationslagern bezeugen. Nach der Befreiung führten die Überlebenden diese Tradition fort. Die Menschen verlangten nicht nur nach Brot und Kleidung, sondern auch nach Büchern. 106 In Leipheim befand sich die Bibliothek im Block 29 in der ersten Etage. Täglich von vier bis sieben Uhr nachmittags konnten die Leser in jiddischen, hebräischen und deutschen Schriften vor Ort schmökern oder diese ausleihen. 107 Im Sommer 1946 verfügte die Bücherei bereits über rund 800 Bände. 108 Ein Teil davon stammte aus dem Offenbach Archival Depot (OAD). In dieser Einrichtung hatten die Alliierten sichergestelltes NS-Raubgut eingelagert, das zwischen 1933 und 1945 in ganz Europa aus jüdischen Bibliotheken geplündert worden war, um es zu sichten und zu restituieren. Viele der rund drei Millionen Bücher konnten zurückgegeben werden, nur bei einigen hunderttausend Bänden waren die 103 St. Ottilien Orkester in Leipheim, in: A Heim, 12.7.1946. 104 B AKER , Periodicals, VI. 105 Vgl. Impressum, A Heim, 28.2.1946. 106 Vgl. T OBIAS , Bücher, 45-62. 107 Kultur-Amt Meldung, in: A Heim, 12.7.1946. 108 Unzer Kultur-Lebn in Lager, in: A Heim, 23.8.1946. <?page no="33"?> Jim G. Tobias 34 rechtmäßigen Eigentümer nicht mehr festzustellen. Ein Teil davon wurde an die DP-Lager verteilt. Im Mai 1946 verließen die ersten Lieferungen das OAD, sodass bis Anfang Juni 1946 über 15 000 Bände in die Regale der Camp-Bibliotheken eingereiht werden konnten. 109 Leipheim sollte aus dem OAD bis Ende des Jahres insgesamt 912 Bücher erhalten. 110 Zusätzlich standen im Lesesaal eine Auswahl internationaler Zeitungen sowie einige Blätter der DP-Presse zur Verfügung. 111 2.4. Sicherheit und Ordnung Dass die jüdischen DPs nichts mit den deutschen Behörden zu tun haben wollten, liegt auf der Hand. Dennoch lebten sie nicht in einem rechtsfreien Raum. Zur Wahrung von Sicherheit und Ordnung stellte die Selbstverwaltung bereits im Dezember 1945 eine kombinierte Polizei- und Feuerwehrtruppe auf. 112 Die Männer sorgten für die äußere und innere Sicherheit im Lager. Besonderen Wert legte man auf die Einhaltung der Brandschutzvorschriften. Die Einführung einer Lagerpolizei war unter den Juden nicht immer unumstritten, da zu ihren Rechten auch die kurzfristige Inhaftierung verdächtiger Personen sowie die Beschlagnahmung gestohlener Gegenstände und die Durchsuchung von Wohnungen gehörten. Manch Überlebender der Shoa fühlte sich an die unglückselige Rolle der jüdischen Ghettopolizei im NS-System erinnert: „Die jüdische Ghetto-Polizei hat ein trauriges Kapitel der Geschichte des jüdischen Volkes geschrieben“, meinte ein Funktionär. „Die Polizei ist immer das Werkzeug der herrschenden Ordnung gewesen.“ 113 In den DP-Camps waren die Polizeieinheiten jedoch demokratisch kontrolliert. Bevor die Männer ihren Dienst ausüben durften, mussten sie eine entsprechende Qualifizierung nachweisen und Lehrgänge an eigens von der US-Verwaltung eingerichteten Polizeischulen absolvieren. 114 Zum Arbeitsbereich der Sicherheitskräfte zählte auch der Kampf gegen den Schwarzhandel, wie einem internen Bericht zu entnehmen ist: „Am Sonntag, den 17. November 1946, gegen Mitternacht informierte die Militärverwaltung die UNRRA-Direktorin Mrs. Robertson über beträchtliche Schwarzmarktaktivitäten im Camp. Eine lebende Kuh wurde im Keller einer Ruine am Rande des Flugfeldes entdeckt. Es gibt mehrere Hinweise, dass zugeschnittene Fleischstücke bereits verteilt worden sind.“ Die DP-Polizei bewachte daraufhin die ganze Nacht das Gebäude und nahm eine verdächtige Frau fest, „die jedoch mangels Beweise wieder auf freien Fuß gesetzt werden musste. Ein Prozess hat bis heute noch nicht 109 T OBIAS , Volk des Buches, 167f. 110 Pinson, Report on Jewish Cultural Treasures and their Part in the Educational Program of the AJDC, Juni 1946, YIVO LWSP, fol. 414. 111 Kultur-Amt Meldung, in: A Heim, 12.7.1946. 112 UNRRA Report Leipheim, 25.12.1945, UNA, S-0435, box 15, file 7. 113 Fajerlecher Banket baj di Lager-Policej, in: Undzer Wort, 17.5.1946. 114 H YMAN , Undefeated, 260. <?page no="34"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 35 stattgefunden“, notierte der stellvertretende UNRRA-Direktor. 115 Im Grunde unterstanden die jüdischen Bewohner der Justiz der Besatzungsmacht, dennoch wurde ihnen erlaubt, eine eigene Gerichtsbarkeit zu installieren. Neben der Untersuchung von eher geringfügigen Straftaten kümmerten sich die Richter um das Schlichten von Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft. Damit knüpfte man an die Tradition der aus Rabbinern bestehenden Gerichtshöfen der jüdischen Vorkriegsgemeinden in Osteuropa an. Das Leipheimer Gericht nahm seine Tätigkeit im März 1946 auf. Bis Anfang September fanden 50 Verhandlungen statt, die sowohl mit Freisprüchen als auch mit Verurteilungen endeten. 116 Schwerere Vergehen und Verbrechen sowie Streitfälle mit der deutschen Bevölkerung wurden vor Gerichten der Militärregierung verhandelt. Obwohl die Amerikaner von 1948 an versuchten, die Lagergerichte in ihrer Kompetenz zu beschneiden, setzten die jüdischen Richter ihre Arbeit unbeirrt fort. 117 Bis auf wenige Ausnahmen verhielten sich die jüdischen DPs gesetzeskonform, wie US-Militärgouverneur General Lucius D. Clay bestätigte: „Das Verhalten der jüdischen DPs war zu keiner Zeit seit der Kapitulation Deutschlands ein größeres Problem. [...] Ihre Einhaltung von Recht und Ordnung ist meiner Einschätzung nach eine der beachtlichsten Leistungen, bei denen ich in meinem über zweijährigen Deutschlandaufenthalt Zeuge war.“ 118 Ein Erfolg, der sicherlich nicht zuletzt auf die gute Arbeit der jüdischen Polizei und Justiz zurückzuführen ist. 2.5. Medizinische Betreuung Zu den Aufgaben des lagereigenen Gesundheitsamtes gehörte es auch, auf die Einhaltung der Reinlichkeit zu achten, die anfänglich sehr zu wünschen übrig ließ. Die Unterkünfte waren verschmutzt, überall lag Müll herum. „Es war zunächst kaum möglich Abhilfe zu schaffen, da die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes auf Gleichgültigkeit und Unverständnis bei den Bewohnern trafen“, beklagte der Leiter Dr. B. Gelblum rückblickend. Er führte die Lethargie der DPs auf die unmenschlichen Bedingungen in den Konzentrationslagern zurück. „Die sechs Jahre zwischen Leben und Tod haben ihre negativen Spuren bei unseren Menschen hinterlassen.“ Schließlich gelang es dem Gesundheitsamt, in Zusammenarbeit mit der UNRRA-Verwaltung die „allgemeine sanitäre und hygienische Ordnung“ herzustellen und damit den Ausbruch von Seuchen zu verhindern. „Es ist sauber geworden im Lager, in den Häusern und den Küchen“, freute sich Dr. Gelblum und verfügte, dass sich die in der Küche Beschäftigten regelmäßig medizinisch untersuchen ließen. Mit Beginn 115 Weekly Security Report, 23.11.1946, UNA, S-0435, box 15, file 3. 116 Baricht fun Lager Gericht, in: A Heim, 13.9.1946. 117 K ÖNIGSEDER / W ETZEL , Wartesaal, 145f. 118 B ERNSTEIN , Displaced Persons, 529f. <?page no="35"?> Jim G. Tobias 36 der warmen Jahreszeit wurden zudem die Unterkünfte desinfiziert und alle Lagerbewohner gegen Bauchtyphus geimpft. 119 In den ersten Monaten war die medizinische Versorgung ebenfalls unzureichend. Der zuständige Joint-Mitarbeiter versprach jedoch rasche Abhilfe und setzte sich dafür ein, dass umgehend ein Arzt ins Lager geschickt wurde. 120 Spätestens von 1947 an ist ein kleines Hospital in Leipheim dokumentiert, dessen Personal einen besonderen Blick auf den Gesundheitszustand der Kinder warf. 121 Nach der Inspektion eines Vertreters des ZK ordnete dieser an, dem Lager einen zweiten Mediziner, einen Zahnsowie einen Kinderarzt zu schicken. 122 Offensichtlich verbesserte sich daraufhin die medizinische Versorgung, da der zuständige Area Medical Officer des AJDC im Herbst 1947 einen positiven Bericht über die Klinik abgab. Nur der Zustand der Säuglingsstation gab Grund zur Beanstandung, deshalb sollte diese Abteilung bessere Räume erhalten. 123 Auch der Leiter des Gesundheitsamtes war zufrieden: „Mit dem wenigen uns zur Verfügung stehenden Personal haben wir dennoch die Anerkennung der Militär- und UNRRA-Verwaltung erhalten“, notierte er in einem Monatsreport. 124 Wie in allen anderen Camps wurde das medizinische Personal in Leipheim vermutlich vom Joint vermittelt und bezahlt. Nach Angaben der Hilfsorganisation beschäftigte der AJDC 183 Ärzte und Zahnärzte sowie 357 Krankenschwestern und Hebammen. Der Joint stellte darüber hinaus medizinische Geräte sowie Arzneimittel in großen Mengen zur Verfügung und organisierte Medizinerkongresse. 125 Mitte Mai 1947 fand in Bamberg eine Konferenz aller Leiter der Gesundheitsämter aus der amerikanischen und britischen Zone statt. Ziel der Tagung war es, die Arbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zu koordinieren und zu vereinheitlichen. „Großer Wert wurde auf die prophylaktische Tätigkeit in den Lagern und den Gemeinden gelegt: wie Kampf mit venerischen Krankheiten, Mutter- und Kind-Fürsorge, Schutzimpfungen, Tuberkulose-Fürsorge und alle lebenswichtigen und aktuellen Probleme.“ 126 Regelmäßig wurden in Leipheim Krankenschwestern ausgebildet. 127 Mit diesen Kursen sollte einerseits die medizinische Versorgung vor Ort verbessert werden, andererseits dachte man an die bevorstehende Auswanderung nach Erez Israel, wo ein Mangel an ausgebildeten Pflegekräften herrschte. 128 Im Sommer 1946 belegten 119 Di Tetikajt fun Gezunthajts-Amt, in: A Heim, 13.9.1946. 120 AJDC-Field Report, 20.1.1946, YIVO LWSP, fol. 166. 121 UNRRA Monthly Report, 15.7.1946, YIVO DPG, fol. 1044. 122 Baricht iber di Inspekcje in Lager Leipheim, 25.4.1947, YIVO LWSP, fol. 151. 123 AJDC Health Department, 3.9.1947, YIVO LWSP, fol. 36. 124 Baricht fun Gezunthajts-Amt, 26.6.1947, YVA, M.P. 116. 125 K EMPNER , AJDC Operations, 16. 126 Rundschreiben an alle Ärzte des Rayon Franken, 20.8.1947, YIVO DPG, fol. 245. 127 Meldungen, in: A Heim, 12.7.1946; Krankn Szwester Kursn, in: A Heim, 23.8.1946. 128 Meldung, in: Undzer Wort, 12.7.1946. <?page no="36"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 37 im schwäbischen Camp 18 Schülerinnen den Lehrgang, 129 bei dem die angehenden Krankenschwestern Vorlesungen in Anatomie, Chirurgie, Pathologie, Physiologie, Krankenpflege und Erste Hilfe belegen konnten. 130 2.6. Sport im Lager Sportliche Betätigung gehörte zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der DPs. Doch es war nicht nur die Freude an der Bewegung, Sport war auch Ausdruck eines wieder erstarkten Judentums, wie ein „Aufruf an die jüdische Jugend“ vom Herbst 1945 exemplarisch belegt: „Wir haben noch immer die Schrecken des Hungers, der Qualen, des Todes und der Krematorien vor unseren Augen. Darum wollen wir unsere alte Tradition zum neuen Leben erwecken, indem wir durch Sport die Seele zu neuer physischer und moralischer Kraft entwickeln.“ 131 Bald organisierten sich in den jüdischen DP-Camps Fußballer (Abb. 4), Leichtathleten, Boxer, Schwimmer und Tennisspieler. Bis zum Frühjahr 1946 hatten sich 5 740 Sportler in Vereinen zusammengefunden, deren Klubs Namen wie Hakoach, Bar Kochba oder Makabi trugen. 132 Den größten Zuspruch fand jedoch der Fußballsport, der in über 80 Mannschaften (Bayerisch-Schwaben neun Teams) ausgeübt wurde. Einer der ersten Sportvereine gründete sich im DP-Camp Föhrenwald, wo im Herbst 1945 auch das vermutlich erste Spiel einer jüdischen Lagermannschaft stattfand. Im Lauf der nächsten Monate schlossen sich in fast jedem Camp und vielen Gemeinden jüdische Fußballer zusammen. Bald entstanden eigene Ligen, wie sie in den Regionen um München, Regensburg, Frankfurt, Kassel, Stuttgart und Bamberg dokumentiert sind. Im Jahr 1946 etablierte sich zudem eine zehn Mannschaften umfassende erste Liga, an deren Saisonende das Team von Ichud Landsberg den Meister stellte. 133 Die Vereine aus den Camps und Communities Bayerisch-Schwabens spielten in der Regionalliga des Bezirks München I. Zum Auftakt des organisierten Fußballwettkampfs in der US-Zone veranstaltete Ichud Landsberg ein großes Turnier, an dem zwölf jüdische Mannschaften teilnahmen, darunter Makabi Leipheim und Hatikwa Türkheim. Vor rund 3 000 gespannten Zuschauern eröffnete der Landsberger UNRRA-Direktor Dr. Glassgold den Wettkampf mit den Worten: „Euch 129 Krankn Szwester Kursn, in: A Heim, 23.8.1946. 130 Der Bericht in A Heim nennt leider keine Lehrinhalte. Da diese Kurse jedoch vom Joint und dem Zentralkomitee durchgeführt wurden, lassen sich diese Informationen aus einem vergleichbaren Lehrgang, der in Bamberg stattfand, entnehmen. Vgl. Kranknszwesternkursn in Bamberg, Undzer Wort, 30.8.1946. 131 Aufruf an die Jüdische Jugend, 22.11.1945, YIVO DPG, fol. 562. 132 Cuzamenfor fun jidisze Sport-Klubn, in: Landsberger Lager Cajtung, 26.4.1946. 133 Vgl. T OBIAS , Arojs mitn Bal, 105-120. <?page no="37"?> Jim G. Tobias 38 Abb. 4: Fußballmannschaft der zionistischen Jugendorganisation Dror im DP-Lager Leipheim (Foto: Beth Lochame Hagetaot). Sportlern wünsche ich, dass ihr eure Kräfte nächstes Jahr, dann zum zweiten Mal, in Erez-Israel messen möget.“ Unter der blau-weißen Fahne mit dem Davidstern und der US-Flagge marschierten die Spieler an der Ehrentribüne vorbei zum Sportplatz, wo Landsberg seine erste Partie souverän mit 4: 0 gegen die Auswahl des DP-Camps Pocking gewann. Das Team aus Türkheim verlor gegen Föhrenwald 0: 3, während Leipheim sich gegen Stuttgart mit 1: 0 durchsetzen konnte und erst im zweiten Spiel gegen Landsberg mit einer 0: 3 Niederlage aus dem Wettbewerb flog. Am dritten Turniertag waren noch Landsberg und Feldafing ungeschlagen und somit für das Finale qualifiziert. Die 5 000 herbeigeströmten Zuschauer sahen jedoch keinen Sieger, da es wegen Schiedsrichterbeleidigung vonseiten der Feldafinger zum Spielabbruch kam. Man vereinbarte das Match am nächsten Tag fortzusetzen. Diese Partie wurde ebenfalls, diesmal wegen Unfähigkeit des Schiedsrichters, nicht zu Ende gespielt. Das Turnier hatte keinen Sieger. 134 Mit Beginn des regulären Ligabetriebs kickten mit Augsburg, Neu-Ulm, Leipheim II, Bad Wörishofen, Türkheim, Memmingen und Hapoel Lechfeld insgesamt sieben Mannschaften aus Bayerisch-Schwaben in der Regionalliga sowie zwei Teams, nämlich J.S.K. (Jüdischer Sportklub) Lechfeld und Leipheim, in der ersten 134 Grojser Sport-Jom-Tow in Landsberg, in: Landsberger Lager Cajtung, 26.4.1946. <?page no="38"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 39 Division. 135 Gespielt wurde auch außerhalb der Ligen. Am 31. März 1946 fand ein großes Sportfest im Lager Leipheim statt. Zum Auftakt starteten verschiedene Leichtathletikwettbewerbe, wie der 1 000- und 400-Meter-Lauf sowie die 4 x 200- Meter-Staffel. Anschließend betraten die Fußballauswahlmannschaften der zionistischen Jugendbewegung Hanoar Hazioni und Betar den Lagersportplatz. Betar übernahm sofort die Initiative, stieß jedoch auf überlegtes Abwehrverhalten bei Hanoar Hazioni, sodass die Offensivelf nach 45 Minuten mit 1: 2 im Rückstand lag. Während die Fußballer in die Kabinen gingen, begeisterte ein Boxkampf das Publikum. Nach Wiederanpfiff drängte Betar massiv auf den Ausgleich und kassierte das dritte Tor. Das Team von Hanoar Hazioni ging als Sieger vom Platz und erhielt eine Urkunde des örtlichen Makabi-Klubs. 136 Die Fußballmannschaft dieses Vereins spielte in der Saison 1946 in der A-Klasse des Rayon München, Gruppe 1 und führte nach Abschluss der Vorrunde mit 12: 2 Punkten und 20: 6 Toren die Tabelle an. 137 Aufgrund der überzeugenden Ergebnisse war der Berichterstatter der Zeitung A Heim überzeugt, dass „auch in der zweiten Runde Makabi den ersten Platz belegen“ und damit in die erste Liga aufsteigen werde. Er sollte Recht behalten. Zum Auftakt der Saison 1947 empfing Leipheim die Elf von Makabi München. 138 Kurz vor Beginn der zweiten Spielzeit hatte der Verband die höchste Klasse im jüdischen Fußball erweitert und in zwei Gruppen aufgeteilt. Im Süden spielten zwölf Teams, im Norden trafen zehn Klubs aufeinander. Makabi Leipheim kickte in der Südgruppe und stellte die einzige Mannschaft aus Bayerisch-Schwaben. Sie beendete die Saison 1947 mit einem dritten Platz, doch mit deutlichen sieben Punkten Abstand auf den Zweiten. Erster wurde das Team von Ichud Landsberg, das am Samstag, 29. November 1947, im Münchner Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße auf den Nordgruppenmeister Hasmonea Zeilsheim traf. Die Elf aus Landsberg gewann die Partie souverän mit 3: 0 Toren. „Wiederum zeigte Ichud, dass sie nicht zu besiegen sind - in den letzten zwei Jahren haben sie nur zwei Spiele verloren“, schrieb die Jidisze Sport Cajtung und jubelte: „Es lebe der jüdische Sport in unserem eigenen Staat! “ An diesem 29. November hatte nämlich die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Ein lang ersehnter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Nicht nur in München tanzten die Juden vor Freude auf der Straße. 139 135 In der Spielzeit 1948 fusionierten Bad Wörishofen und Türkheim, Leipheim II stellte keine Mannschaft mehr in der Regionalliga, stattdessen spielte Memmingen. Spielpaarungen / Tabellen, in: Jidisze Sport Cajtung, November 1947 und April 1948; Meisterschaftstabellen in: Jidisze Sport Cajtung, 4.6.1947 und April 1948. 136 1-ste Sport Impreze in Leipheim, in: A Heim, 11.4.1946. 137 Farendikt di Farmestungen in der erszter Runde, in: A Heim, 30.8.1946. 138 Erszte Rezultatn, in: Jidisze Sport Cajtung, 28.5.1947. 139 Vgl. T OBIAS , Ichud ojch wajter, 81-87. <?page no="39"?> Jim G. Tobias 40 Nach der Winterpause wurde der Spielbetrieb im März wieder aufgenommen. Diesmal kickten 24 Mannschaften in der ersten Liga. Darunter auch der Jüdische Sportklub Lechfeld. Damit waren nunmehr zwei Klubs aus Bayerisch-Schwaben im Oberhaus vertreten. Zusätzlich zu den Wettkämpfen in den diversen Ligen wurde erstmals ein Pokal ausgespielt. An den im K.O.-System durchgeführten „Becher Szpiln“ nahmen insgesamt 52 Teams, also ausnahmslos alle noch bestehenden Ligaklubs aus der ersten und der zweiten Division teil. Zu dieser Zeit spielten in Bayerisch-Schwaben noch die Vereine von J.S.K. Lechfeld, Makabi Leipheim, Hakoach Memmingen, Hapoel Türkheim-Wörishofen, Bar Kochba Neu-Ulm und Hapoel Lechfeld. 140 Viele der ausgelosten Paarungen fanden jedoch nicht statt und die Ligen verfielen zusehends. Im Juni 1948 verfügte der jüdische Sportverband den vorläufigen Abbruch der Wettbewerbe. Im gleichen Monat stellte die Jidisze Sport Cajtung ihr Erscheinen ein. 141 Schon vor der Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 und der damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarn wollten viele junge Juden nach Palästina, um Erez Israel zu verteidigen. „Wir stehen im Brennpunkt der Mobilisation der Jugend der Scheerit Haplejta und müssen die Reihen des kämpfenden Jischuw verbreitern“, hieß es in einem Aufruf der jüdischen Sportverbände. 142 Bis zum 25. April sollten sich alle aktiven Sportler registrieren lassen. Dieser Hilferuf blieb nicht ungehört - teilweise folgten komplette Mannschaften diesem Appell. „Wir Sportler müssen beweisen, dass wir die Avantgarde unseres Volkes sind“, textete die Jidisze Sport Cajtung. „Aus unseren Reihen werden die Helden kommen, die die Fahne der Befreiung und Unabhängigkeit von Erez Israel tragen.“ 143 Am 10. Mai 1948 löste sich der Sport Klub Makabi Leipheim auf; auch seine Mitglieder brannten darauf, ihre neue Heimat zu verteidigen. 144 2.7. Soldaten für Israel Für viele Jugendliche und junge Erwachsene war nach der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums eine Zukunft in Europa unvorstellbar. Sie begriffen ihren Aufenthalt in den DP-Camps in Deutschland zudem als Fortsetzung ihres Überlebenskampfs, der in den NS-Lagern und Ghettos begonnen hatte. Nicht von ungefähr fürchteten die Juden Ausbrüche des bei den Deutschen noch immer tief verwurzelten Antisemitismus. Nur die Anwesenheit der US-Truppen sorgte 140 Barichtn fun die forgekummen in di lecte Wochn Szpiln, Interesante Szpiln ojn Becher, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948. 141 Cu ale Sport-Klubn, in: Jidisze Sport Cajtung, Juni 1948. 142 Farsztendikung in Undzer Sport Leben, in: Jidisze Sport Cajtung, März 1948. 143 Di sport Farbandn rufn Ajch! , in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948. 144 CIC Memorandum, Leipheim Jewish Displaced Persons Camp, 25.5.1948, NARA 319, box 139. <?page no="40"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 41 dafür, dass es zu keinen Gewalttaten kam. „Wenn die Armee der Vereinigten Staaten morgen abzöge, würde es am nächsten Tag zu Pogromen kommen“, meinte beispielsweise der Advisor on Jewish Affairs, Philip S. Bernstein, rückblickend in einer Rede vor dem United Nations Special Committee on Palestine im Mai 1947. 145 Der Staat Israel sollte ein „Rettungsfloß sein, die Zufluchtsstätte“, zu der Juden gehen konnten. „So sah die Idee der Gründerväter aus, und sie war vor der nazistischen Tragödie entstanden. Dieses Land der Rettung wurde nun unbedingt gebraucht“, beschrieb der bekannte jüdische Literat und Naturwissenschaftler Primo Levi die unauslöschliche Sehnsucht der Shoa-Überlebenden nach einer nationalen Heimstatt in Palästina. 146 Im Herbst 1945 warb Ben Gurion auf einer Reise durch die DP-Camps für den noch zu gründenden Staat Israel. Dabei besuchte er auch Landsberg. „Für die Leute hier im Lager erscheint er wie ein Gott“, notierte Irvin Heymont, der US-Lagerkommandant. „Es scheint, als wenn sich in seiner Person die gesamte Hoffnung vereinigt, nach Palästina auswandern zu können.“ 147 In seiner Rede appellierte Ben Gurion an die Shoa-Überlebenden: „Im bevorstehenden Kampf werdet ihr eine entscheidende Rolle spielen. Ich weiß, was ihr durchgemacht habt, und es ist nicht leicht, das von euch zu verlangen. Ihr müsst es tun, weil ihr ein enormer Faktor seid. Ihr seid nicht nur bedürftige Personen, sondern auch eine politische Macht“, rief er den über 5 000 Zuhörern zu. „Ihr müsst stark sein, und ich bin überzeugt, ihr werdet stark sein.“ 148 Ben Gurions Ansicht bestätigte sich in der überwältigenden Palästinabegeisterung, wie eine Erhebung der Flüchtlingsorganisation UNRRA aus dem Jahr 1946 dokumentiert: Von 19 311 befragten Juden gaben 18 702 als Emigrationsziel Palästina an. Gleichzeitig schlossen rund 1 000 von ihnen eine Übersiedlung in ein anderes Land kategorisch aus und beantworteten die im Formblatt gestellte Frage nach „einem zweiten Auswanderungsziel“ lapidar mit „Krematorium“. 149 Dass der zionistische Traum von Erez Israel nicht ohne Blutvergießen zu realisieren war, dessen waren sich die meisten sicher. So begann die geheime Untergrundorganisation Hagana schon 1946 mit dem Aufbau von zwei illegalen Offiziersschulen, eine im fränkischen Wildbad, die andere in Oberbayern, im Hochlandlager bei Königsdorf. Hier wurden hunderte von Führungskräften ausgebildet, die anschließend in die DP-Camps ausschwärmten und Freiwillige für den israelischen Unabhängigkeitskrieg rekrutierten und ausbildeten. Auf Befehl des Leiters der Hagana in Europa, Nachum Schadmi, entstanden Ende 1947 die ersten Anwerbungszentren in den Camps: „Ich verlange, dass die Juden in den Lagern sich melden. Sie 145 Zit. in: G OSCHLER , The Attitude, 443. 146 L EVI , Lösung, 61. 147 H EYMONT , Among the Survivors, 65. 148 S CHWARZ , Redeemers, 51. 149 V IDA , From Doom, 63. <?page no="41"?> Jim G. Tobias 42 sind praktisch Bürger Israels“, befahl er. Nun war der Wehrdienst in den Rang einer nationalen Pflicht erhoben, 150 wie auch die überall verbreiteten Flugblätter in jiddischer Sprache belegen: „Schtelt zich zum Scherut ha Am“ (Melde dich zum Dienst am Volk). 151 Die Eröffnung eines Rekrutierungsbüros in Leipheim ist im Januar 1948 nachweisbar, wie einem Report des US-Geheimdienstes CIC zu entnehmen ist. 152 Eigentlich waren solche Aktivitäten nach alliiertem Besatzungsrecht streng verboten, doch praktisch unternahmen die Besatzer nichts dagegen. Gleichwohl war der Geheimdienst über nahezu alles im Bilde, wobei er manchmal auch Fehlinformationen aufsaß: Ein Agent meldete im März 1948, dass das Mindestalter für männliche Rekruten bei 15 Jahren liege und solche Jugendlichen in Leipheim angenommen worden wären. 153 Die Hagana verpflichtete indessen nur Männer im Alter von 17 bis 35 Jahren und kinderlose Frauen zwischen 18 und 30 Jahren, 154 allerdings sehr erfolgreich. „Der Aufruf, sich freiwillig zu melden, war ein großer Erfolg“, berichtete ein jüdischer Spitzel dem CIC, sodass „ein erster Massentransport von Rekruten aus Leipheim, Neu-Ulm und Landsberg Anfang Mai die Lager verlassen wird.“ 155 Ihre Kommunikation mit den einzelnen Stützpunkten wickelte die Hagana, nach Auffassung des CIC, über Kurzwellensender ab. Ein solches Funkgerät soll ab April in Leipheim existiert haben. 156 Wichtige Befehle wurden aber auch per Boten überbracht. In einem Schreiben des Zentrums für den Volksdienst an alle DP-Camps waren genaue propagandistische Anweisungen für die Massenmobilisierung verfügt - überall sollten große Transparente und Plakate aufgehängt werden: „Mobilisiere für den Dienst am Volke“, „Jeder Jude - ein Soldat und Pionier“ und „Keine Drückeberger in unserem Camp“. 157 Mit Beginn der Rekrutierungskampagne hatten die Verantwortlichen eine zusätzliche medizinische Untersuchung für potentielle Immigranten nach Israel eingeführt. Es war offensichtlich, dass dieser Gesundsheitscheckup als getarnte Musterung für alle Wehrpflichtigen diente: „Am 26. Mai 1948 erschien eine Kommission bestehend aus vier Ärzten im Camp Leipheim, um alle jungen jüdischen Männer, die für den Kampfeinsatz in Palästina vorgesehen sind, zu mustern“, berichtete ein CIC-Agent. „Es heißt, dass die Kommission innerhalb der nächsten zwei Wochen mit weiteren medizinischen Untersu- 150 Vgl. T OBIAS , Bürger Israels. - Die nachfolgenden Ausführungen hinsichtlich militärischer Ausbildung folgen dieser Veröffentlichung des Autors. 151 Flugschrift Aufruf zum Volksdienst, YIVO DPG, fol. 1355. 152 CIC Report Recruitment for Training of Jewish Army, 30.1.1948, NARA, RG 319, box 139. 153 CIC Memorandum Recruitment of Jewish DPs for Haganah, 10.3.1948, NARA 319, box 139. 154 S CHWARZ , Redeemers, 278. 155 CIC Memorandum Haganah Activities at DP Camp Leipheim, 27.4.1948, NARA 319, box 139. 156 CIC Memorandum Jewish Military Activities, 27.4.1948, NARA 319, box 139. 157 Merkaz le Scherut ha Am, 16.3.1948, YIVO DPG, fol. 1355. <?page no="42"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 43 chungen fortfahren wird.“ 158 Personen, die sich nicht zum Waffendienst bereit erklärten, wurden sozial geächtet, indem man Namenslisten am Schwarzen Brett aushängte. Falls diese Maßnahme nicht fruchtete, drohten die Hagana- Verantwortlichen mit der Kürzung der Essensrationen und dem Verlust von Unterkunft sowie Job. 159 Die Musterungskommissionen sahen keine Veranlassung, ihre harte Vorgehensweise zu ändern, da auch der Jewish Advisor etwaige Repressionen relativierte: „Ich bin überzeugt“, schrieb William Haber, „dass die Meisten aus freiem Willen handeln. Zugegebenermaßen wird moralischer Druck angewandt, wie er auch in der amerikanischen Gesellschaft üblich ist. Man erwartet, dass junge Männer unaufgefordert ihrer Pflicht nachkommen und nicht warten, bis man sie holt.“ 160 Wie groß die Gruppe der Verweigerer war, lässt sich nicht genau beziffern. Haber schätzte die Zahl derer, die sich den medizinischen Untersuchungen entzogen, auf etwa zehn Prozent. 161 „In den Lagern strömten die Freiwilligen nur so herbei“, erinnert sich Chaim Hoffman, der Repräsentant der Jewish Agency in Deutschland. 162 Für viele war die Meldung für den Wehrdienst die Freifahrkarte nach Israel. Auch die Leipheimer Lagerpolizisten wollten ihren Beitrag für die Verteidigung des jüdischen Staates leisten: „Alle jungen Polizeikräfte Leipheims wurden von ihren Pflichten entbunden und durch ältere Männer ersetzt. Heute wurden 16 junge Männer für den Transport nach Palästina abkommandiert“, vermerkte ein US-Geheimdienstmitarbeiter. 163 Wie viele Soldaten das Camp Leipheim stellte, ist nicht überliefert; dokumentiert ist jedoch, dass am 27. Januar 1948 der vermutlich erste Transport von 60 Rekruten aus Leipheim das Lager verlassen hat - darunter befanden sich acht weibliche Kämpfer. 164 2.8. Auflösung des Camps Zwischen März und Mai 1948 führte die Jewish Agency eine Befragung bei den in Deutschland lebenden DPs durch. Nach dieser Erhebung erklärten 537 Juden aus Leipheim, dass sie in den neuen Staat immigrieren möchten. 165 Aufgrund der massi- 158 Plans and Preparations Towards the Movement of Jewish Reinforcements to Palestine, 9.6.1948, NARA 319, box 139. 159 Haganah Activities at DP Camp Leipheim, 14.5.1948, NARA 319, box 139. 160 Report William Haber, 10.6.1948, YIVO LWSP, fol. 75. 161 Report William Haber, 20.12.1948, Archive of the American Jewish Committee. 162 Zit. in: S EGEV , Million, 240. 163 CIC Memorandum, Leipheim Jewish Displaced Persons Camp, 25.5.1948, NARA 319, box 139. 164 Recruitment for Training of Jewish Army, 30.1.1948, NARA 319, box 139. 165 Mifkad ha Olim (Zählung der Auswanderungswilligen), Jewish Agency, 3.3.-31.5.1948, veröffentlicht: 10.10.1948, MLI, RG VII-126. <?page no="43"?> Jim G. Tobias 44 ven Abwanderung war das Ende des Camps absehbar. Bis zur Schließung dauerte es jedoch noch etwa ein Jahr. Im Januar 1949 lebten nur noch 1 411 DPs in den Unterkünften, 166 die diese bis Ende April 167 verlassen sollten. Zum Stichtag 31. Dezember 1949 ist die Einrichtung nicht mehr verzeichnet. 168 Vermutlich handelte es sich bei den letzten Bewohnern mehrheitlich um Familien, da laut Statistik 336 Kinder bis zu 13 Jahren aufgeführt waren, davon allein 259 in der Altersgruppe zwischen zwei und fünf Jahren sowie 71 schwangere oder stillende Frauen. 169 Für Paare mit Kindern kam eine Immigration nach Israel nicht in Frage. Oft waren es die Frauen, die entschieden, wohin die Familien auswanderten. Ausschlaggebend dafür waren die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten. „Trotz aller zionistischen Überzeugung wollten die Frauen ihre Kinder und ihren Ehemann nicht in Gefahr bringen. Als Überlebende des Krieges und Völkermordes konnten sie einem verklärten Begriff von Kampf nichts abgewinnen“, wie eine USamerikanische Historikerin nach Auswertung von Zeitzeugeninterviews herausfand. 170 Da Amerika, Kanada und Australien Ende der 1940er Jahre ihre rigiden Einwanderungsvorschriften liberalisierten, öffnete sich den Menschen nun eine reale Alternative. Die Unterkünfte auf dem ehemaligen NS-Fliegerhorst wurden jedoch weiterhin benötigt. Von Anfang 1950 an quartierte die UN-Flüchtlingsorganisation IRO rund 1 000 Ukrainer und einige hundert Polen in Leipheim ein. Dabei handelte es sich laut Unterlagen aus dem Stadtarchiv Leipheim um nicht jüdische Displaced Persons, „Reste der nicht auswanderungfähigen DPs [...], aus Neu-Ulm, Dillingen und Gablingen“. 