Spitzbuben und Erzbösewichter
Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation
0123
2013
978-3-8649-6320-9
978-3-8676-4403-7
UVK Verlag
Christina Gerstenmayer
Waren Räuberbanden und ihre Verbrechen im Alten Reich allgegenwärtig, wie viele Quellen behaupten? Oder handelte es sich bei >diebischen Rotten< um fiktive Schreckensbilder, die von territorialen Obrigkeiten zur Disziplinierung und Herrschaftslegitimation gezeichnet und genutzt wurden?
Um das Phänomen zwischen Konstruktion und Realität zu verorten, richtet die Studie ihren Blick auf die Strafprozesse gegen Diebe und Räuber im Kurfürstentum Sachsen. Zwischen Vorwurf und Verteidigung, zwischen Gewalttat und Gnadenbitte bedienten sich die Akteure bei Gericht verschiedener Stereotype und Argumentationen.
Die Autorin untersucht, wie sich diese im 18. Jahrhundert wandelten und in welchem Bezug sie zu Darstellungsweisen in Normen, Verwaltungspraxis und Printmedien standen.
<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 27 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt <?page no="2"?> Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München <?page no="3"?> Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 600 »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart«, Trier, entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-320-9 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: August Querfurt, Straßenräuber überfallen Reisende © Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister; Inv.Nr. GK 636 Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Inhaltsverzeichnis Dank 7 1 Einleitung 9 1.1 Fragestellung und Untersuchungsdesign 12 1.2 Aspekte der Forschung 16 1.3 Quellen, Methoden und Aufbau der Arbeit 23 2 Vom ‚Augusteischen Zeitalter’ zum Rétablissement: Sachsen im 18. Jahrhundert 29 2.1 Tendenzen der Territorialpolitik 29 2.2 Sozioökonomischer Hintergrund 32 2.3 Strukturen der Medienlandschaft 38 2.4 Strafjustiz und Verfahrensweg 42 3 Der Zugriff der ‚guten Policey’ 49 3.1 Entwicklung der Gesetzgebung 50 3.1.1 Der Raub in Landrecht, Carolina und Konstitutionen 50 3.1.2 Die sächsischen Verordnungen im Überblick 55 3.1.3 Konstanten und Verschiebungen in der Strafzumessung 61 3.1.4 Positionen der beteiligten Rechtsinstitutionen 73 3.2 Herausforderungen bei der Umsetzung 76 3.3 Gaunerlisten als Fahndungsinstrument 84 3.3.1 Entstehungskontext 84 3.3.2 Vulgonamen 88 3.3.3 Charakteristika der sächsischen Vaganten 94 3.4 Wege in den Strafprozess 103 4 Von Taten und Tätern 109 4.1 Zeitliche und räumliche Schwerpunkte 109 4.2 Die sächsische Bande als soziale Kleingruppe 116 4.3 Zusammensetzung: Herkunft und Karrieren 135 4.4 Delikte, Schauplätze und Techniken 153 4.4.1 Tatorte 154 4.4.2 Vorgehensweise 163 4.5 Wirtshäuser als Stützpunkte und Schnittstellen 173 <?page no="5"?> 6 5 Akteure und Argumentationen im Strafprozess 181 5.1 Die Prozessteilnehmer 182 5.2 Folter und Konfrontation 191 5.3 Urteile und Strafen 210 5.4 Die Gnadenverfahren 224 5.5 Argumentationsmuster 233 5.5.1 Juristische Argumente 233 5.5.2 Ökonomie und Armut 238 5.5.3 Soziales Milieu 245 5.5.4 Persönliche Situation 250 6 Räuberbilder: Verteufelung und Bewunderung 261 6.1 Printmedien: Formate und Kontexte 262 6.1.1 Aktuelle Drucke und Aktenmäßige Berichte 263 6.1.2 ‚Totengespräche’ 274 6.1.3 Texte der Wissensvermittlung 283 6.1.4 Bildliche Darstellungen 293 6.2 Wechselwirkungen 306 6.3 Stereotype 316 6.3.1 Der Bösewicht 318 6.3.2 Der Spitzbube 321 6.3.3 Der Reumütige 323 6.3.4 Der Familienmensch 325 6.3.5 Der Held 327 7 Zusammenfassung 329 8 Verzeichnisse 339 8.1 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 339 8.2 Quellen- und Literaturverzeichnis 340 8.2.1 Ungedruckte Quellen 340 8.2.2 Gedruckte Quellen 348 8.2.3 Literatur 354 8.3 Orts- und Personenindex 383 <?page no="6"?> 7 Dank Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2011 vom Fachbereich III der Universität Trier als Dissertation angenommen. Auf dem Weg von der Idee bis zum Buch haben mich viele Menschen unterstützt. An erster Stelle gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Helga Schnabel-Schüle dafür, dass sie mir die Möglichkeit und den Freiraum gegeben hat, eigenständig zu forschen und zu schreiben. Sie hat mir mit ihrer Hilfe und ihrem Vertrauen in mein Vorhaben stets den Rücken gestärkt. Prof. Dr. Franz Dorn hat als zweiter Leiter des interdisziplinären Teilprojekts B3 „Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit“ im Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut“, in das die Arbeit eingebunden war, hilfreiche Anregungen von rechtshistorischer Seite gegeben und das Zweitgutachten erstellt. Meinem Kollegen Sebastian Schmidt danke ich für konstruktive Kritik und fortwährendes Interesse an der Dissertation in ihrer gesamten Entstehungszeit. Harriet Rudolph hat mit ihrer wohlwollend kritischen Auseinandersetzung mit dem Exposé, dem Arbeitsprozess und einzelnen Kapiteln viel zum Gelingen des Projekts beigetragen, wofür ich ihr sehr danke. Christina Schommer hat sich eingehend mit dem Manuskript beschäftigt und viele Anregungen zu seiner Verbesserung gegeben. Juliane Tatarinov, Katrin Marx-Jaskulski, Karen Eifler, Gerald Grommes und Carolin Schmitz haben Abschnitte Korrektur gelesen und waren stets zum erholsamen Austausch über die kleinen und größeren Sorgen mit einer Dissertation ansprechbar. Bei Dirk Suckow bedanke ich mich außerdem für Hinweise zu gestalterischen Aspekten. Julia Heinrich, Debora Finke, Annette Düren und Désirée Esper haben das Projekt als studentische Hilfskräfte tatkräftig unterstützt. Gedankliche Anregungen von Prof. Dr. Helmut Bräuer, Prof. Dr. Gerd Schwerhoff und Dr. Falk Bretschneider halfen mir im frühen Stadium dabei, das Forschungskonzept zu entwerfen. Spezielle Foren wie etwa das Transatlantische Doktorandenseminar des German Historical Institute Washington oder die Veranstaltungen innerhalb des Promotionsstudiengangs PromT an der Universität Trier boten nützliche Gelegenheiten, Anlage und Ergebnisse der Arbeit zu reflektieren und zu diskutieren. Die freundliche und kompetente Beratung durch die Mitarbeiter der Sächsischen Archive, besonders durch Anja Moschke (Bautzen) und Carla Calov (Leipzig), erleichterte die Zusammenstellung der archivalischen Quellen ungemein. Den Herausgebern von ‚Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven’ danke ich für die Aufnahme in die Reihe und Uta Preimesser für die freundliche Betreuung bei der UVK Verlagsgesellschaft. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck dieser Studie großzügig bezuschusst. Beim Freundeskreis Trierer Universität e.V. bedanke ich mich für die Auszeichnung der Dissertation mit dem Förderpreis für den wissenschaftlichen Nachwuchs. <?page no="7"?> 8 Meinen Freunden und meiner Familie kann ich für ihr Interesse am Projekt, für ihre Unterstützung und ihre Zuversicht nicht genug danken. Widmen möchte ich das Buch meinen verstorbenen Eltern, die sich aufopfernd dafür eingesetzt haben, dass ihre Kinder sich ganz nach ihren Interessen sorgenfrei entfalten konnten und sie in jeder Hinsicht gefördert haben. Besonders danke ich aber meinem Mann Thomas, der mir den Rücken freigehalten und mir immer wieder die Bodenhaftung gegeben hat, die zum zielorientierten Denken und der Fertigstellung der Promotion notwendig war. Mit der Hilfe unseres Sohnes Max, der sein Kinderzimmer nach seiner Geburt mit Bücherstapeln, Räuberberichten und Quellentranskripten teilen musste, erinnert er mich immer wieder liebevoll daran, dass das Leben nicht nur aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit besteht. Trier, im November 2012 Christina Gerstenmayer <?page no="8"?> 9 1 Einleitung Das Phänomen der frühneuzeitlichen Räuberbanden interessiert verschiedene Disziplinen der Wissenschaft. Seit etwa dreißig Jahren widmen sich historische Forschungsarbeiten zur Frühen Neuzeit der Untersuchung von Räuberbanden und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen. 1 Gerade die neueren Beiträge setzen sehr unterschiedliche Schwerpunkte und rangieren zwischen der detaillierten Beschreibung ausgesuchter Beispielfälle auf der einen und dem Bestreiten der Existenz organisierter krimineller „Banden“ überhaupt auf der anderen Seite. Die erstgenannten Studien rekonstruieren rekonstruieren vorrangig die Biografien oder ‚Gerichtskarrieren’ exemplarischer Räuber und ihrer Komplizen anhand der zeitgenössischen Überlieferung. 2 Die andere Forschungsmeinung am entgegengesetzten Ende des Spektrums entstammt meist einer betont dekonstruktivistischen Perspektive und stellt den Umstand, dass Räuberbanden in zeitgenössischen Quellen des 18. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Gesprächsthema wurden, vorrangig in den Zusammenhang breiter Kriminalisierungstendenzen im Rahmen der ‚guten Policey’. 3 Die hier umrissenen Pole der Forschungslandschaft - die am Beispielmaterial orientierte Einzelfallbeschreibung einerseits und der kritische Blick auf die soziale Devianzkonstruktion andererseits - charakterisieren unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema Räuberbanden. Diese verschiedenen Zugänge sind stets geprägt und vorstrukturiert durch die Quellenauswahl, die für die Annäherung an die Fragestellung getroffen wurde. In Bezug auf das ‚Problemfeld’ Räuberbanden ist die Vielfalt der in Frage kommenden Quellentypen ausgesprochen groß. Dadurch bieten sich dem Forscher unterschiedliche Repräsentationen zur Auswertung und Analyse an. Dazu gehören Normen, Verwaltungskorrespon- 1 Eine frühe Grundlage mit der Auswertung einer Sammlung von Fällen schuf A VÉ -L ALLEMANT , Gaunertum. Im Rahmen der modernen Historiographie gilt Hobsbawm als Vorreiter einer sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise, vgl. H OBSBAWM , Sozialrebellen und D ERS ., Banditen. Im deutschsprachigen Bereich entwickelte sich die kriminalitätshistorische Forschung, in der auch auf Räuberbanden aus einer sozial- und kulturgeschichtlichen Perspektive Bezug genommen wurde, etwas später mit K ÜTHER , Räuber und Gauner; D ERS ., Menschen; R EIF , Räuber; D ANKER , Räuberbanden oder S CHUBERT , Leute. Zur Problematik in Kursachsen vgl. besonders F IEDLER , Räuberwesen und C ZOK , Problem. Zentrale aktuelle Beiträge zur Forschung bieten D ANKER , Geschichte; A MMERER , Heimat und F RITZ , Rotte. Als Überblick siehe S CHWERHOFF , Art. Räuberbanden. 2 Vgl. als Beispiele dafür D ANKER , Räuberbanden; B LAUERT , Sackgreifer; F LECK , Diebe oder D OBRAS , Schinderhannes. Zuletzt war die biografische Vorgehensweise bei Lange zu beobachten, der in seiner deskriptiven Studie eine weiterführende Fragestellung oder Einordnung in den Forschungszusammenhang leider vermissen lässt, vgl. L ANGE , Räuber. Ähnlich verfahren zahlreiche heimatkundliche Arbeiten, die hier nicht Gegenstand der Betrachtung und Auseinandersetzung sein sollen. 3 Vgl. die Arbeiten von Härter, der den Bandenbegriff konsequent in Anführungszeichen setzt, weil er „Banden“ ausschließlich als Produkt von Zuschreibungsprozessen gegenüber Vagierenden und Devianten versteht, H ÄRTER , Policey, S. 1118-1119. Vgl. auch D ERS ., Art. Gaunertum. <?page no="9"?> 10 denzen und Gerichtsakten ebenso wie berichtende Druckschriften, belehrende Predigten, erläuternde Zeitschriftenartikel oder Belletristik. Der Begriff der Repräsentation ist nicht synonym zu ‚Darstellung’ oder ‚Medium’ zu verstehen. Er umfasst, verkürzt formuliert, einen kommunikativen Akt im Verhältnis zum Akteur, dem bezeichneten Objekt und dem potenziellen Rezipienten. Konstitutiv ist somit ein enger Bezug zu Entstehungskontext und Deutungspotenzial. 4 Dabei kann eine einzelne Repräsentation verschiedene Angebote und Möglichkeiten der Deutung enthalten. 5 Das gilt für Texte mit einem hohen Fiktionalitätsgrad genauso wie für Quellen, die mit einem offenbar größeren Anspruch der ‚Dokumentation’ entstanden sind. Nebeneinander und vergleichend betrachtet bilden alle diese Repräsentationen die heterogenen Bestandteile des übergreifenden zeitgenössischen ‚Räuberbandendiskurses’ - auch wenn sie den unterschiedlichsten Textgattungen zuzuordnen sind. Sie spiegeln somit das Sagbare und Denkbare zum Phänomen Räuberbande im zeitgenössischen Umfeld nicht nur wider, sondern begründen und organisieren es überhaupt erst. 6 Dieses Verständnis des Diskursbegriffes umfasst auch das „Machbare“, denn über die Verwaltungs- und Gerichtsüberlieferung eröffnen sich vielfach Einblicke in die Praktiken. 7 Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung der diversen Repräsentationen bestimmter Räuberbanden von den Gerichtsakten bis zum Roman steht bisher noch aus. 8 Zudem wurde der normative, praktische und mediale Umgang mit dem Phänomen Räuberbanden bisher noch nicht für einen territorial begrenzten Untersuchungsraum analysiert. Die vorliegende Arbeit verknüpft die Bearbeitung dieser beiden Desiderate miteinander. Mit seinen Besonderheiten einerseits und seiner Wirkung nach außen andererseits ermöglicht das ‚Territorium’ als Untersuchungsraum nicht nur Aussagen zur Beschaffenheit der landestypisch geprägten Kommunikation über Räuberbanden. Es kann außerdem untersucht werden, wie sich die rechtlichen und administrativen Handlungen der Obrigkeit zu den Aktivitäten der verschiedensten Personen und Gruppen in diesem abgegrenzten Herrschaftsraum verhalten. Die folgenden drei Aspekte begründen kurz gefasst, warum sich die vorliegende Untersuchung mit der strafrechtlichen und strafpraktischen Behandlung gerade von Diebes- und Räuberbanden im frühneuzeitlichen Territorium auseinandersetzt: Erstens wurden wurden die der Räuberbanden im Vergleich zu 4 Dementsprechend wird in der modernen Medienanalyse zumeist gefordert, Produktions-, Distributions- und Rezeptionskontext eines Medienbeitrags stets einzubeziehen. 5 Vgl. H OBUß , Repräsentationsarbeit. 6 L ANDWEHR , Diskursanalyse, S. 21. Vgl. auch E DER , Diskursanalysen, S. 29. 7 Vgl. L ANDWEHR , Diskursen. 8 So wurde etwa dem Hinweis darauf, dass ein solcher Vergleich von Gerichtsakte und unterhaltender Darstellung ein Desiderat darstellt, während der Diskussion auf der Tagung zu „Neuen Tendenzen der Historischen Kriminalitätsforschung“ (Göttingen 2006) mit großer Zustimmung begegnet. Zu den Tagungsergebnissen siehe H ABERMAS / S CHWERHOFF , Verbrechen. <?page no="10"?> 11 anderen Verbrechen häufiger in den zeitgenössischen Medien repräsentiert, 9 was mitunter von der landesherrlichen Regierung forciert wurde. Die Obrigkeiten stuften ihre Taten als besonders verwerflich ein, weil sie nicht nur das Eigentum und die Gesundheit einzelner Untertanen verletzten, sondern auch den Landfrieden, die öffentliche Sicherheit und die territoriale Ökonomie bedrohten. Vor diesem Hintergrund ist die verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu bewerten. 10 Die Bandenkriminalität stellte zweitens ein Phänomen von grenzübergreifender Bedeutung dar, denn sie wurde nahezu überall im Heiligen Römischen Reich und auch darüber hinaus diagnostiziert. 11 Durch die zeitgenössische Überlieferung haben in vielen Ländern und Landesteilen einzelne Fälle eine große Prominenz erhalten, wodurch die damit verbundenen Namen oder Taten den Bewohnern zum Teil heute noch bekannt sind. Auch in Sachsen erreichten bestimmte ‚Räuberhauptleute’ einen hohen regionalen Bekanntheitsgrad. 12 Es ist zweckmäßig und dringend notwendig, diese zeitgenössisch berühmten neben andere, bisher unbekannte Banden zu stellen und miteinander in einen engen Bezug zu bringen. Denn nur so kann man Erkenntnisse zu den Erscheinungsformen, den Repräsentationen und der Bedeutung von Räuberbanden in ihren Rahmenbedingungen erhalten, die sich nachfolgend mit anderen Territorien vergleichen lassen. Drittens haben Räuberbanden durch ihren vermeintlichen Organisationscharakter ein Merkmal inne, das sich für die Analyse in doppelter Hinsicht als anregend erweist: Zum einen wirkten sie auf die Obrigkeit besonders gefährlich und unberechenbar, weil sie als Gruppe zu agieren schienen. Aus diesem Grund räumte die Strafjustiz der Bekämpfung dieser Kapitalverbrecher eine hohe Priorität und die höchsten Strafmaße ein. Zum anderen bieten sich für Historiker besondere Auswertungsmöglichkeiten durch die Gruppendynamik, die in den Prozessen zu beobachten ist: Die Ermittler konfrontierten Verdächtige in den Verhören 13 des Strafverfahrens miteinander, setzten sie als Be- oder Entlastungs- 9 Zur Darstellung einzelner berühmter Räuberpersönlichkeiten im Kalender als einer frühneuzeitlich populären Mediengattung vgl. B ELLINGRADT , Räuberhaupmann. Die Wiedergabe von Kriminalität im Flugblatt thematisiert H ÄRTER , Criminalbildergeschichten. 10 S CHWERHOFF , Einführung, S. 138. 11 Dass das Vorkommen und die Verfolgung von Räuberbanden keine auf wenige Regionen des Reiches begrenzten Phänomene gewesen sein können, deutet sich auch anhand der oben erwähnten, breiten heimatkundlichen Überlieferung an, die in vielen Gebieten Deutschlands bis heute an bestimmte Räubergestalten erinnert. 12 In Kursachsen sind dies zumindest die drei Räuberbanden um die „Anführer“ Nickel List, Lips Tullian und Johann Karraseck. Vgl. als Hinweise auf ihre zeitgenössische und teilweise bis heute andauernde territoriale Popularität beispielsweise den Art. List, Nicolas. In: ADB, Bd. 18, S. 774- 778; A DLOFF , Goldkocher; S CHWÄR , Volksgeschichten. 13 Vgl. als zeitlichen Querschnitt der Praktiken des Verhörens aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers N IEHAUS , Verhör. Als detaillierte Darstellung eines einzelnen Beispielfalls siehe D ERS ., Mord. Der Einfachheit halber werden im Folgenden Verhör und Vernehmung synonym verwendet. <?page no="11"?> 12 zeugen ein und belohnten Denunziationen vermeintlicher Komplizen mit Strafmilderung. Diese Personenkonstellationen und Konfliktsituationen bergen hohes Potenzial für die Deutung der Kommunikations- und Argumentationsstrategien. 1.1 Fragestellung und Untersuchungsdesign Die vorliegende Arbeit untersucht die strafrechtliche Verfolgung von Räuberbanden in ihrem rechtlichen und sozioökonomischen Beziehungssystem. Dabei wird die Prozessüberlieferung aus dem gesamten Untersuchungszeitraum herangezogen. Vor dem Hintergrund struktureller territorialer Entwicklungen wird aus der Zusammenschau von Gerichtsquellen, administrativer Kommunikation und öffentlich verbreiteten Medienerzeugnissen die Konstruktion von ‚Bildern’ der Räuberbanden beleuchtet. Die zentrale Frage an das Material lautet somit: Woraus setzt sich der Diskurs um die Räuberbanden des Kurfürstentums Sachsen im 18. Jahrhundert zusammen? Welche Repräsentationen haben daran Anteil und welche Wechselwirkungen zeigen sich zwischen der Strafverfolgung und den Mediendarstellungen? Dabei setzt die Analyse zunächst bei der Rechtspraxis an, wenn sie die Strafprozesse fokussiert: Wie ging die Obrigkeit mit dem Phänomen allgemein und mit den Betroffenen vor Gericht um? Wie wurden dabei die Täter und ihre Taten in den Akten beschrieben? Hat sich daraus ein spezifisch sächsischer ‚Typ’ der Räuberbande herauskristallisiert? Wie verteilten sich die Maßnahmen gegen Banden im Untersuchungsgebiet und wie verliefen sie? Wie bedingten und beeinflussten sich dabei der Rechts- und Herrschaftsraum und die Verbrechen? Welche ‚Handlungsräume’ und Kommunikationsmöglichkeiten nahmen die verschiedenen Beteiligten wahr? Aufbauend auf der Auswertung der Strafverfahren wird untersucht, wie sich die Sichtweisen auf Räuberbanden entwickelten und wandelten. Dabei geht die Studie von der Grundannahme aus, dass sich spezielle Argumentationsstränge ‚von oben’ wie ‚von unten’ durch verschiedene Repräsentationen zogen und aufeinander wirkten. Es wird herauszuarbeiten sein, ob und wie eine übergreifende Konstruktion von Stereotypen stattfand. 14 Durch den Vergleich unterschiedlicher Quellenperspektiven und die Zusammenschau berühmter sowie unbedeutend gebliebener Fälle soll die bisher lediglich als „Inselwissen“ 15 gekennzeichnete Forschung zu Räuberbanden des 18. Jahrhunderts ergänzt und ausgebaut werden. Mit dem Kurfürstentum Sachsen wurde ein reichsnahes Territorium ausgewählt, das unter Kurfürst Friedrich August I. noch eine bedeutende Stellung im 14 Vgl. einführend dazu R EISIGL , Stereotyp (I) und D ERS ., Stereotyp (II). 15 D ANKER , Geschichte, S. 142. Vgl. auch S CHWERHOFF , Einführung, S. 136. <?page no="12"?> 13 Reichszusammenhang besaß. 16 Es blieb im Laufe des Untersuchungszeitraums relativ konstant in seinen Grenzen, die eine mittelgroße Fläche umfassten. Vor allem aus rechtshistorischer Sicht nahm es einen Sonderstatus in der Frühen Neuzeit ein, da neben den landesherrlichen Konstitutionen von 1532 besonders das Werk Benedict Carpzovs und mit ihm die Entwicklung der Leipziger juristischen Institutionen der sächsischen Rechtsdogmatik einen besonderen Stellenwert im reichsrechtlichen Kontext gaben. 17 Die beiden territorialen Juristenfakultäten genossen hohes Ansehen; vor allem aber der Schöffenstuhl Leipzig avancierte zu einem bedeutenden Spruchgremium, das nicht nur innerhalb des Kurfürstentums eine zentrale Gutachterfunktion einnahm, sondern auch von außerhalb in strittigen Fällen angerufen wurde. 18 Gegenüber früheren Phasen ist die rechtshistorische Forschung zu Sachsen im 18. Jahrhundert noch unterentwickelt. 19 Wenn man aber davon ausgeht, dass diese Institutionen weiterhin prägend für die Normenentwicklung im Reich blieben, ergibt sich daraus die weiter führende Frage, ob der Umgang mit einer Problematik wie den Gauner- und Räuberbanden auch Vorbildcharakter für Nachbarterritorien haben konnte. Anlass für die Wahl des 18. Jahrhunderts war einerseits die Forschungsthese, es habe eine ‚Hochzeit der Räuberbandenkriminalität’ 20 dargestellt, was manchmal gar nicht, oft aber aus herrschaftszentrierter Perspektive mit einer gesteigerten Verordnungsfrequenz begründet wird. Auch für Kursachsen kann mit Blick auf diese Quellenebene eine erhöhte obrigkeitliche Aufmerksamkeit konstatiert werden: So stammt das erste kursächsische Mandat gegen Räuberbanden aus dem Jahr 1706. Die Zeitspanne von 1695 bis 1803 beginnt darüber hinaus mit der Aktivität der ersten ‚berühmten’ sächsischen Räuberbande um Nickel List und endet mit der Verurteilung des letzten großen Räuberhauptmanns der Oberlausitz, Johann Karraseck. Über eine so begrenzte Dauer kann ein Wandel im Umgang mit den Gruppierungen untersucht werden. Nur eine zeitliche Ausweitung des Blicks ermöglicht es, unterschiedliche Strafverfahren einzubeziehen und in einem größeren Rahmen Typologien zu erstellen. Zudem wird der Untersuchungszeitraum zusätzlich mit dem Beginn des so genannten „Augusteischen Zeitalters“ (1694) und mit dem Ende des Kurfürstentums Sachsens (1803) begrenzt. Die ausgewählten Medienberichte enthalten - im Unterschied zu den übrigen Quellenarten -Materialien bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dieser Ausweitung des Referenzzeitraums wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine Berichterstattung nicht nur zeitnah, sondern auch um einige 16 Vgl. K ELLER , Landesgeschichte, S. 147. 17 Vgl. D ORN , Entwicklung. 18 Vgl. umfassend zum Schöffenstuhl Leipzig B OEHM , Schöppenstuhl. 19 So stellt auch Schmale fest, dass die Forschung zur Gerichtsverfassung Sachsens im 17. und 18. Jahrhundert noch Nachholbedarf aufzeigt, vgl. S CHMALE , Herrschaft, S. 12. 20 Vgl. beispielsweise E IBACH , Recht, S. 111. <?page no="13"?> 14 Jahrzehnte verzögert stattfinden konnte, und Straffälle sowie Medienrepräsentationen mit Verspätung aufeinander wirken konnten. 21 Die ‚Räuberbande’ stellt die größte Herausforderung bei der Bestimmung der im Titel angeführten Begriffe dar. Gemeinschaftlich konnte im zeitgenössischen Rechtsverständnis sowohl der Raub als auch der Diebstahl begangen werden, was sich in der Praxis dann strafverschärfend auswirkte. In den Verdachtsmomenten gegen Gruppierungen, die vor den sächsischen Amtsgerichten standen, kamen meist die verschiedensten Formen der Entwendung vor. 22 Ich bin mir darüber bewusst, dass dem Terminus zum einen bis heute eindeutig negative Konnotationen anhaften. Etwas offener und weniger wertend erscheint das Wort ‚Gruppe’ oder der breiter gefasste, wenngleich sperrige Begriff ‚Gruppierung’. 23 Zum anderen ist mit der Bande häufig die Vorstellung einer straff organisierten, hierarchisch strukturierten und nach außen abgegrenzten Gemeinschaft verbunden. Die Frage, ob und wie Räuberbanden im 18. Jahrhundert durchorganisiert waren, bleibt aber noch zu beantworten. Dass dennoch nachfolgend das Wort Bande dominiert, dient in erster Linie der Einheitlichkeit und Verständlichkeit. Ein bestimmter Grad an innerer Organisation ist dabei nicht impliziert. Über die Aufnahme eines Falles in das Quellensample entschied, ob eine Gemeinschaft von mehreren Personen eine oder diverse Taten begangen oder versucht hatten, ob ein Verdacht über einen Einzeltäter hinausreichte oder ein Quellentext den Begriff ‚Räuberbande’ explizit verwendete. Da hiermit die Frage nach der Konstruktion von Räuberbanden angerissen ist, erscheint eine kurze Stellungnahme zu deren (Selbst-)Verständnis als Gegengesellschaft oder Subkultur angebracht: Küther ging seinerzeit von der These aus, auch im deutschen Gaunerwesen erkenne man archaische Formen von Sozialrebellen, und entwarf auf dieser Grundlage die Vorstellung von einer politisch motivierten „Gegengesellschaft“ 24 , in die sich die Vaganten und Kriminellen als Alternativmodell zur stratifizierten, etablierten Bevölkerung eingliederten. Diese Interpretation wurde in nachfolgenden Arbeiten widerlegt und die Gegengesellschaft zumindest für das Heilige Römische Reich als Mythos entlarvt. 25 21 Da manche der Räuber sogar noch in die Belletristik des 20. und 21. Jahrhunderts eingehen, können aber nicht alle literarischen Erzeugnisse einbezogen werden, um den Rahmen nicht zu sprengen. 22 Konsequent müsste daher statt von Räuberbanden von „Diebes- und Räuberbanden“ gesprochen werden. Eine genauere Klassifizierung in Diebesbande oder Räuberbande ist bei vorhandener Quellenbasis nicht immer möglich und wird im Folgenden nur dort explizit hervorgehoben, wo die Unterscheidung nach zeitgenössischen Kriterien in Raub und Diebstahl im Sinne der Fragestellung einen Mehrwert für die Ergebnisse verspricht. Ob daneben auch jenseits der gewaltsamen oder heimlichen Entwendung von „Gaunerbanden“ gesprochen werden kann, soll ebenfalls im Verlauf der Analyse geprüft und erläutert werden. 23 Vgl. grundlegend S CHÄFERS , Einführung. 24 K ÜTHER , Räuber und Gauner, S. 56. 25 Vgl. S EIDENSPINNER , Mythos vom Sozialbanditen. <?page no="14"?> 15 Allein der „Bayerische Hiesel“ wird in der Forschung als auch sozial motivierter Räuber beschrieben. 26 Hinsichtlich der Struktur der Banden vorsichtiger formuliert wurde das Modell der „Subkultur“. Danach seien die Kriminellen nur lose miteinander verbunden gewesen und hätten sich vor allem für gezielte Aktionen zu zeitlich begrenzten Zweckgemeinschaften zusammengefunden. 27 Diese Auffassung stützt sich oft auf Quellenanalysen und wirkt im Vergleich differenzierter als das Bild einer hierarchisch aufgebauten Bande. ‚Subkultur’ bezieht sich aber vor allem auf vermeintliche Selbst-Exklusions-Bestrebungen mittels der Verwendung von Pseudonymen und der ‚Gaunersprache’ Rotwelsch als eigenem Verständigungsmittel. Damit verbleibt die Theorie jedoch zu sehr bei zeitgenössischen Deutungsmustern. Die Devianzzuschreibungen für Bettler, Vaganten und Zigeuner des 18. Jahrhunderts konstruierten ebenfalls die Vorstellung von einer Subkultur - auch wenn der moderne Begriff noch nicht etabliert war. Bereits hier erkennt man eine Etikettierung Armer und Vaganten als Gauner und potenzielle Kriminelle durch das Argument der bewussten Abgrenzung von der ‚Normalgesellschaft’. Diese erhärtet sich durch die Subkultur-Theorie rückwirkend. Nach wiederholten Zweifeln an diesen Theoriemodellen erscheint der aus der Kriminalsoziologie stammende Labeling Approach hilfreicher, um die vermeintlichen Kriminellen stärker in die Zusammenhänge von Kommunikationsvorgängen einzuordnen. Nach diesem Ansatz wird Kriminalität dadurch bestimmt, was ‚von außen’ als solche bezeichnet wird. Die Verordnungen, die anschließende Verfolgung und die dadurch generierte Verständigung über kriminelle Phänomene konnten durchaus die Zahl von Verdächtigen steigern und die Sicht auf diese Delinquenz insgesamt beeinflussen. Daher kann die Extraktion etikettierender und stigmatisierender Repräsentationen rückblickend dazu beitragen, die gesellschaftlichen Funktionen dieser Praktiken zu entschlüsseln. Die in Untersuchung befindlichen Personen sollen hier nicht automatisch als Kriminelle, Banden oder Helfer begriffen werden. Im Gegensatz dazu wird aber auch nicht davon ausgegangen, dass es ‚den Räuber’ oder ‚die Bande’ und die ihnen zugeordneten Delikte ohne die Zuschreibung überhaupt nicht gegeben hätte. Dies ist auch der zentrale Kritikpunkt an einer Überbewertung des Etikettierungsansatzes: Die bezeichneten, etikettierten und vor Gericht stehenden Personen werden als weitgehend passiv verstanden. 28 Doch wenn auch die Quellen eine 26 Vgl. dazu unter anderem K ARL , Sozialrebellen. 27 Vor allem bei S EIDENSPINNER , Mythos Gegengesellschaft. Vgl. daneben D ANKER , Geschichte, S. 75; J ÜTTE , Arme, S. 237-246; S CHUBERT , Leute, S. 274-281. Als Zusammenfassung der kritischen Positionen demgegenüber vgl. S CHWERHOFF , Einführung, S. 140-142. 28 Indem Kriminalität dadurch definiert wird, was ‚von außen’ oder für die Frühe Neuzeit auch ‚von oben’ als solche bezeichnet wird, rückt das Modell den Delinquenten selbst in die ausschließlich passive Position eines Objekts, was aber gerade hinsichtlich der Analyse der Bedeutung von Akteuren und komplexen Kommunikationsprozessen zu kurz greift. Vgl. S CHWERHOFF , Einführung, S. 81. <?page no="15"?> 16 stark obrigkeitlich gefärbte Sichtweise auf Strafverfahren wiedergeben, ist nicht auszuschließen, dass es auch für die Betroffenen Handlungsmöglichkeiten gab. In jeder Dissertation müssen zwangsläufig bestimmte Aspekte und Fragestellungen ausgespart werden: Neben dem Einzeltäter, dessen Berücksichtigung die Untersuchung in ihrem Zuschnitt auf ein Jahrhundert und ein Territorium deutlich gesprengt hätte, können etwa Wilderer und Schmuggler als Sonderfälle nicht in die Analyse einbezogen werden. Ein weiterer Themenbereich, der im Hinblick auf Quellenbasis und Herangehensweise nicht bearbeitet werden kann, ist die umfassende Schicht der Vaganten und nichtsesshaften Armen in all ihren Formen. Die vorliegende Untersuchung muss sich auf diejenigen beschränken, die in Verbindung mit den Strafverfahren gegen Räuber in Erscheinung traten - sei es durch Verfolgungsmaßnahmen, beim Prozessverlauf oder in der Außenwahrnehmung. 1.2 Aspekte der Forschung Von den Studien der Historischen Kriminalitätsforschung, die sich dem Thema Bandenwesen widmen, 29 wird Carsten Küthers Forschung oft als deutsche Pionierarbeit gewürdigt, die erste Ergebnisse zur Sozial- und Kulturgeschichte der nichtsesshaften und devianten Randgruppen erarbeitet hat. 30 Allerdings wurde vor allem seine an Eric Hobsbawm orientierte These, kriminelle Banden im Reich hätten analog zum englischen ‚Sozialrebellen’ ein politisches Interesse zu erkennen gegeben, 31 mehrfach kritisiert und widerlegt. Differenzierter ging Uwe Danker an das Material heran, der 1988 in seiner Dissertation exemplarisch drei Räuberbanden im Großraum Sachsen gründlich untersuchte und dabei herausstellte, dass ein hohes Maß an Organisation und gleichbleibender Hierarchie für die kriminellen Gruppen kaum beschrieben werden kann. Bei ihren kleineren und heimlichen Diebstählen, die die großen Raubzüge mit hohen Erträgen klar überwogen, sei vor allem das Prinzip der Leistung für die Gemeinschaften vorherrschend gewesen, das den Aufbau der kriminellen Netzwerke und die Abläufe 29 Nur ein Teil der bisher über Diebes- und Räuberbanden und Randgruppen erschienenen Literatur entstammt der analytischen, kriminalitätshistorischen Perspektive. Zahlreiche weitere Veröffentlichungen fokussieren auf spezielle Banden, Mythen und Traditionen und ziehen dabei vorrangig die populäre Überlieferung und heimatkundliche Quellen heran. Ein Beispiel dafür geben Kura, Ruhland und Unger, die verschiedene Fälle in Sachsen unter der Sammelkategorie „Mordbrenner, Räuber, Pascher und Wildschützen“ lose nebeneinander stellen, eine übergeordnete Fragestellung wie auch ausführliche Nachweise aber vermissen lassen, siehe K URA , Sachsens Mordbrenner. So können diese und ähnliche Arbeiten unter der avisierten quellenkritischen Fragestellung nach zeitgenössischen Sichtweisen oder Konstruktionen kaum genutzt werden. 30 K ÜTHER , Räuber und Gauner. Zur Entwicklung der historischen Forschung zu Räuberbanden vor den 1970er Jahren vgl. F RITZ , Rotte, S. 21-25. 31 K ÜTHER , Räuber und Gauner, S. 147-148. <?page no="16"?> 17 der Karrieren bestimmt hätte. 32 Als der Autor seine Forschungen 2001 in einen größeren Kontext stellte, revidierte er einige seiner früheren Thesen, darunter diese Einordnung der Banden als Vorboten moderner Leistungsgesellschaften. 33 Mit Bezug auf andere Regionen des Alten Reiches erschienen seither verschiedene Studien, die das kriminelle Bandenwesen zumeist an konkreten Einzelfällen wissenschaftlich zu ergründen suchten. Vor allem die Mitte und der Südwesten des Heiligen Römischen Reiches standen bisher im Blickfeld der Forschung, da hier ein durch die Kleinteiligkeit der Territorien begünstigter räumlicher Schwerpunkt ausgemacht wurde: Andreas Blauert untersucht die Gerichtsquellen zur Räuberbande der ‚Alten Lisel’ aus dem Bodenseeraum und gibt nicht nur eine biografische Beschreibung dieser Gruppierung und ihrer Aktivitäten, sondern auch Einblicke in geschlechtergeschichtliche Aspekte, die die Forschung bereichern. 34 Hervorzuheben ist daneben Monika Spicker-Beck, die die Mordbrennerbanden des 16. Jahrhunderts thematisiert. Sie zieht das Fazit, dass die kriminellen Banden durchaus eine Gruppendynamik besaßen und gleichsam als Quelle und Ergebnis einer gesellschaftlichen Unsicherheit und Desintegration betrachtet werden können. 35 Wolfgang Seidenspinner hat ebenfalls Südwestdeutschland im Blick, wenn er aus volkskundlicher Sicht die vielfältige Gruppe der „Jauner“ und ihre Verortung am Rande der Gesellschaft problematisiert. 36 Detailreich und umfassend beschreibt Gerhard Fritz die Aktivität von Banden sowie die Sicherheits- und Verfolgungsmaßnahmen gegen vagierende Deviante und Delinquente im Südwesten des Reiches. 37 Durch verschiedene historische Ausstellungen 38 sind der ‚Schinderhannes’ als einer der bekanntesten Räuberhauptleute sowie die niederländischen und westdeutschen Banden im öffentlichen Gedächtnis besonders präsent. 39 Neben diesen anderen Reichsteilen wird ein Vergleich im internationalen Feld vor allem durch Studien zu österreichischen und schweizerischen Erscheinungsformen sozialer Devianz ermöglicht. 40 Aus der englischen Geschichtsfor- 32 D ANKER , Räuberbanden, S. 276-308. 33 D ERS ., Geschichte, S. 318-319. 34 Vgl. B LAUERT , Sackgreifer. Vgl. speziell zu Frauen in Räuberbanden auch W IEBEL , Schleiferbärbel, sowie S CHEFFKNECHT , Weiber und R UBLACK , Magd, S. 173-198. 35 Vgl. S PICKER -B ECK , Räuber, S. 331. 36 Vgl. S EIDENSPINNER , Mythos Gegengesellschaft. 37 F RITZ , Rotte. Weitere jüngst erschienene Publikationen bieten wenig Neues, sondern eher solide Zusammenfassungen zum Themenkomplex Armut und Devianz auf allgemeiner Ebene, beispielsweise S CHUBERT , Räuber, oder schlichte Einzelfallschilderungen auf bedenklich knapper Quellen- und Literaturbasis wie L ANGE , Räuber. 38 Als besonders vielfältig und lesenswert sei hier S IEBENMORGEN , Schurke hervorgehoben. Vgl. daneben auch B ORCK , Unrecht und D OBRAS , Schinderhannes. 39 Zusammenfassend seien hier die Arbeiten von Udo Fleck genannt, allen voran F LECK , Diebe. 40 Vgl. zu Österreich A MMERER , Heimat; S CHEUTZ , Galgenvögel; G RIESEBNER , Verbannung. Zur Strafrechtspolitik in der Schweiz vgl. L UDI , Fabrikation. Als aktuelle Arbeit zu Frankreich ist B ROERS , War zu erwähnen. Als Versuch eines internationalen Vergleichs siehe den älteren Sammelband O RTALLI , Bande. <?page no="17"?> 18 schung kommen zahlreiche Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte, darunter vielfältige informative Auswertungen von Gerichtsakten. 41 Einen bunten Überblick zum englischen ‚Räuberunwesen’ bietet außerdem Spraggs. 42 Einige wenige Quelleneditionen bieten eher unspezifische Einblicke in die Sichtweisen auf Räuberbanden im Untersuchungszeitraum. 43 Dagegen haben Eva Wiebel und Andreas Blauert eine wichtige Quellengruppe für Südwestdeutschland erschlossen, die sich den ‚Gauner- und Diebeslisten’ gewidmet und einige Steckbriefsammlungen sozialgeschichtlich ausgewertet haben. 44 Mit einer Konzentration auf ‚Aktenmäßige Berichte’ wählte Katrin Lange eine weitere Quellengattung als Grundlage für übergreifende Aussagen zum Bandenwesen im Alten Reich. 45 Die notwendige Kritik an diesen besonderen Darstellungen lässt sie allerdings in ihrer Abhandlung weitgehend vermissen, sodass ihre Ergebnisse weiterhin an archivalischen Quellen zu prüfen bleiben. 46 Darüber hinaus haben sich unter anderem Holger Dainat und Jörg Schönert in einigen literaturhistorischen Studien der Analyse von Räuberromanen und anderen künstlerischen Gattungen, die die frühneuzeitliche Delinquenz widerspiegeln, angenommen. 47 Jenseits der Kriminalitätsgeschichte kann außerdem auf eine umfassende regionalhistorische Forschung zurückgegriffen werden, die das frühneuzeitliche 41 Aus der umfangreichen Literatur zu Kriminalität und Strafrecht im frühneuzeitlichen England seien hier nur exemplarisch einige herausgegriffen, vgl. K ING , Crime; W ALKER , Crime; R ABIN , Identity. Als Beispiel des Umgangs mit Quellen des Londoner Gerichts ‚Old-Bailey’ vgl. S HORE , Crime; als Klassiker zur Delinquenz in der frühneuzeitlichen Metropole vgl. L INEBAUGH , London. Vergleichsmöglichkeiten aus der englischen Forschung bieten außerdem verschiedene Einzelstudien zu angrenzenden Themen wie Wirtshäusern, vgl. F UMERTON , Home, und Kleidung, vgl. S TYLES , Dress. 42 Vgl. S PRAGGS , Outlaws. 43 Hier sind die verschiedenen Quellensammlungen durch Boehncke und Sarkovicz zu nennen, die Ausschnitte von medialen „Berichterstattungen“ zu Räuberbanden beinhalten und einen ersten Einstieg in die Materie bieten, B OEHNCKE / S ARKOWICZ , Räuberbanden. Von ihnen stammen weitere Kompilationen mit regionalem Bezug, dabei für Sachsen speziell D IES ., Sachsens. Die Kriterien für Kürzungen und Auswahl der Texte bleiben allerdings unklar. Zudem bieten die beigefügten Kommentare keine geschichtswissenschaftlichen Hintergründe oder Einordnungen. Unter anderem wegen des Fehlens erläuternder Kommentare eher mit Pitaval-Charakter: K IRCHSCHLAGER , Mörder; K ÖNIG / R UDOLF , Spitzbuben; W EBER , Justizgeschichte. Diese fügen in recht willkürlicher Auswahl archivalische Quellen zu Kriminalfällen zusammen. 44 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten. 45 L ANGE , Gesellschaft. Als literaturwissenschaftlich orientierte Darstellung vgl. auch D UHNKE , Straff. 46 Ein größeres Maß an Quellenkritik sowie eine stärkere Einbeziehung historischer Quellen etwa aus der Gerichtspraxis wäre jedenfalls wünschenswert gewesen. Dies war aber im Rahmen einer Magisterarbeit, auf der die vorliegende Studie basiert, wohl kaum zu leisten, vgl. L ANGE , Gesellschaft. 47 D AINAT , Gespräche; D ERS ., Abaellino; D ERS ., Mensch. Weiterführend zum Thema Literatur und Kriminalität siehe S CHÖNERT , Literatur; B ÖKER / H OUSWITSCHKA , Literatur; M ÜLLER -D IETZ , Recht; L ÜSEBRINK , Kriminalität. <?page no="18"?> 19 Kurfürstentum übergreifend aus politik- und territorialhistorischer Perspektive, 48 mit seiner wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung 49 oder in Bezug auf die rechtshistorische Basis 50 breit beleuchtet. 51 Bestimmte Aspekte der juristischen Entwicklung Kursachsens sind im Einzelnen gut erforscht, 52 doch für das 18. Jahrhundert zeigen sich unter den rechtshistorischen Regionalstudien noch deutliche Lücken. Zu einzelnen Bereichen der Strafrechtsgeschichte Sachsens sind dennoch anregende Arbeiten erschienen, wobei besonders auf den Beitrag Bretschneiders zur Gefängnisgeschichte, Behrischs Studie zur städtischen Gerichtsbarkeit in Görlitz und die Abhandlung Wildes zu Hexenprozessen hingewiesen sei. 53 Ulrike Ludwigs Auswertung der Strafrechts- und Gnadenpraxis Kursachsens im 16. und 17. Jahrhundert wirkte inspirierend für die Frage nach Rolle und Funktion von Suppliken und Gnadenverfahren auch im Rahmen der vorliegenden Strafprozesse. 54 Der Zugang zu den Räuberbanden und zum obrigkeitlichen Umgang mit ihnen durch eine Analyse der Gnadenverfahren und Verteidigungsschriften wurde bisher noch nicht gewählt. Wie Strafe und Gnade zwischen Landesherr, beteiligten Institutionen, lokalen Gerichten und Betroffenen kommuniziert und ausgehandelt wurde, bietet Einsichten in das jeweilige Herrschaftsverständnis. 55 Nach Luhmann war die Bereitschaft zur Sesshaftigkeit und damit die „reguläre, erwartungsbildende Interaktion“ 56 in Mittelalter und Früher Neuzeit eine Voraussetzung für gesellschaftliche Inklusion. An den Gnadenverfahren können die weiteren Bedingungen für die rechtliche und soziale Inklusion und Exklusion 57 von Randständigen wie Räuberbanden ausgelotet werden. Darüber hinaus ergeben sich Hinweise darauf, welche Funktionen die 48 Hier sei nur allgemein auf die zahlreichen Arbeiten etwa von Karlheinz Blaschke, Karl Czok und Uwe Schirmer hingewiesen, siehe dazu auch die Überblicksdarstellung und die Literaturhinweise in K ELLER , Landesgeschichte. 49 Siehe dazu beispielsweise W EISS , Bevölkerung; S CHUNKA , Gäste; S CHIRMER , Wirtschaftspolitik. 50 Grundlegend war aus rechtshistorischer Sicht bereits B OEHM , Schöppenstuhl. Aus der aktuellen Forschung sind besonders die Studien von Heiner Lück, Günter Jerouschek und Ulrich Falk wegweisend. 51 Als Nachschlagewerke sind unter anderem das Historische Ortsverzeichnis von Sachsen unter URL: http: / / hov.isgv.de (letzter Zugriff am 15. August 2012), die sächsische Biografie unter URL: http: / / isgv.serveftp.org/ saebi (letzter Zugriff am 15. August 2012) und die Bände des Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, eines inzwischen leider eingestellten Projekts, hilfreich. 52 Unter den Forschungsthemen hat vor allem das Werk und Nachwirken Benedict Carpzovs eine herausgehobene Stellung, vgl. exemplarisch hierzu J EROUSCHEK [u.a.], Carpzov. 53 B RETSCHNEIDER , Gesellschaft; B EHRISCH , Obrigkeit; W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse. 54 L UDWIG , Herz. Zum Thema Suppliken außerdem grundlegend sind D AVIS , Kopf; R UDOLPH , Regierungsart; R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, sowie B LICKLE , Supplikationen. 55 L UDWIG , Herz, S. 11. Vgl. dazu auch H ÄRTER , Aushandeln und S CHWERHOFF , Supplikenwesen. 56 L UHMANN , Inklusion, S. 23. 57 Vgl. L UHMANN , Inklusion. Zum Verständnis des Begriffspaars Inklusion/ Exklusion im Sinne des theoretischen Rahmens des Trierer SFB 600 ‚Fremdheit und Armut’ grundlegend vgl. R APHAEL , Königsschutz. <?page no="19"?> 20 inkludierenden und exkludierenden Praktiken in der Herrschafts- und Staatskonsolidierung hatten? Da dabei die Ausübung und die Wahrnehmung von Herrschaft anhand der unterschiedlichen Kommunikationsvorgänge überprüft werden soll, liegt es nahe, dass das vielfach kritisierte Modell der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung 58 sich nur bedingt für den gewählten Ansatz der Arbeit eignet. 59 Eine Konzentration auf die normative Ebene, eine lineare Wirkungslogik oder eine teleologische Ausrichtung auf ‚Modernisierung’, welche dem Sozialdisziplinierungs- Ansatz vorgeworfen wurden, würde den hier anvisierten Fragestellungen zuwider laufen. 60 Es reicht nicht aus, Disziplinierung und soziale Kontrolle nur an Normen und ihrer Umsetzung, und dadurch linear ‚von oben nach unten’, festzumachen. 61 Dadurch dass in der vorliegenden Studie auch die Überlieferung der zeitgenössischen Medien und Quellen aus dem alltäglichen Umgang mit den ‚Randständigen’ und ‚Kriminellen’ im Fokus stehen, kann nachverfolgt werden, ob sich disziplinierende Effekte, die die Straftheorie mit den Begriffen Spezial- und Generalprävention beschreibt, auf allen Ebenen der unterschiedlichen Repräsentationen - bis hin zu den Argumentationen der Betroffenen - zeigen. Damit kann eine integrative Wirkung für die Gesellschaft und eine stabilisierende Funktion für die Herrschaft geprüft werden. 62 Die beiden zentralen Fragekomplexe der Arbeit sind in den bisherigen Forschungen zum Thema allenfalls marginal angesprochen: Zum einen handelt es sich dabei um die räumlichen Aspekte der Verfolgung von Räuberbanden und zum anderen um das Verständnis der Kommunikation mit und über Räuberbanden als Diskurs. 58 S CHULZE , Begriff. 59 Kritik kam wiederholt von Dinges, so z.B. bereits in D INGES , Armenfürsorge. Außerdem seien exemplarisch genannt: A MMERER , Heimat; B EHRISCH , Obrigkeit; B RETSCHNEIDER , Menschen. Gegen die Anwendung des als alternative Herangehensweise vorgeschlagenen Konzepts der „Justiznutzung“ spricht im vorliegenden Fall die Zuschneidung auf ein Strafrechtsdelikt, bei dem der Verdächtige, der zudem noch häufig der Nichtsesshaftigkeit bezichtigt wurde, von vornherein wenige Handlungsoptionen besaß selbst aktiv die zeitgenössischen Rechtsmittel zu „nutzen“, vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Rechtssetzung. 60 Vgl. H ÄRTER , Intentionen, S. 371, der für das alternative Konzept der formellen Sozialkontrolle plädiert. 61 Dass Normgebung und ihre Wirkungen nicht eindimensional als „Normdurchsetzung“, als „Erfolg“ oder „Misserfolg“ bewertet werden können, sondern besser von Implementation und einer Vielfalt an Einflussfaktoren zwischen Normgeber und Normadressat ausgegangen werden sollte, darauf wird unter anderem hingewiesen bei L ANDWEHR , Normdurchsetzung. 62 Émile Durkheim geht davon aus, dass Strafe und Policey in erster Linie integrative Funktionen für die Gesellschaft ausüben, D URKHEIM , Arbeitsteilung. Vgl. dazu auch H ÄRTER , Intentionen. Vgl. außerdem das aus der Kulturtheorie stammende Konzept des „Othering“, beispielsweise bei F ABIAN , Präsenz. <?page no="20"?> 21 ‚Räume und Grenzen’ und die damit verbundenen Konzepte der Raumsoziologie finden sich aktuell in vielen geschichtswissenschaftlichen Studien. 63 Anfang des Jahrtausends wurde eine Paradigmenverschiebung und verstärkte Aufmerksamkeit der Historiographie für das Raumthema als „spatial turn“ benannt. 64 Die Soziologin Martina Löw regte mit ihren Arbeiten besonders Forschungen zur Frühen Neuzeit an. 65 Ihr relativistischer Ansatz, Räume als durch Handlung konstituierte Gebilde zu verstehen, das heißt durch menschliche Aktion, die entweder in Syntheseleistung oder in ‚Spacing’, also Platzierung, besteht, 66 erhält darin breite Zustimmung. Dass Räume durch Akteure erzeugt werden, indem diese in bestimmten Zusammenhängen handeln, findet sich auch schon bei Lefebvre und Bourdieu, auf die Löw ihre Überlegungen weitgehend stützt. Seit Pierre Bourdieu ist von einer Vorstellung vom Raum als sozialer Praxis auszugehen. Er entwickelte die Kategorie des ‚Sozialraumes’, in dem sich die gesellschaftlichen Gruppen nach Lebensstil, Geschmack und Klasse positionieren. 67 Räuberbanden wird in der Literatur zumeist ein geringes Maß an ökonomischen und kulturellen Ressourcen beigemessen; ihrem Habitus gemäß wurden sie von Zeitgenossen und Forschung oft in einer gesellschaftlichen Randständigkeit verortet. 68 In diesem Sinne fielen Kriminelle aus Bourdieus Schema der sozialen Positionen heraus. 69 Bei der Erschließung der ‚Handlungsräume’ von Räuberbanden in der vorliegenden Analyse wird der Begriff daher vorrangig geographisch verstanden. Dieser Ansatz, der nicht außer Acht lassen möchte, dass es sich bei Räumen stets um relationale soziale Kategorien handelt, entspricht am ehesten den auf das Territorium bezogenen Forschungsfragen der Arbeit. Die Ergebnisse dazu, wie sich Räuber, Diebe und Vaganten in ihrem territorialen Lebensumfeld verorteten, wie sie bestimmte Orte und Räume nutzten und welche Kontakte sie dabei innerhalb und außerhalb des Kurfürstentums pflegten, versprechen Aufschlüsse über ihre (Selbst-)Wahrnehmung als Einheimische oder Außenseiter. 63 Dies ist etwa erkennbar an der Themenformulierung „Grenzen“ des vergangenen Historikertags in Berlin als auch der letzten jährlichen Tagung des Arbeitskreises für Historische Kriminalitätsforschung, um nur zwei Beispiele anzuführen. Gegen eine ‚modebedingte’ Überfrachtung historischer Themen mit Ansätzen der Raumtheorie, besonders wenn dies ohne inhaltlichen oder analytischen Mehrwert sei, wurden in jüngerer Zeit auch kritische Meinungen geäußert. Vgl. P ILTZ , Trägheit. 64 Vgl. die aktuellen Diskussionsbeiträge bei D ÖRING / T HIELMANN , Spatial Turn und C SÁKY/ L EITGEB , Kommunikation. 65 Erkennbar ist ihr Einfluss unter anderem an ihrer Einbindung in historiographische Sammelbände, siehe L ÖW , Ort. Auch Bezugnahmen auf ihre Konzepte finden sich jüngst häufig, beispielsweise bei A MMERER , Betteltour. 66 L ÖW , Raumsoziologie. 67 B OURDIEU , Unterschiede. 68 Zur Randständigkeit in der Frühen Neuzeit vgl. unter anderem von H IPPEL , Armut; R OECK , Außenseiter; J ÜTTE , Arme; A MMERER , Devianz. 69 B OURDIEU , Unterschiede, S. 212-213. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass bei dem Modell Bourdieus die französische Gesellschaft der 1960er Jahre den Bezugspunkt bildete und dass dieses Schema keine prinzipielle Übertragbarkeit auf andere soziale Einheiten beansprucht. <?page no="21"?> 22 Uneinheitlichkeit herrscht in historischen Raumanalysen bei der genauen Klassifizierung von Ort und Raum sowie deren Trennschärfe. Hierzu bot der Soziologe Rehberg kürzlich Orientierung mit dem Vorschlag, dass der Raum eher einen ‚Möglichkeitshorizont’ - für gleichzeitige und nicht gleichzeitige, reale oder plausible Aktivitäten - beschreibe, wohingegen der Ort enger an das konkrete Handeln geknüpft sei. 70 Wenn man über ‚Handlungsräume’ spricht, kann dies zwar streng genommen als Pleonasmus angesehen werden, da Räume stets durch Handeln determiniert sind. Das Konzept lässt sich aber dazu verwenden, die Aktivitäten von Verdächtigen einerseits von den konkreten ‚Handlungsorten’ zu unterscheiden und auf einer übergeordneten Ebene zu beschreiben. Neben der Abgrenzung von den Handlungsorten eignet sich der Begriff der Handlungsräume im vorliegenden Fall andererseits zur Unterscheidung vom Herrschafts- und Rechtsraum, der durch Traditionen, durch Mediennutzung und durch das Regierungshandeln als das Territorium Kursachsen konstituiert wird. 71 Die Offenheit des Begriffes möchte ich außerdem dazu nutzen, innerhalb der Handlungen der Beklagten eine zusätzliche Untergliederung vorzunehmen: Analysiert werden die Räume, die durch Herkunft, durch Mobilität und Reisewege bestimmt werden, und diejenigen, innerhalb derer sich jeweils die Diebstähle und Verbrechen, Hehlerei und andere Formen der Interaktion abspielten. Erkennbar wird anhand der Kommunikation über ihre Handlungen auch, welches Verständnis die Zeitgenossen von ihrem Herrschaftsraum hatten. Welcher Diskursbegriff liegt außerdem dem ‚Räuberdiskurs’ zu Grunde? Als Grundlage des kurz umrissenen Konzepts gelten die Arbeiten von Foucault. 72 Die kontroverse Forschungsdiskussion, die um sein Diskursverständnis und die Anwendung auf historische Quellen entbrannte, soll hier aber nicht im Detail wiedergegeben werden. Sie ist andernorts bereits ausführlich dargestellt. 73 Für das weitere Vorgehen maßgeblich ist erstens, dass verschiedene Repräsentationen Bestandteile eines Diskurses sind, auf diesen einwirken und diesen prägen, dass es sich zweitens dabei um Repräsentationsarten unterschiedlicher Mediengattungen mit verschiedenen Kontexten handelt und drittens, dass in den Diskurs sowohl Normen und theoretische Abhandlungen als auch die Rechtspraxis und konkretes Handeln der Beteiligten einzubeziehen sind. 74 Das bedeutet, dass es sich hier nicht nur um einen rechtlichen oder einen wissenschaftlichen Diskurs handelt, auch wenn die zeitgenössischen Rechtswissenschaftler mit dem Thema 70 R EHBERG , Macht-Räume. 71 Das Territorium wird als Raum beschrieben unter anderem bei G OTTHARD , Ferne. 72 Michel Foucaults Diskursverständnis findet sich zusammengefasst bei L ANDWEHR , Diskursanalyse, S. 65-79. Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Operationalisierbarkeit B UBLITZ [u.a.], Wuchern. 73 Der Diskursbegriff war bereits Gegenstand tiefgreifender wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, die in den beiden aktuellen Einführungen zur Diskursanalyse umfassender wiedergegeben werden, als dies in dem vorliegenden Rahmen geschehen könnte, vgl. daher L ANDWEHR , Diskursanalyse, S. 27-99 und E DER , Diskursanalysen. 74 Vgl. die Aspekte der historischen Diskursanalyse, wie sie dargelegt werden bei L ANDWEHR , Diskursanalyse, S. 91-99 und D ERS ., Diskursen. Vgl. auch H ASLINGER , Diskurs. <?page no="22"?> 23 Eigentumsdelikte auf den ersten Blick am engsten befasst schienen. Wegen der Popularität und des Bekanntheitsgrads des Themas ist es entsprechend des gewählten Diskursbegriffes notwendig, auch die Medien, die sich an ein breiteres Publikum richteten, einzubeziehen sowie die Ansichten der Betroffenen, die sich durch ihre Schreiben und Aussagen an der Kommunikation um Räuberbanden beteiligten. Verschiedene Diskursebenen werden auf diese Weise über den thematischen Zuschnitt miteinander verknüpft. Abgesehen von Ansätzen findet sich eine programmatische Kopplung der Analyse von verfahrensbedingten, normativen und literarischen Quellen in der bisherigen Forschung zu Räuberbanden noch nicht. 1.3 Quellen, Methoden und Aufbau der Arbeit Im Mittelpunkt der Analyse stehen die strafrechtlichen Verfahren gegen Diebes- und Räuberbanden an den Amts- und Stadtgerichten Kursachsens. Der überwiegende Teil der Akten aus der Gerichtspraxis, die hier den zentralen Bestand bilden, wurde bisher noch nie der wissenschaftlich-historischen Analyse unterzogen. 75 Die meisten davon befinden sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, wenn auch nicht an einem gemeinsamen Lagerort. 76 Die Verfahrensgänge lassen sich aus den Korrespondenzen zwischen Amtleuten, Landesregierung, Geheimem Konsilium und Landesherrn sowie den Gutachten der eingeschalteten Juristengremien, vor allem des Schöffenstuhls Leipzig, erschließen. Dadurch, dass bestimmte Reskripte, Generale und Mandate im Vorfeld mit den beratenden Gremien, wie den Juristenfakultäten oder dem Oberamt Bautzen, schriftlich diskutiert und begutachtet wurden, bieten sich besondere, bisher kaum von der Forschung berücksichtigte Einsichten. 77 Die rein gesetzliche Materialbasis zum sächsischen Strafrecht ist durch die Ausgaben des so genannten Codex Augusteus 78 greifbar. Die Einordnung der normativen Ebene wird außerdem ergänzt durch die kursächsischen Konstitutionen von 1532 sowie die maßgeblichen Schriften der Jurisprudenz, auf die sich die Gerichtspraxis auch im 18. Jahrhundert noch bezieht. Neben der territorialen Überlieferungsebene haben sich Akten zu Räuberbanden in den Beständen der kursächsischen Ämter erhalten. Dazu wurden 75 Danker, der 1988 erstmalig ungedruckte Quellen zur sächsischen Bande um Lips Tullian untersucht hat, konstatiert einleitend, dass die „eigentlichen Inquisitionsakten mit Verhörs- und Folterprotokollen in diesem Fall nicht erhalten“ sind, vgl. D ANKER , Räuberbanden, S. 40. Dieser Feststellung muss hier widersprochen werden. 76 Sowohl im Bestand 10024 Geheimer Rat, im Geheimen Konsilium (10025) als auch in den Akten zur Landesregierung (10079) des Sächsischen Hauptstaatsarchivs (im Folgenden: HStA) Dresden sind Quellen zu Verfahren und Maßnahmen gegen Räuberbanden erhalten. 77 Unter anderem die sog. „Criminalia“, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719. 78 L ÜNIG , Codex Augusteus. <?page no="23"?> 24 außer dem HStA Dresden auch die Ämterbestände in den Staatsarchiven Leipzig und Chemnitz, im Staatsfilialarchiv Bautzen und exemplarisch für die kommunale Ebene auch das Stadtgericht Leipzig im dortigen Stadtarchiv berücksichtigt. Analog zur landeshistorisch orientierten Fragestellung dient die Zusammenstellung von Quellen aus der Regierungs- und Ämterüberlieferung dazu, Kursachsen als einheitlichen Herrschaftsraum zu behandeln. 79 Die bisher genannten Materialien liefern vorwiegend Einsichten in die zeitgenössische Gerichtspraxis und die Sichtweisen der daran Beteiligten. Sie werden ergänzt um berichtende, unterhaltende und belehrende Medien aus dem Untersuchungsraum Sachsen, die den Blick einer gerade in der Entstehung begriffenen bürgerlichen Öffentlichkeit auf das Phänomen widerspiegeln. Sie setzen sich aus unterschiedlichen Gattungen zusammen. Zu sächsischen Räuberbanden existieren sowohl knappe aktuelle Druckschriften, unterschiedlich ausführliche ‚Aktenmäßige’ Berichte als auch spezifische ‚Totengespräche’, die miteinander und mit den Gerichtsakten in Bezug gesetzt werden. Abgerundet wird das Korpus durch Texte aus der Wissensproduktion wie Lexikonartikel oder Zeitschriftenabhandlungen, die nicht nur in Sachsen zugänglich waren und somit die Sichtweisen auf Räuberbanden im 18. Jahrhundert reichsweit geprägt haben. Diese Quellenzusammenstellung ergibt nicht nur bezüglich der verschiedenen Repräsentationsbereiche ein breites Spektrum, sondern auch hinsichtlich der Überlieferungsdichte: Diese reicht von einer knappen, mit Zeugenaussagen und Expertenberichten versehenen Tatbeschreibung bis hin zum Gerichtsfall der Lips-Tullian-Bande mit insgesamt 13 Untersuchungsakten beim Geheimen Rat im Umfang von jeweils etwa 350 Folioseiten, 80 mehreren Folianten beim Amtsgericht Dresden, einigen ‚Aktenmäßigen Berichten’ und zwei ‚Spitzbubengesprächen’ sowie der zusätzlichen Verarbeitung in verschiedenen Pitavalen und Romanen. Zur qualitativen Analyse bieten sich durch die Fülle und den Umfang der Quellen zahlreiche Ansatzpunkte und Vergleichsmöglichkeiten. Zur Erleichterung quantitativer Auswertungen, die sich durch die Vielfalt an Materialien und Informationsdichte in frühneuzeitlichen Akten schwieriger gestalten, wird an gegebener Stelle ein eigens gebildetes Sample von etwa 200 als Bandenräuber verdächtigten Personen herangezogen, über deren Biografien und Gerichtsver- 79 Einschränkend muss hier darauf hingewiesen werden, dass die Überlieferung der zahlreichen Patrimonialgerichte und kommunalen Gerichte auf der unteren Ebene der Gerichtsbarkeiten, z.B. in Form der Gerichtsbücher, nicht einbezogen wurde, weil dies zum einen den Zeitrahmen der Untersuchung gesprengt hätte, zum anderen verschiedene durchgeführte Stichproben in den Findmitteln ergaben, dass die zeitaufwändige umfassende Suche die Materialbasis nicht grundlegend verändert hätte. 80 Die Prozessakten zu den Komplizen um Lips Tullian sind im HStA Dresden im Bestand 10024 Geheimer Rat in den Locaten 11398, 11399 und 11400 überliefert und tatsächlich so umfassend, dass statt einer umfänglichen Auswertung mit den Verfahren um Friedrich Sahrberg, Daniel Lehmann, Andreas Weßer und Georg Limbach ‚Stichproben’ genommen werden mussten. <?page no="24"?> 25 fahren hinreichende Daten vorliegen. 81 Davon ist die Untersuchung der Informationen und besonders der Vulgonamen in den sächsischen ‚Gaunerlisten’ methodisch klar zu trennen, da die zu Grunde liegenden Quellengattungen sich - wie noch zu zeigen sein wird -stark unterscheiden und die darin aufgenommenen ‚Spitzbuben’ mit den vielen Personen, die als Bandenräuber vor Gericht standen, nicht identisch waren. Darüber hinaus wird in Einzelfällen das Hilfsmittel der Volltextabfrage genutzt, beispielsweise um Tendenzen der Verwendung von bestimmten Semantiken wiedergeben zu können. In der Vergangenheit widmete sich eine ausführliche wissenschaftliche Debatte der Frage, wie frühneuzeitliche Verhörakten zu verwenden und analysieren sind, ob diese als ‚Ego-Dokumente’ verstanden werden können und ob sie Auskünfte über die Perspektive ‚von unten’ geben. 82 Ohne Zweifel bedarf es bei der Untersuchung von Gerichtsakten besonderer Vorsicht und erhöhter Sorgfalt. Dennoch sind diesen Quellen mit der gebotenen Sensibilität Informationen über jene Teile der Bevölkerung zu entnehmen, die der Nachwelt bedingt durch den Mangel an Schreibfähigkeit und Gelegenheit nur wenige eigene Zeugnisse hinterlassen haben. Außerdem kann „der rechtliche Rahmen auch ein wichtiges Korrektiv für die Ermittlung des Wahrheitsgehalts darstellen“ 83 . Neben den unmittelbar im Prozess verhandelten Gegenständen tritt in Gerichtsakten immer wieder auch die innere Einstellung des Betroffenen zu zeitgenössischen Problemstellungen „in seinem sozialen Bezugssystem“ 84 zu Tage. Möglichen Einwänden gegen die zentrale Stellung von Verhörakten wird hier mit Materialvielfalt und methodischer Breite begegnet. Die Arbeit gliedert sich daher in fünf große Abschnitte. Zunächst soll der landesgeschichtliche, vor allem der rechtlich-institutionelle Hintergrund geklärt werden. Mit Bezug auf die Frage nach dem Räuberdiskurs werden hier dessen sozioökonomische Bedingungsfaktoren zusammengefasst. Dazu gehören neben der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation Kursachsens die Darstellung der ‚Medienlandschaft’, die die Kommunikation im Territorium prägte, als auch der Institutionen, die an der Entwicklung und praktischen Umsetzung des Territorialrechts, besonders des Strafrechts, beteiligt waren. Um eine spätere Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungsräumen zu gewährleisten, 81 Angesichts dieser Verteilung in unterschiedlichen Beständen aus Regierungsüberlieferung und Ämterverwaltung kann der Quellenbestand keine formale ‚Vollständigkeit’ beanspruchen, sodass im Folgenden vor allem bei quantitativen Auswertungen von einzelnen Lücken ausgegangen werden muss. Präzise Werte und Berechnungen stehen unter diesem quellenbedingten Vorbehalt, weshalb als Ergebnisse zumeist Tendenzen angegeben werden sollen. 82 Zur Diskussion um Verhörprotokolle als Ego-Dokumente vgl. U LBRICHT , Supplikationen; S CHULZE , Ego-Dokumente. Vorüberlegungen; S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente. Dagegen äußert sich kritisch U LBRICH , Zeuginnen; vgl. auch S CHEUTZ , Gerichtsakten. Aktuell zum Begriff vgl. F ULBROOK / R UBLACK , Relation. 83 S CHWERHOFF , Einführung, S. 65; vgl. dazu auch S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente, S. 308. 84 S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente, S. 309. <?page no="25"?> 26 werden also Rahmenbedingungen vorgestellt, die die Beschaffenheit, den Umfang und die Auswirkungen der Problematik mit determinierten. 85 Anschließend an die Ausführungen zur Justizorganisation vergleicht das zweite Kapitel die Rechtstraditionen und Verordnungen, die den Umgang mit Räuberbanden in Kursachsen bestimmten. Im Fokus stehen dann die daraus resultierende Verfolgungspraxis und damit verknüpfte Probleme und Konflikte. Aus der Bearbeitung der normativen und praktischen Ebene heraus soll erkennbar werden, wie das Territorium Kursachsen als Rechtsraum durch die juristische Praxis definiert wurde. Wie sehr sich in der Normumsetzung die territoriale Herrschaft manifestierte und ob sich die untergeordneten lokalen Instanzen Handlungsoptionen erhielten, kann ebenfalls gezeigt werden. Weiterhin wird mit der ‚Gaunerliste’, also der besonderen ‚Spezifikation’, ein Mittel der Verfolgung sozial Devianter in Form, Inhalt und Funktion näher beleuchtet. Das nächste Kapitel widmet sich dem strafrechtlichen Vorgehen gegen Räuberbanden. Es wird ermittelt, ob und wie ‚Konjunkturen’ der sächsischen Untersuchungen und Prozesse mit den strukturellen Rahmenbedingungen im Territorium in Verbindung gesetzt werden können. Anhand von qualitativhermeneutischen und quantifizierenden Auswertungen am Material werden die Bandbreite und die Besonderheiten des Vorgehens gegen Räuberbanden im Untersuchungszeitraum rekonstruiert. Mit einer eingehenden Darstellung der Taten und Täter der Strafverfahren im Kurfürstentum wird danach geforscht, wie auch in der Praxis der Räuber vom Vagant und die Bande vom Einzeltäter abgegrenzt wurde. Der Zuschnitt auf das spezifische Territorium soll aber an dieser Stelle weiter führen: Wo waren die Räuberbanden im Kurfürstentum zu ‚verorten’? Welche Handlungsorte eigneten sich die Delinquenten beispielsweise als Stützpunkte an und wie konstituierten sich ihre Handlungsräume? Zu zeigen ist, in welchem Bezug die Aktivitäten der Räuberbanden zum obrigkeitlich definierten Herrschaftsraum und seinen Grenzen standen. Das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieses Kapitels ist auf die Frage ausgerichtet, ob sich ein speziell ‚sächsischer Typ’ der Räuberbande ausmachen lässt. Nach dieser Auswertung der obrigkeitlichen Verfolgungspraxis und in der Vorwürfe, die in den Prozessen verhandelt und durch die bestimmte Räuberbilder entworfen wurden, rücken die weiteren Formen der Repräsentation stärker ins Zentrum. Dafür schildert Kapitel vier zunächst die Akteure im Strafverfahren und deren Handlungen an prägnanten Stationen der Räuberbandenprozesse. Ein klarer Schwerpunkt liegt auf den unterschiedlichen Kommunikationssituationen, allen voran auf den ‚Konfrontationen’ und den Begnadigungsangelegenheiten. Anknüpfend an Methoden der historischen Diskursanalyse soll die Untersuchung von Argumentations- und Handlungsmustern der Beteiligten ein neues Schlaglicht auf die Verdächtigen und Täter in 85 R UDOLPH / S CHNABEL -S CHÜLE , Einleitung. Zur Erläuterung der Bedeutung von Rahmenbedingungen für den Strafprozess vgl. auch S CHNABEL -S CHÜLE , Rahmenbedingungen. <?page no="26"?> 27 den Strafverfahren setzen. Dabei geht es nicht darum, die kriminologische ‚Wahrheit’ aus den Akten herauszufiltern und ein erneutes Urteil über die Beklagten zu fällen. Stattdessen stehen ihre Argumentationsmodi im Vordergrund und damit das soziale und juristische Wissen, das sich in ihrem Verhalten äußerte. Die Argumente werden hinsichtlich der vier größeren Themenfelder in der Prozesskommunikation - Justiz, Armut, soziales ‚Milieu’ 86 und Person - extrahiert sowie deren Anwendungs- und Deutungsmöglichkeiten aufgezeigt. Ist dadurch ein Einblick in die Repräsentationen der Räuberbanden vor Gericht gegeben, verlagert sich die Perspektive im letzten Kapitel stärker auf die zeitgenössischen Medientexte. Hier werden die aus dem Prozessmaterial herausgearbeiteten Darstellungsweisen mit den weiteren zeitgenössischen kursächsischen Repräsentationen verglichen. 87 Dabei werden verschiedenartige Texte (und Bilder) nebeneinander gestellt, denen aber gemeinsam ist, dass sie sich an ein relativ breites Publikum richteten und so einen Beitrag zum Räuberbandendiskurs leisten konnten. Der Vergleich von Semantiken und die Extraktion bestimmter Argumentationsmuster sollen dabei helfen, verfestigten Vorstellungen von Räubern und Räuberbanden auf den Grund zu gehen. Dass sich wechselseitige Einflüsse der Repräsentationen aufeinander zeigen und eine quellenübergreifende Stereotypenbildung andeutet, die sich bis in die gegenwärtigen Deutungen fortsetzen kann, dient dabei als eine leitende Hypothese, die in das abschließende Teilkapitel führt. Darin werden die rechtlichen und medialen Repräsentationen auf ihre Ähnlichkeiten und Überschneidungen geprüft und untersucht, inwiefern sie zur Konstitution bestimmter Stereotype beigetragen haben. 86 Der Begriff Milieu meint im Folgenden das äußere, meist sehr heterogene Lebensumfeld einer Person, das ihre Verhaltensweisen und Lebensperspektiven entscheidend prägen konnte und ist nicht etwa auf das politische oder weltanschauliche Umfeld bezogen. 87 Für eine stärkere Nutzbarmachung der Methodik aus der Diskursgeschichte für die Historische Kriminalitätsforschung sowie für den Einsatz einer Methodenvielfalt, mit Hilfe derer Recht, Kultur und Diskurs in den Blick genommen werden, plädiert Eibach, vgl. E IBACH , Recht. <?page no="28"?> 29 2 Vom ‚Augusteischen Zeitalter’ zum Rétablissement: Sachsen im 18. Jahrhundert Einführend richtet sich der Blick auf die politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, 88 die die Strafverfolgung von Räuberbanden im Kurfürstentum Sachsen beeinflussten. Dabei stehen zunächst die jeweiligen Herrscher samt den Grundlinien ihres administrativen Handelns im Vordergrund. Des Weiteren kann eine Betrachtung der räumlichen Struktur und demographischen Entwicklung sowie der damit verbundenen Grundlinien der territorialen Armenfürsorgepolitik Aufschluss darüber liefern, auf welchen Problemstellungen die verschiedenen Repräsentationen abweichender und krimineller Lebensweisen basierten. Um zu verstehen, ob und wie der ‚Boden’ für die Verbreitung und Aufnahme bestimmter Darstellungen von Räuberbanden bereitet war, ist es notwendig auch die zeitgenössische Medienlandschaft Sachsens zu umreißen. Daran anschließend werden die administrativen und juristischen Verwaltungsstrukturen beschrieben. Dieser Überblick ist auf diejenigen Behörden, Institute und Aspekte beschränkt, die für die Durchführung der Maßnahmen und Strafrechtsprozesse gegen Räuberbanden entscheidend waren. 2.1 Tendenzen der Territorialpolitik Mit dem Amtsantritt des Kurfürsten, der später als ‚August der Starke’ bekannt werden sollte, ist eine Zäsur in der kursächsischen Geschichte markiert. 89 Als der 24-jährige Wettiner Friedrich August I. (1670-1733) nach dem Tod seines Bruders 1694 an die Herrschaft kam, hatte das albertinische Kurfürstentum Sachsen eine einflussreiche Stellung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation inne. Es zeichnete sich mit der 1547 erhaltenen Kurwürde, den Ämtern des Reichsvikars und Erzmarschalls sowie seinen politischen Wirkungsmöglichkeiten im Reich als ein ‚reichsnahes’ Territorium aus. 90 Dieses bestand im 18. Jahrhundert im Hauptteil aus den albertinischen Erblanden, also den seit dem Mittelalter von den Wettinern beherrschten Gebieten, eingeteilt in die Kreislande und die Standesherrschaften. Unter kursächsischer Administration standen 88 Zu Begriff und Bedeutung von Rahmenbedingungen vgl. R UDOLPH / S CHNABEL -S CHÜLE , Einleitung und S CHNABEL -S CHÜLE , Rahmenbedingungen. 89 Bezeichnend für die Wahrnehmung als Beginn einer neuen Phase erscheint beispielsweise die Etablierung des Begriffes „Augusteisches Zeitalter“ in der Regionalgeschichte Sachsens. 90 Nach dem Tod des Kaisers Leopold I. im Jahre 1705 machte sich der sächsische Kurfürst gar Hoffnungen auf den Erwerb der Kaiserkrone, vgl. C ZOK , Herrscher, S. 113-114. Nicklas weist allerdings darauf hin, dass sich das Kurfürstentum spätestens seit der Herrschaft Friedrich Augusts I. von Reichsbelangen distanzierte und somit eher als reichsfern zu gelten hat, N ICKLAS , Macht, S. 341. <?page no="29"?> 30 außerdem die Hochstifte Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz, die Schönburgischen Rezessherrschaften, die Herrschaften der Grafen von Stollberg und der Fürsten Schwarzburg sowie das Fürstentum Querfurth und die Grafschaften Barby, Henneberg und Mansfeld. Die unter böhmischer Lehnshoheit befindlichen Ober- und Niederlausitz waren seit 1635 dem sächsischen Herrschaftsbereich zuzurechnen. Zur Steigerung seiner außenpolitischen Stellung sollte in den Augen Friedrich Augusts I. die Personalunion mit Polen dienen, dessen Königsthron 1696 durch den Tod Johann III. Sobieskis vakant geworden war. Unter anderem durch umfangreiche Bestechungen des polnischen Adels gelang dem Kurfürsten 91 der ‚Erwerb’ der polnischen Königskrone, und für die meisten seiner 39 Regierungsjahre konnte er diese halten. 92 Unter der Herrschaft seines Sohnes und Nachfolgers Kurfürst Friedrich August II. (1696-1763) blieb die Personalunion Sachsen-Polen bestehen, konnte aber schließlich nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges nicht mehr aufrecht erhalten werden. Dieser Konflikt war von allen kriegerischen Auseinandersetzungen im Untersuchungszeitraum derjenige, der für das Kurfürstentum die verheerendsten Folgen nach sich zog. Mit erheblichen Kosten, administrativen Problemen und weitgreifenden Auswirkungen behaftet, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht abschätzbar waren, wuchs sich das Experiment Polen zu einem Faktor aus, der neben anderen schließlich zu Sachsens Machtverlust unter den frühneuzeitlichen Territorien beitragen sollte. 93 Die Abhängigkeit von der Steuerpolitik und der finanziellen Unterstützung durch die Stände, die durch polnische Angelegenheiten und den Krieg mit generiert worden war, beeinflusste den Regierungsstil des Territorialherrn zudem erheblich. Daher wird in der Forschung darüber verhandelt, ob in Bezug auf Kursachsen von ‚absolutistischer’ Herrschaft gesprochen werden kann, da Herrschaftsführung, Staatsbildung und Finanzgeschichte stets in enger Verbindung zu deuten sind. 94 Das ‚Augusteische Zeitalter’, wie die Regierungszeiten von Friedrich August I., ‚dem Starken’ (1694-1733), und seinem Sohn Friedrich August II., ‚dem Fetten’ (1733-1763), zusammenfassend genannt werden, stellte nicht nur eine 91 Auf die formal korrekte Bezeichnung Kurfürst-König soll hier zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet werden, zumal für den Ansatz der vorliegenden Arbeit die Funktion als Kurfürst maßgeblich ist. 92 Von 1706 bis 1709 hatte er die polnische Königskrone bedingt durch den Nordischen Krieg nicht inne, stattdessen war sein Herrschaftsbereich ausschließlich auf die sächsische Kurwürde konzentriert. Zu Friedrich Augusts Absichten, die zur Personlaunion führten, und den dadurch erzeugten Problemstellungen vgl. C ZOK , Herrscher. 93 Besonders hart geht Karlheinz Blaschke mit dem Augusteischen Zeitalter ins Gericht, wenn er es als einen großen „Unfall“ und die Personalunion als „Irrweg in der sächsischen Geschichte der Frühen Neuzeit“ einordnet, B LASCHKE , Interessen, S. 86. 94 S CHIRMER , Grundzüge, S. 68-69. Ohnehin wird in der wissenschaftlichen Diskussion die Anwendbarkeit und Bedeutung des Begriffes ‚Absolutismus’ bezweifelt, aktuell etwa thematisiert in den Beiträgen des Bandes von S CHILLING , Absolutismus. <?page no="30"?> 31 Phase der Schwächung und des Niedergangs dar. Auch wenn die außenpolitische Lage problematisch war, entwickelte sich im Inneren eine von repräsentativer Entfaltung, kultureller Blüte und administrativer Zentralisierung geprägte Herrschaft. Hofleben und Hofkultur, begleitet von neuen Ambitionen in Architektur und Gartenbau, trugen dazu bei, dass Dresden zu einer eindrucksvollen Residenzstadt heranwuchs, in der sich die Verwaltungsvorgänge der Regierungs- und Beratungsgremien konzentrierten. 95 Mit dem Wiederaufbau nach den schweren Verwüstungen und Verlusten des Siebenjährigen Krieges setzte spätestens ab 1763 eine Phase des Umbruchs in der Politik Sachsens ein, die als ‚Rétablissement’ bezeichnet wird. Die Gesundung der Staatsfinanzen und die Erstarkung der territorialen Wirtschaft standen nun im Vordergrund. Die erforderlichen Reformmaßnahmen und die dazu gegründete Restaurationskommission beeinflusste der Minister Thomas Freiherr von Fritsch (1700-1775) maßgeblich. 96 Obwohl Kurfürst Friedrich Christians (1763) Regierungszeit nur 74 Tage dauerte, wurde schnell deutlich, dass sich seine Zielsetzungen radikal von denen seines Vaters Friedrich August II. unterschieden. Dieser hatte sich selbst nur wenig für die Staatsgeschäfte interessiert und die Federführung seinem Premierminister Heinrich von Brühl (1700- 1763) überlassen. Den von Friedrich Christian und seinen Beamten initiierten neuen, aufgeklärten Kurs führten dessen Nachfolger - zunächst Administrator Prinz Xaver (1730-1806) und ab 1768 der gerade volljährige Friedrich August III. (1750-1827) - allerdings lediglich in Ansätzen fort. Gelang der innere Wiederaufbau im letzten Drittel des Jahrhunderts und die Erholung von Wirtschaft und Gesellschaft trotz einer Hungerkrise 1771/ 1772 relativ schnell, so zeigte sich der junge neue Kurfürst in seiner weiteren Regierungstätigkeit jedoch überaus konservativ. Er besaß anscheinend wenig Antrieb zu durchgreifenden Reformen oder außenpolitischen Wagnissen. Sein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein führte ihn zu seinem Beinamen ‚der Gerechte’ und brachte ihn unter Umständen dazu, auch in der Reichspolitik nach Ausgleich zu streben. Allerdings stellte sich vor allem in den Jahren der Französischen Revolution und der Koalitionskriege heraus, dass seine Politik der Beharrung angesichts der außenpolitischen Anforderungen nicht mehr angemessen war. 97 Verstärkt durch die geographische Lage zwischen den zunehmend miteinander konkurrierenden Mächten Preußen und Österreich wurde das einstmals einflussreiche Kurfürstentum zum Spielball Anderer. Die politische Entwicklung, die Kursachsen unter seiner Herrschaft vollzog, wurde in der Forschung ambivalent beur- 95 Zur Entwicklung der Residenzstadt vgl. G ROß / J OHN , Geschichte Dresden, S. 21-322. 96 Neben Fritsch waren im 18. Jahrhundert weitere hohe Positionen in der administrativen Organisation mit bürgerlichen Männern besetzt worden. Diese bürgerlichen oder nobilitierten Akteure standen nicht zwangsläufig in Opposition zu ständischen Interessen, sondern verfolgten gerade mit den Reformen des Rétablissements eine Stärkung der hergebrachten Staatsordnung. K ELLER , Landesgeschichte, S. 157. 97 Vgl. P ETSCHEL , Persönlichkeit. <?page no="31"?> 32 teilt. 98 Erwiesen ist allerdings, dass Friedrich August III. auch am Ende seiner langen Regierungszeit ein hohes Ansehen bei seinen Untertanen genoss. 99 2.2 Sozioökonomischer Hintergrund Die demographische und ökonomische Situation und Entwicklung Kursachsens im 18. Jahrhundert gibt zum einen Aufschluss darüber, ob äußere Bedingungen und Zwangslagen, wie Verhörte sie vor Gericht zur Argumentation nutzten, den Zeitgenossen plausibel und authentisch erschienen. Zum anderen werden dadurch Einblicke gewonnen, vor welchen Hintergründen und Einflussfaktoren sich die später behandelten individuellen Lebenswege entfalteten. In knappen Umrissen wird außerdem die Gesellschaft beschrieben, aus der heraus kriminelle Karrieren entstanden und in der über die Räuberbanden und deren Taten kommuniziert wurde. Die Grenzen, die das Kurfürstentum zu den Königreichen Preußen und Böhmen, den ernestinischen Landen und den anhaltinischen Fürstentümern hin abschlossen, umfassten am Ende des 18. Jahrhunderts eine Fläche von circa 36.000 Quadratkilometern. Auf diesem Gebiet lebten 1792 knapp zwei Millionen Einwohner, was einer vergleichsweise hohen Dichte von 55 Einwohnern pro Quadratkilometern im Durchschnitt entspricht. 100 Das Wachstum der Bevölkerung im Verlauf des 18. Jahrhunderts war von Unterbrechungen und massiven Unterschieden zwischen den verschiedenen Landesteilen gekennzeichnet. 101 Gravierende Einschnitte in dieser Entwicklung fallen in die zweite Hälfte des Jahrhunderts: Die Verluste durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) werden auf etwa 100.000 Einwohner geschätzt. Die demographischen Auswirkungen glichen sich in den darauffolgenden Jahren rasch aus. 102 Neun Jahre nach Kriegsende löste eine Missernte eine Not aus, die fast ganz Sachsen traf. Eine bessere Ernte 1772 und ein anschließender Anstieg von Heiraten und Geburten führten erneut zu einem schnellen Wachstum. Dass sich die politischen Bemühungen des ‚Rétablissements’ fast ausschließlich auf die Gesundung und Wiedererstarkung von Wirtschaft und Gesellschaft richteten, förderte diese 98 Blaschke beurteilt die Regierungstätigkeit und Persönlichkeit Friedrich Augusts III. seinen Zeitumständen entsprechend positiv, B LASCHKE , Kursachsen. Im Gegensatz dazu gibt es Stimmen, die dem Kurfürsten eine reformerische, aufgeklärt absolutistische Gesinnung eindeutig absprechen, beispielsweise bei Simone Lässig, wenngleich ihre Argumentation nicht in allen Punkten nachzuvollziehen ist, L ÄSSIG , Reformpotential. 99 P ETSCHEL , Persönlichkeit, S. 97; K ELLER , Landesgeschichte, S. 163. 100 Vgl. dazu B LASCHKE / S TAMS , Kurfürstentum, S. 18-29. 101 S CHIRMER , Bevölkerungsgang, S. 37-38. 102 Im Vergleich dazu wird für den Dreißigjährigen Krieg, in den Kursachsen 1631 eingetreten war, davon ausgegangen, dass die durch ihn verursachten Bevölkerungsverluste erst in den 1710er Jahren wieder ausgeglichen waren. Vgl. dazu K ELLER , Landesgeschichte, S. 184; D IES ., Kursachsen, S. 146- 149; S CHIRMER , Wirtschaftspolitik, S. 149 und 155. <?page no="32"?> 33 Entwicklung. 103 Die zuverlässigsten Daten über die Altersentwicklung im Untersuchungszeitraum zeigen zudem, dass der Anteil der Kinder bis zu 14 Jahren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts leicht stieg, während der der 15bis 60- Jährigen mit 60 Prozent relativ konstant blieb und der Anteil der alten Menschen dagegen fiel. 104 Diese leichte Änderung in der Altersverteilung deutet ebenfalls darauf hin, dass die wirtschaftlichen Bedingungen in dieser Zeit Familiengründungen begünstigten, was zur demographischen Bewältigung der Krise beitrug. Landwirtschaft, Bergbau und Textilgewerbe bildeten die Grundpfeiler der territorialen Ökonomie. Zum Ende des 18. Jahrhunderts setzte eine durch das Manufakturwesen und die Gewerbestärke beeinflusste Pionierphase der Industrialisierung ein. 105 Das Territorium kann grob in verschiedene Wirtschaftsregionen eingeteilt werden: Im Süden des Landes war eine höhere Gewerbedichte vorhanden, während der Norden agrarisch dominiert war. Dieses Gefälle verstärkte eine Binnenwanderung, die mit ihren Auswirkungen auf geographische und soziale Mobilität neben die grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften zu stellen ist. 106 Der Grad der Verstädterung war vergleichsweise hoch, denn mehr als ein Drittel der Sachsen lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Städten. 