171 Diese Menschen wurden zum 30. Juni 1950 der deutschen Flüchtlingsverwaltung unterstellt und fortan unter der Bezeichnung „heimatlose Ausländer“ erfasst. 172 3. Neu-Ulm: Die jüdische Stadt in der Ludendorffkaserne Aufgrund des großen Zustroms von polnischen Juden, die vor den Pogromen in ihrem Heimland in die US-Zone geflüchtet waren, entschied die US-Verwaltung im 166 Jewish Population, Januar 1949, YIVO LWSP, fol. 40. 167 Camp Closing in Germany, 15.3.1949, CZA, A 37095. 168 DP-Population December 31, 1949, in: Final Report of Major Abraham S. Hyman, Januar 1950, S. 15, CZA Z6/ 369. 169 Jewish Population, Januar 1949, YIVO LWSP, fol. 40. 170 F EINSTEIN , Survivors, 282. 171 DP-Lager Leipheim, Schreiben Landratsamt Günzburg, 30.5.1950, StaL, Zwangsverschlepptenlager. 172 Auszug aus dem Protokoll des Bayerischen Landtages, 12.6.1950, StaL, Zwangsverschlepptenlager. <?page no="44"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 45 Sommer 1946 die Neu-Ulmer Ludendorffkaserne als neues jüdisches DP-Camp zu eröffnen. Zuvor waren hier deutsche Offiziere interniert. 173 Im September wurden in dem Gebäudekomplex rund 1 700 Personen einquartiert. 174 „Die meisten Leute sind erst kürzlich in Deutschland angekommen“, notierte eine Joint-Mitarbeiterin. „Sie verlangen immerzu Sachen, die wir ihnen nicht geben können.“ 175 Diese Menschen hatten einen langen und entbehrungsreichen Weg hinter sich, bis sie aus allen Teilen Polens in die US-Zone gelangten. Ihre ersten Stationen waren die provisorisch und notdürftig errichteten Zeltstädte in Michelsdorf (bei Cham) oder in Landshut, von dort ging es in die hoffnungslos überfüllten Auffanglager Bad Aibling und Funkkaserne München. 176 Die UNRRA konnte die Menschen nur mit dem Notwendigsten ausstatten. Auch bei ihrer Ankunft in Neu-Ulm fehlte es anfänglich an ausreichender Kleidung und Nahrungsmitteln. 177 Angesichts dieser schwierigen Situation versuchten die Leipheimer Juden, ihren Leidengenossen mittels eines Artikels in der Zeitung A Heim Mut zuzusprechen: „Euer Leid und euer Martyrium ist uns gut bekannt. Auch wir haben den dornigen Weg beschreiten müssen: Aus dem fernen Exil im kalten Sibirien, aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern Hitler-Deutschlands und dem ‚freien und demokratischen‘ Polen in die Freiheit der UNRRA-Lager der US-Zone. Seid nicht niedergeschlagen! Seid mutig und stolz! “ Verbunden wurde die Ermutigung an das „Bruderlager“ mit den besten Wünschen für das bevorstehende Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, das am 26. September bevorstand. „Wir werden euch moralisch und geistig stützen, wo wir nur können. Knüpft Kontakt zu unserer Zeitung und berichtet über eure Nöte und über alles, was euch auf dem Herzen liegt.“ 178 Dieser Zeitungsartikel lässt vermuten, dass zwischen den Leipheimer und Neu- Ulmer DPs ein intensiver und freundschaftlicher Kontakt bestand. Da die Zeitung A Heim jedoch nur noch mit wenigen Nummern erschien, am 8. November 1946 wurde die letzte Ausgabe gedruckt, liegt lediglich ein weiterer Bericht über die Situation in Neu-Ulm vor. Nach diesem Artikel scheinen sich die Verhältnisse in der Ludendorffkaserne normalisiert zu haben, wobei es dennoch Probleme zu lösen gab. Im November musste die Volksschule vorübergehend ihren Unterricht einstellen. Die zwölf Lehrer und die 176 Kinder hatten „kältefrei“. Denn die Klassenzimmer befanden sich in Räumen mit blankem Betonboden. „Es war einfach zu kalt, um zu lernen“, schrieb der jüdische Journalist. Daraufhin wurde ein wärmedämmender Boden verlegt und eine andere Heizung installiert. Besser ging es den Kleineren, die in einem „prächtigen Kindergarten“ spielen und lernen konnten. Die Tagestätte war 173 Flyer, Stadtgeschichten Neu-Ulm, Ludendorffkaserne, StaNU. 174 Jewish Population, 30.9.1946, AJDC 45/ 64, file 394. 175 AJDC Monthly Report, Neu-Ulm, November 1946, YIVO LWSP, fol. 50. 176 Tent Cities in Mikelsdorf and Landshut, 27.8.1946, YIVO LWSP, fol. 23. 177 AJDC Monthly Report, Neu-Ulm, November 1946, YIVO LWSP, fol. 50. 178 Mir bagrisn unszere Brider un Szwester, in: A Heim, 25.9.1946. <?page no="45"?> Jim G. Tobias 46 nach Meinung von A Heim „musterhaft“ und sollte allen „ähnlichen Einrichtungen in der Region als Vorbild dienen“. 179 Ein Jahr später beschrieb die Gesundheitsabteilung des Joints die Zimmer als „freundliche Räume, hell und luftig, die das Flair eines richtigen Kindergartens ausstrahlen“. Bis zu 69 Kinder konnten im Hort betreut werden, wobei zeitweise nicht für alle Jungen und Mädchen Kinderbetten für den Mittagsschlaf bereit standen, einige mussten auf dem Boden schlafen. Ein Missstand, den der Joint jedoch so schnell wie möglich beheben wollte. 180 Im November traten die Mitglieder der ersten frei gewählten Selbstverwaltung ihre Ämter an. Zuvor hatte eine provisorische Administration das Lagerleben organisiert. Obwohl manche Bewohner mit der Arbeit des vorläufigen Komitees zufrieden waren, bewertete der Joint - im Unterschied zu dem zitierten Zeitungsreporter - die Verhältnisse im Lager rückwirkend eher kritisch. Er bemängelte das „niedrige kulturelle Niveau und forderte mehr Anstrengungen im Bereich der Erwachsenenbildung und ausreichende Freizeitangebote.“ Diese Anregungen wurden offensichtlich aufgegriffen und rasch in die Tat umgesetzt. Ein zentrales Kulturamt plante die Einrichtung einer hebräischen Mittelschule, die, auf der anderen Seite der Donau, im Camp Sedan-Kaserne Ulm 181 untergebracht werden sollte. Außerdem wurden die Angebote im Bereich der beruflichen Bildung ausgeweitet. 182 Die bereits existierende ORT-Schule wollte zukünftig Damen- und Herrenschneider, Weber, Automechaniker, Maurer, Krankenschwestern und Buchhalter ausbilden (Abb. 5). Die Öffnung der Lagerbibliothek mit Lesesaal stand kurz bevor. Für Unterhaltung wurde ebenfalls gesorgt: Ein Orchester spielte Jazz und jiddische Lieder im neu eröffneten Tanzsaal. Ein Kultur- und Bildungsangebot, das sich sehen lassen konnte. „Wir sind stolz auf unsere einfachen Volksmenschen, die mit viel Energie und schöpferischer Arbeit ihren traditionellen Namen ‚Volk des Buches‘ verteidigen“, textete deshalb der Zeitungsreporter. 183 Auch für die religiösen Bedürfnisse wurde gesorgt. Knapp 100 Schüler lernten an der von Direktor A. Walowitz geleiteten Talmud- Thora-Schule die Grundlagen des Judentums. Die orthodoxe jüdisch-amerikanische Organisation Vaad Hatzala finanzierte diese Einrichtung. 184 Die Ludendorffkaserne verfügte über eine eigene Apotheke und ein Krankenhaus, wobei die Kinderklinik schlecht ausgerüstet war und demzufolge keinen guten Ruf hatte. Die Mütter brachten ihre Babys lieber in den Hospitälern in Dillingen 179 Di Kinder fun Am Hasejfer, in: A Heim, 8.11.1946. 180 AJDC Health-Department, 3.9.1947, YIVO LWSP, fol. 36. 181 Zu den jüdischen DP-Camps in und um Ulm vgl. M AIHOFER , DPs in Ulm, in: Untergang und Neubeginn, 41-69. 182 AJDC Monthly Report, Neu-Ulm, November 1946, YIVO LWSP, fol. 50. 183 Di Kinder fun Am Hasejfer, in: A Heim, 8.11.1946. 184 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. <?page no="46"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 47 Abb. 5: An der ORT-Berufsschule Neu-Ulm lernen jungen Frauen das Stricken (Foto: ushmm 58510). oder Günzburg zur Welt und suchten zur postnatalen Versorgung ihrer Säuglinge häufig deutsche Ärzte auf. Die zahnärztliche Abteilung verfügt dagegen über genügend medizinische Instrumente. Diese gehörten aber dem praktizierenden Dentisten. 185 Der Joint ermahnte die Selbstverwaltung, alles zu unternehmen, um die medizinische Versorgung der Bewohner zu verbessern. Im Herbst 1947 musste die Gesundheitsabteilung mit einer Scharlachepidemie kämpfen. Sechs Patienten konnten nicht vor Ort behandelt werden und wurden in Krankenhäuser in Ulm und Augsburg verlegt. Als Gegenmaßnahme verordneten die Verantwortlichen umfangreiche Desinfektionsmaßnahmen und die Schließung der Schulen. Darüber hinaus klagten viele DPs über schmerzhafte Entzündungen, verursacht durch Bettflöhe und Läuse. Daher sollten alle Räumen unverzüglich mit DDT besprüht werden. 186 Für die Sicherheit sorgte die jüdische Polizei, die, wie in allen Camps, die Kontrollen am Eingangstor, die nächtliche Bewachung der Unterkünfte sowie der Lebensmittel- und Materialdepots übernahm. Deutschen war der Zutritt zum DP- Camp nicht gestattet: „Warnung! ! Die Einwohner werden darauf hingewiesen, keine Deutschen ins Lager zu bringen. Wer dagegen verstößt, wird zur Verantwortung 185 AJDC Health-Department, 3.9.1947, YIVO LWSP, fol. 36. 186 AJDC Monthly Report, November 1947, YIVO LWSP, fol. 38. <?page no="47"?> Jim G. Tobias 48 gezogen“, hieß es in einer Mitteilung der Polizei. 187 Im April 1947 führte die UNRRA in Heidelberg ein Fortbildungsseminar für die Sicherheitskräfte durch. Dabei wurden auch Fragen der Zuständigkeiten geklärt, da es zu einem Kompetenzgerangel zwischen der jüdischen Selbstverwaltung und der UN-Behörde gekommen war. Die Unstimmigkeiten konnten einvernehmlich ausgeräumt werden. 188 Wer Lust auf Spiel und Bewegung hatte, konnte das im eigenen Sportverein tun. Neben Boxen und Leichtathletik stand der Fußball an erster Stelle. Die Elf von Bar Kochba Neu-Ulm kickte in der zweiten Liga mit Hakoach Memmingen, Hapoel Türkheim und Makabi Leipheim um den Aufstieg in die erste jüdische Liga. Die letzte Begegnung in der Saison 1947 fand auf eigenem Platz statt. Neu-Ulm spielte gegen den schon feststehenden Meister Hasmonea Planegg und verlor deutlich mit 1: 5 Toren. Angesichts dieses katastrophalen Ergebnisses, zwei verschossenen Elfmetern sowie einem Platzverweis lagen die Nerven bei Spielern und Zuschauern blank. Anhänger des Neu-Ulmer Teams rannten auf den Rasen und führten einen Spielabbruch herbei. 189 Auch beim Hinspiel in Planegg, das Neu-Ulm gleichfalls verloren hatte, musste Neu-Ulm wegen Schiedsrichterbeleidigung einen Platzverweis hinnehmen. Daraufhin verließ die gesamte Mannschaft das Feld - die Partie wurde abgebrochen. 190 Erfolgreicher war Neu-Ulm im 1948 veranstalteten Fußballpokal. Dort überstand man immerhin die erste Runde. 191 Doch war es ein Sieg ohne Wert, da dieser Wettbewerb nicht zu Ende geführt wurde. Sport erfüllte eine eminent wichtige Funktion: Er sollte die verletzte Seele heilen und das Minderwertigkeitsgefühl, was den Juden in den Konzentrationslagern eingepflanzt worden war, überwinden helfen. Die sportliche Betätigung war eben nicht nur Freude am Spiel, sondern diente auch der Vorbereitung für den Kampf um den jüdischen Staat in Palästina. 192 Dabei spielte die Ludendorffkaserne von 1948 an eine bedeutende Rolle. Das Camp war eine der drei zentralen militärischen Ausbildungsstätten der Hagana sowie eine nicht unbedeutende Basis auf dem Weg der illegalen Auswanderer in Richtung französische Mittelmeerhäfen. Das DP- Camp Neu-Ulm unterstand dem militärischen Befehl einer resoluten Frau: Ittka Zilbowicz war von den jüdischen Behörden in Palästina nach Deutschland geschickt worden und hatte zunächst erfolgreich ein Sportprogramm für die diversen zionistischen Jugendgruppen koordiniert. Daraufhin ernannte der Hagana-Generalstab sie zur Kommandantin in Neu-Ulm. Im Frühjahr 1948 „durchlief eine große Gruppe von Tschechen unsere Ausbildung - ich glaube es waren über tausend Menschen“, 187 Warnung, Mitteilung der Polizei, o.D., YIVO DPG, fol. 881. 188 Baricht iber di Inspekcje in Lager Neu-Ulm, 25.4.1947, YIVO LWSP, fol. 151. 189 A Klas Majsterszafn, in: Jidisze Sport Cajtung, Dezember 1947 (A). 190 A Klas Majsterszafn, in: Jidisze Sport Cajtung, 25.7.1947. 191 Wajtere Runde fun Becher, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948 (B). 192 Bagrisungen, in: Undzer Wort, 12.3.1946. <?page no="48"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 49 Abb. 6: Nachdem die Juden die Ludendorffkaserne verlassen hatten, zog Anfang der 1950er Jahre die US-Armee hier ein (Foto: Stadtarchiv Neu-Ulm). erinnert sich Ittka Zilbowicz Jahrzehnte später. Die Freiwilligen wurden nach Beendigung ihrer Ausbildung sofort in Richtung Südfrankreich abkommandiert. Im Juni 1948 standen in der Gegend von Marseille 9 000 Hagana-Soldaten sozusagen Gewehr bei Fuß und warteten auf ihren Transport nach Israel. Viele hatten ihre militärische Grundausbildung in Neu-Ulm erhalten. 193 Insgesamt meldeten sich etwa 22 000 Juden aus DP-Camps und stellten damit ein Drittel aller Kombattanten im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Noch heute, über 60 Jahre danach, löst diese Tatsache bei vielen ehemaligen Soldaten tiefe Befriedigung aus. Jehuda Ben David, der stellvertretende Hagana-Kommandeur in Deutschland, stellt rückblickend fest: „Ich sehe unsere Tätigkeit in Deutschland als einen Erfolg an und empfinde es als Genugtuung, dass wir unser Programm mitten unter der deutschen Bevölkerung durchgeführt haben.“ 194 Ende März 1949 registrierte der Joint noch 1 391 Bewohner in der Ludendorffkaserne (Abb. 6). Etwa 300 von ihnen waren Kinder im Alter bis zu sechs Jahren 195 - ein Hinweis darauf, dass auch hier viele Familien lebten. Die Mehrzahl der 193 T OBIAS , Bürger Israel, 110f. 194 T OBIAS , Bürger Israel (Film), Juni 2003. 195 Jewish Population, März 1949, YIVO LWSP, fol. 42. <?page no="49"?> Jim G. Tobias 50 Bewohner wird demnach in klassische Auswanderungsländer, wie etwa die USA, emigriert sein. Die jüdische Stadt in Neu-Ulm löste sich spätestens im Herbst 1949 endgültig auf. Abraham S. Hyman, der letzte Jewish Advisor, inspizierte im Dezember 1949 die DP-Camps Landsberg und Föhrenwald, Neu-Ulm existierte zu dieser Zeit schon nicht mehr, und bestätigte in seinem Abschlussbericht diese Vermutung. „Über 90 Prozent dieser Menschen waren entschlossen, in die Vereinigten Staaten zu gehen.“ 196 4. Von Oberbayern nach Schwaben - das Lager Lechfeld bei Augsburg Das letzte in Bayerisch-Schwaben errichtete DP-Camp, Lechfeld bei Augsburg, befand sich wie Leipheim auf dem Gelände eines Flugplatzes. Es nahm Juden aus dem an der bayerisch-österreichischen Grenze gelegenen und zur Schließung vorgesehenen Durchgangslager Ainring 197 auf. Obwohl das ehemalige Flugfeld der Firma Messerschmidt über „exzellente Einrichtungen“ verfügte, wie eine AJDC-Mitarbeiterin in einem internen Bericht schrieb, protestierten das Zentralwie auch das Regionalkomitee zunächst vehement gegen einen Umzug nach Lechfeld. Die jüdischen Selbstverwaltungsorgane führten aus, dass einige zentrale Gebäude zerbombt wären und die nicht zerstörten Unterkünfte weit verstreut auf dem Gelände lägen. Aufgrund dieser nicht abgeschlossenen Siedlungsform fürchteten die Juden um ihre Sicherheit. Erst als die US-Army besondere Schutzmaßnahmen versprach, stimmte die jüdische Interessenvertretung zu und akzeptierte den Umzug. 198 Doch die Juden wollten sich nicht allein auf die amerikanischen Soldaten verlassen und stellten umgehend eine eigene Polizeitruppe auf, die auch etwaige Angriffe auf das Camp abwehren sollte (Abb. 7). 199 Die ersten jüdischen DPs trafen Ende August 1947 in Lechfeld ein. 200 Zusätzlich gelang es einer „größeren Anzahl rumänischer Juden“, sich auf illegalen Wegen 196 Final Report of Major Abraham S. Hyman, Januar 1950, S. 15, CZA Z6/ 369. 197 Das Transitlager Ainring existierte von Herbst 1945 bis Herbst 1947 und befand sich direkt an der deutsch-österreichischen Grenze gegenüber dem Auffanglager Saalfelden. Die Untergrundorganisation Bricha schleuste Zehntausende von osteuropäischen Flüchtlingen durch diese Lager. Allein zwischen November 1945 und Mai 1946 passierten über 10 000 Juden diese Camps. Rund 1 000 fanden hier zeitweise ein neues Heim. Vgl. B AUER , Brichah, 170f. 198 AJDC Report, August 1947, YIVO LWSP, fol. 35. 199 Gruppenbild der jüdischen Polizei im DP-Camp Lechfeld, Photo Archive USHMM, Foto # 32432. 200 AJDC Report, August 1947, YIVO LWSP, fol. 35. <?page no="50"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 51 Abb. 7: Die jüdische Polizeitruppe aus dem Lager Lechfeld (Foto: ushmm 32432). nach Lechfeld durchzuschlagen. 201 Eigentlich hatten die US-Behörden im April 1947 aufgrund der anhaltenden Zuwanderung aus Osteuropa verfügt, dass sich keine weiteren jüdischen DPs mehr in ihrer Zone ansiedeln dürften. 202 Gleichwohl schritt die Militärregierung nicht ein, sodass im September 2 866 Menschen in Lechfeld ein vorübergehendes Zuhause fanden. 203 Ab Mai 1948 reduzierte sich die Anzahl auf über 2 400 204 und sank im Lauf des Jahres 1949 auf weit unter 2 000 Bewohner. Viele waren schon auf dem Weg in den neu gegründeten Staat Israel, andere warteten noch auf Transportmöglichkeiten oder eine Einwanderungserlaubnis in andere Länder. 205 Dem jüdischen Komitee gelang es binnen kürzester Zeit, eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Der gewählte Präsident und seine Mitarbeiter führten ein strenges Regiment, sodass schon kurz nach dem Umzug die 229 Kinder im Alter 201 AJDC Report, November 1947, YIVO LWSP, fol. 38. 202 Da der Zustrom von Juden aus Rumänien nicht abriss, führten die US-Behörden von Februar 1948 an neue DP-Ausweise mit Foto und Fingerabdruck ein. Damit war die Besatzungsmacht in der Lage, Illegale aufzuspüren. Diese Personen wurden in deutsche Flüchtlingslager eingewiesen, wo sie als Strafe besonders harte Lebensbedingungen erwarteten - wie etwa schlechtere Unterkünfte und reduzierte Lebensmittelzuteilungen. Vgl. B AUER , Ashes, 275. 203 Jewish Population, 30.9.1947, AJDC 45/ 64, file 432. 204 List of Installations, 17.5.1948, YIVO DPG, fol. 1533; AJDC Monthly Report, März 1949, YIVO LWSP, fol. 42. 205 Final Report of Abraham S. Hyman, 30.1.1950, CZA Z6/ 369. <?page no="51"?> Jim G. Tobias 52 von 6 bis 15 Jahren von zwölf Lehrern an der Lagerschule unterrichtet wurden. Knapp 100 dreibis sechsjährige Jungen und Mädchen besuchten den Kindergarten. Die Grundlagen der jüdischen Religion konnten zumindest die Jungen in der Talmud-Thora-Schule studieren. Zusätzlich gelang es, Sprachkurse zum Erlernen der englischen und hebräischen Sprache anzubieten. Wegen Ausbruchs der Kinderkrankheit Scharlach musste der Unterricht allerdings für zwei Wochen ausfallen. Über das Ausmaß der Infektion fertigte der leitende Arzt des Lagerkrankenhauses, Dr. Lanzkron, einen medizinischen Bericht an, der leider nicht überliefert ist. 206 Aus einem allgemeinen Report ist jedoch zu entnehmen, dass die Klinik über 30 Plätze verfügte, von denen nur drei mit an Scharlach erkrankten Kindern belegt waren. Die Vorsorge- und Quarantänemaßnahmen des Gesundheitsamts scheinen erfolgreich gewesen zu sein. 207 Insgesamt lebten über 700 Kinder im Lager. Davon waren 175 Säuglinge im Alter von bis zu einem Jahr und 130 Zweibeziehungsweise Dreijährige. Der Kindersegen hielt an: Weitere 56 Frauen waren schwanger. Um die werdenden Mütter und alle, die medizinischer Hilfe bedurften, kümmerten sich acht Krankenschwestern und fünf Ärzte. Der zuständige Joint-Berichterstatter bescheinigte der Klinik „gute Arbeit und ein ansprechendes Erscheinungsbild“. 208 Auch der Aufbau von Bildungs- und Freizeitangeboten wurde in Angriff genommen, wobei die Einrichtung der Bibliothek nur schleppend vorankam - den täglich rund 150 Besuchern des Lesesaals standen nur 30 hebräische und jiddische Bücher zur Verfügung. Dafür waren genügend Zeitungen vorhanden: 6 000 Exemplare der unterschiedlichsten Blätter wurden monatlich im Lager verkauft. 209 Zumindest einmal gastierte auch das Minchner Jiddischer Klainkunst Thiater auf der Lechfelder Lagerbühne und begeisterte 600 Zuschauer mit ihrem Theaterstück Di Hoffnung. 210 „Im DP Camp entwickelte sich ein unabhängiges selbstbestimmtes kulturelles Leben“, bestätigte der ehemalige Lechfeld-Bewohner Philip Markowicz. „Wir konnten uns bei verschiedenen Vorträgen und Kursen bilden und zerstreuen - manchmal kamen sogar Referenten aus Israel und den USA. An der Abendschule für Erwachsene lernte ich modernes Hebräisch - nicht zu vergleichen mit dem biblischen Hebräisch, das ich schon vorher studierte habe.“ 211 Zudem wurden den DPs berufsbildende Kurse angeboten: „An der ORT-Schule konnten wir alle möglichen handwerklichen Berufe erlernen“, schrieb Markowicz in seinen Erinnerungen. „Ich war als Stricker ausgebildet und belegte dort noch einen Kurs für Herrenschneider, um mich weiter zu qualifizieren. Ich hatte nämlich gehört, dass viele Juden in den 206 Der Bericht wird jedoch in dem Report vom November 1947 erwähnt. 207 AJDC Monthly Report, November 1947, YIVO LWSP, fol. 38. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 AJDC Report on Activities, Juni 1948, AJDC 45/ 54, file 313. 211 M ARKOWICZ , Three Lives, 236f. <?page no="52"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 53 USA in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind. Ich dachte, dass im Falle einer Auswanderung in die USA eine zusätzliche Ausbildung nützlich wäre.“ 212 Im Jahr 1947 belegten 156 Männer und Frauen acht verschiedene Lehrgänge. 213 Die Ausbildung im Bereich des Textilhandwerks stand offensichtlich im Mittelpunkt - allein in einem Monat schneiderten die Umschüler 411 Schlafanzüge für Männer. 214 Außerdem sind fußballerische Aktivitäten dokumentiert: Der Jüdische Sportklub Lechfeld (JSK) kickte in der Saison 1948 in der Gruppe Nord der ersten Fußballliga. Das erste Meisterschaftsspiel fand im März auf eigenem Platz vor 800 Zuschauern statt. Doch gegen den amtierenden Vizemeister der Südgruppe, Centraler Sport Club (CSC) Ulm, hatten die Lechfelder keine Chance. „Ulm beherrschte Platz und Gegner und schießt drei Tore“, schrieb die Jidisze Sport Cajtung. 215 Auch die nächsten Spiele gegen Hakoach Stuttgart (0: 5), 216 Hasmonea Zeilsheim (0: 4) 217 und Hakoach Bamberg (1: 3) 218 verloren die Lechfelder sang und klanglos. Dagegen konnten sie das erste Spiel im Pokalwettbewerb gegen das Team von Makabi Heidenheim mit 4: 2 Toren für sich entscheiden. Der Erfolg kam aber eher zufällig zustande, denn „die Heidenheimer spielten durchdacht und technisch überlegen, wobei sie es allerdings versäumten, Tore zu schießen“, berichtete die Sport Cajtung. 219 Ob die Lechfelder Elf weitere Siege erringen konnte, ist nicht überliefert. Wegen der von Sommer 1948 an einsetzenden Massenauswanderung nach Israel wurden die offiziellen Wettkämpfe abgebrochen und weder ein Pokalsieger noch ein Meister ausgespielt. Gleichwohl spielten die DPs auch nach der Einstellung des Ligabetriebs weiterhin Fußball. Neben dem JSK hatte sich nämlich mit Hapoel Lechfeld eine weitere Lagermannschaft gebildet, die zuvor in der zweiten Liga kickte. Im Frühjahr 1948 erklärten 1 483 Juden aus dem Lager Lechfeld gegenüber der Jewish Agency ihre beabsichtigte Übersiedlung nach Israel. 220 Deshalb sollte das Camp bis Herbst 1949 aufgelöst werden, die restlichen knapp 1 200 Bewohner auf andere Einrichtungen verteilt werden oder ebenfalls auswandern. 221 Die endgültige Schließung zog sich aber bis März 1951 hin, 222 wobei im Februar noch 680 jüdische 212 Ebd. 237. 213 Baricht fun der ORT-Tetikajt in der US Zone fun Dajtszland farn Jor 1947, YIVO DPG, fol. 1494. 214 Production Figures, Februar 1949, AJDC 45/ 54, file 310. 215 Chotsz farszpilt ober disciplinirt, in: Jidisze Sport Cajtung, März 1948. 216 Di Gest on Szisers, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948 (A). 217 Lechfeld fajer leszt zich ojs, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948 (B). 218 Cirkular 11/ 1948, Farband fun di Jidisze Turnun Sport-Farejnen, YIVO DPG, fol. 437. 219 Endlech zigt ojch Lechfeld, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948 (B). 220 Mifkad ha Olim, Jewish Agency, 3.3.-31.5.1948, veröffentlicht: 10.10.1948, MLI, RG VII- 126. 221 Closing of Camps, 11.7.1949, AJDC 45/ 54, file 309. 222 AJDC Report, 22.5.1951, AJDC 45/ 54, file 307. <?page no="53"?> Jim G. Tobias 54 DPs im Camp lebten. 223 Die Juden mussten sich die Unterkünfte auf dem Flugplatz jedoch seit Januar 1949 mit rund 1 000 tschechischen Flüchtlingen teilen. 224 5. Bad Wörishofen und Kempten: Jüdische Hospitäler und Sanatorien Aufgrund der unmenschlichen Bedingungen, der mangelnden Ernährung und der unzureichenden medizinischen Betreuung während der Inhaftierung und Verfolgung waren viele der jüdischen DPs gesundheitlich schwer angeschlagen. Eine erste Versorgung erhielten sie durch Sanitätseinheiten der US-Armee. Für die weitere Behandlung benötigte man jedoch dringend stationäre Unterbringungsmöglichkeiten. Ein zusätzliches Problem stellte die starke Verbreitung von tuberkulösen und anderen Infektionserkrankungen dar. Deshalb richtete die Besatzungsmacht schon bald besondere DP-Krankenhäuser und -Erholungsheime ein. Das Benediktinerkloster St. Ottilien in der Nähe der Stadt Landsberg sowie das ehemalige Luftwaffensanatorium in Gauting (Landkreis Starnberg) waren die ersten jüdischen Kliniken in Nachkriegsdeutschland. Anfänglich waren in St. Ottilien auch nicht jüdische Patienten untergebracht. 225 Durch die Verlegung von befreiten Juden aus dem KZ Dachau und anderen Lagern entwickelte es sich rasch zu einer rein jüdischen Einrichtung mit Kindergarten, Theater, einer Volksschule und einer Bibliothek. 226 Im Januar 1946 wurden hier 940 227 Patienten ärztlich behandelt oder kurierten ihre Infektionskrankheiten aus. Im Tuberkulosehospital in Gauting waren seit der Beschlagnahmung durch die US-Armee hingegen bis zu seiner Auflösung auch nicht jüdische DPs unterschiedlichster Nationalitäten untergebracht. Die jüdischen Patienten belegten jedoch zeitweise bis über die Hälfte der Betten. Ihre Interessen wurden durch ein gewähltes Komitee vertreten, das sich um den Aufbau einer Bibliothek kümmerte, eine Patientenzeitung initiierte und sogar eine Radiostation betrieb. Sowohl die Rundfunksendungen als auch die Artikel in Unser Leben waren mehrsprachig verfasst, vorallem in polnischer, jiddischer und deutscher Sprache. 228 223 Bi-Monthly Report, Januar / Februar 1951, AJDC 45/ 54, file 307. 224 AJDC Monthly Report, Januar 1949, YIVO LWSP, fol. 40. 225 Bericht von Zalman Grinberg über das Krankenhaus, 31.5.1946, YIVO LWSP, fol. 129. Eine Kopie wurde mir freundlicherweise von Juliane Wetzel, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU-Berlin, zur Verfügung gestellt. 226 UNRRA Monthly Report, 15.6.1946, YIVO DPG, fol. 1044. 227 Jewish Population, 27.1.1946, YIVO DPG, fol. 1529. 228 Vgl. dazu F ÜRNROHR / M USCHIALIK , Hospital Gauting, Mit Faksimile-Abdruck der Patientenzeitung Unser Leben von1947-1948. <?page no="54"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 55 Abb. 8: Schon kurz nach der Befreiung waren im Josefsheim in Bad Wörishofen jüdische DPs untergebracht (Foto: Mallersdorfer Schwestern). Schon während des Krieges hatte sich der bekannte Kurort Bad Wörishofen zu einem medizinischen Zentrum entwickelt: Die vielen Hotels und Kureinrichtungen der Stadt waren zu Lazaretten und Erholungsheimen für verwundete Soldaten umfunktioniert worden. Nach dem Einmarsch der US-Truppen beschlagnahmte die Militärregierung diese Häuser und brachte darin weit über 1 600 229 befreite KZ- Häftlinge, Zwangsarbeiter und osteuropäische Flüchtlinge aus Polen, der Ukraine oder dem Baltikum unter. 230 Einige Gebäude wurden den jüdischen DPs zur Verfügung gestellt, wie etwa das Josefsheim, das Kneippianum und das Kurhotel Sonnenhof. Nach einem Report der Jewish Relief Unit - Jewish Committee for Relief Abroad (JRU) über jüdische Gemeinden im Umkreis von Landsberg lebten im Juli 1945 im Josefsheim, einem vom Orden der Mallersdorfer Schwestern geführten Kneipp-Kurhaus, 48 aus dem Konzentrationslager befreite Juden (Abb. 8). 231 Nach Erinnerungen der damaligen Oberin, Schwester M. Serva Riedl, folgten im August weitere 102 ehemalige KZ-Insassen aus Dachau. Da die Anzahl der Schlafstätten 229 Im Juni 1946 waren in Bad Wörishofen 1 630 jüdische und nichtjüdische DPs aus Osteuropa registriert. Vgl. UNRRA Monthly Report, 17.6.1946, YIVO DPG, fol. 1044. 230 Vgl. H AGGENMÜLLER , Weimarer Republik, 235-252. 231 JRU Report on Jewish Communities in Landsberg Kreis Area, 29.7.1945, WLL, Jews in Germany, HA6B-3/ 2. <?page no="55"?> Jim G. Tobias 56 nicht ausreichte, mussten zusätzliche Doppelbetten im Aufenthaltsraum, in der Diele und im Vorraum zum Bad aufgestellt werden. Ursprünglich sollten die ehemaligen Häftlinge nach drei Monaten das Haus verlassen. Nach diesem Zeitraum hätten sich, nach Auffassung der Ordensschwestern, die „Pfleglinge gut erholt“, sodass sie bei den zuständigen Behörden darum baten, „von einer weiteren Belegung Abstand zu nehmen und das Haus vom bisherigen Zweck freizugeben“. Ohne Erfolg. 232 Deshalb beklagten sich die Nonnen beim zuständigen Bischof in München und baten um Unterstützung: „Ich versichere Ihnen, dass die Schwestern ihre Aufgaben im Rahmen der christliche Nächstenliebe erfüllen. Gleichwohl mussten wir alle Kruzifixe entfernen“, klagten die Nonnen verständnislos, „die Patienten mögen sie nicht.“ Auch eine Intervention seitens des Bischofs bei der Besatzungsmacht blieb ergebnislos. 233 Das Haus stand den Juden bis Oktober 1947 zur freien Nutzung zur Verfügung. 234 Wie einem Bericht der Militärverwaltung zu entnehmen ist, ließen sich von Januar 1946 an weitere Juden aus Osteuropa in Bad Wörishofen nieder; aller verfügbare Wohnraum wurde benötigt, um die jüdischen DPs unterzubringen, 235 deren Zahl bis November 1946 auf 480 236 Personen anwuchs und seinen Höhepunkt im Frühjahr 1947 mit 521 237 registrierten Juden erreichte. Davon lebten rund 100 Juden im Josefsheim 238 , der Rest im Hotel Kreuzer, im Gasthaus Trautwein (Abb. 9), im Hotel Wittelsbacher, in der Villa Luers, im Hospital Sonnenhof, im Kurheim Kneippianum oder in Privatunterkünften. Die Juden schlossen sich zu einer DP- Gemeinde, einer sogenannten Community, zusammen, deren Verwaltung in der Bahnhofstraße 5 residierte. 239 Von hier aus wurden alle politischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten koordiniert. Für die schulpflichtigen Kinder existierte sogar eine eigene Volksschule, an der vier Lehrer 85 Jungen und Mädchen unterrichteten. 240 Die Jugendlichen und Erwachsenen konnten berufskundliche Kurse an der ORT-Schule besuchen. Im Jahr 1947 standen vier verschiedene Lehrgänge auf dem Programm. 241 Ihre Freizeit verbrachten viele DPs auf dem Fußballplatz und feuerten die heimische Mannschaft an. Die jüdischen Kicker spielten mit elf anderen Teams 232 P ÖRNBACHER , Kurhaus St. Josef, 11-14. 233 B ERKOWITZ / B ROWN -F LEMING , Perceptions, 174f. 234 P ÖRNBACHER , Kurhaus St. Josef, 14. 235 Military Government Historical Report, 1.7.1945-20.6.1946, OMGB 10/ 65-2/ 2, HStAM. 236 Jewish Population, 30.11.1946, YIVO DPG, fol. 1530. 237 Jewish Population, 30.4.1947, YIVO DPG, fol. 1531. 238 Verzeichnis der im Josefsheim wohnhaften Juden, 17.12.1946, International Tracing Service, Arolsen (ITS), Doc. # 81965673. 239 List of Jewish Installations, 1.1.1947, YIVO LWSP, fol. 59. 240 Statistic of Schools in US Zone, 1947, YIVO DPG, fol. 135. 241 Baricht fun der ORT-Tetikajt in der US Zone fun Dajtszland farn Jor 1947, YIVO DPG, fol. 1494. <?page no="56"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 57 Abb. 9: Im Gasthaus Trautwein in der Bahnhofstraße 5 residierte das jüdische Selbverwaltungskomitee (Foto: Werner Trautwein) in der A-Klasse des Rayon München I. Am vorletzten Spieltag der Saison 1947 belegte Bad Wörishofen den siebten Tabellenplatz. 242 Im darauf folgenden Jahr 242 Majsterszafts Tabele, in: Jidisze Sport Cajtung, November, 1947. <?page no="57"?> Jim G. Tobias 58 stellte die Bäderstadt keine eigene Auswahl mehr. Das Team aus Bad Wörishofen wurde mit Türkheim zusammengelegt und spielte fortan unter dem Namen Hapoel Türkheim-Wörishofen. 243 Für die streng gläubigen Juden betrieb die jüdisch-orthodoxe Hilfsorganisation Vaad Hatzala im Hotel Wittelsbacher eine Koschere Küche, die bis zu 300 Personen mit Essen versorgen konnte, 244 darunter auch viele Kranken und Rekonvaleszenten, die im jüdischen Hospital Sonnenhof und im Sanatorium Kneippianum untergebracht waren. Im Sommer 1947 pflegte man in der letztgenannten Einrichtung 131 an Tuberkulose erkrankte Patienten. 245 Rund 50 als geheilt Entlassene wurden zu einer abschließenden Nachsorge in die Villa Luers verlegt. 246 Im April 1948 schloss die Heilanstalt im Kneippianum ihre Pforten und wurde nach Kempten verlegt. 247 Zuletzt hatten sich in der Einrichtung in Bad Wörishofen hauptsächlich an Tuberkulose erkrankte Kinder und Jugendliche erholt. Von den 125 Rekonvaleszenten bedurften jedoch nur noch 50 stationärer Behandlung. Die Mehrheit wurde entlassen und konnte das Pessachfest mit ihren Angehörigen feiern. 248 Das Kurhotel Sonnenhof, 249 in dem zu Kriegszeiten verwundete Soldaten versorgt wurden, hatte sich nach 1945 in das Jewish Hospital Sonnenhof verwandelt. Es verfügte über eine Kinder- und Frauenklinik sowie eine chirurgische Abteilung. Neben den Juden aus Bad Wörishofen konnten sich hier auch jüdische DPs aus umliegenden Gemeinden und Camps behandeln lassen. Die leitende Distriktoberschwester Dorothy Goldstein notierte in ihrem Report vom Juli 1947, dass zu dieser Zeit etwa 26 Kinder aus Bad Wörishofen, zehn aus Rammingen, fünf aus Irsingen und 45 aus Türkheim in der Klinik medizinische Versorgung erhielten. 250 Im Frühjahr 1948 wurde der Sonnenhof in eine Klinik für chronisch Kranke umgewandelt. Zu dieser Zeit übersiedelten Personal und Patienten aus dem jüdischen Krankenhaus St. Ottilien nach Bad Wörishofen. Laut Planungen der zuständigen Behörden sollte der Sonnenhof nunmehr bis zu 250 kranke und gebrechliche Menschen aufnehmen. Die durchschnittliche Belegung pendelte sich im ersten 243 Majsterszaftn in Minchner Rayon, in: Jidisze Sport Cajtung, April 1948 (B). 244 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. 245 Jewish Population, 31.7.1947, AJDC 45/ 64, file 432. 246 In diesem Erholungsheim waren Juden offensichtlich nur temporär einquartiert, da diese jüdische Einrichtung lediglich von Juli bis September 1947 nachweisbar ist. Vgl. Jewish Population, 30.9.1947, AJDC 45/ 64, file 432; Report Senior District Nurse, 30.7.1947, YIVO LWSP, fol. 35. 247 AJDC Report vom Mai 1948, AJDC 45/ 54, file 313. 248 AJDC Medical Report, Mai 1948, AJDC 45/ 54, file 349. 249 Zum Sonnenhof gehörte auch das in der Nachbarschaft gelegene Parkhotel. Beide Häuser verfügten zusammen über ca. 300 Betten und dienten zwischen 1943 bis 1945 als Kriegslazarett. Vgl. P UTZ , Spitäler, Krankenhäuser, 778. 250 Report Senior District Nurse, 30.7.1947, YIVO LWSP, fol. 35. <?page no="58"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 59 Halbjahr jedoch bei etwa 90 251 Personen ein, zumeist Bettlägerige und Alte, später wurden bis zu 169 252 chronisch Kranke betreut. 253 Im Januar 1949 verunsicherten Gerüchte über eine bevorstehende Schließung die Patienten. Nach Protesten vonseiten des Joints wurde das Haus jedoch bis Herbst 1951 254 weiterhin als „rein jüdische Einrichtung“ betrieben. 255 Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 verließen immer mehr Juden Deutschland, viele Camps wurden bis Ende der 1940er Jahre geschlossen, die Gemeinden aufgelöst. Nur wenige blieben im Land der Täter, zumeist die sogenannten Hard Core-Cases, für die aufgrund von zumeist infektiösen Erkrankungen wie Lungentuberkulose oder körperlicher Behinderung keine Auswanderung möglich war. Viele fanden Unterschlupf im oberbayerischen Föhrenwald, das als letztes jüdisches Lager bis Februar 1957 bestand. Eine kleine Gruppe dieser kranken und gebrechlichen Menschen musste jedoch nicht in Deutschland bleiben: 30 Männer und Frauen aus dem Sonnenhof hatten Glück und durften im März 1950 ihre Reise nach Israel antreten. „Endlich machen wir uns auf den Weg, wir gehen nach Hause, in unser eigenes Land“, sagte der 77-jährige Ephraim Lewit. „Wir danken dem Joint, der IRO und der Jewish Agency, die uns versorgte und diesen Tag erst möglich gemacht hat.“ „Unter Lachen, Singen aber auch Tränen“, verließen die DPs in Bussen frühmorgens den Sonnenhof in Richtung Bahnstation. Von dort ging es über München nach Venedig, wo der israelische Dampfer Atzma’uth auf die neuen Bürger Israels wartete. Manche waren schwer krank, wie etwa die Ehefrau von Ephraim Lewit, die 85-jährige Kuna, die nach Aussagen der Ärzte nur noch wenige Monate zu leben hatte. Allein die Vorstellung, dass sie das kommende Pessachfest mit ihrem Mann in Israel verbringen könne, versetzte die alte Dame jedoch in eine unbeschreibliche Hochstimmung. 256 Das glückliche Ende einer langen Odyssee sorgte nicht nur in vielen jiddischsprachigen Zeitungen, wie etwa im Jewish Daily, The Day oder Jewish Journal, für Schlagzeilen, 257 auch die renommierte New York Times berichtete unter dem Titel Aged German Jews Heading for Israel über dieses außergewöhnliche Ereignis. 258 251 AJDC Medical Report, 11.10.1948, YIVO LWSP, fol. 400. 252 JRU Report, 24.3.1949, WLL, Jews in Germany, HA5-3/ 13. 253 AJDC Medical Report, Mai 1948, AJDC 45/ 54, file 349. 254 AJDC Statistik Medical and Emigration Installations, Juli / Oktober 1951, AJDC 45/ 54, file 307. 255 AJDC Report, März / April 1947, AJDC 45/ 54, file 310. 256 Richard Cohen, First of „Hard Core“ DP’s Leave Germany for Israel, Augenzeugenbericht Pressemitteilung des AJDC, 24.3.1950, AJDC 45/ 54, file 339. 257 Kopien der einzelnen jiddischsprachigen Artikel befinden sich im Bestand AJDC 45/ 54, file 339. 258 Aged German Jews Heading for Israel. 30 in Vanguard of „Hard Core“ of Displaced Persons. Due to Leave on Tuesday, in: New York Times, 19.3.1950, NYPL. <?page no="59"?> Jim G. Tobias 60 Das jüdische Sanatorium im Kneippianum wurde im Frühjahr geschlossen und die restlichen Patienten nach Kempten verlegt. Da auch in Bad Wörishofen die meisten TB-Patienten Jugendliche und Kinder waren, wurde diese Spezialisierung in Kempten beibehalten, wie der Name der Einrichtung IRO TB Children Center 259 in der Lazarettstraße 2 deutlich macht. Schon bevor das Kinderkrankenhaus in der Stadt eröffnet worden war, bestand in Kempten eine UNRRA-Klinik mit vielen Fachabteilungen. Dieses Hospital, das allen DPs offen stand, war im Gebäudekomplex des ehemaligen Wehrmachtlazaretts am Haubensteigweg 19 untergebracht. 260 Im Sommer 1947 wurden hier 14 jüdische Patienten behandelt. 261 Ende März 1948 besuchte ein Rabbiner das TB Children Center in Kempten, um mit den Kindern Pessach zu feiern. Nach langen Jahren des Abgeschnittenseins von jeglicher Kenntnis des Judentums erlebten viele Jungen und Mädchen zum ersten Mal ein traditionelles jüdisches Fest. Am Sederabend, an dem der Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft erzählt wird, erhielten die kleinen Patienten Geschenke. 262 Wenige Wochen später wurde im TB-Hospital eine Koschere Küche eingerichtet. Alle waren nach Ansicht des Rabbiners, „sehr glücklich und zufrieden“, dass sie nunmehr Mahlzeiten gemäß den Vorschriften der Thora erhielten. 263 Nachdem das leibliche Wohl befriedigt werden konnte, verlangten die Kinder nach geistiger Nahrung: Chefarzt Dr. Mikulicic bat dringend um eine Lehrkraft für die 35 jüdischen Schüler im schulpflichtigen Alter. Das Schreiben durchlief verschiedene Instanzen, von der regionalen AJDC-Vertretung über das zentrale Joint-Büro in München, bis hin zum Board of Education and Culture beim Zentralkomitee der befreiten Juden. Ob und wann die Jungen und Mädchen in Kempten regelmäßigen Unterricht erhielten, ist nicht dokumentiert. 264 Das TB Children Center wurde vermutlich Ende 1951 geschlossen, da im Oktober dieses Jahres nur noch zehn Kinder in der Heilanstalt zu betreuen waren. 265 Darüber hinaus bestand in Kempten von 1945/ 46 bis zum Ende der Dekade eine jüdische DP-Gemeinschaft. 266 Kurz nach der Befreiung kehrten fünf Juden, die während der NS-Zeit deportiert worden waren, in ihre Heimatstadt zurück. „In den Monaten nach Kriegsende kommt noch eine Reihe von Juden nach Kempten, die 259 Adressbuch der Stadt Kempten von 1949, 304. Eine Kopie der Seite wurde mir freundlicherweise vom Archivar der Stadt Kempten, Dr. Dieter Weber, zur Verfügung gestellt. 260 Mitteilung des Stadtarchivs Kempten, 4.6.2010, nurinst-archiv. 261 Report Senior District Nurse, 30.7.1947, YIVO LWSP, fol. 35. 262 Rabbiner M. Glatstein, Religious Activities, März / April 1948, YIVO LWSP, fol. 250. 263 Rabbiner Chone Person, Religious Activities, Mai 1948, YIVO LWSP, fol. 250. 264 School Teacher, 7.6.1948, Teacher für Kempten TBC Hospital, 17.6.1948, YIVO LWSP, fol. 447. 265 AJDC Statistic Medical and Emigration Installations, Juli / Oktober 1951, AJDC 45/ 54, file 307. 266 Erstmals ist die Jewish Community Kempten im März 1946 nachweisbar. Vgl. Jewish Population, 31.3.1946, YIVO DPG, fol. 1529. <?page no="60"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 61 überwiegend in einer großen Villa in der Mozartstraße wohnen, welche von den Besatzern beschlagnahmt wurde“, schreibt der Journalist Ralf Lienert in einer heimatkundlichen Studie. „Zweimal in der Woche treffen sich vor allem die polnischen Juden im Nebenzimmer der Gaststätte Frühlingstraße an der Ecke Frühling- / Bodmanstraße.“ 267 In der letztgenannten Straße, Hausnummer 16, 268 befand sich nach Dokumenten des Joint auch das Büro der jüdischen Selbstverwaltung. 269 Laut den statistischen Aufzeichnungen dieser Hilfsorganisation gehörten dem Komitee durchschnittlich 40 bis 60 Personen an. 270 Zum Ende der 1940er Jahre löste sich die Nachkriegsgemeinde nach und nach auf. Nur wenige jüdische DPs bauten sich ein neues Leben im Allgäu auf, die überwiegende Mehrheit suchte ihr Glück in den Vereinigten Staaten, Israel oder Südamerika. 271 6. Lindau: Gemeinde und Camp in der französischen Besatzungszone Auch in der damals nicht zu Bayerisch-Schwaben gehörenden Stadt Lindau am Bodensee existierte in der unmittelbaren Nachkriegzeit eine kleine jüdische DP- Gemeinschaft. Lindau wurde mit dem Einmarsch französischer Truppen am 30. April 1945 der französischen Besatzungszone angegliedert und kehrte erst 1955 wieder zu Bayern zurück. 272 Die Ansiedlung erster Shoa-Überlebender in Lindau ist von November 1945 an nachweisbar, da sich in diesem Monat eine „Betreuungsstelle für KZ-Gefangene“ in der Stadt konstituierte. 273 Bis zur Gründung einer eigenen jüdischen Interessenvertretung dauerte es jedoch noch ein Jahr. Im Oktober 1946 schlossen sich die 40 in der Stadt lebenden Juden zum Jüdischen Komitee Lindau zusammen. 274 Nach einem AJDC-Bericht waren die DPs „relativ komfortabel in Privatquartieren“ untergebracht, wobei die Hilfsorganisation jedoch die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln vonseiten der Militärregierung beklagte. Nur durch 267 L IENERT , Juden in Kempten, 161. 268 Möglicherweise ein Schreibfehler, da im Adressbuch die Hausnummer 14 angegeben ist. Adressbuch der Stadt Kempten von 1949, 305. 269 Anfänglich befand sich das Jüdische Komitee Kempten in der Herrenstraße, von 1947 an in der Bodmanstraße. Vgl. List of Jewish Installations, 1.11.1946, YIVO DPG, fol. 1530, und 1.1.1947, YIVO DPG, fol. 1531. 270 Jewish Population, 31.7.1946: 40 Personen, YIVO DPG, fol. 1529, 31.7.1947: 62 Personen, AJDC 45/ 64, file 432. 271 L IENERT , Juden in Kempten, 162. 272 Z UMSTEIN , Kreispräsidium Lindau, 43, 99f. 273 H ARPF , Stunde Null, 46. 274 Comité Israélite Central pour la zone d’occupation française en Allemagne (Hrsg.), Nachrichten, Oktober 1946, Typoscript, YIVO DPG, fol. 1635; Jewish Population, 30.11.1946, YIVO DPG, fol. 1530. <?page no="61"?> Jim G. Tobias 62 zusätzliche Lieferungen aus der Münchner Joint-Zentrale konnte die Ernährung „einigermaßen zufriedenstellend“ gewährleistet werden. 275 Im Lauf des Jahres 1947 pendelte sich die Anzahl der Juden in der Stadt bei zirka 20 Personen ein. Zum Stichtag 21. April 1947 waren zwei Säuglinge, vier Kinder bzw. Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren und 16 Erwachsene in Lindau registriert. 276 Erst im Herbst 1948 kamen weitere Juden in die Stadt am Bodensee. Aufgrund der sowjetischen Blockade Berlins siedelten die Franzosen alle jüdischen DPs aus ihrem Berliner Stadtsektor in die französische Besatzungszone um. Mit US-Militärmaschinen wurden über 200 Juden von Berlin-Tempelhof nach Frankfurt am Main ausgeflogen. Von dort ging es mit der Bahn zum endgültigen Bestimmungsort Kißlegg. Die vorgesehenen Unterkünfte, in einem früheren Lager für deutsche Kriegsgefangene, konnten die 215 Personen jedoch nicht aufnehmen. Deshalb blieb nur ein Teil der Menschen in Kißlegg, die anderen wurden nach Biberach und Lindau weitergeleitet. 277 Über die Ankunft der DPs im Lindauer Ortsteil Zech (Abb. 10) berichtete die Schwäbische Zeitung: „Nach langer Irrfahrt kamen 30 Juden am 2. November hier an.“ Ihr Aufenthalt in einem Barackenlager des ehemaligen Reichsarbeitsdienstes (RAD) war ursprünglich nur für kurze Zeit vorgesehen - bis zur Aushändigung ihrer endgültigen Ausreisepapiere: „Sie warten noch immer [...] auf ihre Weiterbeförderung nach Südamerika“, klagte die Schwäbische Zeitung ein halbes Jahr später. Der Beratende Ausschuss beim Kreispräsidenten hatte für die Versorgung der Juden monatlich 1 008 DM Sonderunterstützung bewilligt: zunächst für drei Monate. Aufgrund der Verzögerungen musste die Hilfe jedoch bis Ende Juni 1949 gewährt werden. 278 Offensichtlich verließen die Juden anschließend die Baracken, da die Unterkünfte von 1949 bis 1952 als Grenzauffanglager unter deutscher Leitung geführt wurden. 279 Im Frühjahr 1949 waren in Lindau noch insgesamt 40 jüdische DPs registriert. 280 Davon hatten sich neun für eine Zukunft in Israel entschieden. 281 Wahrscheinlich lebten bis zum Ende der Dekade keine Juden mehr in der Stadt. 282 275 AJDC Report, French Zone, 28.4.1947, YIVO DPG, fol. 1635. 276 Ebd. 277 Airtransport of Jewish DPs, 27.9.1948, AJDC 45/ 54, file 376. 278 Vom Beratenden Ausschuss, Schwäbische Zeitung mit Lindauer Anzeiger, 26.4.1949. - Eine Kopie dieses Artikels stellte mir freundlicherweise der Lindauer Lokalhistoriker Karl Schweizer zur Verfügung. 279 Auskunft des Staatsarchivs Sigmaringen vom 11.5.2009, Akte Wü40T14, Nr. 97. 280 Jewish Population, 1.3.1949, AJDC 45/ 54, file 310. 281 Mifkad ha Olim, Jewish Agency, 3.3.-31.5.1948, veröffentlicht: 10.10.1948, MLI, RG VII- 126. 282 Auf Anfrage erklärte das Stadtarchiv Lindau, dass es keine Unterlagen über das jüdische DP- Camp bzw. die Nachkriegsgemeinde besäße. Korrespondenz und Telefonnotizen, Stadtarchiv Lindau, nurinst-archiv. Bei privaten Nachforschungen von Karl Schweizer wurde jedoch ein Zeitungsartikel und eine kleine Notiz in der handschriftlichen Chronik der Stadt Lindau über die jüdischen DPs in der Stadt entdeckt. <?page no="62"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 63 Eine von ihnen, Alice Mankiewicz, geboren am 8. März 1887, emigrierte beispielsweise 1949 in die USA. 283 7. Leben nach Gottes Geboten 7.1. Das traditionelle Judentum in der unmittelbaren Nachkriegszeit In nahezu allen jüdischen DP-Lagern und -Gemeinden bildete die Gruppe der Gläubigen eine Minderheit. „Die Annahme, dass das erfahrene Leid bei den Menschen eine religiöse Wiederbesinnung auslöst, ist nicht zu erkennen“, musste der Joint-Mitarbeiter Koppel S. Pinson nach dem Besuch zahlreicher DP-Camps in Deutschland feststellen. „In keinem jüdischen Lager ist es beispielsweise möglich, das wahre Gefühl einer traditionellen Schabbatfeier zu erleben, wie dies in den kleinen Städtchen Galiziens, Polens und Litauens am letzten Tag der Woche üblich war.“ 284 Doch nicht nur die Jahre der Verfolgung hatten deutliche Spuren hinterlassen und viele Juden in ihrem Glauben erschüttert, wie der ehemalige Auschwitz- 283 NARA, RG 319, box 62. 284 P INSON , Jewish Life, 111. Abb. 10: In den Baracken des ehemaligen RAD-Lagers Lindau-Zech waren 1948/ 49 auch jüdische DPs untergebracht. (Repro: Karl Schweizer). <?page no="63"?> Jim G. Tobias 64 Häftling Rabbiner Emil Davidovic in seinen Erinnerungen schreibt: „Wir haben dort nicht philosophiert und auch keine Theologie betrieben. Wir haben nur nachgedacht: Wie kann ich den heutigen Tag überleben? Und das ging schon routinemäßig. Morgens geweckt, sofort aufgestanden, damit man keine Schläge bekommt, irgendwie nicht auffallen.“ 285 Wo das Überleben die Ausnahme und der Tod die Regel war, fragten sich viele Juden, wo Gott gewesen sei, als Millionen in den Gaskammern erstickten. Doch schon vor dem Krieg war eine zunehmende Säkularisierung in den osteuropäischen Gemeinden zu verzeichnen, die sich in den jüdischen „Wartesälen“ fortsetzte. Dennoch entwickelte sich inmitten der Gemeinschaft der Sheerit Haplejta, ein an den Buchstaben der Thora orientiertes jüdisches Leben. Für eine nicht zu übersehende Minderheit war es ein elementares Bedürfnis, die religiösen Vorschriften wieder einzuhalten, die vor der Entrechtung durch die Nazis selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört hatten. „Mindestens eine Synagoge befand sich in allen Camps“, berichtet der Advisor on Jewish Affairs, Rabbiner Philip S. Bernstein, „in den meisten der großen Camps auch noch eine Mikwe.“ 286 Bei der Versorgung mit rituell geschlachtetem Vieh half auch die US-Armee; das Fleisch wurde dann in den rasch eingerichteten Koscheren Küchen zubereitet. 287 Es waren die American Jewish Chaplains, die Rabbiner der US-Armee, die sich von April 1945 an als Erste um die religiösen Bedürfnisse der befreiten Juden kümmerten. Dabei ist insbesondere das große Engagement von Abraham Klausner hervorzuheben, der über seine seelsorgerischen Aufgaben hinaus die DPs jahrelang in ihrem Kampf um einen jüdischen Staat in Palästina unterstützte. 288 Er und seine Kollegen organisierten neben Gebetbüchern, Thora-Rollen, Gebetschals und riemen auch Schabbat-Kerzen. „Texte und Gegenstände waren aber nicht nur eine wichtige materielle Voraussetzung für die Einhaltung vieler religiöser Pflichten, sondern hatten über ihre religiöse Funktion hinaus auch einen beträchtlichen emotionalen Eigenwert, repräsentierten sie doch ein im wörtlichen Sinn begreifbares Stück der eigenen Identität.“ 289 Etwa 30 Chaplains - sowohl orthodoxe, konservative als auch reformierte Rabbiner - waren mit den ersten Besatzungstruppen nach Deutschland gekommen. In ihren Bemühungen handelten sie ohne Auftrag und nicht selten unter Umgehung der militärischen und rechtlichen Vorschriften, um für die jüdischen Ex-Häftlinge erträgliche Lebensbedingungen zu schaffen. In der Regel währte der Einsatz der Jewish Chaplains von nur wenigen Monaten bis zu einem halben Jahr. In dieser Zeit fungierten sie als Ansprechpartner und Anwalt, 285 Zit. in: R AHE , Höre Israel, 185. 286 Mikwe = Rituelles Tauchbad, Plural Mikwaot. 287 B ERNSTEIN , Displaced Persons, 527f. 288 B AUER , Brichah, 60. 289 R AHE , Höre Israel, 81f. <?page no="64"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 65 sorgten dafür, dass Synagogen sowie Friedhöfe wieder nutzbar gemacht und religiöse Feiern veranstaltet werden konnten. 290 Einer der vermutlich ersten jüdischen Gottesdienste fand am 22. April 1945, noch vor der offiziellen Kapitulation des NS-Regimes, im bereits besetzten Nürnberg statt: Zwei amerikanische Jeeps, einer mit zwei Davidsternen bemalt, fuhren in Richtung NS-Reichsparteitagsgelände. Neben Chaplain David M. Eichhorn und seinem Assistenten saßen fünf aus einem nahe gelegenen Gefangenenlager befreite Juden. Das zweite Fahrzeug war mit fünf jüdischen Soldaten besetzt; Amerikaner, die an den Kämpfen um Nürnberg teilgenommen hatten. Im überfüllten Geländewagen des US-Militärkaplans befand sich zudem noch ein Holzkasten mit einer Thora-Rolle. „Ich stoppte den Jeep vor der Rednerkanzel, über der ein glänzendes, mit Blattgold überzogenes Hakenkreuz angebracht war“, erinnert sich David M. Eichhorn. Die Soldaten stiegen aus ihren Fahrzeugen, bildeten eine Ehrenformation und trugen die Thora-Rolle auf die Rednerplattform. Genau an dem Platz, wo Hitler mit seinen Hasstiraden den Weg in den Holocaust vorbereitet hatte, las der Geistliche aus der Heiligen Schrift und zelebrierte einen jüdischen Gottesdienst. Nachdem Lieder und Gebete verklungen waren, fassten sich die Juden an den Händen und formten einen Kreis um den Rabbiner und die Thora-Rolle. „Wir versprachen uns“, so erinnert sich David M. Eichhorn, „nicht eher zu ruhen, bis der Tyrann Hitler endgültig zerschmettert wäre und das Volk Israel einen eigenen Staat in Palästina gegründet hätte“. 291 Da bis zur Proklamation Israels noch mehrere Jahre vergehen sollten, sahen sich gläubige Juden gezwungen, im verhassten Deutschland mit dem Wiederaufbau religiöser Gemeinschaften zu beginnen, um das jüdische Volk spirituell wieder zu erwecken und zu festigen. Schon im Oktober 1945 etablierte sich in München, unter Leitung des Rabbiners Samuel Snieg, mit der Agudat Harabanim ein rabbinischer Rat, 292 dessen Repräsentanten in vielen Lagern und Gemeinden vertreten waren und dort die Einrichtung von Betsälen beziehungsweise die Wiederherstellung von geschändeten oder zerstörten Synagogen vorantrieben und alle religiösen Aufgaben und Zeremonien überwachten. Führend dabei waren zunächst Rabbiner aus Ungarn und der Slowakei. Erst mit der Massenflucht aus Polen im Jahr 1946 gelangten auch verstärkt polnische Rabbiner in die DP-Camps. 293 Unterstützung erhielten die religiösen Traditionalisten dabei vom liberal ausgerichteten Joint und dem konservativen Vaad Hatzala (Rettungskomitee), einer 1939 von der Union of orthodox Rabbis of the United States and Canada gegründeten Hilfsorganisation. Dieser Verband der streng gläubigen thoratreuen Juden war insbesondere zur Unter- 290 Ausführlicher zu diesem Thema in: G ROBMAN , Rekindling the Flame. 291 E ICHHORN , The GI’s Rabbis, 173f. 292 W ETZEL , Jüdisches Leben in München, 189. 293 P INSON , Jewish Life, 111f. <?page no="65"?> Jim G. Tobias 66 stützung und Rettung von polnischen und litauischen Rabbinern und Jeschiwa 294 - Schülern ins Leben gerufen worden. 295 Während des Zweiten Weltkriegs gelang es dem Vaad Hatzala über 625 Rabbiner und Religionsstudenten sowie einige tausend nicht religiöse Juden vor dem sicheren Tod zu retten. 296 Nach der Shoa richteten sowohl der Joint als auch der Vaad Hatzala ihren Blick auf die Gruppe der geretteten europäischen Juden, die nicht nur Brot, Kleidung und Unterkunft, sondern auch nach religiösem Beistand verlangten. Um die Bevorzugung einzelner Gruppen zu vermeiden, gestattete die US- Militärverwaltung dem Joint anfänglich nicht die DP-Lager zu betreten. Die ersten Teams konnten daher erst im Juni 1945 ihre Hilfstätigkeit aufnehmen und eine eigene Zentrale im August 1945 in München eröffnen. 297 Einen Monat später trat Rabbiner Alexander Rosenberg, Director of Religious Activities, eine Reise durch die DP-Camps in der US-Zone an, um speziell die Situation der religiösen Bewohner zu erkunden. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Frankfurt führte ihn sein Weg ins DP-Lager Zeilsheim. Es war der Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes Rosch Haschana. „Dort fand ich eine im Aufbau befindliche religiöse Organisation, die sich auf sehr einfache Weise um die Bedürfnisse der Menschen kümmerte. In einem Raum für etwa 150 Personen sollten die Gottesdienste während der hohen Feiertage stattfinden. Es gab keine Koschere Küche, keine Ritualien; sie hatten Gebetbücher, aber keine Ahnung vom religiösen Brauchtum.“ 298 Anschließend besuchte er einige Camps in Süddeutschland wie etwa in Föhrenwald, Feldafing oder Landsberg. „In diesen bayerischen Camps, wo sich der Großteil der Juden aufhielt, war die Situation besser. Hauptsächlich dadurch bedingt, dass einige Rabbiner in den Camps lebten, die begannen, Koschere Küchen einzurichten und erste religiöse Studien anzubieten.“ Trotz großer Bemühungen der Gläubigen und ihrer Lehrer war ein befriedigendes religiöses Leben nicht möglich. Rabbi Rosenberg forderte deshalb einen umgehenden Aufbau und Ausbau der Koscheren Küchen, Synagogen und Mikwaot. Zudem galt es, angemessenen Wohnraum für die Rabbiner und ihre Familien, Gebäude für Jeschiwot, Chadarim 299 und Bibliotheken zu beschlagnahmen. 300 Ein weiteres Problem stellte die mangelnde Versorgung mit koscherem, frischem Fleisch dar. Vom Joint angeforderte Lieferungen, später auch Dosenfleisch aus England und Argentinien sowie den USA, verzögerten sich erheblich aufgrund der geltenden Transport- und Einfuhrbestimmungen, zudem mangelte es an Schif- 294 Jeschiwa = Religiöse Hochschule, Plural Jeschiwot. 295 S ILVER , Disaster and Salvation, 22f. 296 Z UROFF , The Response of Orthodox Jewry, 286. 297 K ÖNIGSEDER / W ETZEL , Lebensmut, 58, 61. 298 Report of Religious Problems in Germany, 27.2.1946, YIVO LWSP, fol. 51. 299 Religiöse Elementarschule für Jungen. 300 Report of Religious Problems in Germany, 27.2.1946, YIVO LWSP, fol. 51. <?page no="66"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 67 fen mit ausreichender Kühlkapazität. 301 Vereinzelt wurden in den Camps unter primitiven und hygienisch unzureichenden Bedingungen Rinder geschlachtet. Für die Lager Landsberg und Zeilsheim konnte Alexander Rosenberg die Nutzung von städtischen Schlachthäusern erwirken. Allerdings verbot das Militär zeitweise die Schlachtung von Rindern, um, wie es hieß, die Viehbestände in Deutschland zu schonen. 302 Auf Rabbiner Rosenbergs Initiative hin gab es jedoch bald koschere Schlachtungen in München, Frankfurt, Nürnberg, Regensburg, Stuttgart und Eschwege. 303 Obwohl der Vaad Hatzala schon ab 1945 ein europäisches Büro in Paris unterhalten hatte und sein Leiter Rabbiner Samuel Schmidt seit dieser Zeit mit Vorbereitungen für den bevorstehenden Einsatz im besetzten Deutschland befasst war, dauerte es noch etwa ein Jahr, bis der Vaad im Mai 1946 als offizielle Hilfsorganisation von der amerikanischen Militärregierung anerkannt wurde. Am 11. September 1946 traf der Direktor für Deutschland, Nathan Baruch, im Hauptquartier des Vaad in München ein. Er und seine Mitarbeiter erhielten damit die Erlaubnis, sowohl die Emigration von Displaced Persons aus der US-Besatzungszone zu organisieren, als auch für die Versorgung der europäischen Juden in Deutschland Sorge zu tragen. 304 Die Vereinbarung definierte exakt den Handlungsspielraum, in dem die Organisation agieren durfte. Die Erlaubnis galt für Erziehungsarbeit, Hilfsleistungen, Rehabilitation und die Versorgung mit religiösen Artikeln. Dazu gehörte die Einrichtung von Jeschiwot zur Ausbildung von Rabbinern, Schächtern und Mohalim 305 , Kantoren und Schreibern sowie Talmud-Thora-Schulen für Jungen und Bet-Jakov- Schulen für Mädchen. Darüber hinaus stand die Einrichtung von religiösen Kinderheimen, Mikwaot und Koscheren Küchen ebenso auf der Agenda wie die Versorgung mit Nahrungsmitteln, die den Vorschriften der Religionsgesetze entsprachen. Oberstes Ziel war jedoch die Hilfe bei den Vorbereitungen zur Auswanderung. Der Vaad verpflichtete sich, unter Aufsicht und in Zusammenarbeit mit der UNRRA zu agieren. Uniformen und Transportfahrzeuge wurden von der UN-Organisation zur Verfügung gestellt. Für die Gehälter ihrer Mitarbeiter vor Ort und den Unterhalt der Fahrzeuge musste der Vaad Hatzala selbst aufkommen. 306 In einem ausführlichen Bericht über ihre Aktivitäten aus dem Jahr 1947 berichtete Nathan Baruch stolz: „Nach der Befreiung, wo immer auch jüdische Displaced Persons einquartiert waren, hat der Vaad Hatzala, insbesondere im vergangenen Jahr, ein außergewöhnliches Programm umgesetzt: Die jüdische Jugend im Glauben gestärkt und ihr den Lebensweg innerhalb des jüdischen Volkes aufge- 301 G ROBMAN , Battling for Souls, 172. 302 Report of Religious Problems in Germany, 27.2.1946, YIVO LWSP, fol. 51. 303 G ROBMAN , Battling for Souls, 176. 304 Ebd., 77-81. 305 Beschneider, Singular: Mohel. 306 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. <?page no="67"?> Jim G. Tobias 68 zeigt.“ Akribisch wurden alle vom Vaad initiierten und unterstützten Einrichtungen im besetzten Deutschland aufgelistet: 15 Jeschiwot, 54 Talmud-Thora- und Bet- Jakov-Schulen, 24 Koschere Küchen (Abb. 11), fünf Kinderheime, sechs Hospitäler und ein Altersheim. Dazu ließ die Hilfsorganisation zehntausende von religiösen Büchern drucken, lieferte 340 Tonnen zusätzliche Lebens- und Genussmittel sowie 170 Tonnen Kleidung für Frauen, Männer und Kinder. 307 Aber auch der Joint half den Juden bei ihrer „spirituellen Rehabilitation“ und engagierte sich unterstützend bei der Gründung des beim Zentralkomitee der befreiten Juden angesiedelten Rabbinischen Rats. Im Unterschied zum Vaad Hatzala, der dieses Gremium mit 57 Mitgliedern beziffert, 308 nennt der Joint die Zahl von 90 Rabbinern. 