107 Die wichtigsten urbanen Zentren waren zum einen Dresden als höfisch geprägte Residenzstadt und zum anderen Leipzig mit überregionaler Bedeutung für Handel, Wirtschaft und mit seinen Druckereien und Verlagen auch für den Printmediensektor. Mit einem gewissen Abstand rangierten Freiberg, Wittenberg und Chemnitz als weitere Großstädte dahinter, während die übrigen Orte eine deutlich geringere Größe aufwiesen. 108 Je nach Dominanz ihrer wirtschaftlichen Merkmale können die im Vergleich zu anderen Territorien zahlreichen, kleineren Städte spezifischen Typen zugeordnet werden, von denen die Ackerbürger-, die Exportgewerbe- und die Bergstadt am häufigsten vertreten sind. 109 Diese Kommunen boten für Eigentumsdelikte häufig hohe 103 Vgl. S CHIRMER , Bevölkerungsgang, S. 45-53. 104 B LASCHKE , Bevölkerungsgeschichte, S. 196-203. 105 S CHIRMER , Bevölkerungsgang, S. 56. Schirmer bewertet aber an anderer Stelle die merkantilistische Manufakturpolitik bis 1763 in Sachsen als zwar zeitgemäß, wenngleich nicht zukunftsweisend und weist zudem deutlich darauf hin, dass die sächsische Politik wirtschaftliche und vor allem landwirtschaftliche Reformen zu lange verzögerte, vgl. D ERS ., Wirtschaftspolitik, S. 154-155. 106 Zur sozialen und räumlichen Mobilität vgl. W EISS , Bevölkerung, S. 124-179. Insgesamt wird das Niveau der Einwanderung nach Kursachsen als sehr gering und das der Auswanderung als relativ gering eingeschätzt, vgl. S CHIRMER , Bevölkerungsgang, S. 34-36. 107 B LASCHKE , Kursachsen, S. 6. 108 Die Zahlen von Keller beziehen sich auf eine Erhebung aus dem Jahr 1699. Die Grenze zur Mittelstadt bzw. zur Masse der Kleinstädte liegt nach ihrer Einordnung bei 3.500, K ELLER , Kursachsen, S. 136. 109 Zu den Ackerbaustädten zählen vorwiegend Kleinstädte, während Chemnitz ein Beispiel für eine Exportgewerbestadt und Freiberg die bekannteste Bergstadt darstellt. Auf eine innere Differenzierung innerhalb dieser Stadttypen muss allerdings hingewiesen werden. Ebd., S. 138-146, außerdem weiterführend die Tabellen S. 150-160. <?page no="33"?> 34 Beuteerträge und konnten auf Diebe anziehend wirken. Räuberei stellte somit im urban geprägten Kursachsen kein ausschließlich ländliches Phänomen dar. Die florierenden Städte mit ihren Märkten und Messen waren trotz diverser Sicherungsmaßnahmen gegen Fremde und Bettler ebenfalls von Eigentums- und Bandenkriminalität betroffen. 110 Die Stadtbevölkerung, die politisch nicht autonom, sondern in hohem Maß in die territoriale Verwaltung eingegliedert war, war breiter sozial stratifiziert als die Landbewohnerschaft. 111 Vom reichen Kaufmann bis zum Bettler waren gerade in den größeren Städten vielfältige Abstufungen möglich. Der Anteil der finanziell schlechter gestellten Personen und Familien dominierte dabei deutlich, lebten doch bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Einwohner in großen und mittleren Städten entweder in Armut oder zumindest in der permanenten Gefahr eines sozialen Abstiegs. Zudem nahm der Anteil an Gesellen, Tagelöhnern und Lohnarbeitern vor allem durch die vermehrte Binnenwanderung vom Land in die Städte kontinuierlich zu. Die Landbevölkerung bestand neben den wenigen Rittergutsbesitzern zum großen Teil aus Bauern. Daneben gehörten zur ländlichen und dörflichen Bevölkerung in regional unterschiedlicher Dichte Gärtner, Häusler und Unverheiratete, die über kein Land zur eigenen Bewirtschaftung verfügten. Die Bauern, die in den Erblanden für einen mit Herrschafts- und Gerichtsbefugnissen versehenen Grundherren arbeiteten, waren persönlich frei, während sich diejenigen in den Lausitzen in einem feudalen System von höher ausgeprägter grundherrschaftlicher Abhängigkeit befanden. 112 Obwohl man im Agrarsektor im 18. Jahrhundert durch technische Verbesserungen eine Produktivitätssteigerung erreichte, wurde eine Reformierung der feudalen Situation der Dorfbevölkerung politisch nicht in Gang gesetzt. Diese Schieflage führte zu einer wachsenden Unzufriedenheit bei der Landbevölkerung, die sich unter anderem 1790 in Bauernunruhen äußerte. 113 Sowohl auf dem Land als auch in der Stadt bedrohten die Risiken von Armut und sozialem Abstieg den Großteil der Bevölkerung. Während die kursächsischen Bürger, Bauern, Häusler und Gärtner über ein gewisses Maß an Wohnbesitz und damit eine Grundsicherheit verfügten, waren Mangelsituationen für die Masse der nicht ansässigen, nicht vermögenden Menschen besonders prekär. Ein Teil von ihnen arbeitete unselbstständig als Tagelöhner oder Dienstbote, war unverheiratet, wohnte zur Miete und war immer wieder auf der Suche nach einem Auskommen im Land unterwegs. Diese zeitgenössisch als ‚Hausgenossen’ und als ‚Inwohner’ bezeichnete, aber heterogene Kategorie machte nach Blasch- 110 Vgl. D ANKER , Geschichte, S. 131. 111 Vgl. im Folgenden K ELLER , Landesgeschichte, S. 189-191. 112 Ebd., S. 180-183; W EISS , Bevölkerung, S. 76-82. 113 K ELLER , Landesgeschichte, S. 188; P ETSCHEL , Persönlichkeit, S. 93-94. Für die Oberlausitz S CHUNKA , Oberlausitz, S. 169. <?page no="34"?> 35 kes Berechnungen 1750 einen Anteil von etwa 24 Prozent an der Gesamtbevölkerung in Städten und Dörfern aus. 114 Der Umfang der sozial noch darunter rangierenden Gruppe permanent Umherziehender, die über keinen Wohnsitz und Besitz verfügten, nur ungeregelt arbeiteten und daher in Steuerlisten oder ähnlichen vorstatistischen Verwaltungsquellen gar nicht oder nur sporadisch erscheinen, ist für Kursachsen - ähnlich wie für andere frühneuzeitliche Territorien auch - kaum prozentual zu bestimmen. Dies ist auch dadurch beeinflusst, dass eine vagierende Lebensweise entweder nur einen Übergangszustand darstellen, von saisonalen Konjunkturen abhängig sein oder oftmals zu territorialen Grenzüberschreitungen führen konnte, sodass die mobilen Bevölkerungsgruppen aus heutiger Sicht kaum quantifizierbar sind. 115 Quantitative und qualitative Einschätzungen frühneuzeitlicher Armut im Territorium vorzunehmen, stellt sich ebenfalls als schwierig dar, da „Zuwanderung in die Städte und Abweisung der Nichthabenden und Marginalisierten von den Stadtmauern, obrigkeitliche Repressionsmaßnahmen sowie innerkommunale soziale Differenzierungsprozesse aus einem guten Dutzend Gründen und die wachsende Selbstreproduktion von Armen [...] ein nur schwer klassifizier- und strukturierbares Sozialgebilde [schufen], dessen Hauptmerkmale die Defizite darstellten“. 116 Neben ökonomischen Krisen, Kriegen und individuellpersönlichen Ursachen zählten klimatische Veränderungen oder Natureinflüsse und besonders Brände zu den größten Gefahren, die die Existenz der „kleinen Leute“ auch in Kursachsen bedrohten. 117 Die Untergliederung des Territoriums in verschiedene Wirtschaftsregionen legt die Annahme nahe, dass die Menschen von strukturellen Krisen hier jeweils in unterschiedlichem Ausmaß getroffen wurden. 118 So zog die Hungerkrise 1771/ 72 aufgrund schwieriger naturräumlicher Bedingungen besonders die Bewohner der Gebirgslandschaften des Erzgebirges, des Vogtlandes und der Oberlausitz in Mitleidenschaft. 114 B LASCHKE , Bevölkerungsgeschichte, S. 187-190. Kritik zu dem Inwohner-Begriff Blaschkes gibt es beispielsweise von Herzog, der diesen als nicht in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Bedeutung verstanden sieht, siehe W EISS , Sozialstruktur, S. 28 oder D ERS ., Bevölkerung, S. 50-54. In den vorliegenden Quellen, z.B. im Mandat von 16. September 1710 hat „Inwohner“ offensichtlich schon eine Begriffsverschiebung hin zum „Einwohner“ erfahren. Vgl. L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1767-1774. 115 So kann es sich bei Angaben wie der von Czok, es habe im Kurfürstentum des 18. Jahrhunderts „mindestens über 100.000 sozial entwurzelte Menschen gegeben“, nur um grobe Schätzungen handeln, C ZOK , Leipzig, S. 7. 116 B RÄUER , Mentalität, S. 40-41. Selbst der ausgewiesene Kenner der Armutsgeschichte in Sachsen verweist nur auf einige sozialgeschichtliche Daten für die Städte, anhand derer sich auf der Anteil der armen Bevölkerungsteile in anderen Städten oder auf dem Land schätzen lässt. Von den zahlreichen detailreichen und quellennahen Forschungen von Helmut Bräuer zum Thema Armut seien außerdem an dieser Stelle genannt: D ERS ., Armen; D ERS ., Armut; D ERS ., Rat. 117 D ERS ., Art. Armut. 118 D ERS ., Mentalität, S. 32. <?page no="35"?> 36 Bettelei, Müßiggang, Diebstahl und Kriminalität bildeten einen kausal eng verknüpften Argumentationsstrang in der obrigkeitlichen Kommunikation. Um der Entstehung delinquenter Banden vorzubauen, so lautete die Begründung, waren durch eine härtere Armenpolitik das Betteln und andere normabweichende Verhaltensweisen abzustellen. Eine konsequente Durchsetzung strenger ‚Policey’-Maßnahmen war den Obrigkeiten angesichts der wiederkehrenden tiefen Versorgungskrisen jedoch kaum möglich. Der Landesherr sah sich in Krisenzeiten immer wieder gezwungen, Ausnahmen von einem rigiden und oft wiederholten Bettelverbot auszusprechen. Bereits im Februar 1720 wurde in einigen Ämtern des Meißnischen und Erzgebirgischen Kreises das ‚Almosenheischen’ zeitweilig erlaubt, weil man die Bevölkerung nicht ausreichend mit Getreide versorgen konnte. 119 Da außerdem besonders die Gefahr von Stadtbränden hoch einzuschätzen war, wurden die dabei Geschädigten sowie die Opfer von Überschwemmungen und Unwettern von den allgemeinen Bettelverboten ausgenommen. 120 Um einer daraus angeblich entstandenen Zunahme von Almosengaben wieder Einhalt zu gebieten, richtete der Kurfürst mit dem Mandat vom 5. April 1729 eine zentrale Brandkasse ein, die die Spenden bürokratischer und kontrollierter gestalten sollte. 121 Mit den Bettelverboten sind bereits tiefgreifende Veränderungen im Umgang mit Armut und Fürsorge angesprochen: Im Zuge von Herrschaftsverdichtung, religiös-kirchlichen Veränderungen sowie wirtschaftlich-sozialen Entwicklungen wurden in der Armenfürsorge Maßnahmen ergriffen, die den übergreifenden Kategorien von Rationalisierung, Kommunalisierung und Bürokratisierung zuzuordnen sind. 122 Städtische Almosenämter, wie 1704 eines in Leipzig eingerichtet wurde, sollten den zuvor individuellen Akt des Spendens auf behördlicher Ebene verwalten. 123 Die im 18. Jahrhundert zunehmende Professionalisierung und damit einhergehende Veränderung der Armenpolitik zogen gleichzeitig einen Funktionswandel älterer Einrichtungen, die eigentlich mit der Verwaltung der Almosen betraut waren, nach sich. So waren in kursächsischen Städten auf der untersten Hierarchiestufe Bettelvögte im Auftrag des Magistrats seit dem 16. Jahrhundert multifunktional für die Sammlung der Almosen, die Verteilung der Gelder und die Verfahren mit unwürdigen Bettlern zuständig gewesen. 124 Mit Beginn der Almosenämter kam ihnen immer häufiger aus- 119 D ERS ., Almosenausteilungsplätze, S. 71. 120 Vgl. zur städtischen Armenfürsorge in Dresden S CHLENKRICH , Alltag. Zur Organisation der Armenpflege auf dem Lande vgl. D IES ., Armenversorgung. 121 L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 537-556. Vgl. dazu auch G ROß / J OHN , Geschichte Dresden, S. 135-136. 122 Vgl. unter anderem von H IPPEL , Armut; J ÜTTE , Arme; für Sachsen auch bereits F IEDLER , Räuberwesen. 123 B RÄUER , Bettelvögte, S. 127. 124 Vgl. im Folgenden ebd. <?page no="36"?> 37 schließlich die Aufgabe der Verfolgung und Ausweisung von Individuen zu, die im Gemeinwesen nicht geduldet wurden. 125 Weitere Maßnahmen, die eine zunehmende Überantwortung der Armenfürsorge in den Bereich der obrigkeitlichen ‚guten Policey’ markierten, waren neben der Ausweisung aus Stadt oder Land die Kontrolle von Almosenausteilungen, die Klassifizierung in ‚würdige’ und ‚unwürdige’ Arme sowie die Verfolgung der Unwürdigen und Fremden. Daneben stellte deren Verwahrung in speziellen Institutionen und ihre Verpflichtung zur Arbeit eine Neuerung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts dar. Sie spiegelte gleichsam den gewachsenen Stellenwert von Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille sowie von Bettelbetrug, Faulheit und Müßiggang in der Bewertung des Armutsproblems wider. In den Städten kamen zu den älteren Stellen der geschlossenen Armenfürsorge, wie den Hospitälern, verschiedene kommunal verwaltete Einrichtungen, die oft eine Funktionsvielfalt aufwiesen. 126 Beispielsweise diente das Leipziger Georgenspital, das 1700 in einen Neubau verlegt wurde, zur Armen- und Waisenversorgung ebenso wie als Strafanstalt - im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts machten Gefangene etwa ein Viertel der Insassen aus. 127 Dresden besaß seit 1685 ein Waisenhaus, das sich nach den Vorstellungen des Rates besonders der Versorgung der Bettelkinder annehmen sollte, und 1717 wurde ein städtisches Armenhaus eingerichtet. 128 Zunehmend regten Stadtbürger und Räte auch die landesherrliche Verwaltung dazu an, sich des Problems anzunehmen, und so wurde 1716 in Waldheim das erste territorial verwaltete Arbeits- und Zuchthaus gegründet. Um der Dringlichkeit dieser Angelegenheit mehr Nachdruck zu verleihen, hatte die Landesregierung schon zwei Jahre zuvor eigens eine Armenhauskommission in Dresden eingerichtet. 129 All diese Veränderungen in der sächsischen Armenpolitik und besonders die Zuchthausgründungen - in den 1770er Jahren kamen noch weitere in Torgau und Zwickau hinzu - sind als Maßnahmen herrschaftsverdichtender Ordnungspolitik im Zusammenhang mit dem territorialen Staatsbildungsprozess zu verstehen. 130 125 Da die so zu Hilfsbeamten degradierten Bettelvögte aber zumeist selbst der Unterschicht entstammten, barg dies ein größeres Konfliktpotenzial zwischen Obrigkeit und Armen, B RÄUER , Almosenausteilungsplätze, S. 94-98. 126 Bräuer spricht von diesen daher als den „kombinierten Instituten“, D ERS ., Rat, S. 38. Vgl. auch B RETSCHNEIDER , Menschen, S. 169. 127 In diese grobe Berechnung sind allerdings Bettler, die nur für eine gewisse Zeit in dem Georgenhaus inhaftiert sind, nicht einbezogen, sondern diese werden in den Quellen gesondert aufgelistet. Die anderen Anteile der Insassen stellen zu 50% Waisen und zu 25% „Arme, Alte und Melancholische“ dar, K EVORKIAN , rise, S. 170. 128 S CHLENKRICH , Alltag, S. 290-293. Vgl. dazu auch B RÄUER , Armen, S. 141. 129 B RÄUER , Rat, S. 39. 130 B RETSCHNEIDER , Fürsorge, S. 138-139. <?page no="37"?> 38 2.3 Strukturen der Medienlandschaft Wenn im Folgenden von ‚Medien’ die Rede ist, werden hierzu die sich im 18. Jahrhundert ausdifferenzierenden Kommunikationsmittel Periodika, Druckschriften und Flugblätter gerechnet, die sich mit unterschiedlichen aktuellen Darstellungen wie Meldungen, Berichten, Predigten und gelehrten Abhandlungen an einen - manchmal offenen und manchmal auch beschränkten - Empfängerkreis richteten. 131 Die ausgewählten, öffentlich verbreiteten Drucke richteten sich mit schriftlichen und oft zusätzlich bildlichen Bestandteilen als ‚visuelle Medien’ an ihre Rezipienten. 132 Um die Auswahl ferner einzugrenzen, wird dem Aspekt der Publizität ein hoher Stellenwert eingeräumt: Hier sind somit Druckschriften gemeint, deren Produzenten die Verbreitung von Information anstrebten, um diese - meist gekoppelt mit einem finanziellen Interesse 133 - an eine ‚Teilöffentlichkeit’ zu bringen. Teilöffentlichkeit meint im Rahmen einer sich stetig entwickelnden Medienlandschaft und der noch begrenzten Distributionsreichweite einzelner Erzeugnisse für den Untersuchungszeitraum einen zwar wachsenden, aber oft eingeschränkten Adressaten- und Leserkreis der Printmedien. 134 Die Vorstellung eines so beschriebenen Empfängerkreises birgt immer einen gewissen Konstruktionscharakter und darf nicht als abgeschlossen gelten. Die hier einbezogenen Mediendarstellungen und ihre Inhalte waren auf Teilöffentlichkeiten ausgerichtet, die sich beispielsweise aus vorwiegend juristisch gebildeten Beamten und Rechtsfachleuten, aus historisch-politisch gebildeten Bürgern oder aus Rezipienten nicht-bürgerlicher Kreise zusammensetzten und häufig überschnitten. 135 Welchen Rahmen bot nun die zeitgenössische Medienlandschaft des Kurfürstentums für die Entwicklung des Räuberdiskurses? Leipzig gilt neben Hamburg und Frankfurt am Main als eines der frühneuzeitlichen Medienzentren im Alten Reich. Nicht nur, dass eine große Dichte an Druckereien, Buchhandlungen und 131 Dahinter steht ein nicht generalisiertes, sondern ein semiotisches Begriffsverständnis von Medien, das prinzipiell eine in Zeichen umgesetzte Vermittlung menschlicher Kommunikation über Raum und Zeit umfasst. Als (Negativ-)Beispiel für ein breites, aufgeweichtes Begriffsverständnis wird meist das Marshall McLuhans, aber auch das Werner Faulstichs herangezogen, vgl. W ILKE , Grundzüge, S. 1-2. Weiter konkretisierend liegen hier ‚sekundäre Medien’ vor, für deren Produktion zwar technische Hilfsmittel notwendig waren, nicht aber für ihre Rezeption. Vgl. allgemein B ÖHN / S EIDLER , Mediengeschichte, S. 15-26 und S TÖBER , Mediengeschichte, S. 9-19. 132 Der Aspekt, dass durch Vorlesen mitunter die Distribution mündlich und die Rezeption auch auditiv stattfand, kann für das grundlegende Begriffsverständnis dagegen vernachlässigt werden. 133 S TÖBER , Mediengeschichte, S. 123-132. 134 Zur Verwendung des Begriffs der „Öffentlichkeit“ in Bezug auf die Gesellschaft der Frühen Neuzeit und der damit verbundenen wissenschaftliche Diskussion siehe S CHLÖGL , Politik; R ICH- TER , Öffentlichkeit; G ESTRICH , Absolutismus; J ÄGER , Öffentlichkeit. Zum Begriff der Teilöffentlichkeit vgl. unter anderem F AULSTICH , Mediengeschichte, S. 16-19. 135 Gestrich beschreibt eine nicht-bürgerliche Öffentlichkeit unter dem zeitgenössischen Label „Pöbel“, vgl. G ESTRICH , Absolutismus, S. 114-118. <?page no="38"?> 39 Verlagen die wirtschaftliche Struktur prägte und sogar die erste Tageszeitung der Welt 1650 bei Thimotheus Ritzsch (1614-1678) in der sächsischen Großstadt erschienen war, auch das eng gestrickte Postliniennetz bot eine notwendige Voraussetzung für die guten Informationsstrukturen in Kursachsen. 136 Neben politischen und wirtschaftlichen Meldungen enthielten Zeitungen auch Berichte vom Hof, von außergewöhnlichen Sensationen und besonderen Ereignissen, wie die Hinrichtungen von Kapitalverbrechern. 137 Sie richteten sich an ein breites Publikum, das nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern lebte. 138 Die periodisch erscheinenden Blätter florierten auch im 18. Jahrhundert und so gab es 1802 in vierzehn kursächsischen Städten Zeitungen, wobei Dresden im Vergleich zu anderen (Residenz-)Städten lange rückständig blieb, was mit der Nähe zum Hof und kontrollierenden Instanzen zu erklären ist. 139 Auch wenn Kritik an der Obrigkeit und den Regierungsverhältnissen wegen Druckerprivilegien und Zensurmaßnahmen nur selten Eingang in die zumeist neutral berichtenden Darstellungsformen fand, kann die Publizistik angesichts ihrer Informationsfunktion als wichtiges Element der beginnenden Aufklärung bezeichnet werden. 140 Auch die Journalproduktion nahm für den deutschsprachigen Raum ihren Ausgang in Leipzig, unter anderem mit den 1682 ins Leben gerufenen „Acta Eruditorum“. 141 Neben den wissenschaftlichen entstand auch eine große Anzahl an moralischen Zeitschriften. 142 Es lässt sich beobachten, dass in der frühneu- 136 Die „Einkommenden Zeitungen“ hielten sich zwar in der täglichen Erscheinungsform nicht über das 17. Jahrhundert hinaus, doch gab es in Leipzig mindestens mit den „Leipziger Zeitungen“ auch zwischen 1734 und 1809 ein Blatt, das fünf Mal wöchentlich herauskam. Einen Überblick über die wissenschaftliche und mediengeschichtliche Entwicklung bietet K ELLER , Landesgeschichte, S. 238- 242. 137 Vgl. zur Verbrechensdarstellung unter Einbeziehung anderer Medienarten L ANDFESTER , Recht. 138 Der Verweis auf eine breite Leserschaft findet sich unter anderem bei B ÖNING , Aufklärung, S. 152-153 und W EBER , Presse. Vgl. zur Zeitung unter anderem S TÖBER , Mediengeschichte, S. 78- 84 und W ILKE , Zeitung. 139 Von S CHWARZKOPF , Zeitungen, S. 9. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass mehrere der genannten Pressetitel erst zwischen 1798 und 1802 ins Leben gerufen worden waren und viele überhaupt nur wenige Jahre Bestand hatten. 140 Vgl. K OBUCH , Zensur. Meinungsäußerungen und Kommentierungen fanden dagegen stärker in den freieren historisch-politischen Zeitschriften und Intelligenzblättern statt. Böning weist allerdings darauf hin, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch die Politisierung in Form von Kommentierung in der Zeitung zunahm, B ÖNING , Aufklärung, S. 154-155. 141 Orientiert an Beispielen aus England und Frankreich enthielten die ‚Acta’, die von dem Philosophieprofessor Otto Mencke und seinen Nachkommen herausgegeben wurden, vorrangig wissenschaftliche Artikel und Rezensionen in deutscher Sprache. Sie wurden 1782 nach 117 Ausgaben eingestellt. Das Journal war die erfolgreichste und prägende Mediengattung des 18. Jahrhunderts und löste andere, ältere Typen, wie die so genannte Meßrelation, die zwischen 1605 und 1730 auch in Leipzig sehr verbreitet war, in ihrer Popularität ab, vgl. R OUSSEAUX , Meßrelationen. Vgl. zum sächsischen Zeitschriftenwesen auch E LKAR , Leipzig. 142 B ÖNING , Aufklärung, S. 156. Rüdiger Otto spricht sogar davon, dass Leipzig, zumindest im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, die führende Stellung im Zeitschriftenmarkt einnahm, wo „bis <?page no="39"?> 40 zeitlichen Zeitschriftenliteratur auch Berichte und Geschichten über Deviante ihren Platz fanden, anhand derer Reflexionen über den Umgang mit gesellschaftlichen Außenseitern wiedergegeben wurden. Die Verlagsmetropole festigte ihre Position zudem durch grundlegende Werke im Bereich der Wissensvermittlung wie Enzyklopädien, allen voran Johann Heinrich Zedlers „Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“, das in 68 Bänden zwischen 1732 und 1754 in Leipzig verlegt wurde. 143 Die expositorischen Texte unterschiedlichster Themenbereiche können Aufschluss darüber geben, wie sich das Bild von Räubern in der sächsischen Bevölkerung entwickelte. Denn gerade „Lexika und Kompilationen von Rechtstexten und Quellen stellten typische aufklärerische Vorhaben dar“ 144 , die durch die Verbreitung von enzyklopädischem Wissen danach strebten, zur Bildung einer allgemein informierten Öffentlichkeit beizutragen. Der Leipziger Stadtschreiber Johann Christian Lünig (1662-1740) erarbeitete außerdem mit seinem Hauptwerk „Teutsches Reichs-Archiv“ von 1710 bis 1722 eine umfangreiche Quellenedition des Reichsrechts und mit dem so genannten Codex Augusteus 1724 eine Sammlung der spezifisch kursächsischen Gesetze und Normen, brachte diese in Leipzig zu Druck und machte somit das im Territorium geltende Recht für die Gerichtspraxis und die wissenschaftliche Analyse in umfassender Weise zugänglich. 145 Als weitere in der Frühen Neuzeit blühende Druckerzeugnisse sind die Intelligenzblätter zu betrachten, wie zum Beispiel die in Dresden von 1749 bis 1794 erscheinenden „Frag- und Antwortblätter“ oder die so genannten ‚Bauernzeitungen’ in Städten wie Merseburg oder Neustadt an der Orla, die hinsichtlich ihres Inhalts dieser Kategorie zuzurechnen sind. 146 Ursprünglich als für die breite Bevölkerung einsehbares amtliches Veröffentlichungsblatt mit Anzeigen aus Verwaltung und Wirtschaft entstanden, entwickelte sich die Pressegattung im 18. Jahrhundert zu einer Mischform, die man vornehmlich über Abonnement bezog und in der neben rein verlautbarenden ebenso unterhaltende Darstellungsformen vertreten waren. Dabei war das Intelligenzblatt besonders als ein- 1720 30% der Zeitschriften Deutschlands verlegt“ worden seien, O TTO , Krause, S. 216. Mit seinem Beitrag bereichert er die noch sehr übersichtliche Forschungssituation zum Leipziger Journalwesen um die ausführliche biografische Schilderung eines Zeitschriftenverlegers. 143 Z EDLER , Universal-Lexicon. Dem gingen im Jahre 1704 das „Reale Staats- und Zeitungs- Lexicon“ oder auch Christian Wolffs „Mathematisches Lexicon“ (1716) als wichtige lexikalische Editionen voraus. Vgl. D ÖRING , Leipzig; außerdem S CHNEIDER , Zedlers Universal-Lexicon. 144 K ELLER , Landesgeschichte, S. 239. 145 R OECK , Bernd: Art. Lünig, Johann Christian. In: NDB, Bd. 14, S. 468-469. Eine ausführliche Biografie Lünigs fehlt bislang. Zwei Fortsetzungen zum „Codex Augusteus Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici. Worinnen Die in dem Churfürstenthum Sachsen und darzu gehörigen Landen, Auch denen Marggrafthümern Ober- und Nieder- Lausitz, publicirte und ergangene Constitutiones, Decisiones, Mandata und Verordnungen enthalten“ erschienen 1774 und 1803. 146 Vgl. auch die kommentierte Auflistung bei von S CHWARZKOPF , Zeitungen. Bei den Bauernzeitungen handelt es sich um Intelligenzblätter mit volksaufklärerischen Inhalten. <?page no="40"?> 41 Multiplikator von Gesetzen für die Allgemeinheit sowie von Fahndungsanzeigen und Steckbriefen für die ‚gute Policey’ von Bedeutung. 147 Doch verloren die territorialen Obrigkeiten zunehmend ihren Einfluss auf die Intelligenzblätter, in denen mitunter kritische aufklärerische Artikel ihren Platz fanden. 148 Daneben standen die Aktenmäßigen Berichte als eine zentrale Kategorie spezifischer Medientypen, die die Diskurse um Kriminalität und Sicherheit im 18. Jahrhundert prägten. 149 Durch das Attribut der ‚Aktenmäßigkeit’ beanspruchten deren Autoren Glaubwürdigkeit und Authentizität, was als Kaufargument gelten sollte. 150 Es finden sich darunter ausführliche Darstellungen der Untersuchungen, Prozesse und Bestrafungen von Räuberbanden, welche vorwiegend von Verfassern stammten, die als Gerichtsschreiber oder Beamte selbst an den Verfahren beteiligt gewesen waren. 151 Die Tatsache, dass für den sächsischen Bereich mehrere, unterschiedlich umfangreiche und ausgeprägte Aktenmäßige Berichte vorliegen, verdeutlicht, dass sie auch in diesem Kommunikationsraum sowohl für den Erfahrungsaustausch unter landesherrlichen Beamten als auch für den Verkauf an ein Lesepublikum bestimmt waren. 152 Es besteht demnach ein fließender Übergang von den Medien, die einem juristischen Kontext entstammten, zu romanhaften Darstellungen, die sich gleichzeitig zu etablieren begannen. 153 Obwohl die Räuberromantik, deren Geschichten häufig auf tatsächlichen Strafrechtsfällen aufbauten, vor allem im 19. Jahrhundert perfektioniert wurde, liegen im kursächsischen Raum einige frühe Beispiele vor. Über das Leben Nickel Lists erschienen zwischen 1790 und 1854 bereits mindestens fünf 147 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 14. Vgl. auch R UPPERT , Entstehung. 148 Vgl. dazu S CHILLING , Policey. Von Schwarzkopf nennt für Kursachsen die Stadtzeitung von Schleusingen - wenngleich das Fürstentum Henneberg nicht komplett zum Regierungsbereich zu rechnen ist - den „politischen Wetterhahn“, in dem neben Anzeigen auch politische Berichte gelegentlich mit einem Anteil an Sarkasmus präsentiert wurden, von S CHWARZKOPF , Zeitungen, S. 27- 28. 149 Diese Feststellung trifft Becker bezüglich der Aktenmäßigen Berichte des 19. Jahrhunderts, B ECKER , Identitäten, S. 150. Diese Berichte versteht auch Härter als Quellen, aus denen man Informationen über den Gauner der Frühen Neuzeit erhält, H ÄRTER , Art. Gaunertum, Sp. 1948. Vgl. außerdem D UHNKE , Straff und L ANGE , Gesellschaft, die jedoch beide auf ihre Weise eine tiefgehende Quellenkritik und einen Vergleich mit anderen Quellen vermissen lassen. Fritz lässt die Aktenmäßigen Berichte in einen von ihm grob umfassten Bereich von semi-wissenschaftlichen Abhandlungen eingehen, die die öffentliche Wahrnehmung und die Entwicklung der Strafpraxis prägten, F RITZ , Rotte, S. 62. 150 S CHÖNERT , Ausdifferenzierung, S. 115. 151 Kriminalfälle bildeten allerdings nicht ihren einzigen inhaltlichen Bezug. Auch Vorkommnisse aus anderen Themenbereichen des öffentlichen Lebens wurden als ‚aktenmäßige’ Berichte, Geschichten oder Nachrichten schriftlich ausgearbeitet. 152 Von Seiten der Forschung sind noch keine Aussagen über den Preis für einen Bericht gemacht worden. Da sie aber meist einen großen Umfang besaßen, ist nicht davon auszugehen, dass sie in hohen Auflagen erschienen und somit für den „einfachen Mann“ erschwinglich waren. 153 Vgl. S CHÖNERT , Kriminalgeschichten im Spektrum. Schön beschreibt eine „fast explosionsartige quantitative Ausweitung der Romanproduktion in der 2. Jahrhunderthälfte, mit dem Höhepunkt um 1800“, S CHÖN , Publikum, S. 295. <?page no="41"?> 42 biografische Werke. Eine dieser Darstellungen wurde allem Anschein nach 1790 von Ludwig Tieck verfasst. 154 Es entwickelte sich somit auch im territorialen Rahmen des 18. Jahrhunderts ein Absatzmarkt für literarisierende Räubergeschichten. 2.4 Strafjustiz und Verfahrensweg Die Zentralisierung der Verwaltungsgliederung Sachsens verlief durch die Ämter als seine kleinsten Einheiten und hing eng mit der seit dem 14. Jahrhundert gewachsenen Einteilung der Erblande in Amtsbezirke zusammen. Die Amtmänner, die diese beaufsichtigten und ihren Sitz im zentralen Ort des Bezirks hatten, unterstanden direkt dem Kurfürsten und hatten sich im Verlauf der Frühen Neuzeit als Vermittler zwischen lokaler Ebene und landesherrlichen Behörden etabliert. 155 Sie waren unter anderem für die Durchführung der Inquisitionsverfahren in ihren Bezirken zuständig. 156 Wenn sich durch die Voruntersuchung (Generalinquisition) ein Verdacht erhärtet oder ein Straftatbestand ergeben hatte, war der Amtmann dazu verpflichtet, zur Anklage, zum Beginn der Spezialinquisition und auch für weitere Resolutionen im Prozessverlauf Anweisungen bei der Landesregierung in Form eines Zwischenurteils (Interlokut) eines Spruchkollegiums einzuholen. 157 Am Amtssitz wurden die Verdächtigen verwahrt und die Verhöre und Konfrontationen geführt. Hier liefen die Korrespondenzen im Rahmen der Beweisführung zusammen und wurden die Urteile verkündet sowie deren Vollstreckung, beispielsweise das ‚Hochnothpeinliche 154 T IECK / R AMBACH , Leben Lists. Tieck gilt als einer der bedeutendsten sächsischen Literaten der Spätromantik. Zu den Räuberromanen, die sächsische Fälle darstellen, sowie zu ihren Autoren und Leserschaft, existiert bislang noch ein Forschungsdesiderat. 155 B LASCHKE / S TAMS , Kurfürstentum, S. 10. Ursprünglich war die Aufsicht über ein Amt in zwei Posten unterteilt: der Amtmann und der Schösser. Der Schösser war für die Finanzverwaltung des Amtsbezirks zuständig gewesen und der „Justizamtmann“ für das Gerichts- und Polizeiwesen. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts änderte sich diese Struktur dahingehend, dass der Amtmann in die Provinzialebene aufstieg und der Schösser die vorher getrennten Zuständigkeitsbereiche in der Leitung eines Amtsbezirks in sich vereinigte, woraufhin auch die einheitliche Bezeichnung „Amtmann“ auf ihn überging, B LASCHKE , Behördenkunde, S. 373. Wilde beschreibt für die Hexenprozesse des 17. Jahrhunderts den Versand der Prozessakten vom Dorf- oder Patrimonialgericht über den Amtschösser zum Amtshauptmann, von wo aus sie an die Schöffenstühle weitergegeben wurden, W ILDE , Qualitäten, S. 50. Weder ein Amtshauptmann noch ein Kreishauptmann treten allerdings in den vorliegenden Strafrechtsquellen des 18. Jahrhunderts in nennenswerter Weise in Erscheinung. 156 Weitere, neben dem Inquisitionsverfahren außerdem gängige Modi, wie das Akkusationsverfahren, das bürgerliche Verfahren und den gerichtlich legitimierten Vergleich erläutert L UDWIG , Herz, S. 56-76. Die Inquisitionsprozesse stellen allerdings den weitaus größten Anteil in Strafrechtsangelegenheiten. Auch Carpzov führt als sächsische Verfahrensform in peinlichen Fällen nur den Weg des Inquisitionsverfahrens auf: C ARPZOV , Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtsprozess, S. 7-8. 157 Vgl. L OBE , Ursprung, S. 61; B LASCHKE , Behördenkunde, S. 378; W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 40; 316. <?page no="42"?> 43 Halsgericht’, öffentlich abgehalten. Den Amtmännern war zudem auferlegt, sowohl bei den Strafverfahren als auch bei der Umsetzung von Sicherheitsvorkehrungen und Policey-Maßnahmen miteinander zu kooperieren. Neben den das Territorium strukturierenden Ämtern bestand in der Frühen Neuzeit noch eine Vielzahl von kleineren herrschaftlichen Gütern, die im jeweiligen Zuschnitt ihrer Patrimonialgerichtsbarkeit entweder dem Amtmann (amtssässig) oder unmittelbar den landesherrlichen Zentralbehörden (schriftsässig) untergeordnet waren. 158 Ergab sich daraus bereits ein diffiziles Geflecht an juristischen Kompetenzverteilungen zwischen adligen Grundherren, Beamten und Zentralbehörden, besaßen zudem einige Magistrate die Schriftsässigkeit. Sie waren insofern nicht vollständig in das Amt eingegliedert, in dessen Amtsbezirk die Stadt eigentlich lag, sondern hinsichtlich der Gerichtsbarkeit dem Landesherrn unterstellt, wie beispielsweise das Stadtgericht Leipzig. 159 Die Untersuchungen zu einem strafrechtlichen Fall wurden vom Gerichtsschreiber protokolliert, alle Handlungen genau in den Akten dokumentiert und ein Bericht darüber an die Landesregierung geschickt. Diese war bei ihrem Hervorgehen aus dem Hofrat 1574 offiziell als die oberste kursächsische Justizbehörde eingerichtet worden und besaß auch im 18. Jahrhundert noch zusammen mit dem Appellationsgericht hohe juristische Befugnisse in den Erblanden. 160 Sie war dem ebenfalls 1574 gegründeten Geheimen Rat unterstellt, der bis zur Regierungszeit Augusts des Starken das wichtigste Ratgebergremium in Kursachsen gewesen war. 161 Landesregierung und Geheimer Rat büßten mit der Einrichtung des Geheimen Kabinetts 1706 zwar Regierungskompetenzen ein, der Rat blieb jedoch qua Instruktion von 1707 in Fragen juristischer und policeylicher Art die maßgebliche Institution. 162 Dadurch behielten die Geheimen Räte Einflussbereiche in der Strafrechtspraxis, falls die Bestätigung oder eine grundsätzliche Entscheidung durch den Kurfürsten erforderlich war. 158 B LASCHKE , Behördenkunde, S. 378. Vgl. auch G ROß , Güter; F LÜGEL , Rittergüter; W ILDE , Qualitäten. Eine Vereinheitlichung der Gerichtsbarkeiten wurde erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen, vgl. dazu J ÄGER , Entwicklung. 159 R ÜDIGER / H OMMEL , Kriminalität, S. 37. Die Messe- und Handelsstadt wird vom Kenner der sächsischen Gerichtslandschaft Boehm als das größte der sächsischen „Gerichtssprengel“ bezeichnet, B OEHM , Schöppenstuhl, S. 392. Auf die Vielschichtigkeit und Komplexität der Kompetenzenverteilung in der kursächsischen Gerichtsverfassung weist Heiner Lück wiederholt in seinen rechtshistorischen Studien hin, vgl. L ÜCK , Entstehung, S. 279-280; D ERS ., Gerichtsverfassung im albertinischen Sachsen; D ERS ., kursächsische Gerichtsverfassung. 160 Vgl. grundlegend, aber nicht frei von unzureichend begründeten Wertungen D ÜRICHEN , Geheimes Kabinett. Vgl. außerdem B LASCHKE , Landesregierung, S. 351. Das Appellationsgericht kann an dieser Stelle vernachlässigt werden, da es ausschließlich für die Zivilgerichtsbarkeit zuständig war, B LASCHKE , Appellationsgericht, S. 335. 161 D ÜRICHEN , Geheimes Kabinett, S. 69-70; L OBE , Ursprung, S. 64-65. 162 D ÜRICHEN , Geheimes Kabinett, S. 91-92. Laut Blaschke „brachte die Einrichtung des Kabinetts eine weitere Entfernung der Landesregierung vom Herrscher mit sich, denn von nun an verkehrte sie nur mittelbar über den Geheimen Rat durch das Kabinett mit ihm“, B LASCHKE , Landesregierung, S. 357. <?page no="43"?> 44 Die Landesregierung erhielt vom zuständigen Amt einen ausführlichen Bericht über ein abgeschlossenes Strafrechtsverfahren. Gleichzeitig wurden die Untersuchungsakten des Falles zur Beurteilung an eines der sächsischen Spruchgremien gesendet. Die personell mit den Universitäten verknüpften beiden Schöffenstühle in Leipzig und Wittenberg waren seit dem 17. Jahrhundert durchweg mit studierten Juristen besetzt. 163 Sie und die dortigen Juristenfakultäten stellten zusammen die vier zentralen juristischen Spruchkollegien (‚Dicasterien’) für Kursachsen dar. Die Umwandlung der beiden Bildungsinstitutionen in Landesuniversitäten durch die sächsischen Kurfürsten hatte auf ihre Stellung maßgeblichen Einfluss gehabt. 164 Das Gutachten eines Spruchkollegiums, formuliert anhand der vorliegenden schriftlichen Gerichtsakten, erhielt faktisch den Status eines Urteils. 165 Die ‚Dicasterien’ bezeichnen keine Gerichte, Gerichtshöfe oder Oberhöfe im eigentlichen Sinn, sondern waren den lokalen Gerichten übergeordnete Gremien, die keine Gerichtshoheit und keine ausführende Gewalt besaßen. Sie gaben Gutachten und Rechtsbelehrungen ab. Die Bezeichnung für ein solches Gutachten konnte im 18. Jahrhundert zwar ‚Urthel’ lauten. Seine Rechtskräftigkeit setzte aber offiziell erst dann ein, wenn es von dem eigentlichen, lokalen Gericht verlesen und umgesetzt wurde. Es wurde in der Praxis aber meist durchaus als Rechtsspruch verstanden, dessen Inhalt im Amt vom Amtmann oder vom Stadtgericht oder Gutsherrn umgesetzt werden musste. 166 Bereits durch die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 (‚Carolina’) war den Amtsrichtern für strafrechtliche Angelegenheiten vorgeschrieben worden, vor der Anwendung von Folter oder einem Endurteil Rat bei juristischen Fakultäten in Form von Gutachten einzuholen, und auch im vierten Teil der Konstitutionen findet sich diese verpflichtende Auflage zur ‚Aktenversendung’. 167 In Kursachsen, wo man sich streng an diese Regelung hielt, waren es um die 2.000 Gerichte erster Instanz, die sich im 18. Jahrhundert in Strafsachen an die Schöffenstühle und Juristenfakultäten wandten. 168 Diese Anfragen kamen 163 Immer noch grundlegend zum Schöffenstuhl Leipzig ist B OEHM , Schöppenstuhl. Er beschreibt dabei das Quellenmaterial zur Spruchpraxis der Leipziger Schöffen sehr genau, weshalb hier auf nähere Ausführungen dazu verzichtet werden soll. 164 S CHNABEL -S CHÜLE , Rahmenbedingungen, S. 158; L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 29. Zur Universitätspolitik unter Friedrich August I. vgl. B LETTERMANN , Universitätspolitik. 165 L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 101. 166 Vgl. die Ausführungen dazu bei B OEHM , Schöppenstuhl, S. 620-639. Zur Praxis der Aktenversendung und frühneuzeitlichen Konsilia vgl. auch die rechtshistorischen Arbeiten von Falk, hier etwa F ALK , Wald, S. 290-293, außerdem D ERS ., Rechtsgutachten; D ERS ., Consilia. 167 D ORN , Entwicklung, S. 169. In der Carolina sind es unter vielen weiteren die Artikel 7 und 219, die die Aktenversendung vorschreiben, vgl. Peinliche Gerichtsordnung (Carolina). Die 26. Konstitution des ersten Teils nimmt explizit auf die Aktenversendung Bezug, was beweist, dass diese Praxis in der Gerichtsverfassung Kursachsens bereits verankert war, vgl. B REUNING , Constitutiones, S. 21. 168 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 388. Der Autor bezieht in diese Schätzung mit ein, dass es an vielen Orten mehrere Gerichte gegeben hat. Amtsgerichte, wie auch Patrimonial- und Stadtgerichte waren mit dieser Auflage gleichermaßen angesprochen. <?page no="44"?> 45 nicht nur aus dem Kurfürstentum selbst, auch Gerichte der umliegenden Territorien baten die sächsischen Dicasterien um Gutachten. Während für zivilrechtliche Fälle die Wahl des Gremiums freistand, war der Leipziger Schöffenstuhl in peinlichen Sachen bereits von Kurfürst August verbindlich als oberstes Spruchgremium für die sächsischen Gerichte bestimmt worden. 169 Durch diese zentrale Stellung, vor allem in kursächsischen Strafrechtsangelegenheiten, sahen sich die Schöffen in Leipzig schon zur Zeit Carpzovs mit einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung konfrontiert, was für den einzelnen oft durch juristische Ämterkumulation verstärkt wurde. 170 Gerade wegen der großen Anzahl an unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten im Territorium war die Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch die Aktenversendung notwendig geworden. 171 Bedenkt man außerdem, dass viele lokale Beamte zwar als Richter agierten, aber keine studierten Juristen waren, wird der Vorteil dieser Professionalisierung, wie sie von der zeitgenössischen Rechtsdogmatik gerechtfertigt wurde, auch für die Betroffenen offenbar. Durch die Aktenversendung an die Landesuniversitäten war garantiert, dass die Rechtsfälle von regelmäßig tagenden Gremien bestehend aus professionell ausgebildeten und erfahrenen Juristen und nach einheitlichen Richtlinien beurteilt wurden. Ein unübersehbarer Nachteil aus der Sicht des Angeklagten bestand andererseits darin, dass ein Urteil lediglich auf Grundlage der verschriftlichten Prozessmaterialien aus der Ferne gefällt wurde, ohne dass die zuständigen Spruchgremien in irgendeinen persönlichen Kontakt zu den Beurteilten getreten waren. Es handelte sich um ein oft langwieriges, anonymisiertes, übergeordnetes Verfahren, auf das von außen nur wenig Einfluss genommen werden konnte. Dieser Eindruck wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Urteilssprüche meist stark formalisiert und lediglich im Namen der Behörde, ohne Nennung der jeweiligen Schöffen, abgefasst waren. Einer Willkür durch Lokalbeamte einerseits oder durch den Landesherrn andererseits - so signalisierte dieses Verfahren - konnten die Urteile nicht unterliegen. Aus der Perspektive des Kurfürsten, dem durch die Bestätigung von Todesurteilen die oberste Aufsicht oblag, stützte die Rechtsprechung durch Dicasterien als zentralisierender Faktor die landesherrliche Gerichtshoheit. 172 169 L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 92. Lediglich im Kurkreis und von den schriftsässigen Patrimonialgerichten durfte in Strafsachen der Schöffenstuhl in Wittenberg angefragt werden. Vgl. auch W ILDE , Hexenprozesse, S. 152-153. 170 Vgl. dazu L ÜCK , Carpzov. Lück hat ermittelt, dass es zu Carpzovs Zeiten jährlich etwa 2.300 Angelegenheiten waren, in denen der Schöffenstuhl Leipzig ein Gutachten verfassen musste. 171 Die Aktenversendung innerhalb eines Territoriums wirkte zentralisierend und stützte die landesherrliche Gerichtshoheit, vgl. O ESTMANN , Aktenversendung. Vgl auch F ALK , Wald, S. 291. Zur Einführung des Systems der Aktenversendung vgl. außerdem L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 17-39. 172 L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 50. Lück betont außerdem eine besonders enge Bindung der Spruchkollegien an den Landesherren und eine außergewöhnlich starke Eingliederung der Aktenversendung in die territorialstaatliche Gerichtsverfassung Kursachsens, ebd., S. 230. <?page no="45"?> 46 Die vom Schöffenstuhl Leipzig und anderen Spruchkollegien getroffenen Urteile in Strafsachen mussten zunächst in ungeöffneter Form vom zuständigen Amt an die Landesregierung zur Bestätigung übersandt werden, bevor sie rechtskräftig wurden. 173 Dadurch behielt diese als kurfürstliche Justizbehörde Einsicht und Kontrolle in Sachen territorialer Rechtsprechung. 174 Nutzte zudem ein Inquisit die Möglichkeit, eine Verteidigungsschrift (‚Defension’) zu beantragen und durch einen professionellen ‚Advocaten’ einzureichen, wurden Landesregierung und Geheimer Rat ebenfalls in den Entscheidungsprozess einbezogen. Von der obrigkeitlichen Gewährung einer Defension hing es ab, ob der Fall anhand der vorliegenden Untersuchungsakten von einem anderen der vier Dicasterien neu beurteilt wurde. Stellte dies die einzige juristische Verteidigungsmöglichkeit eines Angeklagten innerhalb eines Inquisitionsprozesses dar, konnte eine Strafmilderung außerdem durch die Abfassung einer ‚Supplik’ erreicht werden. 175 Dazu trugen Inquisiten oder ihre Angehörigen eine Gnadenbitte mündlich oder schriftlich beim Amtmann oder Obergericht vor, zumeist richteten sie sich aber an den Kurfürsten persönlich. Da diese Bittschriften über den Weg der dazwischen liegenden Behörden an den Landesherrn übersandt wurden, hatten dabei sowohl Amtmann und Landesregierung als auch der Geheime Rat die Möglichkeit, zusammen mit dem jeweiligen Anschreiben eine Handlungsempfehlung an den Kurfürsten zu geben, die in der Regel sehr offen gehalten und unverbindlich formuliert war. Letzte Entscheidungsgewalt hatte der Kurfürst selbst als oberster Gerichtsherr inne. Das Geheime Kabinett, dessen Zuständigkeitsbereich als oberste Zentralbehörde nicht explizit bei strafrechtlichen Fragen lag, trat im Vergleich mit dem Geheimen Rat seltener in Erscheinung. Bei den Entscheidungen in Einzelfällen schien es eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. 176 Das dreiköpfige Kabinett war stattdessen auf die normative Weichenstellung in Sachen innerer Sicherheit konzentriert. Dieses Gremium wurde vom sächsischen Landesherrn in erster Linie eingesetzt, um in der Gesetzgebung den älteren, ständisch beeinflussten Geheimen Rat zu umgehen und Mandate ausschließlich in Abstimmung mit den Kabinettsministern auf den Weg zu bringen. Aus diesem Grund 173 Für die Patrimonialgerichte galt diese Regelung nicht, ebd., S. 103. 174 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 392, FN 45; L ÜCK , Spruchtätigkeit, S. 231. Vgl. dazu den Befehl vom 1. April 1739 zur Einsendung der Todesurteile, L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 313-316. 175 Vgl. Kapitel 5.4 Die Gnadenverfahren. 176 Dieser Eindruck kann allerdings durch die Erhaltungs- und Überlieferungssituation beeinflusst sein, da der Großteil der vollständigen Fallakten sich heute in den Beständen 10024 Geheimer Rat und 10025 Geheimes Konsilium im HStA Dresden befindet, während sich unter 10026 Geheimes Kabinett und 10079 Landesregierung vorwiegend Vorgänge zu Policeymaßnahmen gegen Vaganten und Gauner allgemein, sowie Akten zur Mandatspraxis finden. Daneben ist zu berücksichtigen, dass die Beratung durch das Geheime Kabinett in bestimmten Fällen auch mündlich stattgefunden haben kann und so zwar die Entscheidung des Kurfürsten beeinflusst hat - ihr Ausmaß aber in der schriftlichen Überlieferung nicht dokumentiert ist. <?page no="46"?> 47 waren die Positionen im Geheimen Kabinett vorwiegend mit Personen besetzt, die zum eingesessenen sächsischen Adel - dessen Angehörige den Hauptanteil in Landesregierung und Geheimem Rat stellten - keine verwandtschaftliche Beziehung hatten. 177 Diese voneinander abweichende Besetzung der beteiligten Behörden konnte sich bei der Aushandlung von Normen in unterschiedlichen Zielsetzungen äußern. Für rechtliche wie für politische Angelegenheiten, die bestimmte Untersuchungen vor Ort erforderten, richtete die Obrigkeit eigens Kommissionen ein, die sich ins Gefüge der Verwaltungs- und Justizhierarchie eingliederten, notwendige Maßnahmen ausarbeiteten und umsetzten, dabei aber keine Entscheidungsbefugnis hatten. 178 Diese Kommissionen ermöglichten den landesherrlichen Zentralbehörden durch ihre Sonderstellung einen besseren Zugriff auf die Schriftsassen und ihre Verwaltungsgebiete, also auf die Einflussbereiche jener Grundherren und Städte, die nicht einem Amt unterstellt waren. 179 Besetzt waren sie zumeist mit Beamten aus direkt benachbarten Amtsbezirken. Weil diese Einrichtungen Konflikte in der Lokalverwaltung verursachen konnten, aber auch wegen der großen Häufigkeit von Kommissionsverfahren richteten die Stände wiederholt Klagen an die Landesbehörden. Die Oberlausitz wich in ihrer Verwaltungsgliederung deutlich von der des sächsischen Kurstaates ab. 180 So waren es, obwohl das Markgraftum seit 1635 zur Herrschaft des sächsischen Landesherrn zählte, auch im 18. Jahrhundert noch die ortsansässigen Stände, bestehend aus den zahlreichen Rittergütern, den landsässigen Städten und den wenigen mit Grundherrschaft versehenen geistlichen Institutionen, die die Regierung durch ihren gewählten Landeshauptmann maßgeblich bestimmten. Zwar fungierte das Oberamt in Bautzen, das den Schriftverkehr mit Dresden koordinierte und die für die Oberlausitz gegebenen Mandate über den Landtag an die Stände weitergab, als landesherrlich eingesetztes Aufsichtsorgan, besaß aber faktisch keine Entscheidungsbefugnis. 181 In dieser langjährig gewachsenen Verfassung setzte sich eine straff organisierte Ämterglie- 177 C ZOK , Herrscher, S. 114. In diesen Zusammenhang ist ebenfalls bereits die Berufung des jungen Anton Egon von Fürstenberg als Statthalter für die sächsischen Lande im Jahr 1697 einzuordnen, während der Kurfürst sich in Polen befand, was die Stände als Affront gegen sie empfanden. K EL- LER , Landesgeschichte, S. 148; G ROß , Geschichte Sachsens, S. 133. 178 Vgl. L UDWIG , Herz, S. 42-45. Ein anderes Beispiel für eine kursächsische Kommission und ihre Arbeitsweise liefert B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 64-65. Zum Kommissionswesen allgemein vgl. H OKE , Art. Kommissar und H INTZE , Commissarius. 179 Vgl. dazu B LASCHKE , Behördenkunde, S. 384-386. 180 Vgl. im Folgenden B LASCHKE , Markgraftum. 181 Für die Oberlausitz in ihrer Sonderstellung wurden eigens zugeschnittene Mandate verfasst. Aus der Verwaltungsüberlieferung geht hervor, dass über das Oberamt Vorschläge nach Dresden abgegeben wurden, wie man dort kursächsische Mandate auf oberlausitzische Verhältnisse hin modifizieren könne. Vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 6019. <?page no="47"?> 48 derung, wie sie im sächsischen Kernland vorlag, nicht durch. 182 Dagegen akzeptierte der kursächsische Lehnsherr die innere Organisation und besonderen Rechte der Oberlausitz in ihrem Status als „Ständeoligarchie unter kurfürstlicher Oberhoheit“ 183 . 182 Die Oberlausitz wird in der vorliegenden Arbeit in untergeordneter Stellung einbezogen, denn im Vergleich bieten die Erblande einen juristisch und politisch einheitlicheren Untersuchungsraum. 183 S CHUNKA , Schunka 2001, S. 152. <?page no="48"?> 49 3 Der Zugriff der ‚guten Policey’ Das folgende Kapitel gibt die Problematik der Räuberbanden aus der Perspektive der obrigkeitlichen Institutionen des Kurfürstentums wieder: Wie benannte und definierte man Räuberbanden in Kursachsen, welche Vorkehrungen und Verfolgungsmaßnahmen richteten sich gegen die delinquenten Gruppen und wie sollten die angeblichen Täter bestraft werden? Ein Überblick über die Entwicklung der normativen Bestimmungen bildet den Hauptteil der Darstellung. Daneben fließt in das Kapitel mit ein, wie manche Aushandlungsprozesse zwischen den landesherrlichen Behörden und den untergeordneten juristischen Instanzen von statten gingen, da sich diese für einige Gesetzesinitiativen aus der Regierungsüberlieferung rekonstruieren lassen. 184 Auch werden Korrespondenzen und Diskussionen über Gesetzesänderungen geführt, die letztlich doch keine normative Umsetzung finden. Gleichzeitig mit den Traditionslinien und Neuerungen in den Verordnungen gegen Räuberbanden werden demnach - wo möglich - die Interessen und Ziele der beteiligten Institutionen hinter den Rechtstexten ausgeleuchtet. Die Grundannahme ist, dass die unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung in der Kommunikation über die Verfolgung der ‚kriminellen Rotten’ mit der vermittelten Sichtweise auf das Bandenproblem auch eine zeit- und situationsbedingte Selbstsicht transportierten. 185 Daran anknüpfend wird das Augenmerk auf die Normdurchsetzung 186 im sächsischen Rechtsraum gerichtet. Die Gesetzgebung und ihr Verhältnis zur Rechtspraxis ist ein gewichtiger Aspekt bei der Rekonstruktion von Rechtskultur, wie sie in dem hier gesetzten thematischen Rahmen untersucht werden soll. 187 Daher werden die Maßnahmen, mit denen die Vorgaben zur Verfolgung Devianter umgesetzt wurden, und die Problemstellungen, die sich bei der praktischen Anwendung obrigkeitlicher Regeln auf der lokalen Ebene ergaben, fokussiert. Insbesondere das Fahndungsmittel der Gaunerliste oder ‚Spezifikation’ wird hinsichtlich der Frage, welche Informationen diese Form der Repräsentation über die Verfolgten enthalten und welche Bilder dadurch von ihnen entworfen wurden, betrachtet. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels ist der Verdachtsgenese gewidmet. So werden zum Abschluss die Wege nachgezeichnet, auf denen Verdächtige letztlich vor Gericht gelangten. 184 Dass die strafrechtliche Ausgestaltung in Zusammenarbeit von Landesherrn und gerichtlichen Instanzen entstand, darauf verweist für das 16. Jahrhundert bereits L UDWIG , Herz, S. 274. 185 Vgl. G OFFMAN , Theater. 186 Zur ‚Normdurchsetzung’ vgl. L ANDWEHR , Normdurchsetzung; S CHNABEL -S CHÜLE , Rechtssetzung; H ÄRTER , Intentionen; D INGES , Normsetzung. 187 Vgl. R UDOLPH , Rechtskultur. <?page no="49"?> 50 3.1 Entwicklung der Gesetzgebung 3.1.1 Der Raub in Landrecht, Carolina und Konstitutionen Der besondere Charakter des sächsischen Rechtswesens wurde vor allem durch die starke Stellung der juristischen Fakultäten an der 1409 gegründeten Leipziger Universität und an der 1502 entstandenen ‚Leucorea’ in Wittenberg beeinflusst, an denen die meisten der späteren Staatsbediensteten ihre akademische Ausbildung erhielten. 188 Der bekannte Jurist Matthias Berlich (1586-1638) hatte in der Leipziger Strafjustiz gewirkt und mit Samuel Pufendorf (1632- 1694) und Christian Thomasius (1655-1728) hatten in Kursachsen zudem bedeutende Vertreter der Naturrechtslehre studiert. 189 Vor allem aber Benedict Carpzov (1595-1666) war durch seine Mitwirkung im Leipziger Schöffenstuhl, im Oberhofgericht, als Professor der Leipziger Universität und Geheimer Rat und seinen daraus hervorgehenden Schriften für die Entwicklung des kursächsischen Strafrechts maßgeblich gewesen. 190 Seine Aktivitäten und Erfahrungen in der juristischen Praxis gingen prägend in die deutsche Strafrechtspflege ein. 191 Da er auch im 18. Jahrhundert noch eine wichtige Referenz in der Normsetzung und Rechtspraxis darstellte, werden seine rechtsdogmatischen Zielsetzungen im Folgenden mit berücksichtigt. Für die Rechtsgeschichte der Aufklärung spielte außerdem das Engagement Karl Ferdinand Hommels (1722-1781) eine Rolle, der ab 1763 Ordinarius an der Leipziger Juristenfakultät war und sich als Vertreter des aufgeklärten Strafrechts für die Abschaffung des Inquisitionsverfahrens und der Folter einsetzte. 192 Von den grundlegenden Rechtstexten prägte der Sachsenspiegel von Eike von Repgow als ‚Sächsisches Landrecht’ die normative Strafzumessung in Kursachsen aus dem Spätmittelalter heraus bis weit in die Frühe Neuzeit hinein ebenso wie die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532, die mit Eingrenzung durch die eingefügte salvatorische Klausel für das Strafrecht reichsweit maßgeb- 188 Die wissenschaftliche Literatur zur Geschichte der beiden Universitäten ist vielfältig. Besonders ist auf die Arbeiten von Döring hinzuweisen, wie etwa D ÖRING / M ARTI , Universität. Vgl. auch R UDOLPH , Gerichtsbarkeit. Zur Entwicklung der Leipziger Juristenfakultät vgl. außerdem K ERN , Juristenfakultät. Zur Geschichte der Wittenberger Juristenfakultät siehe die Arbeiten von Heiner Lück. 189 Vgl. D ÖHRING , Erich: Art. Berlich, Matthias: In: NDB, Bd. 2, S. 97-98. Vgl. aus der vielfältigen Literatur zu Thomasius am aktuellsten L ÜCK , Thomasius, und zu Pufendorfs Strafrechtsverständnis außerdem H ÜNING , Naturrecht. 190 Vgl. J EROUSCHEK [u.a.], Carpzov; S CHMOECKEL , Carpzov. 191 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 373. Vgl. auch L ÜCK , Carpzov. 192 Er gab außerdem 1778 die deutsche Übersetzung des Hauptwerks des italienischen Strafrechtsreformers Cesare Beccaria ‚Über Verbrechen und Strafen’ heraus. Vgl. C ATTANEO , Hommel; R O- THER , Strafrechtsreformdiskussionen. <?page no="50"?> 51 lich war. 193 Mit den Konstitutionen, einer Gesetzessammlung von 1572, lag zudem eine territorialrechtliche normative Basis vor. Diese sächsischen Rechtstraditionen und die auf ihnen gründende Rechtspraxis hatten Vorbild- oder Orientierungsfunktion für andere frühneuzeitliche Territorien. 194 Das sächsische Landrecht, das als mittelalterliche Sammlung des Gewohnheitsrechts den Ausgangspunkt der partikularrechtlichen Tradition Kursachsens darstellt, bildete die älteste Bezugsquelle, auf die die strafrechtlichen Normen und Urteile rekurrierten: Obwohl der Sachsenspiegel nur knappe Bestimmungen zu Diebstahl und Raub enthielt, wurde mit der Todesstrafe das langfristig übliche Strafmaß für einen großen Diebstahl sowie für die Mithilfe und Hehlerei festgesetzt. 195 Hier war außerdem sowohl für Raubmord als auch für den Kirchendiebstahl die Strafe der Radbrechung vorgegeben, worauf die sächsischen Gesetze des 18. Jahrhunderts basierten. 196 Zeigte diese mittelalterliche Rechtsordnung bereits die Grundzüge der späteren Bestimmungen auf, waren es doch in größerem Umfang die Carolina und die kursächsischen Konstitutionen, welche in der Frühen Neuzeit die Maßstäbe für Prozessführung und Rechtsprechung in Strafsachen vorgaben. 197 Von den insgesamt zwanzig Artikeln der Peinlichen Halsgerichtsordnung, die sich mit Eigentumsdelikten befassten, war lediglich einer explizit dem Raub gewidmet (Art. 126), während die unterschiedlichen Erscheinungsformen, Grade und Milderungsumstände des Diebstahls an anderer Stelle unter den Nummern 157 bis 175 aufgeführt wurden. 198 Der Raub war dabei als die öffentliche und gewaltsame Wegnahme einer Sache gegen den Willen des Eigentümers definiert, wohingegen sich der frühneuzeitliche Diebstahl am ehesten durch die Heimlichkeit der Tat auszeichnete - wenn auch in den Carolina-Artikeln 157 bis 159 zwischen heimlichem, offenem und gefährlichem Diebstahl differenziert wurde. Mit beiden Formen - Raub oder Diebstahl - konnte nach zeitgenössischer Ansicht Gewaltausübung einhergehen, beide schadeten der öffentlichen 193 Es wurden hier jeweils die aktuellen im Reclam-Verlag herausgegebenen Textausgaben verwendet. Vom Sachsenspiegel ist zusätzlich ein sehr hilfreiches Digitalisat verfügbar unter der URL: http: / / www.sachsenspiegel-online.de/ export/ index.html (letzter Zugriff: 15. August 2012). 194 S CHNABEL -S CHÜLE , Überwachen, S. 37 und S. 56. Die Bewertung Kursachsens als „typusbildend“ auch bei L UDWIG , gefengnis, S. 103. Die Konstitutionen waren aus dem Bestreben entstanden, die Rechtsprechung zwischen den Gerichten und den Juristengremien territorial zu vereinheitlichen, so bei L ÜCK , Gerichtsverfassung, S. 209. 195 Sachsenspiegel, Landrecht Buch 2, Artikel 13. 196 So wird im Kurfürstlichen Reskript vom 26. April 1773 der 13. Artikel im zweiten Buch des Sächsischen Landrechts als zentrale Referenz zur Bestrafung des Kirchendiebstahls angegeben, von dem man aber gegebenenfalls absehen und den 174. Artikel der Carolina anwenden konnte, wenn nur geringere Werte entwendet wurden. L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 335- 336. Vgl. auch in W EISKE , Handbuch, S. 139-140. 197 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 389. 198 Peinliche Gerichtsordnung (Carolina), Artikel 126 und Artikel 157-175. Vgl. dazu auch S CHNABEL -S CHÜLE , Überwachen, S. 271-272. <?page no="51"?> 52 Sicherheit. Eine scharfe Abgrenzung zwischen gefährlichem oder offenem Diebstahl und Raub scheint somit hier noch nicht gegeben. Die frühneuzeitliche Jurisprudenz verstand im Raub zunehmend ein Diebstahl mit vollzogener Gewaltausübung gegen Menschen. 199 Laut Artikel 126 der Carolina sollte der Räuber enthauptet werden oder eine andere Variante der Todesstrafe je nach regionalem Gewohnheitsrecht erhalten. Die heimliche Entwendung von Waren mit einem Wert unter fünf Gulden wurde als geringer Diebstahl betrachtet, der noch mit der Rückzahlung des doppelten Beutewerts abgegolten werden konnte, sofern die Voraussetzung erfüllt war, dass der Diebstahl erstmalig und ohne Einbrechen oder Gewaltanwendung begangen worden war. Daneben sollte auch ein geringfügiger Diebstahl mit Pranger, Staupenschlag, also der entehrenden Ausstreichung mit Ruten, 200 und Landesverweis bestraft werden, wenn er einen öffentlichen Aufruhr erzeugt hatte (Artikel 158). War ein Dieb entweder zum dritten Mal einer Entwendung überführt, oder hatte er eine Tat mit Gewalt, Einbruch oder Waffen begangen, war der Tatbestand des gefährlichen Diebstahls erfüllt, der die Todesstrafe erforderte. Bei einem erstmaligen über fünf Gulden liegenden Diebstahl räumte Artikel 160 einen gewissen Ermessensspielraum je nach Charakter der Tat und des Täters ein. Darin wurde dem zuständigen Richter gleichzeitig die Aktenversendung empfohlen, da er ausdrücklich Rat bei den Sachverständigen einholen sollte, nach deren Gutachten das Urteil zu sprechen war. 201 Strafmildernde Umstände wurden lediglich für junge Diebe unter 14 Jahren oder für Diebstahl während einer Hungersnot durch die Artikel 164 und 166 explizit eingeräumt und diese Milderungsgründe sollten laut Artikel 175 auch beim Kirchendiebstahl Berücksichtigung finden. 202 Trotz der Spezialisierung weiterer Artikel auf besondere Ausprägungen des Tatbestands, wie des Felddiebstahls oder der Unterschlagung einer anvertrauten Sache, ist festzustellen, dass der gemeinschaftlich begangene Diebstahl sowie dazugehörige Strafabstufungen für unterschiedliche Grade der Beteiligung in der Carolina nicht vorgesehen waren. Die kursächsischen Konstitutionen, die in ihrem vierten Teil ‚Criminalia’ oder die ‚peinlichen Fälle’ behandelten, 203 differenzierten in den zehn Nummern, die speziell den verschiedenen Formen des Diebstahls gewidmet waren, die Strafmaße für die überführten Täter eindeutiger. In Konstitution Nr. 32 wurde neben der Schwelle von fünf (ungarischen) Gulden eine weitere Grenze 199 Vgl. bei J ANßEN , Diebstahl, S. 55. 200 Vgl. zur Entwicklung und Wirkung der Ehrenstrafen wie der Stäupung S CHWERHOFF , Schande; van D ÜLMEN , Theater, S. 62-80; S CHWERHOFF , Karrieren, S. 33-39 und A MMERER , Strafen. Zur Erläuterung der verschiedenen Strafarten für Diebe und Räuber vgl. auch V IEHÖFER , Kapitel. 201 Weitere Anweisungen zur Aktenversendung sind in den allgemeinen Teilen der Carolina zu finden, zum Beispiel in Artikel 7 und in Artikel 219. 202 Vgl. zum Notdiebstahl und seiner Entwicklung in der Strafrechtswissenschaft D ORN , Not. 203 In zahlreichen Auflagen erschienen, zum Beispiel B REUNING , Constitutiones. Der vierte Teil als Strafrechtsordnung ist auch abgedruckt in W EISKE , Handbuch, S. 1-18. <?page no="52"?> 53 von zweieinhalb Gulden gezogen, unterhalb derer für einen Diebstahl mit Gefängnis oder zeitlicher Verweisung zu rechnen war. Oberhalb dieser Summe erhielt der Täter den ewigen Landesverweis mit vorherigem Staupenschlag. Hatte jemand bei einer oder mehreren Taten Beute von insgesamt mehr als fünf Gulden gestohlen, sollte dies mit dem Tod durch den Strang geahndet werden. Wurde hier darauf hingewiesen, dass diese Sanktion unabhängig vom Umstand des Einbrechens Anwendung finden sollte, so blieb den Urteilsverfassern - als solche wurden explizit und ausschließlich die Schöffenstühle genannt - dennoch freigestellt, die Milderungsgründe der Peinlichen Halsgerichtsordnung im Einzelfall gelten zu lassen. Daneben sollte auch der Wiederholungstäter beim dritten Mal nicht zwangsläufig mit dem Tod bestraft werden, sondern den Staupenschlag erhalten, sofern der Beutewert weniger als fünf Gulden betrug - außer wenn es sich um Einbruchdiebstähle handelte. Im Gegensatz zur Carolina wurde hier nicht explizit zwischen dem heimlichen, offenen und gefährlichen Diebstahl unterschieden, wodurch die Abgrenzung zum Raub als Entwendung mit Gewaltausübung vereinfacht wurde. Da diese Konstitution zudem besagte, dass ein Dieb bei rechtzeitig bewiesener Reue und einer frühzeitigen Rückerstattung an die Opfer eine geringere Sanktion erhalten sollte, entsteht der Eindruck, dass die landesherrlichen Bestimmungen von 1572 insgesamt eine mildere Behandlung für die Beklagten vorsahen als die vierzig Jahre ältere Carolina. Im gleichen Abschnitt der Konstitutionen wurde zudem der gemeinschaftliche Diebstahl erwähnt. Dabei sollte allein die Möglichkeit, dass die einzelnen Beteiligten von der gesamten Beutesumme jeweils mehr als fünf Gulden erhalten haben könnten, den Ausschlag darüber geben, ob der Strang oder nur der Landesverweis mit Staupenschlag verhängt wurde. Die Mitgliedschaft in einer Diebesbande wurde demnach zwar nicht wörtlich genannt, doch der Tatbestand fand hier im Vergleich zur Carolina erstmalig Aufnahme. Eine Gruppe von Tätern sollte nach einem gemeinsamen Maßstab ihr Urteil erhalten. Einen weiteren Hinweis auf die Berücksichtigung von Banden enthielt Konstitution Nr. 39, in der die Sanktion für das „Wache halten“ bei einem Diebstahl anhand des Werts der Beute, die jemand erhalten hatte, festgelegt wurde. Unabhängig davon, ob dieser Komplize selbst an der Tat aktiv teilgenommen hatte, sollte er wie ein Dieb zu behandeln sein. Im nächsten Abschnitt wurde zudem derjenige, der einen Diebstahl durch Hilfeleistungen oder Anweisungen unterstützt hatte, mit Staupenschlag und ewiger Ausweisung belegt. Obwohl in diesen Regelungen also die Option des gemeinschaftlichen Diebstahls einbezogen war, wurde offen gelassen, ob darunter einmaliges, mehrmaliges oder dauerhaftes, planmäßiges Kooperieren im Sinne einer Bande verstanden wurde. Wie gezeigt wurde, legten die Carolina und die Konstitutionen nicht explizit Kriterien fest, nach denen ein Bandenraub von einem gewaltsamen Diebstahl zu unterscheiden war. Daher setzte sich die zeitgenössische Rechtswissenschaft nicht speziell mit den Strafmaßen für Räuberbanden auseinander, da für eine intensive Diskussion die normative Basis fehlte. Doch bestimmte Benedict <?page no="53"?> 54 Carpzov zumindest in einem kurzen Abschnitt des zweiten Teils der ‚Practica Nova’ (1670), dass ein Raub, der von Komplizen, also gemeinschaftlich begangen worden war, mit der Todesstrafe durch das Schwert mit anschließender Radlegung - für alle beteiligten Täter - zu sanktionieren sei. 204 Dies entsprach dem Strafmaß, das er ebenfalls dem Raub als Einzeltat beigemessen hatte. 205 Johann Samuel Friedrich von Boehmer (1704-1772) ließ 1759 in seinen ‚Observationes’ zu Carpzovs Practica Nova zwar die Nummer 34 und damit den gemeinschaftlichen Raub aus, beschäftigte sich aber dagegen eingehend mit der Frage, wie der qualifizierte Diebstahl vom Raub zu unterscheiden sei, da die Gesetze seines Erachtens uneindeutig und interpretierbar seien. 206 Während die Strafe für Bandenräuber somit nur eine knappe gemeinrechtliche Diskussion erfuhr, wurden im Unterschied dazu über die verschiedenen Umstände eines so häufig ausgeübten Delikts wie des Diebstahls und die darauf bezogenen Strafmaße durchaus breiter debattiert: 207 So hatte Carpzov beispielsweise angeführt, dass ein großer Diebstahl nicht uneingeschränkt mit dem Strang bestraft werden müsse. 208 Dementsprechend weist der Rechtshistoriker Ernst Boehm in seiner grundlegenden Studie zum Schöffenstuhl Leipzig darauf hin, dass Carpzovs Einfluss langfristig zur Milderung der kursächsischen Spruchpraxis beigetragen habe und nennt als Beispiel die Abwendung von der Todesstrafe beim einfachen Diebstahl. 209 Die Frage, wie die Faktoren Einbrechen, Einsteigen oder Tragen einer Waffe einen gefährlichen Diebstahl bedingten, wurde in der zeitgenössischen Jurisprudenz unterschiedlich bewertet. 210 In Abwendung von der hergebrachten Strafpraxis und im Unterschied zur Mehrzahl der Rechtswissenschaftler forderte der humanistisch gesinnte Hommel im darauffolgenden Jahrhundert, dass die Todesstrafe für den Diebstahl ausschließlich beim Vorliegen einer bewaffneten Vorgehensweise ausgesprochen werden solle. 211 In der Fürsprache für die Einschränkung der Todesstrafe stellte er den Raub als todesstrafenwürdiges Verbrechen deutlich vor den Diebstahl. 212 Gleichwohl verdiente in seiner Vorstellung der gewaltsame Diebstahl - auch in Abgrenzung zu Cesare Beccaria (1738-1794) - ebenfalls die Todesstrafe. 213 204 C ARPZOV , Practicae Novae, Pars Secunda, Quaestio 90, No. 34. 205 Ebd., Pars Secunda, Quaestio 90, No. 10. 206 B OEHMER , Observationes, S. 76-77. 207 Vgl. C ARPZOV , Practicae Novae, Pars Secunda, Quaestio 77-88; vgl. dazu auch von B OEHMER , Observationes, S. 50-73. 208 J ANßEN , Diebstahl, S. 92. Vgl. C ARPZOV , Practicae Novae, Pars Secunda, Quaestio 78, No. 73- 74. 209 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 397. 210 J ANßEN , Diebstahl, S. 104-121, Anm. 3. 211 Ebd., S. 124. 212 C ATTANEO , Hommel, S. 88. 213 Ebd., S. 123-124. <?page no="54"?> 55 3.1.2 Die sächsischen Verordnungen im Überblick Wenn man den chronologischen Verlauf betrachtet, so bildet ein Dokument im Kurfürstentum gleichsam den Übergang zwischen den Konstitutionen und den kursächsischen Räubermandaten des 18. Jahrhunderts: In „Bedencken, wie dem Übel der Dieberey zu steuren“ 214 beschäftigt sich ein ‚Project’ der kursächsischen Landesregierung von 1677 mit der Eigentumsdelinquenz. Solche Projecte waren gutachtenartige Entwürfe normativer Texte. Sie lassen deren Entstehungsprozesse gut nachverfolgen, denn ihr Zweck war es, in neuen, modifizierten rechtlichen Regelungen zu münden. Das ‚Bedencken’ wurde initiiert durch eine Anfrage des damaligen Kurfürsten Johann Georg II. (1613-1680), in der er die Landesregierung um ihre Meinung zu dem beobachteten Anstieg der Eigentumskriminalität bat. Dazu sollte sie ein Gutachten beim Leipziger Schöffenstuhl einholen. Der Kurfürst hatte schriftlich die Vermutung geäußert, die Entwicklung könne dadurch begründet sein, dass die mögliche Rückerstattung von gestohlenem Gut eine zu milde Behandlung der Täter zur Folge habe. Es sei daher nach einer ‚Exasperation’ der Strafe zu streben. Die Landesregierung leitete das Schreiben an die vier sächsischen Spruchkollegien weiter. In ihrem Project für den Kurfürsten fasste sie sechs Monate später deren Antworten unter Hinzufügung eigener Empfehlungen zusammen. Obwohl die beiden Schöffenstühle durchaus dem Argument beipflichteten, in der Strafmilderungspraxis bei ‚Restitution’ der Beute läge ein Grund dafür, dass Diebe ihr Handwerk mit größerer Leichtfertigkeit praktizierten, betonte die Landesregierung einleitend, vor allem die schlechte Erziehung und der dadurch ausgeprägte Müßiggang seien für das Phänomen ursächlich. Daher plädierte sie offen für die Einrichtung eines geeigneten Zuchthauses und für den Arbeitszwang, „als dadurch nicht allein die ungezogene harttnäckichte jugend Zur arbeit und guten nuzen täglich angetrieben, gewöhnet und gebraucht, sondern auch das gemeine müßige, faule und unnüze Volck, deßen es mehr als Zu viel giebet, nebenst denen im Lande und in Städten allenthalben häuffig herumb vagirenden starcken bettlern und Herrenlosen Gesinde, durch welche die meisten Deuben geschehen, am besten in Zaum, und von müßiggang abgehalten werden kann“ 215 . Weiterhin hielten die Landesregierung und die von ihr befragten Spruchkörper eine Strafverschärfung für weniger notwendig als eine genauere Befolgung und häufigere Anwendung der schon geltenden Gesetze. Trotz deutlicher Unter- 214 HStA Dresden, 10079, Loc. 30397. 215 Ebd., fol. 4v (eigene Zählung). <?page no="55"?> 56 schiede in ihren jeweils geäußerten Ansichten 216 fanden sich Gemeinsamkeiten, die sich vor allem auf die Anwendung der 32. Konstitution bezogen und in neun Punkten ausführlich dargelegt wurden. Als Abweichungen vom traditionellen Recht erkennt man unter anderem erstens, dass die Stufe des großen Diebstahls bei fünf ‚Solidi’ 217 gesetzt wurde, eine weitere Grenzziehung bei der Hälfte dieser Summe aber nicht mehr stattfand. Die Juristenfakultät in Leipzig sprach sich dabei besonders dafür aus, dass im Falle des Bandendiebstahls diejenigen, die mehr als fünf Solidi erhalten hatten, mit der Todesstrafe deutlich härter bestraft werden sollten als diejenigen, deren Anteil darunter lag. Zweitens wurde in diesem Gutachten neben den möglichen Strafen des Landesverweises mit Staupenschlag und des Festungsbaus außerdem die Brandmarkung einbezogen, die - so führte die Landesregierung weiter aus - beim ersten geringfügigen Diebstahl auf dem Rücken und beim zweiten Diebstahl auf der Stirn angebracht werden sollte. Das vorliegende Project kam allerdings nicht zur praktischen Umsetzung, denn in den darauf folgenden Jahren wurde keine Verordnung publiziert, worin die genannten Vorschläge manifestiert und in geltendes sächsisches Recht übernommen worden wären. Eher hat es den Anschein, dass die Brandmarkung als Körper- und Ehrenstrafe für Diebe ‚aus der Mode’ gekommen war oder sich nicht etablierte. Sie fand in den Mandaten des 18. Jahrhunderts keinerlei Erwähnung. Dass sowohl die Landesregierung als auch die Recht sprechenden Institutionen für eine Beibehaltung der geltenden Bestimmungen und für eine strengere Anwendung der bisherigen Regelung bezüglich der Beuteerstattung argumentiert hatten, trug wohl dazu bei, dass kein neues Mandat auf das vorliegende Gutachten folgte. An dieser Stelle war die juristische Debatte vorerst beendet. Da die angefragten Institutionen nicht die vom Kurfürsten nahe gelegte Position ergriffen und übernommen hatten, erübrigte sich die Erneuerung des Mandats. 216 Zwischen den Ausführungen der Spruchgremien sind folgende Varianten zu erkennen: Die Wittenberger Collegia hatten darauf hingewiesen, dass eine Verschärfung der Strafen schon deshalb nicht anzuraten sei, weil die Härte der Strafe für einen großen Diebstahl ohnehin in der Öffentlichkeit, zum Beispiel unter Theologen, in der Diskussion stünde. Nichtsdestotrotz sprachen sie sich an anderer Stelle für eine Erhöhung des Strafmaßes im Falle des Hausdiebstahls aus, da dieser heimtückischer sei als ein Diebstahl durch einen Fremden. Die Leipziger Collegia stimmten dagegen eher mit der Auffassung überein, dass man eine Konkretisierung der Strafanwendung vornehmen müsse. Dabei führten die Schöffen zu Leipzig, die ja die meisten der peinlichen Urteile über Diebe fällten, für die Strafmilderung bei Rückerstattung der Beute die zusätzliche Kategorie des Diebstahls über 100 oder 1.000 Taler ein, bei dem man nicht in Form des Landesverweises, sondern mit der Festungsbaustrafe begnadigt werden sollte. 217 Mit dem Solidus, einer in den Quellen des 18. Jahrhunderts nicht mehr allzu gängigen Bezeichnung, ist nicht der ‚Schilling’, sondern der oben schon genannte ‚Ungarische Gulden’ gemeint. Der Gegenwert von fünf Solidi wird außerdem in dieser Quelle mit zehn Talern angegeben, was dafür spricht, dass es sich nicht um die qualitative Veränderung des Betrags handelt, sondern lediglich um einen anderen Terminus. <?page no="56"?> 57 Datum Titel Codex Augusteus 27.02.1706 Mandat wegen Räuber, Diebe und derer, so unter diese Rotte zu rechnen [...] Teil 1, Sp. 1729-1732 16.09.1710 Ejusdem Mandat wider die gewaltsamen Einbrüche, auch Diebes- und Räuberotten Teil 1, Sp. 1767-1774 21.12.1711 Ejusdem Mandat, die Spitzbuben und Räuber-Rotten im Lande betr. Teil 1, Sp. 1782-1784 07.12.1715 Erneuert und geschärftes Mandat wider die Bettler Landstreicher und ander böses Gesindel Teil 1, Sp. 1843-1854 14.12.1717 Wiederholtes Generale wider die Diebische Einbrüche, Postberaubung, Brandbeschädiger und Bevehder [...] Teil 1, Sp. 1879-1882 27.07.1719 Mandat, wegen geschwinder Exequirung wider die Diebe und Räuber Teil 1, Sp. 1897-1900 04.04.1722 Mandat, wider die aus denen Heßischen und andern angrenzenden Landen mit Gewalt vertriebene und in den Thüringerwald eingebrochene starke Zigeunerbande Teil 1, Sp. 1953-1956 30.04.1730 Generale, die wegen des Diebes- und Räubergesindels hinwiederum auf einige Zeit anzulegende Wachten betr. 1. Forts., Teil 2, Sp. 567-568 29.12.1733 Geschärftes Mandat wider die Räuber und Mordbrenner 1. Forts., Teil 2, Sp. 615-616 29.04.1734 Anderweites Mandat wider die Diebes- und Räuberrotten, Mordbrenner, auch andere feindliche Streifereyen [...] 1. Forts., Teil 2, Sp. 617-618 17.02.1736 Anderweites Generale zu Einführung derer, wider die Diebes- und Räuberrotten, auch wegen des Bettelwesens, vorhin erlassenen Generalverordnungen 1. Forts., Teil 2, Sp. 639-640 14.07.1738 Mandat, wegen des Diebs- und Räuber auch andern liederlichen Gesindels, ingleichen wegen der Prämie von funfzig Thalern und resp. Begnadigung vor den Anzeiger eines berüchtigten Diebes oder Räubers 1. Forts., Teil 2, Sp. 649-650 08.07.1748 Generale, zu nochmaliger Einschärfung derer wegen der Diebs- und Räuberrotten erlassenen Mandaten 1. Forts., Teil 2, Sp. 693-696 14.12.1753 Erneuertes und geschärftes Mandat, wegen Aufsuch- und Entdeckung, auch Bestrafung des Diebs- und Räubergesindels 1. Forts., Teil 2, Sp. 797-804 23.02.1763 Generale, wider die nach hergestelltem Frieden, sich wider einfindenden Diebes- und Räuber-Rotten [...] 1. Forts., Teil 2, Sp. 851-854 Tabelle 1: Übersicht über die einschlägigen ‚Räuberverordnungen’ des 18. Jahrhunderts Im 18. Jahrhundert wurden insgesamt 15 kursächsische Gesetze in Form von Mandaten und Generalen zum Räuberunwesen publiziert, die sich besonders in den 1710er und 1730er Jahren häuften (vgl. Tabelle 1). 218 In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war die Gesetzgebung gegen Gauner- und Diebesbanden deutlich angeregter als in der zweiten, und die letzte entscheidende dieser spezialisierten Verordnungen wurde bereits im Dezember 1753 erlassen. Auf sie folgte, 218 Befehle und Reskripte sind hier nicht mitgezählt, weil sie sich nicht an die Allgemeinheit, sondern an einzelne Untergeordnete oder Behörden richteten. Im Gesamtbild zeigen diese Anordnungen eine ähnliche quantitative Verteilung wie bei den Mandaten und Generalen zu beobachten ist. <?page no="57"?> 58 noch unter Kurfürst Friedrich August II., lediglich ein kurzes Generale zur Vorsorge gegen neue Banden nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges am 23. Februar 1763. 219 Obwohl am 10. August 1684 bereits vor Beginn des hier fokussierten Zeitraums ein Gesetz gegen eine ‚Bettlerrotte’ in Sachsen erschienen war, kann das Mandat vom 27. Februar 1706 220 durchaus als Beginn einer verstärkten, gezielten Normgebung im Kurfürstentum verstanden werden. Ab diesem Zeitpunkt ergingen in oft nur kurzen Abständen verschiedene umfangreichere Verordnungen, die meist nicht mehr fallbezogen angelegt waren, um eine Verschärfung von Maßnahmen zu begründen, 221 sondern die eher retrospektiv aufeinander bezogen waren. 222 Auch dadurch, dass dasjenige von 1706 konsequent den frühesten Rückbezug unter den Vaganten- und Räubermandaten darstellte, entsteht der Eindruck eines zusammenhängenden Zeitraums, in dem Räuber, Diebe und ihre ‚Rotten’ als virulente Gefahr wahrgenommen wurden und das Thema eine neue Wertigkeit erreichte. Es würde dennoch zu kurz greifen, aus rückblickender Perspektive die Zunahme von Mandaten und Befehlen zu Vaganten- und Räuberbanden ab 1706 einseitig mit einer gestiegenen Bedrohung durch mehr kriminelle Banden zu erklären. Ebenso wenig muss diese Dynamik bedeuten, dass die Verordnungen auf den unteren Verwaltungsebenen unzureichend in die Praxis umgesetzt worden wären. 223 Mehrere Forschungsbeiträge zum Aspekt der frühneuzeitlichen Normdurchsetzung haben deutlich gemacht, dass die Einordnung des Phänomens einer gesteigerten Normproduktion nur multiperspektivisch unter Einbeziehung eines weiter gefassten Quellenspektrums geleistet werden kann. 224 An dieser Stelle soll die Zunahme von sächsischen Strafrechtsnormen schlicht als Indiz dafür stehen, dass Devianz und Räuberbanden von obrigkeitlicher Seite durch die Repräsentation in den Mandaten im 18. Jahrhundert verstärkt als öffentliches Problem dargestellt wurden. War es aber tatsächlich eine andere Qualität der Kriminalität, die eine deutlichere Vehemenz von obrigkeitlicher Seite herausforderte? Oder lag die Ursache beim entstehen- 219 Ebd., 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 851-854. 220 Ebd., Teil 1, Sp. 1729-1730. 221 Ob eine Verordnung auf einen konkreten Beispielfall einleitend Bezug nahm, hängt unter anderem mit der Quellenspezifik der jeweiligen Textgattung zusammen. Reskript und Befehl richteten sich jeweils an bestimmte Empfänger aus der territorialen Administration und waren auf eine Anfrage hin, also häufig auf einen Einzelfall bezogen, verfasst worden, während ein Mandat oder eine Generalverordnung eine breitere Anlage hatte und an die gesamten Untertanen Kursachsens gerichtet war. 222 So werden auch Mandate von Amtsvorgängern in die Eingangsformulierungen der neuen Gesetzestexte einbezogen: Am 17. Februar 1736 oder am 14. Dezember 1753 wird noch jeweils als erstes vorangegangenes Mandat das vom 27. Februar 1706 genannt. Dadurch werden eine generationenübergreifende Konstanz in der Herrschaftsausübung erzeugt und zusätzlich Redundanzen vermieden. 223 Vgl. dazu auch H ÄRTER , Policey, S. 236-245. 224 Siehe zum Thema Normdurchsetzung L ANDWEHR , Normdurchsetzung. Vgl. auch H ÄRTER , Intentionen; D INGES , Normsetzung. <?page no="58"?> 59 den frühneuzeitlichen Staat selbst, wo das Räuberbandenproblem neu konturiert wurde und gleichzeitig die Möglichkeit eröffnete, die landesherrlichen Machtmittel in ihrer Strenge und Durchschlagkraft zu beweisen? Nach dem Mandat vom Februar 1706 ging dasjenige vom 16. September 1710 225 sehr viel ausführlicher und detailreicher auf das Vorgehen gegen Banden ein und kann dahingehend als eine der zentralen Verordnungen des 18. Jahrhunderts eingeordnet werden. 226 Die wichtigste Position unter den sächsischen Gesetzestexten des beginnenden 18. Jahrhunderts nahm aber das „Mandat Wegen Geschwinder Exequirung derer Räuber und Diebe“ 227 vom 27. Juli 1719 ein, dessen Bedeutung unter anderem daran abzulesen ist, dass eigens zu diesem Räubermandat an der Juristenfakultät Wittenberg eine Dissertation angefertigt wurde. 