309 Diese Abweichungen deuten daraufhin, dass es offensichtlich Differenzen zwischen den beiden Hilfsorganisationen gab. Während der Joint eine strikte Neutralität verfolgte und keinen Unterschied zwischen den verschiedenen religiösen und nicht religiösen Gruppen machte und damit alle Strömungen innerhalb des Judentums anerkannte, setzte sich der Vaad ausnahmslos für die Belange der Orthodoxen ein, die zwar die Mehrheit innerhalb der Gläubigen stellten, aber 307 Ebd. 308 Laut einem Schreiben vom 18.12.1947 von Nathan Baruch an die IRO gehörten dem Rat 57 Rabbiner an. Abgedruckt in: V AAD H ATZALA , Pictorial Review, o.S. 309 K EMPNER , Operations, 10. Abb. 11: Die Koschere Küche in Bad Wörishofen war im Hotel Wittelsbacher untergebracht (Repro: nurinst-archiv). <?page no="68"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 69 nicht alle frommen Juden repräsentierte. Auch andere religiöse Gruppierungen stellten eben Rabbiner, wie etwa die zionistische Mizrachi, 310 die auf eine Zukunft in Israel setzten, während der Vaad rigoros für die Auswanderung der DPs nach Nordamerika warb. Damit wollten die Strenggläubigen eine Stärkung der Orthodoxie herbeiführen. Die US-Einwanderungsgesetze kamen diesem Anliegen entgegen, da Rabbinern und Jeschiwa-Schülern die freie Einreise in die Vereinigten Staaten von Amerika gestattet wurde. 311 Ziel des Joints war es jedoch, alle DPs während ihres Aufenthalts in Deutschland zu unterstützen und ihnen bei der Ausreise zur Seite zu stehen. „Wir müssen akzeptieren, dass wir uns trotz Unstimmigkeiten auf unsere Arbeit konzentrieren müssen“, formulierte ein hoher Joint-Vertreter pragmatisch. „Es ist unsere Politik, nicht unmittelbar selbst tätig zu werden, sondern mit Hilfe der bestehenden örtlichen Organisationen zu arbeiten.“ 312 Im Klartext hieß das, der Joint finanzierte auch die Arbeit des Vaad Hatzala nicht unerheblich mit. In einer 1948 publizierten Broschüre listet der Joint auf, dass er in der US-Zone 75 Religionsschulen mit 5 500 Schülern und 15 Jeschiwot finanziell förderte. An 200 Synagogen und Betstuben wurden zudem über eine Million Gebetbücher sowie andere religiöse Schriften und unzählige Ritualgegenstände verteilt. Allein für das Pessachfest 1948 lieferte der Joint 1,2 Millionen Pfund Mazze 313 beziehungsweise Mazzemehl sowie 140 000 Flaschen koscheren Wein an die Camps und Gemeinden. 314 Gleichwohl gelang es dem Vaad Hatzala durch eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit den Eindruck entstehen zu lassen, dass er die einzige Organisation sei, die den gläubigen Juden tatkräftig zur Seite stehe und sie mit Hilfslieferungen jedweder Art versorge. Im Jahr 1948 publizierte der Vaad Hatzala einen umfangreichen Bildband über seine Aktivitäten in Deutschland. Von nahezu jeder Synagoge, Schule oder Koscheren Küche findet sich ein Foto, oft mit hohen Vertretern des Vaad, inmitten seiner Schützlinge. 315 Darunter befinden sich auch Abbildungen mehrerer Einrichtungen aus dem Bezirk Bayerisch-Schwaben. Wie bereits beschrieben, existierten in den DP-Camps Leipheim, Neu-Ulm und Lechfeld religiöse Einrichtungen der orthodoxen Glaubensrichtung, wie etwa Talmud-Thora- oder Bet-Jakow-Schulen: Die Ersteren knüpfte an die Tradition des osteuropäischen Cheders an, in dem Knaben schon von frühester Jugend an zunächst die hebräische Sprache erlernten, um dann die heiligen Schriften des Judentums sowie dessen Geschichte zu studieren. Dieser Unterricht fand ergänzend zur 310 Kurzform von Merkaz Ruchani (geistiges Zentrum); Verband religiöser Zionisten. 311 AJDC Conference, Bulletin 5, 4.2.1947, YIVO LWSP, fol. 2. 312 AJDC Conference, Bulletin 2, 3.2.1947, YIVO LWSP, fol. 2. 313 Ungesäuertes Brot, das zu Pessach gegessen wird. Aus dem zerriebenen Brot (Mazzemehl) werden Klößchen gemacht. 314 K EMPNER , Operations, 10. 315 Vgl. V AAD H ATZALA , Pictoral Review. <?page no="69"?> Jim G. Tobias 70 allgemeinbildenden Schule statt. Viele der Religionsschulen in den Camps, die unter Aufsicht der Agudat Harabanim standen, wurden von Jeschiwa-Studenten initiiert und geleitet. Obwohl die Frauen und Mädchen nicht zum Studium der Thora verpflichtet sind, haben auch sie religiöse Pflichten zu erfüllen. Dafür sind insbesondere Kenntnisse über koschere Ernährung, Reinheitsvorschriften für Haus und Familie sowie Brauchtum am Schabbat und den Feiertagen nötig. Dieses grundlegende Wissen wurde jungen Mädchen in den Bet-Jakow-Schulen vermittelt. Neben diesen religiösen Grundschulen für Kinder gründeten sich in Bayerisch-Schwaben zwei Rabbinerhochschulen. 7.2. Jeschiwa Chofez Chaijm 316 Leipheim An der von Direktor Moshe Litzman geleiteten Jeschiwa studierten 45 rabbinische Schüler die Grundlagen des jüdischen Glaubens, um zu „verantwortungsvollen und wahren Führern Israels und des orthodoxen Judentums“ heranzureifen. 317 Die religiösen Leipheimer Juden wurden anfänglich von Rabbiner Baruch Jehuda Leibowitz aus dem Camp Föhrenwald mit betreut. Angesichts der rund 3 000 in Leipheim untergebrachten DPs drängte er seinen Kollegen Mendel Rubin, der ein Mitglied der Agudat Harabanim und ebenfalls in Föhrenwald tätig war, die Stelle eines Vollzeitrabbiners in Leipheim zu übernehmen. 318 Mendel war Anhänger des Rabbiners Jehezkiel Jehuda Halberstam, der als einer der wenigen großen chassidischen Gelehrten die Shoa überlebt hatte. Da Halberstam vor dem Krieg im rumänischen Klausenburg tätig war, nannte man die Schar seiner Schüler und Anhänger auch die Klausenburger Bewegung. 319 Zwar existierte in Leipheim, wie bereits erwähnt, eine Talmud-Thora-Schule und eine Jeschiwa, jedoch entsprachen diese Bildungseinrichtungen nicht den Vorstellungen Mendel Rubins. Um den Einfluss der nicht orthodoxen und religiösen Zionisten im Lager zurückzudrängen und den chassidischen 320 Klausenburgern mehr Gewicht zu verleihen, übernahm Rabbiner Mendel schließlich die Stelle als Oberrabbiner in Leipheim. Zu seinen ersten Aufgaben gehörte die Errichtung einer Mikwe, um die rituellen Reinheitsvorschriften nach der Halacha 321 , dem jüdischen Religionsgesetz, einhalten zu können. Der Bau gestaltete sich als schwierig, da es 316 Benannt nach dem als Chofetz Chaijm bekannten Rabbiner Israel Meir Ha Kohen (1838- 1933). Er zählte zu den bedeutenden Vertretern der neuzeitlichen jüdischen Orthodoxie. www.jewishvirtuallibrary.org/ jsource/ biography/ chofetz.html (letzter Zugriff am 22.11.2010). 317 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. 318 D ECKELMAN , Solution, 300. 319 Liszte fun Jeschiwot in Dajczland, o.D., YIVO LWSP, fol. 244. 320 Der osteuropäische Chassidismus (Chassid, hebr. der Fromme) gründete sich als volkstümliche religiös-mystische Bewegung im 18. Jahrhundert. 321 Das jüdische Gesetz, die rechtliche Auslegung von Thora und Talmud. <?page no="70"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 71 kaum Geld und Baumaterial gab. Unterstützung fand Rubin bei Mrs. Robertson, der UNRRA-Leiterin des Camps, die amerikanische Zigaretten zur Bezahlung des Baumaterials und der Arbeitskräfte organisierte. Besonders kompliziert war es jedoch, die Versorgung der Mikwe mit „lebendigem Wasser“ zu gewährleisten, da es weder Quellwasser gab noch ausreichend Regen im betreffenden Zeitraum fiel. Die Lösung des Problems bestand schließlich darin, mit Hilfe der US-Armee Eisblöcke aus Regenwasser zu produzieren und herbeizuschaffen. 322 Rabbiner Rubin blieb bis zum Frühjahr 1947 in Leipheim. Aufgrund massiver Differenzen mit gemäßigten Gläubigen und Säkularen legte Mendel Rubin im Frühjahr 1947 sein Amt nieder und übernahm die jüdische DP-Gemeinde im nahegelegenen Städtchen Krumbach. 323 7.3. Die Religionshochschule in Krumbach 1902 hatte der Israelitische Verein für Ferienkolonien mit Sitz in München zwei Bauernhäuser in der Kleinstadt Krumbach gekauft und sie zu einem Ferienheim für jüdische Jungen und Mädchen umgebaut. Noch im Sommer 1938 verbrachten Kinder aus Nürnberg und München hier ihre Ferien. Im November beschlagnahmten die Nationalsozialisten die Immobilie für das NS-Fliegerkorps. Nach dem Krieg brachte die deutsche Flüchtlingsverwaltung ehemalige Zwangsarbeiter und deutsche Flüchtlinge in dem Gebäudekomplex unter. Von Sommer 1946 an wurden in dem ehemaligen Ferienheim streng religiöse jüdische DPs einquartiert. 324 Die in Krumbach lebenden Juden waren Anhänger des Klausenburger Rebbe 325 und trugen sich mit dem Gedanken eine Jeschiwa, eine religiöse Hochschule, zu errichten (Abb. 12). 326 Nach Recherchen des Heimatforschers Herbert Auer sind auf einem Meldebogen der Stadt Krumbach vom 27. Februar 1947 erstmalig 32 Rabbinerschüler sowie zwei Rabbiner registriert. 327 Gleichwohl ließ die Anerkennung der religiösen Hochschule noch einige Zeit auf sich warten. In einem im Juni 1947 verfassten Vaad- Report sucht man die Jeschiwa Krumbach vergeblich. 328 Über die damalige Situation der DPs gibt jedoch ein Bericht des Joint Auskunft: „Krumbach ist eine ländliche 322 D ECKELMAN , Solution, 306-308. 323 Ebd., 312f. 324 S CHÖNHAGEN / A UER , Jüdisches Krumbach, 24f. 325 Jiddisch: Rabbiner. 326 Der Heimatforscher Herbert Auer gibt an, dass die Jeschiwa im Laufe des Jahres 1946 ihren Lehrbetrieb aufgenommen habe. In einem Vaad-Report für den Zeitraum September 1946 bis Januar 1947 ist jedoch für Krumbach keine Rabbinerschule verzeichnet. Vgl. Report of Vaad Hatzala Institutions, 15.9.46 bis 1.1.1947 YIVO LWSP, fol. 104. 327 Notizen zur Rabbinatshochschule Krumbach, Archiv Herbert Auer. 328 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. <?page no="71"?> Jim G. Tobias 72 Gemeinde; die jüdische Bevölkerung verfügt über zwei Gebäude, in einem ist die Verwaltung, die Rabbinische Schule und ein Schlafsaal für die Rabbiner untergebracht, im anderen wohnen Familien. Obwohl es schon Mittag war, schliefen viele der Rabbiner noch. Insgesamt ist das Haus mit 86 Personen, inklusive sechs Kleinkindern belegt. Alle sind sehr orthodox und leben gemäß ihrer Tradition; die Kinder tragen Pejes 329 . Zurzeit ist der Bau einer Mikwe in Vorbereitung.“ 330 Damit war offensichtlich die Inbetriebnahme eines bereits bestehenden, von Quellwasser gespeisten Ritualbads gemeint, das von den Nationalsozialisten nicht zerstört worden war. 331 Nach seinem Weggang aus Leipheim trat Rabbiner Mendel Rubin im April 1947 das Amt des spirituellen Leiters der jüdischen Gemeinde Krumbach an und nahm den offiziellen Lehrbetrieb der Religionshochschule mit zwei Abteilungen auf, eine für Junggesellen sowie die sogenannte Kollel 332 für verheiratete Männer. 333 329 Schläfenlocken. 330 Report on Communities, 24.7.1947, YIVO LWSP, fol. 203. 331 D ECKELMAN , Solution, 313. 332 Versammlung. 333 V AAD H ATZALA , Pictoral Review, 168; D ECKELMAN , Solution, 316f. Abb. 12: Das Gebäude der ehemaligen Ferienkolonie beherbergte nach 1945 die jüdische Hochschule Krumbach (Repro: Herbert Auer). <?page no="72"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 73 Neben der Unterstützung durch den Vaad Hatzala erhielt die Jeschiwa Krumbach Geldmittel vom Joint. Mit dem vom Zentralkomitee zugewiesenen knappen Budget war es nämlich nicht möglich, die laufenden Ausgaben für Mendel Rubin, zwei rabbinische Lehrer und 35 Studenten zu bestreiten. 334 Im Winter 1948 beantragten die Krumbacher Juden beim Joint weitere finanzielle Zuwendungen, um „die Mikwe auch während der kalten Jahreszeit nutzen zu können“. Die Hilfsorganisation versprach monatlich 100 Mark zur Verfügung zu stellen: „Ich persönlich meine, dass es unsere Pflicht ist, diesen Menschen zu helfen, damit sie gemäß ihrer religiösen Tradition leben können“, schreibt der zuständige Joint-Sachbearbeiter. 335 Im Jahr 1949 lebten in Krumbach noch 113 Juden, 1950 waren es noch 83. Die letzten jüdischen DPs verließen die Stadt im September 1951. 336 Wann die Jeschiwa ihren Lehrbetrieb einstellte, ist nicht bekannt. 7.4. Religiöse Kinderhäuser, Altenheime, Koschere Küchen Der Vaad Hatzala unterhielt mehrere sogenannte Children’s Homes, die - wie etwa in Ulm - als eigenes Lager geführt wurden beziehungsweise in separaten Häusern bestehender DP-Camps ihren Platz hatten. Für Bayerisch-Schwaben sind solche Einrichtungen nicht dokumentiert. Auch das einzige streng-religiös ausgerichtete Altersheim in Deggendorf befand sich außerhalb des Bezirks. Für orthodoxe Juden, die nicht in einem Camp, sondern in einer der vielen DP-Gemeinden lebten oder sich zeitweise im Krankenhaus aufhielten, errichtete der Vaad in der US-Zone weit über 20 Koschere Küchen (Abb. 13). Jeweils eine dieser Kantinen, die Mahlzeiten gemäß der jüdischen Religionsgesetze anboten, befand sich in Bad Wörishofen und Augsburg. 337 Beide Einrichtungen versorgten jeweils rund 300 Personen, wobei in Bad Wörishofen darüber hinaus koschere Mahlzeiten für Patienten in den Sanatorien und Hospitälern angeboten wurden. Im Sommer 1946 sahen sich die Augsburger Juden einer großen Herausforderung gegenüber. Zu dieser Zeit traf ein Zug mit etwa 1 000 jüdischen Flüchtlingen aus Ungarn in der Stadt ein. Da sich die Juden weigerten, die Fahrt in ein weit entferntes DP-Camp fortzusetzen, wandte sich die US-Militärpolizei hilfesuchend an den in der Stadt weilenden amerikanischen Militärrabbiner Eugene Cohen. Es war Freitagnachmittag und die Juden wollten den Schabbat einhalten. „Eine ältere Dame entzündete ihre Schabbatkerzen direkt auf dem Fußweg der Bahnstation, und unterstrich damit, was immer auch geschehen möge, sie werde ihren Schabbat feiern.“ Es gelang dem Chaplain schließlich rund 700 Personen zur Weiterfahrt zu bewegen, da er keine Möglichkeit sah, so viele 334 List of Yeshivahs maintained by AJDC, o. D., YIVO LWSP, fol. 225. 335 AJDC Schreiben Krumbach Community, 11.10.1948, YIVO LWSP, fol. 167. 336 S CHÖNHAGEN / A UER , Jüdisches Krumbach, 25. 337 Report of Vaad Hatzala Activities and Operations, 14.6.1947, YIVO DPG, fol. 1558. <?page no="73"?> Jim G. Tobias 74 Abb. 13: Rabbiner Aviezer Burstin vom Vaad Hatzala besucht die Koschere Küche in Augsburg (Repro: nurinst-archiv). <?page no="74"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 75 Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Restlichen, 300 strenggläubige Juden, führte er zu Fuß in die geschändete, aber nicht zerstörte Augsburger Synagoge und feierte dort mit ihnen den Freitagabendgottesdienst. Das Schabbat-Mahl bestand aus Wein und Salami, einer Spende des National Jewish Welfare Board sowie Bier, Brot und Äpfeln, die vor Ort gekauft wurden; das Rote Kreuz steuerte noch einige Kartons Doughnuts bei. „Es war ein ungewöhnliches Schabbat-Essen, aber ich kann mich schwerlich erinnern, ein freudigeres erlebt zu haben“, berichtete Chaplain Cohen. Einen Tag später trafen Lebensmittel aus München ein, die beste Ware, die der Joint auftreiben konnte, einschließlich einer Sonderration feinsten Cognacs und einige Stangen Zigaretten. Am Sonntagmorgen erklärte sich die Gruppe zur Weiterfahrt bereit. 338 7.5. Talmud-Nachdrucke Auch wenn Joint und Vaad Hatzala alles daran setzten, die Juden mit ausreichend Gebetbüchern und anderen religiösen Schriften zu versorgen, bestand doch ein großer Mangel an rabbinischer Literatur. Schon 1945 initiierten daher der Vorsitzende der Agudat Harabanim, Rabbiner Samuel Snieg, und sein Assistent, Rabbiner Samuel Rose, den Nachdruck eines Talmudbandes. 339 Die beiden Rabbiner waren in Dachau befreit und von dort ins DP-Krankenhaus Kloster St. Ottilien gebracht worden. Dort erfuhren sie von der Existenz eines unbeschädigten Bandes des Wilnaer Talmud, der sich in der Klosterbibliothek befand. Mit Hilfe des Vaad Hatzala und des Joints gelang es, die nötigen Mittel für die fotomechanische Herstellung von 3 000 Exemplaren aufzubringen, sodass Druck und Verteilung bis Dezember 1945 erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Nach Ansicht von Peter Honigmann, Leiter des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, ist „der Talmud aus St. Ottilien wahrscheinlich der erste Druck eines hebräischen Buches in Deutschland nach dem Ende der Nazi-Barbarei“. 340 Auch die Idee eines Gesamtnachdruckes der insgesamt 19 Bände umfassenden Talmud- Ausgabe geht auf die Rabbiner Snieg und Rose zurück. Für sie war der Nachdruck des Talmud auf deutschem Boden, als Beispiel standhaften jüdischen Überlebenswillens, die richtige Antwort auf die Vernichtung von Menschen und Kultur. Doch obwohl vom Advisor on Jewish Affairs bis hin zu General McNarney, Kommandeur der europäischen US-Truppen, dieses Vorhaben mit Sympathie begleitet wurde, waren viele Hürden zu überwinden. Woher sollten die riesigen Mengen Papier kommen? Welche Druckerei in Deutschland konnte tausende solcher großformatigen, umfangreichen Bücher drucken? Es vergingen über zwei Jahre bis das nötige 338 B ARISH , Rabbis in Uniform, 70-72. 339 Neben der hebräischen Bibel, Tanach genannt, ist der Talmud (mündliche Lehre, Auslegung der Schrift) das wichtigste Werk im Judentum. 340 H ONIGMANN , Talmuddrucke, 255f. <?page no="75"?> Jim G. Tobias 76 Papier vorrätig war, die Vorlagen fertig gestellt und schließlich gedruckt und gebunden wurden. Im Jahre 1949 standen die ersten Exemplare der neunzehnbändigen Talmudausgabe für die jüdischen DPs bereit. Zu diesem Zeitpunkt hatten jedoch bereits viele Juden Deutschland verlassen. Nur wenige Exemplare verblieben daher im Land der Täter, die meisten Bände wurden an jüdische Institutionen und renommierte Bibliotheken in Israel, Europa, Kanada und den USA verteilt. 341 8. Verzeichnis der DP-Camps und -Gemeinden in Bayerisch-Schwaben DP-Camps Leipheim Eröffnung Dezember 1945 Anzahl der Bewohner: 2 900 Januar 1946, 3 148 September 1946, 2 871 September 1947, 1 833 Mai 1948, 1 411 Januar 1949 Schließung: 1949 Neu-Ulm Eröffnung: September 1946 Anzahl der Bewohner: 1 699 September 1946, 1 654 September 1947, 1 322 Mai 1948, 1 045 Januar 1949 Schließung: 1949 Lechfeld Eröffnung: August 1947 Anzahl der Bewohner: 2 866 September 1947, 2 469 Mai 1948, 1 764 Mai 1949 Schließung: März 1951 Lindau Eröffnung: 1948 Anzahl der Bewohner: zirka 30 Schließung: 1949 DP-Gemeinden Augsburg Jüdisches Komitee, Halderstraße 8 Juli 1946: 308; März 1947: 475 341 F RIEDMAN , Roots, 98f. <?page no="76"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 77 Bad Wörishofen Jüdisches Komitee, Bahnhofstraße 5 Juli 1946: 273; März 1947: 355 Buchloe Jüdisches Komitee, Rathausplatz 7 Juli 1946: 74; März 1947: 120 Ettringen Jüdisches Komitee, Haus 107 (November 1946) Haus Nr. 235 ½ (Januar 1947) Juli 1946: 26; März 1947: 15 Kaufbeuren vom Jüdischen Komitee in Schwabmünchen mitverwaltet Juli 1947: 55 Irsingen Juli 1946: 39; Juli 1947: 34 Kempten Jüdisches Komitee, Herrenstraße 7 (November 1946) Bodmanstraße 16 (Januar 1947) Juli 1946: 40; Juli 1947: 62 Krumbach Jüdisches Komitee, Brunnenstraße 5 Juli 1947: 88 Lindau November 1946: 40; September 1947: 22 Marktoberdorf Jüdisches Komitee, Salzstraße „Neue Post“ (Januar 1947) Rathausplatz 2 (April 1948) Juli 1946: 47; Juli 1947: 64 Memmingen Jüdisches Komitee, Moltkestraße 1 (November 1946) Kramerstraße 37 (Mai 1947) Juli 1946: 95; Juli 1947: 127 <?page no="77"?> Jim G. Tobias 78 Mindelheim Jüdisches Komitee, Rechberger Straße 24 (November 1946) Kornstraße 18 (Januar 1947) Juli 1946: 34; Juli 1947: 29 Rammingen Jüdisches Komitee, „Zum Adler“ März 1946: 117; Juli 1947: 71 Schwabmünchen Jüdisches Komitee, Hindenburgstraße 34 Juli 1946: 38; Juli 1947: 53 Türkheim Jüdisches Komitee, Hauptstraße „Hotel Krone“ Juli 1946: 338; Juli 1947: 351 Wiedergeltingen Jüdisches Komitee, Haus Nr. 68 Juli 1946: 45; Juli 1947: 39 Die Belegzahlen und Adressen sind folgenden Quellen entnommern: AJDC 45/ 64, fol. 432; YIVO DPG, fol. 1529, 1530, 1531, 1533; YIVO LWSP, fol. 40, 42, 57, 167. Quellen und Literatur Archive American Jewish Committee (AJC), Cincinnati (OH) American Jewish Joint Distribution Commmittee (AJDC) Archive, New York Bayerisches Hauptstaatsarchiv (HstAM), München Beth Lochame Hagetaot (BLH), Israel Central Zionist Archive (CZA), Jerusalem International Tracing Service (ITS), Arolsen Machon Lavon Institute (MLI), Tel Aviv New York Public Library (NYPL), New York Nürnberger Institut (nurinst) Stadtarchiv Kempten (StaK), Kempten Stadtarchiv Leipheim (StaL), Leipheim Stadtarchiv Memmingen (StaM), Memmingen Stadtarchiv Neu-Ulm (StaNU) <?page no="78"?> Jüdische Displaced Persons im Bezirk Bayerisch-Schwaben 79 The Wiener Library (WLL), London United Nations Archives (UNA), New York United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Washington DC US National Archives and Records Admistration (NARA), Washington DC Yad Vashem Archive (YVA), Jerusalem YIVO Institute for Jewish Research, New York Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA), Technische Universität Berlin Literatur K LAUS B ACHMANN , 50 Jahre nach dem Pogrom von Kielce, in: Tribüne 3 (1996), Heft 129. 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Tobias 82 Zeitungen A Heim, Leipheim AUFBAU, New York Jidisze Sport Cajtung, München Jüdisches Gemeindeblatt, Düsseldorf Landsberger Lager Cajtung Landwirtschaftlecher Wegwajzer, München New York Times Undzer Wort, Bamberg <?page no="82"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung Alois Epple Im Oktober 1944 wurde ca. drei Kilometer südlich von Türkheim ein KZ errichtet, welches zu den Kauferinger Lagern gehörte - Kaufering VI - und ein Außenlager von Dachau war. 1 Die meisten jüdischen Häftlinge dieses KZs kamen aus Ungarn. Am 24. April 1945 begann man das Lager zu evakuieren. Am 27. April 1945 befreiten Amerikaner zurückgebliebene Häftlinge und erließen sofort eine Bekanntmachung in der es u.a. hieß: „Die Juden [...] sind gut zu verpflegen und zu kleiden. [...] Die Lagerinsassen im Judenlager haben im Lager zu verbleiben.“ 2 Trotzdem zogen die befreiten Juden in den Ort Türkheim, um sich dort mit Lebensmitteln und Kleidung zu versorgen. 3 Zum Essen und zum Schlafen kehrten sie in das ehemalige Lager zurück. Am 15. Mai 1945 schrieb ein Beauftragter des Roten Kreuzes: „Eine große Anzahl der Häftlinge wohnt zur Zeit bei den Bauern in der Umgebung und sie kommen ins Lager, um sich zu versorgen.“ 4 Ähnlich schilderte es Stefan Singer, Bürgermeister von Türkheim, in einem Brief an die amerikanische Militärverwaltung in Mindelheim: „Nach Einmarsch der US-Truppen quartierten sich mehrere Juden in Türkheim-Ort und in die umliegenden Ortschaften privat ein, und wurden auch von der Bevölkerung zum größten Teil aus Mitleid aufgenommen. Nachdem im Laufe des Sommers 1945 sich immer mehrere [jüdische DPs] im Ort [Türkheim] Wohnung verschafften, wurde von der Militärregierung und der UNRRA angeordnet, dass das Lager [ehem. KZ bei Türkheim] aufgehoben und die Küche nach Türkheim-Ort zu verlegen sei. Zugleich wurde der Bürgermeister angewiesen, für die Leute Wohnungen bereit zu stellen.“ 5 Ca. 80 typhuskranke Häftlinge wurden unmittelbar nach ihrer Befreiung von den Amerikanern in das Parkhotel nach Bad Wörishofen gebracht. 6 Weitere Schwerkranke kamen in anderen Kurheimen unter. Ihre Betreuung übernahm die UNRRA, welche sich hier, im Hotel Luitpold 7 , installierte. 1 E PPLE , KZ Türkheim. 2 S INGER , Chronik, 33. 3 P INHAS -L IPSTADT , Bericht, 17; W EITLAUFF , Tagebücher, 187. 4 Bericht von Robert Hort vom Internationalen Roten Kreuz. Dieser Bericht liegt in Yad Vashem, Jerusalem 048/ 111-1. 5 Brief des Türkheimer Bürgermeisters Singer vom 2.9.1946 an die CIC bei der Militärregierung Mindelheim, Gemeindearchiv Türkheim (GemAT), Akte DP. 6 Bericht von Robert Hort vom Internationalen Roten Kreuz. Dieser Bericht liegt in Yad Vashem, Jerusalem 048/ 111-1. 7 Stadtarchiv Bad Wörishofen (StABW), Akte 064, freundliche Auskunft Dr. Egon Happach- Gubi. <?page no="83"?> Alois Epple 84 Viele ehemalige jüdische Lagerhäftlinge kehrten in den folgenden Wochen nach ihrer Befreiung in die Länder, aus denen sie deportiert worden waren, zurück. „So wurden nahezu 100 Juden [aus Türkheim] nach Ungarn abtransportiert.“ 8 Ein ehemaliger Häftling des Türkheimer KZs schrieb, dass er mit dem Roten Kreuz schon im Mai 1945 zurück nach Hause, nach Wien, fuhr. 9 Joseph Bernhart erwähnte am 29. April 1945 in seinem Tagebuch ein Gespräch mit einer aus dem Türkheimer Lager befreiten Jüdin: „Sie sagte, dass sie alle in der übernächsten Woche durch das Schweizer Rote Kreuz im Flugzeug heimbefördert würden.“ Er ergänzt am 23. Mai 1945: „Erfreulich ist die Nachricht, dass unsere Polen und Juden nun doch das Land verlassen werden. Der Zahntechniker [Karl] S[chwinger], der gestern 5 Offizier in sein Haus aufnehmen musste, wurde von zwei derselben angewiesen, Juden und Polen nicht mehr zu behandeln, sondern in ihr Lager zurückzuschicken, alsbald beginne der Abtransport.“ 10 Gleichwohl rechneten die Türkheimer Anfang Juni anscheinend nicht mehr mit einem raschen Wegzug der „verbliebenen ungefähr 150 Juden, meist [aus] Polen“. 11 Bernharts Tagebucheintrag vom 11. Juni 1945 lautet: „Die Juden und Polen sind noch immer da.“ 12 1. Anzahl der in Türkheim einquartierten jüdische DPs Im Juni 1945 waren ca. 200 jüdische DPs in Türkheim (Grafik 1). 13 Von Herbst 1945 an stieg die Zahl kontinuierlich an und erreichte im Herbst 1946, mit 379 jüdischen DPs in Türkheim, ihren Höhepunkt. Ein deutlicher Rückgang war dann von Herbst 1948 an zu verzeichnen. Die Zahl der Kinder, Personen unter 17 Jahren, betrug, seit sie von 1946 an bekannt ist, zwischen 10 und 20 Prozent. Solche Zahlen einer Bevölkerungsbewegung setzen sich zusammen aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung (Geburten und Sterbefälle) und Wanderung (Zuzug und Wegzug). 8 S INGER , Chronik, 33. 9 Brief an die Familie Rinninger in Türkheim. Eine Kopie des Briefs befindet sich im KZ- Dokumentationszentrum Dachau, Archiv, Bestand „Türkheim“. 10 W EITLAUFF , Tagebücher, 187, 218. 11 Brief des Türkheimer Bürgermeisters Singer vom 2.9.1946 an die CIC bei der Militärregierung Mindelheim, GemAT, Akte DP. 12 W EITLAUFF , Tagebücher, 228. 13 Die Zahlen von März 1946 an wurden den Mietlisten des Wohnungsreferats Türkheim (GemAT, Akte DP) entnommen. Weitere Quellen: S INGER , Chronik, 33; StAA, Ernährungsamt-B Mindelheim 105; K ÖNIGSEDER , Lebensmut im Wartesaal, 262. Die Zahlen bei Königseder liegen jeweils höher als in anderen Quellen. Wahrscheinlich umfassen sie auch die DPs in den Nachbarorten. <?page no="84"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 85 Grafik 1: Anzahl der in Türkheim einquartierten jüdischen DPs 1.1. Natürliche Bevölkerungsbewegung Im August 1946 meldete die UNRRA, die ihren Sitz in Bad Wörishofen hatte, an die Marktgemeinde Türkheim, dass bei den jüdischen DPs in den nächsten Monaten etwa 60 Kinder geboren würden. 14 Jüdische DPs weisen eine generell hohe Geburtenrate auf. So hatte fast die Hälfte der jüdischen DP-Haushalte mit zwei Erwachsenen auch ein Kind. 15 1949 waren auf einer kurzen Auswanderungsliste 16 jüdischer DPs überwiegend Ehepaare mit einem 1946 oder 1947 geborenen Kind verzeichnet. Ursachen dieser hohen Geburtenrate unmittelbar nach der Befreiung war nicht nur der Wille vieler Juden, nach dem Holocaust als Volk weiter zu existieren, sondern auch das Alter der DPs. So waren nach der Befreiung ungefähr 80 Prozent der weiblichen DPs in Türkheim im gebärfähigen Alter. In diesem Alter hatte man bessere Chancen gehabt, die KZs zu überleben. Anfang 1948 gab es in Türkheim fast keine jüdischen DPs, welche älter als 37 Jahre waren, über die Hälfte der DPs 14 S INGER , Chronik, 33. 15 Dies ergibt sich aus den Mietlisten der DPs in Türkheim, GemAT, Akte DP. 16 GemAT, Akte DP. 0 50 100 150 200 250 300 350 400 Jun 45 Sep 45 Dez 45 Mrz 46 Jun 46 Sep 46 Dez 46 Mrz 47 Jun 47 Sep 47 Dez 47 Mrz 48 Jun 48 Sep 48 Dez 48 Mrz 49 Jun 49 Sep 49 Dez 49 Anzahl insgesamt Erwachsene Kinder <?page no="85"?> Alois Epple 86 waren im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Ein Vergleich mit einer AJDC-Studie, 17 den DP-Camps in Landsberg am Lech 18 und in Weiden 19 ergibt ähnliche Zahlen. Nur wenig Anhaltspunkte gibt es über Sterbefälle jüdischer DPs. Einerseits starben viele DPs unmittelbar nach Kriegsende infolge Schwächung und Krankheiten, welche sie während ihrer KZ-Zeit erfuhren. Andererseits lässt das überwiegend junge Alter der Überlebenden eher eine geringe Sterberate vermuten. Die Verstorbenen wurden auf dem Friedhof in Bad Wörishofen, 20 auf dem sogenannten Judenfriedhof bei Türkheim 21 und überwiegend auf dem jüdischen Friedhof in Augsburg- Haunstetten beerdigt. 22 1.2. Zuwanderung Am 2. September 1946 schrieb der Bürgermeister von Türkheim, Stephan Singer: „Ende August 1945 kamen die [meisten] ungarischen Juden in die Heimat zurück. Es verblieben dann ungefähr 150 Juden, meist [aus] Polen, hier. Diese sollten auf Befehl der Militärregierung von hier weggebracht werden. Der [Türkheimer] Bürgermeister [Singer] wurde verständigt, dass sich sämtliche Leute vom Lager an einem bestimmten Tage bis um 10 [Uhr] zum Abtransport bereithalten müssen. Es kamen dann mehrere LKWs um sie abzuholen. Nachdem sie sich jedoch weigerten, gab die UNRRA dem Bürgermeister die Weisung, auf jeden Fall den Abtransport bis 16 Uhr durchzuführen. Es wurde dann alles versucht, dies zu bewerkstelligen. Da aber nichts erreicht werden konnte, fuhren die LKWs gegen 17 Uhr wieder ab. Ohne jede Zuzugsgenehmigung kamen dann dauernd neue Zugänge, zum Teil Angehörige, Mädchen brachten von auswärts Männer und heirateten dann in Türkheim, sodass bis Januar 1946 etwa 220 bis 250 Juden hier waren. [...] Durch laufenden Zuzug sind heute [2. September 1946] etwa 350 bis 360, meist [Juden aus] Polen, in Türkheim untergebracht, davon war nur ein kleiner Teil im hiesigen Lager der ehemaligen OT, alle übrigen sind im Laufe des Jahres aus Polen zugewandert.“ 23 In diesem Brief werden drei Gruppen jüdischer DPs in Türkheim unterschieden: Die erste Gruppe umfasst ehemalige Häftlinge des KZ-Lagers bei Türkheim, die zweite Gruppe kam aus familiären Gründen, meist von anderen Lagern, nach Türkheim, die dritte Gruppe kam hauptsächlich aus Polen. Von den ca. 500 im KZ bei Türkheim Befreiten blieben, nach dem eben zitierten Brief, nur ca. 150 zunächst in Türkheim. Als die amerikanische Militärbehörde 17 K ÖNIGSEDER , Lebensmut im Wartesaal, 57. 18 E DER , Flüchtige Heimat, 152. 19 B RENNER , Nach dem Holocaust, 36. 20 S CHWIERTZ , Steinerne Zeugnisse, 234 21 E PPLE , Die Geschichte des KZ-Ehrenfriedhofs in Türkheim. 22 Frld. Auskunft von Frau Hildegard Zweig, Bad Wörishofen. 23 Brief vom 2.9.1946, GemAT, Akte PD. <?page no="86"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 87 Ende August 1945 die DPs registrierte, 24 verzeichnete sie 236 DPs als ehemalige Häftlinge des KZs bei Türkheim. Bei der polizeilichen Meldung der Türkheimer DPs Ende August 1946 25 nannten 274 DPs als letzten Aufenthaltsort vor Kriegsende das KZ bei Türkheim. Es müssen also DPs wieder nach Türkheim zurückgewandert sein. Im KZ bei Türkheim stammten ein knappes Drittel der jüdischen Häftlinge aus Polen und etwas weniger als zwei Drittel aus Ungarn 26 . Bei der Registrierung im August 1945 nannte jeder zweite jüdische DP als Herkunftsland Polen und nur ein Drittel Ungarn. Dies zeigt, wie oben erwähnt, dass es vor allem polnischen Juden nicht so stark in ihr Herkunftsland zurückzog. Die Gründe hierfür dürften die Judenverfolgung und die chaotischen Zustände in Polen nach dem Krieg gewesen sein. Bei der Registrierung 1946 gaben 20 DPs als „letzten Aufenthaltsort“ Dachau einschließlich der Außenlager an, und 36 DPs nannten andere KZs in Deutschland und Österreich. Für sie gab es unterschiedliche Gründe nach Türkheim zu ziehen. So berichtet ein Türkheimer, 27 dass ehemaligen Insassen des Türkheimer KZs, die oft schon vor der Befreiung von ihren Bewachern woanders hingebracht worden waren, nach Türkheim zurückkehrten, weil sie dort von der UNRRA und anderen Organisationen gut betreut wurden. Ein weiterer Grund für die Zuwanderung dürfte die Unterbringung in Türkheimer Privathäusern gewesen sein und nicht, wie an anderen Orten, in Lagern, teils noch mit einem Stacheldraht umgeben. Auch familiäre Gründe spielten eine Rolle: Während des Dritten Reiches wurden viele Familien durch Deportation getrennt. Nach dem Krieg wollte man wieder Verwandte treffen und mit ihnen zusammenleben. So kam Jehuda Garai nach Türkheim, weil er hier nach überlebenden Verwandten und Bekannten oder wenigstens Listen von Überlebenden suchte. 28 Die Familienzusammenführung zeigt sich auch in den Mietlisten. 29 So wohnten bis zu fünf DPs einer Familie in einer „Wohnung“. Sie dürften sich wohl erst in Türkheim wieder zusammen gefunden haben. Channa Strohli kam nach Türkheim, um hier ihren jüdischen Freund Max Kohn, welcher im KZ bei Türkheim Capo gewesen war, zu heiraten 30 . Dass dies auch bei 24 Meldebögen, 1945, Bestand Gemeinderegistratur, Einwohnermeldeamt Türkheim (ET). 25 Meldebögen 1946, Bestand Gemeinderegistratur, ET. In der Mindelheimer Zeitung vom 21. März 1946 findet sich eine Bekanntmachung. In dieser werden die DPs von Türkheim aufgefordert, sich amtlich in Türkheim registrieren zu lassen. 26 E PPLE , KZ Türkheim, 64. 27 Freundliche Mitteilung von Hubert Eichheim, geb. 1929 in Türkheim. 28 Freundliche Mitteilung von Jehuda Garai, Natania, Israel. Rabbiner Klausner erstellte solche Listen in den DP-Lagern um München. Vgl. K ÖNIGSEDER , Lebensmut im Wartesaal, 23. 29 GemAT, Akte DP. 30 Freundliche Mitteilung von Channa Strohli, geb. 1926 in Jerusalem. Sie kam am 1. Juni 1944 nach Auschwitz und von dort in das Lager Kaufering IV. Kurz vor der Befreiung des Lagers wurde sie auf den Todesmarsch in Richtung Wolfratshausen geschickt und am Buchberg befreit. Amerikaner brachten sie in einer Münchner Kaserne unter, später kam sie in ein <?page no="87"?> Alois Epple 88 anderen DPs ein Grund für den Zuzug gewesen sein könnte, zeigt sich daran, dass von Mitte 1945 bis 1946 in Türkheim 46 Ehen zwischen jüdischen DPs geschlossen wurden. Familienzusammenführung und Heirat waren für das Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen ein Grund, den DPs eine Zuzugsgenehmigung auszustellen, wenn die Antragsteller angaben, dass sie bei Verwandten oder Bekannten wohnen können. Dass manche DPs dies nur vorgaben, zeigt ein Schreiben des Landrats des Landkreises Mindelheim vom 20. März 1947 an die Türkheimer Gemeindeverwaltung: 31 „1. Soweit jüdische Flüchtlinge auf Grund ihrer Angabe, ‚dass bei Verwandten genügend Wohnraum vorhanden sei‘[,] durch das Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen Zuzugsgenehmigung erhalten, diese jedoch im folgenden den Bürgermeister auf Grund ihrer Zuzugsgenehmigung um zusätzlichen Wohnraum bitten, gilt die durch das Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen ausgesprochene Zuzugsgenehmigung als nicht erteilt. 2. Auf Grund meines [Landrat des Landkreises Mindelheim] Vorschlages dürfte demnächst eine allgemein verbindliche Regelung in der Form erfolgen, dass vor Erteilung von Zuzugsgenehmigungen für jüdische Flüchtlinge jeweils die örtliche Wohnungsbehörde zur Stellungnahme angeschrieben wird“. Nach diesem Schreiben finden sich im Gemeindearchiv Türkheim mehrere Erklärungen folgenden Wortlauts: „Ich erkläre hiermit, dass ich für die Zeit, wo ich in Türkheim bin, auf anderweitigen Wohnraum verzichte. Ich wohne Wörishoferstr. 162 bei Vicari und beziehe das Zimmer meines Bruders, in dessen Einverständnis und im Einverständnis der Vermieterin.“ Die dritte Gruppe von DPs, welche nach Türkheim kam, stammte aus Polen. 32 So schreibt der Türkheimer Bürgermeister im September 1946: „Durch laufenden Zuzug sind heute etwa 340 bis 360, meist Polen, in Türkheim untergebracht, davon war nur ein kleiner Teil im hiesigen Lager der ehemaligen OT, alle übrigen sind im Laufe des Jahres aus Polen zugewandert.“ 33 Die meisten DPs, die von März 1946 an nach Türkheim zogen, kamen direkt aus Polen. 34 Weitere DPs kamen von Polen über eine Zwischenstation in Deutschland nach Türkheim und sind deshalb in Grafik 2 als DPs „aus Deutschland“ berücksichtigt. Aus den amerikanischen Meldebögen 35 geht hervor, dass die meisten polnischen DPs, nach ihrer Befreiung aus den DP-Camp am Starnberger See. Dort traf sie Max Kohn. Sie geht mit Kohn, dessen Schwester und Schwager nach Türkheim, um zu heiraten. Heute lebt sie in Hamburg. 31 Schreiben des Landrates von Mindelheim, 20.3.1947, GemAT, Akte DP. 32 T OBIAS , Vorübergehende Heimat, 21; B RENNER , Nach dem Holocaust, 25f.; K ÖNIGSEDER , Lebensmut im Wartesaal, 47f. 33 Brief vom 2.9.1946 von Stephan Singer, GemAT, Akte DP. 34 Die Daten wurden den Meldebögen von DPs entnommen, Bestand Gemeinderegistratur, ET. 35 GemAT, Akte DP. <?page no="88"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 89 Grafik 2: Zuzug der DPs nach Türkheim KZs, nach Polen zurückwanderten oder vorläufig blieben und erst 1946 Polen wieder verließen. Nur zwei polnische-jüdische DPs in Türkheim gaben als „Letzten Aufenthaltsort“ vor Türkheim Russland bzw. die Sowjetunion an. 1.3. Abwanderung Im September / Oktober 1946 war in Türkheim mit fast 400 DPs der Höchststand erreicht. Von Februar 1947 an ging die Zahl der DPs zurück. Am 14. Februar 1949 wurde dieser Rückgang sogar in der Lokalzeitung registriert: 36 „Die Juden gehen. Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass die Zahl der hier einquartierten Juden merklich kleiner wird. Die Zwangsverschleppten haben sich nun ein neues Heimatland auserwählt und zwar Palästina. Viele davon hielten es leider nicht für notwendig, vor dem Abzug die gemachten Schulden zu begleichen.“ Und Hubert Eichhheim schreibt: 37 „In Türkheim wurde der damals noch schöne Platz vor der Kronenwirtschaft zum Handels- und Informationszentrum. Schon ab dem Morgen standen sie dort herum, die Händler, oft ehemalige KZ Insassen, die auf ein Visum nach Israel oder in die USA warteten.“ 36 Mindelheimer Zeitung, 14.2.1949, GemAT. 37 Freundliche Mitteilung von Hubert Eichheim, geb. 1929 in Türkheim. 0 5 10 15 20 25 16742 16803 16862 16923 16984 17046 17107 17168 17227 17288 Anzahl der DPs aus Deutschland aus Polen sonst <?page no="89"?> Alois Epple 90 Die Abwanderungen wurden meistens nicht behördlich erfasst. 38 Bekannt ist jedoch, dass mindestens 48 DPs von Türkheim in andere Camps weiterwanderten, oft auf der Suche nach Angehörigen. „Max“, ehemaliger Capo im Türkheimer KZ- Lager, zog mit seiner Frau zurück nach Essen, wo er vor dem Krieg lebte. 39 Drei DPs kehrten nach Krakau und einer nach Kaunas (Kowno) zurück. Am 4. November 1946 verließ ein jüdisches Ehepaar mit ihren zwei Kindern Türkheim in Richtung USA. Mindestens drei weitere DPs wanderten in die USA aus. 40 Die meisten DPs dürften jedoch, zuerst illegal, von Mai 1948 an, mit der Gründung des Staates Israel, legal nach Israel gezogen sein. So verließen zwischen 25. und 28. August 1948 mindestens 20 DPs mit ihren zehn Kindern Türkheim in Richtung Israel und bis zum 10. Dezember 1948 reisten mindestens weitere 26 jüdische Familien von Türkheim ab, die meisten vermutlich mit dem Ziel Israel. Von Berta Bukszpan ist bekannt, dass sie, nachdem ihr Mann gestorben war, nach Australien auswanderte und Szulim Zylberzwajg nach Kanada. Nur zwei DPs blieben in Türkheim. Einer von ihnen, Schlomo Pasternak, eröffnete hier eine Schneiderei und heiratete eine Türkheimerin. 41 2. Wohnen und Essen 2.1. Wohnraumsituation Im Gegensatz zu den Lagern (Camps) waren in Türkheim die jüdischen DPs in Privatwohnungen untergebracht. „Schon Ende Mai 1945 trafen sich 40 Türkheimer, um die drohende Zwangseinquartierung von etwa 160 Juden aus dem [ehem. KZ-] Lager [bei Türkheim] in die Häuser des Orts [Türkheim] zu beraten“. 42 Angeblich soll ein amerikanischer Offizier im Mai 1945 gedroht haben, Türkheim zur Unterbringung von jüdischen DPs, zu räumen. 43 Im Sommer 1945 wurde der Bürgermeister von Türkheim verpflichtet, für die DPs Wohnungen bereit zu stellen, vornehmlich in Häusern ehemaliger Parteigenossen. 44 Wahrscheinlich schon 1945 wurde von der amerikanischen Militärbehörde das Gasthaus Krone in Türkheim zur Unterbringung jüdischer DPs beschlagnahmt und 15 Betten aufgestellt. Dies wurde 38 Meldebögen 1945 und 1946, Bestand Gemeinderegistratur, ET. 39 Freundliche Mitteilung von Hanna Strohli, der Frau von „Max“. 40 Dies war vor allem möglich, als der US-Kongress 1948 den Displaced Persons Act, ein Bundesgesetz, das es auch einer größeren Zahl von DPs ermöglichte, in die USA einzureisen, verabschiedet hatte. 41 P ASTERNAK , Ein jüdisches Schicksal, 8. 42 W EITLAUFF , Tagebücher, 28.5.1945, 221. 43 W EITLAUFF , Tagebücher, 20.5.1945, 215. - Ben-Gurion machte einen ähnlichen Vorschlag, vgl. T OBIAS , Vorrübergehende Heimat, 19. 44 Brief von Stephan Singer, 2.4.1946, GemAT, Akte DP. <?page no="90"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 91 auch von der einheimischen Bevölkerung als gerechtfertigt angesehen, war doch der Besitzer der Krone der Türkheimer „Nazibürgermeister“. 45 Am 10. Februar 1947 beschlagnahmten die Amerikaner im Gasthaus Adler in Türkheim 17 Betten für jüdische DPs. Die restlichen DPs wurden auf Zimmer in Privathäusern verteilt. „Große Schwierigkeiten entstanden so bei Eintritt des Winters, da es an heizbaren Zimmern, an Herden und Öfen fehlte.“ 46 Nach mehrmaligen Vorstellungen des Türkheimer Bürgermeisters bei der Militärregierung in Mindelheim und der UNR- RA in Bad Wörishofen, wegen Überlastung der Gemeinde Türkheim, bekam er die Zusicherung, dass kein Neuzuzug nach Türkheim erfolgen werde. 47 Am 3. September 1947 wurde die Gemeinde nochmals nachdrücklich auf den Befehl des Direktors der Militärregierung, General Müller, hingewiesen, wonach rassisch Verfolgten unbedingt bevorzugt, also vor deutschen Heimatvertriebenen und Evakuierten, Wohnungen zuzuweisen sind. 48 So wies beispielsweise die Sonderregierungskommission Schwaben das Türkheimer Wohnungsamt am 9. September 1947 an, einem jüdischen DP eine neue Wohnung zuzuweisen, „da er als rassisch Verfolgter nach den gesetzlichen Bestimmungen Vorrangsbehandlung genießt und obendrein wohnmäßig völlig unzulänglich untergebracht ist.“ 49 Eine besondere Bevorzugung sollten kranke DPs und DPs mit kleinen Kindern erhalten. So legte Frau Maria Leizorowicz am 15. August 1946 dem Türkheimer Wohnungsamt ein Attest der Entbindungsstation in Bad Wörishofen und des jüdischen DP-Arztes Dr. Panitz vor, worin stand, dass ihr Säugling nicht in einer feuchten Wohnung untergebracht werden kann. Andere ärztliche Atteste berichten von chronisch kranken DPs und DPs mit kranken Kindern, welche unbedingt eine trockene, beheizbare Wohnung benötigen. Diese Gesuche wurde von der amerikanischen Militärregierung in Mindelheim befürwortet und man überließ es dem Türkheimer Wohnungsreferenten, entsprechende Wohnung aufzutreiben. Der jüdische Wohnungsreferent Spiro vom „Comitee“ schreibt am 12. Juni 1947 an das Kreisflüchtlingsamt Mindelheim: „Es sind eine ganze Reihe von Fällen dabei, wo Judenfamilien mit Kindern nur in einem Raum wohnen müssen[,] der in vielen Fällen feucht und ungesund ist. Veränderungen bzw. ärztliche Gutachten über die Notwendigkeit der Veränderung liegen in mehreren Fällen vor. Verschiedene jüdische Ehepaare erwarten in absehbarer Zeit Zuwachs, für die dann die Wohnverhältnisse gleichfalls untragbar werden. [...] Wohnungen zu erhalten scheitert vielfach an dem Widerstand der Haus- und Wohnungsinhaber, bei denen man Räume für diese Zwecke freimachen will.“ 50 45 E PPLE , Türkheim im 20. Jahrhundert, 31. 46 S INGER , Chronik, 33. 47 Brief von Stephan Singer vom September 1946, GemAT, Akte DP. 48 Schreiben vom 3.9.1947, GemAT, Akte DP. 49 Schreiben vom 9.9.1947, GemAT, Akte DP. 50 Schreiben vom 12.6.1947, GemAT, Akte DP. <?page no="91"?> Alois Epple 92 Wie schwierig die Wohnraumsituation in Türkheim war, wird daran deutlich, dass nach dem Krieg, statistisch gesehen, zwei Einheimische einen Evakuierten, Flüchtling oder DP aufnehmen mussten. Tab. 1: Bevölkerungsentwicklung und -zusammensetzung in Türkheim 1.9.1939 29.10.1946 23.10.1947 Einwohner 2 6680 3 993 4 101 (62 %) davon Einheimische 2 483 (62 %) 2 565 (63 %) Evakuierte aus zerbombten Städten 355 0(9 %) 359 0(9 %) Flüchtlinge 777 (19 %) 792 (19 %) Ausländer 379 0(9 %) 385 0(9 %) davon jüdische DPs 379 0(9 %) etwas über 300 0(7 %) Die Durchsicht der Mietlisten 51 zeigt die katastrophale Wohnraumsituation in Türkheim, die sich durch den oben angesprochenen Zuzug von DPs bis Ende 1946 erheblich verschärfte. Ein DP verfügte demnach über durchschnittlich 6,6 Quadratmeter Wohnfläche. Erst Mitte 1947 kam es zu einer leichten Entspannung der Wohnraumsituation infolge Abwanderung. Meistens lebten ein oder zwei DPs, teilweise mit einem Kind, in einem Zimmer von wenigen Quadratmetern. Auch Garagen und Lagerräume wurden für Wohnzwecke umfunktioniert. Die katastrophalen Wohnverhältnisse werden in einem Brief 52 einer Türkheimerin an den Bürgermeister besonders anschaulich. Sie schreibt: „Mein Haus, das ursprünglich nur zu Wohnzwecken meiner Familie und einer aus niemals mehr als höchstens 2 älteren Personen bestehenden älteren Familie diente, wird derzeit außer meiner Familie von einer dreiköpfigen Familie und von 5 - fünf! - Juden bewohnt. Vier von diesen 5 Juden schlafen des Nachts in einem kleinen Zimmer des 1. Stockwerkes und 1 in meiner Wohnküche. Abgesehen von den hygienischen Gründen der Unhaltbarkeit einer solchen Schlafstätte, bildet dieselbe doch auch in jeder anderen Beziehung eine ungewöhnliche Belastung meines Hauswesens. Zudem bewohnen sämtliche 5 Personen neben meiner eigenen Familie meine Küche, welche nach Abrechnung des Platzes von Herd, Büffet und Kommode samt Tisch einen Platz von höchstens 5-7 qm umfasst [...]. Mit mir sehen auch noch 2 unmündige Kinder Ihrem [= Bürgermeister] wohlwollendem Bescheid entgegen, welche schon ihren Vater verloren haben und nicht auch noch ihre Mutter verlieren möchten. Zudem befinde ich mich nach einer kürzlich durchgemachten Kropfoperation z.Zt. in einem sehr 51 Mietlisten, GemAT, Akte DP. Eine statische Auswertung dieser monatlichen Mietlisten findet sich in EPPLE, DPs in Türkheim, S. 25, 26. 52 Brief vom 16.11.1946, GemAT, Akte DP. <?page no="92"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 93 schlechten Gesundheitszustand. Weder ich und meine Kinder, noch mein verstorbener Mann war und sind irgendwie politisch belastet.“ In einem Brief von Josef Zacher wird die Wohnraumsituation in einer Türkheimer Mietwohnung wie folgt beschrieben: 53 „In einem Zimmer hat Hefele ebenfalls ein jüdisches Ehepaar [untergebracht]. Das Zimmer ist aber ein Durchgangszimmer [...]. Durch dieses Zimmer muss nämlich Hefele [, um] in sein Schlafzimmer [zu gelangen].“ 2.2. Probleme im Zusammenwohnen Das Zusammenleben auf engstem Raum brachte einmal einfache menschliche Probleme mit sich. So schreibt Josef Wachter, in dessen Haus ein DP untergebracht war, dass DPs in seiner Küche auch kochen müssen, „was naturgemäß eine sehr große Mehrbelastung im Haushalt darstellt“. 54 Weiters entstanden Neid und Missgunst bei Türkheimern, die nicht der NSDAP angehört hatten und doch Wohnraum zur Verfügung stellen mussten, wohingegen sie andere Bürger für bevorzugt hielten. So erhob der Türkheimer Josef Wachter Einspruch 55 gegen weitere Einquartierungen in sein Haus und begründet dies unter anderem wie folgt: „Ich erlaube mir, hier noch darauf hinzuweisen, dass das Wohnungsamt besser daran tun würde, in Häusern wie Dr. Bernhart, Apotheker, Sting, Dr. Albrecht usw. [um Wohnraum] nachzuschauen, als bei an und für sich schon eingeschränkten Familien weitere Beschlagnahmen durchzuführen. Solange diese Herrschaften ganze Fluchten von Häusern bewohnen können, kann einem unter gar keinen Umständen zugemutet werden, sich weiter einzuschränken.“ Tatsächlich konnte der Türkheimer Kaufmann Sting bis 1947 durch gute Beziehungen zu der amerikanischen Verwaltung in Mindelheim verhindern, dass in seinem geräumigen Wohn- und Geschäftshaus Einquartierungen vorgenommen wurden, worüber sich viele Türkheimer aufregten. Auch Joseph Bernhart konnte eine Einquartierung abwenden. Am 13. Juni 1945 schrieb er: „Es drohte mir nachmittags neue Einquartierung. Nach Kenntnisnahme von meinem [amerikanischen] Schutzbrief wurde davon abstand genommen.“ Zwei Tage später erwähnt er: „Der [amerikanische] Offizier [...] versprach mir für meine Wohnung ein Limit off und verabschiedete sich bei der Hand mit verbindlichen Worten.“ Anscheinend waren noch im Sommer 1946 in dem geräumigen, nur von zwei Personen bewohnten Haus 56 Bernharts keine DPs untergebrachte. Nachdem 53 Brief vom 10.11.1947, GemAT, Akte DP. 54 Brief vom 26.9.1947, GemAT, Akte DP. 55 Brief vom 26.9.1947, GemAT, Akte DP. 56 Türkheim, Wörishofer Str. 10. <?page no="93"?> Alois Epple 94 am 19. September ein Offizier des CJC 57 in Begleitung von drei Juden in Bernharts Haus gekommen waren, um die Größe der Wohnung zu erfahren, ließ Bernhart „seine Beziehungen spielen“ und erreichte, dass kein DP einquartiert wurde, da dies für ihn eine „unerträgliche Zumutung“ gewesen wäre. 58 Die zwangsweise vorgenommenen Einquartierungen von DPs in Privathäusern belebten den immer noch vorhandenen Antisemitismus. Wenn sich dieser in Türkheim auch nicht direkt nachweisen lässt, so zeigen doch bestimmte Äußerungen sein latentes Vorhandensein. So setzte sich am 4. November 1946 der Türkheimer Salamander-Gewerkschaftsvorsitzender Oskar Stricker in einem Schreiben 59 dafür ein, „dass bei einem Salamanderarbeiter mit Nachtschicht nur solche Juden Quartier zugewiesen bekommen, die sich so ruhig verhalten, dass der Arbeiter unter Tag schlafen kann“. So stellte ein Wohnungseigentümer beim Wegzug der jüdischen Familie Moritz Schächter aus Türkheim Anfang Mai 1949 angeblich fest, dass in der nun freien Wohnung Wanzen waren. 60 So schrieb Joseph Bernhart am 11. Juni 1945 in sein Tagebuch: 61 „Aus manchen Häusern, in denen sie [die DPs] untergebracht sind, kommen Klagen wegen übler Aufführung jüdischen Mädchen. In den kleinen Kasinos der Offiziere helfen sie die Abende und Nächte verschönen.“ Diese drei Beispiele zeigen, dass es noch immer die Vorurteile gab, dass die jüdischen DPs laut, dreckig und unmoralisch sind. Ein Türkheimer 62 weiß noch heute von einem Streit zwischen dem 1937 nach Türkheim gezogenen Bauern und überzeugtem Parteigenossen Otto Pirmann 63 und einem bei ihm einquartieren jüdischen DP zu berichten. Dieser Streit hatte das sofortige Eingreifen der Amerikaner zur Folge. Eine andere Auseinandersetzung wurde nach Auskunft der Landpolizei so dokumentiert: „In Türkheim zog ein Streit zwischen einem deutschen Hausbesitzer und vier Juden 250 Personen an und es drohten Gewalttaten. Die bayerische Landpolizei rief das Militär zu Hilfe. Die Menge löste sich erst auf, als ein kleiner Panzer ankam und einige Schüsse in den Mob feuerte.“ 64 Zahlreiche Türkheimer erhoben Einspruch gegen eine Belegung ihrer Wohnungen mit jüdischen DPs und weigerten sich, diese in ihr Haus zu lassen. Ein 57 CIC = Counter Intelligence Corps, ehemalige, dem Verteidigungsministerium unterstehende Behörde der amerikanischen Streitkräfte für militärische Abwehr; heute Defence Intelligence Agency. 58 W EITLAUFF , Tagebücher, 27.9.1946, 292-294. 59 Brief vom 4.11.1946, GemAT, Akte DP. 60 Brief vom Mai 1949, GemAT, Akte DP. 61 W EITLAUFF , Tagebücher, 11.6.1945, 228. 62 Freundlicher Hinweis von Josef Endlich, geb. 1922. 63 E PPLE , Türkheim im 20. Jahrhundert, 31f. 64 K OLINSKY , After the Holocaust, 205, hier ins Deutsche übersetzt. Freundliche Mitteilung von Jim Tobias. <?page no="94"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 95 behördliches Schreiben an den Türkheimer Wohnungreferenten stellt fest: 65 „Sie werden gebeten, Herrn Moser (403) [heute Krautgartenstr. 5] nochmals darauf aufmerksam zu machen, dass er auf Grund des Notstandgesetzes verpflichtet ist, das besagte Zimmer an den D.P. Eitinger abzugeben. Sollten Sie nicht in der Lage sein, dies durchzusetzen, bitte ich Sie, die C.P. [Zivilpolizei] Mindelheim davon in Kenntnis zu setzen.“ Ausführlich dokumentiert ist die Unterbringung von jüdischen DPs im Bekleidungs- und Wohnhaus Birkenhauer in Türkheim, Maximilian-Philipp-Str. 18. 66 Dieses Beispiel zeigt, dass Konflikte entstanden, weil von allen Seiten Fehler gemacht wurden. So versuchte der Hausbesitzer Birkenhauer, eine Belegung seines Hauses durch mehrere jüdische DPs zu vermeiden, indem er Flüchtlinge einquartierte, für seine Verkäuferin ein weiteres Zimmer beanspruchte und weiteren Raum für „Umbauzwecke“ freihielt. Der Türkheimer Wohnungsreferent ließ es am nötigen Fingerspitzengefühl fehlen, indem er Herrn Birkenhauer, welcher gegen die Belegung Widerspruch eingelegt hatte, mitteilte, dass sein Haus sofort belegt wird. Auch der DP verhielt sich nicht korrekt, indem er sich illegal für das Zimmer, in welches er einquartiert werden sollte, einen Schlüssel besorgte. Schließlich gab es Probleme durch eine unklare Verteilung von Kompetenzen: So prüfte die Sonderregierungs-Kommission Schwaben die Verhältnisse bei Birkenhauer und stellte fest, dass für DPs bestimmten Räume bewohnbar sind, obwohl diese am 20. Juni 1947 vom Landratsamt-Kreiswohnungsamt Mindelheim als zweckgebunden und nicht für DPs verfügbar deklariert worden waren. 2.3. Miete Für die einquartierten DPs zahlte das Landratsamt eine Entschädigung an die Haus- und Wohnungseigentümer. Bis Oktober 1946 bekamen die „Vermieter“ für einquartierte DPs nur ein Lichtgeld. Es betrug sechs Reichsmark pro Person. Dies reichte in den meisten Monaten offensichtlich nicht aus, um die angefallenen Lichtrechnungen zu bezahlen. Ab 1. November 1946 zahlte das Landratsamt an die „Vermieter“ monatlich für jeden erwachsenen DP je sechs Reichsmark Lichtgeld und Mietgeld sowie weitere sechs Reichsmark als Bettabnutzungsgebühr. Für Kinder unter 14 Jahren wurde jeweils die Hälfte bezahlt. 67 Ärgerlich war, dass diese „Mieten“ oft erst nach mehrmonatiger Verzögerung gezahlt wurden. 68 Mit der 65 Brief (ohne Absender, wahrscheinlich vom Landratsamt Mindelheim) vom 18.10.1946, GemAT, Akte DP. 66 GemAT, Akte DP, „Sache Birkenhauer“. 67 Mietlisten und Brief des Türkheimer Wohnungsreferenten Pilling an die gräfliche Maldeghensch Gutsverwaltung, GemAT, Akte DP. 68 Bemerkung des Türkheimer Bürgermeisters vom 12.11.1948 an das Staatskommissariat für rassisch und politisch Verfolgte, GemAT, Akte DP. <?page no="95"?> Alois Epple 96 Währungsreform wurden diese „Mieten“ von Mai 1948 an rückwirkend auf ein Zehntel reduziert, dafür aber in DM ausbezahlt. 2.4. Verpflegung Unmittelbar nach Kriegsende wurden die jüdischen DPs im ehemaligen KZ-Lager bei Türkheim vom amerikanischen Militär und bald darauf von der UNRRA und amerikanischen Hilfsorganisationen verpflegt. 69 „Nachdem im Laufe des Sommers 1945 sich immer mehrere [jüdische DPs] im Ort Wohnung verschafften, wurde von der Militärregierung und der UNRRA angeordnet, dass das Lager [das ehemalige KZ bei Türkheim] aufgehoben und die Küche nach Türkheim-Ort zu verlegen sei“. 70 Schon am 4. Mai 1945 schrieb Joseph Bernhart in sein Tagebuch: „Unser Wirtshaus Zur Krone, vormals die Hochburg der Braunen, muss jetzt ausschließlich für Juden kochen“. 71 Bald darauf bemerkte der Wohnungsreferent der Gemeinde Türkheim: „Das Gasthaus Adler ist, seit dem Monat Oktober [1945] von der UNRRA beschlagnahmt und als Gemeinschaftsküche mit Speisesaal verwendet worden. Seit dem Monat Juni 1946 ist die Gemeinschaftsküche [wieder] in das Gasthaus zur Krone verlegt worden“. 72 Wurde ein jüdischer DP nicht von der UNRRA versorgt, so hatte er Anspruch auf deutsche Lebensmittelmarken mit Schwerarbeiterzulage und Gaststättenmarken. Dabei gab es Einzelfälle von Doppelversorgung, also Essen von der UNRRA und deutsche Lebensmittelmarken, mit der Konsequenz, dass alle DPs Mitte 1946 registriert wurden. Im Amtsblatt des Landkreises Mindelheim vom 29. August 1946 wurde mitgeteilt: „Von der 93. Lebensmittelkartenperiode ab erhalten verschleppte Personen (DP’s) soweit sie nicht im Besitz der neuen Ausweiskarte der UNRRA sind, Lebensmittelkarten nur mehr gegen Vorzeigen ihrer Ausweiskarten über die erfolgte Registrierung beim zuständigen Arbeitsamt.“ Spätestens vom 1. Oktober 1947 an mussten sich die DPs für eine Verpflegung durch die IRO oder deutsche Lebensmittelkarten entscheiden. 73 Zu Pessach 1947 war es für jüdische DPs möglich, ihre Lebensmittelbrotmarken in Fleischmarken umzutauschen. So konnte man in der 100. Zuteilungsperiode Marken für zweieinhalb Kilogramm Brot gegen Marken für zweieinhalb Kilogramm Fleisch eintauschen. An den Pessachfesttagen 1948 erhielt jeder jüdische DP vom 69 Freundliche Mitteilung von Hildegard Zweig, Jahrgang 1929, später verheiratet mit Arnold Zweig, dem ersten Vorsitzenden des Türkheimer Comitees. Vgl. auch H AGGENMÜLLER ; Von Weimarer Republik, Nazionalsozialismus und Nachkriegszeit, 246. 70 Brief des Türkheimer Bürgermeisters Singer an die CIC bei der Miligärregierung Mindelheim vom 2.9.1946, GemAT, Akte DP. 71 W EITLAUFF , Tagebücher, 20.5.1945, 198. 72 Schreiben vom Wohungsreferenten Pilling, GemAT, Akte DP. 73 StAA: Ernährungsamt-B Mindelheim 105. <?page no="96"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 97 Ernährungsamt des Mindelheimer Landratsamtes zusätzlich 300 Gramm Fleisch und drei Eier. 3. Jüdisches Leben in Türkheim „In Türkheim wurde der damals [1945] noch schöne Platz vor der Kronenwirtschaft 74 zum Handels- und Informationszentrum. Schon ab dem Morgen standen sie [die jüdischen DPs] dort herum, die Händler, oft ehemalige KZ Insassen, die auf ein Visum nach Israel oder in die USA warteten. Es muss Jiddisch gewesen sein, was sie untereinander sprachen. [...] Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass sich die Juden täglich auf dem Kronenplatz trafen, wo sie Waren und Informationen handelten. Da sie fast ausschließlich Jiddisch sprachen, erinnerte Türkheim damals an einen Platz im galizischen Städel.“ 75 Im Allgemeinen gab es wenig Kontakt zwischen DPs und Einheimischen. Am besten verstanden sich die Kinder und Jugendlichen. Sie waren noch unvoreingenommen und geschichtlich unbelastet. So berichtete eine Frau, 76 , dass sie damals mit den jüdischen Mädchen, welche in der Nachbarschaft einquartiert waren, spielte. Und Kreszentia Epple 77 sagte: „Wenn meine Tochter im Kinderwagen vor dem Haus lag, so kam oft eine Jüdin mit ihrer schwangeren Tochter, welche im Nachbarhaus einquartiert waren, vorbei und empfahl ihrer Tochter, das Baby intensiv anzuschauen, damit sie auch einmal ein so hübsches Kind bekommt“. Bekannt sind drei Eheschließungen zwischen jüdischen DPs und einheimischen Frauen. Der beste Kontakt bestand wohl von Vater und Sohn Zweig, welche von Oktober 1944 an im KZ bei Türkheim inhaftiert waren, mit der Türkheimer Schreinerfamilie Ruoss. Beide heirateten später die Schwestern Anneliese und Hildegard Ruoss. 78 3.1. Das jüdische Komitee Noch am 27. April 1945 ließen die Amerikaner durch den Türkheimer Bürgermeister verkünden: „Im Franzosen- und Judenlager ist je ein Vertrauensmann von den eigenen Leuten aufzustellen.“ 79 Der jüdische Vertrauensmann, auch „Bürgermeister“ genannt, 80 war Leo Zweig, ein ehemaliger Häftling des KZs bei Türkheim. 74 Dieser Platz wurde 1968 bebaut. 75 Schreiben von Hubert Eichheim, Jahrgang 1929, geboren in Türkheim, an den Autor. 76 Freundliche Mitteilung von Frau Antonyschin, Türkheim. Sie heiratete einen polnischen Zwangsarbeiter in Türkheim. 77 Freundliche Mitteilung von Kreszentia Epple, Türkheim. 78 Freundliche Mitteilung von Hildegard Zweig, Bad Wörishofen. 79 S INGER , Chronik, 32. 80 Freundliche Auskunft von Franz Haugg. <?page no="97"?> Alois Epple 98 Wie sich das jüdische Komitee hieraus entwickelte und welche Beziehungen zum Zentralkomitee der befreiten Juden bestanden, lässt sich aus den Türkheimer Archivunterlagen nicht klären. Anscheinend kam es innerhalb des jüdischen Komitees zu Spannungen zwischen den bereits anwesenden DPs und den neu zugezogenen polnischen DPs, worauf Leo Zweig seinen Posten abgab (Abb. 1). Abb. 1: Aufruf zur Wahl des jüdischen Selbstverwaltungskomitees in Türkheim (Repro: nurinst-archiv). <?page no="98"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 99 Zuerst hatte das jüdische Komitee seine Geschäftsstelle im ehemaligen KZ- Lager bei Türkheim. Als das Lager aufgehoben wurde, kam das Büro des Komitees in das Gasthaus Krone. Die Miete für dieses Quartier wurde vom Staatskommissariat der Regierung von Schwaben bezahlt. Nach einem Brand im Gasthaus Krone Anfang März 1949 81 - angeblich ist ein Ofen explodiert - schloss am 9. März 1949 das Staatskommissariat mit Franziska Fiederer einen Mietvertrag „über ein Blockhaus aus 1 Zimmer und 1 Küche als Ausweichquartier des jüdischen Komitees auf 4 Monate.“ 82 Die Aufgaben des jüdischen Komitees in Türkheim waren vor allem organisatorischer Art: So registrierte das Komitee Ankunft und Wegzug jüdischer DPs, um das Wiederzusammenfinden von getrennten Familien zu ermöglichen. 83 Es übernahm auch die Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung, welche von amerikanischen Hilfsorganisationen geliefert wurden. 84 Weiters gehörten zu den Aufgaben des jüdischen Komitees, in Zusammenarbeit mit der UNRRA bzw. der IRO, die Organisation der ärzlichen Versorgung der DPs. So gab es in Türkheim einen jüdischen Arzt. Dieser praktizierte zuerst in den Räumen des Türkheimer Arztes Dr. Lotze 85 und erhielt dann, wegen Zunahme der DP-Patienten, die Arztwohnung des gefallenen Dr. Hegler. 