228 Dass eine einzelne landesherrliche Regelung zum Räuberunwesen auf diese Weise hervorgehoben und wissenschaftlich diskutiert wurde, ist im Untersuchungszeitraum einmalig. Dieser Umstand belegt bereits, dass die Gesetze Friedrich Augusts I. gegen Räuberbanden - allen voran das von 1719 - von Experten beachtet und geschätzt wurden. Der Jurist Johann Gottfried Kraus (1680-1739) geht in seiner über 50-seitigen Schrift zunächst ausführlich die Regelungen gegen Diebe und Räuber von der Antike an nacheinander durch und gibt dabei die Zusammenhänge rechtsdogmatischer Diskussionen wieder, die sich über Einzelaspekte - wie über die Strafabstufung, die unterschiedlichen Tatanteile oder die Milderungsgründe - ergeben hatten. Während er inhaltliche Punkte aus dem neuen Mandat bespricht, die in Bezug auf frühere Bestimmungen Fragen aufwerfen könnten, richtet er den Blick zudem auf einen Beispielfall aus der Rechtspraxis. Seine Darstellung geht außerdem über 1719 hinaus und stellt schließlich die Entscheidungen des Kurfürsten, die dieser sowohl mit seinem Reskript vom 26. August 1720 als auch dem vom 18. Januar 1721 zum Ausdruck gebracht habe, 229 als weise und klärend für alle Zweifel dar. Da der Schwerpunkt der Verordnungen in der Mitte der 1730er Jahre vor allem dem Wandel der innenpolitischen Rahmenbedingungen geschuldet war, insbesondere wegen der Machtübernahme durch Friedrich August II., 230 beinhalteten diese meist keine grundlegenden Veränderungen, sondern ermahnten 225 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1767-1774. 226 Dieses Mandat verwendet erstmals den Begriff „Bande“. Im Vergleich der unterschiedlichen normativen Texte scheint der Terminus „Rotte“ dennoch der häufiger gebrauchte zu sein. 227 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1897-1900. 228 K RAUS / F RIDERICI , De poenam furti. Kraus selbst schreibt darüber, dass unter den ergangenen Mandaten gegen Räuber das vom 27. Juli 1719 besonders herausragt: „Eminet autem inter ea inprimis illud“, ebd., S. 21. Diese Schrift erschien 1735 sogar in einer zweiten Auflage. Außerdem verweist ein zeitgenössisches Lehrbuch zum kursächsischen Recht von 1778 bezüglich der Behandlung von Dieben und Räubern vorwiegend auf dieses Mandat von 1719, vgl. S CHMIEDER , Auszug Mandaten. 229 Vgl. dazu L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1929-1930 und Teil 1, Sp. 1937-1938. 230 An anderer Stelle werden explizit die Kriegshandlungen Frankreichs gegen das Heilige Römische Reich als veränderte Rahmenbedingung genannt, ebd., 1. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 617. <?page no="59"?> 60 die Untertanen häufig zu fleißiger Befolgung des bisher Angeordneten. Mehrere Befehle und Reskripte, die in der Regel an einen bestimmten Empfänger adressiert waren, befassten sich aber in den Dreißiger und Vierziger Jahren mit Teilaspekten wie der Anwendung der Defension, der Belohnung für eine Denunziation und den Richtlinien zur Erteilung von Begnadigungen. 231 Geht man also von der quantitativen Verteilung im Codex Augusteus aus, zeichnet sich eine rege Normproduktion in den ersten zehn Regierungsjahren Friedrich Augusts II. ab. Mit Bezug auf die 1740er Jahre sprechen Indizien aus den Quellen allerdings für ein geringes Durchsetzungsvermögen des Kurfürsten gegenüber der Landesregierung in strafrechtlichen Fragen. In zwei unterschiedlichen Vorgängen aus der Regierungsüberlieferung zwischen 1741 und 1748 strebt der Landesherr nach Aktualisierung der normativen Basis hinsichtlich des Verfahrens mit kriminellen Banden bzw. mit Kirchendieben. 232 Obwohl er in seinen Schreiben jeweils explizit den Willen nach Änderung der bisherigen Verfahrensweise äußert und die Regierung dahingehend anweist, die von ihm angesprochenen neuen Aspekte in Mandatsentwürfe einzubringen, kommt diese seinem Ansinnen nicht in der gewünschten Weise nach. Es wird lediglich erläutert, warum an dem Bewährten festgehalten werden solle, und dadurch bewirkt, dass keine neuen Vorschriften in die vom Kurfürsten angestrebten Richtungen ergehen. Trotz dieser Unstimmigkeiten ist festzuhalten, dass das einzige Räubermandat in der zweiten Jahrhunderthälfte ebenfalls noch unter Friedrich August II. am 14. Dezember 1753 entstand. 233 Seine Bedeutung wird etwa deutlich, wenn es fünfzig Jahre später im Gnadenverfahren der Komplizen um den Räuber Johann Karraseck als maßgebliche Beurteilungsreferenz herangezogen wird. 234 Nach diesem erfolgte kein ausschließlich auf Räuberbanden und ihre Behandlung zielendes Gesetz mehr. In der Generalverordnung von 1770, die mehrere gewichtige allgemeine und spezielle Änderungen am Untersuchungsverfahren vornahm, stand der Diebstahl lediglich als ein Tatbestand neben anderen. Manche der hier vollzogenen Reformen betrafen dennoch die Bandenprozesse: Das Geständnis als Hauptbeweis wurde in seiner zentralen Stellung herabgestuft und 231 Reskript 14. Dezember 1730, Verordnung 11. April 1739, Reskript 29. Oktober 1739, Befehl 20. Juli 1743, Erläuterung 29. Juni 1746. Alle zu finden ebd., 1. Fortsetzung. 232 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 107r-111r; 127r-147v. Mit einem ‚Project’ zu einem Mandat und einem Anschreiben dazu vom August 1748 wird auf diese Anfrage des Kurfürsten von Seiten der Landesregierung reagiert. Diese Verzögerung von sieben Jahren deutet ebenfalls darauf hin, dass der Kurfürst seine Autorität nur schwach geltend machte oder dass gegenüber den Kirchendiebstählen anderen Problemlagen in den Regierungsgeschäften der Vorzug gegeben wurde. Die nächste Verordnung zum Kirchenraub wird erst im Jahre 1768 unter der Administration Xavers publiziert, der die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Kurfürsten Friedrich August III. führte, vgl. L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 327-328. 233 L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 797-804. Auch abgedruckt in W EISKE , Handbuch, S. 90-96. 234 Vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 524, fol. 506r. <?page no="60"?> 61 implizit die Folter im Kurfürstentum abgeschafft, indem zum einen diese in keinem der vierzehn Artikel mehr Erwähnung fand, zum anderen eine folgende Instruktion die Dicasterien auch explizit diesbezüglich anwies. Außerdem löste die Inhaftierung im Zuchthaus den Landesverweis als Strafform ab. 235 3.1.3 Konstanten und Verschiebungen in der Strafzumessung Wie entwickelten sich nun die Normen inhaltlich in Bezug auf ihre Zielgruppen, die Definition von Räuberbanden und die Verfolgung und Bestrafung dieser im Einzelnen? Während das erste Mandat, das später noch oft als Referenz fungieren sollte, zunächst in seinen Formulierungen vor allem an die Zielgruppe der verschiedenen Gerichtsherren des kursächsischen Herrschaftsraumes gerichtet war, wurde spätestens ab 1710 der Kreis der ‚Rezipienten’ ausgeweitet. Alle Untertanen waren nun unter Strafandrohung dazu verpflichtet, verdächtige Personen bei der Obrigkeit zu melden. Um dies zu betonen wurde in den Präambeln der schädigende Einfluss der Kriminalität auf die Ökonomie des Landes erwähnt, da sie jeden einzelnen Einwohner ständig mit dem äußersten Ruin bedrohe. 236 Die Ausschreibung von bis zu zehn Talern Kopfgeld sollte einen zusätzlichen Anreiz zur freiwilligen Mitwirkung an der Kriminalitätsprävention bieten. 1738 hob man diese Belohnungssumme auf 50 Reichstaler an, sofern die Anzeige hilfreich gewesen war. 237 Allen voran sollten aber die Amtmänner und Gerichtsherren für die allgemeine Ordnung und Sicherheit in den ihnen anvertrauten Gebieten verantwortlich sein: Die Mandate befahlen ihnen, die Mittäter von ‚Rotten’ in ihren Zuständigkeitsbereichen zu ermitteln und in Haft zu bringen, je nach Gerichtsbarkeit an das nächste Amt zu überweisen und in jedem Fall darüber an die Landesregierung Bericht zu erstatten. Außerdem sollten regelmäßige Visitationen - von Magistraten in den Vorstädten, auf dem Land vor allem in Gaststätten und Herbergen - initiiert und durchgeführt werden, um Verdächtige aufzugreifen und Müßiggänger auszuweisen. Nachlässigkeit in der Befolgung konnte für einen Gerichtsherren den Amtsverlust bedeuten, mindestens aber eine Geldstrafe, deren Betrag bereits am 235 Die Generalverordnungen von 1770 und 1783 werden in der Forschung als Strafrechtsreform angesehen, auf die Karl Ferdinand Hommel einen großen Einfluss hatte, K ERN , Juristenfakultät, S. 112. 236 Exemplarisch das Mandat von 1710: „und endlich niemand bey dem Seinigen/ zumahl uffm Lande/ und in denen Dörffern/ ferner sichersondern wegen seines Vermögens/ auch Leibes und Lebens/ in steter Gefahr seyn würde“, HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 1, fol. 78v. 237 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 650. Die Belohnung sollte sich außerdem nach der Strafe desjenigen, dessen man durch die Denunziation habhaft geworden war, richten. So hatte das Mandat vom 21. Dezember 1711 beispielsweise bestimmt, dass der Denunziant eines nachlässigen Gerichtsherren als Entlohnung für seine Anzeige die Hälfte der dafür angesetzten Strafe erhalten sollte, vgl. ebd., Teil 1, Sp. 1782. <?page no="61"?> 62 21. Dezember 1711 von 100 Taler auf bis zu 400 Taler hochgesetzt wurde. 238 Allen Verfolgern von Räubern auf der Flucht war unmissverständlich gestattet worden, bei erkennbarer Gegenwehr auf die Verdächtigen zu schießen, mit der Legitimierung aller möglichen Konsequenzen und der Garantie von Straffreiheit, selbst wenn es dadurch zum Tod des Flüchtigen kam. Bis zum Mandat von 1753 blieb diese Erlaubnis erhalten, dort allerdings mit der Einschränkung, dass dabei keine Exzesse auftreten dürften. Um die Verfolgung von Verdächtigen zudem besser zu koordinieren und die Ergebnisse von ‚Denunziationen’ nutzbar zu machen, fanden in dieser späten Verordnung modernere policeyliche Mittel wie Personenbeschreibungen und der Versand von Steckbriefen mehrmals ausdrücklich Erwähnung. Eine detaillierte Begriffsdefinition und Beschreibung der Tatbestände Diebstahl und Raub wird in den Verordnungen nicht gegeben. Größtenteils richteten sich die Bestimmungen auf die Verfolgung der Täter im Fall eines unmittelbar begangenen Diebstahls sowie auf die Prävention von Straftaten, indem sie mit Policey-Maßnahmen die Sicherung von Grenzen, die Kontrolle von Gaststätten, Herbergen und Wirtshäusern sowie die Überprüfung von umherziehenden und fremden Personen anordneten und regelten. Mehrere Befehle beschäftigten sich eigens mit der Aufstellung von Wachleuten im Lande und enthielten präzisierende Anweisungen zur Durchführung von Visitationen, zur gegenseitigen Nachbarschaftshilfe und zum Passwesen. Besonders zu Bettlern und Nichtsesshaften, die als deviant eingestuft wurden, nahmen die Räubermandate Stellung. So wurden die Ausweisung in die Heimatorte oder über die Landesgrenzen sowie die Inhaftierung von bewaffneten Vaganten als kriminalpräventive Maßnahmen dargestellt. 239 Deutlich wird daher, dass die Zusammensetzung und der Inhalt sowohl der Normen als auch des erläuternden Schriftverkehrs zwischen den beteiligten Ebenen widerpiegeln, wie ein enger Zusammenhang zwischen Armen und Bettlern und der Kriminalität von Räuberbanden konstruiert wurde. Einbruch, Diebstahl und Raub, die in einer Bande begangen worden waren, wurden als Kapitalverbrechen bewertet. Zur Vergeltung der Tat, aber auch zu generalpräventiven Strafzwecken wie der Abschreckung und Warnung vor jedweder Kooperation mit Delinquenten waren seit 1710 alle Personen, die ‚auf frischer Tat’ zusammen mit einer Gruppe ertappt wurden, unabhängig von ihrem eigentlichen Anteil mit dem Tod zu bestrafen. Eine verschärfende Klausel konstatierte, dass zur Verurteilung kein Geständnis benötigt würde, sondern 238 Ebd., Teil 1, Sp. 1782. 239 So etwa in einem Abschnitt des Räubermandats von 1710: „Ferner soll das, in großer Anzahl, aus anderen, in Unsere Lande sich hereingezogene, und fast durchgehends sich befindende Bettel-Volk und Vaganten, durch iedes Orts Gerichts-Hülffe auseinander getrieben, [...] die frembden und müßigen Bettlere aber, auff ietzt erwehnte Maaße, von einem Orthe zum andern, unter ernster Bedrohung, daferne sie in hiesigen Landen beym Betteln wieder betreten würden [...] über die Gräntze und wieder außm Lande geschaffet [werden]“, HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 1, fol. 81v-82r. <?page no="62"?> 63 allein die Situation des Aufgriffs ausreichend sein konnte. 240 Damit wurde einerseits impliziert, dass Personen innerhalb einer kriminellen Gruppe unterschiedliche Stellungen und Funktionen einnehmen konnten, auch wenn andererseits dieser Umstand im Strafmaß keinen Niederschlag finden sollte. Die Regelung zielte vor allem auf die Beschleunigung der Strafverfolgung und Bestrafung. Langwierige Verfahren mit gegenseitigen Schuldzuweisungen unter Komplizen und exakter Verifikation der einzelnen Tatumstände und Tatbeiträge sollten vermieden werden. Da das Mandat von 1719 erstmalig die Bestrafung der gefassten Diebe detailliert ausführte und die einzelnen Strafarten nannte, steht zu vermuten, dass die Abstufungen im Strafmaß sich zuvor vor allem an den Konstitutionen als dem gültigen Territorialrecht orientiert hatten. Zwar wurden diese insofern bestätigt, als der große, der gemeinschaftliche und der gefährliche Diebstahl mit dem Tod geahndet werden sollten, doch im 18. Jahrhundert kam die Räderung neben dem Strang als eine potenzielle Strafform für Bandenmitglieder hinzu. Dass die Radstrafe, die den höchsten Grad der Entehrung für den Hingerichteten mit sich brachte, 241 über Räuberbanden verhängt und an ihnen auch vollzogen wurde, bezog seine Legitimation allenfalls aus dem Sachsenspiegel. Im dreizehnten Artikel des zweiten Buchs wurde die Radbrechung für besonders schwerwiegende Formen des Raubs wie für Kirchendiebstahl, Raubmord und den Raub von Pflügen oder in Mühlen als Sanktion bestimmt, der Normalfall des Raubes sollte mit der Enthauptung und der Diebstahl mit Erhängen geahndet werden. 242 Die Mandate des 18. Jahrhunderts fügten aber von 1710 an auch für den Bandendiebstahl und -raub dem ebenfalls entehrenden Strang die Option der Todesstrafe durch das Rad hinzu. 243 Dass es sich dabei um eine normative Erhöhung der Strafe handelte, die noch im 17. Jahrhundert nicht üblich gewesen war, geht zum einen aus dem erwähnten Project von 1677 hervor, in dem das Radbrechen für den Bandenräuber 240 „Worbey es denn auff ihr eigen Bekäntniß/ und daß solches praecise extorquiret werden müsse/ eben nicht ankommen/ sondern es gnug seyn soll/ daß sie bey dergleichen Gelegenheit ertappet werden“, ebd., fol. 81v. 241 Vgl. M ARTSCHUKAT , Töten, S. 25. Martschukat findet die Räderung in Hamburg fast ausschließlich für Mörder in Gebrauch. Ähnlich bei E VANS , Rituale, S. 61. Widersprüchlich äußert sich van Dülmen zu einer Abnahme und dennoch einer Beibehaltung der Strafart im 18. Jahrhundert, vgl. van D ÜLMEN , Theater, S. 111-118. Vgl. außerdem V IEHÖFER , Kapitel. 242 Sachsenspiegel, Landrecht Buch 2, Artikel 66 bestimmte die Pflüge und Mühlen neben den Kirchen und Kirchhöfen als befriedete Orte, was die höhere Bestrafung des Raubes an ebendiesen Orten rechtfertigte. 243 Als frühes Beispiel vgl. das Räubermandat von 1710, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1767- 1774. Auch Zedler beschreibt das Rädern als ordentliche Strafe für Straßenräuber und Kirchenräuber, wobei auf die römischen und griechischen Wurzeln dieser Sanktionsart rekurriert wird, Art. Rad, Rota, Rout. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 30, Sp. 503-507. Die Einführung der Radbrechung als Strafform in Kursachsen wird bisher in der Forschung nicht thematisiert. <?page no="63"?> 64 nicht thematisiert wurde. 244 Zum anderen legten die Ausführungen Benedict Carpzovs dar, dass zu seiner Zeit zwischen den Latrones (Raubmördern) und der Gruppe der Robbatores, Raptores oder Grassatores unterschieden und letztere eindeutig ‚nur’ mit der Enthauptung samt anschließender ‚Flechtung’ des Körpers auf ein aufgestelltes Rad belegt werden sollten. Die von ihm erläuterte Begründung aus der Strafrechtsdogmatik, den Bestimmungen der Carolina, dem sächsischen Landrecht, den Konstitutionen und älteren Entscheidungen der Spruchgremien lassen keinen Zweifel daran, dass für Räuber ausschließlich die Schwertstrafe in Betracht zu ziehen sei. Bei Bandendelinquenten könne zwar verschärfend der Strang erwogen werden, aber die Radbrechung sei nach sächsischem Recht und darüber hinaus lediglich an Raubmördern zu verhängen. 245 Die Einführung der Hinrichtung durch das Rad auch für Bandenmitglieder, die kein Tötungsdelikt begangen hatten, stellte demnach eine Neuheit, eine Strafverschärfung dar. Dadurch bestätigt sich, dass die Obrigkeiten die Problematik der Räuberbanden im 18. Jahrhundert anders gewichteten. Ohne dass die Abweichung von der Jahrhunderte gültigen Regel explizit zum Ausdruck gebracht worden wäre, erklärte der Kurfürst in seinem Mandat von 1719 die schärfere Sanktionierung damit, dass die Banden gewaltsame Überfälle begingen, bei denen die Opfer mit dem Tod bedroht würden und deren möglicher Tod somit von den Tätern ‚billigend in Kauf’ genommen würde. 246 Auch wenn der kursächsische Gesetzgeber die Formulierung noch nicht ausdrücklich dahingehend wählte, so wird doch deutlich, dass er hier den ‚dolus eventualis’ als Begründung für die Straferhöhung nennt und dadurch eine Analogie zwischen den beiden Tatbeständen Raubmord und Bandenraub herstellt. In einem Befehl an die Dicasterien vom 27. April 1762 findet sich knapp 50 Jahre später nochmals die Anweisung zur Räderung von Bandenräubern und damit einhergehend die konkrete Abstufung der Strafen: Das Rad sei angemessen für einen gewaltsamen Raub mit einer Bande, der Strang für einen Raub mit einer Bande, bei dem keine „sonderliche“ Gewalt gegen Menschen gebraucht 244 Obwohl das Mandatsproject die unterschiedlichen Abstufungen der Bestrafung ausführt und sich dabei auf die Konstitutionen bezieht, wird die Räderung oder die Radflechtung nicht genannt, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30397. 245 C ARPZOV , Practicae Novae, Bd. 2, Quaestio 90, No. 1-6, 10-13, 33-41. So bestätigt auch Evans, dass das Rädern nach frühneuzeitlicher Auffassung den “besonders schweren Kapitalverbrechern vorbehalten“ sein sollte, E VANS , Rituale, S. 164. 246 Dieses Mandat auch in HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 1, fol. 73v: „[...] die Erfahrung zugleich bezeuget, welchergestalt unterschiedene, so dieses Unglück betroffen, sowohl ihres Vermögens beraubet, als auch, umb selbiges anzugeben, und kein Geschrey zu machen, biß auf den Tod gepeiniget, geschlagen und verwundet worden, Solchemnach aber, was maßen dieses böse zusammen rottirte Volck darbey zugleich animum occidendi habe, offenbahr, daß sodann diejenige, welche bey dergleichen That und Rotte angetroffen [...] an dem Leben, nach Beschaffenheit der vorfallenden Umbstände, durch den Strang oder Rad gestraffet“. <?page no="64"?> 65 worden war, und die Enthauptung mit dem Schwert samt anschließender Radflechtung für einen Raub ohne eine Bande. 247 Diesem Befehl von Friedrich August II. ging eine zwei Jahre zuvor begonnene, ausführliche Korrespondenz mit der kursächsischen Landesregierung voraus. 248 Am kurfürstlichen Hof war bekannt geworden, dass sich die Spruchpraxis der beiden sächsischen Juristenfakultäten bei Räuberbanden voneinander unterschied: Die Wittenberger bestraften in ihren Urteilen den gemeinschaftlichen und gefährlichen Raub mit der Radbrechung, während die gleichen Delikte von der Juristenfakultät in Leipzig mit der milderen und ehrenhafteren Todesstrafe des Schwerts und der anschließenden Radflechtung geahndet wurden. Zwei aktuelle Beispielfälle, die im Vorfeld verschieden beurteilt worden waren, wurden als Nachweise angeführt. 249 Ein daraufhin von der Landesregierung angefordertes Gutachten vom 28. Januar 1760 gab die Begründungen der zu ihrer abweichenden Urteilspraxis befragten Spruchgremien detailliert wieder. Der Leipziger Schöffenstuhl aber wurde nicht eigens konsultiert, da dessen Urteile, die den größten Anteil der Strafverfahren ausmachten, denen der Wittenberger Juristenfakultät angeblich ähnelten. Deren Argumente beriefen sich auf die kursächsische Gesetzgebung, besonders auf das Mandat von 1719, und erschienen darin zielstrebig und schlüssig. Die Begründung der Leipziger Juristenfakultät wirkte demgegenüber weniger überzeugend und stringent angelegt, 250 was damit erklärt werden kann, dass die Institution nicht das maßgebliche und erfahrene Spruchgremium in Strafsachen war, sondern eher für eingereichte Gnadenbitten, also Revisionen, sowie für Urteile auswärtiger Gerichte zum Einsatz kam. 251 Auch angesichts dieser unbeholfenen und wenig überzeugenden Erklärungsversuche verwundert es nicht, dass die Landesregierung ihrerseits klar der härteren Linie der Wittenberger Juristen folgte und in ihrem Gutachten die Argumente der Leipziger nacheinander eingehend entkräftete, um letztlich zu dem vereinheitlichenden Project zu kommen, in dem die Räderung als ordentli- 247 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 403-404. 248 Siehe dazu HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 187r-201v. 249 So war der Fall des Räubers Matthes Rapping von der Juristenfakultät Wittenberg und der Raub durch den Bandendelinquenten Gottfried Killig im Jahr 1754 von der Juristenfakultät Leipzig unterschiedlich beurteilt worden, vgl. ebd., fol. 187r. Vgl. dazu auch die Prozessvorgänge in HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1. 250 Die Juristen führten erstens an, dass die von ihnen oft verhängte Schwertstrafe mit anschließender Radflechtung als Sanktion für Raub nicht ausdrücklich aufgehoben worden und daher anwendbar wäre, zweitens dass Strang und Rad in den Mandaten nach ihrer Auffassung eher als Beispiele für verschiedene mögliche Strafarten zu verstehen seien und dass drittens nicht eindeutig definiert worden wäre, ob Radstrafe die Radbrechung oder die nach einer Tötung erfolgende Radlegung meine, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 188v-189v. 251 Die Juristenfakultäten konnten nur für die Urteile in kursächsischen Strafsachen verantwortlich sein, wenn gegen einen vorherigen Urteilsspruch des Schöffenstuhls Leipzig eine Defension eingereicht worden war. <?page no="65"?> 66 che Strafe für den gewaltsamen Bandendiebstahl empfohlen wurde. 252 Der Kurfürst schloss sich letztlich durch seinen Befehl, der zwei Jahre später erging, lediglich den Vorgaben der Landesregierung an und sorgte damit über 50 Jahre nach der Strafverschärfung im Territorium für eine Beibehaltung der Räderung. 253 Als üblicher Modus für die Durchführung der Hinrichtung wurde dabei ausdrücklich das Zerstoßen der Glieder des Delinquenten mit einem Rad „von oben herunter“ 254 angegeben. Die Begründungen, die sowohl 1719 als auch in den Quellen von 1760 für das Rädern herangezogen wurden, stellten mit der Qual der Opfer die Vergeltung als Strafzweck deutlicher in den Mittelpunkt als die möglichen generalpräventiven Absichten. Den Abschreckungseffekt erfüllte dagegen die Legung oder ‚Flechtung’ des toten Körpers auf das an öffentlich sichtbarer Stelle aufgestellte Rad nach vollstreckter Strafe, welche aber sowohl bei der Enthauptung als auch bei der Radbrechung als zusätzlich verschärfende Praxis im Kurfürstentum zur Anwendung kommen konnte. 255 Zumindest von der Landesregierung wurden auch spezialpräventive Ziele zur Sprache gebracht, wenn damit argumentiert wurde, dass die Bestrafung den Räubern endgültig Einhalt gebieten würde und dabei die Verhältnismäßigkeit zwischen gemeinem Dieb und gewaltsamem Räuber gewahrt werden müsse. 256 Die nach heutigem Rechtsverständnis archaisch anmutende Todesstrafe durch das Rad blieb im 18. Jahrhundert außerdem für den Kirchendiebstahl als besonders verwerflich angesehenes Delikt, das im angeblichen Tatenspektrum von Banden häufig anzutreffen war, relevant. Allerdings konnten jene Diebe, die ausschließlich profane Dinge ohne eine Funktion im Gottesdienst gestohlen hatten und dafür nicht eigens in das Gotteshaus eingebrochen waren, mit der Landesverweisung in Kombination mit Staupenschlag milder bestraft werden. 252 Als Begründung wird auf die oben bereits erwähnte Begründung aus dem Mandat von 1719 hingewiesen, dass die Bandenmitglieder als Raubmörder zu bestrafen seien, HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 189v. 253 Noch 1771 wird Johann Peter Sturm als Bandenanführer zur Todesstrafe mit dem Rad verurteilt, wobei noch eigens darüber nachgedacht wird, ihn als Strafverschärfung von unten nach oben strafen zu lassen, vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II. Vgl. zu Straferweiterungen bei der Räderung M ARTSCHUKAT , Töten, S. 25-26; van D ÜLMEN , Theater, S. 131-132. 254 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 193v. 255 Carpzov sieht die Radlegung unter anderem im Sächsischen Recht aus dem traditionellen Herkommen begründet, vgl. C ARPZOV , Practicae Novae, Bd. 2, Quaestio 90, No. 12. 256 Dort heißt es mit Bezug auf die Schwertstrafe: „Ja, in der That würde ein gewaltsamer Räuber noch gelinder, als ein gemeiner Dieb gestrafet werden, weil, wer einen Zuschauer bey Executionen abgegeben, die Strafe des Stranges nicht vor gleich, sondern vor härter, als die Strafe des Schwerdts cum impositione rotae achten wird, indem, obwohl derer Criminalisten Meynung nach, diese, nehmlich die Impositio rotae durch den damit verbundenen Anblick u. Schande die Gleichheit verursachen soll, doch der Delinquent so wenig nach seinem Tode davon empfindet, als der Anblick eines an dem Galgen bis zum Abfall hängen bleibenden Cörpers eben so abscheulich, wo nicht noch abscheulicher ist, als des auf ein Rad geflochtenen Cörpers.“ HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 195r. <?page no="66"?> 67 Obwohl der Kurfürst 1741 in einer schriftlichen Anfrage danach strebte, die Sanktionierung auch der geringfügigen Kirchendiebstähle mit der Mindeststrafe der Enthauptung und anschließender Radlegung zu vereinheitlichen, lehnte die Landesregierung dies ab und plädierte dafür, nicht von der gewohnten Praxis abzuweichen. 257 Die bei der Landesregierung dazu entstandenen Schreiben, die in Entwurf und Reinschrift vorliegen, lassen deutlich erkennen, dass neben der Mindeststrafe auch darüber diskutiert worden war, die zum Tod verurteilten Täter zusätzlich zur Richtstätte schleifen und mit glühenden Zangen „zwicken“ zu lassen. Von der Ergänzung um diese ältere Strafvariante wurde in der endgültigen Fassung 1748 jedoch abgesehen. Die Landesregierung zielte somit, wie an dieser Diskussion erkennbar ist, auf eine mildere Behandlung der Straftäter ab als vom Kurfürsten beabsichtigt. Eine weitere Änderung im Vergleich zu älteren Bestimmungen beinhaltete das Gesetz von 1719, indem die Grenze zwischen geringem und großem Diebstahl auf zwölf Taler und zwölf Groschen festgelegt wurde. 258 Bis 1783 entschied über Leben oder Tod, ob eine Bande oder ein Einzeltäter bei einer oder mehreren Taten eine Beute im Wert von mindestens 12,5 Talern gestohlen hatten. Erst ein Reskript vom 27. Mai 1783, das auf die Interpretation der vorangegangenen Generalverordnung Bezug nahm, hatte für die Diebstahlsfälle den weitreichenden Effekt, dass nicht mehr der reine Betrag, sondern das „Ansehen solcher Verbrechen“ maßgeblich für die Anwendung der Todesstrafe wurde. 259 Diese sollte somit ausschließlich bei einem qualifizierten, also gefährlichen oder gemeinschaftlichen Diebstahl, Störung der öffentlichen Sicherheit, Raub und Kirchendiebstahl zum Einsatz kommen. Wurden unabhängig von einer Tat Diebesinstrumente oder geraubte Gegenstände bei jemandem gefunden oder er von glaubwürdigen Zeugen durch eine Aussage belastet, war er der Teilnahme an einer Räuberbande stark verdächtig, was seit 1710 für eine Einweisung in den Festungsbau zusammen mit einer Leibesstrafe in Form von Staupenschlag ausreichte. An dieser Internierung als Verdachtsstrafe wurde durchweg festgehalten, jedoch entfiel die Kombination mit einer Körperstrafe ab 1719. 260 257 Vgl. im Folgenden ebd., fol. 127r-147v. 258 „Wir wollen auch nicht weniger die gemeinen und Hauß-Diebe, wenn sie so viel, als das in Unserer 32. Constitution Parte IV. gesetzte Quantum beträget, welches Wir hiermit, umb gleichfalls allen Scrupel mit Ausrechnung des Werthes derer besten Ungarischen Gülden zu vermeiden, auf Zwölff Thlr. 12. gl. courr. determiniret...“, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1897. Der Reichstaler war durch die im Münzvertrag 1667 vollzogene Reform in Kursachsen zum territorialen Rechnungs- und Zahlungsmittel geworden. Es ist davon auszugehen, dass der Ungarische Gulden von höherem Wert war als der Reichsgulden oder rheinische Gulden, und daher hier die Festlegung eines ‚Wechselkurs’ von Ungarischen Gulden in Reichstaler stattfindet, nicht aber eine Erhöhung der Grenze zu erkennen ist. Vgl. zur Entwicklung des Münzwesens in Kursachsen T RAPP , Handbuch, S. 87-90. 259 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 463-464. 260 Die Staupenschlagstrafe als solche wurde durch ein Reskript vom 5. Januar 1774 endgültig abgeschafft. Ebd., Teil 1, Sp. 337-338. <?page no="67"?> 68 Neben den Strafabstufungen enthielten die Mandate zahlreiche Passagen zur Kontrollpflicht in Schenken und Herbergen, denn in der Beherbergung Fremder sah man eine der größten Gefahren für Ruhe und Sicherheit im Territorium. Daher wurde die Mitverantwortung der ansässigen Gastwirte und der für ihre Aufsicht zuständigen Obrigkeiten besonders betont. Die Wirtsleute erfuhren in den Klauseln von 1710 eine größere Aufmerksamkeit als zuvor, indem bestimmt wurde, dass die Beherbergung von Dieben genauso bestraft werden sollte wie der Raub selbst. Diese strenge Sanktion wurde jedoch in der Praxis vermutlich nicht oft ausgeführt, da man schon ein Jahr später, am 21. Dezember 1711, die Strafe für eben dieses Vergehen auf eine Geldstrafe von immerhin 20 Talern in Kombination mit drei Jahren auf dem Festungsbau reduzierte. 261 Das Wissen um seine Gäste und deren Herkunft wurde in der Differenzierung immer mehr zum entscheidenden Faktor: Hatte ein Gastwirt Diebe bewusst bei sich untergebracht oder gar unterstützt, indem er ihnen Waren abgekauft oder Ratschläge erteilt hatte, so galt er als ‚Diebswirt’ und war wie ein Hehler und andere Komplizen so streng zu bestrafen wie die eigentlichen Diebe, was im äußersten Fall die Todesstrafe bedeuten konnte. Wirtsleute wurden zunehmend und ab 1753 sogar durch Eidleistung zur Kontrolle ihrer Gäste verpflichtet, sodass Unwissenheit als Verteidigungsargument kaum noch anwendbar war. Die Unterlassung der Kontrollpflicht ahndete man mit zehn Talern Geldstrafe oder vier Wochen Gefängnis. Die unbewusste Unterbringung von nicht oder falsch ausgewiesenen, straffällig gewordenen Personen zog noch härtere Strafen nach sich. Sächsische Einwohner, die nicht professionell als Gastwirte tätig waren, hatten dafür 20 Taler zu zahlen oder für acht Wochen ins Gefängnis zu gehen, während Wirtsleute mit Verlust ihrer Schankerlaubnis und Festungsbaustrafe rechnen mussten. Immer wieder wurde in den Formulierungen der Normen außerdem die Notwendigkeit zur Beschleunigung der Prozesse zwecks Zeit- und Kostenersparnis hervorgehoben. Das Mandat von 1719 zielte in seinem Titel explizit auf eine Verkürzung des Prozesses sowie auf eine Verschärfung der geltenden Bestimmungen. An die Rechtskollegien ging daher der Appell, zur Verkürzung des Verfahrens das Urteil innerhalb von maximal 14 Tagen auszusprechen und das Strafmaß nicht eigenmächtig abzuwandeln, sondern sich genau an die Vorgaben der Konstitutionen zu halten. Eine weitere Zeitersparnis in den Prozessen sollte durch gemeinsame Verfahren und ‚Sammelurteile’ für Diebesbanden erreicht werden. Darauf, dass die kollektive Behandlung der Mitglieder einer Gruppierung möglichst zeit- und kostensparend sei, hob ein Schreiben der Landesregierung vom März 1743 ab, nachdem der Kurfürst angeregt hatte, für die verschie- 261 „All diejenigen aber / bey denen solcherley verdächtiges und liederliches Volck gefunden und betreten wird / sollen nicht nur mit Zwantzig Thalern Geld-Straffe / welche dem Denuncianten / im Fall es angegeben worden wäre / verbleiben / sondern auch mit 3.jähriger Vestungs-Bau-Arbeit noch über dieses beleget“, ebd., Teil 1, Sp. 1782 (21. Dezember 1711). <?page no="68"?> 69 denen Täter jeweils einzelne Akten und eigenständige Urteile zu verfertigen. 262 Sowohl die Landesregierung als auch das für peinliche Vergehen zuständige Spruchkollegium der Leipziger Schöffen argumentierten jedoch dagegen, sodass der Vorschlag des Landesherrn im Sande verlief und an der bewährten verkürzenden, aber unpersönlicheren Praxis festgehalten wurde. Anfang der 1740er Jahre hatte der Landesherr seinerseits auf eine anders geartete Beschleunigung des Verfahrens mit Räuberbanden abgezielt, als er die Landesregierung anfragte, ob im Falle von Verbrechern, die bei einem qualifizierten Diebstahl oder anderen ‚abscheulichen’ Taten ertappt worden waren, auf die Urteilseinholung bei den Spruchgremien nicht verzichtet werden könne. 263 Als Beweggründe wurden der generalpräventive Zweck abschreckender Strafen und die dadurch erzeugte nachhaltige Förderung der öffentlichen Sicherheit angegeben. Anlass war unter anderem die geplante Publikation einer neuen ‚Criminalordnung’. 264 Da die Gutachten der Juristenfakultäten und Schöffenstühle in Wittenberg und Leipzig inhaltlich mit einer weiteren Verfahrensfrage verknüpft waren und ihre Standpunkte nicht miteinander übereinstimmten, lieferte die Landesregierung als Antwortschreiben einen zusammenfassenden Bericht an den Kurfürsten, legte sich aber selbst nicht auf einen Verordnungsentwurf fest. Die Juristenfakultät und der Schöffenstuhl in Wittenberg pflichteten zwar der Meinung des Kurfürsten bei, dass durch eine umgehende und strenge Bestrafung dem gewaltsamen Raub nachhaltig entgegengewirkt werden solle und durch die Vermeidung von „Weitläufigkeiten“ dem Gemeinwesen unnötige Kosten erspart würden. Einen Verzicht auf die Aktenversendung und dadurch eine Hinwendung zur Beurteilung durch die Untergerichte hielten die Wittenbergischen Dicasterien jedoch für nicht ratsam. Aber sie sprachen sich deutlich für die Ausweitung der Anwendung der Radbrechung auch auf Einzeltäter des gewaltsamen Diebstahls sowie für die Ersetzung des Landesverweises durch Zwangsarbeit in Festungsbauhaft aus. 265 Die Juristenfakultät Leipzig stimmte in ihrem Schreiben mit den anderen Kollegien darin überein, dass sie die strafrechtliche Beurteilung durch Untergerichte ablehnte. Zur Verfahrensbeschleunigung schlug sie erstens vor, in eindeutigen Fällen bereits nach den ‚summarischen’ Verhören Urteile anzufordern und zweitens den Untertanen in einem neuen Mandat die Notwehrregelung und die dabei geltende Straffreiheit nochmals zu erläutern. 266 Die Leipziger Schöffen argumentierten eindringlich für die Beibehaltung der geltenden Regelung und lieferten dafür mehrere Argumente in 262 Die Begründung für den Vorschlag des Kurfürsten, ein Project und damit ein neues Gesetz anzustreben, zielt mehr auf die „Inconvenienzien“ ab, die seiner Ansicht nach in den miteinander verwobenen Einzelverfahren entstehen, als auf eine individuellere Behandlung des Einzelnen zu dessen Gunsten. Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 107r-111v. 263 Vgl. dazu im Folgenden ebd., fol. 45r-58Kv. 264 Diese Planungen wurden anscheinend im Untersuchungszeitraum nicht umgesetzt. 265 Ebd., fol. 58dv-58gv. 266 Ebd., fol. 58pv-58yv. <?page no="69"?> 70 breiter Ausführung. 267 Da ihnen die strafrechtliche Beurteilung im Normalfall oblag, hätte eine Verfahrensänderung dieses Ausmaßes gerade für sie eine deutliche Kompetenzbeschneidung bewirkt. In seinem Gutachten zog das Kollegium daher vorrangig seine Professionalität und die rechtspraktische Erfahrung heran, um zu belegen, dass schwer vergleichbare Kriminalfälle, für die 15 Beispiele aufgeführt wurden, ausschließlich mit juristischer Expertise beurteilt werden könnten, was bereits durch die Carolina entsprechend bestimmt worden sei. Dieser Argumentationsweise schloss sich die Einschätzung der Landesregierung im Wesentlichen an. Sie gab abschließend zu bedenken, dass man bei Änderung des ‚modus procedendi’ mit einer unangemessenen Bestrafung oder Korruption der Gerichte vor Ort durch die Inquisiten zu rechnen habe. 268 Auffällig an der Positionierung des Leipziger Schöffenstuhls ist neben dieser Begründung für das Festhalten am bewährten Verfahrensweg vor allem der ausführliche Exkurs über das Räuberunwesen an sich. Das Dicasterium, das naturgemäß den größten Anteil der Rechtssprüche über die betreffenden Personen zu fällen hatte, konstatierte, dass überhaupt keine aktuelle Veranlassung zu einer Neuregelung bestehe: „Es hätten nehmlich nach eigener Errinnerung derer ältesten unter ihnen, und nach Ausweisung derer bey dem Collegio verhandenen UrthelsBücher die Delicta atrocia in denen neuern Zeiten, gegen die vorhergehenden, mehr abals zugenommen, welches größtentheils denen [...] von Zeit zu Zeit promulgirten heilsamen Gesezen zuzuschreiben, auch hielten sie die darinne sowohl bey attentatis als consummatis delictis angedroheten Straffen vor adaequat und scharff genug und habe es, da alle Jahre zum öfftern auf solche Straffen erkandt, und solche an denen Delinquenten exequiret worden, an Beyspielen zur Warnung nicht gemangelt [...]“ 269 Die Schöffen gaben zu bedenken, dass durch eine schärfere und schnellere Bestrafung das Übel nicht vermieden würde, denn es „habe hauptsächlich von offtmahliger schlechter Aufferziehung, und daher rührender grober Unwißenheit in Christenthum, von bößen exemplis domesticis, von zeitiger Verführung durch böse gesellschafften, von der Liebe zum Müßiggang und einem stetigen unordentlichen Leben, somit der darauf erfolgenden Armuth, seinen Ursprung [...]“. Vermutlich fürchteten die Täter ein gerechtes, aber langwieriges Verfahren mehr als einen kurzen, grausamen Prozess, welcher zudem bei der Bevölkerung Mitleid für den Betroffenen und somit letztlich eine falsche Wirkung erzeugen könnte. Das Schreiben argumentiert somit nicht nur mit den spezial- und generalpräventiven Zwecken des gewohnten Verfahrensweges, sondern mahnt den 267 Ebd., fol. 58ir-58pv. 268 Ebd., fol. 58zr-58Iv. 269 Ebd., fol. 58ir. <?page no="70"?> 71 lokalen Behörden implizit eine gewissenhaftere Sorge und Kontrolle der Untertanen an. Dagegen spricht es ihnen die jurisdiktionellen Kompetenzen in den komplizierten Sachlagen, die eine ausführliche Abwägung der Rechtsgründe und der jeweiligen Umstände erforderten, mit Verweis auf die „Blutschulden“ bei zu harter Bestrafung, ab. Eine Erneuerung der normativen Bestimmungen in Form einer Kriminalordnung oder eines Mandats erging in Folge dieses Vorgangs nicht. Um die zeitliche Ausdehnung der Untersuchungen weiterhin zu vermeiden, sollte dem „eindeutig überführten“ Bandendieb weder durch Rückgabe der Beute, noch durch eine Defension eine Strafmilderung zuteil werden. Die Restitution des Gestohlenen oder die Remission durch den Geschädigten konnte nach dem Mandat von 1719 ausschließlich dem einfachen Hausdieb zur Gnade verhelfen und das auch nur dann, wenn sie frühzeitig geschehen war. 270 Die Abfassung einer Verteidigungsschrift wurde dem Kapitalverbrecher ohne Unterscheidung des Falles offiziell erst mit der Generalverordnung von 1770 eingeräumt. Nichtsdestotrotz wurde auch zuvor den wenigsten Inquisiten, auch wenn sie wegen eines peinlichen Vergehens vor Gericht standen, die Defensionsschrift durch einen Advocaten verwehrt. Im Jahr 1739 ergingen beispielsweise allein zwei Anordnungen, die die Beurteilung von ‚Kapitalfällen’ behandelten, aus denen eindeutig hervorgeht, dass die Gewährung einer Defension im kursächsischen Inquisitionsverfahren den üblichen Weg darstellte. 271 Die Möglichkeit zur Verteidigungsschrift und die damit verbundene Neubeurteilung durch ein weiteres Dicasterium bewirkte gleichwohl nicht immer eine Änderung der Strafe. Der effektivste aus den Normen resultierende Weg zur Strafmilderung für ein Bandenmitglied war das eigene Schuldeingeständnis und die ‚Denunziation’ anderer Diebe oder Straßenräuber. 272 Diese ‚Besagung’ war bereits im Artikel 31 der Carolina für gemeinschaftlich begangene Verbrechen aufgeführt und auch die rechtswissenschaftliche Literatur kannte die „nominatio socii“. 273 Carpzov geht im dritten Teil der Practica Nova auf die Benennung von Mittätern durch einen bereits überführten Täter ein. 274 Allerdings gibt es dort noch keine Angaben zu einer ähnlichen Pardonregel mit strafmildernder Wirkung - galt doch im Inquisitionsprozess das Geständnis des Verdächtigen als sicherer Schuldbeweis. Die 91. kursächsische ‚Decision’ von 1661 bestimmte, dass die Untersuchungs- 270 Über diese eingeräumte Möglichkeit zur Abwendung der Todesstrafe entwickelten sich längere Unstimmigkeiten in der Rechtsprechung, wie an den diesbezüglichen Befehlen an einzelne Dicasterien am 12. April 1720, am 26. August 1720, am 18. Januar 1721 und am 10. Dezember 1727 deutlich wird. 271 Ergangen am 11. April 1739 und am 29. Oktober 1739, L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 317-320. 272 Zur Denunziation vgl. allgemein K OCH , Denunciatio; H OHKAMP / U LBRICH , Staatsbürger und R OSS / L ANDWEHR , Denunziation. Zusammenfassend mit Blick auf die gute Policey vgl. L AND- WEHR , nachbar und W EBER , Anzeige. 273 Vgl. dazu K OCH , Denunciatio, S. 162-183. 274 C ARPZOV , Practicae Novae, Buch 3, Quaestio 121, No. 20-22. <?page no="71"?> 72 richter jene Delinquenten nicht mit dem Versprechen eines Straferlasses zu einem Geständnis verlocken sollten, die wegen eines peinlichen Delikts vor Gericht stünden, da dies als „Hinterlist“ einzustufen sei. 275 In dem so genannten ‚Bettlermandat’ vom 7. Dezember 1715 wird ausdrücklich auf Räuberbanden verwiesen, wenn die Anzeige eines anderen Diebes oder Straßenräubers durch einen Mitschuldigen als Voraussetzung für einen Straferlass festgelegt wird, „daß selbiger, wegen seiner Missethaten, wenn in denen göttlichen Gesetzen keine Todes-Straffe darauf geordnet ist, nicht allein völligen Pardon und Begnadigung, dafern er solche Verbrecher oder auch Complices angeben wird, erhalten; Sondern noch über diß, wenn er selbst mit unter die Diebs-Rotte gehöret, eine absonderliche Vergeltung, wenigstens Fünffzig Thaler, aus Unserer [...] Renth-Cammer bekommen [...] soll“. 276 Auch wenn diese Pardonregel mehrfach Gegenstand von Befehlen und Reskripten zum Beispiel in den Jahren 1717 und 1730 geworden war, blieb sie im 18. Jahrhundert weitgehend gleichlautend: Aus der Benennung eines Verbrechers konnte für denjenigen Mittäter, der selbst keines todesstrafenwürdigen Delikts verdächtig war, die Straffreiheit bis hin zur Duldung im Lande resultieren, soweit er sich noch nicht in Haft, also in der Spezialinquisition befand und sein zu diesem frühen Zeitpunkt abgelegtes Bekenntnis freiwillig getätigt hatte. Noch am 14. Juli 1738 war eigens ein kurfürstliches Mandat mit Bezug auf die Prämie und Begnadigung für „den Anzeiger eines berüchtigten Diebes oder Räubers“ 277 publiziert worden. In den nächsten Jahren wurde diese geltende Regelung in der Landesregierung zur Diskussion gestellt. Ausgelöst worden war dies durch den Fall des „Diebs-Jungen“ Samuel Kegel und die Frage, ob dieser durch seine Beteiligung an Raubmord und Kirchendiebstahl die Chance auf Strafmilderung verwirkt habe. Nachdem der Inquisit vom Schöffenstuhl Wittenberg die Begnadigung zu lebenslanger sicherer Verwahrung erhalten hatte, äußerte der Kurfürst sein Missfallen an der „zu weit“ gefassten Interpretation der Mandate von 1715 und 1717. 278 Mit der Modifizierung, dass Kegel zu brandmarken und in die erste Klasse des Festungsbaues zu lebenslanger Zwangsarbeit zu bringen sei, ging der Landesherr über das von dem Spruchgremium empfohlene Strafmaß hinaus. Zudem beauftragte er am 28. Oktober 1739 die Landesregierung mit einem weiteren Project zur Erläuterung der Pardonregel, wofür sie 275 Die Strafe des Landesverweises und des Gefängnisses konnte demnach durch ein freiwilliges und wiederholtes Geständnis gemildert werden. Unter anderem in W EISKE , Handbuch, S. 32. Auch im Untersuchungszeitraum wird ausdrücklich betont, dass das Versprechen eines vollständigen Erlasses der Todesstrafe durch den Richter bei Strafe untersagt sei, beispielsweise im auf die 91. Decision bezogenen Erklärungsbefehl vom 25. November 1717, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1877. 276 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1843-1854, hier: Sp. 1848. 277 Ebd., Teil 1, Sp. 650. 278 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 39r. Vgl. im Folgenden auch fol. 59r-60v in dieser Akte. <?page no="72"?> 73 juristische Gutachten bei den vier Dicasterien einholen sollte. Der angeforderte Entwurf wurde schließlich am 20. Dezember 1740 an den Kurfürsten übermittelt. 279 Darin fügte die Landesregierung der bisher bestehenden Regelung den Aspekt der Nützlichkeit bei, indem nur solche Angaben einer Begnadigung dienen sollten, die nicht schon zuvor von einem anderen Zeugen getätigt worden waren und die wirksam zur Ergreifung noch flüchtiger Verbrecher führten. Dagegen sollten falsche Aussagen zu vermeintlichen Mittätern mit Strafverschärfung geahndet werden, da sie dem Gemeinwesen zusätzliche Kosten verursachten. Aus diesem Vorgang ging trotz des hohen Verwaltungsaufwands nur ein knapp gehaltener Befehl am 20. Juli 1743 hervor: Die Vorschläge der Landesregierung wurden nicht aufgegriffen, sondern die sächsischen Spruchkollegien lediglich angemahnt, in der Beurteilung einer solchen freiwilligen Angabe keine „eigenmächtige Interpretation und Extension“ über die gegebenen Mandate und Generale hinaus walten zu lassen. 280 Auch für Hehler oder ‚Diebspartierer’ konnte das frühzeitige Geständnis eine Strafmilderung bewirken. Als bei der Landesregierung im Januar 1760 bekannt geworden war, dass der Schöffenstuhl Leipzig einem bestimmten Hehler keine Gnade beimaß, obwohl dieser zu einem frühen Zeitpunkt des Verfahrens gestanden hatte, unterrichtete sie den Kurfürsten über „diese Ungleichheit im Sprechen“ 281 . Dieser wies das Leipziger Dicasterium per Inserat am 27. April 1762 an, dass Diebe und Diebshehler nicht unterschiedlich zu behandeln wären und die Begnadigung in gleicher Weise auf beide anzuwenden sei. 282 Es wird deutlich, dass das Geständnis und die ‚Besagung’ weiterer Täter ein durch die Normen produzierter Handlungsspielraum für die Delinquenten im Strafprozess war. Diese Option erschien vielen Verdächtigen als am aussichtsreichsten, um sich von einer drohenden Strafe zu befreien, und war gleichzeitig ein in der juristischen Diskussion nicht unumstrittenes Verfahrensmittel, das mitunter ganze Listen hunderter vermeintlicher Übeltäter ‚erzeugte’. 3.1.4 Positionen der beteiligten Rechtsinstitutionen Kurzgefasst sind es vier zentrale Grundlinien, an denen sich die Entwicklung in den kursächsischen Räubermandaten im Verlauf des 18. Jahrhunderts aufzeigen 279 Es wird zwar darauf verwiesen, doch sind die Gutachten der Dicasterien dazu nicht erhalten. 280 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 335-336. 281 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 196r-196v. 282 Auch in L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 403-404. Wie schon bei dem Befehl zur einheitlichen Umsetzung der Todesstrafe ist auch bei diesem Vorgang wieder ein mehrjähriger Abstand zwischen Initiierung und kurfürstlicher Entscheidung zu bemerken. Dieses Indiz deutet darauf hin, dass in der Zeit zwischen 1760 und 1762 durch übergeordnete politische Problemstellungen wie dem Siebenjährigen Krieg und durch die damit verbundene Abwesenheit des Kurfürsten in den Regierungsangelegenheiten die innenpolitischen und strafrechtlichen Angelegenheiten zweitrangige Stellung einnahmen. <?page no="73"?> 74 lässt: Erstens wurde die Strafform der Räderung als klare Verschärfung eingeführt, obwohl sie zuvor nur für Kirchendiebe oder Raubmörder galt. Ab 1710 sollte die Radbrechung auch an Bandenräubern angewendet werden, wobei der tatsächliche Tatbeitrag unerheblich war, so lange der Täter bei dem Bandendelikt angetroffen worden war. Zusätzliche Vorschläge für strafverschärfende Elemente, wie die Schleifung zur Richtstätte, fanden keine Umsetzung. Den lokalen Gerichtsherren wurden zweitens bei Nachlässigkeiten in der Verfolgung und in der Kontrolle von Fremden in ihren Gerichtssprengeln ernste Strafen angedroht und zudem die Wirtsleute und Herbergsbetreiber für den Erfolg der angeordneten Maßnahmen besonders in Verantwortung genommen. Zum dritten befassten sich mehrere Debatten mit der Beschleunigung der Strafprozesse. Die davon ins Recht übertragenen Aspekte beschnitten zumeist die Rechte der Inquisiten, wie etwa im Bereich der Verteidigungsmöglichkeiten, und vergrößerten die Entscheidungskompetenzen der Untersuchungsbeamten. Gleichzeitig wurde die gewachsene, hierarchische Struktur der Zuständigkeiten beachtet, sodass die Spruchgremien, allen voran der Schöffenstuhl Leipzig jurisdiktionelle Vorrangstellungen wahren konnten. Viertens wurde wiederholt die Pardonregel für geständige und auskunftsfreudige Mittäter von den Behörden diskutiert, bildete aber schließlich geradezu eine Konstante in der territorialen Rechtsprechung gegenüber Räuberbanden. Im normativen Diskurs und damit in der Entwicklung des obrigkeitlichen Räuberbildes sind durchaus unterschiedliche Positionierungen erkennbar. Anhand der kurfürstlichen Mandate werden die Bestrebungen der Kurfürsten Friedrich August I. und Friedrich August II. deutlich, auf eine Beschleunigung der Verfahren und hohe Strafen für die Täter hinzuwirken. Die Einführung der Radbrechung für Bandenmitglieder und die Verweigerung der Defension bei eindeutig ertappten Delinquenten sind zwei Beispiele für ein strengeres normativ gesetztes Vorgehen gegen das Räuberunwesen. Ein weiterer Hinweis darauf, dass unter ihrer Regentschaft die Problematik auf drastischere Weise kommuniziert wurde, ist der stilistische Vergleich mit vorigen Verordnungen: Das Mandat von Johann Georg III. (1647-1691), dem Vater Augusts des Starken, aus dem Jahr 1684 widmete sich beispielsweise ausschließlich einem Einzelfall und die betreffenden angeblichen Bandenmitglieder wurden darin einzeln namentlich (mit Initialen) genannt. Der Gesetzestext ist allein der wirksamen Verfolgung dieser Bande gewidmet. Nach 1700 wurden die Formulierungen dagegen pauschaler, die Verordnungen umfangreicher und dadurch implizit wie explizit vermittelt, dass das Ausmaß der Bedrohung durch Banden zugenommen habe. Mit der regen Produktivität der Gesetzgeber, die unter anderem auch anhand der ‚Projecte’ im ‚Augusteischen Zeitalter’ festzustellen ist, wurde das Thema Bandenkriminalität in der Kommunikation zu den Untertanen wie auch im juristischen Diskurs lebendig gehalten. Ob dabei die maßgebliche Initiative vom Landesherrn, vom Geheimen Kabinett als oberster Landesbehörde oder vom leitenden Minister ausging, ist schwer auszumachen - allerdings spiegelt die <?page no="74"?> 75 Überlieferungssituation wider, dass die Vorschläge und Gutachten zur Normsetzung im Geheimen Kabinett zusammenliefen. 283 Von einer Einflussnahme seitens der leitenden Minister, zumindest durch mündliche Absprachen, ist also auszugehen. In der gesamten Regierungszeit Friedrich Augusts III. erging dagegen kein Mandat gegen Diebes- und Räuberbanden mehr. Daneben suggeriert das Fehlen von Regierungsquellen und Hinweisen auf eine weitere interne Diskussion der Problematik, dass unter seiner Regentschaft die Dringlichkeit des Themas anders bewertet wurde. Zwar wurde 1768 ein Reskript zur Beibehaltung der Radstrafe für Kirchendiebstahl erlassen, dieses hatte jedoch der kurfürstliche Administrator Franz Xaver zu verantworten, noch bevor der achtzehnjährige Kurfürst die Regierungsgeschäfte übernahm. 284 In den Zeitraum nach 1768 fielen dagegen diejenigen Normen, die das kursächsische Strafverfahren reformierten und damit auch den Umgang mit Räuberbanden veränderten, wie die Generalverordnung von 1770 oder das Reskript zur Abschaffung des Staupenschlages am 5. Januar 1774. 285 Die Landesregierung befand in Fragen der Normsetzung gelegentlich im Gegensatz zu den vom Kurfürsten vorgegebenen Zielen, wie die Korrespondenzen um die Projecte belegen. Formal kam sie zwar stets der Aufforderung nach, Gutachten bei den Dicasterien einzuholen. Sie setzte jedoch eigene Akzente, zum Beispiel, indem sie nur einen Standpunkt der vier Gremien in ihren Mandatsentwurf übernahm. Meist richtete sie sich dabei nach dem Leipziger Schöffenstuhl. Auffällig ist im Gesamtbild, dass die Landesregierung sich mehrfach gegen eine Strafverschärfung für Räuber sowie gegen die Erhöhung der Mindeststrafe für Kirchenraub aussprach. Zudem ließ sie bereits 1677 in ihre Argumentation einfließen, dass schlechte Erziehung und Müßiggang als Wurzeln des Problems mit der Hilfe von Zuchthäusern bekämpft werden müssten. Sie machte sogar initiativ auf Ungleichheiten in der Rechtsprechung aufmerksam - auch wenn sich dies gegen die Praxis der Leipziger Schöffen richtete - und trug so zur Vereinheitlichung des Strafrechts bei. Dies hatte allerdings 1760 für die Delinquenten den nachteiligen Effekt, dass der im Vergleich milder urteilenden Juristenfakultät Leipzig durch den Kurfürsten auferlegt wurde, öfter auf die Radbrechung zu entscheiden. Das Ungleichgewicht in der strafrechtlichen Urteilspraxis zugunsten des Schöffenstuhls Leipzig scheint sich auch in den Stellungnahmen der vier verschiedenen Spruchkollegien niederzuschlagen. Den Schreiben der Leipziger Schöffen ist in Inhalt und Form ein hoher Grad an Professionalität und Selbstsicherheit zu bescheinigen. Dies zeigt sich prägnant, wenn ein Gutachten die Abnahme der Bedrohung durch kriminelle Banden konstatiert, nachdem der Kurfürst eigentlich eine Strafverschärfung angeregt hat, oder an anderer Stelle 283 Vgl. dazu die Akten im HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 1 bis Loc. 1409/ 3. 284 L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 327-328. 285 Ebd., 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 337-338. <?page no="75"?> 76 eine Beibehaltung des etablierten Verfahrensgangs befürwortet, obwohl der Kurfürst auf eine Beschleunigung des Prozesses gepocht hat. Die Zielsetzung der Leipziger Gutachten sind offensichtlich vorwiegend pragmatischer Natur, doch neben Argumenten, die die Beschleunigung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung in den Vordergrund stellen, bleiben zudem auch die Betroffenen nicht außen vor. Es fließen durchaus Gedanken über die Ursachen des Diebstahls in die Gutachten ein sowie Überlegungen zu spezial- und vor allem generalpräventiven Strafzwecken. In dem zitierten Schreiben von 1740 sind dabei deutliche Gemeinsamkeiten zum Project der Landesregierung von 1677 zu erkennen, wenn der Erziehung ein kriminalitätspräventiver Effekt beigemessen wird. Um Zweifel der Schöffen, die sich in der Anwendung eines bestimmten Mandats ergeben hatten, und dadurch verursachte Ungleichheiten in der Urteilspraxis auszuräumen, nahm die oben beschriebene juristische Dissertation von 1724 eine Vermittlerstellung zwischen Kurfürst und Rechtspraxis ein: Der Rechtsgelehrte Kraus erläuterte die Rechtstraditionen sowie die aktuell strittigen Punkte im Umgang mit Dieben und Räubern, die vor allem in der befohlenen Beschleunigung der Prozesse und in der Bewertung von Restitution und Remission gesehen wurden. Als Lösungsweg bot der Jurist in seiner Abhandlung allerdings lediglich einen ausführlich zitierenden Verweis auf die neueren Reskripte des Kurfürsten von 1720 und 1721, womit er deutlich Stellung für die Gesetzesinitiativen des ‚juristischen Laien’ Friedrich August I. bezog. Vor allem Landesregierung und Schöffenstuhl Leipzig gaben zudem eine skeptische Grundhaltung gegenüber den Untergerichten zu erkennen, indem die Lokalbeamten als schwer kontrollierbar, juristisch unerfahren, korrumpierbar und daher für die Urteilsabfassung als inkompetent eingestuft wurden. Außerdem wurde in den vorliegenden Korrespondenzen genauso wie auch in den Mandaten eine größere Konsequenz in der Einhaltung und Umsetzung der geltenden Gesetze vor Ort angemahnt. Wie und in welchem Ausmaß die dargestellten normativen Vorgaben auf lokaler Ebene in die Praxis übertragen wurden, welche Konfliktlagen sich ergeben konnten und wie in diesem Zusammenhang die Kommunikation über die devianten oder delinquenten Personen stattfand, wird im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. 3.2 Herausforderungen bei der Umsetzung Die Verfolgung devianter Personen auf der lokalen Ebene oblag nach den obrigkeitlichen Maßgaben in erster Linie den Amtleuten. Diese gerieten in den Korrespondenzen wegen der Umsetzung normativer Bestimmungen in ihren Amtsbezirken mehrfach unter Beschuss durch die Regierungsbehörden. Bedenkt man die hohen Strafandrohungen für Nachlässigkeiten in der Befolgung, wird ihre Drucksituation deutlich. Die untergeordneten Autoritäten wiesen im Gegenzug in ihren Stellungnahmen den Vorwurf der unzureichenden Befolgung der Ge- <?page no="76"?> 77 setze von sich. Indem sie den Fokus unter anderem stärker auf die strukturellen Ursachen für Armut und Kriminalität lenkten oder auf die große finanzielle Belastung der Ämter durch die Verfahren, eröffneten diese Darlegungen eine von der normativen Seite abweichende Perspektive. Konflikte um Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, wie sie im Folgenden beschrieben werden, waren in der administrativen Struktur Sachsens begründet, die eine „selbst von den Zeitgenossen nicht durchschaubare Diversifizierung von obrigkeitlichen Kompetenzzuweisungen“ 286 aufwies. Ein Gutachten aus der Stadt Dresden von 1737 darüber, wie man dem Bettelwesen Abhilfe schaffen könne, stellt exemplarisch die Situation aus Sicht der lokalen Beamten dar. 287 Der Gouverneur der Residenzstadt Heinrich Friedrich Graf von Friesen reagierte mit seinem Schreiben auf eine mündliche Aussage des Kurfürsten in seiner Gegenwart, dass die Bettelei in Dresden wieder zugenommen hätte und man diesem Unwesen Einhalt gebieten müsste. Durch die Bemerkung des Landesherrn anscheinend alarmiert, erläuterte der Gouverneur diesbezügliche Vorschläge des Stadtrats, die dieser schon im Vormonat an Landesregierung und Geheimes Kabinett gesandt habe, eigens mit Blick auf den Beitrag der Garnison bei der Behebung des Problems. In seinen sechs Hauptargumenten führte er grundlegende, strukturelle Mängel in Dresden an, die er für den Anstieg des Bettels als maßgeblich darstellte und für deren Ausräumung er die Verantwortung den Landesbehörden zuwies. 288 Vielfach ergingen spezielle Anweisungen durch Kurfürst oder Landesregierung an einzelne lokale Obrigkeiten, die Zweifel daran durchscheinen ließen, dass in den betreffenden Landesteilen den „ausgelaßenen RäuberMandate[n] gemäß“ 289 operiert würde. So konfrontierte im Dezember 1711 ein Schreiben Friedrich Augusts I. den Amtmann in Wurzen mit diesem Vorwurf: Nach einem Bericht über Straßenräuber im Wurzener Zuständigkeitsbereich seien diese 286 K ÄSTNER , Geschichte(n), S. 229. Kästner analysiert die daraus wegen des Umgangs mit Selbsttötungen resultierenden Kompetenzstreitigkeiten, vgl. S. 225-278. 287 HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 2, fol. 21-31. In den mit „wieder die Diebs- und Räuber- Rotten [...] publicirte Mandate betr.“ überschriebenen Aktenbänden des Geheimen Kabinetts befinden sich unzählige Korrespondenzen, die die Behandlung von Vaganten und Fremden auf der exekutiven Ebene widerspiegeln, sowie Abhandlungen aus der Perspektive der lokalen Verwaltung, die sich mit den Ursachen für das Phänomen der Diebesbanden beschäftigen. 288 „Die Uhrsachen des so überhand nehmenden Bettelwesens rühren her 1. Von der unvermuthet entstandenen Theurung, welche nicht so groß seyn würde, wenn nicht a) ein jedweder den Preiß selbst erhöhete [...] d) Die Abgaben von Accisen allzuhoch wären 2. Viele Arme von anderen Orthen untern Vorwand hier habenden Rechtsangelegenheiten sich hier einschleichen, welche aber wenn die RathsVoigte fleißig visitirten gar bald abzuhelffen 3. fänden sich soviele Handwerkspursche und Dienstbothen hier ein, so sich aufs Betteln legen und andere verbothene Dinge treiben 4. Die Soldaten Weiber und Kinder [...] 5. und obwohl denen Invaliden, die ihre pensiones bey der General- [Kriegs]-Casse abhohlen zu betteln untersaget, so geschehe solches doch, [...] 6. Die [auffn Bau] gewesene Gefangene blieben gemeiniglich hier und exercirten ihr daselbst erlerntes Handwerck in der Boßheit“, ebd., fol. 23r-23v. 289 HStA Dresden, 10117 Stiftsregierung Wurzen Loc. 13240, fol. 2v. <?page no="77"?> 78 bis dato noch nicht dingfest gemacht worden. Der angesprochene Beamte rechtfertigte sich zwei Wochen später mit einer detailreichen Ausführung der von ihm rechtzeitig veranlassten Ermittlung, die ergeben hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Räuberangriff wohl lediglich um ein Missverständnis gehandelt habe. Die Untersuchungen seien daher eingestellt worden. 290 Am 4. März 1737 legte der Dresdener Amtsfron Johann Adam Feilhauer seine „Ohnvorgreifliche[n] Gedancken“ dar, wie Sachsen sich der Diebe und Räuber entledigen könne. 291 Dass er dem Leser in Titel und Fazit der etwa zwanzig Folioseiten mitteilt, jene „gänzlich auszurotten“ sei nicht realisierbar, gibt bereits Aufschluss über seine Perspektive auf dieses in normativen Texten häufig formulierte, aber praxisferne Ziel. In seinen durchnummerierten Vorschlägen zur Abhilfe bezieht er sich in erster Linie auf seine zentralen Kompetenzbereiche: Er hält zunächst eine Überführung der bösesten Übeltäter aus der ersten Klasse des Festungsbaus in den Galeerendienst nach Italien oder Ungarn für hilfreich, da sie andere Häftlinge dann nicht mehr zu kriminellen Handlungen verleiten könnten. Des Weiteren empfiehlt er eine strengere Aufsicht über die Kleiderordnung in den Milizen - auch während deren Beurlaubung - und ein absolutes Verbot des Glücksspiels. Die „Hauptpunkte“ seiner Abhandlung beschäftigen sich aber mit den Kostenfragen: Drittens sei nämlich die Belohnung für die Verhaftung eines Verdächtigen wegen Kommunikationsproblemen zwischen der Rentkammer und den Gerichtsherren wiederholt nicht ausgezahlt worden, was den Anreiz zur Mithilfe verringert habe. Ein vierter Grund für gewisse Nachlässigkeiten bei den lokalen Gerichten sei der Umstand, dass Gefangene, die ohnehin nicht in der Lage seien, für Gerichts- oder Haftkosten aufzukommen, nach ihrer Gefängnisstrafe letztlich freigesprochen würden, wodurch die Beamten auf den ihnen entstandenen Kosten sitzen blieben. Zentral sei aber fünftens die Kürzung der den Amtsfronen ursprünglich zugeteilten Gebühren, die dazu führe, dass für die Einsperrung eines Delinquenten nur noch 4 Groschen gezahlt würden, obwohl „von undencklichen Jahren her 21 g[roschen] in Criminal- Sachen vor eine Person zu arretiren gegeben worden“. Das Resultat seien in seinem Fall über 1.116 Taler an ausstehenden Geldern trotz einer seit 1724 geltenden Tax-Ordnung, an die sich aber das ‚Hochlöbliche Kammerkollegium’ nicht halte. Detailliert schildert der Amtsfron daher die bei der Untersuchung, den Transporten, den Botengängen und dem Arrest entstehenden Kosten für einen Inquisiten. Da diese in den seltensten Fällen eine Restitution oder ihre Prozesskosten selbst übernehmen könnten, müsse er solche aus seinen persönlichen Mitteln bezahlen. Die Finanzlast, die den lokalen Autoritäten angesichts des umfassenden Verfahrenswegs bei Untersuchungen gegen Räuberbanden zugemutet würde, sei unhaltbar. Deutlich kommt darin eine Beschwerde über die mangelnde Anerkennung seiner eigenen Leistungen und gegen die landes- 290 Ebd., fol. 4r-9r. 291 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 2, fol. 57r-75v. <?page no="78"?> 79 herrlichen Institutionen zum Ausdruck, denen er die Verantwortung dafür überträgt, dass die Unterdrückung des „böse[n] Volck[s]“ nicht hinreichend geleistet werden könne. Nahezu prototypisch äußern sich in diesem Beispieldokument tiefe Gräben zwischen koordinierender, normativ argumentierender Regierungs- und Justizebene einerseits und der administrativen, praxisnahen Umsetzung vor Ort andererseits als Herausforderungen einer effektiven ‚guten Policey’ im Kurfürstentum. Die erforderlichen Geldmittel für das jeweils vorgeschriebene Vorgehen konnten auch zum Stein des Anstoßes werden, wenn es um die Ausführung der Sanktionen ging: So leitete etwa das Bautzener Oberamt eine Anfrage nach Dresden weiter, ob drei in der Oberlausitz zu Staupenschlag und Landesverweis bzw. Strang verurteilte Räuber nicht lediglich mit der Festungsbauhaft belegt werden könnten. Unter anderem begründete der Oberamtmann seine Anfrage damit, dass der betreffenden Gemeinde See die hohen Kosten des Vollzugs erspart werden könnten. 292 Unstimmigkeiten in der Exekutive konnten den Betroffenen so mitunter zum Vorteil gereichen. Die Einrichtung von Kommissionen war eine Lösung, die die Landesbehörden für Konflikte um Kompetenzen sahen. Weil es im Kurfürstentum trotz der stark zentralisierten Verwaltungsstrukturen und Amtsbezirke weiterhin eine große Zahl unterschiedlich zugeschnittener Gerichtsbarkeiten zu koordinieren galt, wurde die Durchführung der policeylichen Maßnahmen auf eine neu eingezogene, mittlere Ebene verlegt. Als bekannte sächsische Kommission im Zusammenhang mit Kriminalitätsbekämpfung wurde das Gremium um den Hofrat Ritter, den Oberstleutnant Richter und Dresdens Amtmann Conradi einberufen, das für die Verfahren im Rahmen der Dresdener Ermittlungen zu Diebesbanden in den 1710er Jahren zuständig war. 293 Eine andere Kommission hatte 1740 den kurfürstlichen Auftrag, eine neue territoriale Kriminalordnung zu entwerfen. Es zeigt sich allerdings, dass dieses Vorhaben erfolglos blieb. 294 Weitere Beispiele für solche auf Meso-Ebene operierende Institutionen waren drei parallel bestehende Kommissionen, die der Kurfürst 1754 ins Leben gerufen hatte. 295 Obwohl sie in unterschiedlichen Städten wirkten, führte das Geheime Kabinett ihre Angelegenheiten in den Sammelakten der „zu Entdeckung verschiedener Diebs- und Räuber-Banden, zu Meißen, Senfftenberg und Leipzig angeordnete Untersuchung“ 296 zusammen. Von diesen Kriminalkommissionen 292 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 470, fol. 290r-293v. 293 Vgl. HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, Nr. 3944 und Nr. 3946; HStA Dresden, 10024, Loc. 11398/ 1 bis Loc. 11400/ 3. Danker umreißt die Arbeit dieser Kommission in seiner Dissertation, wobei er den „Obristleutenant“ August Richter fälschlicherweise ebenfalls unter dem Familiennamen „Ritter“ angibt, vgl. D ANKER , Räuberbanden, S. 34-38. 294 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 46r-46v. 295 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 5r. 296 Dazu zählen außerdem die Akten HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, Loc. 5634 und ähnliche. <?page no="79"?> 80 war die - zeitweise mit vier Beamten besetzte - Meißener am aktivsten. 297 Bedingt war dies unter anderem durch ihre zentrale Lage im Meißnischen Kreis und im Kurfürstentum, wogegen die Kommission in Senftenberg in territorialer Randlage, aber dafür in unmittelbarer Nähe zu den Lausitzen, situiert war. Daneben ergibt sich die große Produktivität der Meißener Kommission aus ihren Entstehungsbedingungen: Der beim dortigen Amt inhaftierte Nicolai Gottlob Lauermann hatte im Dezember 1753 zahlreiche Verdächtige angegeben, von denen im Rahmen der weiteren Untersuchung schon innerhalb eines Monats 31 Personen nach Meißen gebracht wurden. 298 Die ausführlichen Inquisitionsverfahren mit diesen Häftlingen, die so in den Ruf geraten waren, Diebe zu sein, hätten die örtlichen Gerichtsbeamten schon aufgrund ihrer schieren Menge überfordert. Der Meißener Kammerrat Georg Carl Weide, der sich in seinem Schreiben an den Kurfürsten selbst mit auf die Besetzungsliste gesetzt hatte, schlug daher vor, „daß darzu besondere Landes-Commissiones angeordnet und diese mit dergestaltigen instructionibus versehen werden, daß von ihnen mit Beyseitsetzung aller dem zeithero gewöhnlichen Inquisitions-Processe anhängenden, in der That aber zu großer protraction der Sachen und Behinderung des in Herstellung der allgemeinen Sicherheit gesuchten Endzwecks gereichenden proceduren verfahren werde“ 299 Der Supplik des Meißener Kammerrats entsprach von Brühl in seiner Funktion als Vorsitzender des Geheimen Kabinetts mit einer Anweisung an den Geheimen Rat am 17. Januar 1754 umgehend, aber mit abweichender Besetzung der Kommission. 300 Die Leitung des Gremiums übertrug er Weide selbst. Dieser sollte von Hof- und Justitienrat Johann Christian Schumann und dem Meißener Kreisamtmann Wolfgang Gottfried Ferber unterstützt werden, während der Appellationsrat Reinhard der Kommission lediglich temporär zugeordnet wurde. Der Premierminister unterstrich in seiner Anordnung die zentrale Bedeutung 297 Die Meißener Kommission bildeten Kreisamtmann Ferber, Hofrat Schumann, Kammerrat Weide und Appelationsrat Reinhardt; die Leipziger Kommission bestand aus Regierungsrat Neuber, Appellationsrat Born und Kreisamtsadjunktus Wagner; die Senftenberger aus Oberamtsrat Hartitzsch und Amtsverweser Zahn. Oberamtsrat Kuhn wird kurz nach seiner Berufung wieder entlassen. Vgl. HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 5; 15. 298 Die hier vorgestellten Einrichtungen lassen sich denen von Ludwig genannten vier unterschiedlichen Einsatzbereichen von Kommissionen in mehrerlei Hinsicht zuordnen: Einerseits ergaben sich die strafrechtlichen Verdachtsmomente durch Visitationen, andererseits liegt die unklare gerichtliche Zuständigkeit bei den Verbrechen von umherziehenden Banden nahe und darüber hinaus wird in der Korrespondenz angedeutet, dass mit unsachgemäßer Prozessführung durch die lokalen Gerichtsherren zu rechnen sei. Vgl. hierzu L UDWIG , Herz, S. 43. 299 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 2r. 300 Vgl. auch B LASCHKE , Behördenkunde, S. 385, der darauf hinweist, dass kursächsische Kommissionsgründungen zumeist von Suppliken initiiert, und daraufhin von den Landesbehörden vorgenommen wurden. <?page no="80"?> 81 des Mandats vom 14. Dezember 1753, zu dessen wirksamer Umsetzung die Kommission beitragen sollte. Es wurde als einzige der Normen, nach denen sich die Beamten im Prozess und die Dicasterien in ihren Entscheidungen zu richten hatten, angeführt. Von Brühl hob besonders den Aspekt der Verfahrensbeschleunigung hervor, wie er schon im Mandat des Vorjahres betont worden war. 301 Die Befugnisse der Kommission zur Durchführung der Untersuchungen sollten zudem Verzögerungen durch vermeidbare Formalitäten sowie Kompetenzgerangel zwischen den Untergerichten beseitigen. Die Kommissare erhielten außerdem die offizielle Erlaubnis, weitere Untergeordnete zu berufen und die für die Prozesse erforderlichen Geldmittel vom kurfürstlichen Kammerkollegium einzufordern. Die vorliegenden Quellen bestätigen den bereits an anderer Stelle formulierten Befund, dass die zu einer Kommission bestellten Beamten für diesen Dienst keine zusätzliche Entlohnung erhielten. 302 Nichts weist auf eine individuelle Saldierung hin. Die übrigen Amtmänner wurden schriftlich dazu angehalten, mit den ihnen übergeordneten Kommissaren zusammenzuarbeiten. Von Brühl äußerte unmissverständlich den auf die Untergerichtsbarkeiten zielenden Vorwurf, dass eine Kriminalkommission und die dadurch veränderte Verfahrensweise dem Missbrauch durch die örtlichen Richter, Advocaten und Inquisiten vorbeugen würden. 303 Damit taucht an dieser Stelle erneut der Vorwurf der Bestechlichkeit auf, der sich daneben auch in den Projecten findet. Zusätzliches Konfliktpotenzial entstand dadurch, dass in manchen Fällen ein benachbarter Amtmann mit einer kommissarischen Aufgabe betraut wurde, die sich implizit gegen einen Kollegen richtete, da sie dessen Zuständigkeitsbereich tangierte. Beamte, denen ein nachlässiges oder ordnungswidriges Verhalten unterstellt wurde oder die durch die Einrichtung von Kommissionen übergangen wurden, fügten sich oft nicht widerstandslos in die neuen Strukturen. Beispielsweise unterstellten sie den kommissarischen Amtleuten, ihrerseits Vorschriften zu missachten, wie eine 1720 geführte Auseinandersetzung zwischen zwei Amtmännern belegt. 304 Johann Erdmann Liebner, gegen den in Arnshaugk wegen falschen Foltereinsatzes ermittelt wurde, monierte in einem Schreiben, sein Amtskollege aus Weida würde in seiner Funktion als Kommissar den regulären Ablauf der ohnehin „befremdlichen“ Inquisition gegen ihn verschleppen. Indem Liebner den kommissarischen Beamten in zweifelhaftem Licht darstellte, wollte er seine eigene Rehabilitation bewirken. Die konkreten Maßnahmen, die die Kommissionen neben den Inquisitionsprozessen zur Verfolgung Verdächtiger koordinierten und die in den Ämtern anweisungsgemäß durchgeführt werden sollten, waren schon in den meisten Räubermandaten beschrieben: An den gefährdeten Rittersitzen, Dörfern und Höfen sollten seit 1710 Wachleute postiert werden, die vorwiegend nachts in 301 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 7v. 302 B LASCHKE , Behördenkunde, S. 385. 303 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 6v. 304 HStA Dresden, 10024, Loc. 10119/ 7, fol. 18r-25r. <?page no="81"?> 82 den Straßen und an Toren und Türen patrouillieren und für die Sicherheit von Ortschaften einstehen sollten. Da die Bewohner selbst diesen Wachdienst übernehmen mussten, kam es zu Beschwerden der Untertanen, die sich durch diese Aufgabe zu sehr von ihrem eigentlichen Broterwerb abgehalten sahen. 305 Dennoch hielt der Kurfürst an der Vorschrift fest. Mehrere Ermittlungsakten belegen, dass die Nachtwächter erfolgreich waren und Kriminelle tatsächlich bei ihren Vorhaben störten oder anschließend verfolgten. Daneben wurden berittene Wachen, so genannte ‚Straßenbereuter’, eingesetzt, um in ‚Streifen’ Grenzen, Straßen und Wege zu kontrollieren. Diese sollten dafür sorgen, dass Reisende sich mit Pässen auswiesen und fremde Bettler und Vaganten in den kursächsischen Landen nicht geduldet, sondern verwiesen wurden. Neben dem geregelten Sold erhielt ein Reiter für jeden abgelieferten Bettler zwölf Groschen und für jeden eingefangenen Delinquenten einen Reichstaler. 306 Ein am 12. September 1713 erlassenes Mandat ordnete diese Straßenbereuter wie schon 1684 erneut an, räumte aber gleichzeitig ein, dass es Vorfälle gegeben habe, in denen die Reiter lieber in Wirtshäusern und Schenken saßen als ihren Aufgaben nachzukommen. 307 Daher wurde den Untertanen einerseits die Unterstützung dieser Reiter und andererseits eine sorgfältige Aufsicht über deren Verhalten auferlegt. Neben den Streifen und der spontanen Kontrolle von Reisenden bestand die wesentliche Policey-Maßnahme in der Visitation, also der mehr oder weniger zielgerichteten Durchsuchung. So wurde beispielsweise am 27. und 28. Juni 1738 eine Generalvisitation im Umkreis von zwei Meilen um Dresden unter Beteiligung der Miliz durchgeführt. 308 Eine eigens angefertigte, detaillierte Karte vom Amt Dresden und eine Einteilung des Personals in 24 ‚Detachements’ im Amtsbezirk sollten die Organisation der Visitation erleichtern. 309 97 Vaganten, die sich nicht ausweisen konnten, wurden festgenommen. 310 Dass die Gesuchten aber den Vorgang und Ablauf von Visitationen kannten und sich diesem gezielt entzogen, dazu sagte beispielsweise ‚Mühlbergs Fritz’ im Verhör aus, „daß sie es allemahl, wenn eine Visitation gehalten werden sollen, vorhero gewußt und sich wenn sie nicht weiter kommen können, in den Wäldern auf die Bäume retiriret, da sie denn die ausgeschickten Mannschaften unter sich weggehen gesehen“ 311 . Besonders Wirtshäuser und Schenken standen bei den Generalvisitationen, die im Gegensatz zu den Spezialvisitationen nicht auf einen bestimmten Ort abzielten, im Mittelpunkt des Interesses. Die Berichte über die Ausführung und die jeweiligen Ergebnisse der Visitationen liefen bei den Kommissionen zusammen. 305 HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 1, fol. 69r-70v. 306 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1843-1854. 307 Ebd., Teil 1, Sp. 1821. 308 Am 28. Dezember 1752 wurde eine weite Gebiete des Territoriums umfassende Generalvisitation durchgeführt, vgl. u.a. HStA Dresden, 10079, Loc. 30392 I, fol. 252r-252v. 309 HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 2, fol. 159r-161v. 310 Ebd., fol. 201r-211v. 311 HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 67v. <?page no="82"?> 83 Für die Verfolgung Verdächtiger wurde zu verschiedenen Gelegenheiten die Kooperation mit benachbarten Territorien koordiniert. Dies betraf beispielsweise die sichere Überführung von Inquisiten zu einem Prozessort, wie im Fall von Nickel List und seinen Komplizen, die in das Herzogtum Braunschweig- Lüneburg gebracht werden sollten und dazu mit Plauen und Neustadt an der Orla sowie den Orten Weida, Zeitz und Pegau mehrere Amtsbezirke durchqueren mussten. 312 Daneben wurde dem Ermittlungsbeamten Jost Herman Schonheim aus der Schönburgischen Herrschaft Hartenstein 1698 ermöglicht, den Inquisiten List in seiner Haft in Celle zu besuchen und zur Klärung eines Mordes in seinem Zuständigkeitsbereich zu verhören. 313 Mit dem in der Zwischenzeit mit Großbritannien in Personalunion verbundenen Kurfürstentum fand noch mehrmals Informationsaustauch statt, beispielsweise noch 1801 über den in Hannover inhaftierten Bandenräuber Johann Christian Brade. 314 Die Kooperation mit Preußen hielt sich dagegen - zumal in Zeiten des Siebenjährigen Krieges - in Grenzen. Unter anderem, weil die Grenzregionen von Überfällen und Einbrüchen besonders bedroht erschienen, wurde die Verfolgung von Banden ebenfalls mit den Administrationen von Böhmen, den ernestinischen Landen und Hessen gemeinsam koordiniert. 315 Dazu tauschten Nachbarterritorien Steckbriefe und Gaunerlisten untereinander aus: So zeugte die kursächsische Untersuchung gegen die Kuntze-Bande von der aktiven Verwendung einer durch den Kasseler Rat Johann Jacob Bierbrauer herausgegebenen ‚Diebsliste’, in der unter anderem der in Leipzig inhaftierte Johann Hermann Hahn beschrieben worden war. 316 Die Fränkische Kreispoenalordnung mit einer in Würzburg erstellten, angehängten Auflistung flüchtiger Delinquenten wurde 1770 an die kursächsische Landesregierung übersandt, weil vermutet wurde, dass zahlreiche von diesen aus Böhmen und Sachsen stammten. 317 Im Gegensatz zum Fränkischen war der Obersächsische Reichskreis, der „wohl als eine lockere Organisation, nicht aber als eine Institution bezeichnet werden kann“, 318 offensichtlich im 18. Jahrhundert nicht mehr wirksam und erlebte auch im Zusammenhang mit der Bedrohung durch grenzüberschreitende kriminelle Banden keine Reaktivierung. Doch obwohl der Reichskreis für die Politik des Kurfürstentums keine Rolle mehr spielte und der Landesherr seine Funktion als kreisausschreibender Fürst nicht mehr wahrnahm, stimmten die Behörden ihr Vorgehen gegen Räuberbanden 312 HStA Dresden, 10024, Loc. 8915/ 12. 313 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1707. 314 HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 1r-64r. 315 Vgl. die Akte HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, die den Titelvermerk „Verfolgung der Räuber in das Böhm[ische] et vice versa“ trägt, und auch Briefwechsel mit Altenburg, Weimar, Gotha und anderen Herrschaften enthält. 316 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII, fol. 115r-125r. Vgl. dazu auch B IERBRAUER , Accurate Beschreibung. 317 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 181r-184v. 318 B LASCHKE , Reichskreis, S. 131. <?page no="83"?> 84 mit benachbarten Territorien ab. Diese territorial übergreifende Zusammenarbeit besaß zwar keine Kontinuität, verlief aber ohne erkennbare Kontroversen und lieferte zusätzliche Erkenntnisse für manche Untersuchungen. 3.3 Gaunerlisten als Fahndungsinstrument Aus den Verfahren gegen die aufgegriffenen Verdächtigen gingen auch im Kurfürstentum Sachsen so genannte Diebs- und Gaunerlisten hervor, die aus der oben erläuterten ‚nominatio socii’ entstanden und zur Verfolgung weiterer sozial Devianter beitragen sollten. Inhaftierte gaben in einem Verhör umfassende Beschreibungen von Personen preis, die ihnen vom Leben ‚auf der Straße’ bekannt waren und die dadurch in den Verdacht gerieten, kriminell zu sein. Wichtig ist dabei, dass die Personen auf diesen Listen nicht identisch mit bandenähnlichen oder sogar abgeschlossenen Gruppen sind, wie sie später vor Gericht standen, sondern dass die Listen oft so lang waren, dass eine Gruppenstruktur unter allen Genannten so gut wie ausgeschlossen ist. Vielmehr handelte es sich um die Zusammenstellung von Informationen über die verschiedensten Personen aus der Erinnerung eines oder manchmal auch zweier Verhörter. Diese hatten als hervorstechende Gemeinsamkeit - und das wird die Auswertung im Folgenden zeigen - eine von der Norm abweichende Lebensweise insofern, als sie entweder keinen festen Wohnsitz besaßen, berufsbedingt einen Großteil des Jahres umherreisten oder lediglich Kontakte zu dem unterwegs und in Wirtshäusern anzutreffenden vagierenden, aber sozial durchaus heterogenen Milieu unterhielten. 3.3.1 Entstehungskontext Der allgemeine Trend zu dieser Gattung der Fahndungsmedien zeigt sich im ausgehenden 17. Jahrhundert in vielen Teilen des Heiligen Römischen Reiches. 319 In der Vergangenheit wurde verschiedentlich gezeigt, dass sich diese Quellen für quantitative historisch-demographische Annäherungen eignen. 320 Gerade aufgrund ihrer Verbreitung erscheint eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen auch hinsichtlich der Entwicklung des Kriminalitätsdiskurses aufschlussreich. Zentral ist hier die Frage, auf welche Weise in und mit kursächsischen Gaunerlisten über die vermeintlichen Bandenmitglieder kommuniziert wurde. Die Auswahl der Informationen über die Gesuchten und die Verwendung bestimmter Termini erlauben Rückschlüsse darauf, wie der Generalver- 319 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 38-41; F RITZ , Rotte, S. 60-61; S CHEFF - KNECHT , Armut, S. 219. 320 F RITZ , Rotte, S. 222-275. <?page no="84"?> 85 dacht gegenüber den nichtsesshaften Individuen eines Territoriums erzeugt und geformt wurde. Wie muss man sich nun die Gaunerliste in Kursachsen vorstellen? Mögliche regionale Spezifika innerhalb dieser für die ‚gute Policey’ des 18. Jahrhunderts typischen Textgattung wurden bisher noch nicht systematisch erforscht, was sich auch daraus erklärt, dass ihre Anzahl regional sehr stark abweicht. In den Verwaltungsquellen des relativ großen Kurfürstentums Sachsen finden sich für den Untersuchungszeitraum 30 Personen-Auflistungen unterschiedlichen Charakters. Unter diesen sind nur zehn als Gaunerlisten im engeren Sinne anzusehen, von welchen wiederum lediglich zwei in den Druck gelangten. 321 Die Tendenz, dass in flächigeren Herrschaftsräumen weniger dieser Auflistungen hervorgebracht wurden, während der wesentliche Anteil der Gaunerlisten in Klein- und Kleinstterritorien entstand, wurde durch die Existenz von insgesamt 122 gedruckten Listen aus dem südwestdeutschen Raum (1692 bis 1812) bestätigt. 322 In Form und Funktion entsprechen diese Medien jenen ‚Steckbriefsammlungen’ 323 , die in erster Linie zur Identifizierung noch nicht dingfest gemachter Personen dienten sowie als Handreichung für die Vernehmung von Verdächtigen. Die zuständigen Amtmänner sollten dadurch über deren bereits zuvor verübte Verbrechen und Vorstrafen informiert sein. 324 Die vereinfachende Bezeichnung als Steckbriefliste wird zwar häufig herangezogen, ist aber insofern nicht zutreffend, als sich die Gauner- und Diebslisten von Steckbriefen in Entstehungskontext und Verwendungszweck klar unterschieden. 325 Während ein Steckbrief nach einer begangenen Tat zur direkten Verfolgung eines Verbrechers verfasst wurde, basierte die Gaunerliste nicht auf einer konkreten zurückliegenden Untat, sondern auf der gerichtlichen Verhörsituation mit einer arretierten Person. Für die direkte Nachverfolgung erscheinen diese Listen in der Regel zu umfassend, so enthielt etwa die längste kursächsische ‚Specificatio’ 241 Frauen und Männer. 326 Sie waren vielmehr zur Erfassung der nur schwer greifbaren vaganten Population und für den Austausch unter den obrigkeitlichen Behörden über diese, und nicht für die breite Bevölkerung bestimmt, was auch durch 321 Specificatio 1687; Specificatio Dornin [1767]. Es ist zudem davon auszugehen, dass im Kurfürstentum auch gedruckte Gaunerlisten aus benachbarten Territorien kursierten, wie die Sachsen- Hildburghausener von 1753 und 1754 oder die Listen aus Hessen, beispielsweise die von Bierbrauer zusammengestellte. Diese sollen hier zusätzlich als Vergleichsmaterialien herangezogen werden. 322 Für die Markgrafschaft Baden sprechen sie etwa von nur vier Gaunerlisten im betreffenden Zeitraum, vgl. W IEBEL / B LAUERT , Gauner- und Diebslisten, S. 95; B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 40. 323 Gerhard Ammerer schlägt besonders wegen der Mehrdeutigkeit des Gaunerbegriffs vor, die Quellen nach ihrer Entstehung eher als „Untersuchungs-“ oder „Identifizierungslisten“ zu bezeichnen, A MMERER , Heimat, S. 199. 324 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 54. 325 Vgl. zur Entwicklung und Einordnung des Steckbriefs als Fahndungsquelle G ROEBNER , Schein, V ALENTINITSCH , Strafvollzugsakten, S. 74-75 und N ICKLIS , Rechtsgeschichte. 326 Stadtarchiv Chemnitz, V Policeysachen XIXa 16, fol. 2r-42r. <?page no="85"?> 86 ihren Überlieferungszusammenhang deutlich wird. 327 Es ergibt sich aus den kursächsischen Quellen kein Hinweis darauf, dass Gaunerlisten verkauft worden wären. Stattdessen sind aber mehrere Anweisungen an Amtleute erhalten, Personenbeschreibungen zu reproduzieren und an die unterstellten Beamten weiterzuleiten. 328 Die Entstehung der Gaunerlisten stand im unmittelbaren Kontext des kursächsischen Pardonversprechens an einen geständigen Inquisiten im Gegenzug für eine Angabe gesuchter oder flüchtiger Mittäter. Dieses durch Hexereiprozesse schon zu unrühmlicher Bedeutung gelangte Hilfsmittel der Besagung oder ‚nominatio socii’ ist als spezielle Erscheinungsform der Denunziation zu beurteilen. 329 Es hat dazu beigetragen, dass Verhörte in einem Akt der Verzweiflung angesichts der drohenden Strafen die vermeintlichen Komplizen in größerer Zahl und Brisanz nannten als dies ohne die Zwangssituation der Fall gewesen wäre. Im Unterschied zu der von Zagolla gegebenen Definition der Besagung in Hexenprozessen entstanden die vorliegenden Gaunerlisten nicht unter Folter. 330 Durch die Angaben wollten die Behörden möglichst viele Mittäter erfassen, um sie ausfindig und dingfest zu machen. Aus Sicht der Verhörten waren die Denunziationen vor allem auf den Zweck ausgerichtet, Strafmilderung zu erreichen. Indem andere Personen bewusst in den Fokus gestellt wurden, wollte der Aussagende selbst als ‚kleines Licht’ und Helfer der Gerichtsbehörden erscheinen. Es ist festzustellen, dass die Betroffenen über die Auswirkungen des Geständnisses hinsichtlich ihrer Beurteilung informiert waren, sei es aus Erfahrungswerten heraus oder zusätzlich angeregt durch das eifrige Engagement der verhörenden Beamten. Zudem kann in Defensionsschreiben beobachtet werden, dass auch von den Advocaten zugunsten eines Inquisiten angeführt wurde, er habe dienliche Hinweise zu weiteren Untersuchungen gegeben und daher eine geringere Strafe verdient. Auch wenn angesichts dieser Entstehungsbedingungen vermutet werden kann, dass bestimmte Fakten von den Verhörten verändert oder verfälscht wurden, so wäre es doch verfehlt davon auszugehen, dass die gegebenen Informationen allzu fiktiv ausgeschmückt worden seien. 331 Zum einen hatten die Angaben in das zeitgenössische Bild von der nichtsesshaften 327 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 53. 328 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 1r; HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 1r-4r. 329 Vgl. W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 304-310; Z AGOLLA , Folter, S. 250-277. Die Besagung der vermeintlichen Komplizen spielte hier deswegen eine große Rolle, weil man davon ausging, dass Hexen in einem sektenähnlichen Zusammenhang miteinander verbunden wären. Aus der ‚Komplizenbenennung’ entstanden auch in diesen Prozessen mitunter umfangreiche Listen, vgl. R UMMEL / V OLTMER , Hexen, S. 45-46 und S. 50-51. 330 Vgl. Z AGOLLA , Folter, S. 257. 331 So geht Schwerhoff hingegen davon aus, dass es sich „im Extremfall um pure Phantasiegebilde von Inquisiten handeln“ kann, S CHWERHOFF , Einführung, S. 64. Um die Informationen über die „Welt der fahrenden Leute“ quellenkritisch einzuordnen, hebt daher Scheffknecht die Notwendigkeit des Vergleichs mit anderen Quellen besonders hervor, S CHEFFKNECHT , Armut, S. 227. <?page no="86"?> 87 Gesellschaft zu passen, um sich für die Behörden als brauchbar zu erweisen, 332 zum anderen konnten weitere Inhaftierte als Zeugen zur Verifikation der getätigten Aussagen herangezogen werden. Des Weiteren waren die Inhalte dieser ‚Spezifikationen’ so beschaffen, dass sie auf ausführliche Erläuterungen oder phantasievolle Exkurse verzichteten, um ihrem Verwendungszweck zu entsprechen. Vor allem wegen dieser Reduktion auf das Beobachtbare eröffnen Gaunerlisten dem Historiker „grundlegende Einblicke in die Lebenswelt und in die Überlebensstrategien im Milieu“ 333 . Meistens betrug der Umfang der kursächsischen Listen weit weniger als 100 Personen. 334 Die drei umfangreichsten Aufzählungen, die diese Grenze jeweils überschreiten, stammen aus Untersuchungen von 1685, 1687 und 1767. 335 Ihre Entstehungsbedingungen sollen hier kurz umrissen werden: Im Jahr 1687 befanden sich Andreas Hempel und Augustin Nolle in gerichtlicher Untersuchung beim kursächsischen Amt Leisnig. 336 Hempel machte dabei umfassende Angaben zu 165 im vaganten Milieu verorteten Personen, welche von den Behörden in eine Gaunerliste aufgenommen wurden. 337 Die Landesregierung sandte diese an die weiteren Beamten und Schriftsassen des Kurfürstentums zur Nachverfolgung der genannten Personen sowie an die Juristenfakultäten und Schöffenstühle der Städte Leipzig und Wittenberg. 338 Neben der Liste und einigen Verhörprotokollen entstand in Abgleich mit den Aussagen Augustin Nolles ein Verzeichnis verdächtiger Orte vorwiegend aus dem Leipziger Kreis sowie eine Sammlung von Wörtern aus der Spitzbubensprache und geheimer Redewendungen. 339 In derselben Akte ist eine zweite, ebenfalls in Leisnig handschriftlich erstellte Gaunerliste abgeheftet, die aus den Angaben der zwischen Oktober 1684 und März 1685 inhaftierten Hans Melchior Stier, Hans Michael Neumann, Gottfried Huhn, Daniel Gärtner sowie des vermeintlichen „Diebsgenerals“ Heinrich Vogt und seiner Lebensgefährtin entstanden war. 340 Insgesamt 126 Personen wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Obwohl sich Aussagen der einzelnen 332 Vgl. auch B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 49. 333 Ebd., S. 47. 334 Für Gerhard Fritz sollte eine „Jaunerliste“ mehr als 100 Personen enthalten, um in eine quantitative Auswertung mit einzugehen, vgl. F RITZ , Rotte, S. 223. Andererseits enthielten 80 Prozent der Listen weniger als 100 Personen, vgl. W IEBEL / B LAUERT , Gauner- und Diebslisten, S. 71. 335 Die 1680er Jahre markieren einen ausgesprochen frühen Entstehungszeitpunkt dieser Quellengruppe im Kurfürstentum im Vergleich mit anderen Territorien. So verortet Groebner beispielsweise die ältesten ihm bekannten Gaunerlisten überhaupt erst in den Jahren 1692 und 1698, G ROEBNER , Schein, S. 163. Auch wenn 1685 und 1687 vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum meiner Studie liegen, wäre es vermessen, diese beiden ersten kursächsischen Beschreibungslisten hier zu ignorieren. 336 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 1r-42v. 337 Ebd., fol. 5r-16v. 338 Ebd., fol. 1r-4r. 339 Ebd., fol. 35r-42r. 340 Ebd., fol. 43r-69r. Weitere Informationen, was mit den Verhörten nach ihrer Aussage geschah, sind aus dem vorliegenden Quellenmaterial nicht zu erschließen. <?page no="87"?> 88 Verhörten gegenseitig stützten und ergänzten, konstatierte der Amtmann in der Eingangsformulierung, dass damit allenfalls „relata referiret“ würden, für ihren Wahrheitsgehalt also nicht garantiert werden könne. 341 Umfangreichere Akten liegen zu dem jüngeren Beispielfall vor: 342 Die Angaben der über 240 Namen umfassenden Liste von 1767 stammten aus dem strafrechtlichen Verfahren mit Catharina Sophia Dorn. Das 14-jährige Mädchen war beim Betteln mit einem gefälschten Pass aufgegriffen worden. Seine Aussagen, die unter anderem Aufschlüsse zu ihrem vorherigen Lebensweg in einem nichtsesshaften Umfeld gaben, wurden mit denen des verhafteten „verdorbenen Studenten“ Johann Christian Hofherr verglichen, der im weiteren Verlauf der Untersuchung verstarb. 343 Zudem wurde zur Prüfung des Wahrheitsgehalts der Informationen ein 1754 in Hildburghausen herausgegebener, gedruckter Aktenmäßiger Bericht herangezogen. 344 Die Angaben der ‚Dornin’, die wegen ihrer unterschiedlichen (Stief-)Väter auch Hofmannin und Martinin genannt wurde, bezogen sich auf die von ihr als „Hessische, Thüringische und Sächsische Diebesbanden“ bezeichneten Gruppierungen. 345 Vertiefte Kenntnisse hatte sie ihrem Angeben nach über die „Thüringische Bande“ mit einer Größe von 81 Personen, zu der sie sich selbst und ihre Eltern rechnete. Wo sich die Angehörigen zumeist befanden und wie sie und die Sächsische Gruppe sich untereinander erkannten oder auch voneinander abgrenzten, führte sie bei einem weiteren Verhör am Weihnachtsvorabend 1767 aus. 346 3.3.2 Vulgonamen Sowohl die Titel der handschriftlichen und gedruckten Dokumente als auch die Begleitschreiben, mit denen zusammen die Gaunerlisten an die Untergerichte versandt wurden, bezeichneten die Gesamtheit der darin genannten und umschriebenen Menschen als ‚Banden’. Schon durch die Betitelung etwa als „Verzeichnüß Derer Zur DiebsRotte gehörigen Mannß- und Weibs-Persohnen“ 347 oder „Specificatio Der Thüringl. und Sächß. Diebes- und Räuber-Bande“ 348 wurde der Kriminalitätsverdacht gegen eine genannte Person generiert und verschriftlicht. Damit war - auch ohne die konkrete Beschreibung zu kennen - dem lokalen Beamten bereits eine Entscheidung vorweggenommen. Denn durch die Benennung war bereits impliziert, dass eine strafrechtliche Untersuchung 341 Ebd., fol. 44r. 342 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16; HStA Dresden, 10025, Loc. 5674. 343 Ebd., fol. 18r-18v. 344 Ebd., fol. 19v. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Actenmässige Nachricht Hildburghausen 1754. 345 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 80r-84r. 346 Ebd., fol. 38r. 347 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 44r. 348 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 2r. <?page no="88"?> 89 bzw. eine Generalinquisition durchgeführt werden müsse, falls man einen der ‚Gesuchten’ im eigenen Zuständigkeitsbereich anträfe. Mit der Anweisung, wie sie 1768 vom kurfürstlichen Administrator Prinz Xaver bei Versand der Liste beispielsweise an die Stadt Chemnitz gegeben wurde, „[Wir] begehren, ihr wollet, nach denen darinnen von dem in hiesigen Landen sich auffhaltenden Diebs- Gesindel, befindlichen Anzeigen zu deßen Aufhebung nützlichen Gebrauch machen“ 349 , hatte die Kriminalisierung der beschriebenen Menschen bereits begonnen. Bei aller Vereinheitlichung der Bettler, Vaganten und Kriminellen, die durch diese Listen somit erzeugt wurde, und ihren schwerwiegenden marginalisierenden Auswirkungen ist dennoch mehrfach festzustellen, dass eine innere Kategorisierung der Verdächtigen vorgenommen wurde. Andreas Hempel untergliederte seine Aufzählung in zwölf Nachtdiebe/ „Schwarzbauern“, 130 Spitzbuben und 23 Kartenspieler/ „Freierschüpper“, wobei die Begriffe aus der Gaunersprache, die er hier verwendete, sich auch mithilfe seiner beigegebenen Vokabelliste erklären. Aus dieser geht zudem hervor, dass sich für weitere Gauner-Typen eigene Begriffe eingebürgert hatten: So erscheinen in der „Spitzbubensprache“ der Bettelmann als „Schmahltürcher“, Spielleute als „Klangfezzer“, der Pferdedieb als „Trappertschniffer“, der Kuhdieb als „Hornickelschniffel“, der Kirchendieb als „Tiffelschrencker“, der Straßenräuber als „Strehlenkehrer“, der Spitzbube noch zusätzlich als „Weißkäufer“ und ein „rechter Erzdieb“ als „grandiger Schniffer oder Schräncker“. 350 Eine spezifische Aufgabenteilung oder gar eine streng eingeteilte Struktur unter den vermeintlichen Mitgliedern der Bande ist damit allerdings noch nicht erwiesen. Es zeigen sich auch keine darüber hinaus gehenden Indizien unter den hier gelisteten Begriffen für einen hierarchischen, aufgabenbezogenen Organisationsaufbau. Dieser Befund deckt sich mit anderen Auswertungen des auch hier unter der Bezeichnung „Rothwelsch“ laufenden Soziolekts. 351 Ausgehend von dem naheliegenden Gedanken, dass in die Spitzbubensprache diejenigen Termini Aufnahme fanden, die für das Leben auf der Straße von erhöhter Bedeutung waren, kann man darauf schließen, dass eine Abstufung verschiedener Deliktarten oder unterschiedlicher Grade von Kriminalität auch unter den Betroffenen vor- und wahrgenommen wurde. 352 Eine genaue Differenzierung des Einzelfalles bleibt dennoch auch mit diesen zeitgenössischen Begriffen unmöglich: Die Zuordnung 349 Ebd., fol. 50r. 350 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 35r-38r. Die meisten der von Hempel hier angegebenen speziellen Begriffe begegnen allerdings in den weiteren Quellen des sächsischen Kontexts nicht mehr. 351 Die ‚Dornin’ bezeichnet die Spitzbubensprache als „Blatte“ oder „Cochumer“ Sprache, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 41r. Siehe grundlegend sprachgeschichtlich zur Spitzbubensprache J ÜTTE , Abbild. Vgl. außerdem S CHMIDT -W IEGAND , Art. Rotwelsch; B OEHNCKE , Rotwelsch. 352 Eine zunehmende Klassifizierung wird benannt bei B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 51. <?page no="89"?> 90 zu den Kategorien mag subjektiv vonstatten gegangen sein, so wie insgesamt die Aufnahme in eine Gaunerliste von der Willkür eines Vernommenen und eines Vernehmenden abhängig war. Dies gilt ebenso für die auch in den Aussagen der Catharina Sophia Dorn gemachten Abstufungen in „Proscher“ für nächtliche Einbrecher, „Kittenschieber“ für Diebe, die vorwiegend tagsüber in Häusern stahlen, und „Schockgänger“ für Marktdiebe. 353 Aufgrund dieser Beobachtungen kann aber nicht bestätigt werden, dass die Gaunerlisten gar nicht zwischen Räubern, Marktdieben und Bettlern getrennt hätten, 354 sondern sie bildeten anhand der unterschiedlichen Delikte immerhin einige mehr oder weniger trennscharfe Klassifizierungen, denen Personen zugerechnet wurden. Verschiedene Grade der Verschlagenheit oder Gefährlichkeit und eine ‚Wertung’ der Taten in der Zuschreibung werden zusätzlich daran erkennbar, dass man in zahlreichen Quellen „Erzbösewichter“ oder „Erz“-Diebe findet. In der Forschung wurde die Bezeichnung bestimmter Frauen als „Erzdiebinnen“ bereits als feste Kategorie eingestuft, die „sehr gezielt zur Kennzeichnung einer gewissen kriminellen ‚Bedeutung’ der betreffenden Person verwendet wird“ 355 . Ein großer Teil der in den Gaunerlisten Genannten wird außerdem als „Spitzbube“ bezeichnet. Nicht nur in diesen Quellen, sondern auch in weiteren Gerichtsakten, die sich mit den Räuberbanden im engeren Sinn beschäftigen, findet sich jener Ausdruck wesentlich öfter als der Begriff „Gauner“ oder „Jauner“, der in Sachsen ungewöhnlich gewesen zu sein scheint. So waren die Gaunerlisten im Kurfürstentum häufig mit „Specificatio“ oder einfach als Verzeichnis überschrieben und die Bezeichnung für die ‚Gaunersprache’ lautete in den meisten sächsischen Quellen „Spitzbubensprache“. Allein bei Hempel dient der Gauner-Terminus 1687 ein einzelnes Mal der Beschreibung, jedoch wird in der Sprache des Inquisiten „Gaunen“ eindeutig als Falschspielen übersetzt. 356 Überhaupt spricht die Begriffsvielfalt in dem Text dafür, dass zu diesem sehr frühen Zeitpunkt die Einteilung der Verdächtigen zwar breit gefächert stattfand, sich dabei aber noch nicht allzu feste Konventionen etabliert hatten. Der jeweilige Personeneintrag in einer Liste wurde mit der Bezeichnung des Namens begonnen: In den beiden frühen Listen wurden Namensbestandteile, und dabei besonders oft der Nachname mit der Abkürzung „N.“ ausgespart. Dies spricht dafür, dass die Kommunikation unter den Betreffenden vorwiegend über die Vornamen funktionierte. Dabei scheint im Besonderen bei Frauen der Familienname oft nicht bekannt gewesen zu sein oder ihre Benennung wurde über die Zugehörigkeit zu einem Mann gebildet. Im Verzeichnis von 1767 wurden weibliche Vagantinnen schon etwas häufiger mit einem ihnen eigenen 353 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 40v-41r. Diese Bezeichnungen werden auch im Verhör von Georg Sachße mit den gleichen Bedeutungen verwendet, Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 78r-87r. 354 So formuliert bei D ANKER , Geschichte, S. 72. 355 W IEBEL , Schleiferbärbel, S. 783. 356 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 16v; 37v. <?page no="90"?> 91 Vor- oder „Spitznamen“ 357 bezeichnet als mit dem in vielen anderen frühneuzeitlichen Quellen üblichen „-in“ als Suffix des Zunamens eines Mannes. 358 Dies ist nur ein Indiz dafür, dass die Frauen im vaganten Milieu mitunter eine aktivere Position einnehmen konnten, als ihnen dies oft in der sesshaften Mehrheitsgesellschaft möglich war. Deutlich häufiger als die Bezeichnung mit einem vollständigen Namen ist das Anführen eines Spitz- oder ‚Vulgonamens’. 359 Vornamen waren ein häufiger Bestandteil dieser Bezeichnungen, die ihren Trägern meist von Angehörigen ihres Lebensumfelds zugewiesen wurden. Es gab hier etwa den „dicken Georg“, den „stotterichten Friedrich“ oder die „Quedlinburgische Maria“. 360 Wie in diesen Beispielen wurde der Personenname meist mit einer festen Zuschreibung kombiniert. Diese Zusätze kann man gemeinhin in die Kategorien berufliche und topographische Bezeichnungen, äußerliche Anzeichen, die auf körperliche Defizite oder das Aussehen allgemein Bezug nahmen, und Charakter- oder Verhaltensmerkmale einteilen. 361 Die in der Forschung angeführte Sparte der vormals begangenen Delikte findet sich unter den kursächsischen Spitzbubennamen nur gelegentlich. 362 Sowohl 1687 als auch 1767 tauchen „Neunfingerichte“ auf, die - so wird erläutert - nach einer früher ergangenen Strafe und nach der Auswirkung dieser Verstümmelung benannt waren. 363 Insgesamt äußert sich wenig Scham, wenn es darum ging, unveränderliche Krankheitsmale und Behinderungen in die Beinamen aufzunehmen. Die meisten der kursächsischen Vulgonamen fügen sich in die Kategorien Aussehen, Herkunft sowie berufliche Betätigung ein. 364 Gelegentlich setzte sich der Name aus Bestandteilen unterschiedlicher Kategorien zusammen, wie bei dem „Eißlebischen Schneider“ 365 oder dem „Creutzburger Zwerg“ 366 . Auch 357 Vgl. zur Entstehung und Einordnung von Spitznamen in der Frühen Neuzeit S CHINDLER , Leute. 358 Vgl. A MMERER , Heimat, S. 297 und S CHINDLER , Leute, S. 87. 359 Etwa 40 Prozent der hier gelisteten 527 Personen tragen einen solchen Vulgo- oder Spitznamen. 360 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 6r; 6v; 10r. 361 Vgl. zur Kategorisierung der Vulgonamen vor allem A MMERER , Heimat, S. 294-307. Bis auf die Ergänzung um parentale und Partnernamen ähnlich bei F ISCHNALLER , Gaunernamen, der sich bei der Auswertung seines relativ kleinen Korpus von 177 Spitznamen überwiegend auf S CHINDLER , Leute, S. 108 stützt. Fälschlicherweise verortet er die Gaunerlisten als Quellengruppe im „Vormärz“, was von mir so nicht bestätigt werden kann. 362 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 6r; Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 15r. Vgl. dazu A MMERER , Heimat, S. 304. Die Kombination mit den Wörtern Tasche, Sack oder ihrem frühneuzeitlichen Pendant „Ficke“ in Frauennamen muss hingegen nicht zwingend mit dem Taschendiebstahl zusammenhängen, sondern kann auch auf das weibliche Geschlechtsorgan verweisen, vgl. S CHINDLER , Leute, S. 108. 363 „[...] welche wegen des Rollens Zu Langensalza 2. Finger weggeschlagen worden“, HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 9v. 364 Nicht immer lässt sich einschätzen, ob es sich bei einem einzelnen angegebenen Namen um einen Vulgo- oder den Nachnamen des Betroffenen handelt, denn nur in wenigen Fällen wird von den Quellen explizit unterschieden. 365 Ebd., fol. 7r. <?page no="91"?> 92 wurden die Namenselemente miteinander kombiniert, wenn es darum ging, zwei Personen eindeutig voneinander zu unterscheiden, etwa den „großen Holländischen Peter“ von dem „kleinen Holländischen Peter“ 367 . Namen übertrugen sich von Eltern auf ihre Kinder. Eine gesamte Familie wurde als „Leyergeschlecht“ charakterisiert, obwohl unter ihren Mitgliedern neben Musikanten auch solche waren, die sich vorrangig als Kesselflicker oder Scherenschleifer verdingten. 368 Da die namentlichen Zuordnungen für den alltäglichen Gebrauch verständlich und nachvollziehbar sein mussten, können sie ein Bild davon vermitteln, was unter den nichtsesshaften Menschen als außergewöhnlich oder auffällig begriffen wurde. Damit die Namen sich nicht allzu sehr glichen oder wiederholten, mussten eindeutige Unterscheidungsmerkmale benannt werden. Es versteht sich daher leicht, warum die räumliche Zuordnung besonders dann Aufnahme fand, wenn sie eine gewisse Entfernung zur geographischen Region aufwies, so etwa bei „Hamburger David“, „Schwedischer Christoph“ oder „Dänischer Hanß“ 369 . Gelegentlich wurden auch anderssprachige Namen in das Sächsische umgewandelt, wie etwa bei dem Franzosen „Schange“ 370 . Bemerkenswert ist, dass „Fremd“ oder „Ausländisch“ keine Bestandteile bildeten, so wie „Juden-“ oder „Zigeuner-“ nur in einzelnen Fällen als Präfix verwendet wurden. 371 Den Großteil der topographisch zugeordneten Vulgonamen machten allerdings diejenigen aus, die präzise eine Stadt enthielten, und diejenigen Kombinationen mit nahegelegenen Herrschaftsbereichen wie Böhmen, Bayern, Hessen oder Polen. 372 Dies spricht für eine aktive Wahrnehmung der damaligen Landesgrenzen ihres Lebensraums durch die Vaganten. Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass weder jemand als „Sächsischer X“ oder „Lausitzer Y“ benannt wurde, noch unter Zuhilfenahme der Ämter-, Kreis- oder Landschaftsbezeichnungen des Kurfürstentums. Wenn unter den Ortsbezeichnungen dennoch kursächsische Städte auftauchten, kann dies mit der Bekanntheit und Anziehungskraft dieser urbanen Zentren begründet werden. Benachbarte Städte wie Erfurt, Eisleben, Magdeburg, Halle oder Kassel gingen ebenfalls in Namenskonstruktionen ein, weil sie vielen der Menschen aus eigener Anschauung heraus bekannt waren. Anhand der Vulgonamen zeichnet sich demnach ein Bewusstsein für die geographisch-politische Grenzziehung des Kurfürstentums und als 366 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 4r. 367 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 62r-62v. Vgl. A MMERER , Heimat, S. 299. 368 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 20r-21r. Diese umfasst hier zehn Personen, vom Leyer- Michel bis zur LeyerLiese. 369 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 6v; 48v; 55v. 370 Ebd., fol. 7v. 371 So beispielsweise bei „Zigeuner-Christel“, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 30v. 372 Ähnliche Beobachtung zu frühen schwäbischen Listen bei Fritz, der in der Auswertung der Gaunerlisten nicht in Benennung und Beschreibung der Personen unterscheidet, vgl. F RITZ , Rotte, S. 235-236. Es muss außerdem nicht bedeuten, dass die Betreffenden tatsächlich aus der benannten Stadt oder Region stammten, wie Fischnaller hervorhebt, vgl. F ISCHNALLER , Gaunernamen, S. 70. <?page no="92"?> 93 sächsische Landsleute ab, sowie eine Mobilität, die durchaus über diese Grenzen hinaus reichen konnte. In der Forschung wurde die Verwendung von Vulgonamen auch jüngst als Indiz für die Ausprägung eines subkulturellen Verständnisses und der Selbst- Exklusion bewertet. 373 Dies erscheint mir hingegen zu weit gegriffen. Zum einen war der Großteil der Namen nicht darauf angelegt, Identitäten zu verschleiern, sondern - zumeist als Fremdzuschreibung - einen anderen Menschen prägnant zu bezeichnen. 374 Mag das Argument der gezielten Verheimlichung im Fall der Spitzbubensprache durchaus angemessen sein, so zeigt sich hingegen, dass Begriffe aus dem „Rotwelsch“ bei der Namensbildung in untergeordnetem Maß eingesetzt wurden. 375 Wenn oft unter Verwendung des eigentlichen Vornamens neue, häufig lebenslang bestehende Bezeichnungen kreiert wurden, konnten diese auch den ‚bürgerlichen’ Namen vollkommen ersetzen, waren aber sehr wohl auch den landesherrlichen Behörden verständlich. Zum anderen ist mit der Verwendung von mitunter ironischen oder verzerrenden Spitznamen keine exklusiv auf Vaganten oder Kriminelle beschränkte Sitte beschrieben, sondern sie stellt eher ein Merkmal der Kultur der ‚kleinen Leute’ dar, die in Spätmittelalter und Früher Neuzeit durchaus auch zur Bezeichnung des sesshaften Handwerkers, Klerikers bis vereinzelt hin zum Adligen gängig war. 376 Dass den Spitznamen in dem hier besprochenen Umfeld ein größeres Gewicht zufiel, kann aus dem Umstand heraus begründet werden, dass die Hof- und Hausnamen, die besonders in der ländlichen Bevölkerung als alternative Bezeichnungen noch bis weit in die Neuzeit hinein gebräuchlich waren, bei den ‚Fahrenden’ zwangsläufig ihre Bedeutung verloren hatten. 377 Was hingegen deutlicher auf eine gezielte Tarnung verweist, ist der Gebrauch zweier oder dreier unterschiedlicher Namen. Pseudonyme oder Decknamen 373 Vgl. F ISCHNALLER , Gaunernamen, S. 76. Ähnlich auch schon bei S CHUBERT , Leute, S. 281. 374 Gerade die nach Merkmalen der äußerlichen Erscheinung gebildeten Spitznamen, selbst wenn sie ironisch verstellt waren, machten einen aufgegriffenen Vaganten mitunter eher identifizierbar. So ist fraglich, ob beispielsweise der korpulente Christoph Krüger im Ernstfall als „dicker Christoffel“ besser vor dem behördlichen Zugriff geschützt war, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 28v. 375 Es gibt in Hempels Liste etwa einen „grandigen Barsch“, HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 7r. „Grandig“ steht nach der Vokabelliste für groß oder als steigerndes Attribut und wird nur einmal verwendet. Im Vergleich gibt es 1687 mindestens 12 Spitznamen, in denen die allgemein verständlichen Adjektive „klein“, „groß“ oder „lang“ kombiniert werden. Auch Blauert und Wiebel bestätigen eine untergeordnete Rolle des Rotwelsch in den Gaunerlisten, vgl. B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 80. 376 S CHINDLER , Leute. Zudem reichen die Ausführungen zur Verwendung von Spitznamen, Necknamen und Beinamen in der Onomastik meist vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Vgl. einführend K UNZE , Namenkunde, S. 177-183. Schwerhoff konstatiert außerdem, dass Spitznamen nicht zwingend stigmatisierend wirkten, sondern auch als ‚Ehrentitel’ getragen wurden, vgl. S CHWERHOFF , Karrieren, S. 42. 377 Vgl. W ENZEL , Familiennamen, S. 710. Vgl. vor allem H ARVALIK , Hofnamen sowie W EBER , Hausnamen, die Sachsen als Beispiel für eine nähere Betrachtung wählt. Hofnamen besaßen stärker als die Hausnamen eine enge Verbindung mit Familiennamen. <?page no="93"?> 94 kamen ebenfalls vor, worunter hier plausible Zweitnamen bestehend aus einem Vor- und einem Zunamen verstanden werden, welche sich selbst zur Vertuschung der eigenen Identität zugelegt wurden. 378 Sie signalisieren eine kriminelle Professionalisierung, da sie entweder daher rührten, dass sie zur Durchführung von Betrugsdelikten dienten oder dass der Betroffene vor den Behörden seinen Lebensweg verschleiern wollte. So nannte sich ein „Leonhardt Beyerlander“ auch „Georg Christian Müller“. 379 Weitere markante Beispiele liefert die Gaunerliste, die 1753 von Johann August Fiedler alias Nadheim und Johann Georg Ludwig alias Schmidt angegeben wurde. 380 Manche der Betroffenen führten daher unterschiedliche Pässe mit sich. Als Zeichen für eine zweite Identität können ebenfalls falsche Berufsbezeichnungen oder Titel verstanden werden, zu denen etwa „Herr von Tittelbach“ oder „Doctor Damm“ 381 zählen. 3.3.3 Charakteristika der sächsischen Vaganten Die Informationen zu den genannten Personen ähnelten sich in den verschiedenen Gaunerlisten. Sie können den Kategorien Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunft, Tätigkeit, Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes, Bewaffnung und bisherige Rechtsverfahren oder aktueller Vorwurf zugeordnet werden. 382 Wird erkennbar, ob in diesen Beschreibungen vernetzte Räuber und Diebe dargestellt wurden? In der Liste Hempels zeigt sich ein hoher Frauenanteil. Mit 43 Prozent ist er ähnlich wie die Specificatio von 1767 (45 Prozent) etwa am Durchschnitt der für die südwestdeutschen Gaunerlisten angegebenen Quoten angesiedelt. 383 Unter den zwölf von Hempel als „Nachtdiebe“ bezeichneten, besonders schwerwiegenden Tätern ist aber keine einzige Frau zu finden. 384 Zu dem engeren Kern einer als professionelle Einbrecher begriffenen Gruppe scheinen Frauen somit nicht gerechnet worden zu sein. Dementsprechend rangiert der Frauenanteil in den Listen, die sich auf etwa zehn bis 35 Personen beschränkten, deutlich unter 40 Prozent. 385 In manchen dieser Quellen gelangt man erst durch genauere 378 . Vgl. „Pseudonyme“ in S EIBICKE , Personennamen, S. 32-46. 379 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 46v. 380 HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, unfoliiert, Anlage A. 381 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 6r-6v; 36r-36v. 382 Vgl. auch die Grundbestandteile bei B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 46. 383 Vgl. ebd., S. 57; F RITZ , Rotte, S. 228. Zur Begründung für das Schwanken der Geschlechterverteilung je nach Quellengattung vgl. K ÜTHER , Menschen, S. 28-31. 384 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 5r-6r. 385 Als Beispiele: Sechs von 37 Personen sind weiblich in der „Consignation Derer Diebe und Landt- Streicher“ von 1753, HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, unfoliiert, Anhang A; Drei Frauen unter 33 Genannten in der „Specificatio Derer annoch herum vagirenden Diebe und Land-Streicher“, HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 70r-71r; keine Frau in der „Beschreibung der zur Neuschloßrumburger Räuberbande gehörigen [...] Verbrecher“, HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 257r- 261v. <?page no="94"?> 95 Betrachtung zu den Frauen: Der beim Amt Zwickau vernommene Inquisit Georg Sachße (vulgo Leyer-Görge) nannte während seines Verhörs im Mai 1747 zehn Männer als „herumgehende Diebe“. 386 Wurde die kriminelle Bedeutung eines Täters als hoch eingestuft, war seine Beschreibung meist umfangreich, damit man ihn im „Betretungsfall“ eindeutig identifizieren konnte. In den ausführlichen Beschreibungen Sachßes zeigte sich, dass zusammen mit den Dieben ebenfalls sieben Frauen als Ehegattinnen oder Lebensgefährtinnen unterwegs waren. Immer wieder sind die Begleiterinnen von Männern deren Personenbeschreibungen in den Listen beigeordnet, ohne dass sich dies eigens in der Nummerierung niedergeschlagen hätte. In diesen Fällen, in denen sie eher als ‚Attribute’ der jeweiligen Männer erfasst wurden, fiel ihre Darstellung meist kurz aus. 387 Diese untergeordnete Stellung weiblicher Vagantinnen in Gaunerlisten deutet darauf hin, dass sie seltener als aktive Teilnehmerinnen einer Bande oder als Kapitalverbrecherinnen angesehen wurden. Die Beschreibung der Anna Rosina Neumannin, geborene Pißelein, von 1685 bietet ein Gegenbeispiel, wenn betont wurde, dass „diese eine ErzSpizbübinn, auch vielemahle mit eingestiegen seyn“ 388 solle. Ähnlich stellte man sich Brigitta N. vor, die im Stehlen als so kompromisslos galt, dass „kein Kerl ärger alß Sie wäre“ und eine Sophia, die „öffters nebst ihren 2. oder 3. annoch habenden Brüdern auch andern Edelleuthen, in MannsKleidern uffn Straßen, sonderlich uff Haarz geraubet haben“ sollte. 389 Man sollte nicht davon ausgehen, dass weibliche Vaganten insgesamt seltener gewesen wären als männliche. 390 An vielen, mitunter beiläufigen Bemerkungen zeigt sich durchaus, dass sie tragende Rollen für das alltägliche Überleben der Gemeinschaft übernahmen, wie das Verstecken von Waren oder Werkzeug, das Verbreiten von Falschgeld und die Versorgung der Kinder. Die in Leipzig ansässige Freundin des Christoph N. pflegte etwa in ihrem Häuschen in der Bettelgasse „in Meßzeiten zu kochen und Leuthe zuspeisen“ 391 . Zur Familie des Hans Friedrich wird etwa gesagt, dort „bauete (nach der SpizbubenSprache) die Mutter vor, damit die andern schuffeln, i.e. mausen könten“. 392 Die Listen unterschieden dabei außerdem zwischen einem angetrauten „Weib“ oder einer Ehefrau einerseits und einem „Mensch“, „Vettel“ oder einer „Hure“ andererseits. 393 Die zeitgenössische moralische Konvention einer von Gott und der Kirche gesegneten Lebensgemeinschaft wurde damit implizit in 386 Er verwendet die Klassifizierung in „Schockgänger“, „Proscher“ und „Kütterschieber“ in der Registratur seines Verhörs vom 26. Mai 1747, Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, S. 78r-87r. 387 In der Regel sind die Beschreibungen ähnlich lang. 388 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 44v. 389 Ebd., fol. 47r; 65v. 390 Vgl. S CHEFFKNECHT , Weiber, S. 94; B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 57. 391 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 48v. 392 Ebd., fol. 12v. 393 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 62-63; W IEBEL / B LAUERT , Gauner- und Diebslisten, S. 78. Besonders deutlich wird dies in den Beschreibungen von SchwartzAdams Philipp und Peltz-Michel in Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 82v-84r. <?page no="95"?> 96 die Texte übertragen. 394 Da einige Quellen sogar darüber Auskunft gaben, wo ein Paar getraut worden war, ist davon auszugehen, dass auch unter den Vaganten diese Fragen thematisiert wurden. 395 Auch die nichtsesshaften Randgruppen, für die normgerechte Eheschließung aufgrund von Heiratsbeschränkungen schwierig war, orientierten sich mit ihren Lebensgemeinschaften formal an den rechtmäßigen Ehen. Ein großer Teil galt als monogam. Nur für vier Personen in der Hempel-Liste wurde Polygamie zumindest angedeutet. 396 In den Kontext eines normgerechten Verhaltens nach christlichen Maßstäben können außerdem Aussagen darüber gestellt werden, dass ein unmündiges Kind die Taufe empfangen habe. 397 Die Anzahl und das Geschlecht von Kindern wurden oft angegeben. 398 Dass jugendliche Vaganten frühestens ab einem Alter von 14 Jahren in den Listen als eigenständige ‚Nummern’ mit Namen und Beschreibungen ihres Äußeren erscheinen, weist darauf hin, dass man diese Stufe als Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz oder in die Mündigkeit begriff. 399 Hempel ordnete in seiner Liste Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren als „Mägdlein“ und „Jungen“ ein - in Abgrenzung zum sonst verwendeten „Frau“ bzw. „Kerl“. Kann man bei der 14-jährigen verhörten Dorn davon ausgehen, dass sie für die Lebenswelt von Altersgenossen einen präziseren Blick hatte, da sie Kinder öfter beschrieb, traf auch sie gelegentlich unbestimmte Aussagen wie „Dessen Frau heiße Rosina, […] habe 3 Kinder bey sich“ 400 . Eltern-Kind-Relationen wurden zusätzlich in vielen Fällen erwähnt, in denen es sich längst nicht mehr um Kinder handelte. Dies diente als Angabe des Familienumfeldes und häufig stand dabei die Profession des Vaters stellvertretend als Verweis auf die Herkunft. Deutlich mehr als die Hälfte der genannten Personen waren in Begleitung Verwandter auf den Straßen des Kurfürstentums unterwegs oder wurden in den Gaunerlisten mit 394 Vgl. A MMERER , Heimat, S. 266-276; S CHUBERT , Leute, S. 276; S CHEFFKNECHT , Weiber, S. 100. 395 Beispielsweise aufgeführt für Christian Rosenlöcher, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 50r. 396 Ebd., fol. 5r-16v. Mehrere Beziehungen könnten dabei gleichzeitig oder nacheinander bestanden haben. Eine endgültige Festlegung lassen manche Listen letztlich vermissen. 397 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 83r: „vor 3. Jahren hätte Schwartz-Adams Philipp, im Spital zu Auerbach ein Kind taufen laßen, u. müße solches im Kirchenbuch allda zu finden seyn“. 398 Andreas Hempel nannte nur in einem Fall „2 Kinder“, und teilte sonst stets mit, ob es sich um Söhne oder Töchter handelte, auch wenn er diese oft nicht näher beschrieb. 399 Hempel nahm das Alter von Personen in seine Angaben anscheinend gerade dann auf, wenn es sich um Teenager handelte: So waren sieben der acht Vagierenden, für die er das Alter präzise nannte, zwischen 14 und 19 Jahren alt. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 5r-16v. In der Forschung wird die obere Altersgrenze der Kindheit oft ähnlich gesetzt, auch wenn die Auffassungen darüber kulturell bedingt abweichen, vgl. C UNNINGHAM , Geschichte, S. 33. 400 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 6v. <?page no="96"?> 97 Familienmitgliedern in Verbindung gebracht. 401 Nur in wenigen Fällen hieß es, jemand habe allein gelebt. Die Beschreibungen des äußerlichen Erscheinungsbildes der Personen variierten in ihrer Ausführlichkeit. Meist enthielten sie Angaben zu Statur und Körpergröße, Haarfarbe, Teint, Kleidung und besonderen Kennzeichen. Zu diesen zählten auch Krankheitsmale, Narben, Hinweise auf bereits vollzogene Körperstrafen und Behinderungen. In diesen Daten zeigten sich gerade bei der Kategorisierung der genannten Eigenschaften am deutlichsten individuelle Prägungen derjenigen Personen, die die Gaunerlisten angaben oder notierten. So bezeichnete Hempel viele Menschen verallgemeinernd als „schwarz“, und auch von Stieren wurden einige Personen als „Ziegeuner-schwarz“ dargestellt. „Schwarz“ kann dabei vielfach als doppeldeutiges Merkmal mit Bezug auf das Aussehen als auch auf den dahinter vermuteten Charakter verstanden werden, erkennbar etwa in überzogenen Zuschreibungen wie „schwarz wie ein Ofenloch [...] wenn mann sie von ferne sehe, wie ein Teuffel“ oder „wäre ein schwarzer Kerl, schwarzer gleicher Haare, schwarzen Gesichts“. 402 Einerseits äußerte sich in den knappen Angaben zum Aussehen somit eine gewisse Subjektivität, die hinsichtlich des Umfangs der gegebenen Informationen nachvollziehbar ist. Andererseits ist ihnen dennoch gemeinsam, dass die Auflistungen eben jene Elemente deutlicher ausführten, die einen Gesuchten aus der Sicht des Beschreibenden am ehesten kennzeichneten oder aus der Reihe fielen. Besonders blasse oder sommersprossige Menschen tauchten dabei ebenso auf wie dunkle Typen. Rote Haarfarbe war eher eine Ausnahme, was sich auch darin bestätigt, dass in unterschiedlichen Fällen diese Besonderheit in den Namensbestandteil „Fuchs“ eingegangen war. 403 Die Gesichter waren in zahlreichen Fällen von „Blattergruben“, das heißt Pockennarben, gezeichnet und gelegentlich wurden Schnitte im Gesicht erwähnt, die jemandem als Strafe oder im Kampf zugefügt worden waren. 404 Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg taucht häufig und in abweichenden 401 In Hempels Liste waren es 98 Personen, in der von Stieren und anderen 66 Personen und in der Specificatio der ‚Dornin’ sogar 190 von 241 Personen, nahezu 80%. Auch diejenigen, für die es nicht ausdrücklich vermerkt ist, könnten verwandt gewesen sein, denn darunter befinden sich noch zahlreiche mit übereinstimmenden Nachnamen oder ähnlich lautenden Vulgonamen. 402 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 59r; 60r. Vgl. G ROEBNER , Schein, S. 95, der die Verwendung von schwarz, rot und weiß in mittelalterlichen Quellen als keine rein äußerliche Beobachtung einstuft. Die Farbe Schwarz in Wortverbindung mit dem Teufel auch bei A MMERER , Heimat, S. 302. 403 „Fuchs“ und „Füchßin von Merseburg, sonst Fuchsenliese“ bei HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 7r; 10r; drei Rothaarige in der Specificatio von 1767 und ein „Fuchß“ in deren Ergänzungen vom 11. Dezember 1767, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 62r. Ein „rother Fuchs“ bei Brückmann in HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 83r. Ammerer konstatiert eine auffällig häufige Erwähnung von Rothaarigen, die hier nicht bestätigt werden kann, vgl. A MMERER , Heimat, S. 303. 404 Vgl. B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 60-61. <?page no="97"?> 98 Schreibweisen das Merkmal „dickblünschigt“ in den sächsischen Gaunerlisten auf. 405 Folgt man einem zeitgenössischen Schlesischen Wörterbuch, bezeichnete das aus dem alltäglichen Sprachgebrauch verschwundene Adjektiv „ein Gesicht, wenn es sehr fleischig und zugleich plump ist, so daß die Backen vorstehen und die Nase tief liegt“ 406 . Dieses wenig schmeichelhafte Etikett wurde sowohl für Frauen als auch für Männer verwendet, die vorrangig von kräftiger Statur waren, und findet sich allein in Hempels Gaunerliste in 19 Fällen. Die Kleidung der Vaganten besaß in den Beschreibungen für die Identifizierung einen herausgehobenen Stellenwert, da die meisten Menschen in der Nichtsesshaftigkeit nur das besaßen, was sie mit sich trugen. 407 Das war auch den Verfassern der kursächsischen Gaunerlisten bewusst, die diese meist detailreich wiedergaben, wobei sich der Umfang der dazu gegebenen Informationen im zeitlichen Verlauf steigert. Besonders Catharina Sophia Dorn legte 1767 Farbe und Beschaffenheit von „Rock“ und „Wambst“ der meisten Beschriebenen genau dar. In einigen Fällen hoben die Listen hervor, dass Personen ihre Kleidung häufig veränderten, was nicht erwähnenswert gewesen wäre ohne einen gewissen Seltenheitsfaktor. Bei Georg Schwerdtner wird etwa das Kleiderwechseln als Bestandteil seiner Lebensweise angeben, „[...] wie er sich vor einen Churfürstl. Freyreuther außgebe, Allso gienge er daher in reinlicher Kleidung. Maßen er vormahls einen schwärzlichen mit Iltis gefütterten Belz getragen. Jedoch wechßele er offt in Kleidern, und ließe sich von ein zum andern orthe führen. Trüge auch allerhand farben Paruquen, hielte sich einen Knecht in blauer Lieberey und gäbe sich vor einen abgedanckten Officirer aus.“ 408 Es gibt Anzeichen dafür, dass sich der Kleidungsstil der nichtsesshaften Leute nicht wesentlich von dem der sesshaften Bevölkerung unterschied. 409 Allerdings zeigte sich ein großes Spektrum von Farben und Varianten. Gestreifte oder geblümte Stoffe gehörten ebenso zum Gesamtbild wie Uniformen, und auch von Pelz, Seide oder anderen wertvollen Materialien ist die Rede, wenngleich dies gegen die Regelungen der kursächsischen Policeyordnung von 1661 ver- 405 Als Beispiele seien hier herausgegriffen: „dickblinzschigten Angesichts“ (1687), „dickplünzschicht“ (1687), „ein kleiner dickblinschigter Kerl“ (1753), „wäre dickblinschicht im Gesichte“ (1753) und „dickblünschigt im Gesichte“ (1767). 406 Versuch einer schlesischen Nachlese zu Adelungs Wörterbuche der hochdeutschen Mundart (1799). In: H AAS , Provinzialwörter, S. 407. 407 Vgl. B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 59; S CHUBERT , Leute, S. 281. Vgl. vor allem S EIDENSPINNER , Jaunertracht. Seidenspinner kommt zu dem Ergebnis, dass die Kleidung der „Jauner“ ausgeprägt individuell ausgestaltet sein konnte. Zur Kleidung frühneuzeitlicher Armer vgl. außerdem J ÜTTE , Arme, S. 99-105; A MMERER , Heimat, S. 332-347 sowie B ULST / J ÜTTE , Sein. 408 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 52r-52v. 409 B RÄUER , Bettler, S. 176. Zu den Funktionen von Kleidung am Beispiel von Gesinde vgl. S IMON - M USCHEID , Kleidung, sowie D IES ., dienst. <?page no="98"?> 99 stieß. 410 Dagegen war das Tragen von Schmuck unter Vaganten unüblich. 411 Gelegentlich wurde ein Hut, eine „Budel-Mütze“ oder eine Haube erwähnt, und einige Male auch Perücken. 412 Es finden sich insgesamt sowohl Beispiele für eine vergleichsweise aufwändige Ausstattung der Kleidung als auch für zerrissene und schlichte Fetzen. Eine zerlumpte Bettlermontur konnte ein Mitleidsgefühl bei der ansässigen Bevölkerung steigern und somit indirekt zum Lebensunterhalt beitragen. 413 Doch handelte es sich kaum um eine systematisch eingesetzte Betrugsstrategie. 414 Daneben werden keine expliziten Angaben über Bettelzeichen oder andere „Stigma-Symbole“ an der Kleidung gemacht. 415 Selten war am äußeren Erscheinungsbild die ‚Qualität’ eines Delinquenten erkennbar: Das Verzeichnis von 1685 führt ein einzelnes Beispiel für eine herausstechende Erscheinung eines „Hauptspitzbuben“ auf, der verschiedene Kleider besaß und „Ketten und Ringe in großer menge“ 416 , die möglicherweise zum Verkauf bestimmt waren. Doch gerade in der Gaunerliste von 1767, die am ausführlichsten beschreibt, sind keine signifikanten Unterschiede zwischen den „Erzspitzbuben“, Marktdieben und den Bettlern erkennbar. Weder nahm die Beschreibung der Kleidungsstücke der ‚hauptberuflichen’ Diebe einen größeren Raum ein, noch deuten die angegebenen „Monturen“ darauf hin, dass permanente vestimentäre Hierarchien unter Vaganten auszumachen gewesen wären. 417 Nach Aussage der Catharina Sophia Dorn war die Kleidung dennoch als Teil einer Zeichen-Kommunikation unter den Mitgliedern der „Sächsischen Bande“ und der „Thüringischen Bande“ zu verstehen: 410 Policey- Hochzeit- Kleider- Gesinde- Tagelöhner- und Handwercksordnung vom 22. Juni 1661, L ÜNIG , Codex Augusteus, Special-Verordnungen, Sp. 1561-1610, hier: Titulus XXII, Sp. 1587- 1593. Vgl. zu Kleiderordnungen auch B ULST , Kleidung. 411 In der Specificatio von 1767 sind aber mit Catharina und Liese Franzin zwei junge Frauen verzeichnet, die mit Schmuck handelten: „[...] hätten auch geschnürte Halsbänder von Corallen und Schmeltz zum Verkauf“, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 9r. 412 „Paruquen-Peter“ bei Hempel, HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 16v. In der Literatur hingegen wird hingegen mehrfach erwähnt, dass Perücken unter Vaganten unüblich wären, u.a. bei S CHUBERT , Leute, S. 281. 413 Vgl. S IMON -M USCHEID , dienst, S. 49. 414 Vgl. B RÄUER , Bettler, S. 174-175. Die ‚Dornin’ spricht von zerrissener Kleidung lediglich in vier ganz unterschiedlichen Fällen, an denen sich kaum Ähnlichkeiten festmachen lassen: ein trinkender Bettler, ein 16-jähriger Junge, ein angedankter Soldat und ein Leierspieler, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16. 415 Vgl. dazu J ÜTTE , Stigma. Bettel- und Almosenzeichen sind im 18. Jahrhundert kein gängiges Element der Armenfürsorge mehr. Vgl. dazu B RÄUER , Bettel- und Almosenzeichen. So wird etwa in der Policeyordnung von 1661 im Abschnitt zu Bettlern kein äußerlich sichtbares Zeichen dieser Art als Auflage genannt. Policey- Hochzeit- Kleider- Gesinde- Tagelöhner- und Handwercksordnung vom 22. Juni 1661, L ÜNIG , Codex Augusteus, Special-Verordnungen, Sp. 1561-1610, hier: Titulus IX, Sp. 1573-1575. 416 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 62r-62v. 417 Eine solche Meinung vertritt Jütte, konstatierend, dass dies bisher noch nicht umfassend untersucht wurde J ÜTTE , Arme, S. 103. Auch bereits in D ERS ., Windfang, S. 181-182, worin sich der Autor vorwiegend auf künstlerische Zeugnisse stützt. <?page no="99"?> 100 „ [...] Die MannsPersonen sezten den Huth also, daß die HuthSpize gerade über den lincken Auge und zwar recht in die Höhe stehe, und pflegten sie den Huth recht in den Nacken zu setzen, daß die Spize in die Höhe stehen müsse.Dieses sey bey denen MannsPersonen sowohl bey denen Thüringern als auch denen SachsenPurschen das einzige Merckmahl, woran sie einander kenneten. In der übrigen Kleidungs- Tracht aber hätten sie keine Kennzeichen, sondern es trüge sich ein ieglicher wie es ihm einfiele. Dahingegen Die WeibsPersonen, sich durch den KopfLappen unterscheiden indem die Thüringer WeibsPersonen den KopfLappen nicht alzu sehr breit um den Kopf rum zu binden pflegten, und würde solcher ferner an der Stirne also zusammen gebunden, daß der Knoten recht mitten in dem Kopfe Lappen und auch recht mitten in der Stirne stehe müsse, welches das allersicherste Merckmal sey.“ 418 Auch angesichts dann folgender Ausführungen über die Körbe der sächsischen Frauen belegt diese Quelle, dass hier nicht die Kleidung an sich als Abgrenzungsmerkmal diente, sondern eher die Art, wie man bestimmte Utensilien trug. Die mitgeführten Gegenstände gaben Aufschluss darüber, welchen Tätigkeiten die Beschriebenen (angeblich) nachgingen. An Habseligkeiten wurden vorwiegend diejenigen in den Gaunerlisten angeführt, die die Behörden deshalb interessierten, weil sie potenziell für Straftaten verwendet werden konnten. Dazu zählten etwa Feuerwaffen, Degen oder Brecheisen. Andere Gegenstände dienten dem Broterwerb, wie Musikinstrumente, „Caloschen“ und Pferde, Kollektenbücher, Taschen und Körbe sowie zum Verkauf bestimmte Kleinwaren. Regelmäßig kehrten Angaben über gefälschte Ausweise oder Bettelbriefe wieder, die Betrug und eine beabsichtigte Verschleierung der Identität verdeutlichten. 419 Ein Pole wurde bezichtigt, zu diesem Zweck „einen ganzen Sack voll Petschaffte“, also Siegelstempel mit sich zu führen. 420 Wenn jemand das Schreiben beherrschte, war es erwähnenswert, weil er Papiere und Zeugnisse fälschen konnte. Über den Hällischen Schubert heißt es somit, er „gäbe sich vor einen Preußischen und Sächsischen Unter-Officier aus, mache sich die Pässe und Abschiede selbsten, [...] schreibe eine sehr gute Hand, führe auch falsche Siegel und Stempel bey sich“ 421 . Catharina Dorn wies zudem auf andere Formen des betrügerischen Bettels hin, wenn sie erzählte, dass die „Mäßbacher Liese“ auf Seife kaue, um mit dem 418 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 80r-80v. 419 Mindestens zehnmal wird erwähnt, dass jemand falsche Papiere bei sich habe, zusätzlich werden sechs weitere explizit als Passfälscher hervorgehoben. 420 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 63v. 421 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 26v. <?page no="100"?> 101 Schaum Krankheit, also „das böse Wesen“ zu simulieren. 422 Die gesamten ‚Berufsangaben’ der Vaganten wurden in größter Regelmäßigkeit relativiert und mit Formulierungen wie „giebet vor, ein [...] zu sein“ in den Bereich der Betrugsstrategien oder zumindest der Selbstbezeichnungen verlagert. Die benannten Professionen stellten dabei eine Vielzahl zeitgenössischer Tätigkeiten dar, unter denen (ehemalige) Soldaten und Deserteure mit ihren Frauen und Familien den größten Anteil ausmachten. Daneben waren Spielleute, Kleinhändler und Handwerker besonders stark vertreten. 423 Nicht nur Vaganten, die sich angeblich als Dokumentenfälscher betätigten, welche Dorn mit dem rotwelschen „Maloge“ bezeichnete, 424 ordneten die Gaunerlisten in ihrer Bedeutung für eine Bande ein. Auch Wirtsleute, die Kriminelle beherbergten und versorgten, Hehler, die gestohlene Waren abnahmen, sowie Werkzeugmacher, die Hilfsmittel für Einbrüche herstellten, wurden benannt. Es war allerdings nur ein kleiner Prozentsatz der insgesamt Aufgenommenen, der in eine potenzielle Funktion für ein kriminelles Netzwerk gerückt wurde. 425 Der Großteil blieb gleichzeitig die nicht näher klassifizierte ‚Rekrutierungsbasis’, wobei in den meisten Fällen offen gelassen wurde, wie und anhand welcher konkreter Anhaltspunkte die Menschen in den Status von Bandenmitgliedern oder „Proschern“ geraten waren. Konkrete Tatvorwürfe, die man den Gesuchten zuschreiben konnte, nahmen in den Personenbeschreibungen eine klare Ausnahmestellung ein. Die Informanten nannten nur zu wenigen Delikten präzise Details wie die betroffenen Opfer, die ausführenden Täter oder die entwendeten Gegenstände, etwa 1687 im Fall des Eislebischen Schneiders, der „nebst dem Lieutnant von Schandersleben 2200 thlr dem Apotheker zu Heckstedt [...] aus der Kirchen daselbst stehlen helffen, und deren 700 thlr bekommen.“ 426 Dabei ist festzustellen, dass die zum einen explizit beschriebenen Verbrechen nicht zwingend in engerem Zusammenhang mit den zum anderen benannten „Hauptdieben“ 422 Ebd., fol. 32v. „Auf das böse Wesen betteln“ taucht in mindestens fünfzehn Tätigkeitsbeschreibungen auf und wird zweimal ergänzt mit „welches sie auch würcklich habe“, ebd., fol. 34v. 423 Fritz untergliedert die in Gaunerlisten genannten Tätigkeiten in drei Hauptbereiche. Er kommt dabei zum Schluss, dass die meisten Vaganten entweder keine Profession besaßen oder dem vielgestaltigen tertiären Sektor angehörten, und dieser Anteil deutlich größer war als derjenige aus der produzierenden und der verarbeitenden Berufssparte, F RITZ , Rotte, S. 249-272. Zur Berufsstruktur unter Vagierenden vgl. außerdem K ÜTHER , Menschen, S. 35-76. 424 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 6r-6v. 425 Bei Hempel (165 Personen) wurden zwölf Nachtdiebe gelistet, insgesamt sechs Erzverbrecher und keine sonstigen „Bandenfunktionen“. In der Liste von Stieren und anderen (126) wurden ebenfalls sechs „Erz-“ oder besonders arge Diebe aufgeführt und daneben 22 „Parthierer“ oder Helfer. Die ‚Dornin’ (241) benannte 27 Erz- oder Hauptdiebe und außerdem 130 als „Proscher“, also als nächtliche Einbrecher, die somit potenziell in die Gruppe der Bandenmitglieder gehörten, ohne dass sich hier genauere Kategorien fänden. 426 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 7r. <?page no="101"?> 102 standen. 427 Es drängt sich eher der Eindruck auf, dass dies die einzigen Verbrechen waren, von denen die Verhörten de facto berichten konnten. Immerhin belegen diese Hinweise auf kriminelle Taten, dass unter den zahlreichen beschriebenen Personen auch Diebe und Räuber waren. Dass diese aber mit den anderen Aufgelisteten Banden gebildet hätten, ist keineswegs erwiesen. Auch hinsichtlich 18 näherer Tatbeschreibungen von 1685 zeigt sich zwar, dass in dieser Gaunerliste durchaus Teilnehmer von gemeinschaftlichen Diebstählen zu vermuten waren. Mehrfach wird dabei etwa ein Einbruch in Frohburg erwähnt. 428 Ein organisiertes gemeinsames Vorgehen ist allerdings nicht nachweisbar. Am ausführlichsten wurden bei der ‚Dornin’ die vier Diebstähle des Barthel Mathes dargestellt, von denen einer mit zwei Komplizen zusammen begangen und insgesamt über 155 Taler und verschiedene Kleiderstücke erbeutet worden seien. In ihrer Detailgenauigkeit bildet diese Erläuterung allerdings die absolute Ausnahme, denn die meisten Äußerungen, die Beschriebene in die Nähe von Delinquenz rückten, blieben wesentlich allgemeiner und trafen, ohne genaue Fakten zu liefern, Aussagen wie „giengen auf die Jahrmärckte, und stählen, stelleten sich aber insgesamt als wie die heiligen Engel“ 429 und beschränkten sich somit auf die Zuschreibung von Kleinkriminalität. Am Beispiel der formalen und inhaltlichen Bestandteile von Gaunerlisten ist dargelegt worden, dass in den Kategorien der Spitzbuben und der Diebes- oder Räuberbande große semantische Ungenauigkeiten bestanden, die den Vergleichsmaßstäben aus unserem heutigen Rechtsverständnis nicht standhalten können. 430 Gewisse kriminelle Aktivitäten wurden manchen Personen zwar beigemessen, was sich in deren Kategorisierungen widerspiegelt. Doch die Anwendung dieser Terminologie entzog sich präziser Definitionen, sondern umfasste eine heterogene Menge unterschiedlicher Erscheinungstypen. Dass jemand das Label „Erzdieb“ in den Verwaltungsquellen erhalten hatte, kann entweder auf eine besondere charakterliche Prägung hindeuten, die das Milieu, in das sein Lebensraum eingebettet war, ihm in Form eines Spitznamens oder einer Personenbeschreibung zuwies, oder auch auf einzelne Taten, derer er verdächtig war. Für den Großteil der beschriebenen Menschen unterbleibt eine klassifizierbare, erklärende Zuweisung allerdings. Es handelte sich bei ihnen keineswegs zwingend um gesuchte Delinquenten, sondern bestenfalls um gelegentlich kriminelle Vaganten. Die Label Erzdieb, Spitzbube und Bande hatten ihren Nutzen in ‚Spezifikationen’ vorwiegend darin, die landesweite Verfolgung von zahlreichen Menschen 427 In der Liste von 1685 waren es weder der Holländische Peter, „das Haupt aller Spitzbuben“, noch der „Diebsvater“ Heinrich Vogt, in deren Personenbeschreibungen die strafrechtlich relevanten Umstände explizit gemacht worden wären. 428 In fünf verschiedenen Fällen wurden Aufgaben formuliert, die eine Partizipation beim Frohburger Diebstahl beschreiben. 429 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 9r-9v. 430 So auch bei B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 74. <?page no="102"?> 103 zu legalisieren, die sich vorrangig durch ihre Nichtsesshaftigkeit als deviant zeigten. Es waren - zuzusammengefasst - Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche, die vorrangig aus Kursachsen und den angrenzenden Gebieten, manchmal auch aus entfernteren Ländern stammten. Sie kannten sich anscheinend von ihren Reisen und Zusammentreffen in Wirtshäusern oder auf Märkten und bezeichneten sich gegenseitig mit vielsagenden Spitznamen, welche im Rückblick dabei helfen können, ihren zwischenmenschlichen Umgang miteinander zu charakterisieren. Sie wiesen ganz unterschiedliche äußere Erscheinungsbilder auf, die von ihrem Lebensalltag in Wanderschaft und von ihrem Broterwerb gekennzeichnet waren. Zudem gingen sie den unterschiedlichsten Berufen und Tätigkeiten nach, worunter auch kriminelle Aktivitäten zu finden waren. Zumindest wurden einzelne Eigentumsdelikte in den Personenbeschreibungen genannt oder frühere Strafen angedeutet, deren Verifizierung an anderer Stelle vorgenommen werden müsste. Diesen Ergebnissen entsprechend kann aber nicht resümiert werden, dass die Mehrzahl der Gaunerlisten komplette, organisierte räuberische Banden abbildete, auch wenn sie dies augenscheinlich beabsichtigte. 3.4 Wege in den Strafprozess Nachdem bisher die Entstehung und Inhalte der normativen Auflagen sowie die darauf gegründeten Verfolgungsmaßnahmen gegen verdächtig scheinende Bevölkerungsgruppen im Vordergrund standen, thematisiert das folgende Kapitel die Mechanismen, wie die vermeintlichen Räuber letztlich vor Gericht gelangten. Vor allem werden dazu die Praktiken und Auswirkungen der Verdachtsgenese in den Blick genommen. Dabei werden der Verlauf der Untersuchung und der Strafprozessbeginn nachgezeichnet. Die Nennungen in Gaunerlisten, wie sie im vorangehenden Teil analysiert wurden, sind in erster Linie als Versuche zu verstehen, die Betreffenden der Zugehörigkeit zu einer Räuberbande oder zur devianten Unterschicht zu bezichtigen. Immer wieder endete auch der Weg eines dieser besagten Vaganten vor Gericht und daraufhin mit einem Landesverweis, bei Festungsbauarbeit oder im Zuchthaus. Die Genese des Verdachts der Beteiligung an einer Räuberbande erschöpfte sich aber nicht in der behördlichen Verbreitung und Anwendung von Gaunerlisten. Zwar bildeten die Maßnahmen zur Kontrolle und ‚Ausmerzung’ der Nichtsesshaften wie die Visitationen oder spontane Aufgriffe von Personen, die sich auffällig verhalten hatten oder keine Pässe bei sich führten, auch in einigen komplexeren Fällen den Anlass einer Untersuchung, aus der sich dann ein Straf- <?page no="103"?> 104 prozess gegen eine ganze Räuberbanden entwickeln konnte. 431 Ebenso oft aber verliefen solche Verdachtsmomente gegen Vaganten im Sande, wie bei dem Strumpfstricker Johann Finckel und seiner Ehefrau, zusammen mit ihren Müttern und vier Kindern, denen attestiert wurde, dass sie „keinesweges für verdächtige Leute“ zu halten wären. 432 Häufiger waren die langwierigen Prozesse Folge einer Verhaftung bei oder unmittelbar nach einer Tat, nach der die Verhafteten bestimmte weitere Personen gezielt bezichtigten. 433 Es reichte für den Beginn eines strafrechtlichen Inquisitionsverfahrens somit nicht aus, dass jemand in einer Gaunerliste, die sich von diesen zielgerichteten Aussagen deutlich unterschied, genannt worden war. Der Einfluss dieser Fahndungsmittel bei der Räuberbandenverfolgung ist demnach nicht sehr hoch einzuschätzen. Dennoch unterstützte die Listung zumindest einen Kriminalitätsverdacht, dem in unterschiedlicher Art und Intensität nachgegangen wurde, wenn weitere Hinweise gegen eine Zielperson vorlagen oder gesammelt werden konnten. 434 Eine Person wurde erst dann im Aktenschriftgut eines Gerichts mit dem sprachlichen Etikett des Bandenräubers oder des „kriminellen Vaganten“ 435 versehen, wenn der untersuchende Beamte über nähere Indizien und belastende Zeugenaussagen zu jemandem verfügte, die in seinen Augen die Anklage wegen Beteiligung an Diebstählen, Raubzügen oder wegen des Umgangs mit ‚Diebsgesellen’ rechtfertigte. Neben den mitgeführten Ausweispapieren und Gegenständen konnten außerdem Aspekte wie der äußere Anschein und das Verhalten bei Arretierung sowie in Haft mit ausschlaggebend sein. So waren bei einigen „Landstreichern“ 1789 beispielsweise „keine Anzeichen vorhanden, daß sie zu einer Diebs- und Räuber-Bande gehörten, vielmehr aus deren Gebrechlichkeit das Gegentheil zu muthmasen sey“ 436 . Die Körper von Verdächtigen wurden auch auf Überbleibsel zuvor erlittener Strafen oder Folterungen hin untersucht. Hatte ein Aufgegriffener etwa ein Brandzeichen oder war er an anderem Ort bereits aktenkundig geworden, so rückte er genauer in den Blick der Ermitt- 431 So etwa bei Johann Georg Schubarth, Johann Gottlob Müller und Andreas Horn, die Waffen bei sich trugen, als sie auf der Gasse angetroffen wurden, welche sie daraufhin eilig von sich warfen, HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 307r-307v. 432 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 219v. 433 Exemplarisch kam die Untersuchung gegen die Bande um Johann Gottlob Geßel dadurch zu Stande, dass man den Komplizen Johann Gottlob Heinrich auf frischer Tat bei einem nächtlichen Einbruch ertappte, HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 14r-14v. 434 Als Beispiel dafür kann Johann Hermann Hahn gelten, der als besonders verdächtig galt, weil mehrere Familienmitglieder in einer Gaunerliste genannt worden waren, vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII, fol. 115r-125r. 435 Vgl. H ÄRTER , Verhältnis, S. 454. Härter setzt die Etiketten ‚krimineller Vagabund’ und ‚Räuber- und Diebsbande’ miteinander gleich und sieht diese durch nur schwammige Kriterien von der Mehrzahl der Umherziehenden, die nicht mit Eigentumsdelinquenz in Verbindung gebracht werden konnten, abgegrenzt. 436 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 224v. <?page no="104"?> 105 ler. 437 Insofern wurde in der Verfahrenspraxis durchaus eine - wenn auch nicht trennscharfe - Unterscheidungslinie gezogen zwischen dem ‚unnützen’ und ‚herrenlosen Gesindel’ einerseits und den Vorstellungen von sicherheitsbedrohenden, gerichtsnotorischen, gefährlichen und professionellen Räuberbanden andererseits. Die Untersuchung oder Generalinquisition, in der vor allem Zeugenverhöre und Behördenkorrespondenzen geführt wurden, um möglichst viele Aspekte zur Bestätigung eines Verdachts und des Tatnachweises zu sammeln, diente in erster Linie der Bestimmung des ‚corpus delicti’ und der Umstände des jeweiligen Eigentumsdelikts. 438 Auch mit dem oder den Verdächtigen wurden in dieser ersten Phase des Inquisitionsverfahrens summarische Verhöre geführt. 439 Dieser Prozessabschnitt dauerte im Durchschnitt einige Wochen bis Monate, konnte aber durchaus mehr Zeit in Anspruch nehmen, abhängig von der Zahl der Delikte, der Verdächtigen oder der Ämter, auf die sich das Verfahren erstreckte. Während der Untersuchung wurde ein Betroffener zumeist als ‚Inculpat’ bezeichnet, wogegen die Gerichtskorrespondenz im weiteren Prozess dann vom ‚Inquisiten’ sprach. 440 Das belegt exemplarisch die Inquisitionsakte des Johann Wilhelm Leonhardt. 441 Daneben drückte sich hier wie auch in verschiedenen weiteren Fällen schon im Verlauf der frühen Phase des Strafverfahrens eine etikettierende Sichtweise auf den Verdächtigen aus, indem in den Amtsberichten zu seiner Bezeichnung der angebliche Vulgoname „Schneider-Leonhardt“ verwendet wurde, obwohl der Nachweis darüber (noch) nicht erbracht worden war. 442 Obgleich das Geständnis und das Ergebnis der Spezialinquisition erst den eindeutigen Beweis erbringen sollte, kann schon am Begriffs- und Namensgebrauch in der Untersuchung eine Beurteilung durch die Beamten ausgemacht werden. Bei mindestens 30 meisten der über 43 in Kursachsen aktenkundig gewordenen Räuberbanden mündete die Untersuchung in die Spezialinquisition. Diese wurde begonnen, wenn sich über die Beschuldigung eines Belastungszeugen oder die einzelne Tatbeschreibung hinaus verdachtsstärkende Aspekte gegen eine 437 Vgl. den Inquisiten Johann Gustav Freudenreich, dem ein lateinisches R auf der Schulter eingebrannt war, und der in der Vernehmung dazu aussagte, mit diesem Brandmal geboren worden zu sein, HStA Dresden, 10079, Loc. 30392 I, unfoliiert. 438 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 468-475; W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 38; K ABUS , Inquisitionsprozeß, S. 45-46. Allgemein zum Inquisitionsverfahren vgl. u.a.I GNOR , Geschichte, S. 11-138. 439 Spätestens Johann Samuel Friedrich von Boehmer hob die strenge Trennung zwischen General- und Spezialinquisition auf, was auch zur Folge hatte, dass während der Generalinquisition Verdächtige schon festgenommen und verhört werden konnten, vgl. D ORN , Entwicklung, S. 179. 440 In den Gerichtsakten der ersten Hälfte des Jahrhunderts wird dieser Sprachgebrauch allerdings konsequenter gehandhabt als in den Prozessen zum Ende hin, vgl. etwa HStA Dresden, 10079, Loc. 12347. 441 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944. 442 Ebd., fol. 10r. <?page no="105"?> 106 Person ergeben hatten. 443 Zu diesem Zweck wurden gelegentlich eigens Verzeichnisse publiziert, die dabei helfen sollten, alle Verbrechen eines Täters in Erfahrung zu bringen und zu ermitteln, ob es sich bei den Männern um Wiederholungstäter handelte. In den „Leipziger Zeitungen“ 444 vom 9. November 1750 wurde eine Liste von sieben beim Amt Freiburg inhaftierten „verdächtigen Kerl“ mit Beschreibungen ihres Äußeren abgedruckt und diese zusätzlich an weitere Ämter verschickt, mit der Bitte um Benachrichtigung, falls jemand von diesen schon einmal im Kurfürstentum auffällig oder aktenkundig geworden sei. 445 In ihren Inhalten ähnelten diese Beschreibungen von Aufgegriffenen den Gaunerlisten, die aber eher als Fahndungs- und Identifizierungshilfsmittel zum Einsatz kamen. Im Verlauf der Spezialinquisition wurden Verhöre unter Folter oder in Konfrontation mit Zeugen und Mitverdächtigen geführt, da bis 1770 im kursächsischen Inquisitionsprozess das Geständnis als Grundlage eines Schuldnachweises die höchste Priorität hatte. 446 Die Inquisiten befanden sich für die Dauer des Prozesses am Amtssitz in Haft. 447 Zwei Aspekte in Bezug auf ihre Verwahrung sind hier von Interesse: Zum einen waren die Lebensverhältnisse an den Haftorten meist schlecht. Obwohl sich der Freiheitsentzug in Kursachsen erst zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Sanktion entwickelte, 448 sollte die längere Aufbewahrung im Stockhaus, Turm oder Kerker während des Prozesses zumindest als eine Form der Leibesstrafe angesehen werden. Die erbärmlichen Zustände in der Untersuchungshaft waren Gegenstand zahlreicher Gnadenbriefe mit Bitte um Verbesserung der materiellen und medizinischen Versorgung des Inquisiten. Nicht selten wurde daraufhin im Urteil ein bereits ausgestandener langer und harter Haftaufenthalt als strafmildernder Aspekt berücksichtigt und angerechnet. 449 Allerdings ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Gefängnisse je nach Ortslage recht unterschiedlich ausgestattet sein konnten. 450 443 H ÄRTER , Strafverfahren, S. 476-478. 444 Das periodische Druckwerk war aus den seit 1711 erscheinenden „Leipziger Post-Zeitungen“ hervorgegangen und erschien zwischen 1734 und 1809 fünf Mal wöchentlich unter dem Titel „Leipziger Zeitungen“. 445 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 148r. Der Amtmann aus Zwickau berichtet daraufhin in einem Schreiben am 19. November 1750 über zwei der beschriebenen Männer bzw. deren Brüder und mit ihnen in Zwickau durchgeführte Untersuchungen. Er gibt dabei gleichzeitig zu bedenken, dass an der Glaubwürdigkeit der von den Inquisiten selbst angegebenen Namen Zweifel angebracht seien. 446 Zur Folter im Inquisitionsprozess vgl. u.a. K ABUS , Inquisitionsprozeß, S. 38-43. Am Beispiel der Hexenprozesse vgl. W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 44-52. 447 Vgl. C ARPZOV , Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtsprozess, Tit. IV, S. 61. Vgl. dazu L UDWIG , gefengnis. 448 Vgl. B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 523-525; K LEINHEYER , Freiheitsstrafen. 449 Vgl. K LEINHEYER , Untersuchungsrecht; D ERS ., Freiheitsstrafen, S. 125. 450 Vgl. auch S CHNABEL -S CHÜLE , Anprangern, S. 136. <?page no="106"?> 107 Zum anderen boten die Verwahrungsstätten den Inquisiten in recht hoher Frequenz Gelegenheiten zur Flucht. Das belegen vielzählige Berichte über begonnene oder geglückte Versuche, abgebrochene Untersuchungsakten mit einem Hinweis darauf, dass der betreffende Inquisit noch vor seiner Verurteilung entkommen war, oder Ermittlungen gegen Gerichtsdiener und Wachleute, die den Delinquenten angeblich zur Flucht verholfen hatten. Häftlinge bahnten sich auch mit Gewalt ihren Weg in die Freiheit, so berichteten die „Budissinischen Nachrichten“ am 15. Februar 1783 von der Flucht des Räubers Frenzel aus der Bautzener Fronfeste auf der Ortenburg, wobei der Schlossfron Wagner ermordet worden war. 451 Einzeln oder in kleinen spontanen Gruppen fanden ‚Inhaftaten’ so immer wieder Fluchtmöglichkeiten aus den Gefängnissen oder wurden in wenigen Fällen unter Mithilfe noch freier Angehöriger ihres Umfeldes aus der Haft befreit. Eine versuchte oder gelungene Flucht aus einer Haftanstalt erhärtete gleichzeitig natürlich den Kriminalitätsverdacht gegen eine Person. Daher mussten die aus einer Strafinstitution geflohenen Täter im Lande verfolgt werden: Einzelne Personenbeschreibungen aus dem Kontext eines Ausbruchs aus der Haft, einem Zuchthaus oder einer Arbeitsinstitution sind im Vergleich zu Gaunerlisten eher als Steckbrieflisten zu verstehen, bestand hier doch die vorrangige Zielsetzung in der direkten Nachverfolgung bereits Aktenkundiger. Auch der Ausdrucksweise über diese Inculpaten und Inquisiten können Informationen zur Entwicklung des Bildes vom Räuber entnommen werden. Anfang des Jahres 1746 wurden die kursächsischen Amtmänner darüber in Kenntnis gesetzt, dass „unlängst“ 96 Männer aus dem Festungsbau in Dresden entkommen waren - einer Institution, die mehr als Sanktion denn als ‚Untersuchungshaft’ genutzt wurde. Beigefügt war eine Auflistung, die es bei Weiterleitung an alle dazugehörigen Schriftsassen ermöglichen sollte, „daß sie bey sich und in ihren Gerichten zur Arretirung solcher Personen gleichergestalt unverzügliche Anstalt treffen“. 452 Neben Name, Alter und Geburtsort eines jeden Gesuchten wurden darin das ihm zur Last gelegte Verbrechen und der Ausgangspunkt seiner Festungsbaustrafe expliziert, d.h. seit wann, für welche Dauer und von wo er in die Residenzstadt überliefert worden war. Ohne eine genauere Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes ist der praktische Nutzen dieser Liste für die Nachverfolgung jedoch als fraglich einzustufen. Enthalten waren darin diverse Delikte, wegen derer die Betroffenen zur Zwangsarbeit gebracht worden waren. Es zeigt sich jedoch, dass nur sieben der 96 gelisteten Gefangenen wegen eines anderen Vergehens als Diebstahl verurteilt oder verdächtig waren. Weit über die Hälfte der Männer wurde in schlichter Beschreibung undifferenziert als Dieb eingestuft, wobei aus Formulierungen wie „wegen angeschuldigter Deuben“ hervorgeht, dass die Festungsbauarbeit offen- 451 Vgl. M EFFERT , Geschichte, S. 27. 452 Stadtarchiv Chemnitz, III Stadtverwaltungssachen VIIb 54, Bd. 1, unfoliiert. <?page no="107"?> 108 bar auch als Verdachtsstrafe eingesetzt worden war. 453 Zusätzlich waren einige Personen, denen qualifizierter Diebstahl und die Unterstützung von Eigentumsdelinquenten als Hehler oder Gastwirt zur Last gelegt wurden, unter den Festungsbaugefangenen zu finden. Das Spektrum der Delikte reichte bis hin zu einem „berüchtigte[n] Räuber, Mörder und Kirchen-Dieb“ und einem „Ertz- Dieb von der Käsebierischen Bande“, selbst wenn für Verbrecher dieser Kategorien eigentlich die Todesstrafe vorgesehen war. Diese Personenbeschreibungen können zum einen dahingehend gelesen werden, dass die so klassifizierten Männer sich deshalb im Festungsbau befanden, weil sie begnadigt oder der schwerwiegenden Verbrechen sogar freigesprochen worden waren. Ohne eine hinreichende Begründung wäre die sächsische Rechtsprechung nicht von der ordentlichen Bestrafung eines erwiesenen Räubers abgewichen. 454 Ein Beispiel hierfür ist Samuel Kegel, ein Bandendieb, für den 1739 als Denunziant seiner Mittäter die Pardonregel gegriffen hatte und der in der vorliegenden Quelle als entflohener Häftling wieder auftaucht. 455 Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass sich hinter den nominellen Kapitalverbrechern, die „lediglich“ in den Festungsbau gebracht worden waren, diejenigen verbargen, für deren Verurteilung man im Gerichtsverfahren keinen ‚völligen Beweis’ hatte erbringen können. Dies ist abzulesen an den mehrfach enthaltenen Angaben, dass jemand die Folter überstanden hatte. Zudem war für die meisten der Gefangenen keine präzise Strafdauer festgelegt worden, sondern in 47 Fällen „bis auf weitere Verordnung“ oder entsprechendes, was ebenfalls die Vermutung bekräftigt, dass es sich dabei um außerordentliche Strafen als ‚Verlegenheitslösung’ handelte. 456 Obwohl demnach in vielen Fällen entweder der Schuldnachweis gefehlt hatte oder eine Gnadenregelung getroffen worden war, hielt die Verwaltung in ihren Auflistungen an einer Einordnung als berüchtigter Dieb, Straßenräuber oder Erzverbrecher fest. Für die Beamten als Adressaten wurde damit die Dringlichkeit der Nachverfolgung gerechtfertigt und kein Zweifel an der Angemessenheit der Strafe zugelassen. 453 In acht Fällen wird der Verdacht des Diebstahls angeführt. 454 Vgl. zum System von ordentlichen und außerordentlichen Strafen auch H ÄRTER , Sanktionen. 455 Kegel war zuvor aktenkundig geworden, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 30r-44v; UB Albertina, Ms 2476, Nr. 51. 456 Die unbestimmte Strafdauer, die in den Urteilen meist so formuliert war, dass der Betroffene so lange in den Festungsbau gebracht werden sollte, bis er von dort aus seine Unschuld bewiesen haben würde, lässt sich sprachlich klar von Strafen auf Lebenszeit unterscheiden. Von diesen finden sich in der vorliegenden Quelle 16 Beispiele. De facto hatten beide Varianten für den Bestraften die gleiche Konsequenz. In den übrigen Fällen war die Aufenthaltsdauer befristet und lag zwischen einem und sechs Jahren. <?page no="108"?> 109 4 Von Taten und Tätern Die in den Strafprozessen behandelten Taten und das Agieren der vermeintlichen Täter stehen nun im Fokus. Indem zunächst die für das Kurfürstentum überlieferten Verfahren gegen Räuberbanden vorgestellt und zeitlich sowie räumlich eingeordnet werden, lässt sich ein Gesamtbild der Problematik im Territorium zeichnen. Der Hauptteil des Kapitels ist den Handlungsträgern gewidmet und dabei den Struktur- und Wesensmerkmalen, die eine Bande konstituieren konnten. Da sowohl in den normativen Grundlagen als auch in den Regierungsanweisungen nicht explizit offen gelegt wird, anhand welcher Kriterien eine Bande zu definieren ist, musste eine andere Operationalisierung gefunden werden: Die Analyse verwendet daher für die Annäherung an die Bande das Modell der ‚sozialen Kleingruppe’ aus der Gruppensoziologie. Mit Hilfe des dort definierten Faktorenschemas werden diejenigen Aspekte verglichen, nach denen die Beamten in den gerichtlichen Untersuchungen eindringlich forschten und die somit aus deren Sicht eine Bande in Abgrenzung zum Einzeltäter ausmachten. 457 In welchen Erscheinungsformen die Banden auftraten, woher die Mitglieder in sozialer und geographischer Hinsicht stammten und an welchen Orten Kontakte zur nicht-devianten Bevölkerung stattfanden - die Antworten auf diese Fragen sollen dabei helfen, die Räuberbandenkriminalität in Kursachsen gesellschaftlich zu ‚verorten’. Darauf aufbauend dient die Darstellung der Delikte dazu, die Handlungsorte und Handlungsräume der Räuberbanden zu erarbeiten und zudem genauer zu beleuchten, wie die Kommunikation vor Gericht die kriminellen Vorgehensweisen wiedergab. Danach wird ein Blick auf bestimmte Handlungsorte gerichtet, wie Märkte und Wirtshäuser. Sie wirkten als ‚Schnittstellen’ besonderer Art, da sie neben der Möglichkeit des räumlichen Zusammentreffens auch zentrale Funktionen im alltäglichen und kriminellen Leben erfüllten. Die zusammengeführten Ergebnisse sollen Aufschluss darüber geben, ob und inwiefern bestimmte Aspekte für die ‚sächsischen Räuberbanden’ typisch sind. 4.1 Zeitliche und räumliche Schwerpunkte Aus der bisherigen Darstellung der ‚guten Policey’ im Kurfürstentum lässt sich die Vermutung ableiten, dass das Netz der obrigkeitlichen Verfolgung zunehmend enger und umfassender geknüpft wurde. Nun wird geprüft, welche gerichtlichen Untersuchungen gegen Räuberbanden geführt wurden, wie sich diese 457 Dass die Banden konstituierenden Faktoren der Gerichtskommunikation entnommen werden, muss nicht heißen, dass diese von der obrigkeitlichen Seite zugewiesen waren. Dies ist hingegen zu überprüfen. <?page no="109"?> 110 im 18. Jahrhundert verteilten und mit welchen Rahmenbedingungen diese in Zusammenhang gebracht werden können. Dabei wird danach gefragt, ob eine verstärkte Normsetzung der landesherrlichen Regierung eine erhöhte Prozessdichte ausgelöst hat. Eine positive Antwort spräche für ein hohes Maß an ‚Normdurchsetzung’ im Kurfürstentum zumindest in Bezug auf die Devianzbekämpfung und das territoriale Strafrecht. 458 Die topographische Verteilung kann unter anderem aufzeigen, ob Räuberbanden als ländliches Phänomen und als Symptom einer regionalen Wirtschafts- und Strukturschwäche gedeutet werden können, wie von Forschungsarbeiten erklärt wurde. 459 Es sind insgesamt über 40 Räuberbanden, die von 1685 bis 1803 im Territorium aktenkundig wurden [vgl. Tabelle 1]. Es folgt eine kurze chronologische Übersicht über die wichtigsten Verfahren, die im Kurfürstentum Sachsen wegen gemeinschaftlich begangener Diebstähle und im Zusammenhang mit einem Bandenvorwurf geführt wurden: Als früheste strafrechtliche Untersuchung gegen eine sächsische Räuberbande ist diejenige um Nickel List von 1698 bis 1699 zu nennen. Das Gerichtsverfahren gegen ihn und zwölf weitere Verdächtige und ihre auch in Sachsen begangenen Taten wurde zwar nicht im Kurfürstentum geführt, sondern vom lüneburgischen Kanzleigericht Celle. 