86 Hauptaufgabe des Komitees war die Organisation und gerechte Verteilung von Wohnraum in Zusammenarbeit mit dem Türkheimer Wohnungsreferenten und der UNRRA bzw. der IRO in Bad Wörishofen. Aus diesem Grund hatte das jüdische Komitee einen eigenen Wohnungsreferenten. In der Akte „Birkenhauer“ 87 steht diesbezüglich: „Wird ihnen [Herr Birkenhauer] von dem hiesigen jüdischen Komitee, bzw. dessen Wohnungssachbearbeiter Herrn Spiro die zur Einweisung in Frage kommende jüd. Familie namhaft gemacht, mit der sie die weiteren näheren Abmachungen zu treffen haben.“ Eine weitere, für Juden bedeutende Aufgabe bestand darin, den im Wald nahe beim ehemaligen KZ verscharrten ca. 80 Häftlingsleichen 88 eine würdige Begräbnisstätte zu geben und mit einem Mahnmal an die grausame Vergangenheit zu erinnern. In Zusammenwirken mit dem Türkheimer Bürgermeister und den Amerikanern wurde beim ehemaligen KZ-Lager eine Gedenkstätte mit Friedhof geplant. Da die Planung recht schleppend verlief 81 Mindelheimer Zeitung, 6.3.1949. 82 GemAT, Akte DP. Das Blockhaus stand im Garten von Maximilian-Philipp-Str. 20. Dass hier auch eine kleine Synagoge eingerichtet war, wie Elmar Fiederer noch 2009 erzählte, ist eher unwahrscheinlich. 83 Solche Listen werden in den Unterlagen im GemAT, Akte DP, zwar erwähnt, sie sind jedoch nicht mehr vorhanden. 84 Freundliche Mitteilung von Hildegard Zweig, Bad Wörishofen. 85 Türkheim, Bahnhofstr. 2. 86 Türkheim, Oberjägerstr. 7; Brief vom 18.9.1946 im GemAT, Akte DP. 87 GemAT, Akte DP. 88 S INGER , Chronik, 33. <?page no="99"?> Alois Epple 100 und die Frage der Finanzierung zwischen den Ämtern hin und her geschoben wurde, war der Vorsitzende des jüdischen Komitees, Leo Zweig, dieses Bürokratismus leid und trat am 14. Juni 1946 als „Bauherr und Finanzier des Ehrenmals und des Friedhofs“ auf und legt einen Finanzierungsplan vor. Um diese Blamage zu verhindern wurde nun von deutscher Seite recht schnell das Ehrenmal gebaut. 89 3.2. Religion, Arbeit, Schule, Ausbildung und Freizeit Über das religiöse Leben lässt sich nur sehr ausschnitthaft berichten. So arbeitete Aloisia Sommer, Flüchtlingsfrau aus dem Egerland, am Schabbat bei einem jüdischen DP, welcher an diesem Tag keine Tätigkeiten verrichten konnte. 90 Zu Beschneidungs- und Hochzeitsfesten kam ein Augsburger Rabbi nach Türkheim. Ein Türkheimer 91 berichtete: „In unserer Nachbarschaft waren Juden nur bei der Familie Wachter untergebracht. Dort hat es entweder eine Beschneidung oder eine Hochzeit gegeben. Ich erinnere mich, wie die alte Frau Wachter voller Bewunderung von der Frömmigkeit der Teilnehmenden erzählte.“ Die meisten DPs dürften in Türkheim keiner Arbeit nachgegangen sein. Es gibt nur wenige Hinweise auf eine Beschäftigung: So soll ein DP namens „Abraham“ in der Gastwirtschaft Krone ein Gemischtwarengeschäft betrieben haben. 92 Ein DP namens Abram Traube 93 war Pelzhändler. 94 Werbung für ihre Geschäfte machten Szulim Silberzweig, 95 Kürschnerei, Maximilian Philipp Str. 10, sowie Isak Lustmann 96 & Ludek Szpiro, 97 „Textil-Kaufhaus“ im Gasthaus Adler. 98 An dem damals weit verbreiteten Schwarzhandel beteiligten sich auch Türkheimer DPs. 99 Einige fuhren hierzu bis zur Waizinger Wiese in Landsberg am Lech. 100 Wie streng die US-Behörde auch gegen Juden vorging, zeigt eine Meldung im Amtsblatt des Landkreises Mindelheim vom 25. Juli 1946. 101 Demzufolge verurteilte der Militär- 89 J OHANNES und U LRICH E PPLE , Mahnmal im Abseits (ohne Paginierung). 90 Freundlicher Hinweis von Alfred Sommer, Sohn von Aloisia Sommer, Jahrgang 1943. 91 Freundliche Mitteilung von Hubert Eichheim. 92 Freundliche Mitteilung von Franz Haugg, Jahrgang 1929, Türkheim. 93 Geboren am 3.3.1915. Sein Meldebogen mit Angaben über Herkunft und „Aufenthalten“ befindet sich im ET, Bestand Gemeinderegistratur. 94 Freundliche Mitteilung von Josef Endlich, Jahrgang 1922, Türkheim. 95 Geboren am 15.3.1917. Auch Zylberzwaig geschrieben. Sein Meldebogen mit Angaben über Herkunft und „Aufenthalten“ befindet sich im ET, Bestand Gemeinderegistratur. 96 Geboren am 15.3.1918. Sein Meldebogen mit Angaben über Herkunft und „Aufenthalten“ befindet sich im ET, Bestand Gemeinderegistratur. 97 Sein Meldebogen befindet sich im ET, Bestand Gemeinderegistratur. 98 Türkheimer Anzeigenblatt, 3.7.1948 und 10.7.1948, GemAT. 99 T OBIAS , Vorübergehende Heimat, 26f.; K ÖNIGSEDER , Lebensmut im Wartesaal, 135f. 100 Freundliche Mitteilung von Josef Endlich, Jahrgang 1922. 101 GemAT, Akte DP. <?page no="100"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 101 gerichtshof Mindelheim am 20. Juni 1946 Solnik Samuel und Borenstein Schmol „wegen Verstoßes gegen § 259 des deutschen Strafgesetzbuchs - Kauf von gestohlenen Sachen und Schwarzhandeltätigkeit - zu 9 bzw. 6 Monaten Gefängnisstrafe und anschließender Ausweisung aus dem Landkreis.“ Eine eigene DP-Schule gab es in Ermangelung von DP-Kindern im schulpflichtigen Alter in Türkheim nicht. Ein Türkheimer 102 weiß zu berichten, dass „beim Weberschmid“ 103 die DPs eine Mechanikerwerkstatt eingerichtet hatten und hier auch junge DPs ausbildeten. Wie in den meisten Camps, so gab es auch in Türkheim eine DP-Fußballmannschaft. Man spielte in der Verbandsrunde gegen Landsberg und Feldafing. 104 Mit dem Lastwagen des Türkheimer Bürgermeisters Singer fuhr man zu den Auswärtsspielen. 105 Franz Haugg erzählte: „Wir Buben durften auf dem LkW mitfahren, z.B. nach Landsberg. Wir durften dort aber nicht sagen, dass wir Deutsche waren. Wir bekamen Eis und Schokolade.“ 106 4. Jüdische DPs in der Umgebung von Türkheim Stefan Singer, der erste Nachkriegsbürgermeister von Türkheim, schreibt: „Die im OT-Lager befindlichen DP’s quartierten sich in der nächsten Umgebung, hauptsächlich aber in Türkheim, ein.“ 107 In einem Brief 108 an die amerikanische Militärverwaltung in Mindelheim schildert er die Situation ausführlicher: „Nach Einmarsch der US-Truppen quartierten sich mehrere Juden in Türkheim-Ort und in die umliegenden Ortschaften privat ein, und wurden auch von der Bevölkerung zum größten Teil aus Mitleid aufgenommen. Als weitere DPs nach Türkheim zogen und so die Aufnahmekapazitäten in Türkheim weit überschritten waren hat der Bürgermeister [von Türkheim] mit dem Führer des [DP] Lagers, 109 Herrn [Leo] Zweig, die umliegenden Orte besucht, und auch erreicht, dass dort auch etwa 100 Personen aufgenommen worden wären. Es kam jedoch nicht zur Durchführung, da sich die Juden weigerten, in die kleineren Orte zu gehen.“ 110 Anscheinend änderte sich diese Einstellung rasch: Denn in fast jedem Dorf der Umgebung von 102 Freundliche Mitteilung von Franz Haugg, Jahrgang 1929. 103 Türkheim, Tussenhauser Str. 1. 104 Türkheim spielte in der zweiten Liga des Rajon München 1. - Vgl. T OBIAS , Arojs mit baln, 107f. 105 Freundliche Mitteilung von Josef Endlich, welcher den Lastwagen fuhr. 106 Freundliche Mitteilung von Franz Haugg und Josef Endlich. 107 S INGER , Chronik, 33. 108 Dieser Brief vom 2.9.1946 befindet sich im Gemeindearchiv Türkheim, Akte DP. 109 Es handelte sich hier allerdings um kein „Lager“. Die DPs waren privat untergebracht. 110 Brief vom 2.9.1946, GemAT, Akte DP. <?page no="101"?> Alois Epple 102 Türkheim finden sich alsbald jüdische DPs. Freilich bildeten sie nicht immer eine eigene Community (Abb. 2). Ein US-Bericht über die Verhältnisse im Landkreis Mindelheim berichtet: „Im Januar 1946 kamen weitere polnische Juden in den Landkreis. Der Wohnraum wurde sehr knapp.“ 111 Im Mai 1946 wohnten jüdische DPs in Bad Wörishofen, Irsingen, Kirchdorf, Mindelheim, Ober- und Unterrammingen, Türkheim und Wiedergeltingen. 112 Im Herbst 1948 lebten im Landkreis Mindelheim 713 jüdische 111 Zit. in: H AGGENMÜLLER , Wörishofen, 246, übersetzt vom Autor. 112 F ASSL , Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, S. 876. Abb. 2: Auch in den Nachbargemeinden um Türkheim waren DPs untergebracht (Karte aus: Postkartengrüße aus dem Landkreis Unterallgäu, hrsg. vom Landkreis Unterallgäu, Mindelheim 1998, 10) . <?page no="102"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 103 DPs, davon 694 aus Polen, die meisten wohnten in Türkheim, der Rest verteilte sich auf die umliegenden Orte. Tab. 2: Jüdische DPs in umliegenden Orten von Türkheim 113 Sept. 1945 April 1946 April 1947 April 1948 Amberg >5 >5 (aus Polen) >0 Bad Wörishofen >44 >44 Ettringen >30 >23(aus Polen) >14 Irsingen >20 >35 >3 Kirchdorf 7 (aus Polen) >6 Mattsies >10 Rammingen >25 >71 >15 Stockheim (nur einmal werden hier jüdische DPs in den Ernährungsakten erwähnt) Wiedergeltingen >24 >17 >7 >13 Einen weiteren Hinweis auf DP-Communities um Türkheim liefert folgende Aktion: Am 25. Mai 1948 sollten die 73 jüdischen DPs mit ihren Kindern aus dem Kurhotel Kreuzer in Bad Wörishofen ausquartiert und auf folgende Orte verteilt werden: 39 Erwachsene und 13 Kinder sollten in Bad Wörishofen, 7 Erwachsene und 3 Kinder in Rammingen, 6 Erwachsene und 2 Kinder in Wiedergeltingen und 21 Erwachsene in Türkheim unterkommen. Allein, die „Glaubensgenossen“ in Bad Wörishofen wollten diese nicht aufnehmen. 114 4.1. Bad Wörishofen In Bad Wörishofen 115 wohnten neben baltischen und ukrainischen DPs auch jüdische DPs. Von hier aus betreute die UNRRA bzw. IRO die DPs am Ort und in der Umgebung. Hier standen auch Kurheime zur Unterbringung und ärztlichen Versorgung der DPs zur Verfügung. Teilweise waren die DPs auch in privaten Häusern bzw. Wohnungen untergebracht. Unmittelbar nach ihrer Befreiung wurden kranke ehemalige KZ-Häftlinge in Kurheime nach Bad Wörishofen gebracht, um hier zu gesunden. Für manche kam 113 Im Amtsblatt des Landkreises Mindelheim, 23.5.1946 (GemAT) steht, dass jede Gemeinde monatlich die Zahl der hier lebenden Juden dem Landratsamt melden muss. Diese Meldungen konnten jedoch weder im Landratsamt Mindelheim, noch im StAA gefunden werden. So wurde diese Tabelle erstellt aus dem „Akt für Ernährung“ Ernährungsamt-B Mindelheim 105 und Landratsamt Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740 im StAA. 114 StAA, Ernährungsamt-B Mindelheim 105. 115 StAA, Ernährungsamt-B Mindelheim 105; Stadtarchiv Bad Wörishofen, Akt 064, freundliche Einsicht gewährte Dr. Egon Happach-Gubi; vgl. H AGGENMÜLLER , Wörishofen, 245- 252. <?page no="103"?> Alois Epple 104 die Hilfe zu spät. So starben 29 jüdische DPs allein im Mai und vier im Juni 1945. 116 Etliche schwangere DPs aus den Nachbardörfern gingen nach Bad Wörishofen zur Entbindung. Am 12. November 1945 waren von den 2403 Ausländern 100 jüdische DPs im Josefsheim untergebracht, weitere in anderen Kurheimen und 83 in Privathäusern. Im März 1946 lebten ca. 270 117 jüdische DPs in Wörishofen, im Mai 1946 wurden nur noch 89 registriert, im Dezember 1946 waren es wieder 122, im Oktober 1947 258, im Dezember 1947 zählte man 270 jüdische DPs 118 und am 23. August 1948 waren noch 268 Juden polizeilich gemeldet. Am 1. April 1949 zog man Bilanz: 128 erwachsene Juden und 37 jüdische Kinder belegten bis dorthin, neben Kurheimen auch 67 private Zimmer und waren nun ausgewandert 119 . 4.2. Rammingen Am 5. Mai 1945 schreibt Joseph Bernhart in sein Tagebuch: 120 „Im Nachbarorte Rammingen ist polnische Wirtschaft unter polnischer Herrschaft. Der Terror über die Bauernhäuser erlaubt den Banden das üppigste Leben.“ Wahrscheinlich meinte er damit auch jüdische DPs aus Polen. Da Oberrammingen 121 nur wenige Kilometer vom KZ bei Türkheim entfernt lag und Lagerhäftlinge während ihrer Haftzeit auch in den Wäldern bei Oberrammingen arbeiteten, gingen einige ehemalige Häftlinge unmittelbar nach ihrer Befreiung in diesen Ort. Die meisten wurden in der dortigen Schule, wenige in Privathäusern ehemaliger NSDAP-Mitglieder einquartiert. Im September 1945 zählte man unter den 28 Ausländern 26 Juden aus Polen. 122 Im April 1946 kamen sechs weitere polnische DPs „mosaischen Glaubens“ in das Dorf. Am 1. August 1946 wurden 52 jüdische DPs und ein Kind, alle aus Polen, registriert. Als „Beschäftigungsort während des Krieges“ gaben alle „KZ-Lager“ an. Es gab hier auch ein Büro des „Central Committee of Liberated Jews“. Ihr Leiter wurde von den Einheimischen als „Bürgermeister“ bezeichnet. Dies zeigt, dass die Communities als eine eigene, abgeschlossene Gemeinschaft außerhalb der Dorfgemeinschaft gesehen wurde. 116 S CHUSTER , Wörishofen, 254f. Heute erinnert ein Gedenkstein auf dem Friedhof in Bad Wörishofen an die Verstorbenen. 117 StAA, BA Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740. 118 Die Communitie dürfte also noch über den Mai 1948 hinaus existiert haben. Vgl. K ÖNIG- SEDER , Lebensmut im Wartesaal, 262; H AGGENMÜLLER , Wörishofen, 245-252. 119 StABW, AO 22, freundliche Einsicht gewährte Dr. Egon Happach-Gubi. 120 W EITLAUFF , Tagebücher, 200. 121 Rammingen gliederte sich damals in die Dörfer Ober- und Unterrammingen. Falls nicht anders erwähnt, stammen die Informationen über Rammingen aus Unterlagen im Privatarchiv von Manfred Leinsle, Rammingen. 122 StAA, Landratsamt Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740. <?page no="104"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 105 Bezeichnend für das Verhältnis der jüdischen DPs zur einheimischen Bevölkerung war die sogenannte „Judenschlacht“. Zwei Dorfbewohner, welche diese „Schlacht“ miterlebten, erzählten den Vorgang so: 123 „Am 28. März 1946 fuhren Juden mit einem Motorrad auf dem Gehsteig. Sie wurden von einheimischen Jugendlichen darauf hingewiesen, dass man in Oberrammingen auf der Straße fährt. Die Jugendlichen gingen dann in ein Haus zum Kartenspielen. Plötzlich stürmten mehrere Juden in dieses Haus um die Jugendlichen zu verprügeln. Diese wehrten sich und es entstand eine Schlägerei. Der Bürgermeister löste die Feuersirene aus, woraufhin weitere Einheimische, teils mit Gabeln ausgerüstet, in die Schlägerei eingriffen. Zuerst die deutsche Polizei, dann die Amerikaner konnten den handfesten Streit beenden. Es wurden vier Ramminger und einige Juden verhaftet, nach Mindelheim gebracht, dort verhört und eingesperrt. Der Bastl drückte sich bei der Judenschlacht und wechselte, dank seiner Englischkenntnisse, zu den Juden bzw. Amis. Seitdem war er in Oberrammingen als ‚Judas‘ isoliert. Der Luis versteckte sich nach der Schlacht tagelang im Heustock. Am Tag nach der ‚Schlacht‘ patrouillierten Panzer durch das Dorf. Der Vorfall wurde am 6. Mai 1946 in Mindelheim vor dem Militärgericht Augsburg, welches angereist war, verhandelt. Es wurden einige Ramminger, aber auch Juden, bis zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt und in Landsberg a.L. eingesperrt“. Am 19. April 1946 teilte der Bürgermeister mit, dass in Unterrammingen ungefähr 430 Einheimische, 270 Flüchtlinge und 40 bis 50 Juden wohnen. 124 Im April 1948 hatten noch fünf jüdische DPs, davon vier aus Polen, eine deutsche Kennkarte zum Erhalt von Lebensmittelmarken. 125 Im April 1948 gab es noch 21, vermutlich jüdische, DPs, 20 waren „in letzter Zeit“ bereits abgewandert. 126 Im Dorf kam es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den DPs und Einheimischen. So berichteten Einheimische: 127 „Der Kirchenmeier Hans wurde, als er ins Holz fuhr, von Juden umkreist. Hans stand auf, nahm die Axt in beide Hände und sagte: ‚Em Erste wo herkommt schlag i da Grend mitta auseinander‘. Es traute sich keiner.“ „Der damalige Bürgermeister war auch dabei mit dem Kommentar ‚Schlagets tot die Juden‘. Er ging für ein Jahr in den Bau.“ „Maurer Josef schlug am meisten zu. Als dann am nächsten Tag ein Jude mit einem Ami auftauchte und ihn der Schlägerei bezichtigte[,] schlug ihn Schäfflers Sepp auf der Stelle mit einer Geraden nieder. Komischerweise ist Josef Maurer bei der Verhandlung nichts passiert.“ 123 Nach einer Erzählung von Johann und Stefan Völk, Oberrammingen, 24.2.2004. Diese Erzählung wurde von Manfred Leinsle auf Kassette aufgenommen. Dieser Vorgang wird auch bei B RENNER , Nach dem Holocaust, 79, beschrieben. 124 Nach Kopien von Unterlagen der Gemeinderegistratur Rammingen im Privatarchiv von Manfred Leinsle, Rammingen. 125 StAA Ernährungsamt-B Mindelheim 105. 126 StAA, Landratsamt Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740. 127 Aufzeichnungen mit Privatarchiv von Manfred Leinsle, Rammingen. <?page no="105"?> Alois Epple 106 4.3. Wiedergeltingen Unmittelbar nach Auflösung des KZs bei Türkheim dürften ehemalige Häftlinge auch in das nahe Wiedergeltingen gegangen sein. Sie waren hier in Privatwohnungen, meistens von früheren Parteigenossen, einquartiert und hatten im alten Rathaus, südliche der Pfarrkirche, eine kleine Synagoge eingerichtet. Wiedergeltingerinnen sollen „Verhältnisse“ mit den DPs gehabt haben und dafür mit Schokolade und Zigaretten versorgt worden sein. Die Einheimischen trieben mit den DPs informellen Handel. Auch kam es zwischen einquartierten DPs und Wohnungsbesitzern zu den üblichen Streitigkeiten. 128 Zahlenmäßig lassen sich nur die DPs nachweisen, welche deutsche Lebensmittelmarken erhielten. Demzufolge verteilte das jüdische Komitee Wiedergeltingen am 20. April 1948 an 14 bis 18 jüdische DPs deutsche Lebensmittelkarten. 129 4.4. Ettringen In Ettringen erinnert man sich noch an etliche jüdische DPs, welche im Gut Ostettringen einquartiert waren, von den Amerikanern versorgt wurden und später nach Israel auswanderten. Auch im Gasthaus Adler waren Juden untergebracht, wie beispielsweise ein Herr Goldstein, welcher später nach Kanada ging. Einige DPs sollen deutsche Flüchtlingsmädchen geheiratet haben. 130 Im November 1945 erhielten zumindest 31 jüdische DPs Lebensmittelmarken. Im März 1946 waren unter den 47 Ausländern in Ettringen 24 polnische Juden. 131 4.5. Irsingen Im September 1945 zählte man hier 41 polnische Juden, 32 von ihnen erhielten Lebensmittelkarten, die restlichen wurden anscheinend von der UNRRA in Bad Wörishofen versorgt. Im Zollhaus, einem Gutshof nördlich von Irsingen, waren zu dieser Zeit fünf polnische Juden untergebracht. 132 Im November 1945 gab es in Irsingen „21 Juden aus Polen“. 133 Der Chronist 134 erwähnt am 12. Mai 1945 „einige Polen“ in Irsingen. Am 10. Februar 1946 schreibt er: „Im Dorf Irsingen sind 97 Evakuierte, 46 Ausländer, davon 36 Juden, 8 Rumänen und 2 Polen“. Es ist also 128 Freundliche Auskunft vom ehemaligen Bürgermeister von Wiedergeltingen, Herrn Hermann Singer, Jahrgang 1940. 129 StAA: Ernährungsamt-B Mindelheim 105 und Landratsamt Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740. 130 Freundliche Mitteilung von Dr. Martin Kleint sen., Ettringen. 131 StAA Ernährungsamt-B Mindelheim 105. 132 StAA Ernährungsamt-B Mindelheim 105. 133 StAA, Landratsamt Mindelheim, vorläufige Nr. 739-740. 134 F REI , Irsingen, 116f. <?page no="106"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 107 anzunehmen, dass die meisten jüdischen DPs in der zweiten Hälfte 1945 zuwanderten. Am ersten März 1946 zählte man 36 jüdische DPs, darunter 26 ehemalige Häftlinge des KZs Dachau und 10 DPs aus anderen KZs. 135 Im April 1948 erhielten noch 15 jüdische DPs deutsche Lebensmittelkarten. 136 Anscheinend gab es in Irsingen, heute ein Ortsteil von Türkheim, keine Community, wohl aber ein Komitee, welches beispielsweise die Lebensmittelverteilung organisierte. Der Leiter dieses Komitees hieß Abramsohn Abraham. 137 5. Resümee Am 27. April 1945 befreiten Amerikaner die jüdischen Häftlinge im KZ bei Türkheim (Abb. 3). Ungefähr 150 der befreiten Juden, meist aus Polen, blieben hier und wurden in Privathäusern einquartiert. Weitere jüdische DPs zogen nach Türkheim. Auch war ihre Geburtenrate recht hoch. Im Herbst 1946 wohnten fast 400 jüdische 135 StAA Ernährungsamt-B Mindelheim 105. 136 StAA, Landratsamt MN, vorläufige Nr. 739-740 137 StAA Ernährungsamt-B Mindelheim 105. Abb. 3: Den Jahrestag ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus feierten die jüdischen DPs mit einem Umzug durch Türkheim (Foto: ushmm 59813). <?page no="107"?> Alois Epple 108 DPs im Ort. Von da an ging diese Zahl zurück und 1950 verließen die letzten DPs Türkheim. Im Gegensatz zu anderen Orten wohnten die DPs hier nicht in abgeschlossenen Lagern, sondern waren fast ausschließlich in Privathäusern untergebracht. Hier mussten sie auf engstem Raum leben. Diese spezielle Situation führte zu Spannungen und manchmal auch zu Feindseligkeiten zwischen den Einquartierten und den Einheimischen. Die Miete für die Unterbringung der DPs zahlte das Landratsamt, die Versorgung übernahm anfänglich die UNRRA bzw. die IRO, später konnten DPs auch deutsche Lebensmittelmarken beantragen. Die DPs organisierten sich in einem jüdischen Komitee. Wichtigste Aufgaben dieser Selbstverwaltungseinrichtung war die gerechte Verteilung von Hilfslieferungen, die Organisation einer medizinischen Versorgung, die Verteilung der DPs auf die Privatwohnungen und die Errichtung einer würdigen Begräbnisstätte für die im KZ gestorbenen und ermordeten Juden. Aber nicht nur in Türkheim, sondern auch in den Dörfern der Umgebung waren jüdische DPs in Privathäusern untergebracht. Im Gegensatz zu manchen DP-Lagern gab es hier, soweit bekannt, keine Schule und Ausbildung für jugendliche DPs. Das Leben in Türkheim und Umgebung wurde von den DPs wohl als kurzfristiges Durchgangstadium angesehen, welches bald vorbei sein sollte. Quellen und Literatur Archive StAA = Staatsarchiv Augsburg StABW = Stadtarchiv Bad Wörishofen GemAT = Gemeindearchiv Türkheim ET = Einwohnermeldeamt Türkheim Literatur M ICHAL B RENNER , Nach dem Holocaust - Juden in Deutschland 1945-1950, München 1995. A NGELIKA E DER , Flüchtige Heimat - Jüdische Displaced Persons in Landsberg am Lech 1945 bis 1950, München 1998. A LOIS E PPLE (Hrsg.), Türkheim im 20. Jahrhundert, Türkheim 2005. -, KZ Türkheim, Bielefeld 2009. -, DPs in Türkheim, in: Türkheimer Heimatblätter 77 (2010), 24-26. J OHANNES und U LRICH E PPLE , Mahnmal im Abseits - Die Geschichte des KZ-Ehrenfriedhofs in Türkheim, Arbeit zum Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“, Türkheim 1993. -, Die Geschichte des KZ-Ehrenfriedhofs in Türkheim, in: Türkheimer Heimatblätter 18 (1995), 1-8. <?page no="108"?> Jüdische DPs in Türkheim und Umgebung 109 P ETER F ASSL (Hrsg.), Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, I/ 2. Archivführer, Augsburg 1993. A NTON F REI , Irsingen im 20. Jahrhundert, in: A LOIS E PPLE (Hrsg.), Türkheim im 20. Jahrhundert, Türkheim 2005, S. 109-136. M ARTINA H AGGENMÜLLER , Von Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit, in: R EINHARD S EITZ (Hrsg.), Wörishofen - Auf dem Weg zum Kneippkurort, zu Bad und Stadt, Lindenberg 2004, 235-252. E VA K OLINSKY , After the Holocaust, London 2004. A NGELIKA K ÖNIGSEDER / J ULIANE W ETZEL , Lebensmut im Wartesaal - Die jüdischen DPs im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M. 1994. J OSEPHINE L EIMINGER , Displaced Persons in Türkheim, maschinenschriftliche Facharbeit am Joseph-Bernhart-Gymnasium, Türkheim 2011 R EMIG P ASTERNAK , Schlomo Pasternak - ein jüdisches Schicksal, in: Türkheimer Heimatblätter 36 (1999), 1-8. M ARIE P INHAS -L IPSTADT , Bericht eines ehemaligen Häftlings im KZ Türkheim, Pinhas-Lipstadt, in: Türkheimer Heimatblätter 24/ 25 (1996), 11-18. I SRAEL S CHWIERZ , Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, München 1988. K ARL S CHUSTER , In den dunklen Jahren der Gewaltherrschaft ..., in: R EINHARD S EITZ (Hrsg.), Wörishofen - Auf dem Weg zum Kneippkurort, zu Bad und Stadt, Lindenberg 2004, 253- 255. S TEPHAN S INGER , Chronik von Türkheim, Bad Wörishofen 1957. J IM G. T OBIAS , Vorübergehende Heimat im Land der Täter, Nürnberg 2002. -, Arojs mitn bal cu di tojznter wartnde cuszojer. Die Fußballvereine und -Ligen der jüdischen Displaced Persons 1946-48, in: J IM G. T OBIAS / P ETER Z INKE (Hrsg.), nurinst 2006. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2006, 105-120. M ANFRED W EITLAUFF (Hrsg.), Joseph Bernhart - Tagebücher und Notizen 1935-1947, Weißenhorn 1997. <?page no="110"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 1 : A Heim - die Zeitung der jüdischen DPs in Leipheim Nicola Schlichting Als die erste Ausgabe von A Heim am 19. Februar 1946 erschien, klingt aus den einleitenden Worten des Redaktionskollegiums der ganze Stolz über ihr gelungenes Werk und seine Bedeutung heraus: „Eine frische Zeitung legen wir euch vor, jüdische Einwohner aus dem Lager Leipheim.“ Mit einem „neuen Blümchen“ vergleichen die Redakteure ihre Zeitung, das nun wieder in der „unreinen braunen Erde“ Deutschlands wächst und hoffentlich blüht und gedeiht. Ein Signal für das Weiterleben sollte A Heim sein, die es sich selber zum Ziel setzte, „die Leipheimer Einwohner zu ermahnen, zu erziehen und auf die anstehenden Aufgaben hinzuweisen“. 2 Mit den jüdischen DP-Zeitungen kam es zum Wiederaufleben eines jüdischen Pressewesens in Deutschland, dem mit dem Novemberpogrom von 1938 ein Ende gesetzt worden war. Danach wurden sämtliche jüdischen Presseerzeugnisse verboten und Juden in Deutschland hatten nur noch die Möglichkeit, sich mittels des vom Propagandaministerium gelenkten, kontrollierten und zensierten Jüdischen Nachrichtenblattes über Verordnungen, Gesetze, aber auch Gemeindebelange, mögliche Emigrationsländer und einen großen Anzeigenteil zu informieren. 3 Ob diese Zeitung wirklich als jüdische Zeitung zu kategorisieren ist, sei dahingestellt, A Heim, wie auch die vielen anderen DP-Zeitungen in Deutschland, war jedenfalls explizit von Juden für Juden hergestellt worden. Auch sie sind ein „unersetzbares Material, um den späteren Betrachter in die Stimmung und Atmosphäre der Zeit zu versetzen“, 4 umso verwunderlicher ist es, dass die Erforschung der DP-Presse bislang noch weitestgehend ein Desiderat darstellt. Vereinzelt wurden einige Zeitungen untersucht bzw. als historische Quelle herangezogen, 5 doch eine systematische Gesamtdarstellung fehlt bis heute. Selbst in der Forschungsreihe Die jüdische Presse - Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum, wird dem Thema der DP-Presse unter dem Titel Ausdruck einer Parallelgesellschaft - Linz an der Donau ein jüdisches Presse- und 1 „Wir wollen unsere Stimme und unser Wort erklingen lassen“. Cu undzere Lejner, in: A Heim, 19.2.1946. 2 „Jüdische Einwohner des Leipheimer DP-Lagers, eine neue Zeitung legen wir euch vor.“ Cu undzere Lejner, in: A Heim, 19.2.1946. 3 Vgl. dazu M AIER , Das Jüdische Nachrichtenblatt. 4 M OMMSEN , Zeitung als historische Quelle, 251. 5 Vgl. u.a. S CHLICHTING , Öffnet die Tore; G IERE , Wir sind unterwegs; Unzer Sztyme; T OBI- AS , Vorübergehende Heimat. <?page no="111"?> Nicola Schlichting 112 Kulturzentrum? 6 bislang nur ein einziger Artikel gewidmet; nichts erfährt man aber über die umfangreiche und vielfältige DP-Presselandschaft in den deutschen Besatzungszonen, die immerhin auf 150 Titel, darunter Zeitungen, Zeitschriften und Bulletins zurückblicken kann. 7 Mit dem vorliegenden Beitrag wird also eine echte Forschungslücke geschlossen. 1. Zur Geschichte der DP-Zeitungen Die Geschichte der jüdischen DP-Presse begann noch vor der Kapitulation Hitler- Deutschlands: Bereits am 4. Mai 1945 erschien in Buchenwald die jiddische Zeitung Techiat ha-Metim (Auferstehung der Toten), 8 bestehend aus sechs handschriftlichen Seiten. In Buchenwald konnten die Herausgeber auf organisatorische Strukturen der KZ-Zeit zurückgreifen und ihre Zeitung sollte „der Anfang einer sich neu entwickelnden Presse sein, die würdig sein soll, die Fahne der jüdischen Kultur und des freien jüdischen Arbeiterwortes zu tragen“. 9 Und die Sehnsucht der Überlebenden nach dem jüdischen Wort war groß. Zu lange waren die Menschen abgeschnitten von Zeitungen und zu lange hatten sie auf den Anblick der vertrauten und geliebten hebräischen Buchstaben verzichten müssen. Nach wenigen Wochen folgten daher auch in anderen ehemaligen KZ- und DP-Lagern jüdische Zeitungen. In Dachau erschien etwa die hebräische Zeitung Nitzotz (Der Funke), deren Geschichte besonders bemerkenswert ist. Dieses Organ der zionistischen Jugendbewegung Irgun Brit Zion konnte bereits an eine Vorkriegstradition anknüpfen: seit 1940 wurde sie, zunächst unter sowjetischer Besatzung in Kaunas, später dann unter den schwierigen Bedingungen in den Dachauer KZ-Außenlagern Kaufering I und II herausgegeben. 10 In Belsen folgte am 12. Juli 1945 Unzer Sztyme, 11 am 8. bzw. 26. Oktober 1945 die Landsberger Lagerzeitung und Dos fraje Wort aus Feldafing, am 12. bzw. 20. Dezember Bamidbar (In der Wüste) aus Föhrenwald und Unzer Mut aus Zeilsheim. 12 Eingedenk der jüdischen Tradition, in der das geschriebene Wort schon immer einen hohen Stellenwert hatte, mag diese ungewöhnliche Aktivität der Überlebenden nach der Shoa nicht verwundern. Sicherlich konnten die Zeitungsmacher auf eine lange Tradition jüdischer Presseerzeugnisse zurückblicken: So erschien die erste 6 J OHN , Ausdruck einer Parallelgesellschaft. 7 B AKER , Periodicals, VI. 8 YIVO DPG fol. 1039. 9 L EWINSKY , Displaced Poets, 23. 10 L EWINSKY , Displaced Poets, 27. 11 Zur DP-Zeitung Unzer Sztyme vgl. S CHLICHTING , Öffnet die Tore, 31-36. 12 B AKER , Periodicals. <?page no="112"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 113 jiddische Zeitung der Welt bereits Ende des 17. Jahrhunderts in Amsterdam unter dem Titel Dinstagishe un Fraitagishe Kurantn. 13 Vor allem in Osteuropa gab es eine Fülle an jiddischen Publikationen, ob in Russland, Rumänien, Ungarn oder Polen. 14 Und auch diese Blätter sahen „ihre primäre Aufgabe eben nicht [...] in der Information des Lesers“, sondern wollten hauptsächlich „Bildung vermitteln und moralischer Wegweiser sein“. 15 Dieses Ziel hatten sich die Herausgeber der DP-Zeitungen auf ihre Fahnen geschrieben und so mag sich auch das breit gefächerte Spektrum der Publikationen erklären. Zunächst gab es allgemeine, überregional erscheinende Zeitungen, wie etwa die Landsberger Lagerzeitung (später Jidische Zeitung), das Wochnblatt aus Belsen, Unzer Weg aus München oder Unzer Wort aus Bamberg. Diese Druckerzeugnisse erhoben den Anspruch, für die Mehrheit der Shoa- Überlebenden, oder She’erit Haplejta, 16 wie sie sich selbst nannten, zu sprechen, was auch die Untertitel zum Ausdruck bringen, zum Beispiel Allgemeine nationale Zeitung gewidmet den Interessen der She’erit Haplejta in Deutschland oder Organ der She’erit Haplejta der britischen Zone. Weiterhin existierte in fast jedem DP-Lager eine eigene Zeitung und daraus resultierend eine Vielzahl an regional bzw. örtlich erscheinenden Blättern wie beispielsweise Ojf der Fraj (In Freiheit) aus Stuttgart und A Heim aus Leipheim. Zusätzlich gab es ein großes Angebot an politischen Zeitungen, das heißt Publikationen der verschiedenen zionistischen oder religiösen Gruppierungen, wie etwa die Bafrayung oder die Neue Welt, herausgegeben von der linken Poale Zion 17 in München, Unzer Welt, von den Revisionisten, 18 Dos jüdische Wort, Zentralorgan der Agudat Israel 19 in Deutschland oder Oif der Wach, die Zeitung des Haschomer Hazair. 