460 Doch auch in Sachsen fanden dazugehörige Ermittlungen statt, beispielsweise gegen seine frühere Ehefrau in der Grafschaft Hartenstein 461 und gegen einen vermeintlichen Komplizen in Leipzig 462 . Im Jahr 1704 wurden Andreas Dechant, David Seyfert, Valentin Gläsel und Christian Fischer zum Tode verurteilt, weil sie zugegeben hatten, einer Diebesbande anzugehören. 463 Das Leipziger Stadtgericht begann gleichzeitig einen Prozess gegen sieben Personen wegen gemeinschaftlichen Kirchendiebstahls. 464 Wenige Jahre später standen zahlreiche mutmaßliche Teilnehmer der Räuberbande um Lips Tullian vor kursächsischen Gerichten. 465 Das umfassende, mehrjährige Justizverfahren über 136 einzelne Taten 466 der Gruppe und die Hinrichtung in Dresden wurde in unterschiedlichen Medienberichten aufbereitet und breit öffentlich wahrgenommen. 467 Schon 1718 rückte in Beyernaumburg eine 458 Vgl. unter anderem H ÄRTER , Intentionen. 459 Vgl. S CHUBERT , Räuber, S. 245 und L ANGE , Räuber, S. 155. 460 HStA Hannover, Hann. 70 Nr. 3548/ 1 bis HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. Der Beschreibung dieses Falles widmet sich die frühe Arbeit Dankers ausführlich, vgl. D ANKER , Räuberbanden. 461 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705 bis Nr. 1707. Zur verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Schönburgischen Herrschaften vgl. W ETZEL , Schönburgische Herrschaften. 462 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634. 463 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15. 464 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639. 465 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2. 466 Vgl. unter anderem D ANKER , Räuberbanden, S. 654-659. 467 HStA Dresden, 10024, Loc. 11398/ 1 bis HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 3. Vgl. außerdem HStA Dresden, 10047, Nr. 3942; HStA Dresden, 10047, Nr. 3944; HStA Dresden, 10047, Nr. <?page no="110"?> 111 Zeitraum Hauptverdächtige / Untersuchungsgegenstand (Gerichts-)Ort 1684-1687 Heinrich Vogt, Hans Melchior Stier und andere Leisnig 1687 Liste, von Andreas Hempel und Augustin Nolle Leisnig 1695 Raubüberfall durch 30 Männer Dippoldiswalde 1696-1699 Bande um Nickel List Hartenstein, Leipzig 1700-1704 Andreas Dechant, David Seyfert und andere Weida 1704-1711 Andreas Weßer und Johann Roßmann Leipzig 1712-1718 Bande um Lips Tullian Dresden 1718-1723 Beyernaumburgische Bande um Hans Georg Kupper Leipzig, Dresden 1733-1739 Samuel Kegel, Wilhelm Philipp und andere Radeburg 1738 Raubmord durch auch sächsische Räuber Kuttenberg (Tatort) 1741 Johann Christian Reichert und andere Dresden 1743-1753 Bande um Andreas Christian Käsebier Leipzig 1747 Liste, von Georg Sachße Zwickau 1748-1770 Johann Eylitz und Söhne, Christian Kühne Oschatz 1749 Johann Friedrich Heyne und andere Rittergut See 1749-1754 Bande um Obrist Christian von Staaten Hannover 1753-1754 Johann Gottfried Brauschler, Johann Andreas Bütter Hohnstädt, Grimma 1754 Liste von Johann August Fiedler Königsbrück 1754 Johann Georg Großmann, Johann Christian Eltzschner Meißen 1754 Böhmische Diebesbande an den Grenzen Meißen 1754-1768 Kuntzisch-Mehnertische Bande Leipzig 1754-1783 Oberlausitzer Bande um Hans Richter Merzdorf 1754-1783 Brüder Hans und Martin Mutscher und andere Bautzen 1754-1783 Johann Christoph Müller, Johann Christian Urban Görlitz 1755 Gottfried Killig, Christian Hühnel und andere Wolkenstein 1757-1765 Georg Grulizsch, Christian Paulisch und andere Döbeln, Leisnig 1758 Raubüberfälle durch uniformierte Bande Bautzen 1760-1784 Johann Christian Frenzel, Johann Gottlob Vogel Schmölln 1765-1767 Issac Jacob und Joel Marcus Dresden 1767-1792 Thüringische Diebesbande um Johann Peter Sturm Zangenberg 1767-1792 Sächsische Diebesbande, Liste von Catharina Dorn Zangenberg 1771-1776 Johann Andreas Hagenauer, Paul Burckhardt u.a. Weida 1771-1783 Johann Christoph Otto Pirna, Pfaffendorf 1774 Johann Georg Hauswald, Johann Gottlieb Jäger u.a. Dresden 1778 Bande um einen Sattler Luga (Tatort) 1791-1794 Christian Friedrich Harnisch und J. Gottlieb Frenzel Lichtenstein 1796 Geßelische Bande um Johann Gottlob Geßel Mühlberg 1798-1803 Bande um Johann Karraseck Bautzen 1800-1801 Diebesbande um Christian Brade Hannover 1800-1801 "Schöne" Bande um Carl Palm Meißen 1800-1801 Neuschloßrumburger Bande um Anton Palm Leutersdorf (Herkunft) 1803 Johann Christoph Näckgen, Gottlieb Rothen u.a. Neuhammer Tabelle 2: Untersuchungen gegen Räuberbanden im Kurfürstentum Sachsen 3946 und HStA Dresden, 10047, Nr. 3968. Zudem HStA Dresden, 10079, Loc. 30396 und HStA Dresden, 10079, Loc. 30398. Beispiele für Medienberichte sind R OSCHER , Lips-Tullians Bekäntniß; Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716 und Gespräche Erste Entrevue 1722. <?page no="111"?> 112 weitere Räuberbande ins Visier der Strafverfolgung. Beim Prozess in Leipzig legte der vermeintliche Anführer Hans Georg Kupper aber trotz mehrfacher Folterung kein Geständnis ab. 468 Unter Folter verhört wurde - wie zahlreiche Verdächtige in den Inquisitionsprozessen - im Jahr 1739 auch der 15-jährige Samuel Kegel, dessen Verfahren um die Beteiligung bei einer Bande mehrere Querverbindungen zu anderen Prozessen bot. 469 Zwei zueinander ähnlich scheinende Prozesse fanden außerdem 1741 vor dem Amtsgericht Dresden und 1769 im Amt Oschatz statt: In beiden Fällen standen Väter mit ihren Kindern oder Stiefkindern als gemeinschaftliche Täter vor Gericht. 470 1743 war angeblich der gefürchtete Räuber Andreas Christian Käsebier in Kursachsen unterwegs 471 . In den 1750er Jahren finden sich einzelne, nicht verifizierte Hinweise auf ortsfremde Banden. Dazu zählen die Gruppe um den norddeutschen Oberst Christian von Staaten 1754, im gleichen Jahr eine böhmische Diebesbande, die das Grenzgebiet bedrohe, bis hin zu einer 100köpfigen ‚Rotte’, die sich 1758 zwischen Senftenberg und Hoyerswerda aufgehalten haben soll. 472 Diese vermehrten Berichte und Belege für den Austausch benachbarter Administrationen sind zweifellos in Zusammenhang einer Schwerpunktphase der Bandenprozesse im Kurfürstentum in den 1750er Jahren zu stellen. Beispiele für ausführliche Untersuchungen gegen Räuberbanden gäbe es aus diesem Zeitraum viele, etwa diejenige beim Amtsgericht Grimma 473 oder eine weitere um Johann August Fiedler, der dank seiner Auskünfte über verdächtige Wirtshäuser begnadigt wurde. 474 Die in Meißen inhaftierten Teilnehmer einer zehnbis zwölfköpfigen „Rotte“ wurden hingegen öffentlich hingerichtet, einer davon durch das Rad. 475 Durch weitere Banden sahen sich 1755 die oberlausitzischen Behörden bedroht, wie etwa durch die Gruppe um die Brüder Mutscher oder durch die Komplizen Johann Christoph Müllers und seiner Mutter. 476 Größere Bekanntheit innerhalb dieser Konjunkturphase erlangte der vor dem Stadtgericht in Leipzig gegen die sieben Männer um Johann Gottfried Kuntze 468 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4 bis HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 6. Die Frage um die Angemessenheit der Folteranwendung verknüpft diesen Fall mit dem fragmentarisch überlieferten Beispiel der vier Räuber Nicol Gentzsch sowie Christoph, Andreas und Christian Richter, die 1720 am Amtsgericht Arnshaugk vernommen worden waren, vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 10119/ 7. 469 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 30r-39v; UB Albertina, Ms 2476, Nr. 51; Stadtarchiv Chemnitz, III VIIb 54, Bd. 1. 470 HStA Dresden, 10047, Nr. 3963; HStA Dresden, 10025, Loc. 5710, fol. 77r-99v. 471 HStA Dresden, 10079, Loc. 30783. 472 HStA Dresden, 10025, Loc. 5864. 473 Vgl. unter anderem Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1303. 474 HStA Dresden, 10025, Loc. 5632. 475 HStA Dresden, 10057, Nr. 459. 476 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813. <?page no="112"?> 113 von 1754 bis 1756 geführte Prozess. 477 Mediale Aufmerksamkeit erfuhr ebenfalls ein gleichzeitig im Amt Wolkenstein geführtes Strafverfahren, das sich gegen Gottfried Killig und seine Bande richtete. 478 Familiäre Verbindungen zeigen sich in mehreren späteren Fällen vor kursächsischen Gerichten. Dazu gehört etwa die Thüringische Bande, deren Mitglied Johann Peter Sturm mit seiner Tochter von 1767 bis 1771 vor Gericht stand. 479 Der Kern der zwischen 1760 und 1784 untersuchten „Frenzelschen Bande“ aus 17 Personen war ebenfalls eine Familie. 480 Sowohl 1776 als auch 1783 musste sich außerdem Johann Christoph Otto in zwei Prozessen vor oberlausitzischen Gerichten wegen Bandendiebstahls verantworten. 481 Am Ende des 18. Jahrhunderts fand der Prozess um den ‚Rädelsführer’ Johann Gottlob Geßel vor dem Amtsgericht Mühlberg im Jahre 1798 statt, der mit mindestens sieben weiteren Haupttätern eine Bande gebildet haben sollte. 482 Zeitlich überschnitt sich dieser mit weiteren Prozessen, in denen um kurfürstliche Gnade verhandelt wurde, wie mit dem der Neuschlossrumburger Bande oder der so genannten „schönen oder kochumer Bande“. 483 Der Prozess um den ‚Hauptmann’ Johann Karraseck, dem bereits zu Lebzeiten in der Oberlausitz ein hoher Bekanntheitsgrad beschieden war, beschreibt mit seinem Urteil zur Festungsbauhaft im Jahr 1803 das Ende des Untersuchungszeitraums. 484 In der zeitlichen Verteilung der Prozesse fällt ein deutlicher Schwerpunkt zwischen 1753 und 1755 auf. Mindestens acht ausführliche und teilweise mehrjährige Kriminalverfahren wurden in dieser Phase im Kurfürstentum Sachsen begonnen. Diese kurze ‚Konjunktur’ in der Mitte des Jahrhunderts ist damit zu erklären, dass die Kommissionen in Meißen, Senftenberg und Leipzig im Sinne ihrer Einrichtung Früchte trugen. Alle betreffenden Vorgänge stammen aus der Oberlausitz und der Messestadt oder stehen mit den Kommissionstätigkeiten in engem Zusammenhang. So werden beispielsweise die Untersuchungen vor dem Amtsgericht in Wolkenstein unter anderem den Ambitionen des Senftenbergischen Amtsverwesers und Kammerkommissars Friedrich Benjamin Zahn zugerechnet. 485 Der Eifer von Beamten, die Schwerhoff als „moralische Unterneh- 477 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VII; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X und Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723. 478 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640. 479 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674; HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II. 480 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803; Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139. 481 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711; Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 496, fol. 721r-728r; Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 497, fol. 31r-40r. 482 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347. 483 HStA Dresden, 10079, Loc. 30583. 484 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 4 bis Nr. 7; Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523; HStA Dresden, 10025, Loc. 6059; HStA Dresden, 10047, Nr. 3930. Vgl. dazu auch G ERSTEN- MAYER / K ÄSTNER , Wege. 485 Ruhland beschreibt diesen Fall in der Anthologie K URA , Mordbrenner, S. 82-100. <?page no="113"?> 114 mer“ bezeichnet, wenn sie sich der Verbrecherjagd in besonderer Weise verschrieben hatten, konnte somit für die Konstruktion einer Bande ausschlaggebend sein. 486 In dieser Phase mündeten vergleichsweise viele Ermittlungen gegen Vaganten und Verdächtige, die bei Visitationen aufgegriffen worden waren, in eine Bandenuntersuchung. Gleichwohl stellen die Räuberbanden gemessen an der Gesamtheit der Eigentumsdelinquenz nur einen kleinen Anteil dar. 487 Die Tätigkeit der Kommission überschnitt sich zudem zeitlich mit dem Mandat im Dezember 1753. Den Vorgaben der kurfürstlichen Norm zum konsequenten und harten Durchgreifen gegen störende Subjekte wurde durch die von der Regierung eingesetzten und kontrollierten Kommissionen in diesen Jahren besonderer Nachdruck verliehen. Neben gewissen Ballungen von Prozessen sind auch deutliche Lücken im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu erkennen. In Zeiten des Siebenjährigen Krieges, der im Kurfürstentum verheerende Auswirkungen hatte, machte sich eine Abnahme der justiziellen Anstrengungen gegen Banden bemerkbar. Die kursächsische Administration richtete ihr Interesse weniger auf innere Sicherheitsbedrohungen, da sie dazu kriegsbedingt kaum Ressourcen hatte. Einer der wenigen dokumentierten Hinweise auf Aktivitäten im betreffenden Zeitraum zielte bezeichnenderweise auf eine teilweise als kaiserliche Truppen und preußische Husaren gekleidete Bande im Dorf Geierswalde. 488 Kriegsbedingte Verbrechen und weitere Vergehen durch Soldaten fielen unter die Militärjustiz und werden daher hier nicht weiter behandelt. 489 Mit dem Auftreten einer weiteren gesellschaftlich-strukturellen Ausnahmesituation kann begründet werden, dass 1771 und in den Folgejahren kaum ein Strafverfahren gegen Diebesbanden in die Wege geleitet wurde: Die Bekämpfung der großen Hungerkrise 490 schien die personellen und fiskalischen Ressourcen der kursächsischen Innenpolitik völlig ausgeschöpft zu haben, sodass die Bekämpfung der Eigentumsdelinquenz in dieser Phase zweitrangig war. 491 Auch schon für die 1720er Jahre ergaben sich kaum Indizien für Maßnahmen gegen Räuberbanden. Diese Lücke kann eben- 486 S CHWERHOFF , Einführung, S. 111. Es muss quellenbedingt allerdings unbeantwortet bleiben, ob es auch in Sachsen so zentral wirkende Personen unter den Beamten gab, wie es mit Georg Jakob Schäffer für Südwestdeutschland beschrieben wird, vgl. T EUFEL , Geschichte und B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 84-111. 487 Vgl. die Häufigkeit bezüglich anderer Bezugsräume bei S CHNABEL -S CHÜLE , Überwachen, S. 273, E IBACH , Verhöre, S. 312-313 und S CHEUTZ , Galgenvögel, S. 334. Vgl. auch E IBACH , Recht, S. 111. 488 HStA Dresden, 10025, Loc. 5864. 489 Vgl. K ROLL , Soldaten, hier vor allem S. 307-330. 490 Zur Auswirkung der Hungersnot 1771/ 1772 auf die Bevölkerungsentwicklung vgl. S CHIRMER , Bevölkerungsgang, S. 43-45. 491 Mit der Hungersnot als struktureller Ursache begründet beispielsweise der als Einzeltäter vor dem Amtsgericht in Lauterstein stehende Tagelöhner Joseph Ihlen mehrere Straßenüberfälle, vgl. Staatsarchiv Chemnitz, 30012, Nr. 139. <?page no="114"?> 115 falls mit einer Hungersnot erklärt werden, die 1719 und 1720 vor allem das Erzgebirge und den Getreidehandelsplatz Chemnitz betraf. 492 An welchem Ort und an welchem Gerichtssitz ein Prozess geführt wurde, orientierte sich an der allgemeinen im Strafrecht gültigen Regelung des Gerichtsstands und war daher dort möglich, wo der Verdächtige ansässig war (forum domicilii), wo entscheidende Taten begangen worden waren (forum delicti commissi) oder dort, wo man die Täter aufgegriffen hatte (forum deprehensionis). 493 Diese drei Alternativen für die Wahl des Prozessorts finden sich auch in Bezug auf die Bandenverfahren. Die geographische Verortung der Prozesse gegen Räuberbanden zeigt eine relativ gleichmäßige Streuung über das kursächsische Herrschaftsgebiet. Eine Tendenz zeichnet sich insofern ab, als die Mehrheit der strafrechtlichen Verfahren in der Nähe der West-Ost-Achse durch Sachsen angesiedelt waren, also an der durch Leipzig und Dresden und über diese beiden Punkte hinaus verlaufenden Handels- und Reiseroute. 494 In der geographischen Verteilung bildeten sich somit anscheinend die besseren Aussichten, die Hauptstraßen für kriminelle Aktivitäten eröffneten, ab. Die Delikte erstreckten sich sowohl auf ländliche Gebiete als auch auf Städte und ihre Umkreise. Eine Ballung in stärker agrarisch geprägten Regionen lässt sich nicht ausmachen, stattdessen sind dünner besiedelte bergige Landstriche sogar vergleichsweise ‚unterrepräsentiert’: Der Süden des Kurfürstentums erscheint insgesamt etwas schwächer vertreten, denn im Erzgebirgischen und Vogtländischen Kreis sind nur wenige Strafverfahren nachgewiesen. 495 Die nähere Betrachtung weiterer Quellen belegt jedoch, dass Räuberbanden auch in diesem ländlich geprägten südlichen Teil Sachsens Delikte verübten. 496 Keine Region des Kurfürstentums blieb also von dieser Kriminalität gänzlich verschont. So kann eine Anhäufung von Prozessen an bestimmten Gerichtsorten nicht hinreichend damit erklärt werden, dass manche Regionen stärker von Bandendelikten betroffen gewesen wären als andere. Vielmehr weisen Ballungsgebiete darauf hin, dass einige Gerichtsherren in der strafrechtlichen Verfolgung von Räuberbanden aktiver waren 492 Bräuer liefert Beispiele dafür, wie diese Hungersnot in die Selbstdarstellung von Armen vor Gericht einging, vgl. B RÄUER , Mentalität, S. 240-249. 493 Carpzov führte auf, dass ein Prozess dort geführt werden solle, 1. wo ein Inquisit ansässig gewesen, 2. wo die Tat begangen oder 3. wo der Inquisit verhaftet worden war, vgl. C ARPZOV , Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtsprozess, S. 24. Siehe außerdem den Art. Gerichtsstand. In: Meyers Konversations-Lexikon. Leipzig/ Wien 1885-1892, Bd. 7, S. 171-172; Art. Forum Delicti. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 9, Sp. 1557. 494 Vgl. zu dieser Handelsroute die aktuelle wissenschaftliche Literatur anlässlich der Sächsischen Landesausstellung 2011 „Via Regia“, z.B. M ÜLLER / S TEINBERG , Menschen. 495 Auch im Kurkreis wurden im Vergleich seltener Prozesse gegen Räuberbanden geführt. Es ist aber durchaus möglich, dass die Strafverfahren des Kurkreises einen Sonderstatus einnehmen, weil sich die dortigen Gerichte nicht an den Leipziger Schöffenstuhl wenden mussten. 496 Czok etwa behauptet - wenn auch ohne konkretes Fallbeispiel - , dass unter anderem das Erzgebirge eine besondere Anziehungskraft auf Bettler, Vaganten und Räuber ausgeübt hätte, C ZOK , Leipzig, S. 11. Vgl. in Bezug auf Bettler auch F IEDLER , Räuberwesen, S. 295 und S. 313. <?page no="115"?> 116 als andere. Die Verteilung der territorialen Schwerpunkte belegt demnach eine größere Sensibilität und Aufmerksamkeit bei denjenigen Beamten und Gerichtsherren, deren Zuständigkeitsbereiche in der Nachbarschaft von zentralen Verbindungswegen und somit gleichsam in größerer Nähe zu den urbanen Schaltzentralen des Kurfürstentums lagen. Analog zu der zeitlichen Verteilung sind außerdem viele Räuberbandenprozesse ebenfalls an den Orten der Kommissionen angesiedelt. Die verschiedenen zeitlichen und räumlichen Konjunkturen der strafrechtlichen Verfahren spiegeln einen ausgeprägten Einfluss der Kommissionen, aber auch verstärkte Einsatzbereitschaft einiger Amts- und Stadtgerichte wider. Bestimmte lokale Gerichtsherren zeigten sich deutlich umtriebiger als ihre Amtskollegen manch anderer Region. Mehrjährige Zeiträume in der Mitte der 1750er Jahre und zur Jahrhundertwende hin heben sich insgesamt als Schwerpunkte ab. Ein enger Zusammenhang von Normsetzung und Justizpraxis bestätigt sich nur teilweise. Die sehr rege kurfürstliche Gesetzgebung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt einerseits eine direkte Wirkung in Form einer Zunahme der Strafverfahren vermissen. Andererseits scheint das fast vollständige Ausbleiben neuer Gesetze nach 1753 die Durchführung von Strafprozessen gegen Räuberbanden nicht gebremst zu haben. Die maßgebliche Bedeutung des Mandats vom 14. Dezember 1753 beweist sich somit auch in der Praxis. 4.2 Die sächsische Bande als soziale Kleingruppe Die sächsischen Normen und Mandate, auf die sich die Strafprozesse im Kurfürstentum stützten, ließen die Frage, welche Faktoren eine Räuberbande - jenseits des Vorwurfs einen Diebstahl gemeinsam versucht oder begangen zu haben - definierten, weitgehend unbeantwortet. Von den Quellen der Praxis, den Gerichtsakten, ausgehend, wird nun eruiert, auf welche Aspekte der Kriminalität die Beamten und Richter einen besonderen Fokus legten, und an welchen Kriterien die Obrigkeiten im Strafverfahren festmachten, ob sie es mit einer Bande zu tun hatten. Da eine gültige zeitgenössische Definition der Bande aus dem Rechtskontext fehlt, wird im Folgenden mit der Kategorie der ‚Gruppe’ gearbeitet. Die Gruppensoziologie benennt als Kernelemente einer ‚sozialen Kleingruppe’ eine Anzahl zwischen drei und 25 Personen sowie ein gemeinsames Ziel, zu dem ein relativ kontinuierlicher Kommunikations- und Interaktionsprozess führen soll, der ein ‚Zugehörigkeitsgefühl’, ein eigenes Normensystem und eine spezielle Rollenverteilung impliziert. 497 Die Bande wird dabei, wie auch ihr 497 S CHÄFERS , Einführung, S. 21. Ähnlich, wenn auch mit leicht verschobenen Schwerpunkten formuliert Nijstad zur Bestimmung eines Gruppencharakters die Kategorien Interdependenz, Bedeutung, Interaktion, Größe, Dauer, Durchlässigkeit, Ähnlichkeit, Gruppenstruktur und den auch von Durkheim verwendeten Faktor der Gruppenkohäsion, vgl. N IJSTAD , Group Performance, S. 3-7. <?page no="116"?> 117 moderneres englischsprachiges Pendant ‚Gang’, als Beispielvariante der Kleingruppe aufgeführt. 498 Die soziologischen Forschung sieht als ihre besondere Eigenheit das gemeinsame Ziel an, sich als Gruppe „zum Zwecke abweichenden Verhaltens oder zur Vorbereitung und Durchführung von Straftaten zusammen[zu]schließen“ 499 . Obwohl Thrasher mit Bezug auf amerikanische Jugendgruppen feststellte, dass nicht jede Gang zwangsläufig kriminell sein müsse, 500 wird doch deutlich, dass zum deutschen Begriffsverständnis der typischen ‚Bande’ die historisch gewachsene, pejorative Zuschreibung einer kriminellen Absicht gehört. Sie ist demnach nicht nur negativ konnotiert, sondern durch ihre inhärente Zielsetzung als deviant und kriminell definiert. Durch eine Überprüfung der genannten Kernelemente einer Kleingruppe am Quellenmaterial erschließt sich, ob jene Kriterien auch für die sächsische Räuberbande konstituierend waren oder welche besondere Art der Gruppe hier vorlag. Zu zeigen ist, welche Gemeinsamkeiten die vor sächsischen Gerichten stehenden Personen aufwiesen und welche Erscheinungsformen der Räuberbande in den Repräsentationen der territorialen Verwaltung zu Tage traten. Es wird herausgearbeitet, ob die Kommunikation aus der Strafrechtspraxis weitere oder andere Banden konstituierende Faktoren aufweist, die über die Merkmale einer sozialen Gruppe hinaus gingen. Eine hervorstechende Gemeinsamkeit zahlreicher kursächsischer Räuberbandenprozesse lässt sich darin erkennen, dass Familien - ihrerseits eine besondere Form der sozialen Kleingruppe 501 - einen bedeutenden Anteil an der Bandenkonstituierung hatten. Väter und Söhne, Brüder und Eheleute, Schwäger und Vettern stellten in unterschiedlichen Kombinationen Bestandteile oder den Kern von Gruppierungen, die vor kursächsischen Gerichten standen. Es lassen sich mehrere prägnante Beispiele aufzeigen, in denen sich Banden ganz offensichtlich um Familienmitglieder gruppierten. 502 Am deutlichsten spiegelt das Verfahren um die Mitglieder der Familie Frenzel 1784 in Schmölln 503 dieses Modell der ‚Familien-Bande’ wider, das im kursächsischen Untersuchungsraum stark vertreten zu sein scheint. Unter den der Sehr ähnlich, mit einem Schwerpunkt auf Normvorstellungen, Abgrenzung nach außen und Rollenmuster ist außerdem die Definition der sozialen Gruppe durch den Mediävisten Oexle bei Huntebrinker wiedergegeben, vgl. H UNTEBRINKER , Knechte, S. 20-21. 498 S CHÄFERS , Einführung, S. 23. Die ‚Gang’ ist nicht nur eine englische Übersetzung des Bandenbegriffs, sondern meint in Abgrenzung dazu eine peergroup, also eine Gleichaltrigengruppe, vor allem unter Jugendlichen. Ebd., S. 104 und S. 250-251. Dazu vgl. auch T HRASHER , Gang. 499 H ILLMANN , Wörterbuch, S. 258. Die Gang wird hier der Bande und ‚Rotte’ gleichgesetzt und zudem auch mit dem Subkulturbegriff erklärt, was meines Erachtens diskussionswürdig ist. 500 K ÖNIG , Studien, S. 267. So begreift Thrasher in seiner grundlegenden Studie die „criminal gang“ als einen von verschiedenen Bandentypen, vgl. T HRASHER , Gang, S. 54-55. 501 K ÖNIG , Studien, S. 267. 502 Dafür gibt es auch Beispiele in anderen Untersuchungsräumen, vgl. unter anderem S HORE , Crime, S. 156; B LAUERT , Sackgreifer, S. 35-36 und S. 49-50. 503 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803. <?page no="117"?> 118 Gruppe zugeschriebenen 17 Komplizen befanden sich mit Christian (dem älteren) und Johann Gottlieb Frenzel auch deren Ehefrauen Johanna Christiane und Johanna Elisabeth, sowie Christians und Johannas Sohn, der ebenfalls Christian hieß. Außerdem wurde die Schwester der beiden Frenzel-Männer Anna Sophia Vogel mit ihrem Ehemann und einem Sohn vernommen und spekulierte dort mit Verweis auf die Bosheit und Verschlagenheit ihrer Brüder auf eine mildere Behandlung. Noch in einer anderen, fast zehn Jahre später stattfindenden Untersuchung sagte ein Verdächtiger über einen der Frenzels aus, „verschiedene von seiner Familie, Vater, Mutter, Bruder und Schwager wären Spitzbuben von Profeßion gewesen“ 504 . Unter Bezugnahme auf diese mindestens sieben Personen des engeren Familienkreises sprachen die Behörden von der Untersuchung gegen „die Frenzelsche Diebs- und Räuber-Bande“ 505 . Am häufigsten ist unter den Inquisiten und den Gesuchten die Geschwisterverbindung auszumachen: Mit Georg Valentin, Johann Melchior und Gottlieb Oschatz wurden drei Brüder zusammen mit dem Mittäter Christian Gottlieb Seidel 1778 eines Straßenraubes überführt und inhaftiert. 506 Zwei Söhne des Wurzener Stadtrichters Gottfried Seyfert waren in ein strafrechtliches Verfahren der Kriminalkommission Meißen geraten, weil sie angeblich als Helfer und Hehler mit Diebesbanden in Kontakt gestanden hatten. 507 In einer Gruppe um Gottfried Killig hatten nicht nur die Brüder Gottlob, Abraham und Christian Gabriel Freier, sondern mit Johann Christoph und Johann Georg Weigelt ein weiteres Geschwisterpaar an den verschiedenen gemeinschaftlichen Eigentumsdelikten der insgesamt zehnköpfigen Bande teilgenommen. 508 Auch Georg Sachße gab an, einige Straftaten unter Beteiligung seines Bruders Michael begangen zu haben. 509 Fünf von neun wegen des Verdachts auf Raub in Groitzsch festgenommenen Männern trugen den Familiennamen Thierbach. Für deren Freilassung ging bereits ein Tag nach ihrer Arretierung, am 22. November 1771, ein erpresserischer Drohbrief beim Amtmann in Pegau ein. 510 Der Autor des Brandstiftung und Mord ankündigenden Schreibens erweckt den Eindruck, als sei unabhängig von den Thierbachs eine organisierte Bande von 60 Mann zu ihrer Befreiung mobilisierbar - eine Übertreibung, die dem einschüchternden Grundton des ganzen Briefes entsprach. Bedenkt man etwa das Risiko der Verfolgung, das der Verfasser und Überbringer dieser Nachricht einging, spricht allerdings einiges dafür, dass diese Familienmitglieder wirklich in eine kriminelle 504 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 12v. 505 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, Aktentitel und passim. 506 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 195r. 507 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 201r-201v. 508 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640, fol. 1v. 509 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 37v, fol. 39v und fol. 152r. 510 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 47r-48r. Über die Familienbeziehungen werden in der Akte keine näheren Informationen und im anonymen Erpresserbrief keine Details preisgegeben. <?page no="118"?> 119 Gruppe eingebunden waren, in der sie oder zumindest einer von ihnen eine wichtige Position einnahmen. Zwei Gerichtsverfahren wegen mehrfachen Diebstahls bezogen sich ausschließlich auf Väter mit ihren Kindern. 511 In anderen Prozessen standen hauptsächlich Ehepaare vor Gericht. 512 Es ist zu beobachten, dass die Behörden in diesen Fällen den Begriff Bande selten verwendeten, wenngleich sie durchaus von gemeinschaftlichem Raub und Diebstahl sprachen. Die kursächsischen Beamten rechneten drei- und vierköpfige Gruppierungen nur sekundär zu den von ihnen anvisierten ‚Rotten’: Wenn die Obrigkeit das Label Bande gebrauchte, dann bezeichnete sie damit vorrangig größere Personenverbände. So fällt bei näherer Betrachtung beispielsweise auf, dass die beiden jüdischen Männer Jacob und Marcus mit ihren Ehefrauen nicht so bezeichnet wurden, während die Amtsrichter Dresden sie zu den Vorwürfen des gemeinschaftlichen Diebstahls verhörte. Im weiteren Verlauf äußerte man vielmehr den Verdacht, dass die beiden Ehemänner zusammen mit den noch nicht in Haft befindlichen Samuel Nathan, Moses Levi, Joachim Moses und David Moses eine kriminelle Gruppe von sechs männlichen, jüdischen Mitgliedern gebildet hätten. 513 Auch an dem Schöffenstuhlurteil zu Johann Roßmann ist exemplarisch zu erkennen, dass die Verwendung des Bandenbegriffs für solch kleine Personengruppen nicht üblich war: Obwohl sich die Ermittlungen gegen ihn, einen weiteren Mann und ihre beiden Ehefrauen richteten, wurde über diese vier nicht als Bande gesprochen. Angesichts des Sprachgebrauchs der Akten kann verallgemeinernd festgehalten werden: Wenn im Verfahren unklar geblieben war, ob und wie viele Komplizen ein Verdächtiger gehabt hatte, behalfen sich die Urteilsverfasser mit allgemeinen Wendungen, wie: er sei „mit allerhand Dieberey halber verdächtigen Persohnen umbgegangen“ oder habe „nebst seinen Diebesgesellen“ ein bestimmtes oder mehrere Verbrechen begangen. 514 Die sprachliche Gleichsetzung ‚Familienbande’ oder ‚Familie als Bande’ ist in den Akten dagegen nicht nachzuweisen. Der in der Verwaltungsrhetorik genutzte Rotten- oder Bandenbegriff richtete sich anscheinend auf organisierte, größere Gruppen Krimineller. In den Strafverfahren werden zwischen drei und 30 aktenkundige Personen als Komplizen bezeichnet. Im Merkmal der Größe decken sich die sächsischen Räuberbanden somit stark mit der Definition der sozialen Kleingruppe. Bandenumfänge von 100 oder mehr Personen kommen vereinzelt zwar auch in der Rechtspraxis vor, sind dann aber stets Bestandteil schwer nachweisbarer und nicht stichhaltiger 511 Vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5710, fol. 77r-99v; HStA Dresden, 10047, Nr. 3963. 512 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639; HStA Dresden, 10062, Nr. 2598; HStA Dresden, 10047, Nr. 3949; HStA Dresden, 10047, Nr. 3950. 513 HStA Dresden, 10047, Nr. 3949, fol. 127v. 514 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 253v. <?page no="119"?> 120 Zuschreibungen. 515 In der Mehrheit wird die Bandengröße mit zwischen acht und zehn Personen angegeben. Nach oben sind dabei die Grenzen kaum zu ziehen, da zum einen deutlich wird, dass es sich um keine dauerhaft konstanten Gruppen handelte, sondern bei verschiedenen Anlässen abweichende Personenkonstellationen angenommen wurden. Zum anderen wird im Verfahren häufig davon ausgegangen, dass ein Teil der potenziellen Gesamtgruppe noch nicht in Haft gebracht werden konnte. Den Rumpf oder Kern der Gruppe bildeten höchstens zehn Personen. Dass die Behörden Kenntnis über die maßgebliche Rolle von Familien in der Zusammensetzung krimineller Banden hatten, selbst wenn sie deswegen nicht von ausschließlichen ‚Familienbanden’ ausgingen, kann an den Verhörtechniken abgelesen werden. Außer Eheleuten und Geschwistern wurden auch verdächtige Kinder über ihre Eltern befragt und mussten gegen sie aussagen. Dabei setzten die Beamten in der Untersuchung beim ‚schwächsten Glied einer Kette’ an, um für den Erfolg des Inquisitionsverfahrens dienliche Hinweise zu erhalten. Das hatte durchaus zur Folge, dass Kinder ihre Eltern belasteten, Brüder sich wechselseitig beschuldigten und sie mehr oder weniger beabsichtigt Informationen übereinander preisgaben. 516 Auskunftsfreudige Inquisiten wurden gezielt mit ihren Familienmitgliedern konfrontiert, um hartnäckiges Leugnen oder Schweigen zu brechen. 517 Verwandtschaftliche Verbindungen und Strukturen wurden also von der Obrigkeit genutzt. Auf diese Weise gerieten auch Personen in die Mühlen der Justiz, die bis dahin unbescholten gelebt hatten, allein weil ein oder mehrere Verwandte im Kriminalitätsverdacht standen. Der schlechte Leumund von Familienmitgliedern konnte in diesen Fällen ‚abfärben’: „Da die Geßelische Tochter um ihres Vaters Handlungen, vielleicht auch um die zur Bande gehörigen Personen Wißenschaft zu haben scheine, deren Vater auch nicht den besten Ruf vor sich hatte, ließe ich selbige einziehen und entdeckte selbige, bey denen mit ihr [...] erfolgten Vernehmung nicht nur die zur Bande gehörigen Diebes Cameraden, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von denselben geraubter nächtlicher Einbrüche und Diebstähle, welche Entdeckung auch in der Folge sich größten Theils bestätiget hat.“ 518 515 Zum einen stammen sie aus Gaunerlisten, deren Problematik bereits erläutert wurde. Zum anderen sind sie Teil nicht verifizierter Berichte, denen zwar Visitationen oder Streifen folgen, die dann aber zu keinem Ergebnis führen, wie beispielsweise HStA Dresden, 10025, Loc. 5864. 516 Die Bindung unter den Familienmitgliedern soll im weiteren Verlauf der Untersuchung eingehender geprüft werden, vgl. dazu das Kapitel 5.5.4 Persönliche Situation. 517 Besonders auffällig ist diese Praxis bei der Nutzung des geständigen Andreas Philipp Fricke, der im Rahmen der Ermittlungen um die Beyer-Naumburgische Bande wiederholt mit den anderen Verdächtigen konfrontiert wurde, z.B. HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 21v-24r. Vgl. auch ebd., fol. 127r. 518 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 15v-16r. <?page no="120"?> 121 Die Instrumentalisierung der damals zwölfjährigen Tochter des vermeintlichen Erzdiebs Johann Gottlob Geßel zu den Zwecken der Strafverfolgung wird anhand dieser Aussage des Amtmanns Carl Christian Gottlob Grell im April 1800 unmissverständlich klar. Ähnlich nutzten die kursächsischen Behörden 1767 die Inhaftierung der oben bereits genannten Catharina Sophia Dorn, der Stieftochter des als notorischen Dieb bezeichneten Johann Peter Sturm. Ihre Angaben galten als glaubwürdig und bildeten die Grundlage sowohl für eine überregional verschickte Gaunerliste als auch für die konkrete strafrechtliche Prozessführung gegen Sturm und andere. 519 Auch 1698 wurde bereits in dem zum Nickel-List-Prozess gehörigen Mordverfahren der Herrschaft Hartenstein die 14-jährige Tochter des Bandenanführers als Zeugin herangezogen, die unter anderem berichtete, „daß der Vatter sie sehr übel gehalten, undt mit Füßen getreten, sie auch nichts sehen und wißen laßen, undt wenn sie gleich ganz erfroren gewesen, hette sie nicht einmahl in die Stube kommen dürffen, sondern hätte müßen so zu Bette gehen, undt wenn sie gleich einmahl hinein kommen, wann fremde Kerl da gewesen, so hetten sie so lange sie in der Stube geblieben nichts gesagt, sondern uff der Banck gelegen. Sie wüste nichts von gestohlenen Pferden, Viehe, oder sonst andern sachen.“ 520 Zum Tötungsdelikt oder den zahlreichen Diebstählen machte sie dementsprechend nur wenige Angaben. Doch aus solchen Aussagen setzte sich das Charakterbild eines Verbrechers zusammen. Dass die Behörden die Familienmitglieder von Inquisiten auf diese Weise wahrnahmen, wirft außerdem ein besonderes Schlaglicht auf die Lebensperspektiven und die mangelnden Entwicklungschancen von Kindern aus dem Umfeld überführter Räuber. Die in Aussagen zum Ausdruck gebrachten Wertvorstellungen von Ehe und Familie ähnelten denen der hegemonialen Gesellschaft. 521 So wurde etwa betont, dass man von einem Priester verheiratet worden war und dass die gemeinsamen Kinder im Beisein ausgewählter Paten getauft worden seien. 522 Anzeichen für Promiskuität können den Darstellungen nur selten entnommen werden, in den meisten Fällen schildern die Betroffenen ihre Beziehungen als relativ stabil. 523 Monogamie und die ordentliche Versorgung der Kinder erscheinen als die geltenden Normen, die die Devianten in ihre Selbstrepräsentationen übertragen haben. Dem musste es freilich nicht widersprechen, dass Partnerwechsel beispielsweise nach einer räumlicher Veränderung, einer vorhergehenden Trennung 519 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 117r-132v. 520 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 102v. 521 Vgl. S CHEFFKNECHT , Weiber, S. 99-102 und A MMERER , Heimat, S. 268. 522 Beispielsweise hatte ein Komplize des Studentenfriedrich namens Toscani in Naumburg Verlobung gefeiert und zu diesem Anlass von einem Beuteteil „seiner Braut ein brocatnes Kleid machen laßen“, HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 52r. Vgl. auch den Nachweis über die Taufe des Kindes von Johann Heinrich Böhme [=Kuntze] mit drei ansässigen und ehrenhaften Paten, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 42r. Auch ‚SchwartzAdams Philipp’ hatte sein Kind im Spital zu Auerbach taufen lassen, Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 83r. 523 Vgl. auch D ANKER , Räuberbanden, S. 272 und L ANGE , Gesellschaft, S. 142-144. <?page no="121"?> 122 oder der Bestrafung des früheren Partners mit Zuchthaus, Festungsbau oder Hinrichtung eingeräumt wurden. Die Subsistenzsicherung stand dabei ganz klar im Vordergrund und war in Zusammenarbeit meist leichter zu erreichen als alleine. Ebenso wie bei der ‚sesshaften’ Bevölkerung der Frühen Neuzeit waren romantische Vorstellungen für die Partnerwahl weniger maßgeblich als ökonomische und soziale Zwänge. Gemessen an der meist normgerechten Selbstdarstellung in der Verhörsituation spricht wenig dafür, dass für Vaganten und Räuber ein promiskuitiver und ‚liederlicher’ Lebenswandel typisch gewesen wäre. Welche Bedeutung konnte die beobachtete familiäre Prägung für die Banden haben? Ein Zusammenhang zwischen der Übernahme gängiger Normvorstellungen, der aktiven Mitwirkung von Frauen innerhalb und im Umfeld der Banden und den familialen Bindungen im kriminellen Milieu ist sicherlich leicht herzustellen. Die Ideen zu gemeinschaftlichen Diebstählen und Raubzügen oder eine erste Kontaktaufnahme mit einer kriminellen Gruppe entstanden in vielen Fällen durch bestehende verwandtschaftliche Netzwerke. Bei der ‚Rekrutierung’ notwendiger Teilnehmer für ein bestimmtes Vorhaben lag der Rückgriff auf Bekannte und Familienmitglieder am nächsten, da man bei diesen stärker auf Verschwiegenheit, Treue, gemeinsame Erfahrungshorizonte und damit auf ähnliche Werte hoffen konnte. Eine Familie kann also nicht nur für sich gesehen als Sonderform der Kleingruppe beschrieben werden, sondern den Zusammenhalt einer übergeordneten Gruppe stärken. Abgesehen davon entspricht ein enges Familienverhältnis mit einer ähnlichen sozialen, beruflichen, lokalen und konfessionellen Herkunftssituation ebenfalls dem Faktor ‚Ähnlichkeit’ (Similarity), den manche Forscher für die Mitglieder einer sozialen Kleingruppe als ein notwendiges Kriterium definieren. 524 Die familialen Bindungen in einer Bande konnten demnach den Zusammenhalt und damit das Gemeinschaftsgefühl unter den Mitgliedern fördern. Ist der stichhaltige Nachweis einer Emotion selbst für Forscher, die ihre Erkenntnisse auf lebende Zeitzeugen stützen können, eine besondere Herausforderung, so erscheint es nahezu unmöglich, ein ‚Wir’-Gefühl allein anhand von Materialien, die mehr als 200 Jahre alt sind - und außerdem aus der speziellen Situation der Gerichtsverhandlung stammen - zu belegen. 525 Der Nachweis von Indizien muss daher ausreichen. Eine angedrohte, aber insbesondere eine durch eine Gruppe umgesetzte Befreiung Einzelner aus der Haft kann als Anzeichen eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Teilnehmern einer Räuberbande interpretiert werden. Ein solches Vorhaben war mit einer größeren Gefahr der Entdeckung und der körperlichen Verletzung verbunden als ein Einbruch, da an den Haftorten Wachleute, schwere Mauern und dicke Schlösser zu überwinden waren. Für jeden einzelnen Teilnehmer barg eine solche Aktion zusätzliche Risiken. Auf spektaku- 524 N IJSTAD , Group Performance, S. 5. 525 Zu Emotionen in Selbstzeugnissen vgl. u.a. K RUSENSTJERN , Tränen. <?page no="122"?> 123 läre Weise wurde Christian Oertel alias Schmidts Christel in der Nacht auf den 3. Oktober 1752 aus der Fronfeste Brehna befreit. 526 Seine Ehefrau Anna Elisabeth Oertel bestritt in ihren Verhören zwar, an der „Entführung ihres Mannes aus dem Arreste zu Brena“ 527 einen Anteil gehabt zu haben. Johann Jacob Rehmann berichtete allerdings, dass sie den Auftrag in einem Wirtshaus in Möckern gegeben und dabei ihm selbst, Bergmanns Anton, dem dicken Lips, Voigt, Platz und dem dicken Franz insgesamt zehn Reichstaler gezahlt habe, damit sie den Mann aus der Haft holten. Sie habe zusätzlich auch im ‚Posthörngen’ zu Lindenau einige Helfer angeworben. Obwohl Rehmann selbst nicht in der Fronfeste gewesen sein wollte, konnte er genaue Angaben darüber machen, dass die Gefängniswachen mit Hieben ausgeschaltet worden waren und der Häftling dort mit einer Axt von seinen Ketten losgeschlagen werden konnte. Als sie in Möckern angekommen seien, habe der Wirt den Arrestaten „balbieret“ 528 . Auch neue Kleidung habe dieser dort erhalten. Dass sie ihre Pistolen und Schrotgewehre ausschließlich zur Gegenwehr und keinesfalls zur tödlichen Verletzung bei sich getragen hätten, versuchte Rehmann damit zu bekräftigen, dass die ‚Oertelin’ sie im Vorfeld davon überzeugt habe, „daß Sie sich vor dem GerichtsKnechte keine Sorge machen sollten; er würde thun als wenn er nichts davon hörte, und sich nicht zur Wehr stellen“ 529 . Mit einer silbernen Garnisonsschnalle wollte sie diesen bestochen haben, welche ihm jedoch just im Rahmen dieses Überfalls von den Männern wieder gestohlen wurde. Diese Beute und die Belohnung durch Elisabeth Oertel dürfte die Entscheidung seiner Komplizen für das Engagement zwar beeinflusst haben. Gefährlich und risikoreich war die Befreiung aber für die Beteiligten in vielerlei Hinsicht. Dies zeigt sich letztlich noch im Strafverfahren, gab doch diese Befreiungsaktion für die Richter den entscheidenden Ausschlag für das Todesurteil. 530 Die Redeweisen unter den Teilnehmern von Eigentumsdelikten erwecken den Eindruck, dass der Zusammenhang von Familie, Bande und Zusammenhalt auch von den Betroffenen gesehen und hergestellt wurde: Als Eigenbenennungen der Diebe, die in Aussagen auftauchen, wurden (männliche) Bezeichnungen gebraucht, die auf den familiären Kontext rekurrierten. Die Anrede eines Kameraden als Familienmitglied, auch wenn keine reale verwandtschaftliche Verbindung existierte, verweist durchaus auf ein Zugehörigkeitsgefühl: "Brüderchens, Brüderchens, haltet euch gut; wir schlagen die Kerle, daß sie stürzen." 531 Auch Margaretha List gab an, dass die Komplizen ihres Mannes sich gegenseitig nur ‚Brüder’ genannt hatten und dass sie daher deren Namen nicht angeben kön- 526 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 32r-37v. 527 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337, fol. 3v. 528 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 35r. 529 Ebd., fol. 36r. 530 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X, fol. 166v-170r. 531 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 91r. <?page no="123"?> 124 ne. 532 In der Gaunerliste von 1685 erscheint mehrmals Heinrich Vogt als „der von den Schmählischen und hiesigen so genandte DiebsVater“. 533 In dieser Adaption von Familienrollen steckt eine deutliche Wertbeimessung der Gemeinschaft. Gleichzeitig beinhalten die Familiensemantiken jeweils weitere Konnotationszusammenhänge, so ähnelt zum einen der ‚Diebsvater’ augenscheinlich der Bezeichnung des Kurfürsten als ‚Landesvater’. Einen Medewitzscher Edelmann, der sich offenbar als Helfer von ‚Cochumern’, das heißt Kriminellen, erwiesen hatte, sprachen diese angeblich anerkennend mit „Herr Vater“ an. 534 Zum anderen erinnern die Begriffe an Muster der ‚Verbrüderung’, wie sie in religiösen und ideologischen Kontexten zu finden sind. 535 Für die Bandenmitglieder finden sich in der Verwaltungsrhetorik häufig die Termini ‚Diebsgesellen’ oder ‚Diebskammeraden’, die zumeist dazu dienten, die Teilnehmer bestimmter Vergehen nicht einzeln und namentlich aufzuzählen. Sie implizieren ganz eindeutig eine Komplizenschaft. So findet auch der Begriff ‚Complex/ Complicen’ in diesem Zusammenhang überdurchschnittlich oft Verwendung. Während diese Ausdrücke im gesamten Untersuchungszeitraum zu beobachten sind, setzt zusätzlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung als ‚Mitglied’ einer Bande in der Verwaltungssprache ein, die in Akten von 1776 und 1801 erstmalig auftaucht. 536 Der neutraler konnotierte Begriff scheint damit in seiner Anwendung auf Räuberbanden moderner zu sein als der hauptsächlich gebrauchte und unzweifelhaft mit Delinquenz verbundene ‚Komplize’. Die Gruppierungen gaben sich selbst nur selten einen übergeordneten Namen. Die meisten Bandenbezeichnungen, die in den Gerichtsakten kursierten, stellten einen Personen- oder Familiennamen ins Zentrum und implizierten damit einen gewissen Grad an innerer Organisation. Diese stammten jedoch aus der Außensicht der Behörden, denn zweifellos wäre es aus der Perspektive der Teilnehmer hinsichtlich der Geheimhaltung nicht zweckmäßig gewesen, einen Familienin einen Bandennamen zu integrieren. Wenn von der Kuntzischen, der Tullianischen und der Frenzelschen Bande gesprochen wurde, so lag es in der Praxis der Strafverfolger, den Gruppierungen Titel zu verleihen, die an den Namen ihrer Anführer oder auffälligsten Mitglieder orientiert waren, und die 532 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, S. 131r. 533 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 56v. 534 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 71r. Außerdem erwähnen in ähnlicher Weise schon die Inquisiten von 1687 Hempel und Nolle, dass der Gastwirt „Ulrich der Richter zu Steteriz ein rechter Spizbuben Vater were“, HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 25r. 535 So ist nach Max Webers Verständnis von Vergemeinschaftung die Familiengemeinschaft der Typus, der in anderen Gemeinschaftsformen zu erreichen gesucht wird. Dadurch wird eine „Verbrüderung“ oder eine gegenseitige Bezeichnung von Mitgliedern als „Glaubensbrüder“ oder „Brüder im Geiste“ als stärkendes Element einer Gruppe besser verständlich. Vgl. W EBER , Wirtschaft, S. 30; S. 276 und S. 513-514. 536 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 248r oder HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 85r. <?page no="124"?> 125 die Kommunikation vereinfachten. 537 Unter den von den Behörden geprägten Bezeichnungen sind aber auch geographische wie die böhmische Bande, die Niederländer und die Franken- oder Heßen-Bande. Einige wenige Verhörte, die relativ unabhängig vom vorgegebenen Behördenvokabular über Vorfälle berichteten, kannten ebenfalls interne Eigenbenennungen von Gruppen. Dabei existierten selbst gewählte Bandennamen entweder mit geographischem („hessische Bande“ 538 ) oder abstraktem Bezug („schöne Bande“ 539 ). Dies liefert ein weiteres Indiz für das Vorhandensein einer Gruppe: Die selbst verwendete Bezeichnung kann als Ausdruck von Gruppenbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl verstanden werden. Die Tatsache, dass gerade geographische Faktoren in die Bandennamen eingingen, ist hinsichtlich der Raumwahrnehmung der Betroffenen aussagekräftig. Auch wenn sich die Räuber mit den geographischen Bezeichnungen für ihre Gruppen an der Behördenpraxis orientierten, spiegelt es doch einen bewussten Umgang mit mehr oder weniger fest umgrenzten Betätigungsräumen wider, wenn die Betroffenen zwischen der Hessischen, der Thüringischen, der Sächsischen und der Wendischen großen Bande unterschieden und sich selbst hier oder dort zuordneten. Das nächste zu untersuchende Kernelement der Kleingruppe ist die Rollenverteilung: Feste Funktionsrollen und Positionen, die die Verhältnisse der Bandenmitglieder zueinander dauerhaft strukturierten, sind kaum auszumachen. Die Angaben der Verhörten lassen meist Hinweise auf eine permanente Hierarchie oder auch eine konstante Hauptperson vermissen. Es finden sich Verwandtschaftsbezeichnungen im wörtlichen oder übertragenen Sinn. Zusätzlich tauchen militärische Rangbezeichnungen auf - diese aber so vereinzelt, dass sie in der Gesamtsicht klare Ausnahmen bilden. Nur aus der Aussage Brückmanns zur vorwiegend niederländischen Gruppe unter der Leitung eines Obersts geht hervor, dass dort militärische Titel in die Bandenorganisation übergegangen waren. 540 In der Praxis bedienten sich die Räuber einer funktionalen Arbeitsteilung, die ihre Kommunikation auch explizit zum Ausdruck bringt. Das heißt, dass sie vor allem bei gemeinschaftlichen Einbrüchen eine interne Rollenzuweisung für spezielle Tätigkeiten vornahmen. Junge und unerfahrene Diebe begegnen überwiegend als Wachleute. Andere Teilnehmer hatten ein besonderes ‚Talent’ im Aufbrechen der Türen entwickelt. Auch mit der Weitergabe der Waren an die 537 Die Nutzung von Personennamen konnte aber auch zu wenig aussagekräftigen Begriffskonstrukten führen, wie die „Heinrich Wilhelmische Bande“, die gemeinsam mit der Stielschen, der Cßerdischen und der Kronoschen Diebesbande aufgeführt wird. Nach diesen wird 1804 in westlich angrenzenden Herrschaftsgebieten gefahndet. Vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 III, fol. 49r-50r. 538 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 37v-38r. 539 HStA Dresden, 10079, Loc. 30583. 540 „15.) Lucas Specks, aus Seeland bürtig, [...] sey roth gekleidet und Corporal unter der Bande. [...] 20.) Moses Asse, aus der Schweitz, 32. Jahr alt, sey Fähndrich unter der Bande“, HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 83v-84r. <?page no="125"?> 126 Hehler oder mit dem Verkauf an andere Abnehmer waren mitunter nur bestimmte Beteiligte betraut. Daher kann insgesamt von einer leistungsbezogenen Aufgabenteilung gesprochen werden. Diese Aufgaben verfestigten sich aber nie in einer grundsätzlichen Rangstellung. So ist es bei den Mitgliedern bis hin zum ‚Räuberhauptmann’ geboten, eher deliktbezogen zu denken als von dauerhaften Strukturen auszugehen. Eine Formulierung wie „Johann Christoph Jentsch, welchen Otto fol. 106 sequ. u. 115 sequ. als den Anführer bey dem Emmerichschen Diebstahle zu Hermßdorf beschreibt“ 541 kann als symptomatisch gelten. Eine Person, die aber bei mehreren Taten eine entscheidende Position ausgefüllt hatte, konnte von Zeugen und Beamten anders wahrgenommen werden als die übrigen. Über Johann Karraseck wird im Oberamtsbericht vom 16. Juli 1802 angegeben, „wiewohl derselbe überdies in den Acten durchgängig als der HauptAnführer der Bande bey den meisten übrigen Verbrechen, als [der er] bey Ausübung derselben sich am thätigsten bewiesen, und den größten Gewinn sich dabey zugezogen erscheinet [...] die Mitschuldigen in ihren Außagen über vorhandene Räubereyen und den Raub-mordt wider ihn dergestalt übereinkommen“ 542 . Die Rollenverteilung, die sich hier abzeichnet, ist dementsprechend eng verknüpft mit dem gemeinsamen Ziel der Gruppe und der damit notwendigen Kommunikation zwischen den Mitgliedern. Daneben kann die Verwendung von Spitz- und Vulgonamen untereinander eine - wenn auch nicht immer ernst gemeinte - Rollenzuweisung andeuten und als Indiz für einen relativ dauerhaften Kommunikationsprozess stehen. Wenn neben fünf Tätern des Diebstahls an einem Handelsmann in Leipzig auch ein „Corporal Bartholt“ 543 bezichtigt wird, deutet dies aller Wahrscheinlichkeit nach weniger auf seinen tatsächlichen Rang hin, sondern verweist auf die gängigen Vulgonamen der Zeit. 544 Auch Namen wie „dicker Lips“ 545 , „schwarzer Friedrich“ 546 , „böhmischer Hans“ 547 , „Mühlbergs Fritz“ 548 , „Glaserchristel“ 549 und „Studentenfriedrich“ 550 unter den verurteilten Tätern in den Bandenprozessen entsprechen der Kategorisierung von Spitznamen nach Aussehen, Herkunft, berufliche Betätigung und besondere Kennzeichen. Insofern unterscheidet sich die Vergabe solcher Zweitnamen unter den Bandendelinquenten nicht von der Praxis unter den Vaganten und Nichtsesshaften. 551 Der 541 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 497, fol. 33r. 542 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 584r-585r. 543 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 16r. 544 Vgl. ausführlicher hierzu Kapitel 3.3.2 Vulgonamen. 545 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 383r. 546 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 133r. 547 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 2r. 548 HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 41r-43r. 549 HStA Dresden, 10057, Nr. 459. 550 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 136r-136v. 551 Vgl. dazu Kapitel 3.3.2 Vulgonamen und außerdem A MMERER , Heimat, S. 294-307. <?page no="126"?> 127 Großteil der Inquisiten wurde aber im Prozess mit einem einzelnen, ‚bürgerlich’ anmutenden Namen bezeichnet. Der Anteil an Vulgonamen ist hier insgesamt geringer. Es lässt sich unschwer nachvollziehen, warum die Spitznamen in den Prozessakten seltener auftauchten als in den Gaunerlisten, also nachdem Verdächtige in Haft waren: Erstens war es für Beamte zweckmäßig, Inquisiten eindeutig zu benennen - auch wenn alle zuvor getragenen Namen zur Identifikation von Person und Taten herausgefunden werden mussten. Aus Sicht der Verdächtigen war es zweitens für den Unschuldsbeweis wenig zielführend, selbst einen ‚Milieunamen’ zu verwenden oder einzugestehen, da dieser den Verdacht auf einen devianten Lebenswandel noch erhärtet hätte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Vorgang um Zacharias Jacob, der im Mai 1703 unter dem Verdacht eines Diebstahls vor dem Stadtgericht Leipzig vernommen wurde. 552 Durch Berichte über die Bande des Nickel List waren die Stadtrichter darauf aufmerksam geworden, dass der von ihnen vernommene Jacob der entflohene ‚Perl Einohr’ sein könne. 553 Während sie ihre Bemühungen daran setzten, durch einen zweifelsfreien Nachweis des Vulgonamens frühere Tatbeteiligungen bei der ehemaligen Bande in den Prozess mit aufnehmen zu können, gestaltete sich der Gegenbeweis für ihn sehr schwierig. Da entsprechende Aussagen gegen ‚Einohr’ vorlagen, war der klingende Name in Kombination mit seinem tatsächlichen Erscheinungsbild ein belastendes Element, denn Jacob besaß nur noch sein rechtes Ohr. Seine Erklärung, fremde Räuber hätten ihm bei einem Überfall zwischen Bologna und Florenz das linke abgeschlagen, um an die daran befindliche Perle zu gelangen, diente dem Nachweis seiner Unschuld nicht, zumal das Fehlen eines Ohres - ähnlich wie das Fehlen eines Fingers - auf eine zurückliegende Strafmaßnahme hindeutete. 554 Sein standhaftes Leugnen der gesamten Vorwürfe auch unter der Folter führte ihn aber schließlich dennoch zu einem Freispruch. 555 In den oft deskriptiven Spitz- und Vulgonamen ist viel weniger eine Bemühung um Selbstexklusion und Geheimhaltung zu erkennen, als in der Forschung behauptet. 556 Stattdessen besaßen verschiedene, bewusst gewählte Pseudonyme 552 Vgl. im Folgenden Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634. 553 Vgl. H OSMANN , Fürtreffliches Denck=Mahl. 554 Van D ÜLMEN , Theater, S. 69. Während das abgeschlagene Ohr für jedermann sichtbar war, brachte Zacharias Jacob den Namensbestandteil Perl mit dem Hinweis auf einen Perlenohrring selbst ins Spiel. Salomon David hatte in seiner Aussage 1699 hingegen darauf hingewiesen, dass das abgeschnittene Ohr von einer Jugendstrafe herrühre, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 13r und fol. 21v-22r. 555 Dieser Freispruch dürfte dadurch begünstigt worden sein, dass aktuelle Befragungen und vor allem eine Konfrontation mit den bereits hingerichteten Komplizen nicht mehr möglich gewesen waren. Die belastenden Aussagen entstammten lediglich den Protokollen aus Verhören, die vier Jahre zurücklagen. Diese bestätigten immerhin, dass er sich als Feldscher oder Doktor ausgebe und andernorts Zacharias genannt würde. Vgl. dazu auch HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3548/ 1 bis HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. 556 Vgl. beispielsweise F ISCHNALLER , Gaunernamen, S. 76. <?page no="127"?> 128 als ‚zweite Identitäten’ in den Bandenprozessen eine besondere Bedeutung. 557 Einerseits wurde einigen Dieben durch Zeugenaussagen nachgewiesen, dass sie unter verschiedenen Namen aufgetreten seien. Das gilt beispielsweise für Nickel List, der sich in Wirtshäusern als Hauptmann von der Mosel und Adliger mit Bediensteten ausgegeben hatte. 558 Auch bei Lips Tullian handelte es sich um einen Zweitnamen, für den der Begriff ‚Künstlername’ sogar angebracht zu sein scheint. In Lips - einer durchaus üblichen Abkürzung für Philipp - lässt sich ebenso eine Anspielung auf den römischen (Lipsia) oder den sorbischen Namen Leipzigs (Lipsk) erkennen, wie im Nachnamen ein Verweis auf das „Tullianum“, als Staatsgefängnis Roms und Haftort des heiligen Petrus, steckt. 559 Mit seiner Ähnlichkeit zu diesem hauptsächlich gebrauchten Kunstnamen erscheint die Benennung Philipp Mengstein als Geburtsname etwas wahrscheinlicher als die klingendere Angabe Elias Erasmus Schönknecht, die ebenfalls den Akten zu entnehmen ist. 560 Über diese Überlegungen hinaus lässt sich die Frage nach selbstständiger Benennung oder Taufname nicht präziser aufklären. Auffällig ist aber, dass in den möglichen Namensbezügen Tullians ein Bildungshorizont aufscheint, der dem Großteil der sächsischen Räuber wohl kaum beizumessen war. Als ähnlich kreativ erwies sich 1754 der Inquisit im Leipziger Strafgerichtsverfahren, der in der Untersuchung zunächst als Johann Gottfried Breyer auftrat, aber auch als Johann Heinrich Böhme oder ‚Böhmademann’ bekannt war, bevor er durch verschiedene Zeugen, unter anderem durch die belastende Verhöraussage seines Vaters als Johann Gottfried Kuntze identifiziert wurde. 561 Der - nicht gerade außergewöhnliche - Räubername „böhmischer Hans“ 562 wurde ihm ebenfalls zugewiesen, bevor er in der Haft verstarb. Auch die zusammen mit ihm verdächtigten Räuber hatten bei ihrer Arretierung Zweitnamen angenommen und sorgten damit dafür, dass die Behörden ihre Untersuchungen zunächst einmal mit dem eindeutigen Nachweis ihrer Identitäten beginnen mussten. Johann Herrmann Hahn hatte sich als Johann Taubert ausgegeben und neben ihm standen die Komplizen Johann Georg Voigt alias Johann Christoph Richter, Johann Gottfried Dachs alias Johann Andreas Gruntzenberg und Johann Jacob Rehmann alias Johann Andreas Döring vor dem Stadtgericht Leipzig. 563 Dies sind deutliche Belege für die Nutzung von Pseudonymen, die mit deskriptiven oder ironischen Spitznamen wenig gemeinsam hatten, sondern ganz offen- 557 Vgl. unter anderem S EIBICKE , Personennamen, S. 32-46. 558 HStA Dresden, 10024, Loc. 8915/ 12, fol. 6r. 559 Siehe auch M EZEY , Kerker, S. 95. Vgl. außerdem die Angaben im Orbis Latinus (Lipsia) und im Digitalen Historischen Ortsverzeichnis von Sachsen, URL: http: / / hov.isgv.de/ Leipzig_%281%29 (letzter Zugriff: 15. August 2012). 560 Vgl. Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 3-5. 561 Actenmäßiger Verlauf 1764, S. 28 und S. 64. 562 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII, fol. 197r; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X, fol. 102r. 563 Vgl. ebd., Titel. <?page no="128"?> 129 sichtlich einer bewussten Verdunklungstaktik dienten und wahrscheinlich miteinander abgesprochen worden waren. Diese Verschleierung durch Zweitnamen wurde regelmäßig versucht. Der Dieb Johann David Müller erschwerte 1726 dem Amtmann von Grillenburg die Untersuchung, indem er sich als Johann David Schöne ausgab. 564 Die beiden Denunzianten Johann August Fiedler und Johann Georg Ludwig nannten sich zunächst Nadheim bzw. Schmid. 565 Außerdem ist das Verhalten der Catharina Sophia Dorn in diesen Kontext zu stellen. Bei ihrer Verhaftung im Jahr 1767 hatte sie sich mit einem gefälschten Pass zunächst als Waise namens Hofmannin ausgewiesen. Nach kurzer Nachforschung wurde ermittelt, dass ihr Geburtsname Sophia Catharina Conradina Martin lautete. Sie selbst gab an, bei der Thüringischen Bande ihrem Geburtsort gemäß „der Vippachische Schlunz“ 566 gerufen worden zu sein und ansonsten den Familiennamen des Stiefvaters Johann August Dorn als ihren eigenen angenommen zu haben. 567 Die Behörden richteten sich im weiteren Umgang mit ihr nach dieser Aussage. Daher wurde sie im Titel der Gaunerliste als ‚Dornin’ und nicht unter dem im Kirchenbuch eingetragenen ‚Martinin’ aufgeführt. 568 Von den Behörden wurde die Praxis der Namensänderung durchaus reflektiert, „wie es denn unter denen Dieben u[nd] Spitzbuben etwas gewöhnliches ist, u[nd] die Erfahrung bezeuget, daß die Diebe, u[nd] Vagabunden, wenn sie zu Arreste gebracht werden, ihre Nahmen verändern, u[nd] dadurch ihren gefährlichen Stand zu verheimlichen, u[nd] aus dem Arrest sich loßzuwircken suchen“ 569 . Dass die Zweitnamen regelmäßig Prozesse verzögerten, da die Beamten sich um eindeutige Zeugenaussagen bemühen mussten, zeigt im Umkehrschluss, dass die Personenbeschreibungen aus den ‚Spezifikationen’ allein wegen ihrer Austauschbarkeit in der Praxis nicht ausreichten, um eindeutige Identifikationen zu garantieren. 570 Als Merkmale ‚clandestiner’ Praktiken und der Abgrenzung weisen zahlreiche sächsische Quellen neben den Spitznamen und Pseudonymen ebenfalls auf die Verwendung von eigenen Sondersprachen hin. Anzeichen dafür, dass man diese im Untersuchungsgebiet „Rothwelsch“ genannt hätte, finden sich nur sehr wenige. 571 Verhöraussagen über die exklusive Sprechweise, Vokabelverzeichnisse und Hinweise zum Gebrauch spezifischer Wendungen bieten wesentlich öfter 564 HStA Dresden, 10052, Nr. 361. Der Titel der Akte ist falsch. 565 HStA Dresden, 10025, Loc. 5632. 566 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 121r. Ihr Geburtsort war Schlossvippach. Dort wurde der Nachweis ihres Geburtsnamens angefordert. Das Wort ‚Schlunz’ stand umgangssprachlich für einen unsauberen Menschen, G RIMM / G RIMM , Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Sp. 837. 567 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 18r. 568 Specificatio Dornin [1767]. 569 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 151r-151v. 570 Vgl. G ROEBNER , Schein, S. 163-164. 571 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 35r. Hier kann der Begriff von Beamten eingefügt sein. Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 44v und fol. 46r. Darin ist der Begriff Bestandteil einer Gaunerliste. <?page no="129"?> 130 die Bezeichnungen Spitzbubensprache 572 , Diebessprache 573 oder im Thüringer Raum „cochumer Sprache“ 574 dafür an. Nicht nur von 1687 ist eine umfangreiche Wörter- und Ausspruchliste überliefert. 575 In die Aussagen des gesamten Untersuchungszeitraums flossen viele Einsatzmöglichkeiten der Sondersprache ein. So teilten Zeugen auch alltäglich gebrauchte Redewendungen mit und erläuterten diese gelegentlich. Im Verhörprotokoll der ‚Köhlerin’ steht beispielsweise, es „hätte Küpper auf ihre DiebsSprache sie ferner gefraget: Wo der Herr von Bülau goschte? (schliefe)“ 576 . Eine besondere Beweisfunktion kam der Diebessprache zu, wenn ein bestimmter Ausspruch Beleg für ein qualifizierendes Element des Delikts war. So wurde in einem Fall genau danach geforscht, wer den Satz „Macht doch capores! “ gesagt hatte, was „nach der Spitzsprache todtmachen heiße“ 577 , da dies die Möglichkeit eröffnete, einem Räuber die Tötungsabsicht nachzuweisen. Über die Bedeutung dieses Soziolekts als Vergemeinschaftungsmerkmal sagte der Inquisit Johann Georg Hofherr im Verhör: „Auf Vorstellen, daß er beständig die Cochumer Sprache mit der Dore- Liese […] geredet, wie er denn sagen könnte, daß er die Cochumer Sprache nur halb verstehe? antworttet er: Ja, er verstehe solche Sprache, denn wenn man unter den Wölffen wäre so müste man mit heulen, und wenn einer die rechte Cochumer Sprache nicht könnte, so sprächen sie gleich: Du bist ein wittscher Gaeffer und traueten ihm nicht.“ 578 Daher war es für Wirtsleute, Anwohner oder Händler und Kaufleute verhängnisvoll, wenn man ihnen nachweisen konnte, diese Sondersprache zu beherrschen. Dadurch war automatisch der Verdacht generiert, es handele sich bei ihnen um Diebswirte, Gehilfen und Hehler - oder eben um Bandenmitglieder. 579 Sogar dem Pfarrer im Dorf Medewitzsch wurde nachgesagt, in seiner Sonntagspredigt vor der Gemeinde die ‚cochume Sprache’ verwendet zu haben: Er habe mit dem Satz „Stickum, ihr Cochum, in Mockum ist morum (welches soviel heiße: Ihr Cochumer retiriret euch, in der Stadt ist Lerm)“ Anwesende 572 Auch als „Spitzsprache“, z.B. im Verhör mit Rehmann, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 40r; in einem Fall auch als „Wahlerey“, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 35r. 573 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 15r. 574 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 43v. 575 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 35r-42r. Diese wurde u.a. schon verwendet von K LUGE , Rotwelsch und D’A RCANGELIS , Jenischen. 576 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 15r. 577 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 40v. Im vorliegenden Beispiel handelte es sich etwa um die Tötungsabsicht oder Gewaltbereitschaft, da „capores machen nach der SpitzSprache todt machen heiße“, ebd., fol. 40r-40v. Kapores als Wort hebräischen Ursprungs für entzwei oder tot auch im Grimm’schen Wörterbuch, G RIMM / G RIMM , Deutsches Wörterbuch, Band 11, Sp. 187. 578 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 67r-68v. 579 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337, fol. 2r-2v oder HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 186v-187r. <?page no="130"?> 131 mit ‚Sprachkenntnissen’ vor einer drohenden Ortsdurchsuchung gewarnt. 580 Auch Juden, die sich untereinander auf Hebräisch verständigten, gerieten durch ihre exklusive Sprache in einen größeren Verdacht, ihre Gesprächsinhalte geheimhalten zu wollen. 581 Allein schon die Bandbreite der Verweise verdeutlicht, dass der Soziolekt der ‚Gauner’ auch im Kurfürstentum über das 18. Jahrhundert hinweg von Bedeutung war. Die Tatsache, dass die Ermittlungsbehörden immer wieder über unterschiedliche Redeweisen informiert wurden und sich zunehmend über diese austauschten, verringerte den fortwährenden Einsatz und den Einfluss der Spitzbubensprache also nicht. Spielten aber insgesamt Familien in den kursächsischen Bandenprozessen eine bedeutsame Rolle, so ist doch zu beobachten, dass sich im Sprachgebrauch keine auf kleine Gruppen bezogenen gesonderten Begriffe oder ‚Dialekte’ abzeichneten. Die in Sachsen verwendete Spitzbubensprache war somit anscheinend von einem überregional gültigen Wiedererkennungswert geprägt. 582 Es kann zwar festgestellt werden, dass sich beim Vergleich der verschiedenen Vokabelverzeichnisse unterschiedlicher Herkunftsbereiche gewisse Eigenheiten andeuten, aber im Wesentlichen war die Spitzbubensprache im Großraum Sachsen ähnlich. So finden sich über die zeitliche und räumliche Distanz hinweg einige Gemeinsamkeiten zwischen dem Wortschatz des ‚Liber Vagatorum’ von 1510 und der Vokabelliste aus dem Sächsischen von 1687. 583 Das bedeutet aber auch, dass die Sondersprache kein eigentliches Merkmal einer einzelnen ‚soziale Kleingruppe’ war, sondern eine übergeordnete ‚Kunstfertigkeit’, die eine spezifische Kommunikation in größeren Zusammenhängen oder sogar über territoriale Grenzen hinweg ermöglichte. Ihr Gebrauch stiftete Zusammenhalt untereinander und wirkte abgrenzend zu Opfern und Verfolgern, wies aber eigentlich über die einzelne Bande hinaus. Wenn man nach einem gemeinsamen Normensystem unter den Bandenmitgliedern und damit dem nächsten Element fragt, das als gruppenkonstituierender Faktor geprüft werden kann, so muss man zunächst feststellen, dass die Verhaltensweisen oder Richtlinien der Banden nicht kodifiziert wurden. Anhand der dokumentierten Auseinandersetzungen innerhalb der Banden lässt sich aber 580 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 53r-53v und fol. 71r. 581 Vgl. HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 6v. 582 Auch Catharina Sophia Dorn erwähnt, „wie sie denn auch alle zusammen ihre eigene Sprache, die Blatte oder Cochumer genannt, redeten“ und bezieht sich dabei auf die unterschiedlichen Täterkategorien der so genannten Sächsischen Bande, Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 41r. 583 Einige der augenfälligen Ähnlichkeiten zeigen sich bei den sehr häufig gebrauchten Wörtern für Nacht (Schwertz / Schwärze), Auge (Dierling / Thürling), Stadt (Kielam / Külen), Dorf (Gfar / Gefohr), Kirche (Difftel / Tiffel), Bett (Senfftrich / Senfftling), Stroh (Rauschart / Rauschert), Tisch (Glathart / Glattert), Käse (Wendrich / Fändrich), Gans (Breitfuß), Fisch (Floßling / Fließling), Wasser (Floßhart / Floßert), Feuer (Funckart / Funckert), Schuh (Drittling) und Galgen (Dolman / Thalmann). Es kommen neben den Überschneidungen aber auch deutliche Abweichungen und Weiterentwicklungen einiger Begriffe vor. Vgl. jeweils die Angaben bei J ÜTTE , Abbild, S. 180-219 und in HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 35r-38r. <?page no="131"?> 132 prüfen, worin die gemeinsamen Normen am ehesten bestanden haben konnten, da Konflikte immer da entstanden, wo Normvorstellungen miteinander kollidierten oder übertreten wurden. 584 So gab es eine Reihe gewaltsam ausgetragener Auseinandersetzungen, die sich um die Verteilung von Geld und materiellen Werten drehten, wie von Johann Jacob Rehmann beschrieben: „Es hätte der Schnarch-Johannes ein Beutelgen mit Golde unterschlagen wollen, und in ein Waßerlauf auf der Huthweide vergraben. Inquisit aber und der dicke Lipß wären solches gewahr worden, und hätten dieses Beutelgen auf-gesucht, gefunden, und die 8 Pistolen benebst einen DoppelDucaten so darinnen gewesen, unter sich getheilet; worüber nach der Zeit [...] zwischen dem Schnarch-Johannes und dicken Lipsen Händel entstanden, indem letzterer nach erstem schießen wollen [...]“ 585 Die Gewaltausübung untereinander war aber nicht nur den Fragen um ungleiche Verteilung von Besitz zuzuschreiben, sondern konnte auch persönliche Differenzen, Eifersucht und Vertuschung zur Ursache haben. Es gab ebenfalls Hinweise auf Tötungen unter Räubern. 586 Wie die Landesregierung in einem Bericht ausführte, war der „dürre Schneider“ nach seiner Flucht aus dem Festungsbau 1754 aus Rache ermordet worden. 587 Einem Komplizen im Verhör eine Gewalttätigkeit zu unterstellen, bei der man selbst der unterlegene gewesen war, war zudem damit begründet, dass man sich selbst vorteilhaft und als unmaßgeblicher Mitläufer darstellen konnte, indem der Andere als Unmensch oder notorischer Verbrecher präsentiert wurde. Johann Georg Weigelts Aussage, seine Komplizen hätten ihn unter Ankündigung von ernster Gewalt dazu gedrängt, mit der Bande Verbrechen zu begehen, ist ein Beispiel für Zwangsausübung untereinander. 588 Eine der wenigen Taten, die von Andreas Christian Käsebier überhaupt im kursächsischen Herrschaftsraum überliefert sind, war ein gewaltsamer Angriff auf einen Mitwisser, womit dieser zum Schweigen gebracht werden sollte. 589 Da das Opfer, sein ehemaliger Knecht Carl Siegmund Räntzer, bei ihm seinen ausstehenden Lohn einfordern wollte, war die Gewalttätigkeit hier außerdem materiellen Beweggründen geschuldet: Nach dessen Aussage hatte der Räuber ihn bei ihrem Wiedersehen in einem Wirtshaus zunächst freundlich begrüßt und ihm eine Tabakpfeife ge- 584 Vgl. S CHWONKE , Gruppe. 585 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 25v-26r. 586 Nickel List wurde ein Mord an einem so genannten Wachtmeister vorgeworfen, Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 137v-138r, Johann Gottfried Kuntze wurde ein Mord an einem Komplizen namens Leonhard nachgesagt, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X, fol. 16r- 17v, und Georg Sachße soll seinen Kollegen Gottfried Bretschneider ermordet haben, Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 44r. 587 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640, fol. 4v-5r. 588 Ebd., fol. 15r-23r. 589 Vgl. im Folgenden den Bericht des Opfers in HStA Dresden, 10079, Loc. 30783. <?page no="132"?> 133 schenkt, bevor die Stimmung plötzlich umschlug. Als Räntzer sich daraufhin auf den Weg nach Leipzig begab, ritt ihm Käsebier zusammen mit „dem dicken Johann“ nach und verwundete ihn mit den Worten: „Canaille [...], ich erschieße oder ersteche dich! “ mehrfach mit einem Messer, nachdem seine Schusswaffe versagt hatte. Die sechs Verletzungen des Opfers wurden von einem Arzt in einem Gutachten genau beschrieben. Einerseits wirkt dieser Tatbericht glaubwürdig, da der Mediziner die Gewalteinwirkung bestätigte. Außerdem musste sich Räntzer sicherlich darüber bewusst gewesen sein, dass er sich allein durch das Eingeständnis seines Kontakts zu den Spitzbuben in den Augen der Leipziger Gerichtsbeamten selbst verdächtig machte - zumal, wenn er offenbar bereits ‚geschäftlich’ mit ihnen zu tun gehabt hatte. Andererseits ist es verwunderlich, dass ergänzende Zeugenaussagen, beispielsweise vom Gastwirt, hier fehlen und anscheinend keine weiter gehenden Ermittlungen mehr geführt wurden. 590 Eine verwandtschaftliche Verbindung schützte keineswegs vor physischen Misshandlungen. 591 Inquisit Georg Sachße erzählte von den verwegenen und gewaltbereiten Brüdern Hirten-Friede und Hirten-Andreas, die üblicherweise zusammen umherzogen und dabei gelegentlich auch miteinander in Zwist gerieten. Vor einer bei Syhra gelegenen Schenke „hätte HirtenAndreas seinem Bruder Frieden einen Schnitt übers Gesicht, u[nd] dieser jenem einen Stich in Unterleib gegeben, Friede wäre wieder in die Schencke gegangen, Andreas aber aufm Felde liegen blieben, u[nd] hernach hinein nach Geithajn zum Bader geschafft u[nd] allda geheilet worden“. 592 Über Gewaltausübung im Kontext innerfamiliärer Konflikte geben weitere Quellen Auskunft. Nickel Lists Ehefrau stellte ihn in ihren Verhören als einen unberechenbaren Tyrannen dar, der durch geringe Reizausübung zu gewaltsamen Handlungen neigte: „Saget dabey, ihr Man, der Mörder, hette sie selber vielmahl bedrohet, sie todt zu schießen, hette sie manchmahl braun und blau geschlagen gehabt, daß sie sich schämen müssen, wan sie zum Tisch des Herrn gegangen, deßen ihr der Hh. Pfarrer selber Zeugnüß geben würde.“ 593 Die Auseinandersetzungen zeigen im Umkehrschluss ein Normensystem unter den Teilnehmern auf, das darin bestand, Beutewerte kollegial und gerecht aufzuteilen, sich gegenseitig nicht zu verraten oder in die Gefahr der Entdeckung zu bringen. Ein Eid unter Räubern auf die jeweilige Bande oder deren Verhaltensregeln wurde in den kursächsischen Fällen nicht geleistet, auch wenn Fritz und Schwerhoff diese Form der Verbrüderung als den „Normalfall“ bewer- 590 Möglicherweise maßen die Behörden dem Bericht des Knechts keine hohe Glaubwürdigkeit bei. 591 So zeigt Behrisch in seiner Studie zu Görlitz, dass sogar besonders oft die Beteiligten von Gewalttaten, die in Gruppen begangen wurden, miteinander verwandt waren, vgl. B EHRISCH , Obrigkeit, S. 123. 592 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 89v. 593 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 138r-138v. <?page no="133"?> 134 ten. 594 Alles in allem scheint in diesen Einzelberichten ein interner und unausgesprochener ‚Verhaltenskodex’ auf, der ganz dem übergeordneten Ziel gewidmet war, kollektiv Eigentumsdelikte zu begehen und materiellen Gewinn zu erzielen, von dem alle an der Gruppe Beteiligten profitieren sollten. Der Charakter der untersuchten Banden ist zusammenfassend dadurch bestimmt, dass sie im Umfang meist einer Kleingruppe entsprachen und für eine Dauer von einigen Tagen bis mehreren Jahrzehnten auf ein gemeinsames Ziel, nämlich auf den gemeinsamen Diebstahl, hinarbeiteten. Dazu traten sie für die Zeitspanne, die die Delikte umfasste, in relativ konstante Interaktion, die besondere Formen der Kommunikation, wie die Verwendung von Sondersprachen, mit sich brachte. Daneben stiftete auch die Annahme eines Bandennamens Zugehörigkeitsgefühl und Gruppenbewusstsein. Ausgelöst und verstärkt wurde dieses Gruppengefühl dadurch, dass viele Beteiligte sich bereits vor der Begehung krimineller Delikte kannten, und dies auffallend häufig aus einer verwandtschaftlichen Verbindung heraus. Rollenmuster, die aus familialen Zusammenhängen kamen, übertrugen sich zum Teil in die familienübergreifenden Gruppen und manchmal auch in die bandeninterne Kommunikation. Durch die deliktbezogene Aufgabenteilung und besondere Leistungen in der Praxis konnten sich bestimmte Funktionsrollen in der Wahrnehmung durchaus längerfristig verfestigen. Gruppeninterne Normensysteme sind meist eher den berichtenden Aussagen über Konflikte zu entnehmen und zeigen sich dabei als nicht sehr charakteristisch. Welche Aspekte weisen über die Definition einer ‚normalen’ Kleingruppe hinaus? Die meisten konstituierenden Faktoren beziehen sich bei der Bande ganz klar auf das gemeinsame ‚Arbeitsziel’ des Diebstahls oder Raubs und auf den materiellen Gewinn. Wie die Kommunikation unter den Gruppenmitgliedern jenseits der kriminellen Aktionen ablief, bleibt weitgehend im Dunkeln. Außerdem ist durch die ausgeprägten familialen Zusammenhänge bedingt, dass der Eintritt und der Ausstieg aus den Banden nicht immer freiwillig, sondern auch herkunftsabhängig war oder gewaltsam von statten ging. Die vielen Gewalttätigkeiten untereinander zeugen außerdem von tiefen Konflikten und einem mitunter gestörten Gruppengefühl. Besonders prägnant ist aber, dass die Dauer sowie die Konstanz einer Bande nicht festgelegt waren und die personelle Zusammensetzung von Tat zu Tat variieren konnte, sodass die Abgrenzung zwischen Bande und ‚Außenwelt’ insgesamt als fließend beschrieben werden kann. 594 Vgl. F RITZ , Rotte, S. 213 und S CHWERHOFF , Karrieren, S. 43. <?page no="134"?> 135 4.3 Zusammensetzung: Herkunft und Karrieren Nachdem die vorangehenden Ausführungen bestimmte Gemeinsamkeiten der Gruppenmitglieder und ihre häufigen familiären Bindungen aufgezeigt haben, beschreibt das folgende Kapitel die Räuberbanden hinsichtlich Alter und Geschlecht, Konfession und sozialer wie geographischer Zusammensetzung. Dabei wird der Blick darauf fokussiert, welche Rekrutierungsmuster sich andeuteten und welche Handlungsmöglichkeiten sich für die Beteiligten eröffneten. Die Altersverteilung der Inquisiten in Bandenprozessen war breit gefächert: In die Ermittlungen waren zahlreiche Kinder von Delinquenten involviert. Es kommt dagegen nicht vor, dass minderjährige Opfer vernommen wurden, obwohl es viele Beispiele dafür gibt, in denen Beraubungen vor den Augen aller Haushaltsmitglieder ausgeführt wurden. Die Behörden setzten Kinder und Jugendliche aber als Belastungszeugen ein, die aus ihrer Sicht über den kriminellen Alltag berichteten. Anna Maria List, Catharina Sophia Dorn und Margaretha Sophia Reichert sind Beispiele dafür. 595 Die Aussagen der jungen Leute decken sich in verschiedenen Punkten mit den Erzählungen der erwachsenen Inquisiten zur eigenen familiären Herkunft und ihrem Aufwachsen, so etwa darin, dass die Verwandten dem gleichen Lebensunterhalt nachgingen, für den sich die Jugendlichen auch entschieden, dass die Eltern früh gestorben seien oder dass man sich von ihnen getrennt hatte, um sich eigenständig in herrschaftliche oder militärische Dienste zu begeben. Wann in der Regel der Zeitpunkt anzusetzen ist, an dem Kinder sich von ihren Eltern lösten und ihre eigenen Wege verfolgten, lässt sich den Ausführungen nicht eindeutig entnehmen. Die ‚kindlichen’ Belastungszeugen waren bei der Verhaftung meist nicht älter als zwölf oder 14 Jahre gewesen. 596 Als Samuel Kegel allein, ohne andere Familienmitglieder, als Komplize in die Mühlen der Justiz geriet und 1739 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, war er gerade einmal 14 Jahre alt. 597 Johann Andreas Bütter gab sich in seinen Verhören als 13bzw. 14-Jähriger aus, während die Richter dies als unglaubwürdig darstellten und sein Alter auf 16 Jahre schätzten. 598 Der 15 Jahre alte Johann Andreas Frick wurde in mehreren Konfrontationen als Belastungszeuge eingesetzt, in der Bestrafung aber wie die älteren Mitglieder seiner Bande behandelt. 599 Diese Beobachtung deckt sich mit der oben getroffenen Feststellung, dass Kinder ab 595 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705; HStA Dresden, 10025, Loc. 5674; HStA Dresden, 10047, Nr. 3963. 596 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 15r; HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 13r. 597 So besagt ein Verzeichnis von Gefängnisausbrechern, dass Samuel Kegel 1746 um die 21 Jahre alt war, Stadtarchiv Chemnitz, III VIIb 54, Bd. 1, Nr. 11. 598 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1303, fol. 12r; vgl. auch Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 1v. 599 Frick konnte aber, genauso wie sein 18-jähriger Bruder, vor einer endgültigen Verurteilung aus der Haft entkommen, HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 329v. <?page no="135"?> 136 dieser Altersstufe auch in den Gaunerlisten eigenständig namentlich benannt wurden. Aus dem Zusammenhang der genannten Quellen lässt sich schlussfolgern, dass die Jugendlichen somit von den Behörden im Unterschied zur heutigen Definition von Minderjährigkeit schon ab etwa 14 Jahren als mündig wahrgenommen wurden. Den Einstieg auf die ‚schiefe Laufbahn’ beschrieben die meisten der Betroffenen mit einer Verführung in jungen Jahren durch Erwachsene, oft kombiniert mit der Perspektivlosigkeit durch Arbeitsmangel. 600 Kegel legte sogar ein regelrechtes Ausbildungssystem in den Banden dar, indem er über seinen Mittäter Wilhelm Philipp sagte, „daß der erstere ihn, Inquisiten, auf sieben Jahr, gleichwie er ehedem bey Lips Tullianen auch Sieben Jahr gelernet, als einen Lehr- Jungen angenommen, und nach dießer Zeit ihm eine Kundschafft zugeben versprochen, folgl[ich] ihn zum Stehlen angeführet.“ 601 Die hier verwendeten Begrifflichkeiten vermitteln neben der Aussage zur Rekrutierung Jugendlicher deutlich die Einstellung zum Diebstahl als Handwerk. Die Verhöraussagen zeigen, dass die Rekrutierung zu kriminellen Netzwerken vorrangig über Familienverbindungen funktionierte und dabei auch der eigene Nachwuchs in die unlauteren Machenschaften einbezogen wurde. Die Chancen, als Nachkomme von Vaganten, Kleinkriminellen oder Räubern einen redlichen Lebenswandel einzuschlagen, sind im Hinblick auf die vorliegenden Quellen als eher gering einzuschätzen. In nur wenigen Fällen mag dies gelungen sein. Zumal, wenn es sich um eine nichtsesshafte Familie handelte, war der Rahmen dafür begrenzt, denn Heirats- und Arbeitsbeschränkungen reglementierten die Möglichkeiten, ohne vorhandenes ‚soziales Kapital’ an einem sächsischen Ort ansässig zu werden. 602 Allerdings muss die Perspektivität hier insofern berücksichtigt werden, als der methodische Zugang über Gerichtsakten den Aspekt der Lebenschancen stark verfärben kann. Immerhin hatte selbst die Tochter Nickel Lists anscheinend keinerlei Kontakte zu den kriminellen Komplizen ihres Vaters. 603 Ob Johann Gottfried Kuntzes Ehefrau und Tochter in enger Beziehung zum devianten Umfeld standen, lassen die Quellen ebenfalls offen, 604 und Johann Karrasecks Tochter führte angeblich einen gewöhnlichen Lebenswandel in Leutersdorf. 605 So wie in seltenen Einzelfällen davon berichtet wird, dass Diebe ansässigen Familien entstammten, so muss auf der anderen Seite davon ausgegangen werden, dass einige Delinquenten vor Gericht ihre Ehefrauen und Kin- 600 Eine genauere Analyse der Argumentationsmuster der Betroffenen soll später vorgenommen werden. 601 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 34r. 602 Vgl. dazu G ESTRICH [u.a.], Geschichte, S. 375-384. 603 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 102v. 604 Hinweise auf Frau und Tochter Kuntzes unter anderem in einem Kirchenbuchauszug, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 42r. 605 Dies berichtet zumindest der Heimatforscher Erich Klausnitzer von der Tochter Veronika Karraseck, vgl. K LAUSNITZER , Karraseck, S. 15. <?page no="136"?> 137 der erfolgreich geheim hielten, um diese nicht in Verdacht zu bringen. 606 Da zudem die Angaben auch in dieser Hinsicht stets argumentativ zu verstehen waren, sind die Informationen, die über die (familiäre) Herkunft gegeben wurden, nur unter Vorbehalt auszuwerten. Die meisten der unter Räubereiverdacht vor Gericht stehenden Personen waren in einem Alter zwischen 20 und 40 Jahren, wobei mehr als die Hälfte dieser wiederum zwischen 20 und 30 Jahren alt war. 607 Damit ergibt sich ein ähnlicher Altersquerschnitt, wie er sich bereits in der Untersuchung der Gaunerlisten gezeigt hat. Es waren allerdings deutliche Abweichungen möglich, wie die Fälle mehrerer Jugendlicher oder des 1755 in Wolkenstein hingerichteten 70-jährigen Gottfried Killig beweisen. 608 Der Anteil der Älteren dürfte vor allem dadurch geringer ausgefallen sein, dass die besonderen Lebensbedingungen in Räuberbanden oft physische Kraft und Schnelligkeit erforderten. Vor allem aber sind in den hohen Strafmaßen und in der härteren Bestrafung von Wiederholungstätern im Besonderen äußere Begrenzungen einer potenziellen Rückfallquote zu sehen. So war der Altersdurchschnitt von im Festungsbau inhaftierten Delinquenten, von denen der Großteil wegen eines - geringfügigen oder nicht zweifelsfrei nachgewiesenen - Eigentumsdeliktes dorthin gebracht worden war, mit ungefähr 40 Jahren deutlich höher. 609 Der eindeutige Großteil der Inquisiten war männlich. Ihre Töchter und Ehefrauen, Schwestern und Mütter wurden jedoch häufig als Zeuginnen vor Gericht zitiert. Es waren aber durchaus auch Frauen an Taten von Räuberbanden in Sachsen beteiligt. Eine Stichprobenauszählung ergibt eine ‚Frauenquote’ von 14 Prozent. 610 Diesen Frauen wurden in den Verhören durchaus wirksame, wenngleich den Männern untergeordnete Funktionsrollen bei den kriminellen 606 Manche Inquisiten machten beispielsweise widersprüchliche Angaben zu ihren Familienverhältnissen. Nur ein Beispiel dafür ist Friedrich Sahrberg, HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 32r- 33r und fol. 136r-139v. 607 Die Einsicht in die Altersverteilung ergibt sich aus einem Sample von 100 Personen, die zwischen 1703 und 1802 vor den sächsischen Gerichten standen und deren Alter in den Akten konkret angegeben wird. Diese Altersverteilung zeigt sich etwa exemplarisch bei der Bande um Haußwald und Gottleber, deren sechs Mitglieder zwischen 22 und 32 Jahren alt waren, als sie 1774 vor Gericht standen. Die elf Inquisiten im Zusammenhang mit Johann Karraseck spiegeln 1802 ein breiteres Spektrum vom 19-jährigen Johann Gottlob Keßel bis hin zu dem 45-jährigen Jakob Engelmann wider. 608 Vgl. die Supplik seiner Kinder vom 1. September 1755, HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 109r. 609 Der Altersdurchschnitt der 56 in der ersten Klasse des Dresdener Festungsbaus sitzenden Delinquenten lag im Jahr 1738 bei 41,7 Jahren, wogegen der Mittelwert der oben genannten 90 Personen nach 32 tendierte. Der Gesamtdurchschnitt aller 175 Insassen des Festungsbaus betrug 36,7 Jahre. Vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, fol. 15r-38r. 610 Ausgewertet wurde eine repräsentative Zusammenstellung von über 190 Inquisiten, deren Daten den verschiedensten Akten quer durch den Untersuchungszeitraum entnommen wurden, in denen aber der jeweilige biografische Hintergrund möglichst genau wiedergegeben wird. Darunter waren 27 Frauen, was einem Anteil von 14 Prozent entspricht. <?page no="137"?> 138 Aktionen attestiert. Auch bezogen auf die weiblichen Mitglieder in den Gruppen zeigt sich wiederholt der große Einfluss, den die familiäre Prägung für die Bandenkonstituierung hatte, denn die beteiligten Frauen waren stets mit einem männlichen Mitglied der Gruppe verwandt, verheiratet oder verschwägert. Die verschiedenen Möglichkeiten weiblicher Mithilfe beliefen sich in den Darstellungen aus den Strafverfahren zumeist auf Auskundschaftung, Beratschlagung, heimliche Unterstützung und Verarbeitung oder Weiterverkauf der Beute. Der Vorwurf der maßgeblichen Anstiftung richtete sich häufig gegen eine weibliche ‚Spitzbübin’. Anna Barbara Köhler beispielsweise „were noch schlimmer als ihr Mann“ 611 . In der Gegenwart anderer Diebe habe sie ihn mit „Christoph! Wenn du doch diese Künste auch köntest“ dazu aufgefordert, seinen Lebensunterhalt mit dem Aufbrechen von Häusern zu bestreiten, worauf der anwesende Kupper geantwortet habe „wenn er nur ein 8. Tage mit mir in die weite Welt herum gereiset, soll er solches auch schon können“. 612 Die Betrachtung des Diebstahls nicht nur als Handwerk sondern gar als Kunstfertigkeit und der Hinweis auf eine ‚Einbrecher-Ausbildung’, lässt in dieser Äußerung der Frau ein Bild des Räubers als Profi mit kritischer Distanz zu seiner Tätigkeit aufscheinen. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt Schwerhoff, der die Rede von ‚Kunst’ und ‚Meistern’ unter Betrugsbettlern beobachtet. 613 Frauen in anderen Funktionsrollen sind sehr rar: Die Leipziger ‚Formula Sententiarum’ enthalten Fragenlisten, in denen weiblichen Delinquentinnen ein Einbruch in einen Kaufladen oder das Wachestehen und dabei die Beteiligung bei einer „Spitzbuben-Rotte“ zugeschrieben wurden. 614 Dass weibliche Bandenmitglieder öfter bei gewaltsamen gemeinschaftlichen Raubzügen anwesend gewesen wären oder Gewalt gegen Opfer ausgeübt hätten, ist aber äußerst selten belegt. Anna Elisabeth Frenzelin, die Ehefrau des Erzdiebs Johann Gottlieb Frenzel, wurde zwar bezichtigt, während eines Raubes mit einer Schrotflinte einen Bauern getötet und ein weiteres Opfer schwer verletzt zu haben. 615 Die weiteren Ermittlungen bestätigten diesen Verdacht allerdings nicht. Eine außergewöhnliche oder tonangebende sächsische Räuberin ist somit in den vorliegenden Quellen nicht zu erkennen. Dennoch sind mit Blauert den beteiligten Frauen, von denen in Süddeutschland eine gar an der Spitze einer Räuberbande stand, besondere Funktionen für das Überleben und den Erhalt der Gruppe beizumessen. 616 Frauen zeigen sich 611 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 23r. 612 Ebd., fol. 14v. 613 S CHWERHOFF , Karrieren, S. 40-41. 614 UB Albertina, Ms 2476, Nr. 40 (Catharina Elisabeth Braunin, Anna Barbara Wagnerin, Hedwig Margarethe Nieserin, Borna 1733) und Nr. 44 (Catharina Gertrud Frenckel, Meißen 1735). Vgl. dazu auch S CHEFFKNECHT , Weiber, S. 97 und M ACHNICKI , Brecheisen, S. 147. 615 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 39r-39v. 616 B LAUERT , Sackgreifer, S. 23. Vgl. auch das Beispiel der Schleiferbärbel bei D ANKER , Geschichte, S. 115-118. <?page no="138"?> 139 auch in den sächsischen Beispielen in ganz unterschiedlichen Rollen innerhalb der Räuberbanden, wie auch schon für andere Untersuchungsbereiche vermutet wurde. 617 Sie hatten, wenn es um das Beutegut ging, am häufigsten mit Textilien zu tun, was von der Forschung unterschiedlich bewertet wird. So ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Kleidungsstücke im 17. und 18. Jahrhundert von durchaus großem Wert sein konnten oder zumindest eine hohe Bedeutung im Alltagsleben einnahmen, sodass das Stehlen und Hehlen von Stoffen keineswegs als ‚Bagatelldelikte’ einzuordnen sind. 618 Insgesamt ist die pauschale Zuordnung, Kleindiebstähle seien weibliche Delikte und Einbruchdiebstahl mit großer Beute eine männliche Domäne, 619 problematisch und zu relativieren. So kann der Umstand, dass im Kursächsischen keine weibliche Räubergestalt herausragt, auch damit erklärt werden, dass die Untersuchungen ihren Blick nicht auf weibliche ‚Banditinnen’ fokussierten. Beispielsweise sind in den Normen oder aus den Fragen heraus keine Vorannahmen aus obrigkeitlicher Sicht erkennbar, dass Frauen in Banden überhaupt wichtige Positionen eingenommen haben könnten. Obwohl die zeitgenössischen Normen keine geschlechtsspezifische Umgangsweise nahelegen und Frauen wie Männer in der Strafpraxis mit einer weitgehend geschlechtsunabhängigen Behandlung rechnen konnten, 620 lässt sich in den vorliegenden Verhören am Vorgehen und an den Fragen nach Komplizen, Hierarchien und ‚Arbeitsorganisation’ festmachen, dass die tragenden Rollen in Räuberbanden viel eher bei den Männern gesehen wurden. 621 Als Informationslieferant, Ideengeber und Teilhaber tauchten zwar einige Frauen im Bild der sächsischen Räuberbande, wie es in den Verwaltungsquellen entworfen wurde, auf, aber die Umsetzung sahen die Beamten anscheinend von vornherein in den Händen von Männern. Insofern stützt die darin enthaltene zeitgenössische Prämisse, Einbruchdiebstahl und Straßenraub seien spezifisch männliche Kriminalität, auch patriarchale Geschlechtervorstellungen. Es spiegelt sich darin die Grundannahme wider, dass ein Mann in einer Ehe die aktive Rolle des Ernährers einer Familie übernahm und der Frau die häusliche Arbeit und die Versorgung der Kinder zukam - auch bei einem Leben im kriminellen Umfeld. Dass sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein Frauenbild entwickelte, das von geringer Gewaltbereitschaft und Sanftmütigkeit ausging und den Frauen prinzipiell die häusliche Arbeit und gesellschaftliche Passivität beimaß, 622 zeigt sich ebenfalls im Umgang mit ihnen als zweitrangigen Bandenmitgliedern. Frauen wurden in ihrer Familienrolle, die sich letztlich mit ihrer Bandenfunktion überschneiden konnte, vorrangig als Erzieherinnen der Kinder angesehen. Trennten sich die Eltern, lebten oder reisten die Söhne und die Töchter 617 R UBLACK , Magd, S. 182-189. 618 W ALKER , Crime, S. 163-166. 619 Siehe beispielsweise S CHEFFKNECHT , Weiber, S. 95. 620 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Frauen. 621 Vgl. dazu auch W IEBEL , Schleiferbärbel. 622 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Frauen, S. 197 und R UBLACK , Magd, S. 329. <?page no="139"?> 140 zumeist mit ihren Müttern weiter. 623 Die Fokussierung auf ihre Erzieherfunktion konnte zur Folge haben, dass sich bereits überführte Täter als von ihren Müttern auf das Stehlen ‚abgerichtet’ darstellten, um sich selbst zu entlasten. 624 Dieser Vorwurf der falschen Erziehung und unheilvollen Fehlleitung von Kindern durch Frauen findet sich nicht nur mit Bezug auf deren eigene Nachkommen: Der Görlitzer Bürgermeister plädierte 1776 dafür, die Diebin Anna Maria Müller nicht in einer Anstalt unterzubringen, die auch als Waisenhaus genutzt wurde. Er begründete seine Bedenken mit seiner Besorgnis, „daß wenn die dem Diebswesen in die 30. Jahre nachgegangene Müllerin in hiesiges Zuchthauß gebracht würde, allwo sie ihre [...] den Waysen gleich versorgte heranwachsende drey Kinder anträfe, und sie allda zusammen sich mit einander zu unterreden und Rathschläge zu faßen, täglich Gelegenheit hätten, es ihnen ein leichtes seyn werde, zu ihrer Befreyung und Fortsetzung der Diebs-Gesellschafft, und dem Bettelwesen, woran sie sich so lange Jahre reichlich genähret, Complots und Meutereyen anzurichten, dazu vielleicht von denen in dem damit combinirten Waysenhause befindlichen unschuldigen Personen ein und andre zu verführen, [...] und folgends über Stadt und Land großes Unglück zu bringen.“ 625 Nicht nur das familiäre Miteinander, sondern auch ein Aufeinandertreffen in Zucht- und Arbeitsanstalten konnte somit in den Augen der Behörden zu einer gegenseitigen Beeinflussung und Rekrutierung führen. Aufschlussreich ist die Ambivalenz, die damit der Unterbringung in diesen multifunktionalen „kombinierten Institutionen“ 626 beigemessen wurde. Das soziale Spektrum, aus dem die Rekrutierten der Räuberbanden stammten, zeigt ebenfalls eine starke Prägung durch den Faktor Familie: Lebenschancen, die sich Kindern und anderen Angehörigen boten, standen mit der beruflichen Ausbildung des Familienvaters in engem Zusammenhang. 627 Am häufigsten befanden sich unter den Inquisiten ungelernte Arbeiter wie Knechte, 623 Das Muster findet sich auch in den Gaunerlisten. Die beiden erwachsenen Brüder Fricke, die wegen Bandenverdachts vor Gericht standen, waren zusammen mit ihrer Mutter in Arrest gekommen, HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 2r. In einem anderen Fall war der Jugendliche Andreas Bütter mit seiner Mutter unterwegs gewesen und mit ihr samt ihrem neuen Mann verhaftet worden; sie ließ ihn aber bei ihrer Flucht zurück Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1303, fol. 43r- 57v. Dass eine Frau sich eher für die Kinderversorgung zuständig sah als ihren Mann, zeigt außerdem die eigene Aussage der Ehefrau Johann Philipp Intermanns, dass „gedachter ihr Ehemann nicht das geringste zu ihr Bracht, hingegen ihr weniges Vermögen nunmehro ganzlich consumiret, daß Sie die mit ihm erzeigten Kinder in Kummer und Noth elendiglich selbst ernehren müste“, HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 69v-70r. 624 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 2r-2v. 625 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 252r-253r. 626 Vgl. B RÄUER , Rat, S. 38. 627 Vgl. auch A MMERER , Heimat, S. 279. <?page no="140"?> 141 Tagelöhner und Wanderhändler, aber mit Bauern, Webern und anderen Handwerkern auch Angehörige der produzierenden und verarbeitenden Berufssparten. Auch Ausübende unehrlicher und missachteter Berufe befanden sich unter den Verdächtigen, so gaben sowohl Johann Christoph Köhler als auch Maria Frick im Rahmen des gleichen Prozesses an, als Gerichtsknechte gedient zu haben. 628 In einem anderen Verfahren wurde der Pegauer Scharfrichter Hans Philip Intermann wegen der Beteiligung bei einer ‚Diebsrotte’ unter Folter verhört. 629 Eine prominente Stellung nahmen ehemalige Soldaten und Deserteure ein, deren Anteil aber abhängig von der jeweiligen politischen Lage variieren konnte. 630 Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Zwangsrekrutierung ungelernter und fremder Vagierender für die Milizen eine im Kurfürstentum gängige Praxis war. Besonders in den häufigen Kriegszeiten sollte dies zur Verstärkung und Ausbesserung der Heeresreihen beitragen. 631 Dennoch schien der Einfluss der Soldaten und ihrer Angehörigen nicht so groß gewesen zu sein, dass sich dadurch die Häufigkeit und die Formen von Gewalt in den kriminellen Gruppierungen erhöht oder verändert hätten. 632 In der gerichtlichen Kommunikation über das delinquente und gewaltsame Verhalten wurde keine Verbindungslinie zur Realität oder den Nachwirkungen des Militärdienstes gezogen. Deutlicher positionierte sich dazu eine anonyme Druckschrift von 1710, die Soldaten neben Bettlern und Müßiggängern als eine von drei ‚Risikogruppen’ als potentielle Kriminelle beschrieb. Der Autor forderte daher eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Obrigkeiten gegenüber den Soldaten, besonders weil „sie insgemein der Faulheit und des Müßig-gangs gewohnet/ und so dann sich gar leicht zu der verbothenen Nacht-Arbeit wenden/ zumahl/ wann sie dieselbe schon vorhero erlernet und geübet haben.“ 633 Laut den Berichten der Verhörten hatten Kinder die Berufe ihrer Eltern zumindest zeitweise übernommen. Dies führte die Nachkommen eines vagierenden Paares selbst oft unweigerlich in die Nichtsesshaftigkeit. Denn wenn die Eltern ein Wandergewerbe betrieben, schlugen die Erben sehr häufig einen ähnlichen Weg ein. Auch der militärische Dienst war mit einem Mobilitätszwang verbunden. 634 Die Nichtsesshaftigkeit kam in den Protokollen zwar oft zur Sprache, erschien aber nicht als Grundvoraussetzung für eine kriminelle Karriere. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass vagante Täter sich mit Inquisiten aus ansässigen Familien in etwa die Waage hielten. Inwiefern die letzteren 628 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 84v und fol. 86v. 629 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 33v-39r. 630 K ROLL , Militär, S. 284. 631 Vgl. das Mandat zur Anwerbung Vagierender in die Miliz vom 28. August 1726, L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 1046. Vgl. auch K ROLL , Soldaten, S. 95-98. 632 Vgl. hierzu N OWOSADTKO , Militärdienst. 633 Wohlgemeynter Vorschlag, hier: § 8. 634 Die Anpassung an unterschiedliche Lebenswelten erforderte von den kursächsischen Soldaten des 18. Jahrhunderts ein hohes Maß an Flexibilität, vgl. K ROLL , Soldaten, S. 582-587. <?page no="141"?> 142 nur Scheinexistenzen waren, lässt sich in der Rückschau nicht exakt bestimmen. Doch belegen immer wieder Aussagen durch ortskundige Leumundszeugen die Herkunft und die dortige Lebensführung bestimmter Inquisiten. Allein die elf Angehörigen der Karraseck-Bande bilden nach dem Wortlaut des Bautzener Oberamtsberichts ein Beispiel für die Ansässigkeit, wurden doch zumindest acht von ihnen als im oberlausitzischen Seifhennersdorf, Leutersdorf und der näheren Umgebung wohnhaft begriffen. Lediglich bei dem aus der Nähe von Würzburg stammenden Komplizen Jakob Köhler wurde seine Wanderarbeit als Zimmermann und bei Johann Georg Keßel der Handel mit Medizin auf Jahrmärkten als nichtsesshafte Lebensweise markiert. 635 Dass also vagierende Existenzen die breite Basis der landschädlichen ‚Räuberrotten’ gebildet hätten, wie es in zahlreichen nicht nur zeitgenössischen Argumentationszusammenhängen begegnet, trifft in dieser Drastik in Kursachsen nicht zu. Diese Feststellung bestätigt die als Vergleich herangezogene Liste von Festungsbaugefangenen aus dem Jahr 1738. Die darin angegebenen ‚Professionen’ waren vor allem unterschiedlichste handwerkliche Berufe und nur in äußerst wenigen Fällen „Vagabund“ oder „Zigeuner“ - auch wenn der Autor ansonsten in der Einschätzung der Kriminalität und des Charakters des jeweiligen Delinquenten nicht mit pejorativen Ausdrücken geizte. 636 Der ‚Zigeuner’ als ethnische oder soziale Kategorie tritt ohnehin in der untersuchten Verwaltungskommunikation nur sehr selten in Erscheinung. Unter den genannten 175 Insassen des Festungsbaus wurden beispielsweise nur fünf explizit als Zigeuner bezeichnet. 637 Einzig für jene wird am 14. März 1738 vom zuständigen Beamten Christian Abel Partei ergriffen, als es darum geht, auf Anweisung des Kabinettsministers von Friesen 60 der gelisteten Gefangenen für den Galeerendienst und den Transport nach Ungarn auszuwählen. 638 Unter der Anführung, dass sie gute Arbeiter abgäben und gegen sie keine anderweite Klage vorzubringen sei, als dass sie sich als Zigeuner der ‚Betretung des Landes’ schuldig gemacht hätten, wurde ihnen die Überlieferung aus dem Kurfürstentum erspart, womit sich ihre Überlebenschancen erhöhten. 639 Von prinzipiellen Vorbehalten diesen gegenüber als kriminell und unerziehbar ist zumindest in diesem Beispiel einer expliziten Fürsprache nichts zu bemerken. 635 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 554r-578v. 636 Für 36 der gefangenen Personen wird allerdings überhaupt kein Beruf angegeben, was verschiedene Gründe haben konnte, unter anderem aber auch damit erklärt werden kann, dass diese Männer in unterschiedlichen oder keinen bestimmten Berufen tätig waren, bevor sie in den Festungsbau kamen. 637 Diese hießen Hannß George Jordan, Christian Engelhard, Friedrich Wilhelm Günther, Christian Baumann und Johann Rosenberger. 638 Zur Einordnung der Galeerenstrafe, vgl. u.a. V IEHÖFER , Kapitel und S CHUCK , Arbeit. 639 HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, fol. 103r-105v. <?page no="142"?> 143 Zwar wurden die Zigeuner in der Normensprache zur unbestimmten Gruppe des ‚Gesindels’ gerechnet. 640 Auch formulierte eine Untersuchungsakte von 1695 einen Vorwurf gegen eine unbekannte Zigeunerbande und einzelne Mandate richteten sich gezielt gegen solche speziellen ‚Rotten’. 641 Abgesehen von dem vagen Verweis auf eine (utopische Menge von) 1.500 Personen umfassende Zigeunerbande im Thüringer Wald wurde aber etwa im kurfürstlichen Mandat vom 4. April 1722 nicht spezifiziert, was jene Täter überhaupt von anderen unterschied. 642 In der Strafrechtspraxis tauchten die vermeintlichen Beispielfälle überhaupt nicht wieder auf. Vor Gericht stehende Zigeuner oder durch bestimmte Eigenschaften gezeichnete ‚Zigeunertypen’ im Rahmen der untersuchten Räuberbandenverfahren kommen gar nicht vor. Wenn die Verhöre standardmäßig mit einer Abfrage der persönlichen Daten begannen, so wurde dabei in keinem einzigen Fall - weder in einer Frage noch in einer Antwort - je thematisiert, dass ein Delinquent ein ‚Zigeuner’ sei. Lediglich die Gaunerlisten, die ‚per definitionem’ eine größere Bandbreite nichtsesshafter Lebensformen umfassten, enthielten Angaben über eine ‚Zigeuner-Christel’ oder Personen, die wie ‚Ziegeuner’ aussähen. 643 In den Akten aus den zahlreichen weiteren strafrechtlichen Prozessen spielte die Frage nach diesem besonderen Aussehen oder besonderen Lebensweise aber keine Rolle. Es offenbart sich dagegen, dass eine Bedrohung durch kriminelle Zigeunerbanden in Sachsen nahezu ausschließlich durch die Administration und deren Normtexte kommuniziert wurde und sie dabei vor allem wegen ihrer nichtsesshaften Lebensweise im Fadenkreuz standen. Das Bild vom diebischen Zigeuner, zu dessen Beschreibung man optische Kennzeichen wie schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe und ‚ausländische’ Abstammung heranzog, ohne die Definition genauer einzugrenzen, muss somit - zumindest mit Bezug auf die hier untersuchten Räuberbanden - als konstruiert angesehen werden. Es bleiben viele Fragen zur Grundlage und zur Entstehung dieses Bildes offen. Diese Unklarheit, die über ihn bestehen bleibt, und die vorwiegend unterstellte Andersartigkeit, die den Vorwurf der Kriminalität begleitete, legen es aber nahe, den ‚Zigeuner’ als zentrale Figur in Bezug zum Stereotyp des fremden Bösewichts einzuordnen. 644 Der Umstand, dass im Vergleich dazu jüdische Täter in der Kommunikation über sächsische Räuberbanden wesentlich häufiger Erwähnung fanden, ist nicht 640 Beispielsweise „Die wieder die Diebs- und Räuber-Rotten, auch Mordbrenner, Zigeuner-Bettlere, Land-Streicher und anderes böses Gesindel publicirte Mandate“ als Titel der Akte HStA Dresden, 10026, Loc. 1409/ 3. 641 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 15. 642 Vgl. das Zigeunermandat von 1722, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1953-1956. Dazu gehören mehrere Akten der Regierungsbehörden, die allerdings auch keinen Aufschluss über die Zigeuner-Definition bringen, vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 9997/ 14; HStA Dresden, 10025, Loc. 9997/ 21; HStA Dresden, 10025, Loc. 5577 und HStA Dresden, 10079, Loc. 30703. 643 Zum Beispiel Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, Nr. 28. 644 Vgl. H ÄRTER , Kriminalisierung, der basierend auf seinem Quellenmaterial von einer breiten Gleichsetzung von „kriminellen Vaganten“ und Diebesbanden mit „Zigeunern ausgeht“. <?page no="143"?> 144 allein darauf zurückzuführen, dass die religiöse und konfessionelle Ausrichtung insgesamt öfter thematisiert wurde als die ethnische oder ‚nationale’ Zugehörigkeit von Inquisiten. Denn obwohl die Frage nach der katholischen oder der lutherischen Konfession bei den christlichen Inquisiten durchaus oft zum formal korrekten Ablauf der artikulierten Verhöre gehörte, wurden der Tatsache, ob ein Beteiligter jüdischen Glaubens sei, umfangreichere Abschnitte und auch mehr Einzelerwähnungen gewidmet. Juden standen im Gesamtbild der kursächsischen Räuberbanden sehr oft im Verdacht der Hehlerei. 645 Der Großteil der Verhöraussagen wies auf jüdische Käufer von Diebesgut hin, wenn überhaupt Angaben zum weiteren Verbleib der Beute gemacht wurden. Zweifellos war der Handel für die Angehörigen des jüdischen Glaubens im frühneuzeitlichen Reich ein zentraler Beschäftigungsbereich und Haupteinnahmequelle. 646 Auf diesen Aspekt gingen die Betroffenen in ihren Aussagen selbst ein, wenn sie auf die Frage nach ihrer Profession mit „ein Jude handelte mit allem“ 647 reagierten. In Kursachsen hatten sich mit der Regierungsübernahme Friedrich Augusts II. und vor allem durch die Judenordnung 1746 die Lebens- und Handelsbedingungen für Juden verschlechtert. 648 Zum Beispiel leisteten die sächsischen Stände und christlichen Kaufleute tatkräftigen Widerstand gegen die Ansiedlung von Juden in Dresden und Leipzig sowie gegen ihre wirtschaftliche Aktivitäten. 649 Sie wurden prinzipiell wegen unerlaubten Handels und Münzverschlechterung verdächtigt. Den Zusammenhang zwischen Juden und der Hehlerei formulierten Normtexte nahezu als Vorannahme: Schon das Project der kursächsischen Landesregierung von 1677 zum Diebstahl forderte eine beschleunigte Bestrafung der Verbrecher, „worunter auch die sogenanten Hähler, welche die gestohlene sachen verbergen und verkauffen, als Juden, Tredeller, Männer U[nd] Weiber, und ander dergleichen Gesindel zu begreiffen“ 650 waren und setzte die jüdischen Hehler damit in eine exponierte Rangstellung. Diese unterschwellige Kriminalisierung jüdischer Kaufleute wurde durch die häufige Nennung von Juden als Abnehmern von Diebesgut durch die Inquisiten noch untermauert - wenngleich die Richtigkeit dieser Angabe oft nicht mehr überprüft werden konnte. Texte der Rechtspraxis und der Rechtssetzung stimmten in diesem Punkt somit überein. Abgesehen von dieser Ver- 645 Eine Suche nach den Begriffen Jude und jüdisch in ihren Beugungsformen ergibt innerhalb der im Volltext vorliegenden Gerichtsakten nach Abzug möglicher Überschneidungen etwa 350 Treffer. Im Vergleich dazu wird das Wort Zigeuner in unterschiedlichen Schreibweisen und Formen nur 30 mal gebraucht. Bei genauerer Überprüfung fällt zudem auf, dass der Zigeuner-Terminus bis auf ganz wenige Ausnahmen nur allgemein verwendet wird (Aktentitel, Projecte, Befehle, Gaunerlisten), während die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion vor allem in Verhöraussagen und Korrespondenzen bezüglich der Bezeichnung konkreter Personen genannt wird. 646 1785 lebten über die Hälfte der Dresdener Juden vom Handel, vgl S CHÄBITZ , Juden, S. 38. 647 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 2r. 648 Vgl. S CHÄBITZ , Juden, S. 24-26; L ÄSSIG , Rétablissement, S. 51. 649 Ebd., S. 50. 650 Schreiben vom 17. November 1677, HStA Dresden, 10079, Loc. 30397. <?page no="144"?> 145 dachtsgenerierung wiesen sowohl normative Texte als auch Verwaltungsquellen im Kontext der Räuberverfahren keine erkennbaren Wertungen im Zusammenhang mit Juden auf und enthielten im Gros keine antijüdischen Aussagen. Beim Blick in die Verhörprotokolle finden sich dagegen deutliche Ausnahmen: Allein in der Untersuchungsakte des (nicht-jüdischen) Johann Gottfried Sahrberg wurde fast inflationär das Attribut ‚jüdisch’ gebraucht, um Komplizen und Helfer der Lips-Tullian-Bande zu beschreiben, und dabei größtenteils vom Inquisiten selbst. Mit solchen Aussagen sollten zeitgenössisch verbreitete Vorurteile über Juden geschürt werden. Der mögliche Rückschluss, es könne sich dabei um eine Schwerpunktsetzung durch den protokollierenden Amtsschreiber handeln, kann unter anderem durch die Beobachtung widerlegt werden, dass Sahrberg mehrfach aus eigener Initiative bei der Sonderkommission gezielt belastende Angaben gegen Juden vorbrachte. Auf diese Aussagen, die er den Beamten als Hilfestellung für weitere Untersuchungen anpries, wies er in einer seiner Gnadenbitten zusätzlich hin insofern, als „alles Unglück was ich und andere angestifftet, guten theils durch die Jüden befördert worden, und [ich] zugleich, wie diesen Ubel abzuhelfen, Vorschläge gethan“ 651 . Der ‚Jude an und für sich’ wird durch diese Aussagen unzweifelhaft als Sündenbock und Feindbild entworfen, an dem gemessen die eigenen Vergehen vergleichsweise weniger schwer erscheinen sollten. Die Beamten gingen den Anschuldigungen Sahrbergs allerdings nicht in dem von ihm erhofften Maß nach. Ebenso wie die Fülle an Nennungen von Juden als Hehlern oder Komplizen nicht unhinterfragt als ‚kriminologische Wahrheit’ zu übernehmen ist, wäre es angesichts ihrer breiten Streuung ebenso verfehlt, von einer reinen Konstruktion der jüdischen Beteiligung bei sächsischen Räuberbanden auszugehen. In der Gesamtschau ist zwar keine Bande ausschließlich aus Mitgliedern jüdischen Glaubens in den Strafprozessen auszumachen. Dennoch standen mit großer Regelmäßigkeit Juden neben Christen beider Konfessionen wegen Diebstahls, Raubes und Hehlerei vor kursächsischen Gerichten und gehörten ebenso zu den Verurteilten. So wurden neben Nickel List mit Jonas Meyer, Samuel Löbel, Moses Hoscheneck und Salomon David vier jüdische Mittäter zum Tode verurteilt. 652 Wiederholte Ausweisungsbestrebungen zum Beispiel aus Dresden, wie es sie bis 1777 auch unter Kurfürst Friedrich August III. gab, 653 beeinflussten die ehrlichen Erwerbsmöglichkeiten und Lebenschancen von Juden nachteilig. Geduldeten Juden war die Ansässigkeit mit einem Schutzbrief nur in Dresden und Leipzig gestattet. 654 So gehörten zweifellos unterwegs angetroffene Juden und jüdische Wanderhändler zu den prinzipiell verdächtigten Bevölkerungsgruppen - waren sie doch durch ihre eingeschränkten Optionen mitunter auf das Handeln an der Grenze der Legalität angewiesen. Die unter den Christen 651 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 298v. 652 HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. 653 Vgl. S CHÄBITZ , Juden, S. 30-37. 654 Laut Schäbitz gab es ein Landjudentum im Kurfürstentum nicht, vgl. ebd., S. 397. <?page no="145"?> 146 bestehenden Vorurteile konnten aber unausgesprochen oder unbewusst zu einer härteren Tendenz bei der Beurteilung jüdischer Delinquenten führen. Die Konfession der christlichen Inquisiten war, sofern sie eigens eine Erwähnung in den Prozessen fand, zwar überwiegend protestantisch, was angesichts der flächendeckenden Verbreitung des Luthertums in der kursächsischen Bevölkerung nicht weiter verwundert. Es waren aber unter den Beteiligten durchaus einige Katholiken, die darum baten, dass ihnen der Beistand durch einen katholischen Geistlichen gewährt werde, oder die explizit mit Grundsätzen ihres Glaubens argumentierten, wenn es darum ging, ihr Strafmaß durch eine Gnadenbitte zu beeinflussen. 655 Auch gaben zwei Verdächtige an, nach dem Beispiel ihres Landesherrn Augusts des Starken zum katholischen Glauben konvertiert zu sein. Reformierte fanden sich unter den Inquisiten in den Strafprozessen keine. Für ihre weitere Behandlung spielte unter anderem eine Rolle, ob sie „der Augspurgischen Confession zugethan“ 656 waren, da dies eine Voraussetzung für die Überführung von Züchtlingen in Zucht- und Arbeitshäuser der kursächsischen Erblande war. Für den Zusammenhalt unter den Bandenmitgliedern hatte die Konfession oder Religion aber keine Bedeutung. Weder gründeten Konflikte untereinander auf Streitigkeiten über den richtigen oder den falschen Glauben, noch äußerten sich irgendwelche konfessionellen Vorurteile. Außerdem gruppierte sich keine der Banden speziell um Angehörige einer bestimmten Konfession. Das annähernde Gleichgewicht von vier Katholiken und sechs Inquisiten „evangelisch-lutherischer Religion“ innerhalb der Gruppe um Johann Karraseck kann aber besonders der bikonfessionellen Prägung der Oberlausitz zugeschrieben werden. 657 Einerseits verweist das Nebeneinander von Protestanten, Katholiken und Juden auf ein hohes Maß an religiöser Toleranz im Kurfürstentum. Andererseits spricht allein der Anteil jüdischer Bandenräuber und Hehler bei der relativ niedrigen Gesamtanzahl von maximal 1.000 ansässigen Juden in Kursachsen im Verlauf des 18. Jahrhunderts 658 dafür, dass ‚Andersgläubige’ in höherem Maß auf eine deviante Lebensweise oder kriminelle Existenzsicherung zurückgreifen mussten als Protestanten. Das kann - freilich im Vergleich zu Juden in eingeschränktem Maß - auch für Katholiken gegolten haben. Die 655 Mit einem Mandat vom 31. März 1735 war bestimmt worden, dass zum Tode verurteilten Delinquenten der Beistand auch von einem katholischen Geistlichen nicht verwehrt bleiben sollte, vgl. L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 301-302. 656 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 59v. Für die 1801 verurteilte Katholikin Johanna Christiane Petermannin war beispielsweise das Zuchthaus Waldheim als keine angemessene Strafinstitution, aber das Georgenhaus in Leipzig als Alternative genannt worden. Ihre 7- und 13-jährigen Söhne wurden in das Armen- und Waisenhaus Torgau gebracht, vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 105r-106v. 657 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 554r-577v. Vgl. auch K ELLER , Landesgeschichte, S. 174-175. 658 Dies war nur ein geringer Anteil der Gesamtbevölkerung. In Dresden, wo fast alle sächsischen Juden wohnten, machten die 1763 ansässigen 945 Personen ein Anteil von 4% an der Stadtbevölkerung, vgl. L ÄSSIG , Rétablissement, S. 60. <?page no="146"?> 147 Regelung der konfessionell eindeutig zugeordneten Arbeitsanstalten zeigt jedenfalls, dass generell von einem evangelisch-lutheranischen Übergewicht ausgegangen wurde. Weil bei vielen christlichen Inquisiten ihre Konfessionszugehörigkeit nicht eigens erwähnt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die meisten von ihnen tatsächlich Lutheraner waren. Bezüglich ihrer Herkunft lässt sich schlussfolgern, dass sie vorwiegend aus dem Kurfürstentum und angrenzenden protestantisch geprägten Territorien stammten. Bei der genaueren Betrachtung der territorialregionalen Herkunft der Inquisiten fallen jedoch nicht alle Orte in das Kurfürstentum. Der Anteil von gebürtigen oder ansässigen Sachsen beläuft sich etwa auf die Hälfte derjenigen, die ihre Heimatorte angaben. Es zeigt sich als gesamter Herkunftsraum ein relativ breiter Kreis um die Territorialgrenzen Kursachsens, vor allem nach Böhmen, Brandenburg und in die ernestinischen Lande ausgedehnt. Einige wenige hatten einen außergewöhnlich weit entfernten Geburtsort wie Danzig, Hamburg, Berlin oder Dinkelsbühl, was sich zumeist dadurch begründete, dass diese ihren Lebensunterhalt mit Handel verdienten. Dabei zeigt sich bereits, dass bezüglich der Räuberbanden nicht von einer ländlichen Herkunft gesprochen werden kann, sondern ein großer Teil der Täter aus Städten stammte. Auch Inquisiten, die einen entlegenen Geburtsort besaßen, hatten häufig in der Zwischenzeit einen näher gelegenen oder kursächsischen Wohnsitz, wie etwa Nickel List in Beutha 659 oder Johann Karraseck in Wiesa 660 . Die Mitglieder von Banden, die eine längere Zeit zusammen wirkten, kannten sich oft aus benachbarten Dörfern und Städten. So hatte die „Beyer- Naumburgische Bande“ um Hans Georg Kupper 1718 ihren Namen daher erhalten, weil die Beteiligten aus Auleben, Nordhausen, Obersdorf, Grillenberg und Bornstedt kamen - Orte, die sich in einem Umkreis von etwa 40 Kilometern zueinander um das etwa zentral gelegene Beyernaumburg ansiedeln. 661 Von den zusammen mit Lips Tullian im Prozess befindlichen Männern stammten fünf aus kursächsischen Orten. Die Inquisiten dieser Bande nehmen allerdings hinsichtlich ihrer Herkunft eine Sonderstellung ein, da zum einen Tullians Angabe, seine Eltern seien Straßburger, als unglaubwürdig einzustufen ist, denn er legte insgesamt bei der Schilderung seines Lebenslaufes eine große Kreativität an den Tag. Die vorgebliche Abstammung aus der über 500 km entfernten französischen Stadt konnte dem Schutz seiner Familie gelten, indem er sicherlich davon ausging, dass dies nicht von den sächsischen Behörden nachgeprüft werden würde. Zum anderen ist fraglich, welche Bedeutung die Geburtsorte der Mitglieder für die Gruppenkonstitution besaßen, wenn sie sich zum Teil erst während ihrer Festungsbauhaft zusammengefunden hatten. Die gemeinsame Unterbringung in einer Arbeits- und Zuchtanstalt erwies sich somit nicht allein in den Befürchtungen manch eines Beamten als eine 659 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705. 660 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 555r. 661 Vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4. <?page no="147"?> 148 Möglichkeit des Einstiegs in eine Räuberbande. In der Tat berichteten einige Inquisiten vor Gericht von einer ersten Kontaktaufnahme in Haft oder im Festungsbau, aus der sich spätere kriminelle Verbindungen aufbauten. Angesichts des Ehrverlusts, den eine Arbeitsstrafe dort mit sich brachte, und der Ausweglosigkeit, mit der sich viele Betroffene in dieser Situation konfrontiert sahen, ist es nachvollziehbar, dass sich von dort aus gemeinsame Wege in die Kriminalität verfestigen konnten. Bei den Aussagen darüber ist aber wiederum zu berücksichtigen, dass ein Erstkontakt in einer Arbeitsanstalt zum einen taktisch den Eindruck von Unfreiwilligkeit erwecken sollte, zum anderen allein deswegen zugegeben werden musste, weil er ohnehin leicht nachweisbar war. Während Johann Wilhelm Leonhardt beispielsweise darauf beharrte, dass er Lips Tullian erstmalig bei der Zwangsarbeit in Dresden getroffen hatte und jegliche sonstige Verbindung zu ihm abstritt, widersprach der geständige Tullian, dass sie sich durchaus vorher gekannt und „vormahls in der Freyheit miteinander gegessen und getruncken hätten“. 662 Eine solche Information lag natürlich nicht im Interesse Leonhardts, der in diesem Prozessstadium noch darauf hoffte, seine Unschuld zu beweisen. Die Funktion der Festungsbauhaft als ‚Kontaktbörse zur Räuberrekrutierung’ sollte demnach auch vor dem Hintergrund der Verhörsituation gesehen und insgesamt nicht überbewertet werden. Gemeinsame familiäre Wurzeln, die Herkunft aus benachbarten Orten und der befristete Aufenthalt in einer Straf- und Arbeitsinstitution begünstigten somit den Kontakt zu einer kriminellen Gruppe. Die Entfernungen, die die einzelnen Inquisiten auf ihren Lebenswegen zurücklegten, variierten. Es ist aber zu erkennen, dass die Prozessorte sich in und um Kursachsen ähnlich verteilen wie die Herkunftsorte. Der durchschnittliche kursächsische Bandenräuber stammte somit aus dem Kurfürstentum oder seiner näheren Umgebung, legte in seiner Laufbahn - abhängig von der Dauer seiner Aktivität und von der Größe der Gruppe - mittlere Entfernungen bis etwa 100 km zurück, bewegte sich dabei innerhalb und an den Grenzen seines Heimatterritoriums und wurde vor Gerichte gebracht, die ebenfalls in nicht sehr großer Entfernung zu seiner Heimat situiert waren. Von diesem in groben Umrissen gezeichneten Schema finden sich allerdings auch Abweichungen. Die Lebenswege Andreas Weßers und Johann Christoph Ottos zeigen im Folgenden exemplarisch, wie individuelle Schicksale mit den Strafprozessen gegen Räuberbanden verknüpft und beeinflusst sein konnten. Es war zunächst ein Wäschediebstahl, durch den 1704 ein Verdacht auf Andreas Weßer fiel und der den Beginn einer ‚Gerichtskarriere’ markierte, aus welcher jener in den folgenden fast 15 Jahren kaum mehr auszubrechen vermochte. Ein Leipziger Bürger beschuldigte namentlich ihn und drei weitere Personen, am 31. Januar des Jahres aus dem ersten Stock eines Wohnhauses in der Windmühlengasse unter 662 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 70v. <?page no="148"?> 149 Zuhilfenahme einer Leiter über hundert Wäschestücke entwendet zu haben. 663 Dies brachte Weßer und seinen Bekannten Johann Roßmann vor das Leipziger Stadtgericht, wo der Fall untersucht wurde. 664 Nach eingehender Überprüfung reichten die Beweise zwar nicht zu einer Verurteilung wegen dieses Diebstahls aus. 665 Weil Weßer als Alibi angab, am betreffenden Abend mit Freunden Karten gespielt zu haben, wurde er dennoch wegen ‚späten Nachtsitzens’ für immerhin zwei Wochen ins Zuchthaus gebracht. 666 Angeregt durch die in diesem Rahmen ausgeführten Hausdurchsuchungen hatte sich aber ein neuer Verdacht gegen Weßer ergeben, dem ernstere Konsequenzen folgen sollten. Was ihn dabei besonders suspekt erscheinen ließ, war eine neue Hose aus rotem Plüsch, die aus Altarstoffen angefertigt zu sein schien, da sich davon außerdem noch Reste in Weßers Besitz befunden hatten. Auch Dietriche und Terzerole hatte man in seiner Wohnung entdeckt. Erschwerend kam hinzu, dass er zugeben musste, bereits 1703 zusammen mit Roßman wegen des Verdachts eines Kirchendiebstahls gerichtlich vernommen worden zu sein. Diese Vorgeschichte wirkte sich beschleunigend auf das laufende Verfahren aus. Nun begann ein Strafrechtsprozess, während dessen Weßer durchgehend im Zuchthaus verwahrt und mehrmals der Folter unterzogen wurde. Auch seine Ehefrau bezog man als Zeugin und Mitverdächtige mit ein. Durch die Informationen aus diesen Verhören und daraufhin ausgeschickten Steckbriefen kam außerdem Johann Roßmann erneut vor Gericht. Im Zuge des andauernden Verfahrens distanzierte sich unter anderem der Vermieter der Weßers schon vor einer Urteilsverkündung von ihnen, sagte sich von den Verpflichtungen des Mietvertrags los und fragte schriftlich bei den Behörden an, die Wohnung des Ehepaares in der Leipziger Sandgasse räumen zu dürfen. 667 Während Maria und Andreas Weßer also darum rangen, ihre Unschuld oder einen ehrlichen Lebenswandel als Handwerksleute zu belegen, beeinflusste die öffentliche Wahrnehmung des Prozesses, dass ihnen gleichzeitig die Existenzgrundlage entzogen wurde. Nach mehrmaligem Supplizieren an die Stadtrichter und den Landesherrn wurden sowohl Weßer als auch Roßmann im März 1705 abweichend von der ursprünglich ausgesprochenen Todesstrafe ins Zuchthaus gebracht. 668 Nachdem 663 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 1r-4r. Das meiste waren Hemden und Halstücher. 664 Bei den zwei übrigen Verdächtigen, Stahr und Fleischer, waren keine Indizien gefunden worden. 665 Im Verlauf der nächsten Monate hatten sich andere Personen als die wahren Wäschediebe herausgestellt, was aber zu dem Zeitpunkt im Juli 1704 keine Rolle mehr für den Prozessverlauf spielte, vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 195r. 666 Ebd., fol. 42r-43r. Zur Bedeutung der Sperrstunde und dem Verbot des Nachtsitzens vgl. auch R OUSSEAUX , Eroberung, S. 12. 667 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 147r-148r. 668 Ein Urteil der sächsischen Schöffen besagte im März 1705 noch, dass Weßer die besagte Leibesstrafe erhalten möge, während Roßmann wegen seines kleinen Beuteanteils lediglich mit Staupenschlägen des Landes verwiesen werden solle, ebd., fol. 357r-358v. Das Stadtgericht Leipzig schlägt <?page no="149"?> 150 beide Ehepaare mit ihren Bittschriften weiterhin hartnäckig geblieben waren, deutete sich über eine längere Zeitspanne an, dass sich der Kurfürst milde zeigen würde. Am 26. Oktober 1709 begnadigte er Weßer aus dem Zuchthaus heraus zum ewigen Landesverweis. 669 Die kurfürstliche Entlassung Roßmanns zog sich bis zum 24. April 1711 hin. Da von Weßer seit 1709 zunächst keine Informationen mehr vorliegen, kann entweder dessen Ausweisung vorschriftsgemäß abgewickelt worden sein, oder er war inzwischen aus dem Zuchthaus ausgebrochen. Diese Version lieferte zumindest die Verhöraussage von Lips Tullian, die Andreas Weßer einige Jahre später, am 16. August 1716, erneut vor ein kursächsisches Gericht führte. 670 Die Angaben des Bandenanführers, jener sei zusammen mit ihm aus der Haft ausgebrochen und danach unter den Komplizen vieler gemeinschaftlicher Diebstähle gewesen, leugnete der Belastete zunächst strikt. Er selbst sagte aus, aufgrund seiner zweimaligen ungerechtfertigten Verurteilung, Inhaftierung und anschließenden Ausweisung in große Armut geraten zu sein. 671 Allein diese äußeren Umstände hätten ihn zum Zuchthausausbruch und zur späteren Kriminalität gezwungen. Im weiteren Prozessverlauf gestand Weßer durchaus die Beteiligung bei großen gemeinschaftlichen Beraubungen ein. Auch belastete er weitere Mittäter in Verhöraussagen und Konfrontationen. Aber stets zog er unterschiedlichste Argumente für seine Eigendarstellung als ein ‚kleines Rädchen’ im kriminellen Getriebe heran. Er habe bei seinen Taten im Zwang strukturell bedingter Notlagen gestanden, stets versucht, vor Gericht der Obrigkeit zu dienen und daher lediglich eine geringe Bestrafung verdient. Diese ließ seine unter anderem in Defensionen ausgeführten Milderungsgründe nicht gelten und ihn zusammen mit anderen Delinquenten am 19. August 1718 in Dresden hinrichten. 672 Johann Christoph Otto, dessen Leben hier als zweite Fallstudie einer Räuberlaufbahn dargestellt werden soll, durchlebte eine ähnlich lange Gerichtskarriere wie Andreas Weßer, die zudem einige Parallelen zu dieser aufzeigt. 60 Jahre später stand auch Otto innerhalb von etwa 15 Jahren mehrmals als Inquisit vor sächsischen Richtern. Ihm gelang ebenfalls die Flucht aus kursächsischen Haftanstalten und wie Weßer gesellte auch er sich - nach eigenen Angaben - zu Diebesbanden und versuchte sich im Strafverfahren mit mehreren Defensionen in eigener Sache und zahlreichen Denunziationen Anderer vom Todesurteil zu befreien. In seinem Fall waren die Bemühungen allerdings erfolgreich: Als Otto im Jahr 1776 mit drei weiteren Verdächtigen vor die Pfarrdotalgerichte zu Königstein unter der Obergerichtsbarkeit des Amts Pirna eingeliefert wurde, spradaraufhin aber vor, die beiden Inquisiten wegen ihrer Gefährlichkeit in das Zuchthaus bringen zu lassen. 669 Ebd., fol. 439r. 670 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2. 671 Beispielsweise im artikulierten Verhör, ebd., fol. 416r-416v. 672 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 1, fol. 594r. <?page no="150"?> 151 chen viele Indizien gegen ihn. 673 Obwohl der bereits vorbelastete Johann Gottlob Haensel, dessen Bruder Andreas und Johann Gottfried Röthig jeden Vorwurf standhaft leugneten, war bereits die Situation ihres Aufgriffs - mit zwei nachweislich gestohlenen Kühen sowie mit Dietrichen und Pistolen - nahezu eindeutig. Außer durch Zeugen wurden die drei vor allem durch ihren vierten Kameraden ausdrücklich belastet und erhielten eine Strafe von vier Jahren Zuchthaus. Otto selbst, der sich sofort als kooperativ und geständig erwiesen hatte, wurde wegen der insgesamt vierzig Diebstähle, die er in seinen Verhören zugab, zum Tod durch den Strang verurteilt. Da der 34-jährige Inquisit, der aus Grünhainichen stammte, in seinem ausführlichen Geständnis neben seiner Beschäftigung als Soldat - inklusive einem Spießrutenlauf - und seiner ersten Festungsbauhaft im Jahre 1768 über zwanzig vermeintliche Komplizen preisgegeben hatte, wurde das Todesurteil im November 1776 vom Kurfürsten aufgehoben und zu einer Haftstrafe abgemildert. 674 Dadurch kam Johann Christoph Otto in den Genuss der Pardonregel durch Friedrich August III., obwohl die beiden zuvor angerufenen Spruchgremien eine Begnadigung ausdrücklich ausgeschlossen hatten. Als nahezu gewohnheitsmäßiger Verbrecher erwies Otto sich schließlich, als er sechs Jahre später in Pfaffendorf unter der Gerichtsbarkeit des Görlitzer Stadtrats erneut verhaftet wurde. 675 In seinen Verhören gestand er wiederum den Ausbruch aus dem Festungsbau sowie aus dem Zuchthaus. Daneben machte er noch einmal ausführliche Angaben zu weiteren 35 Kriminellen, die die Behörden zumindest für so glaubwürdig erachteten, dass sie durch einen Oberamtsbericht die Gründung einer Kommission vorschlugen, um diesen Angelegenheiten konkret nachzugehen. 676 Zeitgleich mit diesem Bericht vom Januar 1784 wurde der Inquisit zu einer lebenslänglichen Arbeitsstrafe in der ersten Klasse des Festungsbaus Dresdens verurteilt, ohne dass wegen ihm noch eine weitere Inquisition durchzuführen sei. 677 Das Urteil wurde aber drei Jahre später ein weiteres Mal abgemildert und er im Oktober 1787 für eine zehnjährige Haftstrafe in das Zucht- und Arbeitshaus Torgau gebracht. Von dort erging im Jahre 1796 eine nächste Anfrage an die Landesregierung, was nun, da die Entlassung des ‚berüchtigten Diebes’ anstehe, mit ihm zu tun sei. 678 Darin wurde bezweifelt, ob Otto tatsächlich in seinen Heimatort zurückgebracht werden könne. Ein Gutachten des Hausverwalters aus Torgau bestätigte, dass Otto seinen Charakter 673 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 53r-108v und HStA Dresden, 10025, Loc. 5825, fol. 181r-262v. 674 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 107r. 675 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 496, fol. 721r-724v. Die Gerichtsbücher aus dem Ratsarchiv Görlitz liefern zu diesem Fall allerdings leider keine Erkenntnisse. 676 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 497, fol. 31r-40v. 677 HStA Dresden, 10025, Loc. 5825, fol. 235r-235v. 678 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10025, Loc. 6053. Die Vorgänge vom 16. April 1796 bis zum 29. August 1796 befinden sich in der umfassenden unfoliierten Akte etwa zwischen Blatt 300 und 350. <?page no="151"?> 152 während der Haftstrafe nicht merklich geändert, sondern auch aus dieser zwischenzeitlich auszubrechen versucht hatte. Deshalb sollte er mit einer Anweisung des Geheimen Rats vom 29. August 1796 letztlich „so lange, bis er sicherern Beweise seiner GemüthsÄnderung und Besserung von sich gegeben, in dem Zuchthauße beybehalten“ werden. Mehrere Ähnlichkeiten verbinden die Ausschnitte aus den Lebensläufen der beiden kursächsischen Kriminellen. Im Vergleich der Situationen aber, in denen über die Inquisiten entschieden wurde, äußert sich gegenüber Andreas Weßer als einem Beteiligten der Tullian-Bande eine deutlich größere Rigorosität. Sowohl Jahre zuvor als auch ein halbes Jahrhundert später war durch beharrliches Supplizieren, die Pardonregel und einen gnädigen Kurfürsten für Bandenräuber durchaus eine Strafmilderung möglich. Die besondere öffentliche Aufmerksamkeit im Kontext des Tullian-Prozesses und das Engagement der einberufenen Sonderkommission mochten jedoch dazu beigetragen haben, dass verhängte Todesstrafen in großer Anzahl tatsächlich vollzogen wurden, um einen größeren Abschreckungseffekt bei Prozessbeobachtern zu erzielen. Wie sich gezeigt hat, lagen Herkunfts- und Handlungsorte von Bandenräubern häufig in relativer Nähe zueinander: Das bestätigt sich bei Weßer, der in Leipzig ursprünglich seine feste Wohnung gehabt hatte und dessen Strafprozesse sowohl dort als auch in Dresden statt fanden. Otto hingegen stammte gebürtig aus dem kursächsischen Grünhainichen (sechs Kilometer südlich von Augustusburg) und stand mit Görlitz zuletzt in einem oberlausitzischen Ort vor Gericht, der ganze 140 Kilometer von seinem Heimatort entfernt war. Wenn Otto somit ein überdurchschnittlich weiter Reiseweg nachgewiesen werden kann, so verteilt dieser sich insgesamt auf seine 54 Lebensjahre und ist daher dennoch plausibel. Die Handlungsoptionen waren jeweils von den Rahmenbedingungen der gerichtlichen Situation begrenzt: Zum einen konnte ein auf breiter Ebene bekannt gewordener Bandenprozess die Strafmaße verschärfen und die Milderungsmöglichkeiten für die Einzelnen beschränken. Zum anderen machte eine bereits registrierte Gerichtskarriere den Betroffenen für die nachfolgenden Behörden besonders suspekt. Auch vermeintlich milde Strafen oder die reine Dauer eines Prozesses wirkten sich dabei mitunter fatal auf die Lebensperspektiven und Entwicklungschancen von Personen aus, die einmal in Verdacht geraten waren. So ergab sich die Gefahr der Verfestigung einer Gerichtskarriere. Es ist aber auch zu beobachten, dass das Verhalten der Einzelnen vor Gericht in Kombination mit bestimmten Ausgangspositionen wie etwa das permanente Supplizieren, die Fürsprache für einen Häftling bei ‚guter Führung’, ein frühes Geständnis und Angaben zu weiteren gesuchten Räubern durchaus eine positive Wendung des Verfahrens begünstigen konnte. Die Anzahl der beschriebenen Taten, die Umstände ihrer Ausführung und die Rolle, die jemand dabei eingenommen hatte, mussten demnach nicht zwingend den maßgeblichen Ausschlag für die strafpraktische Behandlung des Verdächtigen geben. <?page no="152"?> 153 4.4 Delikte, Schauplätze und Techniken Die Anzahl der vorgeworfenen Taten verhielt sich oft, aber nicht immer proportional zu Aufwand und Umfang der abgehaltenen Strafprozesse, welche abhängig von weiteren Faktoren variieren konnten. Den Banden, gegen die zahlreiche Verdachtsmomente vorlagen, widmeten sich meist langwierige Strafrechtsverfahren. Der Vorwürfekatalog gegen die Nickel-List-Bande umfasste insgesamt 54 einzelne Delikte und im Zusammenhang mit den Komplizen Lips Tullians wurde sogar von 136 Diebstählen ausgegangen. 679 Aber eine hohe Frequenz angeblicher ‚Beutelschneidereien’, Einbrüche oder Überfälle wurde nicht nur bei bekannten Delinquenten wie diesen erreicht, sondern beispielsweise auch in den 1774 vor dem Amtsgericht Dresden geführten Untersuchungen gegen Hauswald, Gottleber und andere. Die beiden Haupt-Inquisiten, die man bewaffnet und im Besitz von Diebesgut aufgegriffen hatte, gaben in ihren summarischen Verhören jeweils zu, bei 36 bzw. 40 der ihnen zur Last gelegten 51 Diebstähle mitgewirkt zu haben. 680 Eine zweistellige Summe nachweisbarer Taten hatten die meisten der Bandenuntersuchungen vor sächsischen Gerichten zum Gegenstand. Eine größere Zahl von Vorwürfen machte für die praktikable und effiziente Durchführung des Bandenprozesses oft eine Beschränkung auf ausgewählte Delikte notwendig. So klärte das Verfahren im Fall von Hauswald und Gottleber nicht alle eingestandenen Taten auf, sondern konzentrierte sich vorrangig auf zwei Diebstähle in Biehla und zwei weitere in Friedersdorf. Da letzteres zum Zuständigkeitsbereich des Dresdener Amts gehörte, standen diese beiden Taten im Zentrum der Ermittlungen der dortigen Beamten. Die Ergebnisse über die vier Delikte genügten letztlich für ein Urteil. Der Nachweis über deren gemeinsame Durchführung erfüllte aus Sicht der Schöffen in Leipzig notwendige Kriterien, die ein Todesurteil rechtfertigten: Johann Georg Hauswald, Johann Georg Gottleber und ein weiterer Mittäter namens Johann Gottlieb Jäger wurden hingerichtet, weil sie bei diesen vier Taten geladene Schusswaffen bei sich und einen Gesamtwert von über 12,5 Reichstalern erbeutet hatten. 681 Die zweifelsfreien Beweise für einzelne Verbrechen, die eine Todesstrafe rechtfertigten, reichten den Richtern somit aus und machten weitere langwierige Ermittlungen zu anderen Vorwürfen hinfällig. Die Diebstähle, die im Rahmen eines älteren, abgeschlossenen Strafprozesses bereits gesühnt waren, wurden nicht mehr zum 679 Vgl. die Auflistungen, die Danker den Aktenmäßigen Berichten darüber entnommen und zusammengestellt hat, D ANKER , Räuberbanden, S. 651-659. In dem Aktenmäßigen Bericht von Krause (1715) stehen für die Tullianbande 125 Taten aufgelistet, Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, Bd. 1, S. 23-153. 680 HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 85v. 681 Ebd., fol. 96r-96v. Die Beurteilung wird nach zwei Defensionen vom Kurfürsten verändert, indem er zumindest Jäger zusammen mit den weiteren hier nicht genannten Komplizen begnadigt und damit eine mildere Strafe verhängt als von den Juristen anempfohlen. <?page no="153"?> 154 Gegenstand eines weiteren Verfahrens gemacht. Gleichwohl floss die Tatsache, dass es sich um einen Wiederholungstäter handelte, in das Gesamturteil über einen Beklagten ein. Mit der Anzahl der den Banden zur Last gelegten Verbrechen variierten gleichzeitig die Zeitspannen, in denen sie offenbar bestanden hatten. Auf der einen Seite des Spektrums standen diejenigen Gruppen, die sich kurzfristig oder begünstigt durch bestimmte Gelegenheiten zusammengefunden hatten und denen man kein kontinuierliches Bestehen nachweisen konnte. Andererseits offenbarten mehrere Fälle, dass sich kriminelle Karrieren einzelner Täter über Jahrzehnte, durch mehrere Kooperationen hindurch, erstreckten. Neben diesen gab es zudem auch ganze Gruppen, die über längere Phasen miteinander - in unterschiedlichen Zusammensetzungen - operiert hatten. Ein Beispiel dafür war die Bande, deren Angelegenheiten man 1784 in Schmölln verhandelte: Der Zeitraum von zwanzig Jahren, über den sich die ihnen vorgeworfenen ungeklärten Taten erstreckten, relativiert die hohe Anzahl von 141 Diebstählen im Vergleich zu anderen Strafverfahren. 682 Karraseck und seine Komplizen wurden allein für das Jahr 1800 mit 17 Taten in Verbindung gebracht. 683 4.4.1 Tatorte Auch wenn aus der Perspektive der Richter ein einzelner Tatnachweis zur Verurteilung eines bestimmten Delinquenten oft ausreichte, so war den Obrigkeiten daran gelegen, alle in Frage kommenden Beteiligten ausfindig zu machen und zudem eine Zuweisung anderer, bis dahin nicht aufgeklärter Diebstähle vornehmen zu können. Waren also Personen eines gemeinschaftlichen Verbrechens überführt, wurde das Verfahren darauf ausgerichtet, die Angaben über weitere potenzielle Taten und Täter zu sammeln sowie bestehende Hinweise zurückliegenden ungeklärten Vorfällen zuzuordnen. Auf diese Weise entstanden Zusammenstellungen möglicher, behaupteter und nachgewiesener Einbrüche und Diebstähle, durch deren Tatorte der Aktionsradius der betreffenden Gruppen konstruiert wurde. Nicht nur die bisher bekannten Fälle wie Nickel List mit seinen Raubzügen bis nach Lüneburg zeigen sich darin als überregional und Territorialgrenzen überschreitend; auch etwa die Hälfte der Vorwürfe gegen Johann Karraseck und seine Bande betrafen Orte jenseits der Grenze zwischen der Oberlausitz und Böhmen. 684 Der Großteil der Gerichtsakten bezog sich auf Delikte, die in mehreren benachbarten Ämtern und auch außerhalb der sächsischen Territorialgrenzen stattgefunden hatten. Die Anordnung der durch Tatvorwürfe und Tatversuche definierten Handlungsorte stellt sich individuell verschieden dar: So liegen die von Johann Eylitz 682 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 21v. 683 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 541r-553v. 684 Ebd. <?page no="154"?> 155 und seinen Söhnen begangenen Taten innerhalb eines etwa 20 Kilometer breiten und 40 Kilometer langen Aktionsraumes um den Ort Dahlen, welcher in direkter Nähe zu seinem Hauptwohnort, dem heute zu Wermsdorf gehörigen Malkwitz, gelegen war. 685 Die sieben Einbrüche in Neu-Mügeln, Großböhla, Bloßwitz, Gerichshain, Sitzenroda, Kühren und Langenreichenbach wurden vom Schöffenstuhl Leipzig als ausschlaggebend für die über ihn verhängte Todesstrafe angesehen. Auffällig ist dabei, dass die drei Männer am Wohnort des Vaters, wo sie sich meist zur Planung getroffen hatten, keine Tat verübten. 686 Vergleicht man diese räumliche Verteilung mit anderen Vorwurfslisten, so lassen sich durchaus Beispiele finden, in denen die Orte deutlich weiter verstreut lagen. Für eine Bande mit nur drei Tätern ist die Anzahl und Verteilung der Diebstähle dennoch beachtlich. Die 16 nachgewiesenen Diebstähle der größeren Gruppe um Johann Gottlob Geßel umfassen in der Gesamtschau einen sehr ähnlich beschaffenen Handlungsraum, der sich mit seinem Kern im Amt Mühlberg in direkter Nachbarschaft befand. 687 Bei der Kuntze-Bande hingegen ergibt sich ein größerer und bis weit nach Hessen reichender Radius schon allein dadurch, dass verschiedene Inquisiten in unterschiedlicher Gruppierung zusammengearbeitet hatten. 688 Die Tatsache, dass der Aktionsraum in der Regel mit der Größe einer Räuberbande wächst, hängt nicht nur damit zusammen, dass größere Gruppen logistisch flexibler waren, so dass einige von ihnen durchaus weitere Reisen zu ihren angestrebten Tatzielen unternahmen. 689 Mit steigender Anzahl der Komplizen wurde außerdem die präzise Zuordnung der Taten zu einer Bande und des Grads der Beteiligung zu ihren Mitgliedern für die Behörden schwieriger. Dies führte dazu, dass große Bandenprozesse zu ‚Sammelbecken’ verschiedenster Angelegenheiten wurden, in denen die Untersuchungen zu zurückliegenden Verbrechen an diversen Orten zusammenflossen und in denen die Aussagen der Zeugen und der Delinquenten immer wieder neue Tatumstände und Verdächtige aufdeckten. 685 Einiges spricht dafür, dass mit dem Einbruch in die Kirche von „Schilda“, das eigentlich außerhalb dieses Kreises gelegen wäre, eine alternative Schreibweise von Schildau vorliegt, welches sich eindeutig in den Radius der anderen Taten einfügt, vgl. HStA Dresden, 10047, Nr. 3963, fol. 81v. 686 Insgesamt werden mit Wermsdorf, Zschöllau und Langenreichenbach noch weitere im Umkreis liegende Orte angegeben, an denen er im Verlauf der betreffenden zwanzig Jahre gewohnt hatte. 687 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 14r-52v. 688 Erkennbar ist das große Tatortspektrum beispielsweise an der umfangreichen Korrespondenz, die das Stadtgericht Leipzig mit vielfältigen anderen Obrigkeiten und Beamten führte. Das hatte zur Folge, dass insgesamt 54 Aktenbände zu diesen Bandenermittlungen zu Stande kamen. Das Mitglied Johann Georg Voigt wurde letztlich für die Taten in Schleesen, Winningen, Neuhaus, Böhmenzien und in Stötteritz, Wildenau, Pfannstiel und Göhren zum Tode verurteilt. Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X. 689 Ein Beispiel dafür liefert unter anderem die Bande des Nickel List, die nach ihrer Aktivität in Sachsen auch Einbrüche im Braunschweigischen Herrschaftsbereich vornahm, vgl. HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. <?page no="155"?> 156 Blickt man auf die Mobilität der Räuber, so schienen weder die Ränder des Territoriums noch die Zuständigkeitsbereiche der Gerichtsherren innerhalb des Kurfürstentums Schranken für die kriminellen Aktivitäten darzustellen. 690 Die Grenzüberschreitung bot im Gegenteil für die Bandenmitglieder den naheliegenden Vorteil, der Entdeckung zu entgehen. Das äußert sich auch in der Kommunikation der Behörden, die sich durchaus darüber im Klaren waren, dass Grenzgebiete und -orte häufig von Kriminellen frequentiert wurden und damit besonders gefährdete Bereiche darstellten. Die Delinquenten hingegen benannten Grenzen oder die Tatsache, dass sie solche auf ihren Wegen überquert hatten, nicht explizit. 691 Das ist insofern bemerkenswert, als eine Grenzüberschreitung eine wichtige Rolle für die Bandenräuber spielen konnte. Erstens veränderten sich in diesem Moment die gerichtliche Zuständigkeit und damit die Modalitäten der Verfolgung sowie mitunter auch der Strafpraxis. Zweitens schienen die Befragten meist durchaus darüber informiert, in welcher Herrschaft, Gegend oder Stadt sie sich gerade befanden, und dazu musste ihnen die dazugehörige Grenzüberschreitung ebenfalls bewusst gewesen sein. Drittens war angesichts von Grenzkontrollen und Zigeunerstöcken auch im Alltag erkennbar, wo sich Landesgrenzen befanden. Dass sich die Räuber selbst eine bestimmte Grenze gesetzt haben, kann bei der Lage der Handlungsorte allerdings als typisch gelten, auch wenn sie nicht explizit benannt wurde. Die Beobachtung, dass die eigenen Wohnorte ein Tabu darstellten, kann auf zahlreiche Banden übertragen werden. Unter anderem gilt dies für die längste Phase der Aktivität des Johann Karraseck, der just nach dem einzigen Raub in seinem Wohnort beim Oberleutersdorfer Gutsbesitzer Glathe verhaftet und zum Prozess gebracht wurde. 692 In heimatkundlichen Arbeiten, die den Großteil der bisherigen Abhandlungen zu diesem ‚Räuberhauptmann’ ausmachen, wird er daher wiederholt mit dem Spruch „Räubere nie im eigenen Revier! “ in Verbindung gebracht. 693 Auch andere Delinquenten scheuten davor zurück, an Orten, in denen sie durch ihre Herkunft oder durch vergangene Taten bereits bekannt waren, Diebstähle zu begehen. In der Regel stahlen die Täter nicht bei Personen, die sie gut kannten, um kein zu großes Risiko der Wiederentdeckung und Nachverfolgung einzugehen. Nur in einigen Beispielen wurden vor Gericht Angaben zu einer vergangenen persönlichen Beziehung zu den Opfern gemacht: Darunter waren ehemalige Dienstherren, über die somit wichtige Informationen sowohl über die materiellen Verhältnisse als auch über 690 Die Dichte historiographischer Forschung mit Bezug zu ‚Grenzen’ hat jüngst rapide zugenommen, nicht nur dadurch, dass für den Historikertag 2010 dieses Thema gewählt wurde. Einige Beispiele für Forschungsliteratur aus dem Kontext der Frühen Neuzeit sind G OTTHARD , Ferne; F RANCOIS , Grenze; E LLIS , Frontiers; A LLEMEYER , Grenzgänge. Zum Verhältnis von Räuberlegenden und Landesgrenzen vgl. außerdem V OTRUBA , Räuber. 691 Vgl. dazu auch G OTTHARD , Ferne, S. 101-107. 692 Vorwürfe zusammengefasst im Bericht aus Bautzen, Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523. 693 So zu finden ist dies beispielsweise bei R UHLAND , Revier. <?page no="156"?> 157 die lokalen Gegebenheiten vorlagen. 694 Der weitgehende Ausschluss des eigenen Heimat- oder Wohnortes kann aber übergreifend als ‚innere Grenzziehung’ in den Handlungsräumen angesehen werden. Die Delikte, die den Banden zugewiesen wurden, waren vielfältig und reichten vom Kleindiebstahl auf dem Jahrmarkt über Einbrüche in bewohnte oder unbewohnte Gebäude bis hin zum gemeinschaftlich begangenen Straßenüberfall auf Reisende oder Postreiter. Das Spektrum deckte ganz unterschiedliche Formen des Entwendens fremden Eigentums ab, und enthielt heimliche, nahezu unbemerkte Vorgehensweisen ebenso wie offen begangenen Raub mit Gewaltanwendung. So finden sich für die verschiedenen Abstufungen der Tatbestände spezielle Bezeichnungen aus dem Kreis der Beteiligten, wie „Beutelschneider“ 695 für den Taschendieb oder „Roller“ 696 für den „Marcktdieb“ 697 . Begriffe wie „Nachtdieb“, „Schwarzbauer“ 698 und Erzräuber wurden dagegen für die Täter gebraucht, die gemeinschaftlich oder gewaltsam vorgingen. Catharina Sophia Dorn lieferte in ihrer Aussage die Einteilung: „a) in die Proscher, welche einbrächen, und die Nacht stählen, b) in die Kittenschieber, welche bey Tage in die Häußer und auf die Böden gerade zu liefen, c) in die Schockgänger, die auf den Märckten zu stehlen pflegten.“ 699 Nach der Nennung dieser Untergliederung, der sie noch hinzufügte, dass die „Proscher“ vor Gewalt nicht zurückschreckten und daher am ehesten bewaffnet wären, stellte sie abschließend fest, dass die meisten der Beschriebenen alle drei Deliktformen ausübten. 700 Dadurch wird deutlich, dass die Begriffe die Taten, nicht aber die Täter kategorisieren sollten. So wurden diese bei der Beschreibung durch die Behörden ebenfalls nicht präzise klassifiziert, sondern der entscheidende Umstand vorangestellt, dass ein Diebstahl begangen worden war, und jeweils für den Einzelfall erläutert, ob dabei Sachen beschädigt oder Gewalt ausgeübt worden waren. Wörtlich wurde beispielsweise hervorgehoben, dass Inquisiten „gewaltsam eingefallen“ waren, „höchststrafbaren Frevel“ begangen oder ihre Opfer „gefährlich beschädigt“ 701 hatten. Vereinheitlichende Semantiken für spezialisierte Räuber kamen hier nicht vor. 694 Vgl. HStA Dresden, 10057, Nr. 459, fol. 38r; HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 61v-62r. 695 So wird Perl Einohr von verschiedenen Komplizen als Beutelschneider bezeichnet, vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 18v. 696 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6. Neben der Gaunerliste von Hempel und Nolle wird der Begriff auch später mehrfach verwendet, vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 23v. 697 Vgl. zum Beispiel Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 85r; HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 183r; HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 109v. 698 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6. 699 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 40v. 700 Ebd., fol. 41r. 701 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 15. <?page no="157"?> 158 Die Quellen liefern auch verschiedene Berichte über Straßenüberfälle, sodass eine Forschungsthese Dankers, dieses Delikt habe für die sächsischen Räuberbanden keine Rolle gespielt, 702 keinesfalls bestätigt werden kann. Vor allem in der Wahrnehmung der Obrigkeit wurde Straßenraub sogar als permanente Bedrohung stilisiert, der man sich durch die kriminellen Banden ausgesetzt sah. Er wurde stets als ein Vorwurf neben anderen in den Normen und in der einzigen vom Schöffenstuhl Leipzig erhaltenen Sammlung von Beispielurteilen („Formula Sententiarum“) aufgeführt. 703 Wenngleich Raubüberfälle auf der Straße in der Realität nicht den größten Anteil ausmachten, gehörten sie durchaus zum Tatenspektrum. So wurde am Stadtgericht Leipzig ein Straßenraub, der von vier Komplizen an einem jüdischen Händlerehepaar zwischen Bensheim und Heppenheim begangen worden war, im Rahmen eines Prozesses gegen Johann Jacob Rehmann ausführlich untersucht. 704 Neben den Erwähnungen in den Bandenangelegenheiten belegen auch einzelne Akten, dass die Problematik aus der Sicht der Strafverfolger durch das 18. Jahrhundert hindurch akut blieb. Dazu zählen etwa der Bericht über einen Überfall bei Wurzen im Jahr 1711, 705 die Aussage des Mannes, der 1743 von Andreas Christian Käsebier und seinen Komplizen verfolgt worden war, 706 und das 1772 geführte Verfahren gegen den mehrfachen Straßenräuber Joseph Ihlen. 707 Eben diese Beispiele belegen, dass die angeordneten Such- und Verfolgungsmaßnahmen nicht immer konkrete Erfolge nach sich zogen. Gerade bei plötzlichen Angriffen auf abgelegenen Straßen war eine effektive Nachverfolgung durch unübersichtliches und unwegsames Gelände und die Zeitverzögerung, die bis zum Suchbeginn entstehen konnte, erschwert. Am häufigsten unter den Taten waren Einbruchdiebstähle. Neben Kram- und Kaufläden 708 gehörten auch Bauernhöfe, Wohnhäuser und Apotheken zu den bevorzugten Handlungsorten von Räubern. Auch Wirtshäuser und Herbergen zählten zu den Tatorten. Zahlreiche Fälle dokumentieren, dass die Wirtsleute oder ihre Gäste zu Zielobjekten gewaltsamer Überfälle oder heimlicher Diebstähle wurden. Zudem wurden unbemerkt ihre Tiere aus den angegliederten Ställen oder wertvolle Ladung von abgestellten Wagen entwendet. So hatten Eltzschner und vier Komplizen auf dem Rückweg von einem missglückten Raub „unterwegs in dem Dorffe Gaußig von einem Wagen, welcher an die Schencke 702 Vgl. D ANKER , Räuberbanden, S. 210. Es bleibt aber weitgehend unklar, aus welchen Daten Danker diese Folgerung zieht. 703 UB Albertina, Ms 2476, Nr. 12 und Nr. 51. 704 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 76r-86r. 705 HStA Dresden, 10117, Loc. 13240. 706 HStA Dresden, 10079, Loc. 30783. 707 Staatsarchiv Chemnitz, 30012, Nr. 139. 708 Danker meint, Werkstätten und Kaufläden seien für die Räuber „relativ uninteressant“ gewesen, D ANKER , Räuberbanden, S. 222. Diese Einordnung bestätigt sich bei der Betrachtung der hier vorliegenden weiteren Fälle nicht. <?page no="158"?> 159 gestanden, und mit Kaufmanns-Guthe vom Bautzner-Marckte beladen gewesen, zween Kästen mit WürtzWaare abgehoben“ 709 . Zahlreiche Einbrüche und gewaltsame Überfälle richteten sich außerdem gegen Pfarrhäuser und besonders gegen Mühlen. Beim Prozess um Andreas Dechant und David Seyfert im Jahr 1704 gewinnt man sogar den Eindruck, die Bande habe sich auf Mühlen regelrecht spezialisiert. 710 Aber auch im Deliktekatalog anderer Banden waren diese als Zielorte vertreten. Ein gewaltsamer Überfall auf eine Mühle ist bereits für den 23. September 1695 in der im Amt Dippoldiswalde gelegenen Hirschbacher Heide dokumentiert, für den die angeblich 30 Täter trotz kurfürstlicher Anweisungen an die benachbarten Ämter und Herrschaften nicht ausfindig gemacht werden konnten. 711 Der nachfolgende Schriftverkehr zeigt, dass die Behörden eine gewisse „Zigeunerrotte“ für diesen sowie weitere Überfälle bis über die westlichen Landesgrenzen hinaus verantwortlich machten. Dass in Mühlen - mitunter bedingt durch ihre tradierte rechtliche Sonderstellung 712 - oft hohe Geldsummen und außerdem Lebensmittel erbeutet werden konnten, dürfte ein Grund für die Häufung dieser Tatorte gewesen sein. Es kann außerdem von sozialem Neid gegenüber den Müllern ausgegangen werden, weil die Einbrecher mit einer generell höheren Akzeptanz rechneten, wenn sie ihre Taten gegen Menschen richteten, die in den Augen der Bevölkerung wegen ihres Monopols auf die lebensnotwendige und gebührenpflichtige Verrichtung des Mahlens als begünstigt galten und denen man gleichzeitig misstraute. 713 Direkte Aussagen über die Begründung finden sich allerdings nicht. Vor allem war ausschlaggebend, dass Mühlen häufig relativ isoliert abseits von Dörfern lagen und keine direkten Nachbarn hatten, so dass Einbruch und Diebstahl unbehelligt durchgeführt werden konnten. Letzterer Aspekt des ungestörten Vorgehens verband die Mühlen im Übrigen mit den Kirchen, die ebenfalls Anziehungspunkte für Verbrechen waren. Sowohl Mühlen als auch Kirchhöfe wurden schon im Sachsenspiegel wegen ihres Charakters als ‚öffentliche Orte’, an die viele Menschen kamen, als besonders schützenswert beschrieben, denn im Landrecht war festgesetzt, dass Diebstähle an diesen Orten mit einer besonders hohen Strafe geahndet werden sollten. 714 709 HStA Dresden, 10057, Nr. 459, fol. 29v. 710 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15. Nahezu die Hälfte ihrer Einbrüche hatten sie in Mühlen begangen. 711 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 15. 712 Zur Stellung von Mühlen vgl. L AUFS , Mühle. Laufs erwähnt, dass Müller auch eine Strafbarkeit besaßen, die sich auf das Innere der Mühle bezog. Vgl. auch G ROßFELD / M ÖHLENKAMP , Mühle. 713 Vgl. ebd., S. 1109-1110. Die häufigen Regeln in Mühlordnungen, die dem Schutz der Mühlgäste dienen sollten und beispielsweise die Mahlgebühr festlegten, weisen darauf hin, dass man dem Betrug der vom Mahlzwang und Mühlenbann Abhängigen durch die Müller vorbauen wollte, vgl. L AUFS , Mühle, S. 444-445. 714 Sachsenspiegel, Landrecht Buch 2, Artikel 66. Vgl. zum Mühlenfrieden außerdem L AUFS , Mühle, S. 446-447 und G ROßFELD / M ÖHLENKAMP , Mühle, S. 1110. Ins 18. Jahrhundert hatte sich diese <?page no="159"?> 160 Kirchenraub und Einbrüche in Pfarrhäuser waren mit großer Regelmäßigkeit Gegenstand der Räuberbanden-Prozesse. Abgesehen davon existieren mehrere Hinweise darauf, dass Diebstahl in Kirchen nicht allein von Banden, sondern ebenfalls von Kleinstgruppen oder Einzeltätern durchgeführt wurde. 715 Nicht nur Nickel List und Lips Tullian begingen mit ihren Komplizen „Sacrilegii“, 716 auch unter den weiteren kursächsischen Banden gab es bestimmte, die sich sogar darauf spezialisierten. Johann Eylitz war den Behörden 1769 aufgefallen, weil der Tagelöhner versucht hatte, wertvollen Kirchenornat zu verkaufen. 717 Die daraufhin bei ihm durchgeführte Hausdurchsuchung hatte weitere verdächtige Dinge zu Tage befördert. Als Konsequenz daraus folgte ein Strafprozess, der 18 Taten zwischen 1748 und 1769 behandelte, unter denen 15 der Kategorie der Kirchendiebstähle zuzuordnen waren und die er gestand, zusammen mit seinen beiden Stiefsöhnen begangen zu haben. Besonders von Ehefrau und Stieftochter war er außerdem schwer belastet worden, die sich dadurch explizit von den männlichen Familienmitgliedern distanzierten. Ein ähnlich gelagerter Fall drehte sich 1741 um den Haupt-Inquisiten Johann Christian Reichert, der durch verschiedene Aussagen und Indizien belastet wurde, seinen Sohn, seine Tochter und eine weitere Frau unter anderem zu drei Diebstählen in der Dresdener Sophienkirche, die zu dieser Zeit die evangelische Hofkirche war, verleitet zu haben. 718 Die besondere Anziehungskraft einer Kirche gründete darauf, dass es sich erstens um ein unbewohntes und unbewachtes Gebäude handelte und zweitens hohe Beute in Aussicht stellte, die außer Geld aus Opferstöcken meist vor allem Sachwerte umfasste. Es mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben, dass man durch diese Art des Diebstahls keine Person direkt an Gesundheit oder Besitz gefährdete, sondern der Verlust lediglich eine Institution traf, der man ohnehin Reichtum und Verschwendung attestierte. 719 Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage findet in den Strafprozessen nicht statt. Zumindest zeigen sich keine Anzeichen für prinzipielle Konflikte mit der Religion oder einer Konfession. Dass sich bestimmte Räuber auf anderskonfessionelle Zielobjekte eingeschossen hät- Auffassung aber nur so weit übertragen, dass der Kirchendiebstahl mit einer besonderen Strenge bestraft wurde. 715 Beispiele dafür sind etwa Jacob Neumann, über dessen Karriere und Hinrichtung ein Lied überliefert ist, vgl. W ELLMANN , Jacob Neumanns Leben. Auch Christian Gottlob Kilian wurde in Bautzen wegen Kirchenraubs hingerichtet, vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 469, fol. 337r- 341r. Eine kleine Gruppe, die sich dem Verdacht mehrerer Kirchendiebstähle ausgeliefert sah, waren die beiden Ehepaare Koch und Krebs, die 1770 im Amt Pirna verurteilt wurden, vgl. HStA Dresden, 10062, Nr. 2598. 716 Vgl. zur Einordnung der Kirchendiebstähle in deren Tatenspektrum D ANKER , Räuberbanden, S. 223-224. 717 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10025, Loc. 5710, fol. 77r-91r. 718 HStA Dresden, 10047, Nr. 3963. 719 In der Ausstattung unterschieden sich lutherische und katholische Kirchen noch im 18. Jahrhundert nicht sehr stark, vgl. D ÜRR , Kultur, S. 499-504. <?page no="160"?> 161 ten, deutet sich ebenfalls nicht an. Angesichts der lutherischen Prägung des Kurfürstentums zeigt sich dagegen ein kaum überraschendes Übergewicht des Protestantismus sowohl unter den betroffenen Kirchen als auch unter den Kirchenräubern. Das außerordentlich hohe Strafmaß der Räderung für dieses Sakrileg vermochte die Täter offensichtlich nicht abzuschrecken. Die Aussagen der Inquisiten in den Gerichtsakten gehen in den wenigsten Fällen darauf ein, warum die Wahl auf ein bestimmtes Objekt oder einen speziellen Zielort gefallen war, außer mit der Angabe, dass man dort Geld und hohe Sachwerte vermutete. Nur als Ausnahmen lassen sich gelegentlich Konfliktlagen zwischen Tätern und späteren Opfern erahnen, so beispielsweise wenn 1795 die Roßbergin einen Einbruch bei ihrem eigenen Schwager empfahl. Verwandte waren in der Regel nicht das Ziel der Bandendelikte. In diesem Fall wurde das Opfer von den Komplizen seiner Schwägerin, Geßel und Thomä, um Waren im Wert von immerhin 45 Talern ‚erleichtert’, wie er selbst in seiner Zeugenaussage als Verlust angab. 720 Wie in diesem Beispiel zeigt sich regelmäßig, dass die Bestohlenen zur Aufklärung der Taten über die entwendeten Gegenstände, ihren Geldwert und die Tatumstände befragt wurden. Ihre Angaben gingen in die Beurteilung der Verbrechen mit ein. Die 1774 von vier Komplizen auf der Straße gewaltsam überfallenen zwei Frauen, die mit Kleinware handelten, gaben neben Utensilien wie einer Kaffeemühle, einigen zum Verkauf bestimmten Spitzen und Stoffen und einem Pfandleihschein auch einen Quersack als gestohlen an, in dem sich angeblich 80 Taler befunden haben sollten. Die Beklagten wendeten dagegen einhellig ein, dass „unmöglich 80 rl. in dem Ranzen gewesen seyn könnten“. 721 Dass die von den Bestohlenen benannten Beutesummen von denen, die die Verdächtigen errechneten, oft markant abwichen, hat unterschiedliche Gründe. Es erklärt sich erstens daraus, dass der Delinquent in seiner Aussage den entstandenen Schaden möglichst niedrig halten wollte, um sein Urteil abzumildern, und zweitens durch mehr oder weniger bewusste Übertreibung seitens der Opfer. Die Chance, das gestohlene Gut oder seinen Gegenwert mittels ‚Restitution’, also Rückerstattung, wieder zu erhalten, dürfte dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Die genauen Beweggründe der Beteiligten für den Einzelfall zweifelsfrei zu klären, ist im Nachhinein kaum noch möglich. Dass man diese mittelbare Mitwirkung an der Strafzumessung aber durchaus als Form der Justiznutzung 722 betrachten kann, verdeutlicht vor allem die von den Beamten an die Opfer gerichtete Nachfrage, ob sie damit einverstanden seien, dass eine Rückgabe oder Rückerstattung für den Täter eine mildere Strafe zur Folge habe. 723 720 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 41v-42v. 721 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 181v. 722 Vgl. D INGES , Justiznutzungen. 