20 Darüber hinaus wurde ein breites Spektrum an Fachzeitungen angeboten: zu kulturgesellschaftlichen Themen wie Hemshech (Fortsetzung), einer Zeitschrift für Literatur und Kunst, und Fun leztn Churbn (Von der letzten Zerstörung), zur Geschichte des jüdischen Lebens im Nationalsozialismus, mit wissenschaftlichem Inhalt, zum Beispiel Technik und Arbet, ein Journal zu allgemeinen Technik- und Ingenieursfragen, oder der Landwirtschaftliche Wegweiser, bis zur Jidischen Sport-Zeitung. Dennoch war die Publikation einer Zeitung durch die jüdischen Überlebenden alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil, die Herausgeber standen vor einer Vielzahl von Problemen. Lässt man alle Aspekte der Logistik und Materialbeschaffung außen vor, fehlende Arbeitsräume, Tische und Stühle, Schreibmaterial, ganz 13 P ACH , Die Amsterdamer Kurantn, 17-25. 14 Vgl. allgemein M ARTEN -F INNIS / W INKLER , Jüdische Presse im europäischen Kontext. 15 M ARTEN -F INNIS , Die jüdische Presse, 77. 16 Dt. Rest der Geretteten, Bezeichnung für die Überlebenden der Shoa. 17 Sozialistisch-zionistische Partei. 18 Radikal-zionistische Partei. 19 Antizionistische, religiös-orthodoxe Bewegung. 20 Sozialistisch-zionistische Jugendbewegung. <?page no="113"?> Nicola Schlichting 114 abgesehen von der überall herrschenden Papierknappheit, so war doch zunächst die Frage nach geeigneten und willigen Redakteuren und Journalisten elementar. Sechs Millionen ermordete Juden waren zu beklagen - wie viele Zeitungsmacher befanden sich da unter den wenigen Tausenden Überlebenden? Sicherlich waren die Initiatoren der DP-Blätter frühere Kulturschaffende, wie etwa der verantwortliche Redakteur von Undzer Weg, Levi Shalitan, der schon vor dem Krieg in Kaunas für eine Zeitung gearbeitet hatte. 21 Nachdem den wenigen professionellen Redakteuren und Journalisten nur vereinzelt geschultes Personal zur Verfügung stand, verfassten diese häufig unter Pseudonymen die Mehrzahl der Artikel selbst. Und dies wohl nicht nur, um fehlendes Personal auszugleichen, sondern auch, um ein gewisses Maß an Qualität zu sichern, „ein Luxus, den sich die Verfasser der ersten Ausgaben nicht leisten konnten.“ 22 Ein weiteres Problem war die Sprache der Zeitungen beziehungsweise deren Schriftbild. Die vorherrschende Sprache, die von den mehrheitlich aus Osteuropa stammenden Überlebenden der Shoa gesprochen und verstanden wurde, war das Jiddische. Doch leider „haben wir nicht die Möglichkeit, unsere jüdischen Wörter in jüdische Buchstaben zu kleiden“, 23 da es im Nachkriegsdeutschland nahezu unmöglich war, hebräische Satzmaschinen aufzutreiben. Im DP-Lager Belsen führte das zum Beispiel dazu, dass die ersten Ausgaben von Unzer Sztyme komplett handschriftlich erschienen. 24 In den meisten Fällen wurde jedoch der jiddische Text transkribiert und mit lateinischen Buchstaben gedruckt, was immer wieder zu Reibereien hinsichtlich der korrekten Schreibweise führte. 25 Lediglich einige Überschriften und oftmals die Titel der Zeitungen, wie auch in Leipheim, wurden mit hebräischen Typen dargestellt. Manchmal gab es auch Zwischenlösungen, wie etwa im Lager Zeilsheim, wo nach Auskunft eines damaligen Mitarbeiters der Zeitung Unterwegs, die beiden ersten und die beiden letzten Seiten in hebräischer, der Rest der Zeitung in lateinischer Schrift gedruckt wurde. 26 Nur am Rand soll hier erwähnt werden, dass die Frage der Sprache der Zeitungen, Hebräisch, Jiddisch in hebräischer Quadratschrift oder lateinischen Buchstaben, nicht nur ideologischer Natur war, sondern auch eine der Praktikabilität. Vom Zentralkomitee, den Schriftstellern und meisten 21 Vgl. L EWINSKY , Displaced Poets, 33. 22 Vgl. L EWINSKY , Displaced Poets, 41. 23 Cu unzere lejner, in: A Heim, 19.2.1946. 24 Nach den ersten vier handschriftlichen Ausgaben gab es Dank einer Spende eine Schreibmaschine mit hebräischen Lettern und schließlich auch eine hebräische Druckerpresse. Vgl. S CHLICHTING , Öffnet die Tore, 31f. 25 Vgl. dazu A BRAHAM S ZULEWICZ , Fun szpaltn dem Jam - bizn szpaltn dem Otem, in: A Heim, 11.4.1946. In diesem Artikel (dt. „Vom Spalten des Meeres bis zur Spaltung des Atoms“) mokiert sich der damalige Herausgeber Abraham Szulewicz ein wenig über Diskussionen, die sich mit der korrekten Schreibweise der jiddisch-hebräischen Wörter befassen. 26 Vgl. Interview mit Arno Lustiger, November 2009 durchgeführt von Jim G. Tobias, nurinstarchiv. <?page no="114"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 115 Redakteuren gewünscht, konnte doch ein Großteil der She’erit Haplejta die hebräischen Buchstaben schlicht nicht lesen, da die vielen überwiegend jungen Überlebenden diese nie gelernt hatten. 27 Die Auflage der meisten Blätter war anfangs eher gering, von wenigen Hundert bis zu einigen Tausend, 28 stieg dann aber, insbesondere bei den überregionalen Zeitungen, relativ schnell an. Die Höhe der Auflage stand von 1947 an in einem Zusammenhang mit der Lizenzvergabe, von der alle Druckerzeugnisse im zerstörten Deutschland abhängig waren. Im Frühjahr 1946 bestimmte die amerikanische Militärregierung, auch aufgrund der vorherrschenden Papierknappheit, eine formelle Genehmigung für die DP-Zeitungen. Nach langen Diskussionen, welche Zeitungen und in welchem Umfang erhalten bleiben sollten, wurden gegen Ende 1946 in der amerikanischen Zone fünf Blätter offiziell zugelassen: Unterwegs (Zeilsheim), Najer Moment (Regensburg), Unzer Wort (Bamberg) sowie die überregionalen Zeitungen Unzer Weg und Jidisze Cajtung (ehemals Landsberger Lagerzeitung). Sie durften zusammen 60 000 Stück drucken, wobei das ZK-Organ Unzer Weg mit 30 000 Exemplaren wöchentlich den größten Anteil hatte. Für die verbleibenden vier Zeitungen wurde die Auflage auf je 7 500 pro Woche beschränkt. 29 Über die lizenzierten Zeitungen hinaus existierte jedoch weiterhin eine Vielzahl von Lagerbulletins und Verbandsblättern, die über Spenden der Mitglieder, des Joint oder der jeweiligen Parteien finanziert wurden und, obwohl ohne Erlaubnis der Militärregierung, stillschweigend geduldet wurden. 30 Die Zeitungen und Publikationen der She’erit Haplejta spielten eine wichtige Rolle für die befreiten Juden, die so lange von jeglichem sozialen und kulturellen Leben abgeschnitten waren. Zunächst einmal waren sie ein Symbol für das Überstehen der Katastrophe und gleichzeitig ein Manifest für die Fortexistenz bzw. die Wiederauferstehung des jüdischen Lebens - nicht zuletzt auf deutschem Boden, wie auch A Heim voll Befriedigung konstatiert: „In der Wiederauflebung des jüdischen Volks sehen wir die größte Strafe unserer Gegner. Und daher rufen wir zum Verdruss und Schmerz unserer Feinde aus: WIR SIND DA UND WERDEN SEIN! “ 31 Wenn auch mancher traurig war, dass die Darstellung nicht in den vor kurzem noch geschmähten hebräischen Buchstaben erfolgen konnte, so überwog doch die Freude darüber, überhaupt wieder Texte und Berichte in jiddischer Sprache lesen zu können. Die jeweiligen verantwortlichen Redakteure verbanden die Herausgabe ihrer Zeitungen aber auch mit ganz konkreten Zielen. Rückschlüsse darauf geben die Titel der Zeitungen, die sowohl Zustandsbeschreibung als auch Programm waren: ob nun 27 Vgl. dazu das Kapitel „Ein Riw haleschonot im Wasserglas - Sprache und Ideologie der jüdischen DPs“, in: L EWINSKY , Displaced Poets, 174-196. 28 Vgl. G IERE , Wir sind unterwegs, 254. 29 Vgl. G IERE , Wir sind unterwegs, 274. 30 Dazu ausführlich bei G IERE , Wir sind unterwegs, 279. 31 Mir zenen do, in: A Heim, 8.11.1946. <?page no="115"?> Nicola Schlichting 116 Dos Fraje Wort (Feldafing), Unzer Sztyme (Belsen) oder Unzer Mut (Zeilsheim), Unzer Weg (München), Unzer Hofenung (Eschwege) oder Der Morgen (Bad Reichenhall). Diese Namen drücken deutlich den Wunsch der Überlebenden nach Freiheit und einer besseren Zukunft aus, nach einem Leben ohne Verfolgung und Krieg, nach Frieden. Aber sie lassen auch anklingen, dass die DPs ihre Stimme erheben, Mut zeigen und für das freie Wort, das ihnen so lange nicht zur Verfügung stand, kämpfen wollten. Was die Funktion und die Bedeutung der Zeitungen angeht, so gilt für sie, was Robert Weltsch, Chefredakteur und Mitherausgeber der Jüdischen Rundschau bis 1938, rückblickend über eben diese sagt: „Die Zeitung war das einzige Werkzeug, das in einer fast seelsorgerisch zu nennenden Rolle den Beraubten und Verfolgten, den Erniedrigten und Beleidigten Mut zusprechen und ihnen ein neues Lebensgefühl geben konnte.“ 32 Die Zeitungen trugen dazu bei, eine öffentliche Meinung in den DP-Lagern zu bilden, sowohl was die internen Belange anging als auch in internationaler Hinsicht. Allerdings gilt, wie für alle Presseerzeugnisse, dass sie nicht nur „Abbild der Gesellschaft“, sondern auch „Akteure“ 33 innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaften sind. Dennoch reflektierte die jüdische DP-Presse die Aktivitäten der verschiedenen jüdischen Organisationen in den Bereichen Kultur, politische Orientierung und soziales Leben der DPs - und das mitten im Land der Täter. Die jüdischen DP-Zeitungen dienen somit als essentielle Quellen für das Leben, die Gedanken, Hoffnungen und Wünsche der Überlebenden der Shoa und spiegeln deren Versuche wieder eine gewisse Normalität in ihr Leben einkehren zu lassen. Selbstverständlich sind die DP-Zeitungen und damit auch A Heim zuweilen sehr subjektiv und nur bedingt dazu geeignet, allgemeingültige Aussagen über die alles andere als homogene Gemeinschaft der DPs zu treffen. Gleichwohl erlauben sie den Lesern von heute, bestimmte „Wahrnehmungen und Konstrukte“ 34 aus ihnen heraus zu lesen (Abb. 1). 2. Die Zeitung A Heim Nur zwei Monate nach Bezug des DP-Lagers Leipheim 35 erschien am 19. Februar 1946 bereits die erste Ausgabe von A Heim. Der Titel, wie man „einem Kind einen Namen nach seiner Geburt gibt“, war den Verantwortlichen besonders wichtig. Wie der Name sagt, sollte die Zeitung A Heim den Überlebenden nicht nur ein Zuhause 32 Zit. in: N AGEL , Jüdische Presse und jüdische Geschichte, 33. 33 S TEFFEN , Konzeptionalisierung, 115. 34 S TEFFEN , Konzeptionalisierung, 134. 35 Zur Geschichte des Lagers Leipheim vgl. den Artikel von J IM T OBIAS in diesem Band. <?page no="116"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 117 Abb. 1: Titelblatt der ersten Ausgabe der jiddischen Lagerzeitung A Heim (Repro: nurinstarchiv). <?page no="117"?> Nicola Schlichting 118 geben, sondern auch auf eine zukünftige Heimat verweisen. 36 Auch bei A Heim galt es, große Anfangsschwierigkeiten zu überwinden: „Bei den ersten Ausgaben gab es keine Schreibmaschine, kein Arbeitszimmer und keine Mitarbeiter.“ 37 Das Blatt erschien einmal wöchentlich und hatte einen Umfang von zunächst acht, später zwölf Seiten. Einzelne Ausgaben zu besonderen Anlässen, wie etwa die Pessach- Nummer vom 11. April 1946, hatten 20 Seiten oder die Jubiläums-Ausgabe, vom 8. November 1946, gar 32 Seiten. Gedruckt wurde A Heim von einer deutschen Druckerei, der „‚Volksblatt‘-Druckerei, Günzburg D.“, und zwar „mit Zustimmung vom UNRRA Team 165“. 38 Mit der Nummer 25 wurde die Herausgabe von A Heim eingestellt. Aus der Zeitung selbst erfährt man nichts über die Gründe dafür. Vermutlich fiel A Heim der bereits erwähnten restriktiven Lizenzvergabe durch die Militärregierung Ende 1946 zum Opfer. Herausgeber war zunächst Abraham Szulewiz, mit der Nummer 14 erfolgte ein Wechsel: Neuer Chef war nun Ginzburg Fajwl. 39 Szulewiz, als Redakteur der ersten Stunde, kann wohl als Initiator von A Heim angesehen werden, und sein Einsatz und sein Verdienst um die Zeitung wird deshalb lobend erwähnt: „Das ist auch der ergebenen Arbeit des früheren Redakteurs Szulewiz zu verdanken. Sein Talent und sein Mut hat Wunder bewirkt.“ 40 Die Freude darüber, dass die ehemaligen „KZler, Partisanen, und Ghettokämpfer“ jetzt „die Schöpfer von [...] jüdischen Zeitungen sind“, war allenthalben groß, doch über die bloße Signalwirkung hinaus kam A Heim eine ganz konkrete Bedeutung zu: Dazu heißt es im Leitartikel des Redaktionskollegiums in der ersten Ausgabe: „Auch wir Einwohner des jüdischen DP-Lagers Leipheim wollen unseren Teil zum aktuellen großen historischen Kampf der She’erit Haplejta beitragen. Auch wir wollen unsere Stimme und unser Wort erklingen lassen. [...] Wir wollen mit unserer Zeitung die jüdischen Einwohner von Leipheim aufrütteln und ermahnen, erziehen und auf die Aufgaben vorbereiten, die vor uns stehen.“ A Heim sollte ein „gemeinsames gedrucktes Forum“ sein von allen, „die etwas wichtiges zu sagen haben“. Sie sollte nach dem Wunsch ihrer Redakteure all das zum Ausdruck bringen, „was allen auf der Zunge liegt“ und somit ein gemeinsames Sprachrohr von allen für alle Einwohner sein, um eine „gerechte und menschliche Beziehung“ aller Leipheimer unter 36 A gerotener Nomen ..., in: A Heim, 8.11.1946. 37 „Bei der ersten Ausgabe gab es keine Schreibmaschine, kein Zimmer und keine Mitarbeiter.“ Unzer Kultur-Leben in Lager, in: A Heim, 23.8.1946. 38 A Heim, 28.2.1946. Ganz unten auf der letzten Seite, sozusagen als Anschluss findet sich die Angabe zur Druckerei sowie die „Adres fun Redacje un Administracje: ‚A Heim‘, Leipheim am/ D. (Bayern), D.P. Lager, Blok 6. - Redaktor-Editor: Abraham Szulewicz, Leiter fun Administracje: Heniek Apel.“ 39 25 Numern A Heim (in hebräischer Schrift), in: A Heim, 8.11.1946. 40 Unzer Kultur-Leben in Lager, in: A Heim, 23.8.1946. <?page no="118"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 119 einander zu fördern. Dazu erbaten die Verantwortlichen von ihren Lesern die „moralische und geistige Unterstützung für eure und unsere Zeitung“. 41 Die Themen, die A Heim aufgreift, lassen sich grob in diverse Gruppen einteilen, wenngleich es natürlich viele Überschneidungen gibt: zunächst das Lagerleben und der Lageralltag, sodann die internationalen Ereignisse, insbesondere in Erez Israel und, damit in Zusammenhang stehend, die Geschichte der Juden, insbesondere der letzten zehn Jahre. Ein wichtiges Thema in der Leipheimer Lagerzeitung, und das hatte sie mit der Mehrheit der Äquivalente aus den anderen Lagern gemein, war die Zustandsbeschreibung der jüdischen DP-Gemeinschaft und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Die teilweise bis ins Jahr 1946 andauernden unwürdigen Bedingungen, unter denen die Überlebenden der Shoa existieren mussten, hatten ihnen bewusst gemacht, dass das Interesse der Weltgemeinschaft an ihrem Schicksal nur von kurzer Dauer war. So findet man in A Heim zahlreiche Artikel, die mit einer gewissen Verwunderung, aber vor allem zunehmender Wut ausdrücken, was die Menschen angesichts ihrer Lebensumstände empfanden: So glaubten viele, die ihre Befreiung wie durch ein Wunder erleben durften, dass „die Welt uns bestimmt Hilfe und Trost bringen wird. Aber leider: Der 10. März ist der Jahrestag meiner Befreiung und ich befinde mich noch immer in dem Land, wo der Boden mit Blut getränkt ist und die Luft nach Menschenfleisch riecht.“ 42 Und so musste die She’erit Haplejta erkennen, dass ihr trotz der unvorstellbaren Leiden und der sechs Millionen ermordeten Juden, die Welt nicht offen stand. Nicht nach Amerika, nicht nach Erez Israel: „Öffne Welt, die geschlossenen Tore“, war daher eine zentrale Forderung von A Heim. „Öffnet die Lager. Öffnet die Grenzen der anderen Länder. Lasst die Menschen gehen, wohin ihre Herzen begehren. [...] Befreit den heimatlosen Juden. Lasst ihn gehen, wohin sein Herz begehrt. [...] Dorthin, wo er verlangt zu gehen.“ 43 Um dieses Ziel zu erreichen, forderte A Heim, die Zersplitterung der jüdischen Gemeinschaft in viele kleine Gruppen sollte beendet werden, ebenso die Grabenkämpfe und Anfeindungen der Parteien und ihrer Anhänger untereinander. Viele Artikel und kurze Slogans mahnen die Leser, dass „nur eine starke, einheitliche, geschlossene Masse, die bereit ist, Opfer zu bringen“, in der Lage dazu sein würde, „das gemeinsame Ziel zu erreichen: die Schaffung eines jüdischen Staates in Erez Israel.“ 44 Die Kraft sollte nun darauf verwendet werden, in die Zukunft zu schauen: „Wir müssen uns weiter stärken“, heißt es in A Heim, „geistig und physisch, alle nationalschöpferischen Kräfte unseres Volkes mobilisieren, die verborgenen Kräfte, die in den Tiefen liegen, [...] ans Licht hervorbringen, die große Triebkraft eines 41 Cu unzere Lejner, in: A Heim,19.2.1946. 42 Der Tog fun majn Befrajung, in: A Heim, 21.3.1946. 43 Efen, Welt, di farhakte Tojern, in: A Heim, 21.3.1946. 44 Socii Doloris, in: A Heim, 19.2.1946. <?page no="119"?> Nicola Schlichting 120 alten und leidgeprüften Volkes wieder zum Leben erwecken, das nicht nur nicht untergehen will, sondern sein Leben in seinem befreiten Land erneuern will.“ Dafür gelte es „auszuhalten und zu siegen! “ 45 Nachdem die frühen Zeitungen vor allem Bilanz ziehen und sich fragten: Was haben wir durchgemacht? Wo stehen wir heute? Wie soll es weiter gehen und wohin? , ist A Heim mit der Forderung nach einem jüdischen Staat, die in der DP- Presse im Lauf der Jahre insgesamt immer vehementer vorgetragen wurde, bereits mittendrin im politischen Kampf der DPs. Von der ersten Ausgabe an spielte dieser eine wichtige Rolle in der Zeitung. Dabei muss festgehalten werden, dass A Heim „nicht nur Wirklichkeit widerspiegeln, sondern auch zu deren Konstituierung beitragen, also neue Wirklichkeit schaffen wollte“, das heißt, Szulewiz und seine Mitstreiter versuchten, ebenso die Meinung der DPs zu beeinflussen, wie auch „die gesellschaftlichen Verhältnisse zu transformieren“, 46 um die Mehrzahl auf das vermeintlich allen gemeinsame Ziel, einen jüdischen Staat in Erez Israel, einzustimmen. 47 Nach den jüngsten Erfahrungen von Verfolgung und Vernichtung schien es eine logische Konsequenz zu sein, die jüdische Diaspora endgültig und unter Aufbringung aller Kräfte gemeinsam zu beenden. Doch nicht nur der Aufruf zu Einheit und Geschlossenheit der DPs war wichtig, mit besonderer Aufmerksamkeit wurden auch die englische Politik gegenüber den Juden in Europa wie auch Palästina 48 sowie die Ereignisse in Erez Israel verfolgt und kommentiert: „Und jetzt in den schweren, blutigen Tagen, in dem bewunderungswürdigen Kampf, den der Jischuw 49 führt, schicken wir unsere Solidaritäts- und Einheitsgefühle und versichern ihnen, dass wir in diesem schweren, schicksalhaften Moment bei ihnen sind. Wir drücken unseren Stolz und unsere Anerkennung aus für die Verteidigung des jüdischen Landes mit dem Gewehr. Wir sind tief davon überzeugt, das der Kampf, den der Jischuw jetzt führt, und der hoffentlich der letzte ist, mit unserem Sieg enden wird.“ 50 Der Kampf, den der Jischuw in Erez Israel führte, sollte von den überlebenden Juden nicht nur durch Worte und moralischen Beistand unterstützt werden. Daher 45 Ojshaltn un zign, in: A Heim, 12.7.1946. 46 M ARTEN -F INNIS , Die jüdische Presse, 76. 47 An dieser Stelle auf die unterschiedlichen jüdischen Parteien und Gruppierungen einzugehen, würde zu weit führen. Es sei lediglich darauf verwiesen, dass mitnichten alle DPs den Wunsch hatten, nach Israel auszuwandern. Aufgrund der politischen Lage kristallisierte sich gleichwohl die Auswanderung als das Hauptziel heraus. 48 Der Artikel A Dokument fun Szand setzt sich mit bissigen Worten mit der englischen Politik zur Zeit während und nach des Kriegs auseinander und kommt zu dem Schluss, dass England, beziehungsweise die britische Regierung, ein versteckter Feind sei. Sie gebe sich zwar judenfreundlich, da sie während des Kriegs doch Palästina gegen die Deutschen verteidigt habe, in Wahrheit bekämpfe sie jedoch die jüdische Einwanderung nach Israel und fordere die Juden auf, in ihren Heimatländern zu bleiben. Vgl. A Heim, 23.8.1946. 49 Bezeichnung für die jüdische Bevölkerung in Palästina. 50 Ojf der Wach, in: A Heim, 12.7.1946. <?page no="120"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 121 förderte A Heim die Rückbesinnung auf die jüdische Stärke, die jüdischen Kämpfer: Partisanen, Soldaten der Jewish Brigade, Ghettokämpfer, sie alle hatten mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis gekämpft und sich nicht „wie die Schafe zur Schlachtbank“ führen lassen und galten daher als besondere Vorbilder. Besonders der Warschauer Ghettoaufstand, der sich im April 1946 zum dritten Mal jährte und in etwa mit Pessach zusammenfiel, wurde hervorgehoben. Die gesamte Ausgabe vom 11. April 1946 war deshalb dieser Begebenheit gewidmet: Mit Gedichten und Briefen ehemaliger Teilnehmer des Aufstands wurde dieses Ereignisses nicht nur gedacht, sondern zusammen mit dem Pessach-Feiertag für die gegenwärtigen Ziele instrumentalisiert. „Ich habe das Gefühl“, heißt es in dem später berühmt gewordenen Brief 51 von Mordechai Anielewicz 52 vom 23. April 1943 aus dem Ghetto, „dass dies eine große Sache ist, dass das, was wir gewagt haben, eine übergeordnete Bedeutung hat. [...] Der jüdische bewaffnete Widerstand ist zustande gekommen. Ich bin der Zeuge des sich erhebenden heroischen Kampfes der jüdischen Aufständler.“ 53 Und Abraham Szulewicz fordert, in Anlehnung an den damaligen Auszug der Israeliten aus Ägypten: „Wir feiern heute den traditionellen Feiertag Pessach. Wir begehen heute einen doppelten Feiertag. Erstens, dass unsere Vorväter aus Ägypten ausgezogen sind und die Juden ein Volk unter andern Völkern geworden sind[,] und zweitens ist es das erste Pessach für die befreiten Juden. [...] Zum heutigen Pessach kommt die She’erit Haplejta und ruft aus - Führt uns heraus aus Ägypten und der Wüste [...]. Keine kleinen Parteiführer brauchen wir jetzt, wir haben die Idee eines großen Mose.“ 54 A Heim behandelte nicht nur die Themen Alija, Erez Israel, englische Politik und die Haltung der jüdischen DPs dazu, sondern diente wie jede andere Tages- oder Wochenzeitung auch der Information und Unterhaltung. Dazu gab es einige mehr oder weniger regelmäßig erscheinende Rubriken. Von Anfang an dabei, und für die Überlebenden der Shoa besonders wichtig, war die Seite mit den Suchanzeigen. Unter dem Titel Mir zuchn Krojwim konnten die DPs Verwandte, Angehörige und Freunde suchen beziehungsweise die Nachricht ihres eigenen Überlebens und ihres Aufenthaltsortes abdrucken lassen. Um nicht verwechselt zu werden, wurden zusätzliche Fakten, wie Geburtsdatum und Geburtsbzw. letzter Wohnort angegeben. So etwa: „Abraham Nysenbaum, geboren 1926 in Lodz, gelebt 4 ½ Jahre im Lodzer Ghetto, sucht seine Familie, die bis 1944 im Ghetto war. [...] Meine Adresse: DP Camp Leipheim, Bayern, Block 24, Kibbuz Ichud.“ 55 Dem Titel der Suchseite Mir zuchn Krojwim war noch ein Untertitel zugefügt mit einem besonderen 51 Vgl. dazu www1.yadvashem.org/ odot_pdf/ Microsoft Word - 6659.pdf vom 28.9.2010. 52 Mordechai Anielewicz war der Kommandant des Warschauer Ghettoaufstandes. Vgl. dazu den Artikel über Anielewicz in: G UTMAN , Enzyklopädie, Bd. 1, 40-43. 53 Briw fun Mordchaj Anilewicz cu zajn Fartreter ojf der Ariszer Zajt, in: A Heim, 11.4.1946. 54 Fun szpaltn dem Jam - bizn szpaltn dem Otem, in: A Heim, 11.4.1946. 55 Mir zuchn Krojwim, in: A Heim, 14.3.1946. <?page no="121"?> Nicola Schlichting 122 Wunsch: „Die jüdische Presse im Ausland wird gebeten, dies abzudrucken.“ 56 Dass dieser Bitte nachgekommen wurde, belegen die vielfältigen Suchanzeigen auch aus anderen Lagern, die in A Heim abgedruckt wurden, etwa aus den näher gelegenen DP-Lagern Neu Ulm und Wasserburg, aber auch über die Zonengrenzen hinaus, zum Beispiel Bergen-Belsen oder Bindermichel (Österreich). 57 Ebenfalls unter dieser Rubrik sind Anzeigen von Personen zu finden, die vom Ausland aus, vor allem den USA, ihren überlebenden Angehörigen in den DP-Lagern eine Nachricht zukommen lassen wollten. So etwa: „Bule Szoul aus Kanada sucht seinen Bruder Ele Bule aus Lublin. Meine Adresse: Sz. Bule, 3987 Clarkstr., Montreal, Kanada.“ 58 Die Suche nach im Ausland lebenden Verwandten funktionierte auch in entgegengesetzter Richtung: „Kawa Mosze aus Konin (Polen), der Sohn von Mendel und Nesza sucht seine Verwandten in Amerika: Shulkin Abram, Detroit-Mich. (bis 1939 in der Delmar Str. gewohnt), Bielski Moritz - New York, Brooklyn, Himmelblum Max - Los Angeles (Cal.)“ 59 (Abb. 2a und 2b) Abb. 2a Abb. 2b Abb. 2a/ b: Um Angehörige und Freunde zu finden, veröffentlichten DP-Zeitungen regelmäßig solche Suchanzeigen (Repro: nurinst-archiv). 56 Vgl. A Heim, 19.7.1946. 57 Suchanzeigen (ohne Titel), in: A Heim, 9.10.1946. 58 Mir zuchn Krojwim (in hebräischer Handschrift), in: A Heim, 8.11.1946. 59 Mir zuchn Krojwim (in hebräischer Handschrift), in: A Heim, 16.8.1946. <?page no="122"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 123 Hinzu kamen internationale Meldungen, die in A Heim unter den Überschriften Kurz und Scharf, Lecte Najes oder Politisze Najes, zumeist auf Seite zwei, zu lesen waren. Schlaglichtartig wurde hier in wenigen Sätzen das Neueste aus der ganzen Welt, von Deutschland über Polen, Russland, Japan, Großbritannien und Amerika mitgeteilt: ob über den „Politische[n] Terror in der Türkei“, „Die gespannte Lage in Italien“, die „Wahlen in Rumänien“ oder die „Wiedergutmachung für Russland“, 60 die DPs in Leipheim waren auf dem neuesten Stand des gesamtpolitischen Weltgeschehens. Verbreitet wurden die internationalen Meldungen durch das im Februar 1946 vom ZK in der amerikanischen Zone eingerichtete Presseamt, das als Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit als so genanntes Public Relations Department gegründet wurde: Hier gab es einen Pressedienst, der Informationen lieferte und als Nachrichtenagentur für aktuelle Meldungen aus dem Ausland fungierte. 61 Vom Umfang her meist zweiseitig, war die Rubrik Lager-Chronik: 62 Hier wurden vermischte Meldungen aus dem Lagerleben abgedruckt, zum Beispiel Ankündigungen der verschiedenen Verwaltungsabteilungen. Das Kulturamt ließ die Öffnungszeiten etwa des Lesesaals und der Bibliothek veröffentlichen oder kündigte verschiedene Fortbildungskurse für die DPs an. Das Leipheimer Rabbinat vermeldete die Namen der heiratswilligen Männer und Frauen mit der Bitte, „wenn jemand etwas dagegen habe, solle er sich dort melden.“ 63 Auch die letzten Nachrichten aus dem Sport wurden in der Lager-Chronik vermeldet, wie etwa über ein Fußballspiel von Makkabi Heidenheim gegen Betar Leipheim, das 2: 2-unentschieden endete und über das der Berichterstatter urteilte: „Das Spiel war nicht interessant. Leipheim ist mit zahlreichen Reservespielern angetreten.“ 64 Neben weiteren Kurznachrichten aus Leipheim, aber auch anderen DP-Lagern, wurden unter dieser Rubrik Glückwunschanzeigen zur Geburt oder zur Hochzeit abgedruckt und mitunter fast skurril anmutende Meldungen, die jedoch einen tiefen Einblick in das Leben der Leipheimer DPs ermöglichen. So gab etwa das Gesundheitsamt bekannt: „Für das Rauswerfen von Sachen, Papier, Konserven und anderes aus den Fenstern, wird der Schuldige bestraft mit 20 RM oder 12 Stunden Arrest beim ersten Mal und mit 50 RM oder 24 Stunden Arrest beim zweiten Mal.“ 65 Oder die Lagerverwaltung ließ mitteilen, dass aus der Lagerküche mitgenommenes Geschirr umgehend wieder zurückgebracht werden solle. Falls die Lagerpolizei bei einer Durchsuchung noch etwas finden sollte, drohte unter anderem der Entzug der Seife für vier Wochen. 66 60 Vgl. Politisze Najes, in: A Heim, 26.7.1946. 61 G IERE , Wir sind unterwegs, 267. 62 Manchmal hatte sie auch den Titel Fun unzer Leben in Leipheim, vgl. A Heim, 8.11.1946. 63 Fun Rabinat-Amt, in: A Heim, 13.9.1946. 64 Sport-Jedijes, in: A Heim, 9.10.1946. 65 Fun unzer Leben in Leipheim, in: A Heim, 8.11.1946. 66 Lager-Chronik, in: A Heim, 21.3.1946. <?page no="123"?> Nicola Schlichting 124 Darüber hinaus gab es die Seite Literatur und Wisn, später Kunst und Wissen, wo Gedichte und Geschichten von Leipheimer DPs veröffentlicht wurden, Artikel über jüdische Künstler, Kulturnachrichten aus dem Lager, etwa über Vorstellungen des Leipheimer Drama-Kreises, 67 oder Berichte über bedeutende jüdische Künstler wie etwa „Das Leben und Schaffen der großen jüdischen Musiker“, unter ihnen beispielsweise Felix Mendelssohn-Bartoldy. 68 Informativ und in Hinblick auf eine bestehende Auswanderung sicher auch sachdienlich in dieser Rubrik waren Artikel über das Land Erez Israel, sein Klima, seine Vegetation oder seine Bevölkerungsstruktur, wo es beispielsweise heißt: „Der Sommer in Erez Israel zeichnet sich aus durch seine Regenlosigkeit. [...] Der Sommer in Erez Israel dauert von Mai bis Oktober. Die ersten Wolken am Himmel zeigen sich schon im September, sie kommen von Ägypten, vom Nil, der erste Regen kommt im Oktober. [...] Im allgemeinen muss man feststellen, dass das Klima in Erez Israel ein gesundes ist und sich positiv auswirkt auf die physische Entwicklung und die Arbeitsfähigkeit der Menschen.“ 69 Kleinere Rubriken waren außerdem Lebendik Amcha: Humor- und Witzseite unterschrieben mit „herausgegeben von den Juden in LeiDheim“. Hier wurden kleine Karikaturen abgedruckt und das Leben der DPs in den Lagern satirisch beleuchten. Undzer Leben in Bild, vermittelte mithilfe von Fotos die Vielfältigkeit des Lebens in Leipheim und die Kinderseite Far unzere Kinder war speziell mit Bildern und kleinen Geschichten auf die Bedürfnisse der kleinen Leser zugeschnitten. Damit sind die wichtigsten Inhalte von A Heim wiedergegeben. Vieles mehr könnte noch zitiert werden, würde jedoch an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Daher bleibt abschließend anzumerken, dass A Heim, wie die vielen anderen Lagerzeitungen auch, eine hervorragende und spannende Quelle der jüdischen Zeitgeschichte ist. Zum einen ist sie das Sprachrohr der Überlebenden der Shoa, die in den Artikeln und Beiträgen ihre Ansichten zum Ausdruck bringen, ihre Wünsche, Hoffnungen, Ziele und Forderungen formulieren. Zum anderen lässt A Heim den Leser eintauchen in die Welt des Lagerlebens. „Nichts versetzt so leicht in die Atmosphäre einer Zeit als ihre Zeitungen.“ 70 Sicherlich kann A Heim nicht unreflektiert als historische Quelle herangezogen werden, einige problematische Faktoren wurden bereits genannt. Für die Ereignisrekonstruktion ist sie mit Vorsicht zu verwenden, was jedoch die Rekonstruktion der Urteile und Meinungen der Menschen aus dieser Zeit angeht, so ist sie ein faszinierendes Medium der wiederauflebenden jüdische Gemeinschaft nach der Shoa und das paradoxerweise auf deutschem Boden, im „Land der Täter.“ 67 Vgl. Gelungene Forszelungen fun Dram-Krejz, in: A Heim, 19.2.1946. 68 Vgl. Dos leben un szafn fun grojse jid. Muziker, in: A Heim, 13.9.1946. 69 Der Klimat in Erez-Jsroel, in: A Heim, 23.8.1946. 