723 So befragt das Stadtgericht in Leipzig mehrmals Opfer, ob sie die Remission des Gestohlenen akzeptieren, vgl. beispielsweise Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 26r-28r. <?page no="161"?> 162 Wenn im Folgenden die Beute der Diebstähle beschrieben wird, sind die Ausführungen und Berechnungen somit stets von diesen verschiedenen Unwägbarkeiten der Über- und Untertreibung beeinflusst. 724 Generell war hier eine breite Vielfalt an Erträgen und materiellen Werten möglich. Bei der Geßel- Bande zum Beispiel rangiert die Spannbreite der Beutesummen zwischen fünf Talern aus einem Schafstall in Bockwitz und 383 Talern beim Diebstahl auf dem Rittergut Strauch. 725 In einigen Fällen lag der Wert einer einzelnen Tat deutlich darunter und ist vom Mundraub schwer abzugrenzen. 726 Im Bezug auf Diebstähle mehrerer Komplizen bilden diese geringfügigen allerdings die Ausnahme. Eher ist zu beobachten, dass sie sich nicht auf eine bestimmte Ware beschränkten, sondern möglichst viel mitnahmen, von dem sie sich einen Nutzen oder Verkaufsertrag erhofften. Mehrmals und von verschiedensten Gruppen wurden 100 Taler überschritten, allerdings war nur sehr selten die Rede von Beutesummen über 1.000 Reichstalern. 727 Salomon David, Christian Müller und Nickel List belasteten ihren flüchtigen Komplizen Perl Einohr gemeinsam mehrerer erheblicher Diebstähle, unter anderem von 1.000, 1.500 und 2.700 Talern. 728 Das einträglichste unter den Delikten, derer er verdächtigt wurde, war der Diebstahl von Waren im Wert von 14.000 Reichstalern bei einem „Weinfactor“ in Bodenburg. 729 Diese Beträge, die erheblich von den üblichen Durchschnittswerten abweichen, nehmen eine Ausnahmestellung ein und dürfen in ihrer Glaubwürdigkeit zumindest angezweifelt werden. Zudem geschah es nicht zufällig und recht häufig, dass Verdächtige die meisten und lukrativsten Verbrechen ausgerechnet denjenigen Mittätern zuschrieben, die selbst nicht in Haft waren. Neben Bargeld, wobei auch fremde Münzsorten Erwähnung fanden, waren Schmuck und Perlen, Besteck, Geschirr und wertvolle Güter besonders begehrt. Textilien und Naturalien waren aber die am häufigsten vertretenen Kategorien. Dabei wurden sowohl Kleidungsstücke aller Varianten gestohlen als auch Tücher, Decken und Laken unterschiedlicher Beschaffenheit sowie unverarbeitete Stoffe, die entweder zum Verkauf oder zum eigenen Gebrauch bestimmt waren. Die Beschreibungen geben über Materialien wie Leinen, Baumwolle oder ‚Zeug’ bis hin zu Barchent, Damast und Seide Auskunft. An Naturalien war das Interesse auf Vieh und Pferde, besonders aber auf Grundnahrungsmittel wie Getrei- 724 Dass die Daten, die in Verhören geliefert wurden, zumindest plausibel sein mussten, darauf wurde schon verschiedentlich hingewiesen, wie bereits bei E SCH , Räuber, S. 754. 725 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 30v und fol. 44v. 726 Zum Beispiel kann man davon ausgehen, dass der Diebstahl Georg Sachßes und zweier Komplizen in Auligk im Herbst 1742 vor allem der Deckung ihrer Grundbedürfnisse galt, wenn sie ausschließlich die Speisekammer des betroffenen Hofes betraten und daraus nur Lebensmittel und Brot stahlen, vgl. Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 37v-38v. 727 Vgl. etwa einen Steckbrief in der Sammelakte Stadtarchiv Chemnitz, V Policeysachen XIXa 10, fol. 32v. 728 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 19v-23r. 729 Alle Vorwürfe im Urteil zusammengefasst, vgl. ebd., fol. 78r-90v. <?page no="162"?> 163 de oder Butter gerichtet und in einigen Fällen konnten auch Genussmittel, wie teure Gewürze, Kaffee und Tabak, gestohlen werden. 730 Oft war es eine bunte Mischung aus den angegebenen Waren, die zusammen hohe Beutesummen ergaben. So wurden in der Nacht des 24. September 1717 beim Rathmannsdorfer Pastor von der Beyernaumburgischen Diebesbande nicht nur Bargeld, Kirchengerät, Silber, Kleider und Leinwaren, sondern auch ein Zuckerhut, Muskatblüten, weißer Kandiszucker, Tee, Rosinen und eine Flasche Brandwein für einen Gesamtbetrag von insgesamt 103 Talern entwendet. 731 Bücher und Kleinwaren, die sich zum Hausierverkauf eigneten, spielten vor allem als Beute bei Diebstählen an Reisenden und Händlern eine Rolle. 732 Edler Kirchenornat, Wachskerzen, Gesangbücher und Altartücher waren die Beutegegenstände in Kirchen. Wie die meisten der geraubten Dinge wurden sie entweder unkenntlich gemacht, im Originalzustand weiter verkauft oder zu eigenen Gebrauchsgegenständen umgearbeitet. 733 Die bei den drei Diebstählen in der Sophienkirche geraubten edlen Textilien waren sogar über 243 Reichstaler wert, 734 was allein schon verdeutlicht, dass sich die gefährlichen Einbrüche in Kirchen häufig in größerem Maß lohnten als die Eigentumsdelikte in Privathäusern. 4.4.2 Vorgehensweise Da der gemeinschaftliche Einbruch den größten Anteil an dem im Verhör eingestandenen Tatenspektrum hatte, stellt das folgende Kapitel die Vorgehensweisen und Techniken der sächsischen Räuberbanden an diesem Beispieldelikt vor. Den Ausschlag für einen gemeinsamen Einbruch gab häufig der explizite Hinweis auf einen bestimmten Beutewert. Dass Absprachen unter den Beteiligten getroffen wurden, zeigen zahlreiche Aussagen, zu einer Tat sei ein „Anschlag gegeben“ worden. Die Verhörantworten unterschiedlicher Personen stimmen oft in diesem Punkt überein. Wer den Vorschlag für ein lukratives Ziel gegeben hatte, stellte ein zentrales Erkenntnisinteresse der ermittelnden Beamten dar. Dieser Person wurde von den Richtern eine große Bedeutung für das kriminelle Agieren einer Bande beigemessen. Zu jeder ausführlich untersuchten Tat wurde die Frage formuliert, von wem „Rat und Anschlag“ dazu stammten. 735 Johann 730 Vgl. den Kaffeediebstahl im Wert von 60 Reichstalern durch Christian Frenzel HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 66r. 731 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 121r. 732 Vgl. den Verdächtigen Hans Scheublich, der Namen und andere Hinweise aus Büchern geritzt hat, um sie zu verkaufen, in der Spruchsammlung UB Albertina, Ms 2476, Nr. 49. 733 Beispielsweise befasst sich ein großer Abschnitt der ersten Untersuchung um Andreas Weßer mit der Frage, ob eine rote „plüschsamtne“ Hose in seinem Besitz aus einem gestohlenen Altartuch genäht worden war, vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 6r-8v. 734 HStA Dresden, 10047, Nr. 3963, fol. 2r. 735 Das belegen auch die ‚Formula Sententiarum’ verschiedentlich, vgl. UB Albertina, Ms 2476, Nr. 42, 48, 49, 50, 51 und Nr. 82. <?page no="163"?> 164 Gottfried Sahrberg, ein berüchtigter Komplize des Lips Tullian, berichtete in einem summarischen Verhör auch ohne die entsprechende Fragestellung freimütig von Anregungen zu Verbrechen. 736 Oft seien diese von außerhalb des engeren Kreises gekommen, aber im Einzelnen nicht automatisch praktisch umgesetzt worden. In einigen Fällen schrieben die Mittäter in der Rückschau aber die Idee für einen Raubzug demjenigen zu, dem sie insgesamt den größten Einfluss auf die gesamte Bande beimaßen. Dem vermeintlichen Anführer wurde dabei oft auch eine gewisse Überredungskunst attestiert, mit der er seinen Plan verbreitet habe. 737 Die Einbrüche wurden vorwiegend nachts ausgeführt, da die Dunkelheit Schutz vor Entdeckung und Verfolgung bot. 738 Die meisten Tatbeschreibungen sprechen davon, dass sich zwischen drei und acht Männer zusammenfanden und bei der Durchführung unterschiedliche Aufgaben übernahmen. Oft waren einige, aber nicht alle von ihnen, bewaffnet. Als Ausstattung und Hilfsmittel der Räuber wurden Messer und Stichwaffen, Knüppel, aber auch diverse Feuerwaffen genannt, sowie Brecheisen oder Dietriche, Stricke und Fackeln, außerdem Säcke, um Waren zu transportieren. Gelegentlich schwärzten sich die Täter die Gesichter, um sich unkenntlich zu machen. 739 Bei manchen Überfällen kam ‚Krähenauge’ zum Einsatz, ein auch als Medikament verwendeter Pflanzenwirkstoff, der dazu benutzt wurde, Wachhunde zu vergiften. Die Anwendung von Tricks dieser Art weist darauf hin, dass es sich bei den Bandenräubern nicht lediglich um ‚Gelegenheitsdiebe’ handelte, sondern von einer Professionalisierung unter den Einbrechern gesprochen werden kann. Die Wirkung dieses Gifts beispielsweise musste unter den Kriminellen tradiert worden sein, denn es wurde von unterschiedlichen Banden 1718, 1755 und 1800 verwendet. 740 Spezielle Kniffe und Kunstfertigkeiten, die von den Tätern beschrieben wurden, betrafen besonders die Techniken zum Öffnen von Türen und Fenstern. Auch hier gibt es Ähnlichkeiten, die nahe legen, dass eine bandenübergreifende Kommunikation stattgefunden hatte. Die Methoden wurden für die individuelle Tat ausgefeilt. So erläuterte Johann Gottlob Geßel am Ende des 18. Jahrhunderts etwa, wie „sie durch einen mitgebrachten Meisel ein Loch an dem Gewände der Haußthüre gemacht, die Haußthüre aus den Angeln ge- 736 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5. 737 So etwa belegt in Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 4r oder HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 18r. 738 Straßenbeleuchtung gab es in den Metropolen Leipzig und Dresden ab 1702 bzw. 1705, was zu einer allmählichen Veränderung des Kultur- und Freizeitverhaltens der Bewohner führte, vgl. R OUS- SEAUX , Eroberung. 739 Als Beispiel siehe Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 175v. 740 Dies ist erkennbar an der Aussage von Lindemann, vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 54r. Vgl. auch die Aussage von Johann Jacob Rehmann, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 20r. Als Vorwurf gegen Johann Karraseck vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 6, fol. 53r. <?page no="164"?> 165 hoben durch selbige ein- und in die Stube gegangen“ 741 seien. Dies zeigt, wie planvoll und abgeklärt so manche Bande vorging. Für den Verlauf des 18. Jahrhunderts kann jedoch kein gesamter Wandel vom offenen und gewaltsamen Aufbrechen zum heimlichen und trickreichen Einsteigen, im Sinne einer Teleologie von der gewaltbereiten hin zur ‚zivilisierten’ Methode konstatiert werden. Die Einbrüche der Bande des Nickel List etwa wurden ausgangs des 17. Jahrhunderts mit eigens hergestellten Nachschlüsseln 742 mit großer Voraussicht und geringem Sachschaden durchgeführt. Kuntze verschaffte sich Mitte des Jahrhunderts Einlass in Gebäude, indem er Fensterläden und Türen durchbohrte, und wurde von Johann Joseph Bütter als der ‚Erfinder’ dieser eigenen Methode bezeichnet. 743 Andererseits gab es sowohl im frühen als auch im späten Untersuchungszeitraum bei Banden immer wieder auch das brachiale Aufbrechen von Türen. Fast einfallslos wirkt im Vergleich zu manchen Vorgängern der ‚große Räuberhauptmann’ Lips Tullian, der in einer Gegenüberstellung mit einem Komplizen schildert, „daß er ihn, Leonhardten, als den klein- und leichtesten unter ihnen, angefaßet und ihn verkehrt zum Fenster hinein gestecket habe, daß er aufmachen sollen“. 744 Oft waren es bestimmte Täter, die sich in Fingerfertigkeiten spezialisierten und so zu Trägern der bandeninternen Aufgabenteilung wurden. In den Verhören wurde präzise und hartnäckig nachgeforscht, wer das eigentliche Aufbrechen des Hauses übernommen habe, wer Kontakt mit den Opfern gehabt und dabei in jeglicher Weise Gewalt gegen sie ausgeübt haben könnte. Neben der Frage, wer die Waffen getragen habe, waren dies strafverschärfende Aspekte, die man von Seiten der Untersuchenden für ein Verständnis der angeblichen Bandenstrukturen, vor allem aber für ein angemessenes Urteil klären musste. Auch wenn diese Details einen großen Stellenwert für die Bemessung des Strafmaßes einnahmen, waren sie in den Verhören häufig nur schwer zweifelsfrei zu eruieren. Dies lag vor allem an den unterschiedlichen Standpunkten der Inquisiten - zum einen mit ihrem subjektiven Wissen über Planung und Tathergang, zum anderen mit jeweils unterschiedlichen Interessen im Strafverfahren. Die Aussagen widersprachen sich darin immer wieder, und es ist augenfällig, dass viele der Befragten, auch wenn sie grundsätzlich geständig waren, sich selbst lediglich in der Rolle der relativ unbeteiligten Wache einordneten, die draußen oder an der Tür postiert worden war. Die Opfer, die man in der nächtlichen Ruhe und Dunkelheit meist im Schlaf überraschte, wurden in der Regel mit Stricken oder Seilen gefesselt, geknebelt 741 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 27r. 742 Seine Tochter weist im Verhör auf seine Arbeiten in einer Schlosser-Werkstatt hin, vgl. Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 105r-105v. Auch über den Bandenräuber Kupper wird ausgesagt, wie er beim Feilen von Dietrichen beobachtet worden sei, vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 132r. 743 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 69. 744 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 76r-76v. <?page no="165"?> 166 und mit Decken oder Laken bedeckt. Mit Drohungen gespickte Warnungen vor Gegenwehr sowie Fragen nach den Wertsachen sind in vielen Aussagen wörtlich wiedergegeben: „So wäre einer von ihnen wieder in die Stube gekommen, die Lichter deren Sie etliche mitgebracht ausgelöschet und gesaget: Schelm rege dich nicht, und komm nicht heraus oder es soll einer stehen bleiben und dich schießen, daß dier der dampff zum Halse heraus gehet.“ 745 Waren die gesuchten Wertgegenstände gefunden und ‚eingesackt’, ergriffen die Teilnehmer die Flucht, bei der die Opfer gebunden oder verletzt zurückgelassen wurden. Für die Aufteilung der Beute trafen sie sich zumeist an einem einsamen, unbeobachteten Ort. Manchmal ließen die Täter eine kurze Zeit verstreichen, bis sie erneut zusammenkamen oder sie wieder zu ihren Familien zurückkehrten. Johann Karraseck ließ sich nach einem Einbruch von seiner Frau Kaffee und Bier in den Wald bringen, bevor die abschließende Aufteilung des Diebesguts vorgenommen wurde. Dass er ihr bei dieser Gelegenheit einen Teil des Geldes zur Aufbewahrung mitgegeben hatte, bestritt sie allerdings. 746 Die Bewaffnung der sächsischen Räuber war nicht sehr vielfältig und kann kaum als professionell bezeichnet werden. Teilweise waren es Waffen aus früheren militärischen Diensten. In zahlreichen Fällen sind Messer und Degen, hin und wieder auch Säbel dokumentiert. In der Beschäftigung mit den Quellen begegnet zudem immer wieder das „Couteau de Chasse“, ein Jagdmesser 747 . Daneben trugen einzelne Teilnehmer bei gemeinsamen Unternehmungen Feuerwaffen wie Hirschfänger, Terzerole oder andere Pistolen und Gewehre, die häufig beim Verlassen des Tatorts gegen herbeieilende Verfolger zum Einsatz kamen. Dies bedeutete nicht grundsätzlich, dass dadurch jemand verletzt wurde. Immer wieder betonten Inquisiten in ihren Aussagen, dass sie Waffen nur zur Abschreckung oder zur Notwehr mit sich getragen hätten. 748 Es war jedoch für die Beurteilung als gewaltsamer Diebstahl in den Augen der Leipziger Schöffen ausreichend, wenn „sowohl Gewalt zu gebrauchen, und nach denen Leuten, so gekommen seyn würden, zu schießen verabredet, als auch jedesmahl geladenes Schieß-Gewehr mitgenommen, eingestiegen, und eingebrochen worden“ 749 war. Ob und von wem diese Waffen getragen und abgefeuert worden waren, stellte 745 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 143v. 746 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 7, fol. 30v-32r. 747 So beispielsweise in der Beschreibung des Böhmischen Hans, vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 4v. 748 Ein Beispiel dafür liefert Rehmann: „Inquisit habe wie alle andere complices ein paar Pistohlen, so mit Schroot geladen gewesen bey sich geführet, und könte er nicht leügnen, daß Sie solche zur Gegenwehr mitgenommen, doch nicht um Leute damit zu tödten, sondern allenfallß jemanden damit die Beine voll zu schießen. Denn keiner unter ihnen häte jemahls um deßwillen Gewehr bey sich geführet, Leuthe damit nach dem Leben zu trachten; Sie hätten solche um ihrer eigenen Cameraden willen, zur Defension nöthig gehabt.“ Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 35v. 749 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 46r. <?page no="166"?> 167 jedoch nichtsdestoweniger einen weiteren wichtigen Faktor dar. Manche der Waffen hatten die Inquisiten noch bei sich, wenn sie in Haft gerieten, andere wurden durch Zeugenaussagen oder weitere Untersuchungen von den Gerichten zugeordnet. 750 Unter anderem im Prozess gegen Johann Karraseck ließen der Schnitt seines Gehrocks und ein darin festgestellter Fleck die Beamten darauf schließen, dass er regelmäßig eine bestimmte Pistole bei sich gehabt hatte. 751 Eine bemerkenswerte Meinungsverschiedenheit in der Bewertung dieser Frage liefert ein Fall von 1779: Während im Schöffenstuhlurteil gegen die Inquisiten Schubarth und Müller darauf abgehoben wurde, dass allein deren Bewaffnung für das Vorliegen eines qualifizierten Diebstahls ausreiche, so begründete der Kurfürst im Gegensatz dazu seine Strafmilderung damit, dass „sich nichts findet, daß dieselben von dem bey sich gehabten Gewehr in denen beiden ihnen zur Todesstrafe angerechneten Diebstälen wirklich einen Gebrauch gemacht hätten“. 752 Die Argumentation des Kurfürsten, die für eine Strafmilderung ausschlaggebend war, weist auf ein verändertes Verständnis von Gewalt hin. Sie muss im Zusammenhang mit der Legislatur Friedrich August III., „dem Gerechten“, gedeutet werden, da er - wie wir später noch sehen werden - öfter niedrigere Strafen über die sächsischen Räuber aussprach, als Rechtstradition und Normen es geboten hätten. In vielen früheren Urteilen hingegen hatte die Tatsache, dass jemand eine Waffe bei sich getragen hatte, als qualifizierendes Merkmal ausgereicht. Brecheisen, Bohrer, Hammer, Meißel und ähnliche Geräte dienten sowohl dem Einstieg in Gebäude als auch im Bedarfsfall zur Gewaltanwendung gegen Menschen. Derartige „Diebs-Instrumente“ stellten neben den gefährlichen Waffen daher in der Rechtslogik ebenfalls strafverschärfende Indizien dar, 753 denn sie waren ein untrügliches Anzeichen der kriminellen Absicht, des planvollen Vorgehens und des gewohnheitsmäßigen Verbrechens. In den Befragungen sowohl der Beschuldigten als auch der Opfer wurde von den Beamten außerdem vor allem größter Wert auf den bei der Tat stattgefundenen Kontakt zwischen Überfallenen und Tätern und besonders auf die dabei vorgenommenen Drohungen, Nötigungen und Gewalttätigkeiten gelegt. „Ob nicht auch würcklich in der Nacht zwischen den 22. und 23sten Sept. Ao. 1732 von ihm und seinen Cameraden besagte Zimmermannin, 750 Schubarth und Müller hatten beispielsweise bei ihrer Arretierung 1776 einige Waffen und Munition von sich geworfen, was aber dennoch wahrgenommen worden war, HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 307v. 751 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 6, fol. 63r. 752 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 330r. 753 So argumentiert ein Schöffenstuhlurteil von 1801, „der von Geßeln bey Verübung des Diebstahls geführte Knittel, der nach der obangezogenen Beschreibung [...] vom lebendigen Birkenholze, mehr als 2 Ellen lang, und über 2 Zoll im Durchmesser stark gewesen ist, muß wohl allerdings den Instrumenten, mit welchen ein Todtschlag geschehen kann, beygezählt werden“ und fasst damit einen Knüppel zu den Waffen, HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 96r. <?page no="167"?> 168 deren Schwester, der letztere Ehemann Ehrenfried Richter und die Zimmermannische Magd in ihren Betten überfallen, gebunden und bedrohet, auch zum Theil geschlagen, gestoßen, zu Boden geworffen oder gewürget, darneben bey denen Richterischen Eheleuten mit einer Axt und mit einen bloßen Degen gestanden, worden? “ 754 lautet ein Teil in einem beispielhaften „interrogatorium“ der Urteilssammlung vom Leipziger Schöffenstuhl. Für die Strafzumessung war es von großer Bedeutung, ob eine gewaltsame Tat vorlag. Zu der zeitgenössischen Deutungsweise des qualifizierenden Merkmals ‚Gewalt’ gehörten ausdrücklich sogar das Drohen und somit verbale Erschrecken der Opfer 755 und das Tragen von Waffen, mit denen man in der Lage war, Menschen ernsthaft zu verletzen oder zu töten - auch wenn keine physische Gewalt ausgeübt worden war. Dass diese Elemente von den Zeugen oder von den Behörden gelegentlich übertrieben dargestellt wurden, um möglichst schlagkräftige Indizien gegen einen Inquisiten in der Hand zu haben, kann vermutet werden. Taten, bei denen Gewalt an Menschen ausgeübt und explizit dokumentiert wurde, machten bei den hier fokussierten Gruppen einen Anteil von etwa 15 Prozent aus. 756 Dieser Mittelwert mag relativ gering wirken - allerdings ist bei der Bewertung zu beachten, dass in die Gesamtsumme Kirchendiebstähle eingehen, bei denen meist keine Menschen angetroffen wurden. Am anderen Ende des Spektrums legte so manche Bande einen erheblich höheren Anteil an gewaltsamen Vorgehensweisen an den Tag: So sind von den 25 Delikten, die mit Johann Karraseck in Verbindung gebracht wurden, allein 16 unter teils erheblicher Gewaltanwendung geschehen. 757 Mindestens zwei der von Karraseck beraubten Männer überlebten die Überfälle nicht. Solche Raubmorde ereigneten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer wieder, doch ohne eine bestimmte Häufung oder Regelmäßigkeit. Die Tat mit den meisten Opfern gelangte im März 1738 mit einem Bericht aus der böhmischen Stadt Kuttenberg in die kursächsischen Gerichtsakten: Bei einem nächtlichen Überfall auf ein Wohn- 754 UB Albertina, Ms 2476, Nr. 13. 755 So stellt die Juristenfakultät Wittenberg in einem Gutachten an die Landesregierung 1760 heraus, dass „sie seither der unvorgreifflichen Meynung gewesen wären, daß, daferne ein gewaltsamer Einbruch geschehen, dabey zugleich jemand mit dem Tode bedrohet, geknebelt, geschlagen, gebunden, verwundet, gemartert, oder sonst an Menschen Gewalt u. Thätlichkeit ausgeübet worden, mithin sich das Verbrechen zugleich zu einer Beraubung qualificiret“ und bezieht dabei in die qualifizierenden Merkmale die Bedrohung mit ein, HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 188r. Auch werden in einem späteren Urteil der Juristenfakultät Leipzig mit Verweis auf Carpzov das Tragen von Waffen, als auch die Ausübung von Gewalt und Drohungen gegen Personen als Merkmale dafür genannt, dass ein Delikt nicht nur als versucht, sondern als ausgeführt angesehen werden kann, vgl. ebd. fol. 281v-282r. 756 Um diesen Annäherungswert zu ermitteln, ist eine repräsentative Stichprobe von über 170 Vorwürfen aus den vorhandenen Urteilen des gesamten Untersuchungszeitraums erstellt worden. Diese ergibt einen Anteil von 28 Taten mit an Menschen ausgeübter Gewalt. 757 Vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 541r-553v. <?page no="168"?> 169 haus, angeblich unter Beteiligung des sächsischen Kupferschmiedgesellen Johannes aus Freiberg, wurden acht Frauen und Kinder ermordet und mehrere tausend Gulden erbeutet. 758 Tätlichkeiten gegen die Bestohlenen finden sich in mannigfaltigen Varianten. Bleibende körperliche Schäden waren dabei häufig die Konsequenz und wurden in manchen Fällen in den Akten genau dokumentiert, um unter anderem zu bestätigen, dass die Täter den Tod des Betroffenen zumindest billigend in Kauf genommen hatten. Die von den Ärzten formulierten Expertenberichte gaben Auskunft über die Verletzungen oder gegebenenfalls die Todesursache und somit Hinweise zur weiteren Ermittlung. 759 Sexuellen Nötigungen durch die vorwiegend männlichen Täter lässt sich in der Aktensprache schwer nachspüren. Gleichwohl bestätigt sich aber der andernorts formulierte Befund, dass Vergewaltigungen selten ausgeübt oder versucht worden waren. 760 Ein außergewöhnliches Beispiel dafür liefert jedoch Andreas Dechant, der bei einem gemeinschaftlichen Mühlenraub im April 1704 „die Müllerin aufs bette getragen, [...] und sie nothzüchtigen wollen, welches er doch nicht vollbracht“ 761 . Die Frau, die hochschwanger gewesen und von den Räubern zudem geschlagen worden war, erlitt eine Fehlgeburt. Dass Opfer gefesselt und geknebelt, mit Waffen bedroht und auch geschlagen wurden, ist in erster Linie Folge davon, dass die Räuber sich um Geheimhaltung bemühten und jegliche Gegenwehr unterdrücken wollten. Immer wieder wurden die bewachten Personen zusätzlich mit Bettlaken zugedeckt, um ihre Rufe und Geräusche stärker zu dämpfen. Die Gewalttaten richteten sich ebenso gegen Kinder wie gegen Erwachsene. So wurde zwei Mitgliedern der Bande um Kupper vorgeworfen, dass sie bei einem Einbruch 1716 „vor der Kinder Bette getreten, und diese, weil sie erbärmlich geschrien mit Fäusten hart geschlagen“ 762 hätten. Das einzige Beispiel für einen Gewalt-Exzess, der gleichsam als Topos die literarischen Darstellungen von Diebs- und Räubermagie prägte 763 , und dessen Eingang in die Behördenakten stammt bezeichnenderweise aus dem Bericht über eine nicht-sächsische Bande, die nichtsdestoweniger als Bedrohung für das Kurfürstentum präsentiert wurde. In seiner Gaunerliste von 1754 beschrieb 758 Stadtarchiv Chemnitz, III Stadtverwaltungssachen VIIb 47, Bd. 3. Darüber wurde auch im Wienerischen Diarium, Nr. 23 und Nr. 26, berichtet, was später näher beleuchtet wird. 759 Ein ausführlicher Arztbericht über Wunden stammt aus der Akte HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 15, Schreiben vom 17. Juli 1695. 760 D ANKER , Geschichte, S. 126. Die Feststellung findet sich schon bei Bettenhäuser, der aber bei seiner Zusammenstellung literarischer und archivalischer Berichte wissenschaftliches Maß an Quellenkritik sehr vermissen lässt, vgl. B ETTENHÄUSER , Räuber- und Gaunerbanden, S. 341. 761 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 19r. 762 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 35v. 763 K ÖHLER -Z ÜLCH / S HOJAEI K AWAN , Art. Räuber, Sp. 313-314. Sagen, die diese magische Praktiken enthalten, waren demnach in Regionen wie Mecklenburg und Schleswig, in Niedersachsen und Thüringen bekannt. <?page no="169"?> 170 Matthias Brückmann, der angab mit seinen beiden Brüdern einer 100-köpfigen Niederländischen ‚Diebesrotte’ anzugehören, die so genannten „Diebsfinger“ oder „Diebslichter“: „Endlich auch der Inquisit [...] gestanden, daß er bey nachstehenden Diebereyen und Einbrüche, auch Mordthaten, welche von einigen Rotten dieser Bande ausgeübet worden, Zugegen gewesen, und daran Theil genommen habe, als nehmlich: [...] c.) Wie an eben dem Orte vor 5. Jahren eine schwangere Frau aus ihrem Hauße geschleppet, an einen Graben geführet, derselben den Bauch lebendig aufgeschnitten und die Leibesfrucht herausgenommen, um davon DiebesLichter zu machen, und darauf der Cörper unter einer Brücke verscharret worden.“ 764 Bestätigende oder widersprechende Angaben zu dieser Tat sind nicht erhalten und auch keine weiteren Beispiele solcher oder anderer abergläubischer Praktiken aus dem Untersuchungsraum. Da der Inquisit Brückmann sich aber hier selbst und zudem seine beiden Brüder schwer belastete, und dies in eine ansonsten glaubwürdig anmutende Aussage eingebettet war, muss zumindest die Frage gestellt werden, ob es sich hier um eine rein erdichtete Anekdote handelte. 765 Oder war es andererseits auch möglich, dass kriminelle Gruppierungen bestimmte Mythen aus der Überlieferung kannten, sie sich tatsächlich aneigneten und in die Praxis umsetzten? Dies lässt sich hier zwar nicht hinreichend beantworten; es bietet aber zumindest einen aufschlussreichen Einblick, dass die ‚Diebslichter’ nicht nur in literarischen Erzeugnissen, wie in dem mehrseitigen Bericht über Andreas Christian Käsebier von 1748 766 , sondern auch in den Akten der Verwaltungsüberlieferung auftauchen. Insgesamt hinterlässt das Vorkommen gewalttätiger Akte gegen Menschen trotz aller Rigorosität und Brutalität den Gesamteindruck, das Interesse der Täter sei vorrangig auf den materiellen Gewinn ausgerichtet gewesen. Trotz der formalisierten Quellensprache und der strengen Zielrichtung der Strafverfahren hin auf eine Bekämpfung, ja Ausrottung der Verbrechen, bietet die Gerichtsüberlieferung Beispiele, in denen Räuber die Bestohlenen anders behandelten. Manche Banden vollzogen nächtliche Diebstähle heimlich, während die Besitzer im Haus ruhig schliefen. Daneben verweisen einige Aussagen darauf, dass die Anwohner von Gewalt verschont wurden, sofern sie „sich nicht gewehrt, noch Lermen gemacht“ 767 hatten. Auch die wörtlich wiedergegebene Kommunikation 764 HStA Dresden, 10025, Loc. 5636, fol. 84v-85r. 765 In seiner Dissertation von 1988 ordnet Danker die Diebskerzen als zeitgenössische „Mär“ ein, vgl. D ANKER , Räuberbanden, S. 273. 766 Der in ganz Europa Käsebier 1748. 767 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 22v. Der geständige Inquisit Andreas Philipp Fricke behauptete sogar, er habe einmal bei einem Einbruch einer bestohlenen Frau, „weil sie so erbärmlich gethan, ein Tisch-Tuch, Schürtze, Handt- und Hals-Tuch, wie auch ein Gebeth-Buch in das Bette zugestecket, damit sie ihr es nicht möchte mitgenommen werden“. <?page no="170"?> 171 zwischen Tätern und Opfern lässt eine Fokussierung auf die Beute erkennen. „Herauß du Hund, du hast falsch Geld gemachet, das wollen Wir holen“ 768 , „Du alte DonnerHure, wo hast du dein Geld? “ 769 und „Gieb dein Geld her, oder du must gleich sterben“ 770 lauteten die in den Verhörprotokollen rezitierten drohenden Aussprüche, die gegen unterschiedliche Opfer ausgestoßen worden waren. Dagegen gibt es kaum Beispiele für sonstige persönliche Äußerungen während der Übergriffe. Auch fehlen darin Hinweise darauf, dass die Raubzüge und die dabei vollzogene Gewalt einem anderen möglichen ‚niederen Beweggrund’ außer der Habgier, wie etwa der Rache oder der Eifersucht, geschuldet gewesen wären. Die Darstellungen der Raubzüge boten nicht ausschließlich Erfolgsgeschichten. Sie enthalten Berichte von missglückten Versuchen, in denen die Opfer erfolgreich Alarm geschlagen oder Gegenwehr geleistet hatten, die erhoffte Beute nicht gefunden werden konnte oder im hastigen Aufbruch zurückgelassen werden musste. Auch deren Aufteilung ging nicht immer einträchtig von statten. So kam es wegen der Bemessung der Anteile zu Kompetenzgerangel, Auseinandersetzungen und Unterschlagungsvorwürfen. 771 Aussagen über ungleiche Beuteteile konnten aber wiederum dem strategischen Zweck dienen, sich selbst überzeugend als ‚kleines Rädchen’ zu präsentieren. Bezogen auf den jungen Daniel Lehmann, dessen Urteil sehr detailreich ausgearbeitet ist, wird diese Zielrichtung vom Leipziger Schöffenstuhl offensichtlich erkannt. Das Dicasterium sieht seinen geringen Anteil nicht als ausreichende Begründung für eine Strafmilderung an, „wie denn bey denen Deuben nicht dasjenige, was er würcklich erhalten und genoßen, sondern was auff seinen Antheil kommen zu rechnen, und dergestalt dasjenige was nach vollbrachter Deube seine Diebsgesellen ihm ohnwißend an denen gestohlenen Sachen unterschlagen, daran nicht abzuziehen“ 772 . Auch hakten die Beamten nach, wenn die Aussage über einen erhaltenen Beuteanteil unwahrscheinlich erschien. Für Hans Georg Kupper wurde nach seiner Erklärung, er habe bei einem bestimmten Diebstahl nur vier Groschen erhalten, die Folter mit dem Argument verschärft, „daß dieses gar nicht glaublich, denn da er nach seinem Bekenntniß, bey diesem Einbruch das meiste mit verübet, und dem Pfarrer so zugesetzet, [...] er nothwendig ein weit mehreres zu seinem quanto empfangen haben müste“. Unter den angezogenen Schnüren 768 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 65r. 769 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 45v. 770 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 77v. 771 Ein Beispiel liefert das Urteil Daniel Lehmanns bezüglich eines Diebstahls in Weißenborn, das besagt, „vom Gelde aber nehmlich 12 thlr so nach innhalt der eydlichen aussage fol: 108. Vol: C. mit entwendet worden, wiße er nicht, indem Schmid vorgegeben, als ob er keines gefunden,“, HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 197v. Vgl. auch Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 18v-19r und fol. 39v-40r. 772 HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 215r. <?page no="171"?> 172 gestand der Inquisit einen Anteil von zehn Reichstalern bei dieser Tat ein. Das Verhalten der Richter deutet darauf hin, dass man von einer ‚leistungsbezogenen Bezahlung’ im Regelfall ausging. Tatsächlich finden sich daneben auch Beispiele für eine Aufgliederung der erlangten Summe in gleiche Teile für alle Beteiligten. 773 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich eine von der früheren Forschung als organisiert und ritualisiert bezeichnete Taktik in der Breite der vorliegenden Beispielfälle nicht bestätigt. 774 Andererseits kann man angesichts der Aussagen und der darin geschilderten Vorgehensweise nicht behaupten, dass die jeweiligen Gruppen eine kriminelle Tat ohne ein gewisses Maß an vorheriger Absprache und Planung angegangen wären. Gerade die Einbruchdiebstähle, die den größten Anteil daran ausmachten, wurden arbeitsteilig vorgenommen. Sie aber insgesamt als Form der ‚organisierten Kriminalität’ nach heutigem Verständnis zu beschreiben, ist nicht nur anachronistisch, sondern auch in Bezug auf eine angebliche Systematik und hierarchische Struktur in den Banden des 18. Jahrhunderts zu weit gegriffen. 775 Die Aspekte, die von den Behörden vorrangig untersucht wurden, wie das Vorschlagen der Ziele, die Arbeitsteilung beim Einbrechen, die Bewaffnung und der Kontakt zu den Opfern waren die Elemente, die aus der Sicht der Obrigkeit eine Bande und ihre besondere Gefährlichkeit ausmachten. Deutlich zeigt sich, dass neben der Tatsache, dass ein Delikt gemeinschaftlich begangen worden war, das jeweilige Vorgehen ausschlaggebend dafür war, ob man von einer Räuberbande ausging. Ob eine dieser Bedingungen nachgewiesen werden konnte, war von herausragender Bedeutung, denn es handelte sich hier um die strafverschärfenden Aspekte. Daher wurde das Gewicht von den Ermittlern eher auf diese ‚bandenkonstituierenden Faktoren’ gelegt, als auf die Fragen, ob eine Gruppe eine innere Konstanz oder eine strenge Hierarchie über die Dauer ihrer Aktivität besaß. Den Handlungsräumen der Banden ist gemein, dass sie je nach Zusammensetzung und Dauer der Gruppenaktivität ebenfalls in der Erscheinungsform variierten. Sie orientierten sich nicht an Grenzen von Gerichtsbezirken oder Territorien und wiesen eine ‚innere Grenzziehung’ insofern auf, als die Räuber weitgehend die Orte aussparten, an denen sie selbst wohnten oder aus sonstigen 773 Der oben genannte Sahrberg berichtet beispielsweise von einer Aufteilung in fünf gleiche Teile, HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 195v. 774 Küther führt beispielsweise das kriminelle Vorgehen der Niederländischen Bande als auf andere Gruppen übertragbar an, vgl. K ÜTHER , Räuber 1976, S. 32-38. 775 Um unter die aktuelle Definition von organisierter Kriminalität zu fallen, wäre zwar auch eine Abgrenzung nach außen und konspirative Praktiken, aber vor allem eine internationale (globale) Ausrichtung sowie vorrangig ein professionell angelegtes, ökonomisches Profitstreben mit hohen Gewinnspannen notwendig. Es gibt dazu verschiedene etwa von der Europäischen Union definierte Kriterien. Auch werden im modernen Strafrecht der Bundesrepublik die Begriffsverständnisse von Bande und organisierter Kriminalität voneinander unterschieden, vgl. M ÖHN , Kriminalität, S. 69- 73. <?page no="172"?> 173 Gründen bekannt waren. In der Kommunikation zeichnet sich ab, dass ein Bewusstsein über die Räume, in denen sie aktiv gewesen waren, bei ihnen durchaus vorhanden war. Die Handlungsorte, die die Aktivität der Räuberbanden zu jeweiligen Handlungsräumen zusammenfügten, waren vorwiegend Kirchen und Mühlen, mit ihren speziellen Rahmenbedingungen, aber auch Bauernhöfe und Wohnhäuser. Märkte, Kaufläden und Wirtshäuser stellten gleichsam beliebte Tatorte dar, doch wiesen diese eine Mehrdeutigkeit und damit eine besondere Charakteristik auf, die im folgenden Teilkapitel eigens beleuchtet und analysiert werden. 4.5 Wirtshäuser als Stützpunkte und Schnittstellen Wirtshäuser und Orte, an denen Handel betrieben wurde, wie Märkte oder Läden, hatten einen besonderen Status unter den Handlungsorten, an denen Mitglieder von Räuberbanden angetroffen werden konnten: Zum einen stellten sie Zielobjekte für Verbrechen dar, da Geld und Handelswaren erbeutet werden konnten. 776 Zum anderen nutzten Kriminelle diese Orte zur Sammlung von Informationen und zur Absetzung gestohlener Waren. Das führte auch dazu, dass Wirtshäuser und Märkte unter besonderer Beobachtung durch die Obrigkeiten standen. 777 Mit einer formalen Ähnlichkeit zu den Gaunerlisten brachten verschiedene Verhöre und umfangreiche Untersuchungen daher auch Aufzählungen von Gaststätten hervor, wo sich Diebe und Banden angeblich zu verabreden pflegten. Ausführliche Listen waren die 20 vermeintlichen „Diebswirthe“ an unterschiedlichen Orten aus der Untersuchung um Hempel und Nolle von 1687, 778 die 19 Häuser, die Johann August Fiedler bei seinem Verhör 1753 preisgab, 779 und die 1791 im Strafverfahren von Christian Friedrich Harnisch angegebenen 33 Schenken und Hehler 780 . Zusammen genommen ergeben die aufgezählten Orte ein relativ dichtes Netz, das ähnlich wie bei der Gesamtansicht der Strafprozesse eine Lücke am südlichen Rand des Kurfürstentums aufweist. Diese Handlungsorte sind sowohl auf dem Land als auch in Städten angesiedelt: So kehrten nach der Aussage des Fiedler in Leipzig „a) in der kalten Wurst, b) in 776 Die Bande um Hans Georg Kupper beraubte beispielsweise einen Wirt in Gatterstädt und das Gasthaus ‚Lustkrug’, HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4. Geßel und seine Komplizen übten 1798 in Stösitz einen Einbruch in einer Schenke und einem Laden aus, HStA Dresden, 10079, Loc. 12347. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich nennen. 777 Vgl. vor allem in Bezug auf den Alkoholausschank F RANK , Satan, S. 38. Zur Bedeutung und zum Konfliktpotenzial von Wirtshäusern und Märkten in der Frühen Neuzeit vgl. D ÜRR / S CHWERHOFF , Kirchen; R AU / S CHWERHOFF , Gotteshaus; R AU , Wirtshaus; M AY / S CHILZ , Gasthäuser; K ÜMIN , Friede. 778 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 18r-34v. 779 HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, Anlage B. 780 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 48r-51r. <?page no="173"?> 174 der dürren Henne, c) bei den Mehnerts, d) bey den Dillmens, vorn Peters Thore“ regelmäßig Diebe ein und auch in der Dresdener „Fischer-Schencke“. 781 Einzeln betrachtet wird 1687 ein Kreis ungefähr um Leipzig im Radius von 30 Kilometern beschrieben, während die 1753 und 1791 erwähnten Orte jeweils breiter in Sachsen verteilt sind und auch jenseits der Grenzen liegen. In die Aufzählungen und Beschreibungen gehen die unterschiedlichen Reisewege und Erfahrungshorizonte der jeweiligen befragten Inquisiten maßgeblich ein. Abgesehen von diesen Herbergslisten tauchten favorisierte ‚Stützpunkte’ auch in zahlreichen Verhören auf. Manche Aussage nannte ein Gasthaus lediglich, ohne weitere Details zu liefern, was für die betreffenden Wirte zumindest zur Folge haben konnte, unter strengere Beobachtung durch die Obrigkeit und verstärkt in den Fokus von Razzien zu geraten. Das zeigt unter anderem eine spezielle Anweisung an den Besitzer des Oberlausitzer Rittergutes Thumitz: In dessen Gebiet sollte zukünftig „fleißig visitirt“ werden, da ‚Der Sächsische Reuter’ sich als ein verdächtiges Wirtshaus erwiesen hatte. 782 Für eine Vielzahl belastender Aussagen galt aber, dass über die reine Aufzählung hinaus Vorfälle ausführlich geschildert wurden, die die Stützpunkte, Versammlungsorte oder Umschlagplätze explizit in das kriminelle Umfeld einbezogen. Durch solche, manchmal eher beiläufig erzählten Vorgänge gelangten die beschriebenen Personen in das Zentrum strafrechtlicher Untersuchungen. Die gesetzliche Vorgabe, die Helfer seien ebenfalls zu einem Bandennetzwerk zu zählen und entsprechend zu behandeln, wurde hier rechtspraktisch umgesetzt. Dass die vermeintlichen Diebswirte dabei nicht nur der Unterbringung Verdächtiger beschuldigt, sondern gleichsam als Komplizen, Teilhaber und Hehler angesehen wurden, verdeutlicht die häufig gebrauchte Vokabel „(Ver-)Parthierer“ - ein Begriff, der nicht nur einen Teilhaber meinte, sondern eine Person direkt mit betrügerischem Handel und heimlichem Diebstahl in Verbindung setzte. 783 Die Gasthäuser in ihren verschiedenen Ausprägungen konnten ihren Besuchern zu ganz verschiedenen Zwecken dienen. 784 Ihre Multifunktionalität lag für die Räuberbanden darin, dass mit Falschspiel, Betrug und Diebstahl an Gästen zusätzliche Einkünfte erlangt werden konnten, dass Treffen organisiert, Informationen gesammelt, Absprachen getroffen und der Weiterverkauf von Beutegut vorgenommen wurden und dass sie dort logierten und versorgt wurden. Im Fall von Vaganten, die über keinen eigenen Wohnsitz verfügten, besaßen Wirtshäuser und Herbergen somit die Bedeutung eines potenziellen ‚Zuhauses’. 785 Verdachtsmomente gegenüber Gastwirten entstanden nicht nur dadurch, dass ihre Häuser Sammelstellen verschiedenster Menschen waren, auf deren Anwe- 781 HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, Anlage B. Vgl. unter anderem zur Unterscheidung der verschiedenen Wirtshaustypen auch S CHWERHOFF , Maulschellen und K RUG -R ICHTER , Privathaus. 782 Anweisung vom 4. Januar 1754 in HStA Dresden, 10025, Loc. 5632, unfoliiert. 783 G RIMM / G RIMM , Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 1478-1481. 784 Vgl. u.a. F RANK , Satan, S. 16-21 und S CHWERHOFF , Maulschellen, S. 15-16. 785 F UMERTON , Alehouses, S. 494-497. <?page no="174"?> 175 senheit und Geld sie angewiesen waren, sondern ergaben sich oft auch deswegen, weil Wirte und Diebe mitunter eine ähnliche soziale Herkunft aufwiesen. Forschungsarbeiten betonen, dass sehr viele Wirte im 18. Jahrhundert aus der unteren, armen Gesellschaftsschicht stammten. 786 So hatte beispielsweise der Räuber Nickel List selbst eine Gastwirtschaft in der Nähe von Leipzig betrieben. 787 Bei dieser dürfte es sich freilich um keine konzessionierte, sondern um eine der zahlreichen ‚Winkelschenken’ gehandelt haben, die ohne obrigkeitliche Lizenz Alkohol ausschenkte und zahlende Gäste verpflegte. 788 Ein Fall, in dem eine weitläufige Bandenuntersuchung einem Wirtsehepaar zum Verhängnis wurde, ist in den Beständen des Leipziger Staatsarchivs überliefert. 789 Das Strafverfahren gegen Franz und Anna Maria Stolle kann exemplarisch dafür stehen, dass das Augenmerk der Strafverfolger auch in der Praxis so stark auf Wirtshäuser und Herbergen gerichtet wurde, wie es in den Mandaten gefordert worden war. 790 Eine Gruppe von acht Personen, die man als Diebesbande ansah, stand 1753 in Grimma vor Gericht. Drei weitere Komplizen waren außerdem im Rahmen der Arretierung aus einem Gasthaus in Hohnstädt geflohen. Daraufhin wurde das Ehepaar Stolle, das diese Schenke betrieb, zusammen mit einer Magd ebenfalls zum Amtssitz in Grimma gebracht. Einerseits ließ sich der Bandenvorwurf gegen Johann Gottfried Brauschler, Johann Andreas Bütter, Carl Friedrich Döring und die anderen nur unzureichend bestätigen und die Ermittlungen beschränkten sich hauptsächlich auf einen Diebstahl an einem Händler auf dem Markt im sächsischen Lucka. Andererseits erhärteten sich dabei die Verdachtsmomente gegen das Ehepaar Stolle, dass in seiner Schenke am Burgberg regelmäßig Personen ohne vorschriftsmäßige Überprüfung der Pässe untergebracht und beköstigt worden waren. Einige der verhafteten Leute gaben in ihren Verhören an, von Stolle nicht nach ihren „Kundschaften“ befragt worden zu sein, womit er gegen seinen Eid als Wirt verstoßen hatte. 791 Da ferner zwei Körbe mit Diebesgut und anderen Textilien auf dem Dachboden gefunden worden waren, außerdem gemeldet wurde, dass die Stollin sich bei mehreren Gelegenheiten auffällig verhalten hatte, und eine Aussage die Eheleute bezichtigte, bereits früher einen Deserteur beherbergt zu haben, ordneten die Leipziger Schöffen für beide ein artikuliertes Verhör unter Folter an. 792 Durch die emsig betriebenen Korrespondenzen mit anderen Ämtern, deren Aktivitäten durch die oben beschriebene Einrichtung von Kommissionen 1753 786 F RANK , Satan, S. 21. Frank weist darauf hin, dass gerade der Großteil der frühneuzeitlichen Kneipen und Gasthäuser, der von armen Wirten betrieben wurde, keine Lizenz besaß und mit einer hohen ‚Dunkelziffer’ an „Winkelkrügen“ oder Winkelschenken zu rechnen ist. 787 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1707, fol. 67r. 788 Vgl. S CHWERHOFF , Maulschellen, S. 16. 789 Siehe vor allem Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337. Vgl. außerdem mehrere zugehörige Bände wie Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 620, Nr. 621 und Nr. 1302. 790 Vgl. Kapitel 3.1 Entwicklung der Gesetzgebung. 791 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 621, fol. 191v-192r. 792 Ebd., fol. 195v-198v. <?page no="175"?> 176 einen verstärkenden Impuls erhalten hatte, verdichteten sich die Indizien. Unter anderem eine Aussage des überführten Diebes Johann Joseph Bütter wirkte belastend: „Er kenne den Wirth Stolle in Hohenstädt sehr wohl, und habe zwar wohl ein und das andere von ihm bereits erzählet [...]. Daß deßen Schencke eine Diebes-Herberge abgegeben, sey eine bekannte Sache, und habe selbiger die Spitzbuben-Sprache und Landstreicher und Land-Bettler nicht nur in großer Menge von Zeit zu Zeit bey sich aufliegen laßen, sondern sie auch als dergleichen Volck sehr wohl gekannt, [...] und wenn sie, daß die Gerichts-Herrschafft auf sie aufmercksam werden möchte, fernerweit geäussert, sich herausgelaßen: Was wolte der Herr eben viel sagen, er schenckte ihm ja sein Bier aus.“ 793 In dieser Aussage steckten Hinweise darauf, dass Stolle ein Selbstverständnis als Komplize besaß, zum einen weil er die Sondersprache der kriminellen Gruppen beherrschte und zum anderen, da er sich seiner besonderen Rechtsstellung durch die Konzession zum Bierausschank bewusst war und sich vor der obrigkeitlichen Verfolgung sicher wähnte. Mit Verweis auf die wenigen Male, die er sich dort aufgehalten habe, vertrat Bütter somit die Auffassung, das Hohnstädter Wirtshaus habe Dieben zu Aufteilung und Verkauf von Beutegut sowie als Unterkunft und Stützpunkt gedient, von wo aus Diebstähle ausgeführt wurden. Dabei sei nicht nur von Stolle, sondern auch von anwesenden Gerichtsknechten ein Auge zugedrückt worden. 794 Gelegentlich kulminierten die Erwähnungen von verdächtigen Wirtshäusern in dem Vorwurf, ein ganzer Ort habe ein regelrechtes „Diebsnest“ 795 abgegeben, denn dort wären kriminelle Aktivitäten von den Beamten und lokalen Obrigkeiten durch Passivität und Duldung zumindest indirekt unterstützt worden. In der Aussage Harnischs von 1791 etwa wurde den sächsischen Behörden nahegelegt, bei dem kleinen bayreuthischen Ort Böseneck handele es sich um ein unzureichend kontrolliertes Gebiet, da „die meisten Schenken auf den Dörfern um Boeseneck herum“ 796 als verdächtig benannt wurden. Aber auch im kursächsischen Herrschaftsraum fanden Konflikte um die pflichtgemäße Befolgung der normativen Auflagen statt. In Medewitzsch „sey das ganze Dorf rechte Cochumer“, stand es doch mit seinem Pfarrer, der angeblich in der Spitzbubensprache Warnungen aussprach, und einem adligen Gutsherren, der dort mit Dieben Kontakt hatte, im ernsten Verdacht. 797 793 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337, fol. 10r-11r. 794 Ebd., fol. 11r-14v. Wegen der unterschiedlichen gegen sie geäußerten Vorwürfe werden Franz Stolle auf den Festungsbau und seine Frau in das Zuchthaus Waldheim überwiesen. 795 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 202v. 796 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 50r. 797 Stadtarchiv Chemnitz, V XIXa 16, fol. 70v-71r. <?page no="176"?> 177 Eine Akte von 1745 beschäftigte sich ausschließlich mit dem gegen die Schönburgische Gesamtregierung in Glauchau gerichteten Vorwurf, „als ob man Diebs-Gesindel und Diebs-Höhlere wißentlich aufnehme und dulte“. 798 Dieser vom Zwickauer Amtmann Carl Leopold Weise vorgebrachte Gedanke wurde als eine schwere Beschuldigung aufgenommen. Ihr begegnete der Glauchauer Gerichtsherr mit dem Hinweis auf Nachlässigkeiten des benachbarten Zwickauers bei der Benachrichtigung, wogegen er als Kontrast die vorbildliche Verfolgung von ‚Diebsgesindel’ durch die drei Amtmänner in seinem Zuständigkeitsbereich mit positiven Beispielen zu stützen suchte. Das Thema der lokalen Umsetzung von Mandaten und der dabei zu leistenden Beaufsichtigung von Gaststätten und Herbergen wurde demnach auch bei Rivalitäten um Herrschaftsbereiche und Zuständigkeiten eingesetzt und ausgespielt. Besonders vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Schönburgischen Herrschaften, die durch einen Rezess von 1740 unter die sächsische Landeshoheit gestellt worden waren, 799 dürfte die Anschuldigung des Zwickauer Amtmanns schwer gewogen haben, bezichtigte er dadurch implizit die Gesamtregierung in Glauchau, sich den Vorgaben der sächsischen Zentralbehörden zu widersetzen. Die sächsischen Normen hatten neben den Wirtsleuten vor allem den lokalen Obrigkeiten die Verantwortung für die ausreichende Kontrolle zugewiesen. Dass Strafandrohungen wie „da ein Gerichts-Herr oder Beambter befunden werden solte/ welcher sich dißfalls/ seiner Pflicht gemäß/ nicht bezeiget/ oder durch dessen Verschulden/ dergleichen Räuberischen Gesindel/ sich zu salviren/ die Zeit und Gelegenheit gegeben worden wäre/ ein solcher Gerichts-Herr/ wie auch Beambter/ soll das erste mahl mit einer Geld-Straffe von 100. Thalern, das andere mal aber der Gerichts-Herr/ mit Verliehrung seiner Gerichte auff eine Zeitlang/ oder auch wohl gäntzlich [angesehen werden]“ 800 ihre Adressaten erreichten, verdeutlichen die Rechtfertigungen in diesen Briefen aus der Praxis. Ein weiterer Beispielfall aus Grimma von 1734 demonstriert, dass Amtleute Nachlässigkeiten in Kontrolle und Aufsicht auch auf Subalterne wie den Amtsfron oder die Wächter abwälzten, wenn etwa ein Krimineller sich aus der Haft befreit hatte. 801 Die Unterstützung von Räuberbanden wurde allerdings nicht nur bei den Gastwirten und den dafür zuständigen Herrschaftsträgern gesehen. Märkte und Orte des Handels standen ebenfalls unter besonderer Aufsicht der Obrigkeit, da hier neben Betrügereien, Diebstählen und anderen Vergehen Hehlerei vermutet wurde. 802 Die Strafprozesse forschten danach, wer die Abnehmer waren, die die Beutegegenstände kauften und damit in Augen der Obrigkeit zur Vertuschung 798 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 2825, unfoliiert. 799 W ETZEL , Schönburgische Herrschaften. 800 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1767-1774. 801 HStA Dresden, 10024, Loc. 9661/ 4, Räuberbanden, Diebstahl im Municipalamt 1723, Schreiben vom 13. September 1734. 802 Vgl. S CHEUTZ , Räume, S. 320-324 und F ENSKE , Marktkultur, S. 335. <?page no="177"?> 178 von Verbrechen und dem dauerhaften Bestand von Räuberbanden beitrugen. 803 Oft folgten den Angaben zum Ort des Verkaufs und zum Preis nur die Nennungen namenloser Käufer, Kleinwarenhändler, Bauern und Wirtsleute und keine Informationen über Preisverhandlungen oder Konflikte in diesen Fragen. Ob die von den Inquisiten angegebenen Kaufsummen stimmten oder zugunsten einer milderen Strafe korrigiert wurden, muss offen gelassen werden - zumal für das Strafmaß ohnehin die Schätzung des Opfers entscheidender war als die Auskunft darüber, wie viel der Hehler dafür gezahlt hatte. Salomon Friedrich und Johann Gottfried Seyfert, die beiden Söhne eines angesehenen Stadtrichters aus Wurzen, waren 1756 im Zuge der Kommissionsuntersuchungen in Meißen als Hehler in Arrest geraten. 804 Unter Nutzung verschiedener Argumente versuchten ihre Familienmitglieder durch die Rückerstattung des Schadens und die Zahlung einer hohen Kaution eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, damit die Seyferts weiterhin ihrer Tätigkeit als Händler nachgehen konnten. Das Eingeständnis der Schuld sowie der Hinweis auf Unbedachtheit und mangelnde Absicht waren dabei nur zwei ihrer Begnadigungsargumente. Diesen standen die schwer belastenden Aussagen des seinerseits als Marktdiebe verdächtigten Ehepaars Lauermann gegenüber, die bescheinigten, Salomon Friedrich Seyfert habe wiederholt Kontakt zu Dieben unterhalten, diesen regelmäßig wissentlich Beutegut abgekauft und die Kriminellen gezielt unterstützt. Diese Vorwürfe wurden von anderen Inquisiten bestätigt, um die angebliche Kenntnis der Spitzbubensprache ergänzt und anhand konkreter Beispiele belegt. 805 Nach langen Bemühungen um Gnade ‚überzeugte’ schließlich die Zahlung einer Summe von 1.000 Reichstalern den Kurfürsten zu einem Freispruch dieser beiden Hehler. Nicht straffrei, aber doch glimpflich endete auch ein Prozess gegen die Juden Isaac Jacob und Joel Marcus, denen 1765 und 1766 am Amtsgericht Dresden wegen Diebstahls- und Hehlereiverdachts ausführliche Ermittlungen gewidmet wurden. 806 Obwohl man bei den Männern verschiedene Waren gefunden hatte, die wahrscheinlich zuvor im „Gräflich Coselischen Palais“ in Dresden entwendet worden waren, konnte ihnen nicht eindeutig ein Wissen um diesen Umstand nachgewiesen werden. Im Vergleich der beiden Fälle von Hehlerei erscheint der Umgang mit den Juden und ihren Frauen in verschiedener Hinsicht strenger als mit den Seyfert-Brüdern. So gingen die Richter davon aus, Jacob und Marcus hätten die Gegenstände, unter denen sich eine wertvolle goldene Uhr befand, nicht nur als Hehler erworben, sondern den Diebstahl selbst verübt. Gab es dafür nur wenige Anhaltspunkte, so erfuhren sie als Diebstahlsverdächtige dennoch eine andere Behandlung als die Wurzener Händler. Zum einen unterzog man sie im Gegensatz zu den Seyferts der Folter mit Daumenstöcken und 803 Vgl. das Mandat von 1753, L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 797-804. 804 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 167r-205r. 805 Ebd., fol. 183r-200r. 806 Vgl. HStA Dresden, 10047, Nr. 3949 und HStA Dresden, 10047, Nr. 3950. <?page no="178"?> 179 Schnüren, um die Bestätigung für die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu erhalten, auch wenn diese Verhörpraxis in anderen Territorien des Reiches zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschafft worden war. Des Weiteren wurden auch ihre Frauen in Arrest genommen und verhört. Zum anderen waren - von außen betrachtet - die Verdachtsmomente gegen die beiden Brüder eindeutiger belegt, denn unter anderem hatte Friedrich die Vorwürfe immerhin zugegeben. Dennoch: Die beiden Juden, die standhaft jedes Wissen über die Diebstähle leugneten und die besagten Gegenstände für 86 Louis d’Or bei Fremden gekauft haben wollten, wurden trotz Mangels an Beweisen mit ihren Frauen des Landes verwiesen. Außerdem traf die Zahlung der Prozesskosten sie insofern schwer, als sie genötigt waren, ihren gesamten Besitz zu verkaufen. Von den 156 Reichstalern Gerichtsgebühren blieben sie auch nach der Versteigerung ihrer Habseligkeiten noch 122 Reichstaler schuldig. 807 Die unterschiedliche Behandlung der hier betrachteten vermeintlichen Hehler war wohl nicht nur ihren voneinander abweichenden religiösen Hintergründen geschuldet. Vor allem die Möglichkeit, mit einer beträchtlichen Geldzahlung eine Strafmilderung voranzutreiben, sowie die Tatsache, dass es sich auf der einen Seite um eine ansässige Händlerfamilie handelte, die im sozialen Netz ihres Heimatorts verwurzelt war, auf der anderen Seite um wandernde Juden, die keinen festen Wohnsitz im Kurfürstentum nachweisen konnten, waren hier die Faktoren, die die Strafwürdigkeit beeinflussten. Außerdem war der Fall der Seyferts unter Kurfürst Friedrich August II. verhandelt worden, während das Urteil über die beiden Juden in die kurze Regentschaft von Prinz Xaver als Vertreter des noch nicht volljährigen neuen Kurfürsten fällt. Kur-Administrator Xaver war es, der eigens in seinem Schreiben an die Landesregierung am 20. September 1766 abweichend vom Schöffenspruch als Mindeststrafe für Marcus und Jacob die ewige Landesverweisung forderte. 808 Seine Anweisung war für die betroffenen Amtmänner verbindlich. Es stellt sich aber die Frage, wie wirksam frühneuzeitliche Händler und Kaufleute dem Vorwurf der Hehlerei grundsätzlich vorbeugen konnten. Wurden Händlern von bekannten oder unbekannten Personen Gegenstände zum Verkauf angeboten, dürfte es meist schlichtweg unmöglich gewesen sein, die rechtmäßige Herkunft dieser zu prüfen. Zwar waren des Öfteren Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Provenienzangaben von Dingen wie silbernem Besteck, Schmuckstücken mit Gravuren, goldenen Kelchen oder schweren Altartüchern angebracht. Dennoch waren etliche Händler von den Einkünften durch Warenverkauf existenziell abhängig und befanden sich somit in einer Zwangslage. In einer ähnlichen Zwickmühle sahen sich Wirtsleute, die auf eine gesellige und zahlungswillige Kundschaft einerseits und auf die Einhaltung der strengen obrigkeitlichen Auflagen andererseits angewiesen waren, denn der Verstoß 807 Ebd., fol. 118r-121r. 808 Ebd., fol. 96r. <?page no="179"?> 180 konnte Geldbußen, Verlust der Schankerlaubnis und Gefängnisstrafen zur Folge haben. 809 Der Wirtsmann Gottfried Cuno aus dem ‚blauen Rosse’ in Leipzig sagte daher vor Gericht aus, dass er oft Mühlburschen bei sich unterbringen würde, da er selbst früher ein Müller gewesen sei. Aber die Identitätsbestimmung der Gäste sei oft schwierig, da „der Name solcher Leute fast gar nicht und meistentheils nur zufällig in Erwähnung, indem sie, wie unter Handwerkgesellen üblich, nach dem Orte, wo sie gelernt hätten, oder woher sie gebürtig wären, genannt würden“ 810 . Um seine redlichen Absichten zu belegen, betonte er aber, dass er einen Mühlburschen ohnehin nur unterbringe, wenn dieser ein „alter bekannter“ sei, und bekräftigte seine ordnungsgemäße Geschäftsführung zusätzlich durch eine schriftliche Bestätigung des örtlichen Bürgermeisters. 811 In der Annahme einer gewissen Glaubwürdigkeit der dargebotenen Informationen über sächsische ‚Diebswirte’ und ‚Verpartierer’ deutet sich ein weit reichendes und multifunktionales Beziehungsnetz der kriminellen Banden zur ansässigen Bevölkerung an. Die einzelnen Akteure konnten dabei gegenseitig voneinander profitieren. Es handelte sich bei Gaststätten, Wirtshäusern, Märkten und Handelsplätzen um öffentliche Orte, an denen die unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen zusammenkamen, in Interaktion traten und dadurch den jeweiligen Raum konstituierten. 812 Auch Räuber und Diebe kommunizierten und handelten hier. Dabei trafen sie mit Fremden und Einheimischen zusammen und es kam sowohl zum Austausch als auch zu Konflikten. In ihrer Ambivalenz fungierten diese Orte als ‚Scharnierorte’ oder Schnittstellen zwischen krimineller und normaler Lebensweise. 809 F RANK , Satan, S. 27 und S. 38. 810 HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 53r-53v. 811 Ebd., fol. 46r-48r. 812 Vgl. auch R AU , Orte, S. 416-417 und F UMERTON , Alehouses, S. 512. <?page no="180"?> 181 5 Akteure und Argumentationen im Strafprozess An den Abläufen und am Ausgang der Strafverfahren gegen Räuberbanden war eine Reihe verschiedener Akteure beteiligt. Diese brachten ihre Positionen auf unterschiedliche Weise in die Prozesse ein, wobei ihre rechtliche Stellung und soziale Funktion die jeweiligen Handlungsoptionen und -modi determinierten. Daher ist es wichtig, sich zu Beginn der Untersuchung mit den Argumentationen vor Gericht die unterschiedlichen Akteure und deren Zielsetzungen vor Augen zu führen. Wie Kriminelle in der Gerichtskommunikation von den Prozessbeteiligten zum einen sprachlich und zum anderen juristisch beurteilt wurden, hängt eng zusammen und kann kaum eindeutig voneinander getrennt werden. 813 Kommunikative Praktiken dienen generell dazu, bestimmte Vorstellungen und Werturteile zu erzeugen und zu verfestigen. 814 In den Prozessakten wird aber nicht nur die Einordnung der Räuberbanden aus der Außensicht erkennbar, sondern ebenfalls eine Form der Selbstrepräsentation, konkreter: das implizite und auch explizite Selbstbild der jeweiligen Akteure. 815 Das gilt nicht nur für die Verdächtigen und Angeklagten, an die sich das vorliegende Kapitel in besonderem Maße anzunähern sucht. Alle Beteiligten eines Strafverfahrens werden hier als „Anwesende“ verstanden, die miteinander kommunizierten und „interagierten“. 816 Nach Goffman sind in einer Interaktion immer soziale Rollenmuster verankert. Interagierende Teilnehmer konstruieren in der Kommunikation miteinander bewusst oder unbewusst auch ein Bild von sich selbst und ihrer Rolle, weil sie 813 Vgl. H ÄRTER , Repräsentationen, und die verschiedenen Beiträge des Bandes. Zum möglichen Einwurf, dass die Juristensprache gerade in der Frühen Neuzeit eine sehr ‚unnatürliche’ sei, stellt Arlinghaus heraus, dass bereits im 16. und 17. Jahrhundert die formalisierten Sprechweisen im Unterschied zum mittelalterlichen Prozess abgenommen hatten, A RLINGHAUS , Sprachformeln. 814 Strafrecht und Strafverfahren werden als Kommunikations- und Aushandlungsprozesse beschrieben, die in dieser Sichtweise verstärkt in den Fokus der Forschung genommen werden, vgl. unter anderem E IBACH , Gleichheit, S. 511-512. 815 Grundlegend dazu G OFFMAN , Theater. Vgl. in diesem Sinne auch S CHILD , Strafgerichtsverhandlung. Einen interaktionistischen Kommunikationsbegriff verwendet auch G ESTRICH , Absolutismus, S. 14. 816 Goffman meint mit Interaktion zumeist die direkte Kommunikation vor Ort, G OFFMAN , Theater, S. 18. Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen gerade im 18. Jahrhundert jedoch in einem komplexen Wechselverhältnis, in dem kaum strikte Grenzen gezogen werden können. So werden die Normen und Mandate sowohl angeschlagen als auch durch Predigten und Verkündigungen publik gemacht, die mündlich geführten Verhöre wurden nur in verschriftlichter Form weitervermittelt, die gefällten Urteile durch das Verlesen erst rechtskräftig und Medien, die in Text und Bild von den Strafverfahren berichteten, wurden vorgelesen, ausgetauscht und durch Erzählungen tradiert. Mündliche und schriftliche Kommunikation stehen somit gerade beim frühneuzeitlichen Inquisitionsprozess in enger Beziehung zueinander und bilden gleichsam Bestandteile der speziellen Interaktion, deren Bestandteile aufeinander wirkten und den Verlauf und Ausgang des Verfahrens beeinflussten. Als ein „mit Entscheidungsprozessen synchronisiertes Interaktionssystem“ versteht auch Härter das frühneuzeitliche Strafverfahren, H ÄRTER , Strafverfahren, S. 460. <?page no="181"?> 182 mit ihrer Handlung stets bestimmte Interessen verfolgen. Auch die Gerichtssituation kann als eine solche Interaktion verstanden werden. Dieses Modell der Interaktion impliziert eine Form der Öffentlichkeit, an die sich die Kommunikation richtete. Das strafrechtliche Inquisitionsverfahren spielte sich zwar über weite Strecken in einer sehr begrenzten Teilnehmerschaft ab, die sich auf die Akteure und rechtlichen und politischen Institutionen beschränkte. Für eine größere Öffentlichkeit sicht- und nachvollziehbar wurde ein strafrechtlicher Prozess aber, wenn die Urteile gefällt waren und bei der Hegung des ‚Hochnothpeinlichen Halsgerichts’ verkündet und inszeniert wurden. 817 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Akteure diese obligatorische ‚Ver-Öffentlichung’ des Prozesses als gebräuchliche Rechtstradition durchaus internalisiert hatten und in ihren Handlungen vor Gericht und ihren unterschiedlichen Rollenzuweisungen eine größere Öffentlichkeit bereits mitdachten. 818 Augehend von diesen Vorüberlegungen wird dargelegt, wie sich die Akteure belastend oder verteidigend in den unterschiedlichen Stadien der Prozesse äußerten. Als Eckpunkte werden die Verhöre, die Urteile und die Gnadenverfahren gesetzt, deren bedingende Umstände mit fokussiert werden. Die Kommunikationsakte in den verschiedenen Handlungssituationen werden zusammengeführt, indem nach den vorherrschenden Themen und Argumentationsmustern gefragt wird, die sich durch die Räuberbandenprozesse ziehen. Dabei wird weiterhin berücksichtigt, dass in Äußerungen und Gegenäußerungen verschiedene Selbstdarstellungen aufeinanderprallen und sich wechselseitig beeinflussen konnten. 5.1 Die Prozessteilnehmer Neben den Verdächtigen und überführten Tätern, die im vorhergehenden Kapitel bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben wurden, waren an den Prozessen weitere Personen beteiligt, die mit ihren Aussagen und ihrem Verhalten Einfluss auf die Wahrnehmung von Räuberbanden nahmen. Eingeteilt in grobe Kategorien, die sich mitunter auch überschneiden konnten, waren dies die Zeugen, 819 unter denen die Opfer von Eigentumsdelikten ebenso vertreten waren wie Experten, die dazu beitrugen, einen bestimmten Aspekt zu bestätigen oder zu widerlegen. Außerdem nahmen Advocaten und Schreiber eine 817 Zur zeitgenössischen Debatte um diesen Aspekt vgl. F RIEDRICH / N IEHAUS , Transparenz. Vgl. auch S CHMIDT , Hegung, S. 241-243 und S. 247, die die Hegung als legitimitätsstiftenden Sprechakt herausarbeitet. 818 Dass Goffmans Verständnis von Interaktion und Öffentlichkeit durchaus auf „große Versammlungen und mediale Situationen“ angewendet werden kann, darauf weist Hubert Knoblauch hin in seiner Einleitung ‚Die Öffentlichkeit der Interaktion’ zu G OFFMAN , Interaktion, S. 14. 819 Vgl. zu Auswertungsmöglichkeiten von Zeugenverhörprotokollen u.a. F UCHS / S CHULZE , Wahrheit und S CHUNKA , Visualisierung. Die Zeugenschaft im Strafprozess ist aber bisher in der Forschung noch unterbelichtet, vgl. E IBACH , Gleichheit, S. 521. <?page no="182"?> 183 spezielle, schwer zu klassifizierende Rolle ein, 820 wenn es um die schriftlichen Zeugnisse Verdächtiger und ihrer Familienangehöriger ging. Auf der ‚Gegenseite’ sind die lokalen Beamten in ihren Richter- und Schöffenfunktionen zu nennen sowie die administrativen Institutionen bis hin zum Landesherrn selbst, welche die Prozessverläufe innerhalb der gegebenen rechtlichen Möglichkeiten lenken und auch verändern konnten. Die Zeugen, die in den Untersuchungen vorwiegend zur Belastung Verdächtiger und zur Klärung von Tatanteilen und -umständen herangezogen wurden, konnten dabei durchaus selbst unter Druck geraten. Die Aussage in einem Strafprozess barg, vor allem wenn ein eifriger Untersuchungsbeamter damit betraut war, das Risiko, selbst verdächtigt zu werden. So nimmt es nicht Wunder, dass Zeugenaussagen sich häufig darauf beschränkten, eine Bekanntschaft oder aktive Verbindung mit den Beklagten zu negieren und sich von den Kriminellen möglichst weit zu distanzieren. 821 Diese Einschränkung gilt besonders für Zeugen, die entweder mit den Verdächtigen verwandt waren oder selbst in einem zweifelhaften Ruf standen, weil sie vagierten oder in einem Metier arbeiteten, das den Argwohn der Ermittler auf sich zog, wie beispielsweise in der Gastronomie. Andere Personengruppen, wie Ortsansässige, Bürgermeister, Pfarrer oder Mediziner, hatten in der Regel keine Gefährdung ihres guten Leumunds zu befürchten, wenn sie in Gerichtsverfahren über ihre Wahrnehmung bestimmter Ereignisse oder Personen und deren Ruf und Lebenswandel befragt wurden. Der Großteil der hier Genannten zählte zu den Belastungszeugen, da die Amtsgerichte darauf ausgerichtet waren, zwei glaubwürdige Zeugenaussagen als Schuldnachweis zu erbringen, falls ein Geständnis ausblieb. Doch in einigen Prozessen wurde auch die Vorladung und Vernehmung von Entlastungszeugen vor Gericht gestattet. Johann Roßmann musste es 1704 dem Leipziger Stadtgericht ausdrücklich nahelegen und wiederholt darum bitten, seine Schwägerinnen Maria Elisabeth Fleischer und Maria Fleischer vernehmen zu lassen, bevor diese tatsächlich als „Defensionalzeuginnen“ verhört wurden, was ihm letztlich nicht zum Freispruch verhalf. 822 Die erste große Kategorie von Zeugen waren die Familienmitglieder der Inquisiten. Dabei wurden weibliche und männliche Zeugenaussagen generell gleichrangig gewertet. 823 Oft entsprachen ihre Aussagen denjenigen ihrer Angehörigen und waren darauf ausgerichtet, eine milde Behandlung für diese voranzutreiben. Diese Fürsprache von Frauen und Kindern für ihre Männer und Eltern steht vor allem in Zusammenhang mit der sozialen und ökonomischen Abhängigkeit voneinander, da man als Familie den Alltag und den Lebensunter- 820 Die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Schreiber und Auftraggeber(in) einzuordnen, reflektiert auch U LBRICH , Zeuginnen. 821 Vgl. S IMON -M USCHEID , Reden oder W ITTKE , Alltag. Geschwiegen werden konnte aus unterschiedlichen Beweggründen. 822 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 199r-240r. 823 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Frauen, S. 191; U LBRICH , Zeuginnen, S. 212. <?page no="183"?> 184 halt gemeinsam bestritt. Aber entgegen der auch von Untersuchungsbehörden geäußerten Befürchtung, Aussagen Verwandter seien nur untergeordnet glaubwürdig, weil sie als befangen und parteiisch galten, traten diese in der Praxis sowohl in der Funktion von Entals auch von Belastungszeugen auf. 824 Es ist nicht selten zu beobachten, dass sich Frauen von ihren Ehegatten und Eltern von ihren Nachkommen distanzierten, wenn diese bereits belastet waren und es darum ging, ihnen endgültig die (Mit-)Schuld an einem Verbrechen nachzuweisen. 825 Dabei ist aus der rückblickenden Perspektive nicht mehr eindeutig zu klären, ob dies aus fester Überzeugung und mit bestem Wissen geschah, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen oder vielleicht sogar, um sich auf diese Weise eines ungeliebten Zeitgenossen zu entledigen. Zu den schweren Anschuldigungen der schwangeren Margaretha List, die selbst letztlich einen Freispruch erreichte, gegen ihren Mann Nickel mag es gekommen sein, weil er von den Ermittlern bereits für den Anführer einer Bande gehalten wurde, er seine Familie vernachlässigt hatte und sie ihren Unterhalt inzwischen im gemeinsamen Haus in Beutha mit ihrer Tochter allein bestritt, während er mit der vermeintlichen Komplizin Anna von Sien eine neue Beziehung eingegangen war. 826 Zweitens stellten die Bestohlenen oder Überfallenen eine spezielle Zeugenkategorie dar. Ihnen lag generell eine Anerkennung des geschehenen Unrechts sowie die Vergeltung für den ihnen zugefügten Schaden am Herzen. Eine weitere Rolle scheint außerdem die mögliche Rückgabe oder Erstattung eines materiellen Verlusts gespielt zu haben. Diese Hoffnung der Geschädigten konnte mitunter dazu beitragen, dass Schätzungen von Geldsummen und Gestohlenem höher rangierten als in anderen Aussagen, damit sich eine Restitution durch den Beklagten für sie auszahlte. Dieser Umstand gepaart mit der hoch eingeschätzten Glaubwürdigkeit eines Opferberichts konnte den Effekt haben, dass sich das Strafmaß für die Tatbeteiligten erhöhte, weil die Schadenssumme dadurch die Grenze zum großen Diebstahl von 12,5 Reichstalern überschritt. Doch nicht nur in der Art und Weise, wie sie die erlittene Tat und ihre Auswirkungen in ihren Verhören schilderten und gegebenenfalls ausschmückten, beeinflussten Opfer den Ablauf des Strafverfahrens. Sie konnten zudem eine aktiv bestimmende Rolle einnehmen, wenn sie bei geringfügiger Beteiligung oder einfachen Diebstählen von den Behörden vor die Entscheidung gestellt wurden, ob sie auf eine Rückzahlung der Beute verzichteten und damit den Delinquenten die Möglichkeit zur Strafmilderung einräumten. 827 Denn wenn sie dieser Frage zustimmten, verringerte sich die Summe des Diebstahls um den erlassenen Betrag. 824 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente, S. 300. 825 So sagt Johann Gottfried Kuntzes Vater im Verhör aus, „er erkenne ihn nicht mehr vor sein Kind“, Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 28. Ein Sohn belastet seinen Vater in HStA Dresden, 10047, Nr. 3963, fol. 6r-9v. Auch Johann Andreas Bütter beschuldigt Mutter und Stiefvater in seiner Aussage, Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 1r-12r. 826 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 130v-140r. 827 Zum Einfluss des ‚Ausgleichs’ auf die Begnadigung vgl. L UDWIG , Herz, S. 262-265. <?page no="184"?> 185 „Ob nun wohl was insonderheit nurgedachten Winckler anbelanget, unter denenienigen, welche derselbe bestohlen, Johann Christian Sparmann aus Keßelsdorf den auf ihn zu repartirenden Antheil des entwendeten Guths […] remittiret und erlaßen, hinfolglich das auf ihn […] kommende Quantum sich um 5. [Reichstaler] vermindert hat; So haben dennoch die übrigen dabey interressirte […] Vier Eigenthümer sich keinesweges fol. 126. beyfällig erkläret, und dessen sowohl seiner Mitbeschuldigten Bestrafung E[urer] Churfürstl[ichen] Durchl[aucht] höchsten Landesherrl[ichen] Einsicht überlaßen.“ 828 Wie im obigen Beispiel verweigerten viele, aber nicht alle Bestohlenen den Dieben ihre Zusage. In einem früheren Prozess erklärte Herrmann Naumann 1756 „er bekomme doch von dem gestohlnen nichts wieder, wolle also inquisito sein begangenes Delictum remittiren“ 829 und zeigte damit, dass eine Werterstattung nicht zwingendermaßen die Voraussetzung einer Vergebung sein musste. Im gleichen Fall brachte der Kaufmann Georg Friedrich Weiland deutlich seinen Widerwillen zum Ausdruck, dem Delinquenten zu einer Re-Inklusion in die Gesellschaft zu verhelfen, wenn dies „in soweit zur mitigation gereichen solle, damit er etwa gar wieder loßkomme, und dadurch weitere Gelegenheit haben könne, sein Diebshandwerck ferner zu treiben“. 830 Diese Option zur Mitsprache der Opfer kann durchaus als eine Form der Justiznutzung gelten. 831 Nicht nur bezogen auf die Diebstahlsdelikte zählte die Frage der ‚Entschuldigung’ zur Strafzumessung: Der Kirchendieb Johann Christian Reichert wurde 1741 von Zeugen und seiner ebenfalls angeklagten Tochter beschuldigt, sich brutal an ihr vergangen zu haben. Für dieses Verbrechen wurde seine Ehefrau Maria Elisabeth - als Geschädigte - im Lauf der Ermittlungen vor die Entscheidung gestellt, ihrem Mann den „Ehebruch zu remittiren“ 832 . Dass diese, die sich selbst nicht völlig vom Verdacht der Beihilfe zum Raub befreien konnte, ihm diesbezüglich Vergebung gewährte, erlebte Reichert allerdings nicht mehr, da er kurz darauf in der Haft - vermutlich durch Suizid - starb. 833 Experten sind eine dritte Kategorie von Zeugen, die auf Anfrage gezielte Auskünfte zur Klärung von Sachverhalten erteilten. 834 Hierzu sind vor allem die ‚Physici’ und ‚Chirurgi’ zu rechnen, die von den Behörden zur Erläuterung medizinischer Fragen herangezogen wurden. Sie beurteilten die Wunden von Gewaltopfern um zu klären, um welche Art von Verletzung es sich handelte 828 HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 116r-116v. 829 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII, fol. 233r. 830 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 54r-54v. 831 Vgl. D INGES , Justiznutzungen. 832 HStA Dresden, 10047, Nr. 3963, fol. 160r. Das eigentliche Opfer des Inzests, die gemeinsame Tochter Margaretha Sophie, musste sich dagegen langen Verhören unterziehen, um die Glaubwürdigkeit der Beschuldigung ihres Vaters gegen das Misstrauen der Richter zu bekräftigen 833 Ebd., fol. 179r-180v. 834 Einführend vgl. K ÄSTNER / K ESPER -B IERMANN , Experten. <?page no="185"?> 186 oder welche Ursache ihrem Tod zuzuschreiben war. 835 Außerdem kamen sie zu Wort, wenn die Haft- oder Prozessbedingungen die Begutachtung eines Inquisiten notwendig machten. Ärzte bewerteten nach einem Besuch im Gefängnis, ob ein Beklagter die Verlegung in eine andere Haftanstalt überstehe, ob er in der Lage wäre, Arbeitsdienst in einer Strafinstitution zu leisten, 836 oder ob er wegen eines Leidens eine medizinische Anwendung bräuchte. 837 Auch wenn ein Inhaftierter den Arrest nicht überlebt hatte, wurde dem Bericht ein ärztliches Gutachten beigefügt, das die Todesursache abschließend klären sollte. So war Georg Valentin Oschatz in der Haft gestorben, bevor die Enthauptung an ihm vollzogen werden konnte. 838 Der „Amts-Physicus“ Johann Samuel Forberger bestätigte daraufhin, dass der Inquisit im Verlauf seines Gefängnisaufenthalts zunehmend krank gewirkt habe und seit einigen Tagen „hätte ihn eine große Schwachheit u[nd] Mattigkeit, beschwerlicher und des Nachts plagender Husten befallen, dabey er von aller Speise abgefallen, so, daß er auch weder Brod, Suppe, noch was anders genießen können, und alle ihm dargereichte dienliche Arzneyen, auch nöthiges Eßen, Geträncke und Verpflegung, nichts gefruchtet, vielmehr die Schwachheit und Mattigkeit, täglich bey ihm größer worden.“ In der Aussage steckt deutlich die Bestätigung, dass die Zuständigen beim Amt den Inhaftierten adäquat mit Medikamenten und Nahrung versorgt hätten. Dieser verteidigenden Absicht entsprechend weist der Amtmann in seinem dazugehörigen Bericht darauf hin, dass an der Leiche „die mindesten Zeichen einiger Gewaltthätigkeit nicht zu spühren gewesen“. Detailliert und sachlich stellten die Schreiben der Mediziner die anatomischen Gegebenheiten dar, die von ihnen analysiert worden waren. Dabei ist ihnen neben dem professionellen Interesse keine sonstige individuelle Intention nachzuweisen. Des Weiteren waren die Advocaten an den Räuberbandenprozessen beteiligt, die Verteidigungsschriften für Inquisiten abfassten, wenn diesen ein solcher Rechtsbeistand eingeräumt worden war. 839 Im Vergleich zu anderen Territorien erfuhr das Recht zur Verteidigung beim Schöffenstuhl Leipzig generell eine hohe Wertschätzung. 840 Dafür gewährte man den Juristen Einsicht in die bereits abgeschlossenen Akten und ihre daraufhin verfasste Einschätzung der Sachlage wurde 835 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 15, fol. 134r-140r; Bericht vom 4. Mai 1743 in HStA Dresden, 10079, Loc. 30783, unfoliiert; HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 229r-230r. 836 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 77r; Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 430r-431r und fol. 477r. 837 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 621, fol. 184r; HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 22v- 23r und fol. 104r-104v. 838 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 210r-211v. 839 Zur möglichen Vielschichtigkeit des Klientelverhältnisses am Beispiel von Bürgerprozessen vgl. L AU , Rechtsanwalt. Einen Überblick zur (Forschungs-)Geschichte der Verteidigungsmöglichkeiten in der Frühen Neuzeit bietet F ALK , Geschichte, S. 406-439. Er weist diesbezüglich auf große Desiderate hin. 840 Nach Falk ist dies vor allem dem Einfluss Carpzovs zuzuschreiben, vgl. F ALK , Geschichte, S. 412-413. <?page no="186"?> 187 diesen Fallakten noch beigefügt. Sie erhielten dafür ein Honorar, das aus öffentlichen Mitteln entrichtet wurde, wenn der Beklagte es sich nicht leisten konnte. In der Anfrage nach Gestattung einer Verteidigungsschrift für einen Inquisiten im Jahr 1704 klang dieses Recht an, aber auch die Unklarheit, wer die jeweiligen Gelder in der Praxis aufzubringen habe. Der Amtmann von Weida führte aus, dass Hüniger „die Defension nicht zu versagen, auch bekant, daß er einen Advocaten zu Salariren, oder die andern Zur Defension erforderte Kosten aufzubringen, nicht vermag, So gebe dieses alles Zu Eürem […] Ermeßen, mit unterthänigster Bitte, Ob dem Inquisito die Defension Zu erstatten? Ob ihme ein Advocatus ex officio zuzuordnen, und ob diese[m] die Kosten zu abhörung derer Zeügen, so auf Vorhergegangene requisition von ihrer Obrigkeit anhero nicht gestellet werden wollen, auß de[m] Amte zu geben sind? “841 Die Gebühren, die für eine Defension an einen Advocaten gingen, beliefen sich auf mindestens vier Taler und konnten weit darüber liegen, je nachdem, welche Aufwendungen der Anwalt für das Abfassen des Schreibens hatte. Ein Anteil davon war für die Akteneinsicht beim Amt, ein zweiter für die Erstellung von Abschriften und ein weiterer für die Versendung von Dokumenten in der Berechnung einzukalkulieren. Der finanzielle Ertrag dürfte für einen zeitgenössischen ‚Anwalt’ bei seinem Engagement im Prozess an vorderster Stelle gestanden haben. 842 Aus den Korrespondenzen im Umfeld der Vorgänge geht meist eine neutrale Haltung zu den Fällen hervor. Ein möglicher individueller Stil trat hinter eine hohe Formalität und damit auch Gleichförmigkeit der ausführlichen Schreiben zurück. Die deutlichste Positionierung dieser Prozessbeteiligten bestand in der Interessenvertretung für den Inquisiten. 843 Detailliert und klar gegliedert in oft durchnummerierte Verteidigungsgründe schilderten die Advocaten die Sachlage aus der Perspektive des Beklagten, ohne sich dabei dessen Emotionalität anzueignen. Auch für die Abfassung der im Gegensatz zu den Defensionen freier gestalteten Gnadenbriefe mussten viele Inquisiten und Angehörige einen Schreiber engagieren, 844 wenn sie selbst nicht ausreichend gut schreiben konnten, was für einen großen Teil der Betroffenen galt. Ein zusätzliches Argument dafür, eine solche Supplik nicht eigenhändig zu verfassen, mag außerdem darin gelegen haben, dass man sich von Schriftgelehrten höhere Kompetenzen in der Formu- 841 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 62r. 842 Das war auch ein zeitgenössisch häufig gefälltes kritisches Urteil über die Advocaten, vgl. F ALK , Geschichte, S. 437. 843 Vgl. L AU , Rechtsanwalt, S. 75. 844 Zum Spektrum unterschiedlicher Schreiber vgl. U LBRICH , Zeuginnen, S. 209. <?page no="187"?> 188 lierung und damit größere Erfolgschancen beim Empfänger versprach. 845 So weisen einige Gnadenbitten an ihrem Ende zwei verschiedene Unterschriften auf oder weichen die Handschrift und die Unterschrift deutlich voneinander ab. Oft handelte es sich beim Verfasser um den Amtsaktuar, 846 bei dem die Supplik schreiben gelassen wurde. Der jeweilige Einfluss des Schreibers auf einen solchen Text und seine Beziehung zum Auftraggeber oder zum Fall lässt sich hier freilich kaum eruieren. Das Beispiel des Johann Gottfried Sahrberg zeigt jedoch, dass es für einen ‚inoffiziellen’ Schreiber riskant sein konnte, sich für einen Inquisiten zu engagieren. Sahrberg, der in seinem langwierigen Prozess auf mehreren Wegen versucht hatte, Gnade zu erhalten, unter anderem mit einer eigenhändig abgefassten Supplik, konnte bis zu seinem endgültigen Urteil nicht belegen, dass sein Anteil an den Verbrechen der Tullian-Bande unmaßgeblich oder aber sein Geständnis für die weitere Ermittlung hinreichend hilfreich gewesen wäre. Der letzte Versuch, die Todesstrafe und vor allem das anschließende Verscharren des Körpers abzuwenden, war ein Schreiben vom 5. März 1715, das in der Ich- Perspektive argumentierte und unter mehrfachen Verweisen aus der Bibel auf ein ordentliches Begräbnis abzielte. Als Urheber des nur mit der Unterschrift des „arme[n] und bußfertige[n] Sünder[s]“ versehenen Dokuments wurde schnell der „Kammerprokurator Trüllitzsch“ ausgemacht, der für Sahrberg und dessen Komplizen Eckolt besagte Gnadenbitte abgefasst hatte. Weil diese Schreiben aber nicht genehmigt sowie mit falschem Namen unterschrieben waren und sich zudem „ungebührlicher“ Argumente bedienten, wurde Trüllitzsch im Auftrag des Kurfürsten darauf hingewiesen, dass er gegen seine Pflicht gehandelt habe und nachdrücklich verwarnt. 847 Unter den Schreibern von Gnadenbitten waren auch die lokalen Amtmänner und Sekretäre, so etwa, wenn ein Anliegen mündlich zur Weiterleitung an den Kurfürsten bei ihnen vorgetragen wurde. 848 In einem solchen Fall standen sie scheinbar zwischen den Fronten, da sie einerseits die Untersuchung führten und andererseits verpflichtet waren, die Anfragen der Beklagten oder ihrer Angehörigen an die obersten Regierungsbehörden weiterzugeben. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Lage allerdings als unproblematisch, da die Weitergabe von Anträgen ebenso zur Aufgabe des Beamten gehörte wie die Strafprozessführung. Es sind keine Fälle bekannt, in denen den Amtleuten von den Regierungsbehörden eine zu starke Parteiergreifung in Richtung der Inquisiten vorgeworfen worden wäre. In diesem Sinne signalisierten Amtmänner in ihren Schreiben, die ihre Rolle in Räuberbandenprozessen widerspiegeln, seine optimale Pflichterfüllung. Neben der fristgerechten Aktenversendung und der beschleunigten Pro- 845 Vgl. R UDOLPH , Regierungsart, S. 270-271; R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, S. 129- 135. 846 Amtsaktuare waren selbstständige Advocaten, die nebenberuflich in der Justizverwaltung beschäftigt sein konnten, vgl. B LASCHKE , Behördenkunde, S. 375. 847 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 298r-300v. 848 Vgl. R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, S. 141-144. <?page no="188"?> 189 zessführung wiesen die verschiedenen Amtleute explizit auf ihre Leistungen beim Verfolgen von ‚Gesindel’ und Banden hin und waren im Gros darauf ausgerichtet, sich keine Nachlässigkeiten in den zugeordneten Aufgabenbereichen nachweisen zu lassen. In Finanzfragen hingegen kamen schon deutlicher kritische, vorwiegend das Justizwesen betreffende Standpunkte zum Vorschein, wenn etwa die Aufbewahrung von Häftlingen, die Verfahrensgänge oder die Strafpraxis mehr Unkosten erzeugten als die lokalen Gerichtsherren, denen die Aufsicht über ein Amt, Rittergut oder die Stadtverwaltung übertragen war, dafür veranschlagen wollten oder konnten. Eine bedeutende Aufgabe, die den Amtleuten mit ihren Subalternen bezüglich der Räuberbanden anvertraut war, lag in der Entscheidung darüber, ob ein Hinweis, ein Indiz oder eine zufällige Ergreifung eine Arretierung rechtfertigte. 849 Dabei spielte es einerseits bei der Bewertung der Umstände eine Rolle, dass die Amtmänner die ansässigen Bewohner ihres Amtsbezirks kannten. Dementsprechend bestand die Gefahr, dass sie deren Verhalten und bestimmte Vorwürfe subjektiv einschätzten. Vaganten, die vor Ort nicht bekannt waren, sich aber in irgendeiner Weise verdächtig gemacht hatten, konnten durch ihre Fremdheit zunächst einmal einer erhöhten Willkür durch die Amtmänner ausgesetzt sein - zumindest so lange, bis von höherer Stelle über die weitere Durchführung einer Spezialinquisition entschieden worden war. 850 Wenn andererseits an den Kurfürsten berichtet wurde, die Durchführung einer angeordneten Streife nach einem begangenen Delikt habe kein Ergebnis erbracht, so kann das auch bedeuten, dass mit der gleichen Subjektivität mögliche Hinweise auf Räuberbanden oberflächlich oder falsch interpretiert worden waren und potenzielle Kriminelle sich hatten verstecken oder der Verhaftung entziehen können. 851 Mitunter wegen dieses Verdachts ergingen zahlreiche Ermahnungen des Kurfürsten, befohlene Verfolgungs- und Suchmaßnahmen sorgfältiger und schneller zu erledigen. In Bezug auf die untergeordneten Gerichtsdiener, Wachleute und Scharfrichter machte sich eine lokale oder auch soziale Nähe zu den Verfolgten und Beklagten ebenfalls in unterschiedlicher Hinsicht bemerkbar. Zum einen findet man ehemalige Gerichtsdiener und Henker später als angeklagte Mitglieder von Räuberbanden in den Strafprozessen wieder. 852 Zum anderen wurden auf der Seite der Strafverfolgung aktive Wachen und Gerichtsknechte in verschiedenen Angelegenheiten verdächtigt, insgeheim mit den Vaganten und Delinquenten zu kooperieren. Dieser Vorwurf wurde vor allem laut, wenn Gefangene entflohen 849 Dass das Amt ansonsten lediglich als verlängerter Arm der Zentralregierung anzusehen war, betont B LASCHKE , Behördenkunde, S. 378. 850 Vgl. C ARPZOV , Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtsprozess, Tit. II, S. 35. 851 Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, III Stadtverwaltungssachen VIIb 56, Bd. 2. 852 Vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 33v-39r; HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 84v und fol. 86v. <?page no="189"?> 190 waren und dabei keine übermäßige Gewalt angewendet hatten. 853 Korruption und Begünstigung waren die Verdachtsmomente, die teilweise auch in Verhöraussagen geäußert wurden. Insofern hatten auch die Untergeordneten der Administration bei ihren Kommunikationsakten ein gesteigertes Interesse daran, besondere Leistungen und völlige Ergebenheit zu präsentieren, um sich bestmöglich von den Kriminellen abzugrenzen. Auch Gegenbeispiele eines außerordentlich strengen Umgangs mit Verdächtigen durch die untergeordneten Beamten wurden in den Räuberbandenprozessen vorgebracht. So berichtete der Gefangene Johann Jacob Rehmann zu seiner Verteidigung, von Gerichtsknechten des Leipziger Stadtgerichts unter Schlägen zu einer Falschaussage gezwungen worden zu sein. 854 Daher war ein Gerichtsknecht bei der Folter stets unter Aufsicht, damit diese ‚ohne Exzesse’ ablief, sich genau an den Vorgaben der Spruchgremien orientierte und man keinen Anlass für berechtigte Klagen der Betroffenen lieferte. So ist aus dem Jahr 1720 ein Gebet überliefert, das vor der Exekution der Tortur auszusprechen war und unter anderem die Ausführenden an ihre Richtlinien erinnern sollte: „Allmächtiger und barmherziger Gott, du gerechter Richter der ganzen Welt, der du Herzen und Nieren prüfest, alle Gedancken der sterblichen kennst, und weist was in verborgenen geschehen ist, offenbahrest auch endlich alle Heimligkeit, du hast verordnet dein Volck auch an gegenwärttigem Orthe zu richten, und wilst daß solches geschehe in Gerechtigkeit, straffest auch alle diejenigen, die rauben und stehlen, auch wohl gar darüber ihren Nechsten an Leib und Leben Schaden thun, Es ist gegenwärtiger nur gedachter Laster halber mit schwehren verdacht beladener Mensch auf allerhöchsten Befehl deiner über Uns bestimmten Obrigkeit zur Hafft gediehen, und Wir sollen voriezo mit Untersuchung der Wahrheit solcher schwehren Verbrechungen weiter verfahren. Ach! lieber Gott bewahre uns vor Irrtuhmb, regiere uns durch deines heil[igen] Geistes Weißheit, daß wir unser Amt und Pflicht gnugsam ausrichten, du hast aller Menschen Herzen in deiner Hand, und lenckest sie wie Wasserbäche wohin du willst […]“ 855 Im Auftrag des Landesherrn wurde demnach an Gott als höchste Instanz des Rechts erinnert. Die Untergeordneten sollten sich der Prinzipien im Umgang mit den Delinquenten und der göttlichen Strafen für abweichendes Verhalten bewusst sein. Gleichzeitig sollte das Justizsystem auf diesem Weg in seiner Legitimierung gestützt werden. 853 So wird im Bericht vom 13. September 1734 aus dem Amt Grimma der Verdacht geäußert, die Flucht von Christian Weise und Hans Wolff von der Reckwitzer Bande sei durch Fahrlässigkeit oder Mithilfe der Wächter und des Amtsfrons geschehen, HStA Dresden, 10024, Loc. 9661/ 4, No. 5, unfoliiert. 854 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 84r. 855 HStA Dresden, 10024, Loc. 10119/ 7, fol. 24r-24v. <?page no="190"?> 191 Damit sei zu den Regierungsbehörden und Spruchgremien als letzter und gleichsam maßgeblicher Ebene der Prozessbeteiligten übergeleitet: Den vier kursächsischen Spruchgremien, allen voran dem Schöffenstuhl in Leipzig, oblagen die zentralen Entscheidungen über die Prozessführung und das Schicksal von Inquisiten. Besaßen die Amtmänner und lokalen Instanzen wie Stadtgerichte oder Patrimonialgerichte zwar richterliche Befugnisse, 856 so waren diese doch insoweit eingeschränkt, dass die Obergerichtsbarkeit und damit die Zuständigkeit in kapitalen Strafsachen bei den Leipziger Schöffen verortet war. Diese Aufgabenverteilung spiegelte sich eindeutig in der Rechtspraxis wider. Auch klang in den Gutachten und Urteilen an, dass die Leipziger Schöffen ihre Vorrangstellung unter den Gerichten und Spruchgremien bewusst wahrnahmen. Sie versuchten, diese auch durch ihre Arbeit zu bestätigen und durch ihre Einschätzungen explizit zu festigen, wie die nähere Betrachtung der Urteile zeigen wird. Daneben bestanden Mitsprachemöglichkeiten von Landesregierung und Geheimem Rat nicht nur bei der Normgebung, sondern bedingt durch die Institution der Aktenversendung auch bei der Entscheidung über die Strafrechtsprozesse. Die oberste Gerichtsgewalt lag allerdings beim Landesherrn, der - mehr oder weniger beeinflusst von seinen Ratgebern - durch Befehle und Mandate die Grundlinien der Rechtssprechung vorgab. Auch mit Gnadenentscheiden und anderen direkten Eingriffen konnte er die Rechtspraxis in seinem Territorium lenken. Gnade und ihr durchdachter Einsatz war, das ist in der Forschung mehrfach belegt, ein Mittel zur Herrschafts- und Legitimitätsstabilisierung, da sich der Herrscher durch den Gnadenakt als milder und barmherziger Landesvater präsentieren konnte. 857 In mehreren Fällen wich die letzte Entscheidung des Kurfürsten von dem Urteil der ausgebildeten Juristen ab. Im Gegensatz dazu ist kein Beispiel auszumachen, in dem sich eine untergeordnete Institution über die Befehle einer höheren Ebene und damit über ihre Befugnisse hinweggesetzt hätte. Die Abweichungen, die sich zwischen den Entscheidungen der Schöffen sowie den Standpunkten der lokalen Obrigkeiten einerseits und den dazu geäußerten Meinungen des Kurfürsten andererseits ergeben konnten, sollen in die Analyse der verschiedenen Prozessstationen im folgenden Abschnitt einfließen. 5.2 Folter und Konfrontation In der Generalinquisition richteten die Ermittler ihr Erkenntnisinteresse darauf aus, das ‚corpus delicti’ sicherzustellen und einen Verdächtigen zu ermitteln, weshalb sie Opfer und Zeugen vernahmen und Gutachten von weiteren Beamten und Experten einholten. Außerdem war es spätestens seit Boehmer im kursächsischen Prozess üblich, bereits in dieser frühen Phase summarische Verhöre 856 B LASCHKE , Behördenkunde, S. 371. 857 L UDWIG , Herz, S. 274; R UDOLPH , Gnade, S. 447-450; H ÄRTER , Aushandeln; S CHWERHOFF , Supplikenwesen. <?page no="191"?> 192 mit den potenziellen Verdächtigen zu führen, die man deshalb zum Amtssitz brachte und meist dort verwahrt hielt. 858 Die Protokolle über die offener geführten, allerersten Verhöre mit den Inculpaten sprachen eine relativ andere Sprache als die späteren, stärker geregelten und gleichförmigeren Frage-Antwort-Listen, die aus den ‚artikulierten’ Verhören während der Spezialinquisition hervorgingen, deren Inquisitionsartikel genau vorformuliert waren und auf eine möglichst kurze Beantwortung zielten. 859 Dieser zweite und entscheidende Abschnitt des frühneuzeitlichen Strafprozesses sollte dazu dienen, den eindeutigen Schuldnachweis - und das bedeutete in erster Linie das Geständnis eines Beklagten - zu erhalten. Ein alternativer, so genannter „voller Beweis“ war daneben die Aussage von zwei glaubwürdigen Tatzeugen. 860 Die Abläufe richteten sich nach einem vorgegebenen Muster und ähnelten sich daher häufig: War der Inquisit an das Gericht gebracht, wurde er laut Protokoll zuerst ermahnt, die Wahrheit zu bekennen und keine Details zu verschweigen. Das eigentliche Verhör startete mit den Personendaten der Inquisiten, die ihr Alter, ihre Herkunft und ihren bisherigen Lebensweg knapp umschreiben mussten. Dabei kam oft die berufliche Betätigung der Eltern zur Sprache sowie deren oder das eigene Beschäftigungsverhältnis, was oft einen Dienst in militärischen Einheiten umfasste. Durch den Verweis auf die eigene Leistung für die Obrigkeit im Militär versprach man sich offensichtlich eine günstigere Ausgangsposition im Prozess. Diesen Verhörbeginn mit den Angaben zum familiären und biografischen Hintergrund konnte der Inquisit im Allgemeinen recht individuell mitgestalten, sodass in diesem Abschnitt der Quellen eher Erzählungen wiedergegeben werden. Nachfragen waren relativ offen formuliert, wie etwa, dass „er befraget wird, was vor eine Herrschafft damahls allda gewesen? “, worauf man mit ausführlicheren Antworten reagieren konnte. Hier findet der Forscher demnach oft aufschlussreiche Informationen über die Lebenswelten der Befragten. Wenn auch nicht immer gewährleistet sein kann, dass Inquisiten ihre Biografie wahrheitsgemäß angaben - denn meistens versuchten sie sich oder ihre Familie in einem vorteilhaften Licht zu präsentieren - so mussten die dargestellten Fakten für die zeitgenössischen Rezipienten zumindest plausibel und bis zu einem gewissen Grad nachprüfbar sein. 861 Die Fragen der Untersuchungsbeamten gingen im Folgenden meist chronologisch die Tatvorwürfe vom Allgemeinen zum Speziellen durch. Schritt für Schritt sollten die gesamten Details der Delikte in Erfahrung gebracht werden, die zum einen das Strafmaß determinierten und zum anderen dazu beitragen konnten, weitere Verdächtige und deren Grad der Beteiligung zu bestimmen. Das galt nicht nur für die artikulierten, sondern auch bereits für die summarischen Verhöre. Zwar waren die Verdächtigen und Zeugen in den ersten Ver- 858 D ORN , Entwicklung, S. 179. 859 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente, S. 298. 860 Vgl. W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 38. 861 Vgl. dazu auch G ERSTENMAYER / K ÄSTNER , Wege. <?page no="192"?> 193 nehmungen der frühen Prozessphase noch in der Lage, Aussagen und ihre Inhalte in bestimmtem Maß selbst mitzugestalten. Doch die Mitschriften belegen, dass auch berichtende Aussagen durch Zwischenfragen unterbrochen oder insgesamt von den Beamten durch ihre Einwürfe angeleitet wurden. So finden sich auch im Rahmen summarischer Verhöre Einschübe, wie „leugnet, […]“, „nescit, […]“ oder „negat, […]“, die darauf hinweisen, dass der Inquisit selbst in diesem Verfahrensabschnitt massiv beeinflusst wurde. Sie signalisieren, dass ihm verschiedene Aspekte und Details suggeriert oder nahegelegt wurden, wenn er sich auch gegebenenfalls weigerte, darauf einzugehen. Eine Formulierung wie „hierbey sagte Harnisch ohne einige Veranlaßung dazu bekennen zu haben, also ganz aus eigener Bewegung aus […]“ 862 brachte im Gegensatz dazu eine gewisse Verwunderung über ein Zugeständnis aus eigenem Antrieb zum Ausdruck. Die präzise Mitschrift von Fragen und Antworten kam bereits während des Verhörs gezielt zum Einsatz. So konnten Inquisiten mit ihren eigenen Aussagen und der genauen Wortwahl nochmals konfrontiert und in Widersprüche verwickelt werden. Damit wurde die Botschaft vermittelt, dass Verhörte sich selbst verdächtig gemacht hätten, ohne dies zu bemerken. Am folgenden Auszug aus der summarischen Vernehmung Johann Wilhelm Leonhardts wird beispielsweise deutlich, dass Beamte sich irritiert zeigten, wenn der Befragte zwar einerseits vorgegeben hatte, jemanden nicht zu kennen, diesen aber andererseits als Kriminellen bezeichnete: „Samuel Schickeln, den sogenannten BretBauer, will er nicht kennen […] Er wiße davon nichts, und könne ein solcher Dieb viel reden. Er habe nichts übels gethan, und wiße von nichts. Auf Befragen: Wen er denn meyne, den er einen Dieb heiße? antwortet er: Er habe es also verstanden, daß derjenige wohl ein Dieb seyn könne, der ihn solcher Dinge beschuldige.“ [Hervorhebungen C.G.] 863 Die artikulierten Verhöre mit den Inquisiten und den Zeugen wurden nach einer Liste geführt, auf der die Anzahl, die Abfolge und der Wortlaut der Frageartikel nach einer Bewertung der Indizien von einem Spruchgremium dezidiert vorgegeben war. Die Fragen, die sich auf Aspekte von behaupteten und belegten Verbrechen bezogen, mussten so formuliert sein, dass sie eindeutig mit Ja oder Nein zu beantworten waren. 864 Ihre Anzahl konnte von 20 über 200 bis hin zu 1.000 variieren, deren Abfrage sich über mehrere Tage hinzog. 865 Diese strenge 862 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 19r. 863 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 24v-25r. 864 Im Protokoll des Verhörs mit Johann Gottfried Sahrberg wird beispielsweise eigens vermerkt, dass er „ungeachtet ihm von der Commission zugeredet wird, daß er mit Ja oder Nein antworten sollen, ferner bey seiner ihm überhaupt vorgenommenen Antwort: Er wiße es nicht, [bleibe]“, HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 133v. 865 Besonders - aber nicht nur - im Prozess gegen die Lips-Tullian-Bande wurden ausufernde artikulierte Verhöre von mehreren hundert bis hin zu 1.165 Fragen Umfang geführt, die mehrere Tage in <?page no="193"?> 194 Vorgabe reduzierte die Spielräume und Einflussmöglichkeiten des vernehmenden Richters und des protokollierenden Schreibers. Doch auch hier sind des Öfteren Einschübe zu finden, die auf das wiederholte oder differenzierende Nachbohren der lokalen Beamten hindeuten. Häufig wurde dieses mit ‚auf (weiteres) Vorhalten’ vermerkt. Andere Gesichtspunkte, die aus Aussagen von Zeugen oder Komplizen stammten, oder Widersprüche, die sich aus dem Vergleich mit zurückliegenden Angaben der Inquisiten ergaben, wurden auf diese Weise ebenfalls in die vorgegebenen Verhörstrukturen eingebunden. Besonders aufschlussreich innerhalb der artikulierten Verhöre sind außerdem der jeweils letzte Artikel zu einem Fragenkomplex, der oft lautete „Was Inquisit mehr dabey gethan und ihm darum bewußt sey? “ sowie die allerletzte Verhörfrage: „Was er zu seiner Entschuldigung anzuführen habe? “ 866 . Die Reaktionen auf diese offensichtlich nicht mit Ja oder Nein zu beantwortenden Fragen bieten einen Einblick in die jeweilige ‚Antwort-Strategie’ eines Verhörten. 867 Einerseits konnte sich ein Inquisit der offeneren Frage verweigern, jegliches Wissen um die Vorwürfe bestreiten und damit vor allem seine Unschuld bekunden. Manche der Geständigen nutzten die Situation, um zum Abschluss des Verhörs auf strafmildernde Aspekte hinzuweisen oder um eine möglichst gnädige Strafe zu bitten. 868 Andererseits fingen Befragte wie Daniel Lehmann an diesen Stellen regelrecht zu plaudern an und legten Fakten und Umstände offen, nach denen nicht explizit geforscht worden war und die den Behörden bis dato nicht bekannt gewesen waren: „[…] ad 144: Er wiße davon weiter nichts. Vom Schneider Hentzscheln aber wiße er annoch, daß derselbe sonst auch mit Schickeln im Niederlande Pferde gestohlen habe, wie sie denn einmahl 3. Pferde aus dem sogenannten Heeger, von welchem er, Lehmann, nichts wiße, wo er sey, geholet und davon geritten. Es sey ihnen aber ein Post-Knecht nachgekommen, und habe sie annoch eingeholet, welchen sie Zieml[ich] geschlagen hätten […].“ 869 Die bereitwillige Zusammenarbeit, die Lehmann mit der folgenden ausführlichen Erzählung signalisierte, sollte gleichsam seine Glaubwürdigkeit auch für andere Verhörantworten stärken. Die daraus hervorgehende Belastung von Schneider-Henschel und Schickel hatte für diese aber weitreichende Folgen. Anspruch nahmen, vgl. unter anderem HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 223v-234r; HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 1, fol. 300-388; HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 32r-48v. 866 Im vorliegenden Beispiel die Artikel 144 und 376 aus dem Verhör mit Daniel Lehmann, HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 150r und fol. 170v. 867 Vgl. H ÄRTER , Strafverfahren, S. 469. 868 Vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2, fol. 417v; Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 11v. 869 HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 150r. <?page no="194"?> 195 Andere Verhörte brachten bei der gleichen Gelegenheit ganz neue Gründe vor, wegen der sie nicht bestraft werden dürften. So behauptete Johann Jacob Rehmann 1759 bei der 646. und letzten Frage an ihn, „uebrigens habe er an 3. Orten noch Geld vergraben, welches er zu langen bäthe, weil er sonst nicht werde ruhig sterben können“ 870 . Die Leipziger Stadtrichter ließen sich auf die Schatzsuche nach angeblich über „500 Gulden“ ein und ließen den Inquisiten zusammen mit einigen Gerichtsknechten an die von ihm beschriebenen Punkte fahren. Damit hatte der Beklagte zumindest einen Strafaufschub erreicht. Da die Suche erfolglos verlief und er während des bewachten Ausflugs nicht flüchten konnte, bewahrte ihn diese Episode aber letztlich nicht vor der Hinrichtung. Es ist wenig überraschend, dass die häufigsten Reaktionen in den artikulierten Verhören sich mit Leugnen, Verneinen und Abstreiten umfassen lassen. Dabei wurde entweder auf eine vollständige Unwissenheit bezüglich der vorgeworfenen Verbrechen oder auf ein Alibi verwiesen. In diesem Zusammenhang stehen ebenfalls längere Beschreibungen, die gewisse Vorwürfe widerlegen sollten, sowie die Benennung von Zeugen, die eigene Aussagen stützen könnten. Außerdem war anfängliches oder beharrliches Schweigen eine mögliche Reaktion auf die präsentierten Tatumstände. 871 Auch wenn ein Verhörter aussagte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass er bestimmte Details gezielt verschwieg. Des weiteren suchten Verhörte vor Gericht nach Erklärungen für die Situation, in die sie nun geraten waren. Infolgedessen beschuldigten sie häufig andere Personen. Diese verschiedenen Möglichkeiten, sich den Ermahnungen der Behörden zu widersetzen und keineswegs eine Beteiligung an Bandenverbrechen einzuräumen, boten aus der Perspektive der Betroffenen die aussichtsreichsten Wege, sich einer drohenden Strafe zu entziehen. Letztlich führte aber eine große Zahl der Verhöre zu dem von der Obrigkeit angestrebten Geständnis, das einen Teil oder die Gesamtheit der Beschuldigungen enthielt und oft mit Denunziationen oder weiterführenden Informationen einherging. Die Protokolle geben zudem sporadisch und in unterschiedlichem Ausmaß Auskünfte über Gestik, gezeigte Emotionen und den Tonfall, die eine Aussage begleiteten. Dabei hoben die Mitschriften lediglich diejenigen Verhaltensweisen hervor, die von dem Erwartbaren abwichen. Es konnte durchaus eine auffallende Gelassenheit, ‚Verstockung’ oder sogar Verschmitztheit des Inquisiten sein, die der Schreiber als Charakterisierung explizit festhielt. So lautete ein Eintrag im Protokoll von Georg Limbach, er antworte „mit heimlich frecher Verwegenheit“. 872 Diese vom Protokollanten beigefügten Erläuterungen sollten den Lesern der Akte, allen voran den späteren Urteilsinstanzen ein lebendiges Bild vom Verbrecher und der Verhörsituation liefern und dabei helfen, den Delinquenten zu typisieren und einzuordnen. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass die 870 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 365r. 871 Vgl. S IMON -M USCHEID , Reden. Schweigen als Handlungsalternative auch bei S CHNABEL - S CHÜLE , Rechtssetzung, S. 305. 872 HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 10r. <?page no="195"?> 196 beschriebenen Verhaltensweisen von Inquisiten im größeren Teil der Fälle eher auf Verzweiflung hindeuten, weil sie sich davon eine gnädigere Behandlung versprachen. Um an ein Geständnis zu gelangen, nutzten die Ermittler unter anderem die ‚Konfrontation’. 873 Diese Verhörmethode ging über eine kurze Gegenüberstellung zur Identifizierung, wie man sie aus dem heutigen Kriminalwesen kennt, deutlich hinaus: Schweigende oder Vorwürfe bestreitende Beklagte wurden zu bestimmten Fragen gemeinsam mit Belastungszeugen vernommen. Dabei präferierten es die Beamten in Bandenprozessen, ‚Widerspenstige’ zusammen mit ihren vermeintlichen Komplizen zu befragen. Diesem Vorgehen konnte nur Erfolg beschieden sein, wenn einer dieser Delinquenten seine Beteiligung bereits eingeräumt hatte, dieser dann oft vermittelnd eingriff und an sein Gegenüber appellierte, ebenfalls das Gewissen zu erleichtern. Diese eingeschalteten Inquisiten änderten - beeinflusst durch diese Konstellation und die strafmildernde Wirkung, die sie sich von einer Kooperation versprachen - ihre eigene Rolle insofern, als sie vom Verdächtigen zum Zeugen der Anklage, zum Helfer der Untersuchungsbehörden mutierten. Peter Schuhmacher redete etwa Georg Limbach während der Konfrontation eindringlich zu, „daß er doch in sich gehen und sich nicht so quälen laßen solle, es sey ja alles die Wahrheit“ 874 . Die Amtleute brachten immer wieder mehrere vermeintliche Bandenräuber in unterschiedlicher Anzahl und Kombination zusammen, um sie so zu ausgewählten Aspekten ihrer Tatvorwürfe zu verhören. 875 Sie sahen es für die Auswahl von Konfrontierten offenbar als besonders förderlich an, wenn diese in einer engeren persönlichen Verbindung zueinander standen, wie etwa Verwandte, oder sich im Konflikt oder Konkurrenz zueinander befanden. Zwischen den Brüdern Andreas Philipp und Johann Caspar Georg Fricke schienen sich nahezu dramatische Szenen abgespielt zu haben: „Hat ihn dabey mit viel Thränen und Ringen seiner Hände angemahnet solches nur zu bekennen, Worüber auch sein älterer Bruder zwar Ziemlich erröthet, Er will aber deßen ungeachtet, durchaus nichts gestehen.“ 876 Der 15-jährige Andreas Philipp Fricke belastete zwar auch weitere Mittäter, aber in der Konfrontation mit seinem drei Jahre älteren Bruder weinte er wiederholt und zeigte sich emotional bewegter als mit den Inquisiten König und Köhler. Johann Caspar Georg Fricke erwies sich allerdings als beharrlich und 873 E IBACH , Gleichheit, S. 505 und S. 521; H ÄRTER , Strafverfahren, S. 470. 874 HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 69v. 875 Zum Beispiel wurden sechs Inquisiten in die Amtsstube gebracht und dort in unterschiedlicher Kombination miteinander konfrontiert, HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 5, fol. 139r-159r. Auch im Prozess gegen Nickel List werden die verdächtigen Komplizen in verschiedenen Zusammenstellungen miteinander verhört, vgl. HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3548/ 1. 876 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 22r. <?page no="196"?> 197 gestand seine Beteiligung nicht ein, bis die beiden Brüder 1718 und 1719 nacheinander aus der Haft im Stockhaus Dresden entflohen. Die Effektivität der Konfrontation zeigt sich beispielsweise, als der schwer verdächtige Johann Gottfried Sahrberg, der bis dahin alle Vorwürfe geleugnet und zwei verschiedene Lebensläufe im Verhör angegeben hatte, 1714 mit seinem vermeintlichen Anführer Lips Tullian zusammengebracht wird. Anfangs widerspricht Sahrberg vehement dessen Angaben, auch wenn Tullian ihm belastende Aspekte „ins Angesicht“ unterbreitet, wie das Protokoll wiederholt formuliert, um die Verhörsituation getreu wiederzugeben. Details aus den einzelnen Tatvorwürfen werden außerdem dargelegt, wenn der auch „Studentenfriedrich“ genannte Inquisit nicht nur mit Tullian, sondern in wechselnden Konstellationen und mit mehreren früheren Komplizen wie Hans Wolf Heinrich Schöneck und Samuel Schickel zugleich konfrontiert wird, damit sie ihre belastenden Aussagen bekräftigen. 877 Während Sahrberg in seinen Antworten weiterhin lediglich verneint und ableugnet, beginnt er allerdings, immer wieder über die ihm nochmals vorgelesenen Umstände „überlaut“ zu lachen. 878 Möglicherweise ist hier das erste Anzeichen eines Einlenkens zu erkennen, hervorgerufen durch die erdrückende Beweislage nach den Angaben seiner ehemaligen Komplizen. Zumindest untergräbt Sahrberg mit diesem außergewöhnlichen Verhalten seine Glaubwürdigkeit zunehmend. Vermutlich wird ihm das im Verlauf der Verhöre selbst klar, denn etwas später ändert er seine Aussagetaktik drastisch. Schließlich gesteht er unter Zureden der Untersuchungskommission ein, „er wolle alles sagen, was er wiße, man solle ihm nur bis auf nächstkünfftigen Dienstag Bedenck-Zeit laßen. Immittelst gestehet er nunmehro, daß er Tullianen sowohl als Schönecken und Schickeln kenne, er auch mit zu Altenburg bey Beraubung alldortiger Schloß-Kirche gewesen sey, worvon er allenthalben sämtliche Umstände zuerzehlen verspricht.“ 879 Bekräftigungen der eigenen Redlichkeit und Unverständnis gegenüber den Aussagen der Zeugen wurden in den Konfrontationen häufig mit Verweisen auf Gottesfurcht und Religiosität verknüpft. Tullian „betheuert sein Ansuchen mit denen Worten: So wahr ihm Gott helffen solle! “, was zudem ein sprechender Beleg dafür ist, dass die Protokolle den Wortlaut der mündlichen Auseinandersetzung widerspiegeln sollten. Auf ähnliche Weise fügte er seiner Aussage in einer anderen Konfrontation hinzu, „daß solches alles so wahr sey, als Gott im Himmel lebe“. 880 Die Anerkennung Gottes als obersten Gerichtsherrn sollte die Glaubwürdigkeit der eigenen Person stärken, ostentativ die Einsicht in die gott- 877 Unter anderem in HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 124r-128r. 878 Ebd., fol. 129v. 879 Ebd., fol. 134r-134v. 880 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 71r. <?page no="197"?> 198 gewollte Justizordnung betonen und gleichzeitig die Unaufrichtigkeit des Gegenübers offenbaren. Weitere Verhaltensmuster in den Konfrontationen neben der detailreichen Ausschmückung der Aussage waren die direkte Ansprache des Anderen vor den Augen der Verhörenden, wie „Das weistu doch“ 881 , sowie die Benennung weiterer Zeugen, die die eigenen Angaben unterstützen konnten. Dass ein geständiger Inquisit in der Gegenüberstellung mit einem anderen Beklagten seinerseits seine frühere Aussage revidierte, ist selten festzustellen. Johann Georg Voigt änderte aber beispielsweise eine Behauptung in eine Vermutung, wenn er in Gegenwart Rehmanns defensiver formulierte, „es düncke ihm Rehmann […] gesehen zu haben“ und „Er könne dieses vor gewiß nicht behaupten, er habe solches nur praesumiret.“ 882 Der Beschuldigte hingegen konnte sich nur schwer auf etwas anderes als das Abweisen der Vorwürfe oder das Bestreiten einer Bekanntschaft zum Zeugen zurückziehen. Der Oberlausitzer Johann Karraseck beteuerte in der Konfrontation mit Ignatz Hegenbarth im September 1800 unter Tränen, „er sey nicht dabey gewesen, habe auch mit dem vor ihm stehenden Menschen Zeitlebens kein Wort geredt.“ 883 Einige Beispiele sind überliefert, in denen der Inquisit versuchte, das Verhalten des Belastungszeugen einzuordnen, etwa dieser „rede es ihm nur aus Groll und Feindschafft nach“ 884 , um den vermeintlichen ehemaligen Komplizen zu diskreditieren. Bei aller anzunehmenden Bemühung um Neutralität in den Mitschriften ist an den Formulierungen häufig die Haltung der Protokollanten zu den Beteiligten zu erkennen. Ein Beklagter „schützet seine Unwissenheit ferner vor, und will gar nicht […] [dabei] gewesen seyn“ 885 . Dass Aussagen nur vorgegeben, widersprüchlich oder logisch inkonsistent seien, wurde besonders betont. Außerdem stellten Wendungen im Konjunktiv verteidigende Aussagen demonstrativ in Frage, während Gegenargumente eher im Indikativ wiedergegeben wurden. Ausdrückliche Verweise auf Gesten, Untertöne und emotionale Ausbrüche während der Konfrontationen nahmen die Protokolle gelegentlich auf, wobei auch hier wie bei den Verhörmitschriften insgesamt offen bleiben muss, ob von den Schreibern übertrieben, gefiltert oder ausgewählt wurde und dadurch nur diejenigen Verhaltensweisen einflossen, die eine bestimmte Argumentationsrichtung und Haltung zum Verhörten unterstützten. Die in der Strafrechtsprechung erfahrenen und maßgeblichen Schöffen in Leipzig schätzten das Mittel der Konfrontation zur Wahrheitsfindung als sehr hilfreich ein. Sie beschrieben diese Verhörmethode in einer Stellungnahme vom 13. Mai 1769 als die effektivste nach der ‚peinlichen Befragung’, „weil durch 881 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 130v. 882 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 385v-386r. 883 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 6, fol. 66r. 884 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 76r. 885 Ebd., fol. 86v. Ebenso formuliert in HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 74r. <?page no="198"?> 199 Confrontationes noch am ersten zu einem Bekäntnis zu gelangen, so sind diejenigen Mittel zu ergreiffen, durch welche dieser Weg zu Erreichung des angezogenen Zwecks erreichet wird“. 886 Mit der engen Bindung an das Geständnis als eindeutiger Schuldnachweis ist neben der Konfrontation besonders die extraordinäre Stellung der Folter im Inquisitionsprozess zu erklären. Die peinliche Befragung bildete für einen langen Abschnitt des Untersuchungszeitraums ein maßgebliches Instrument im Strafverfahren, um den vermeintlichen Verbrecher zu entlarven, ihm verborgene Details zu entlocken und ihn zum Bekenntnis der ‚Wahrheit’ zu bewegen. Sie war nur in Prozessen um todesstrafenwürdige Verbrechen erlaubt. Gegen die Räuber und ihre Komplizen kamen drei mögliche Stufen der Folter in Frage. Es handelte sich erstens um die Anwendung der Daumenschrauben oder „-Stöcke“, zweitens die Bindung mit Schnüren, was auch „mit den Banden“ [Bändern] genannt wurde, und drittens das Strecken auf einer Leiter. 887 Ob und in welchem Grad ein Scharfrichter die Folter anwenden sollte, wurde durch das Dicasterium vorgegeben. 888 Diese Rücksprache mit einer zentralen kursächsischen Rechtsinstitution und die Einhaltung ihres Zwischenurteils 889 sollte einer richterlichen Willkür vor Ort vorbeugen. Zur Folter gerechnet werden muss auch die einleitende Phase mit einer so genannten ‚territio verbalis’, das heißt der Drohung mit der Marter, wozu die Inquisiten an die Verhörstätte - in den meisten Fällen ein Folterkeller - gebracht, dort nackt ausgezogen und dem Scharfrichter vorgeführt wurden. Daraufhin präsentierte dieser ihnen die Folterinstrumente der drei Grade und deren Funktionsweisen. Diese Vorstufe konnte für Verdächtige angeordnet werden, gegen die nur leichte Indizien vorlagen oder bei denen eine Durchführung der eigentlichen Folter nicht legitimiert war. In der Forschung wird darauf hingewiesen, dass den Inquisiten während der ‚Territio’ nicht erklärt worden wäre, welche Ausprägung der Folter sie erwartete, um so die schlimmsten Befürchtungen zu wecken und nachhaltig im Sinne eines Zwangsmittels zu wirken. 890 Aus den bearbeiteten Fällen heraus zeigt sich hingegen, dass mehreren Betroffenen in Kursachsen mitgeteilt wurde, welches Urteil über sie ausgesprochen worden war. So war es ein Anlass für eine offizielle Beschwerde oder eine Supplik, wenn ein Inquisit wie Gottfried Müller aussagte, man „hätte ihn auf die Tortur gebracht, 886 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719 Vol. II, fol. 117v. 887 Zu Carpzovs Zeiten wichen die drei Foltergrade noch insofern von den hier genannten ab, als das Aufziehen auf die Leiter den zweiten bildete, wohingegen der dritte Grad im Aufziehen mit verschärfenden Mitteln bestand, vgl. F ALK , Folter, Nr. 57. 888 Beispielsweise enthält die Leipziger Spruchsammlung von 1737 zahlreiche ‚Interrogatoria’, d.h. Zwischenurteile, die die bei der Folter zu stellenden Fragen genau vorgaben, vgl. UB Albertina, MS 2476. 889 Zwischenurteile werden auch Beiurteile oder Interlokute genannt, vgl. B OEHM , Schöppenstuhl, S. 353. 890 Vgl. ebd., S. 360. <?page no="199"?> 200 ohne ihm vorher ein Urthel zu publiciren. “ 891 Das schließt jedoch nicht aus, dass dem Inquisiten zur Verstärkung der abschreckenden Wirkung zumindest während der Territio auch längst überholte Folterinstrumente gezeigt werden konnten, wie die „Höltzer, die Pfanne und glüende Kohlen“, die zu den offiziellen Graden nicht gebraucht und somit praktisch nicht mehr angewendet wurden. 892 In der genaueren Auswertung wird deutlich, dass zwar in vielen Räuberbandenprozessen gefoltert wurde, aber ‚nur’ mit den ersten beiden Graden, also mit den Daumenschrauben und den Schnüren. Diese wurden sowohl Geschlechter, Alter, Konfessionen als auch Banden übergreifend an vermeintlichen Mitgliedern und potenziellen Helfern, wie ansässigen ‚Diebswirten’, praktiziert. Allerdings hielt man sich auch im Kurfürstentum an die geltende Grundregel, Kranke, gebrechliche Alte, Schwangere und Kinder nicht zu foltern. Dabei war, wie ein Beispielurteil von 1733 ausführt, die Territio dennoch möglich, „wenn Inquisitin ihr Bekäntniß anderweit in Güte richtig nicht thun will, man wohl befugt sie dem Scharfrichter vorzustellen, und durch denselben als solte und wolte er sie angreiffen, iedoch in Ansehung ihres hohen Alters unangegriffen befragen.“ 893 An angeblichen Schwangeren sollte durch eine Hebamme geprüft werden, ob und wann eine Geburt zu erwarten sei, um im gegebenen Fall das Folterurteil aufzuheben. 894 Dagegen zeigte sich auch hier am Umgang mit Samuel Kegel, dass man einen Verdächtigen mit 14 Jahren nicht mehr als Kind verstand, sondern an ihm die Quetschung mit Daumenschrauben und die Schnürung mit den Bändern vollziehen durfte. 895 Die Häufigkeit der Folter in kursächsischen Prozessen gegen Räuberbanden ist verglichen mit anderen Untersuchungsräumen und Delikten nicht sehr auffällig. Legt man Robert Zagollas Daten als Vergleichsfolie an, muten die Zahlen, die sich aus der Gerichtsüberlieferung ergeben, sogar niedrig an. 896 So wurden ‚lediglich’ 33 von 195 überführten Bandenmitgliedern, die in einem selbst zusammengestellten Sample analysiert wurden, nachweislich in den laufenden Prozessen gefoltert. Dieser Anteil von 17 Prozent ist aber nicht als verhältnismäßig geringe Folterrate zu verallgemeinern, denn aus der Überlieferungssituation ergeben sich mehrere Hinweise, dass sie die Realität der Räuberbandenprozesse leicht verzerrt widerspiegelt: Erstens fällt die Abschaffung der Folter in den Untersuchungszeitaum. Der Anteil an peinlichen Befragungen erhöht sich auf 24 Prozent, wenn man nur die vor 1770 verhörten Verdächtigen als Basiswert zu Grunde legt. 897 Für eine Phase, in der sich immer mehr Territorien gegen die 891 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 128v. 892 Vgl. das Reskript vom 8. August 1703, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1171-1172. 893 Vgl. UB Albertina, Ms 2476, Nr. 77. 894 Vgl. ebd., Nr. 82. 895 Vgl. ebd., Nr. 51. 896 Vgl. Z AGOLLA , Folter, S. 61-65 und S. 47-50. 897 Der Wert von 33 Gefolterten in den Räuberbandenprozessen von 195 bzw. 137 Personen steht unter dem Vorbehalt, dass so manche Prozessakte nicht vollständig überliefert ist und zusätzlich viele <?page no="200"?> 201 Tortur als Mittel der Wahrheitsfindung entschieden, ist diese Rate als durchaus hoch anzusehen. Zweitens konnte Dieben ihr Vergehen leichter nachgewiesen werden als ‚Hexen’ oder anderen Delinquenten. Daher wurden zahlreiche Räuber durch die Situation ihres Aufgriffs ‚auf frischer Tat’ oder durch Zeugenaussagen überführt. Die kursächsischen Behörden bestraften mindestens 68 Personen, im Vergleich also doppelt so viele, auf ‚direktem Weg’ ohne vorherige Folter, weil ihnen ein todesstrafenwürdiges Verbrechen bereits zweifelsfrei nachgewiesen war. Da von den übrigen Inquisiten einige aus dem Arrest geflüchtet, dort verstorben oder über ihren Prozess und Verbleib keine eindeutig nachvollziehbaren Daten überliefert sind, erschwert drittens die Quellensituation verlässliche Aussagen darüber, wie viele der Verdächtigen letztlich wirklich der Folter unterzogen wurden. Viertens liefert die in Verhörprotokollen und Gaunerlisten sehr häufige Feststellung, eine Person habe in einem zurückliegenden Verfahren schon einmal die Folter ‚durchgestanden’, den klaren Hinweis darauf, dass der überwiegende Teil von ihnen die Marter zumindest im Verlauf des Lebens kennengelernt hatte. Dieser Umstand legt zudem die Vermutung nahe, dass die Folter bei den Räubern nicht sehr ‚effizient’ war, dass also die körperlichen Qualen nicht automatisch zu einem Geständnis führten. Auf den ersten Blick scheint sich darin die häufig geäußerte Unterstellung der zeitgenössischen Behörden zu bestätigen, viele Bandenmitglieder wären ‚folterresistent’. Aber unabhängig davon, ob die Inquisiten bis zum Schluss der Tortur die Vorwürfe abstritten: Die Daumenschrauben, Schnüre oder Leiter auszuhalten war kein einfach zu gehender Weg, und garantierte selbst bei konsequenter Durchführung keine Straffreiheit. Die zurückliegenden Folterungen hatten meist in anderen gerichtlichen Zuständigkeiten stattgefunden und dort zumindest eine Ausweisung nach sich gezogen. Nur fünf der 33 nachweislich gefolterten Inquisiten aus den vorliegenden Fallakten erhielten letztlich einen Freispruch. Die meisten Gefolterten wurden mit dem Landesverweis, dem Festungsbau oder dem Zuchthaus bestraft, wie die angeblichen Diebswirte Georg Querfurt und Franz Stolle oder der vermeintliche Räuber Johann Roßmann, obwohl sie die Vorwürfe in der peinlichen Befragung nicht zugegeben hatten. Bei mindestens zehn Räubern führte die Folter zum Geständnis und damit zur Hinrichtung. Die Gnadenbitte bot eine Möglichkeit, der drohenden Folter und den damit verbundenen Auswirkungen zu entgehen. „Von Friedrich Hartmann ist [...] wieder Vollstreckung der Peinlichkeit an Ew: König: Majt: appeliret und um Gestattung einer Defension gebethen worden.“ 898 Bei Hartmann handelte es sich 1755 nicht um einen aussichtslosen Einzelfall. Ungefähr ein Fünftel der Bittschreiben und mündlichen Eingaben von Inquisiten bei den Behörden richunbekannte, unbedeutende Verdächtige einbezogen sind, über die es keine weitere (mediale) Berichterstattung gab, woraus die Information über eine Folterung ebenfalls hervorgehen könnte. 898 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 128v. <?page no="201"?> 202 tete sich gegen die Anwendung der Folter und hatte mitunter auch Erfolg. 899 Vor allem die unmittelbaren körperlichen und seelischen Peinigungen waren den Beklagten durchaus bekannt und schreckten sie in höchstem Maße ab. Manche führten an, dass sie durch die bleibenden Verletzungen, die die Daumenstöcke oder Schnüre verursachten, hinterher nicht mehr in der Lage sein würden, ihrem eigentlich ehrlichen Broterwerb nachzugehen. 900 Außerdem trug die stigmatisierende Wirkung, die eine Folter nach sich ziehen konnte, dazu bei, dass man diese um jeden Preis zu vermeiden suchte. Selbst, wenn jemand dadurch letztlich nicht eines Verbrechens überführt worden war, stellte die durchgestandene Tortur einen dauerhaften Makel in der Biografie und damit im Ruf eines Menschen dar. Dadurch, dass die Folter erst durch ein gerichtliches Zwischenurteil verhängt worden war, für das es nachhaltiger Verdachtsmomente bedurfte, war die Wahrscheinlichkeit für einen vollständigen Freispruch und eine Rehabilitation sehr gering. 901 Das Zwischenurteil und der darin bestimmte Umfang des Verhörs unter Folter richtete sich nach der Anzahl der Verdachtsdetails, die durch die Ermittlungen ungeklärt geblieben waren und nach dem ‚verbrecherischen’ Charakter, der einem Inquisiten von den Behörden beigemessen wurde. Das bedeutete, dass für einige Personen die peinliche Befragung aus einer einstelligen Anzahl von Frageartikeln bestehen konnte, während anderen über zwanzig unter Vollzug der Daumenstöcke und der Schnüre vorgelesen wurden, 902 oder, wie dem des Raubmords verdächtigen Kegel 1739, sogar ein Katalog von fünfzig Nummern. 903 Ein Teil der Verhörten hielt dem körperlichen und seelischen Stress stand und erreichte nach der abgeschlossenen erfolglosen Folterung eine vergleichsweise milde Strafe. Zahlreichen Inquisiten gelang dies jedoch nicht. Über die tatsächliche Schuldfrage sagt dies freilich nichts aus. Die Protokolle sprechen eine deutliche Sprache bezüglich der ‚Nachhaltigkeit’ der Foltermethoden, wenn dort, wo normalerweise bei Vernehmungen Mimik, Gestik oder Tonfall punktuell wiedergegeben werden, in den Folterverhören von Weinen, „heftigem“ und „abscheulichem“ Schreien, Jammern und „Winseln“ die Rede ist. 904 Bildlich stellt dies die Mitschrift des Verhörs von 1721 mit dem Räuber Hans Georg Kupper heraus: „Nachdem nun zwar währenden zuschrauben derer Daumen-Stöcke Inquisit, so offt selbige etwas weiter zugeschraubt wurden, zu schreyen anfinge, sonst aber, wenn dieses nicht geschahe, frisch und frey sich aufführte, auch immerfortt bey seinem Läugnen beharrete, wurden 899 Das Ziel des Foltererlasses stand in den Briefen und Anfragen meist nicht alleine, sondern war verknüpft mit der Bitte um eine Defension, allgemeine Strafmilde oder die Entlassung aus der Haft. 900 Ebd., fol. 191v. 901 Vgl. H ÄRTER , Strafverfahren, S. 471. 902 Vgl. beispielsweise HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 33v-39r. 903 Vgl. UB Albertina, Ms 2476, Nr. 51. 904 Vgl. die Folterverhöre in HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 89r-90v. <?page no="202"?> 203 endlich an seinen beyden Händen durch den Scharff-Richter die Schnüre erkanntermaasen an- und Kuppern die bey solchen gradu tortura gewöhnliche eiserne sogenannte Hals-Krauße, damit er nicht umbfallen möge, um den Hals geleget, und zwey bis dreymahl mit den Schnüren zugezogen, dabey Inquisit hefftig zu schreyen anfing, und endlich ruffete: daß er bekennen wolte, man möchte inne halten, und ihn von dem Fuß- Bret laßen.“ 905 Mehrere Dokumente verdeutlichen exemplarisch, wie aus dem Einsatz von physischen und psychischen Druckmitteln wegen einer ausschließlichen Konzentration der Gerichte auf das ‚eindeutige’ Beweismittel auf der einen und der Ausweglosigkeit der Inquisiten auf der anderen Seite spezifische Problemstellungen resultierten. Im Zusammenhang mit einem Strafverfahren um einen Diebstahl im Haus des Grafen von Beichlingen erfolgte am 13. August 1703 ein Reskript, in dem der Kurfürst die Beamten ausdrücklich anwies, die Folter regelkonform anzuwenden und die „Banden von oben herab“ an den Inquisiten auszuführen. 906 Hatte ein Inquisit während der Folter Vorwürfe eingestanden - was die Tortur unterbrach - und daraufhin das Geständnis „gütlich“ widerrufen oder zu diesem ‚unangemessenen’ Zeitpunkt um eine Defension gebeten, so sollte jeweils von Neuem mit dem vorgeschriebenen Grad begonnen werden bis die Bestimmungen des Zwischenurteils erfüllt waren. Dies konnte mitunter bedeuten, dass die Daumenschrauben und Bänder mehr als dreimal angesetzt wurden. Denn im Regelfall war ein unter Foltereinfluss gegebenes Geständnis nur dann gültig, wenn der Angeklagte dieses nach Abschluss des körperlichen Zwangs „in Güte“ nochmals bestätigte. Trotz dieser Anweisung gibt es spätere Beispiele, in denen ein widerrufenes Geständnis dem Beklagten zur milderen Strafe verhalf, wie etwa dem Bandendieb Christoph Hüniger, der 1705 seine in der Tortur gegebene Aussage später zurücknahm. Der Schöffenstuhl urteilte, dass er nach bereits zweifach überstandener Folter nicht weiter verhört, sondern nach Verabreichung entehrender Staupenschläge lebenslang des Landes verwiesen werden solle. 907 Der Vorgang in den Gerichtsakten enthält weitere erläuternde Dokumente zu dieser Entscheidung. Unter Beifügung eines Gutachtens vom Schöffenstuhl in Leipzig war in einer Anweisung an den Geheimen Rat noch ergänzt worden, fortan sei vor der Folterung sicherzustellen, dass der Angeklagte die Behandlung gesundheitlich vertrage. Diese Einschätzung des Gesundheitszustands vorab war allerdings kaum humanitären Beweggründen geschuldet. Vielmehr war es eine Reaktion auf verschiedene Beschwerden der lokalen Untersuchungsbehörden, die sich verunsichert sahen, da Inquisiten während der Anwendung der Folter Krankheit oder Schwäche ‚vorgetäuscht’ hatten, weswegen die formal vorgeschriebene 905 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 6, fol. 23v-24r. 906 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1171-1174. 907 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 81v. <?page no="203"?> 204 Prozedur abgebrochen werden musste. Die vorherige medizinische Prüfung des Inquisiten sollte dazu beitragen, Störungen bei der Folterpraxis einzudämmen und die „vollständige Exekution des Urteils“ zu gewährleisten. Aus den Prozessakten geht jedoch nicht hervor, ob diese vorgeschriebene Gesundheitsprüfung in der Praxis tatsächlich durchgeführt wurde. In einem einzigen Bandenprozess im Kurfürstentum waren angeblich zu harte Foltermethoden angewendet worden. 908 Die vier mutmaßlichen Räuber Christoph, Andreas und Christian Richter sowie Nicol Genzsch hatten angegeben, im Amt Arnshaugk 1720 unter Überschreitung der erlaubten Zwangsmittel auch mit „Spanischen Stiefeln“ und „Halskragen“ auf die Leiter gesetzt und durch die „Bewerfung mit Schwefelfedern“ sowie in Form des „gespickten Hasen“ in verschärftem Ausmaß zur Aussage genötigt worden zu sein. Beim „gespickten Hasen, eine[m] noch zur Zeit, ohne absonderliche concession, nicht zugelaßenen modo“, war der Inquisit Andreas Richter zusätzlich mit einem stacheligen Holz-Gegenstand geschlagen worden, 909 wobei er in Ohnmacht gefallen und nach Angabe eines Physicus in Lebensgefahr geraten war. 910 Mindestens er schien von dieser Behandlung dauerhafte physische Schäden davon getragen zu haben. Nachdem ein Bericht zum Geheimen Konsilium vorgedrungen war, wurde eine Untersuchung gegen den Amtmann eingeleitet, worin er sowie die Actuarii, Landgerichtsschöffen und der Scharfrichter erheblicher Versäumnisse beim Protokollieren des Verhörs bezichtigt wurden. Außerdem seien sie vom gegebenen Urteil selbstständig abgewichen. Die dazugehörige Befragung wurde kommissarisch vom benachbarten Amtmann von Weida ausgeführt. Die Akte belegt, dass die normengerechte Durchführung der Strafprozesse und auch der Folter von den landesherrlichen Institutionen überwacht wurde und eigenmächtiges Handeln lokaler Gerichtsherren unterbunden werden sollte. Im Dezember 1770, fünfzig Jahre nach diesem Vorfall, wurde im Zusammenhang mit der Generalverordnung in Form eines Reskripts „wegen Abstellung der Marter, auch Einschränkung des Gebrauchs der Eide ertheilte Instruction betreffend“ an die rechtsprechenden Organe im Kurfürstentum Sachsen die Folter abgeschafft. „Es soll künftighin bey keinem Verbrechen auf Vollstreckung einer Peinlichkeit, es sey Realterrition oder Tortur, noch auch auf Bedrohung damit erkannt werden“ 911 , lautete darin gleich der erste von zehn Paragraphen, die das Verfahrensrecht nachhaltig veränderten. 908 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10024, Loc. 10119/ 7. 909 Art. Gespickter Haase. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 10, Sp. 1295. 910 Gleichwohl lauteten zwei weitere Aussagen von Medizinern, dass sie bei der Begutachtung der vier Inquisiten keine äußeren Anzeichen einer außergewöhnlichen Misshandlung feststellen konnten, HStA Dresden, 10024, Loc. 10119/ 7, fol. 16r-17v. 911 L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 329. <?page no="204"?> 205 Noch wenige Jahre vor dieser Veränderung, die sich an den rechtlichen Reformen anderer Territorien orientierte, 912 waren die ersten beiden Grade an Räubern vollzogen worden: Im Jahr 1766 wurden die beiden des Diebstahls und der Hehlerei verdächtigen Juden Joel Marcus und Isaac Jacob gefoltert. 913 Ein Jahr darauf wurde das Ehepaar Wolfert der Diebswirtschaft bezichtigt und von den Leipziger Schöffen zum Verhör unter der Tortur „und zwar die Daumen- Stöcke samt dem Anfang der Schnüren“ 914 verurteilt. Diese Fälle belegen, dass gerade im Bezug auf Räuberbanden kein allmählicher Verlauf zur Abkehr von den unmenschlichen Methoden der Geständnisbeschaffung auszumachen ist. Als Friedrich August III. die Landesregierung am 15. Februar 1769 um einen Mandatsentwurf bat, wozu im Vorfeld wieder die vier kursächsischen Spruchgremien zu befragen seien, zielte er damit bereits förmlich auf eine Abschaffung der Folter. 915 Mit Verweis auf die Unzuverlässigkeit der unter Marter erlangten Geständnisse und der den Verbrechen oft unangemessenen Härte der Foltermethoden ließ der Kurfürst keinen Zweifel an seiner Absicht: „Wir finden dannenhero in Unserem Gewißen, und Unseren billig auf alle Unsere Unterthanen zu verbreitenden Landes-Väterlichen Gesinnungen, die trieftigsten Erwegungs-Gründe, dem erkannten Übel bald möglichst kräfftige Remedur zu verschaffen, zu dem Ende die Marter, wie in mehr andern Ländern geschehen, abzustellen […]“ 916 Der Vorgang wurde bewusst mit dem Thema der Eidleistung in strafrechtlichen Verfahren verknüpft, deren Anwendung nach Ansicht Friedrich Augusts des Gerechten ebenfalls eine grundsätzliche Veränderung erfahren sollte. Es handelte sich nicht um eine Anfrage nach Erläuterung, ob die ‚Abolition’ der Folter und die Einschränkung der Eide angemessen und praktikabel wären, sondern wie diese klaren Zielsetzungen im Einklang mit der Rechtsordnung und der juristischen Praxis baldmöglichst umzusetzen seien. Auch wenn dies mit gewissen Schwierigkeiten verbunden wäre, so schienen ihm diese doch keineswegs „unübersteiglich“. Die Reaktionen in den Gutachten der Dicasterien spiegeln unterschiedliche Standpunkte zur Folteranwendung sowie ihrer Angemessenheit wider und beziehen sich dabei teilweise explizit auf deren Wirkkraft bei Räuberbanden. Der Bericht der Landesregierung vom 4. September 1769 fasst sie, wie gefordert, knapp zusammen, bevor er mit eigener Einschätzung der Sachlage Stellung 912 In Preußen wurde die Folter 1740 durch Friedrich II. abgeschafft, in Baden 1767 und in Mecklenburg 1769. Österreichs Strafrechtsreform durch Maria Theresia erfolgte erst im Jahre 1776. Vgl. E VANS , Rituale, S. 147-152, der die 1770er Jahre als den „großen Wendepunkt“ beschreibt. 913 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 76r-94r. 914 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 115v. 915 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719 II, fol. 35r-36v. 916 Ebd., fol. 35v. <?page no="205"?> 206 bezieht. 917 Allen voran der Leipziger Schöffenstuhl sprach sich nachdrücklich gegen eine uneingeschränkte Abschaffung der Folter ausgesprochen, da sie erstens bei „liederliche[m] Raub-Gesindel“ oftmals, nämlich wenn die Betreffenden hartnäckig leugneten, die Strafe ersetze. Zweitens sei die peinliche Befragung bei besonders ernsten Delikten, worunter auch der Bandenraub und diejenigen Verbrechen zählten, die die öffentliche Sicherheit störten, hilfreich gewesen, um weitere Mitschuldige herauszufinden. „Wie es denn eine Zweifelsfreye Wahrheit sey, daß sobald unter Leuten, welche schwere Verbrechen zu begehen und grobe Schandthaten auszuüben aufgeleget wären, bekannt würde, daß hartnäckige Verleugnung des Begangenen keine schmerzhaften Folgen habe, auf Herausbringung der Wahrheit durch freymüthige Bekenntniße weit weniger als zeithero zu rechnen seyn würde.“ 918 Diese Auffassung erklärt, dass die Folter in den Räuberbandenprozessen, deren Abläufe weitgehend von den Urteilen des Leipziger Schöffenstuhls abhingen, noch so lange Anwendung fand. Als Beleg, dass diese Sichtweise auf Vergleichen mit anderen Strafrechtssystemen basierte, fügten die Schöffen Auszüge aus den preußischen und dänischen Verordnungen an, in denen die Folter zwar eingeschränkt, aber nicht vollständig und umfassend abgeschafft worden sei. So räumte Friedrich II. 1740 in Preußen für bestimmte Verbrechen, unter anderem solche, an denen „viele Delinquenten“ beteiligt gewesen waren, eine Ausnahmeregelung ein, vollständig wurde die Folter damit erst 1754 abgeschafft. 919 Der Argumentation der Leipziger Schöffen schlossen sich die beiden Wittenberger Spruchgremien in ihren eigenen Gutachten weitgehend an. Sie gaben darin zu bedenken, dass eine gemäßigte Art der Folter zumindest für solche Verbrechen, auf die auch nach den Göttlichen Gesetzen die Todesstrafe stünde, beizubehalten sei. Außerdem belegten sie ihre Kenntnis der Argumentationen der älteren und zeitgenössischen Foltergegner, indem sie unter anderem auf den zwölften Paragraphen aus Beccarias ‚Verbrechen und Strafen’ verwiesen. 920 Abweichend - und ohne auf Referenzen der Jurisprudenz hinzuweisen - beantwortete allerdings die Leipziger Juristenfakultät die Frage: Die Folter sei nicht zu dulden, selbst wenn durch sie wahre Bosheiten ans Tageslicht gebracht würden. Denn es sei eher zu verkraften, wenn ein Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen würde als wenn ein Unschuldiger gequält werden müsse. In ihren 917 Vgl. im Folgenden ebd., fol. 185r-208v. Die Beilegung der vier bzw. acht Originalgutachten der Spruchgremien weist die inhaltliche Übereinstimmung mit der Zusammenfassung durch die Landesregierung nach. 918 Ebd., fol. 186v. 919 Vgl. D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 148-149. 920 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719 II, fol. 139v. Beccaria hatte darin ausgeführt, dass der „Leib des Schuldigen [...] so wenig qualvoll wie möglich“ bestraft werden solle, B ECCARIA , Verbrechen, S. 83-84. <?page no="206"?> 207 Augen sei „die Folter nicht als ein Mittel die Wahrheit, sondern vielmehr die Härtigkeit und Unempfindlichkeit eines Menschen zu erforschen anzusehen“. 921 Die Ähnlichkeit zu einem Hauptargument des aufgeklärten Rechtsphilosophen Cesare Beccaria (1738-1794) gegen die Folter, das lautete, die Marter prüfe nicht die Wahrheit, sondern lediglich die Schmerzempfindlichkeit eines Menschen, wird hier überdeutlich. 922 Obwohl sich drei von vier Dicasterien gegen die vollständige Abschaffung der Folter aussprachen - darunter das bedeutendste unter den strafrechtlichen Spruchgremien - hielt sich die Landesregierung abschließend eindeutig an das Urteil, das der Kurfürst und auch die Juristenfakultät Leipzig über die Anwendung der Folter gefällt hatten. Es scheint, als habe die Meinung des Großteils der Rechtsgelehrten hier keinen allzu großen Einfluss ausüben können. Die Landesregierung bestätigte, die Folter sei das „an sich unsichere, ungewiße und unzulängliche Mittel, die Wahrheit zu erfahren, durch keinen dabey gesuchten guten Endzweck Zu rechtfertigen“ und bemerkt dazu, dass in den Göttlichen Rechten solche Mittel weder vorgeschrieben noch gebilligt seien. 923 Zusätzlich schlug sie vor, die Neuerungen im Strafverfahren zwar durch ein Generale an alle Unterobrigkeiten, die Abschaffung der Tortur aber nur durch eine Anweisung an die Spruchgremien bekannt zu machen und nicht durch ein Mandat. Diese kurfürstliche Instruktion erging am 2. Dezember 1770. Die unterschiedlichen Bewertungen der Wirksamkeit der Folter bei Räuberbanden, die man im Verlauf des 18. Jahrhunderts bis 1770 in den betreffenden Kontexten der Verwaltungskommunikation antrifft, muten widersprüchlich an. Einerseits wird angeführt, dass gerade die Konstellation der kriminellen Gruppierung eine fortgesetzte Anwendung der peinlichen Frage rechtfertige. Andererseits wurde explizit angezweifelt, ob die körperliche Zwangsausübung für solch „böses Gesindel“ überhaupt angemessen sei. In einem Schreiben mit der Bitte um einen Mandatsentwurf von 1710 hatte Kurfürst Friedrich August I. bereits ausgeführt, das Verfahren gegen Räuberbanden erfordere deswegen eine Veränderung, „weil gemeiniglich diejenigen, nur unter solche Rotten an und aufgenommen werden, welche ihrer LeibesStärcke halber die Tortur auszustehen und auf diese Arth zu verhalten vermögend gewesen, maßen denn auch bey solchen leichtfertigen Volcke kein grad der Marter mehr etwas würcken wollen.“ 924 In ähnlicher Formulierung und Absicht war einigen Räubern nachgesagt worden, sie erzögen ihre Nachkommen und ‚Rekruten’ regelrecht zum Aushalten der harten physischen und psychischen Strapazen vor Gericht. 925 Die Anwendung von Daumenstöcken und Schnüren werde damit zunehmend ineffizient, da die abgehärteten Kapitalverbrecher sich davon nicht mehr beeindrucken ließen. 921 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719 II, fol. 187v. 922 Vgl. D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 151. 923 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719 II, fol. 196r-197r. 924 HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, fol. 57r. 925 Vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 8303, fol. 28r. <?page no="207"?> 208 Diese Argumentationsweise stützten Berichte aus der Praxis, in denen man sich über die ausbleibende Wirkung der Folter wunderte: „Worbey anzumercken daß Inquisit unter währenden Daumenstöcken frisch u[nd] ohne sonderliche darüber bezeigte Schmerzen, dergestalt als ob ihm nichts sonderlichs wiederfahre, geredet, und dergestalt dieser actus territionis realis geendiget worden.“ 926 Die verfahrenspraktischen Begründungen für die Abschaffung der Folter hatten in mehrerer Hinsicht Ähnlichkeiten zu den Argumenten, die sich durch die aufkeimende Aufklärung und den damit verbundenen Einfluss der Fürsprecher des Naturrechts auch in Sachsen durchzusetzen schienen. 927 Diese hatten die reformierenden Maßnahmen des Strafrechts durch den Kurfürsten unzweifelhaft mit beeinflusst und fanden sich dementsprechend in Teilen oder umformuliert in den Argumentationen der kursächsischen Landesregierung und der Leipziger Juristenfakultät 1770 wieder. Es scheinen die Prinzipien von Proportionalität und Utilarität auf, wenn ausgeführt wird, dass die Folter nicht härter für den Inquisiten sein dürfe als die an die Schädlichkeit des jeweiligen Verbrechens angepasste Strafe, die er zu erwarten habe. 928 Beschuldigte seien darüber hinaus gezwungen, gegen sich selbst auszusagen, was dem Naturrecht zuwider laufe. 929 Begonnen mit einer Christian Thomasius zugeschriebenen Dissertation von 1705 als „Kampfschrift gegen die Folter“ 930 bis hin zu der von Hommel übersetzten Schrift Beccarias „Dei delitte e delle pene“ 931 (1764) war in den rechtsdogmatischen Arbeiten wiederholt die Begründung enthalten, die Tortur sei unzuverlässig, ungerecht und zu ihrem eigentlichen Zweck ungeeignet. Ähnlich wie in den späteren kursächsischen Dokumenten lautete der grundsätzliche Hauptvorwurf, einerseits würden Schuldige die Peinigung ertragen und freigesprochen, während andererseits Unschuldige gequält und verurteilt worden wären, weil sie der Marter nicht standhielten. 932 Diese Zweifel an der Folter hatte bereits Benedict Carpzov in seiner Practica Nova zum Ausdruck gebracht, wenn dieser sie auch prinzipiell als legitim angesehen hatte. 933 926 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 3, fol. 108v. 927 Ausführlich zur Entwicklung der Argumente gegen die Folter vgl. S CHMOECKEL , Humanität. Als Zusammenfassung vgl. auch D ERS ., abolition. 928 Die Anpassung der Strafen an diese veränderten Prinzipien der Strafzwecke war ebenfalls eine zentrale Zielsetzung des aufklärerischen Denkens, D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 140. 929 C ATTANEO , Beccaria, S. 50. 930 D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 142-145. Es bestehen Zweifel, ob die „Christiani Thomasii Dissertatio inauguralis juridica de tortura ex foris Christianorum proscribenda“ wirklich der Autorenschaft Thomasius’ zuzurechnen ist, vgl. S CHMOECKEL , Humanität, S. 147-151. 931 In neuerer Übersetzung siehe B ECCARIA , Verbrechen, S. 92-100. 932 D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 150-152. 933 F ALK , Folter, 17-32; D ERS ., torture. <?page no="208"?> 209 Joseph von Sonnenfels hatte mit seiner Abhandlung „Ueber die Abschaffung der Tortur“ von 1775 die Eliminierung der Folter aus dem österreichischen Strafprozess unter Maria Theresia im darauffolgenden Jahr maßgeblich beeinflusst. Er hob mit ähnlichem Wortlaut wie seine Vorgänger besonders den beherrschenden negativen Effekt des Zwangs hervor. Doch auch er räumte dabei die Ausnahme ein, dass eine Folterung weiterhin dazu dienen solle, „die Mitschuldigen eines überführten Angeschuldigten zu entdecken“ und so die Teilnehmer eines gemeinschaftlich begangenen Verbrechens in Erfahrung zu bringen. 934 Über diese Auffassung waren die sächsischen Behörden bei der 1770, also einige Jahre zuvor erfolgten vollständigen Beseitigung der Folter aus ihrem Strafprozessrecht hinaus. Die argumentative Widersprüchlichkeit, dass Teilnehmer von Räuberbanden zum einen gerade diejenigen Delinquenten seien, für die eine Beibehaltung der Folter sich auszahle, und sie andererseits zu den höchst verdorbenen Kriminellen zu zählen wären, die sich eine Resistenz gegen die ‚peinliche Frage’ angeeignet hätten, findet sich danach in Strafrecht und Strafpraxis Kursachsens nicht mehr. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Wirken Karl Ferdinand Hommels die Entwicklung zumindest mitgetragen hat. 935 Auch wenn die Quellen seinen Namen nicht ausdrücklich erwähnen, so war er doch unzweifelhaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die „führende Figur der Leipziger Juristischen Fakultät“ 936 - sicher nicht zufällig derjenigen kursächsischen Rechtsinstitution, die die Beseitigung der Folter in ihrem Gutachten uneingeschränkt befürwortet hatte. Dass die Namen und Argumente der Vertreter der Aufklärung in der administrativen Korrespondenz und auch in der Instruktion an die Dicasterien nicht explizit genannt werden, spiegelt auf der anderen Seite wider, dass der Gedanke an eine Beseitigung der Marter sich zum Ende des 18. Jahrhunderts hin schon auf einer breiteren Basis durchgesetzt haben mochte. So wurden seit der obrigkeitlichen Anweisung auch in der Praxis keine Räuber mehr gefoltert. Das heißt aber nicht, dass sich nicht Alternativen gefunden hätten, bei einem erhöhten Verdacht und dem ausstehenden ‚völligen Beweis’ einen Inquisiten zu bestrafen und zu verwahren. 937 Als ‚Verdachtsstrafe’ für Inquisiten, denen man kein Geständnis abringen konnte und gegen die keine Zeugenaussage vorlag, hatte sich eine besondere 934 Vgl. den Vergleich von Beccaria und Sonnenfels in dieser Frage bei C ATTANEO , Beccaria, S. 54- 60. Siehe auch D ANNAT / G OTTSCHALK , Abschaffung, S. 152-153 und S CHMOECKEL , Humanität, S. 185. 935 Vgl. C ATTANEO , Hommel; M ARTSCHUKAT , Töten, S. 58. Auch Kästner bewertet Hommels Einfluss auf die Gutachten der Leipziger Juristenfakultät in diesem Zeitraum als eindeutig maßgeblich, vgl. K ÄSTNER , Geschichte(n), S. 492-497. 936 R OTHER , Strafrechtsreformdiskussionen. Rother weist aber darauf hin, dass Hommel erst nach und nach zu einer konsequent ablehnenden Haltung gegenüber der Folter gekommen war, ebd., S. 473. 937 Bruns spart in seiner rechtshistorischen Abhandlung den Einfluss Hommels und die Veränderungen in Kursachsen leider weitgehend aus, vgl. B RUNS , Geschichte. <?page no="209"?> 210 Form des Freiheitsentzuges durchgesetzt. Urteile zur Verwahrung im Arbeitsdienst enthielten statt einer festgelegten Dauer Klauseln wie „bis er den wieder ihn vorhandenen Verdacht [...] gnüglich ablehnet“ 938 . Dabei war es eigentlich seit 1750 in Kursachsen angeordnet und gebräuchlich, in einem Urteil die Strafdauer - zwischen einigen Wochen und lebenslang - bei einer Arbeitsstrafe ausdrücklich zu benennen. 939 Angesichts der mangelnden Möglichkeiten, aus der Haft heraus zu agieren, kam die Einschränkung, dass der Delinquent seine Unschuld selbst beweisen müsse, um entlassen zu werden, de facto einer zeitlich unbegrenzten Einsperrung gleich. 940 5.3 Urteile und Strafen Die Entscheidungssprüche, die bei den vier zentralen Spruchgremien nach Bewertung und Diskussion der Untersuchungsakten gefällt wurden, waren rein formal Gutachten, die aber in der Praxis als maßgebliche Urteile umgesetzt wurden. 941 Durch die Anfragen der lokalen Gerichte und ihre normative Verpflichtung zur Aktenversendung wurden die Dicasterien in die Interaktion des Strafverfahrens einbezogen, wenn dies auch in nur schriftlicher Form geschah. Gerade die Distanz der urteilenden Richter zum Fall und zur Person des Inquisiten sollte ihnen nach dem zeitgenössischen Rechtsverständnis und in ihrem Selbstverständnis die notwendige Objektivität geben, einen Fall neutral und gerecht zu begutachten. So stellen die schriftlichen Urteile einen elementaren Bestandteil der Kommunikation um Räuberbanden und ihre Strafprozesse dar. Sie teilen sich in Zwischenurteile (Interlokute) und Endurteile, die sich hinsichtlich Aufbau und Länge durchaus ähnelten. Erstere wurden während des Inquisitionsverfahrens angefragt und bestimmten dessen weiteren Verlauf, etwa durch die Anordnung der Entlassung eines Inquisiten, wenn sich keine beweiskräftigen Indizien gegen ihn gefunden hatten, oder der Spezialinquisition mit einem artikulierten Verhör unter Folter. Sie waren in der Regel etwas kürzer als die Endurteile, die in ihrem meist umfangreichen Text den gesamten Verlauf des Strafverfahrens darstellten und die Entscheidungsgründe („rationes decidendi“) darlegten, bevor sie zum 938 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 59v. 939 G LAUNING , Geschichte, S. 326. 940 Vgl. B OEHM , Schöppenstuhl, S. 398-399. Dass diese Verurteilung auf unbestimmte Dauer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Kursachsen aber immer seltener wurde, weist Kroll nach, K ROLL , Soldaten, S. 317. 941 Grundsätzlich zum Aktenverspruch in Kursachsen B OEHM , Schöppenstuhl, S. 379-410. Vgl. auch F ALK , Consilia, der sich vorwiegend mit Rechtsgutachten für private Auftraggeber beschäftigt. <?page no="210"?> 211 Abschluss des Prozesses das Strafmaß für einen oder mehrere 942 Inquisiten bestimmten. In der Forschung wird hervorgehoben, dass der Schöffenstuhl Leipzig, der durch seine besondere Stellung erwartungsgemäß den Löwenanteil der Urteile in Kriminalsachen gefällt hatte, große Spruchbzw. Konsiliensammlungen hinterlassen habe. 943 Da diese Kompilationen sich aber ausschließlich auf Zivilsachen bezogen, stellt sich die Quellenlage für die strafrechtlichen Entscheidungen des 18. Jahrhunderts schwieriger dar: Die meisten Urteilssprüche sind nur in den Fallakten der einzelnen Gerichtsverfahren zu finden. Eine einzelne Zusammenstellung beispielhafter Strafurteile unterschiedlicher Anwendungsbereiche („Formula Sententiarum“) ist erhalten, worin durchnummeriert und in jeweils sehr abgekürzter Form Urteile aus ‚Präzedenzfällen’ von 1712 bis 1738 dargelegt wurden, an denen sich spätere Entscheidungen orientieren konnten. 944 Über achtzig Einzeldokumente von einem Zwischenurteil mit Verhörfragen („Interrogatoria“) für falsches Almosenbetteln über ein Todesurteil durch den Strang gegen eine Diebin bis hin zu einzelnen Rechtssprüchen, die aufgenommen wurden, um etwa die angemessene Folteranwendung darzustellen, geben Einblick in die Grundsätze der Leipziger Schöffen vor allem in den 1730er Jahren. Sie bilden zusammen mit den zahlreichen Fallgutachten aus den Akten eine breite Basis an Strafrechtsentscheidungen, die erkennen lassen, wie die professionell ausgebildeten und einflussreichen Juristen Räuberbanden darstellten und beurteilten. Darin wird deutlich, dass die Prozessrealität und Strafpraxis sich grundsätzlich getreu den Normen und Befehlen abspielte. Bei ausreichender Indizienlage wurde sowohl die Folter wurde gegen zahlreiche Inquisiten Kursachsens ausgesprochen als auch die härtesten Todesurteile, wenn belastende Beweise vorlagen. Die Urteile zu Bandenräubern umfassten je nach Beschaffenheit des Falles bis zu zwanzig oder mehr Folioseiten. 945 In umfangreichen Prozessen, die sich lange hingezogen hatten und in denen bereits mehrere Zwischenurteile gefällt waren, kam es dagegen auch zu verkürzten Endurteilen. Entscheidungssprüche, die eine Neubewertung des Falles durch ein anderes Spruchgremium darstellten, weil die Defension eines Inquisiten und neue Umstände diese ‚Revision’ ermöglicht hatten, sind häufig ebenfalls übersichtlicher, da sie von den Beweggründen und dem Strafmaß der ersten Instanz nicht abwichen. 942 Solche Sammelurteile für Bandenräuber kamen durchaus vor, beispielsweise bei Andreas Dechant, Valentin Gläsel, David Seyfert und Christian Fischer, die 1704 mit dem Tod durch Enthaupten samt anschließender Radlegung bestraft wurden, HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 18v- 23v. 943 B OEHM , Schöppenstuhl, S. 371-374. 944 UB Albertina, Ms 2476. 945 Ein Beispiel ist etwa das Urteil für Daniel Lehmann im Prozess der Tullian-Bande, HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 195r-217r. <?page no="211"?> 212 Angesichts der zahlreichen Angelegenheiten aus unterschiedlichen Rechtsgebieten, die der Leipziger Schöffenstuhl zu begutachten hatte, und der Verpflichtung einzelner seiner Mitglieder in mehreren Ämtern und Funktionen ist davon auszugehen, dass die Behörde nicht immer komplett und in der gleichen Personenkonstellation besetzt war. 946 Um Inkonsistenzen im Gremium nicht nach außen zu zeigen und gleichzeitig persönlich vor Klagen gegen eine unsachgemäße Arbeitsweise oder Entscheidung gewappnet zu sein, waren die Urteile immer anonym mit der gemeinsamen Unterschrift „Churfürstliche Sächsische Schöppen zu Leipzig“ abgefasst. 947 Zumeist begannen die Urteile nach der Anrede ihres Adressaten mit einem knappen Abriss des Anlasses für das Gutachten in einem Satz, der vor allem den Umstand enthielt, dass um die „Rechtsbelernung“ gebeten worden war. In dieser Einleitungsfloskel wurde der vollständige Name des Inquisiten benannt. Der eigentliche Rechtsspruch begann mit der Beschreibung des Vorwurfs gegen den Angeklagten samt der Angabe, woher sich ein Verdacht im Strafverfahren ergeben hatte. Dabei wurde erwähnt, ob der Betroffene dem Scharfrichter vorgeführt worden war oder ein Geständnis abgelegt hatte. Nach der groben Umschreibung des Delikt(spektrum)s, wie „daß er sich des Stehlens und der Rauberey beflißen, und mit andern Diebes- und Räuber-Rotten zu denen er sich gehalten, dergleichen vielfältig ausgeübet“ 948 , wurde detailliert aufgeführt, welche einzelnen Taten das Urteil begründeten und jeweils mit Datum, Tatort, Tatumständen und Folgen belegt sowie häufig mit dem speziellen Seitenverweis, wo man in den Prozessakten die nähere Untersuchung der Tat nachlesen konnte. Strafverschärfende Aspekte wie Anzahl und Namen weiterer Komplizen, eine Bewaffnung, die Gewaltanwendung gegen Sachen und Menschen, die genauen Beutewerte und der Grad der Beteiligung des Verurteilten mussten hier möglichst genau eingebunden werden, weil sich dadurch erst die exakte Strafhöhe berechnete. Außerdem wurden an diese Tatdetails die potenziellen Milderungsgründe angeschlossen, die ein Verteidiger für den Inquisiten vorgebracht hatte, verbunden mit deren Einordnung aus Sicht der Schöffen. Bei einem Freispruch verkürzte sich das Dokument nicht signifikant, denn auch hier wurden die ursprünglichen Vorwürfe und Untersuchungspunkte im Detail wiedergegeben, aber jeweils in verneinter Form. 949 Anschließend an diese ausführliche Deliktauflistung wurde die angemessene Strafe angegeben. Das Urteil schloss „von Rechts wegen“ mit Beurkundung durch das Behördensiegel, mit der Datierung und der Benennung der Rechnungssumme für das Urteil, die in der Regel zwischen zwei und sieben Reichstalern betrug. In den vorliegenden Urteilen gegen die sächsischen Bandenräuber wurde kaum eines der kurfürstlichen Mandate, auf das sich ein Strafmaß stützte, aus- 946 L ÜCK , Carpzov, S. 111. 947 Vgl. B OEHM , Schöppenstuhl, S. 374-376. 948 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2, fol. 431v. 949 Vgl. den Freispruch Hans Philip Intermanns HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 51v-53r. <?page no="212"?> 213 drücklich angeführt oder zitiert. In einer Entscheidung über die Diebin Johanna Kühling für das Stadtgericht Leipzig vom April 1736 lautete zumindest die Begründung für die ausgesprochene Strangulierung, dass „der Inquisitin Antheil ein weit mehrers träget, als nach dem geschärfften Mandat wegen geschwinder exequirung deren Räuber und Diebe zu der TodesStraffe vor hinlänglich erklärt worden“, was die herausgehobene Bedeutung der besagten Verordnung vom 27. Juli 1719 in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erneut belegt. 950 Die Urteilstexte nannten auch Debatten und Meinungen aus der Rechtsdogmatik, wie sie beispielsweise in den Defensionen durchaus zur Verteidigung herangezogen wurden, nicht explizit. Aber bezüglich der strafmildernden oder -verschärfenden Aspekte wurde in den Urteilen keinerlei Raum für Zweifel gelassen, was ihre Bewertung anging. Juristische Einschätzungen, dass ein „Vorwand so wohl […] ihm nicht zu statten kommt, im übrigen, daß die […] gemelten Beraubungen würcklich alßo geschehen, gnugsame Gewißheit vorhanden, und Inquisiten allerseits schon dadurch das Leben verwircket, hingegen die andern ihnen beygemeßenen Verbrechen also nicht beschaffen, daß derenthalber sie eine schwere Strafe zu gewartten“ 951 , lassen die professionelle Sicherheit der Schöffen in der Materie auch ohne Nachweis einer höheren Referenz aufscheinen. Die Entscheidungsgründe orientierten sich eng am Inhalt der übersandten Gerichtsakten und am Verlauf des Inquisitionsprozesses. Daran wird deutlich, wie sehr die Aufzeichnungen aus den lokalen Gerichten das Schicksal von Inquisiten mitbestimmten, da vor allem die in die Akten eingegangene Bewertung vom Amt, Stadtgericht oder Patrimonialgericht das Bild des jeweiligen Delinquenten auch bei den Dicasterien prägte. Da a priori der direkte, persönliche Kontakt zwischen Beklagten und Entscheidern fehlte, war die von den Beamten und Advocaten bestimmte schriftliche Kommunikation an dieser letzten Prozessstation ausschlaggebend. Ähnlich sachlich wie in der Benennung der Entscheidungsgründe war zumeist auch der Wortlaut, wenn die Angeklagten genannt und dargestellt wurden. Die Urteile bezeichneten sie neutral mit ihrem Namen oder als ‚Inquisiten’ und verwendeten in den ihnen vorgeworfenen Tatbeschreibungen selten wertende oder gar emotionalisierende Adjektive und Attribute. Lediglich in der anfänglichen Kennzeichnung ihres Vergehens wurden sie gelegentlich mit „der im Lande herumschweifenden Diebsrotte“ 952 oder mit „allerseits berüchtigten Dieben, welche bey ihm aus und eingegangen […] auch sonst mit andern dergleichen bösen Buben“ 953 in Verbindung gebracht. Im Vergleich dazu nahmen Berichte der Lokalbehörden regelmäßiger Wertungen vor, wie „hierwider hat die 950 UB Albertina, Ms 2476, Nr. 42. Im 69. Urteil dieser Spruchsammlung wird außerdem auf die Artikel 171 und 173 der Peinlichen Halsgerichtsordnung verwiesen, um zu begründen, dass ein bestimmter Almosendiebstahl nicht als Kirchenraub zu bewerten sei. 951 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 23r. 952 Ebd., fol. 81r. 953 HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 195v-196r. <?page no="213"?> 214 vorbenannte Verbrecherin […] Gnade fußfälligst gesucht“ 954 . Nur in Ausnahmefällen machten Urteile wie das über Johann Gottfried Sahrberg pejorativ charakterisierende Angaben zur Persönlichkeit des Betroffenen, er habe „dennoch die Wahrheit vorsäzlich und boßhaffter Weise hinterhalten“ 955 . Auch die des Ehebruchs und der Beihilfe am Straßenraub verdächtige Anna Margaretha Path sollte „überhaupt ein liederliches und freches Weibsbild [sein], so im Lande herumgestrichen“, und unter Daumenschrauben verhört werden, weil eine vereidigte Zeugenaussage gegen die Frau vorlag. 956 Insgesamt hielten sich die Urteile stark an den Inhalt der Berichte und auch an deren Wortlaut. In der Korrespondenz über Einzelfälle fällt auf, dass gelegentlich ein Vergleich zweier Inquisiten, ihrer jeweiligen Mitschuld und ihrer Strafbehandlung dazu diente, eine Entscheidung zu rechtfertigen. Für die Beurteilung des Hans Christoph Kembder wurde 1716 der Vergleich mit Lips Tullian herangezogen. 957 In ähnlicher Vorgehensweise befindet der Bericht des Oberamtmanns Johann Wilhelm Traugott von Schönberg aus Bautzen 1784, dass „bey genauerer Erwägung der Acten, zwischen dem Verhältniß der Umstände, in welchen sich die Frenzelin, und in denen sich die Vogelin befunden, ein großer Unterschied“ bestehe, weshalb er eine Straferleichterung für Anna Elisabeth Frenzel empfiehlt. 958 Mit welchen Komplizen und vergleichbaren Tätern ein Inquisit vor Gericht stand, konnte demnach den Ausschlag für die Beurteilung geben. Welche Strafen verhängten die Urteile