70 M OMMSEN , Zeitung als historische Quelle, 251. <?page no="124"?> „Mir willn lozn hern undzer sztim und wort“ 125 Literatur Z ACHARY M. B AKER , Jewish Displaced Persons Periodicals, Bethesda (MD) 1990. K ATRIN D IEHL , Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, Tübingen 1997. I SRAEL G UTMAN u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München / Zürich 2 1998. J ACQUELINE D. G IERE , Wir sind unterwegs aber nicht in der Wüste. Erziehung und Kultur in den Jüdischen Displaced Persons-Lagern der Amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945-1949, Diss. Frankfurt a.M. 1993. 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Jüdische DP-Camps in Franken 1945-1949, Nürnberg 2002. <?page no="125"?> Nicola Schlichting 126 - / N ICOLA S CHLICHTING , Heimat auf Zeit. Jüdische Kinder in Rosenheim 1946-47. Zur Geschichte des „Transient Children’s Center“ in Rosenheim und der jüdischen DP-Kinderlager in Aschau, Bayerisch Gmain, Indersdorf, Prien und Pürten, Nürnberg 2006. <?page no="126"?> Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften nach dem Kriegsende in Bayerisch-Schwaben Peter Fassl Das von Jim G. Tobias in diesem Band vorgelegte Verzeichnis der jüdischen DP- Camps und -Gemeinden umfasst vier Lager und 16 Gemeinden. Erstmals wurde von Angelika Königseder und Juliane Wetzel 1 1994 eine Liste dieser Lager in Deutschland veröffentlicht. Das Landsberger Lager fand in der Dissertation von Angelika Eder 1998 eine umfassende Würdigung, 2 die Lager und Gemeinden in Franken beschrieb 2002 Jim G. Tobias, 3 der im Herbst 2008 auf der 20. Irseer Tagung der Reihe „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“ erstmals auf die Situation in Bayerisch-Schwaben hinwies. 4 Außer kleineren verstreuten Hinweisen aus der jüngsten Zeit gibt es keinerlei Erwähnung in der orts- und heimatgeschichtlichen Literatur, 5 obwohl die Lager teilweise mehrere Jahre bestanden und eine größere Anzahl von Bewohnern hatten und die jüdischen Gemeinschaften sich zum Teil in kleinen Orten befanden, in denen sie durch ihre Fremdheit aufgefallen sein müssten. Warum gibt es praktisch keine oder nur sehr wenige Spuren und kaum eine Erinnerung? 1. Die historischen Quellen Zuständig für die jüdischen DPs waren die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die amerikanischen Militärbehörden und sekundär die internationalen jüdischen Hilfsorganisationen. Aus deren Aktenbeständen wurde letztlich auch die in diesem Band vorgelegte Darstellung erarbeitet. Ein wichtiges Hilfsmittel bedeutete die Bereitstellung der Akten des OMGUS (Office of Military Government , United States) bzw. des OMGBY (Office of Military Government for Bavaria) der amerikanischen Militärverwaltung in den bayerischen Staatsarchiven 1 Vgl. K ÖNIGSEDER / W ETZEL , Lebensmut, 247-268. 2 Vgl. E DER , Flüchtige Heimat; zuletzt: D OTTERWEICH / F ILSER , Landsberg. 3 Vgl. T OBIAS , Vorübergehende Heimat, 273-275. 4 Die Fußballmeisterschaften der DP-Camps. 5 Hinweise finden sich verstreut in: R ÖMER , Für die Vergessenen, 24-32, 186-188; S ALLIN- GER , Krumbach, 170-172; B ROY , Leipheim, 217-219; L EWINSKY , Displaced Poets, 132- 145; H AGGENMÜLLER , Weimarer Republik, 245-247; E PPLE , Geschichte von Türkheim, 44. <?page no="127"?> Peter Fassl 128 1991, die - wie Barbara Treu, die Stadtarchivarin von Neu-Ulm, schrieb - „Licht in das Dunkel der Überlieferung“ 6 brachten. Über die innere Organisation und das Lagerleben selbst geben die Berichte der jüdischen Hilfsorganisationen Auskunft. Als 1961 die Regierung von Schwaben beim Landratsamt Schwabmünchen nach dem Verbleib der Akten des DP-Lagers Lagerlechfeld fragte, antwortete man ihr, dass in der Registratur keine vorhanden seien, „denn das Landratsamt war für diese Leute in keiner Weise zuständig“. 7 Die Tatsache der Existenz des Lagers war also im Landratsamt sehr wohl bekannt, wurde aber nach dem Grundprinzip jeder Verwaltung (Zuständigkeitsfrage) nicht weiter wahrgenommen. Anders dagegen verfuhr man im Landratsamt Günzburg, von dem anschauliche Berichte über die Begegnungen jüdischer DPs und der Bevölkerung vorliegen. Die Situation auf örtlicher Ebene beschrieb auf Anfrage der Kreisheimatpfleger und Ortshistoriker Erwin Holzbaur (1927-2010), der als Jugendlicher diese Zeit in Mindelheim erlebte: „Die einzelnen Aktenkonvolute bestehen z.T. [aus] ausführlichen [Listen mit] namentlich erfassten Personen mit Geburtsdaten, Herkunftsland und anderen Angaben, während andere kursorisch erfasste Daten beinhalten. Andere Listen beinhalten Einquartierungen in Privatwohnungen oder Häusern, u.a. in der Maximilianstr., Krumbacherstr., Kornstr., Mühlweg, Hindenburgplatz (nun Gassnerplatz), Georgenstr., insbesondere Belegungen in landwirtschaftlichen Anwesen in Gernstall. Weitere ausländische Personen oder Personengruppen wurden z.T. laufend registriert und an weitere Behörden, insbesondere das Landratsamt weiter gemeldet, so österreichische Staatsangehörige, Italiener, Ungarn oder aus USA, Griechenland, Türkei. In diesem Zusammenhang fand sich auch eine Liste mit polnischen Staatsangehörigen, darunter auch polnische Juden (wohl ehem. KZ-Häftlinge? ), die im Oktober 1945 hier registriert wurden. Wohin verschiedene Volksgruppen bis ca. Ende 1945 weiter verteilt oder wohin sie transportiert wurden, konnte ich aus den Aufzeichnungen leider nicht sicher entnehmen, insbesondere schwanken die listenmäßig erfassten Personengruppen zahlenmäßig von Monat zu Monat erheblich (einige um 120, 150 bis über 300). Soweit Angaben aus den Erhebungen vorliegen, wurden verschiedene Gruppierungen im Laufe des Sommers 1945 bzw. Herbst 1945 Richtung Memmingen weiter geleitet, andere Richtung Bad Wörishofen und Türkheim, andere in wohl größere Transporteinheiten Richtung Österreich, Italien, Frankreich, Holland und Belgien. Schwierig bleiben z.T. die Angaben von Unterbringungen in Privathäusern, da parallel ja auch zahlreiche Häuser von den amerikanischen Truppen nach dem Einmarsch beschlagnahmt wurden und zum anderen Teil Mindelheim als Lazarettstadt durch das Rote Kreuz gekennzeichnet war mit den Lazaretten auf der Mindelburg, 6 T REU , Kriegsende, 170. 7 Staatsarchiv Augsburg, BA Schwabmünchen, Nr. 1861. <?page no="128"?> Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften 129 am Mühlweg mit dem Maristenkolleg, im Altstadtbereich im Maria-Ward-Institut, der Knabenvolksschule, dem St. Josefsstift in der Krumbacherstr. und nördlich im Dominikanerinnenkloster Lohof. Verschiedene Ausländer blieben z.T. weit über Ende 1945 in Mindelheim, so aus den USA, der Tschechei, Griechenland, Evakuierte aus München usw., wobei die nächste Phase natürlich die Integration der Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland und der Tschechoslowakei betraf.“ 8 Für die Mindelheimer bildete die Nachkriegszeit eine zu bewältigende Notzeit, die durch fremde Bevölkerungsströme, unübersichtliche Verhältnisse und die Probleme des Alltags geprägt war. Die vom Juli 1946 bis Juli 1947 belegte jüdische Gemeinschaft 9 war Erwin Holzbaur nicht bekannt, obwohl er eine sehr präzise Erinnerung besaß und sein Vater in der Nachkriegszeit politisch mit führend im Mindelheimer Gemeinderat und als Beisitzer in der Spruchkammer tätig war. Erst durch Aktenrecherche im Stadtarchiv Mindelheim stieß er auf die polnischen Juden. Allerdings gibt es von anderen Orten Belege, die das Gegenteil aussagen. 2. Die Wahrnehmung der jüdischen Displaced Persons in Schwaben In Krumbach lebten am 1. September 1949 insgesamt 113, am 1. Januar 1950 noch 83 Juden. Von November 1946 bis September 1951 bestand hier eine Rabbinatshochschule (Jeschiwa), der im Februar 1947 32 Schüler und zwei Rabbiner angehörten. 10 Wie lang die Jeschiwa bestand, ist bislang nicht geklärt. Tamar Lewinsky hat auf der Basis des Berichts von Mary Weinberg, die offensichtlich Sozialarbeiterin vom JOINT und zuständig für die gesamte Region Krumbach, Diessen, Landsberg, Buchloe Schwabmünchen, Kaufbeuren, Penzing, Pürgen, Utting, Greifenberg war, 11 die Situation in Krumbach im Juli 1947 wie folgt beschrieben: „Die ansässige Bevölkerung weigerte sich, den jüdischen DPs Waren zu verkaufen, selbst wenn diese Zuteilungskarten dafür vorweisen konnten.“ 12 In Buchloe wurde ein Jude, der eine Wurstfabrik aufbaute - offensichtlich Alexander Moksel - ruiniert, weil die deutsche Bevölkerung nichts bei ihm kaufte. „In Kaufbeuren sah die lokale Bevölkerung nach 1945 zum ersten Mal in ihrer Geschichte Juden. Weil die Leute sich weigerten, mit dem jüdischen Komitee Handel zu treiben, konnte dieses seine Büros nicht einrichten, und durch die vorhanglosen Fenster schauten dauernd neugierige Nachbarn in die leeren Räume.“ 13 8 Archiv der Heimatpflege des Bezirks Schwaben, Erwin Holzbaur, Schreiben vom 13.3.2009. 9 Freundlicher Hinweis von Herbert Auer, Krumbach. 10 Vgl. S ALLINGER , 161, 172. 11 Freundlicher Hinweis von Jim G. Tobias. 12 L EWINSKY , Displaced Poets, 132f. 13 Ebd., 133. <?page no="129"?> Peter Fassl 130 Die Schilderung mag zugespitzt sein und eine Momentaufnahme darstellen, denn die von Alexander Moksel (1918-2010), Ehrenbürger der Stadt Buchloe, gegründete Großschlächterei mit Vieh- und Fleischhandel war bis Ende der 1980er Jahre einer der größten Betriebe der Branche in Bayerisch-Schwaben. 14 Auch stabilisierte sich die oben beschriebene Situation in Krumbach offensichtlich wieder. Doch die Grundstimmung eines offenen und latenten Antisemitismus wird durch die Berichte des Landratsamtes Günzburg 15 und von Alfred Kiß, 16 der für die amerikanische Militärverwaltung als „German investigator“ von 1946 bis 1948 nach einem Frageschema Berichte über die Lage in den schwäbischen Landkreisen erstellte, bestätigt. In den vom Landratsamt Günzburg von August 1945 an erstellten Monatsberichten begegnen die Juden meist in negativem Kontext. So werden am 28. Juni 1946 „Diebstähle von Juden und Ausländern“ aus den Lagern Kleinkötz und Leipheim erwähnt und es wird bedauert, dass die Landpolizei die Lager „nicht betreten“ dürfe. Die Selbstmorde der Flüchtlinge seien „wohl auf die seelische Zerrüttung der Leute zurückzuführen.“ 17 Der Schwarz- und Tauschhandel sowie der Ankauf von Vieh durch Juden werden seit September 1946 kontinuierlich beklagt mit dem Hinweis auf die Grenzen des polizeilichen Handelns. Bei einer Kinovorführung in Günzburg kam es am 28. Juli 1947 zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Deutschen und einem jüdischen DP aus Leipheim, wobei „antisemitische Äußerungen gebraucht wurden.“ 18 Mit Befriedigung berichtete die Behörde von einer amerikanischen „Razzia“ im Lager und der Sicherstellung „ganz erheblicher Mengen von Lebensmittel.“ 19 Auch nach der Währungsreform im Juni 1948 ging der Warenhandel weiter, nur wurden die Preise von den Juden, die früher die Waren zu hohem Preis aufkauften, da sie sie überregional vermarkteten, „jetzt unterboten.“ 20 Durch einen Beschäftigten im DP-Lager, der ein Kino betrieb, und durch Händler lassen sich genauere Einblicke gewinnen. Während das Landratsamt in zurückhaltender Verwaltungssprache die Situation beschrieb, gab Alfred Kiß am 3. Oktober einen detaillierten Stimmungsbericht: 14 Vgl. E NGELSCHALK , Gewerbliche Wirtschaft, 619. 15 Staatsarchiv Augsburg, BA Günzburg, Nr. 9941. 16 Alfred Kiß wurde 1896 geboren, war Anfang der 1930er Jahre Gewerkschaftssekretär in Riesa, floh im Juli 1933 in die Tschechoslowakei, 1938 nach England und arbeitete nach Kriegsende für die amerikanische Militärregierung als Berichterstatter in Bayern. Von Ende 1949 an war er wieder in der Gewerkschaftsbewegung tätig. 17 Staatsarchiv Augsburg, BA Günzburg, Nr. 9941: Bericht vom 28.6.1946. 18 Ebd., Bericht vom 29.8.1947. 19 Ebd., Bericht vom 30.10.1947. 20 Ebd., Bericht vom 31.8.1948. <?page no="130"?> Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften 131 „Unserer Dienststelle wurde vor einigen Wochen berichtet, dass die Stimmung der Bevölkerung im Kreise Günzburg gegen die Insassen des in Leipheim bestehenden Lagers im Wachsen begriffen ist. Wir haben deshalb am Mittwoch, den 1. Oktober 1947, an Ort und Stelle einige maßgebende und gut informierte Personen über die Angelegenheit befragt. Das Ergebnis ist folgendes: Der Bürgermeister der Stadt Leipheim, Eugen Schmidt, teilte uns mit, dass das Lager zur Zeit um ungefähr 3 000 Personen belegt ist. Die meisten Insassen sind polnische Juden. Mit Ausnahme derjenigen, die mit Lagerarbeiten beschäftigt sind, wofür sie tariflich bezahlt werden, sind alle Insassen ohne Arbeit. Die Mißstimmung der Bevölkerung ist tatsächlich vorhanden. Diese ist in erster Linie auf den umfangreichen Schwarzhandel, den von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, fast alle betreiben, zurückzuführen. Die Lage ist so, dass die Juden in einem Umkreise von ungefähr 30 km alles, was an Lebensmitteln nur aufgetrieben werden kann, aufkaufen und dafür phantastische Preise bezahlen. Es ist heute so, dass die ortsansässigen Leute einfach nichts mehr bekommen können, weil der größte Teil der Bauern es vorzieht, Obst, Milch, Eier, Fleisch, Butter usw. zu phantastischen Preisen an die Juden zu verkaufen. Aus diesem Grunde ist die Opposition in Verbraucherkreisen gegen die Juden sehr groß. Starke Mißstimmung besteht auch gegen diejenigen Bauern, die Waren an die Juden verkaufen. In Bürgermeister-Besprechungen und anderen Konferenzen ist über diese Verhältnisse schon viel gesprochen und scharfe Kritik geübt worden. Dies ging oft so weit, dass man die Bauern als Lumpen bezeichnet hat. Andererseits wird aber auch teilweise anerkannt, dass sich die Bauern in einer unhaltbaren Lage befinden. Wenn z.B. bei einem Bauern die Seife ausgeht und er trotz aller Anstrengungen auf dem normalen Wege keine bekommen kann, dann lässt er sich eben gern verleiten, mit einem Juden ein Tauschgeschäft zu machen. Die Bauern sind also zum Teil fast gezwungen, Kompensationsgeschäfte zu betreiben. Viel Unwillen in der Bevölkerung erregt, dass jeden Tag Hunderte von Juden nach München, Frankfurt a. Main und anderen großen Städten fahren, um daselbst die hier so teuer gekauften wichtigen Lebensmittel zu noch höheren Preisen abzusetzen. Zur allgemeinen Ehre muss gesagt werden, dass es Bauern gibt, die es grundsätzlich ablehnen, illegal Waren an die Juden abzutreten. Es gibt aber auch Juden, die Zahl ist allerdings nicht sehr groß, die sich schämen, mit jüdischen Schwarzhändlern in einem Lager zu leben. Ob die Juden wirklich entschlossen sind, Deutschland zu verlassen, wenn sie dazu Gelegenheit haben, muss angezweifelt werden. Die Mehrzahl derselben will dort bleiben, wo man ohne Arbeit mühelos Geld verdient. Die Mißstimmung gegen die Juden ist dadurch gesteigert worden, weil es fast alle Länder, wie aus den Zeitungsnachrichten zu entnehmen ist, ablehnen, Juden aufzunehmen. Viele Leute sagen heute, dass damit eigentlich die Ansicht Hitlers über das Judentum bestätigt worden ist. <?page no="131"?> Peter Fassl 132 Die meisten Lagerinsassen sind in kurzer Zeit reiche Leute geworden. Sie haben fast alle das Geld bündelweise oder kofferweise aufgehoben. Gestohlen wird wenig. Es vergeht kaum eine Woche, wo nicht im Lager ein Ochse, eine Kuh oder Schweine schwarz geschlachtet werden. Die deutsche Polizei steht diesem Treiben vollkommen machtlos gegenüber, weil ja die Juden als Ausländer den deutschen Gesetzen nicht unterstehen und die Polizei kein Recht hat, in das Lager zu gehen. Der Besitzer des Hotels zum Bären, Herr […] M., Günzburg, erklärte uns folgendes: Die Juden nehmen der arbeitenden Bevölkerung alles weg. Sie haben im Sommer für 1 Pfund Kirschen 35 Mark bezahlt. Sie bezahlen heute für Äpfel bis zu 4 Mark pro Pfund, für 1 Ei 5 - 10 Mark, für ein Kalb 500 - 1 000 Mark, für 1 Pfund Butter 100 - 200 Mark usw. Der Schwarzhandel und die Schwarzschlächterei ist in vollem Gange. Ein Teil der Bauern hilft ihnen dabei. ‚ Wenn Sie in der Lage sind‘ - so führte M. aus - ‚und sich in die Lage eines Arbeiters, Angestellten oder Beamten, der von früh bis abends schwer arbeiten muss und von den ihm zugeteilten Lebensmitteln nicht leben kann, andererseits infolge des blühenden Schwarzhandels der Juden absolut nichts zusätzliches an Lebensmitteln bekommen kann, versetzen können, dann werden Sie sicherlich auch die Empörung der hiesigen Bevölkerung gegen die Juden und gegen die Tatenlosigkeit der Behörden diesem Treiben gegenüber verstehen. Die Preise aller rationierten und unrationierten Lebensmittel sind von den Juden gewaltig in die Höhe getrieben worden. Ein ehrlicher, anständiger Mensch, der vom Ertrage seiner Arbeitskraft lebt, ist einfach nicht im Stande, diese Preise zu bezahlen.‘ Herr Ernst Mietz, Günzburg, Krankenhausstr. 33, Mitinhaber der Firma Mechanische Werkstätten Eschach und Kreisvorsitzender der SPD, führte aus, dass die Juden des Lagers Leipheim, alles, was sie an Lebensmitteln auftreiben können, aufkaufen. Der größte Teil der Bauern verkauft heute nichts mehr an die einheimische Bevölkerung. Sie warten auf die Juden, die ihnen phantastische Preise bezahlen. Vor Kurzem ist ein Fall vorgekommen, wo die Juden für ein Schwein und eine Kuh 50.000 Mark bezahlt haben. Jeden Tag fahren Hunderte von Juden mit dem Omnibus nach dem Bahnhof in Günzburg, um von da aus mit dem Zuge nach München und andere große Städte zu reisen. Die zur Verfügung stehenden Fahrkarten sind schnell verkauft und deutsche Berufstätige, die nach dem Omnibus eintreffen, können keine Fahrtkarten mehr bekommen. Nach der Rückkehr vom Schwarzmarkt München usw. ziehen die Juden durch die Stadt. Dies wirkt auf die deutsche Bevölkerung im höchsten Grade provozierend. Einem Deutschen ist es heute nur noch in Ausnahmefällen möglich, eine Eintrittskarte für eine Kino-Vorstellung zu bekommen. Die Juden bezahlen meistens mit Zigaretten oder anderen Mangelwaren. Die Kino-Besitzer ziehen es vor, Karten an diese Leute abzugeben. Alle gesellschaftlichen Veranstaltungen sind ebenfalls mit Juden überfüllt. Diese haben weder die Absicht, noch die Einsicht, sich den Gewohnheiten anzupassen. Es gibt Juden, die es bedauern, dass sie in diesem verrufenen Lager leben müssen. Einige von ihnen <?page no="132"?> Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften 133 lehnen den Schwarzhandel grundsätzlich ab. Tatsache ist, dass die Preise von den Juden mächtig in die Höhe getrieben worden sind. Diese Ausführungen des Herrn Mietz wurden von seinem Neffen […] und von dem Mitinhaber der Firma Mechanische Werkstätten in Eschach […] in allen Punkten bestätigt. Frau H., Gattin des Lebensmittelgroßhändlers H., in Weissenhorn, bestätigte, daß die Insassen des Lagers Leipheim ihr Unwesen auch in der Umgebung von Weissenhorn treiben, so daß auch die Bevölkerung dieses Gebietes darunter zu leiden hat. Sie fügte hinzu, daß ähnliche Verhältnisse auch in Neu-Ulm, wo sich gleichfalls ein jüdisches Lager befindet, vorhanden sind. Ein Angestellter der Spruchkammer Günzburg bemerkte, daß, wenn die Amerikaner einen neuen Antisemitismus großziehen wollen, brauchen sie nur noch einige solcher Läger wie Leipheim errichten. Im Übrigen bestätigte er die Angaben des Herrn M. und des Bürgermeisters Schmidt vollständig. Er fügte noch hinzu, daß es am besten wäre, diese Juden aus Deutschland zu entfernen.“ 21 In ähnlicher Weise, wenn auch nicht so ausführlich, beschrieb Kiß am 28. November 1947 die Situation im Landkreis Neu-Ulm: „In der Stadt Neu-Ulm sind zur Zeit 1 800 Ukrainer, 1 240 Juden und 250 Türken untergebracht. In der zum Lande Württemberg-Baden gehörenden, auf dem linken Ufer der Donau gelegenen Stadt Ulm sind weitere 4 000 jüdische Flüchtlinge aus Polen untergebracht worden. Der 2. Bürgermeister der Stadt Neu-Ulm, Herr Diplomkaufmann Josef Böck, Neu-Ulm, Krankenhaus-Str. 19, hat uns erklärt, daß im Rathaus keine offiziell angebrachten Beschwerden gegen die Ausländer vorliegen. Ihm selbst ist jedoch bekannt, daß viele deutsche Arbeiter abends beim Nachhausegehen von den Türken ziemlich stark belästigt werden. Diese Türken gehören zu den schlimmsten in Neu- Ulm lebenden Ausländern. Herr Böck bestätigte weiter, daß sich Diebstähle, Einbrüche und andere schwere Vergehen in erhöhtem Maße zutragen. Der Schwarzhandel ist in voller Blüte. Seiner Meinung nach jedoch nicht so schlimm wie im Lager Leipheim, Landkreis Günzburg. Vom Militärgericht Neu-Ulm werden jede Woche 6 bis 10 Fälle abgeurteilt. Alle diese Vergehen werden im allgemeinen den Ausländern zur Last gelegt. Selbst in offiziellen Berichten wird oft erklärt: ‚Die Täter sind unbekannt, aber vermutlich Ausländer‘. In Neu-Ulm ist allgemein bekannt, daß in dem Ausländerlager in der Sedan-Straße alles zu haben ist. 1 Kilo Fleisch wird zur Zeit mit 40 RM und 1 Pfund Kaffee mit 250 RM gehandelt. Beim Beurteilen der Lage in Neu-Ulm muß berücksichtigt werden, daß auch die 4 000 in Ulm lebenden Juden viel zur Verschlechterung der Lage im Landkreis Neu-Ulm beitra- 21 Staatsarchiv Augsburg, Bestand OMGUS, 10/ 66 - 1/ 23. - Die Namen von politisch an herausragender Stelle tätigen Personen werden hier vollständig zitiert, die Namen von Privatpersonen mit dem Anfangsbuchstaben anonymisiert. <?page no="133"?> Peter Fassl 134 gen. Die Zahl der in diesen beiden Städten untergebrachten Ausländer ist außergewöhnlich groß. Herr Böck, der mit einer Jüdin verheiratet ist, bemerkte, daß in der deutschen Bevölkerung eine sehr große Verbitterung gegen die Ausländer besteht. Der Antisemitismus ist größer denn je. Viele Leute, die früher nie Antisemiten waren, sind es heute geworden. Dies muß in erster Linie auf das Verhalten der dort lebenden ausländischen Juden zurückgeführt werden.“ 22 Die Berichte zeigen einen ungebrochenen Antisemitismus, der bei den Behördenvertretern mit etwas verbaler Zurückhaltung vertreten wird. Die antijüdischen Stereotypen Handel, Schwindel, reich, auf Kosten anderer leben etc. werden ganz selbstverständlich verwandt. Obwohl in der Nachkriegszeit Schwarz- und Tauschhandel zum Alltag gehörten und jeder in irgend einer Weise davon abhängig war, wird er sozusagen auf die Juden hin monopolisiert und kriminalisiert, die schuld an der prekären Situation der Bevölkerung seien. In seinem Bericht über den Landkreis Dillingen schrieb Kiß am 11. September 1946: „Oberstudiendirektor M. von der CSU wies auf das Verhalten der polnischen Juden hin, die von der Bevölkerung als der Schrecken des Kreises betrachtet werden und gegen die sich auch unter den einheimischen Juden eine ziemliche Verbitterung bemerkbar gemacht hat.“ 23 Nun lebten in dem Landkreis nur in der Stadt Dillingen 1938 zwei Juden in einer „gemischten“ Ehe, von denen nach Kriegsende einer zurückkam, und von polnischen Juden in der Nachkriegszeit ist bisher nichts bekannt. 24 Vielleicht handelt es sich auch hier um eine „Übertragung“, nach der eben „die Juden“ die Schuldigen sind. Sozialpsychologisch gesehen kommen zu der antisemitischen Einstellung die Aspekte der Schuldabwehr und der Selbstentlastung. Von Empathie angesichts der Lage der Überlebenden findet sich keine Spur. Quellenkritisch bleibt eine gewisse Unsicherheit. Kiß gibt den Stimmungsberichten durch vertrauenswürdige Gewährsleute und Zitate ein zusätzliches Gewicht und will wohl die Militärbehörden zum Eingreifen gegen den jüdischen Schwarzhandel animieren. Die Berichte entsprechen damit den Ergebnissen der frühen OMGUS- Umfragen zum Antisemitismus in Deutschland, die im Dezember 1946 39 Prozent Antisemiten und 22 Prozent Rassisten und im April 1948 33 Prozent Antisemiten feststellen. Die erste vom Institut für Demoskopie in Allensbach im Herbst 1949 durchgeführte Umfrage ergab eine ablehnende Haltung gegenüber Juden von 38 Prozent (10 Prozent demonstrativ antisemitisch, 13 Prozent gefühlsmäßig ablehnend, 15 Prozent reserviert). 25 22 Ebd., Bestand OMGUS, 10/ 66 - 1/ 31. 23 Ebd., OMGUS, 10/ 66 - 1/ 24. - Name im Zitat anonymisiert. 24 Vgl. R ÖMER , Leidensweg, 58-60; B AUMANN , Dillingen, 295-297. 25 B ERGMANN , Meinungsumfragen, 111-113; vgl. S ILBERMANN / S CHOEPS , Antisemitismus. <?page no="134"?> Die Wahrnehmung der jüdischen DP-Lager und -Gemeinschaften 135 3. Resümee Die breite antisemitische Wahrnehmung der jüdischen DPs und das Schweigen in der Erinnerungskultur sind erklärungsbedürftig. Eine Untersuchung von Agnes Blasczyk zur Darstellung des Kriegsendes in Bayerisch-Schwaben in Ortsgeschichten hat gezeigt, dass bis in die 1970er Jahre keine aussagekräftigen Darstellungen vorliegen. 26 Besonders auffallend war das Schweigen in den ländlichen Judengemeinden, „jede Erinnerung an ein gemeinsames Miteinander von Christen und Juden sowie an eine angestammte symbolische Ortsbezogenheit der Deportierten, vulgo Heimat genannt“, sollte „aus dem Erinnerungsvermögen getilgt“ werden. 27 Wenn dies bereits für die eigene Geschichte galt, dann umso mehr für eine vorübergehende Episode der schwäbisch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, an der man sowieso nur am Rand beteiligt war. Die persönlichen Erfahrungen waren gering, die damaligen negativen Einstellungen ließen sich von den 1960er Jahren an so nicht mehr formulieren. Zudem gehörten zum Handeln ja immer Zwei und die Heimatvertriebenen, die im Bayerisch-Schwaben 1950 immerhin 25,5 Prozent der Bevölkerung stellten, hatten die Einheimischen als Schwarzhändler kennen gelernt. Kurz und gut: Es gab keinen Grund, die Geschichte der jüdischen DPs in Erinnerungs- oder Zeitzeugenberichten festzuhalten, ganz im Unterschied zu den Erinnerungen an das Kriegsende und den Wiederaufbau, die von zahlreichen Personen in ausführlicher Form in der „Augsburger Allgemeinen“ 2005 vorgelegt wurden. Quellen und Literatur Archive Archiv der Heimatpflege des Bezirks Schwaben. Staatsarchiv Augsburg, BA Schwabmünchen, Nr. 1861. Staatsarchiv Augsburg, BA Günzburg, Nr. 9941. Staatsarchiv Augsburg, Bestand OMGUS. Literatur K ARL B AUMANN , Dillingen a.d. Donau 1945. Berichte nach Augenzeugen, Dillingen 2006. W ERNER B ERGMANN , Sind die Deutschen antisemitisch? Meinungsumfragen von 1946-1987 in der Bundesrepublik Deutschland, in: W ERNER B ERGMANN / R AINER E RB (Hrsg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, 111-113. 26 B LASCZYK , Auswahlbibliographie, 158-184; F ASSL , Erinnerungen, 299-313. 27 J EGGLE , Was bleibt? , 33. <?page no="135"?> Peter Fassl 136 A GNES B LASCZYK , Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben. Auswahlbibliographie zur Ausstellung unter besonderer Berücksichtigung der ortsgeschichtlichen Literatur, in: P ETER F ASSL , Das Kriegsende in Schwaben 1945. Katalog zur Wanderausstellung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben, Augsburg 2005, 158-184. E RICH B ROY (Hrsg.), Leipheim. Heimatbuch einer schwäbischen Stadt an der Donau, Bd. 2, Horb 2008. V OLKER D OTTERWEICH / K ARL F ILSER (Hrsg.), Landsberg in der Zeitgeschichte - Zeitgeschichte in Landsberg, München 2010. A NGELIKA E DER , Flüchtige Heimat. 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B ARBARA T REU , Das Kriegsende im Raum Neu-Ulm, in: F ASSL , Kriegsende, 161-172. <?page no="136"?> Abkürzungen AFN American Forces Network; US-amerikanischer Soldatensender AJDC American Jewish Joint Distribution Committee; kurz Joint genannt CIC Counter Intelligence Corps; US-Nachrichtendienst DDT Dichlordiphenyltrichlorethan; Insektizit, das zur Seuchenbekämpfung eingesetzt wurde DP Displaced Person IRO International Refugee Organization JRU Jewish Relief Unit JSK Jüdischer Sportklub Kapo ital.: capo (Kopf, Haupt); hier Funktionshäftling im KZ MIKT Minchner Jiddischer Klainkunst Thiater OAD Offenbach Archival Depot ORT Organization for Rehabilitation through Training OT Organisation Todt; NS-Bauorganisation RAD Reichsarbeitsdienst TB Tuberkulose UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration ZK Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone <?page no="137"?> Glossar Agudat Harabanim: Rat der Rabbiner Agudat Israel: antizionistische orthodox-religiöse Bewegung Betar: militante rechts-zionistische Jugendorganisation Bet-Jakow-Schule: religiöse Mädchenschule Bricha: Flucht; illegale jüdische Fluchthilfeorganisation Chassidismus: von dem hebräischen Wort Chassid (dt. der Fromme) abgeleitet; in Osteuropa entstandene volkstümliche religiös-mystische Bewegung Cheder (Plur. Chadarim): Zimmer; religiöse Elementarschule für Jungen Dror: Freiheit; links-zionistische Jugendbewegung Erez Israel: Land Israel vor der Staatsgründung Hachschara (Plur. Hachscharot): Vorbereitung; landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildungsstätte Hagana: illegale Untergrundarmee, aus der 1948 die israelische Armee hervorging Halacha: das jüdische Gesetz, umfasst die Gebote und Verbote der mündlichen und schriftlichen Überlieferung Hanoar Hazioni: die Zionistische Jugend Haschomer Hazair: die jungen Wächter; linkszionistische Jugendorganisation Jeschiwa (Plur. Jeschiwot): religiöse Hochschule Jewish Agency: offizielle Vertretung der in Palästina lebenden Juden gegenüber der britischen Mandatsmacht Jewish Brigade: jüdische Kampfeinheit innerhalb der englischen Armee während des Zweiten Weltkrieges Jischuw: Bezeichnung für die jüdische Bevölkerung in Palästina Kibbuz (Plur. Kibbuzim): Kollektivsiedlung, Gemeinschaft Kollel: Versammlung; Jeschiwa für verheiratete Männer Mazze Ungesäuertes Brot, das zu Pessach gegessen wird Mikwe (Plur. Mikwaot): rituelles Tauchbad Mizrachi: Verband religiöser Zionisten Mohel (Plur. Mohalim): Beschneider Pejes: Schläfenlocken Poale Zion: Arbeiter Zions; Arbeiterpartei Pessach: Frühjahrsfest zur Erinnerung an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten Rosch Haschana: jüdisches Neujahrsfest Schabbat: Wöchentlicher Ruhetag, Samstag Scheerit Haplejta: Rest der Geretteten; die Überlebenden der Shoa <?page no="138"?> Glossar 139 Schtetl: jüdisch-orthodoxe Kleinstadtgemeinde in Osteuropa Shoa: Vernichtung, Katastrophe Talmud: mündliche Lehre; Auslegung der Schrift Thora: Weisung, Lehre; die fünf Bücher Moses Talmud-Thora-Schule: traditionelle Schule für Jungen, in der hauptsächlich Thora, Talmud und die dazugehörenden Kommentare gelehrt werden Vaad Hatzala: Rettungskomitee; orthodoxe amerikanischjüdische Vereinigung <?page no="139"?> Autoren und Herausgeber D R . A LOIS E PPLE , Oberstudienrat a.D., Heimatforscher, Türkheim. D R . P ETER F ASSL , Heimatpfleger des Bezirks Schwaben. D R . M ARKWART H ERZOG , Direktor der Schwabenakademie Irsee. N ICOLA S CHLICHTING , freie Mitarbeiterin des Nürnberger Instituts für NS- Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Gedenkstätte Bergen-Belsen. J IM G. T OBIAS , Leiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts.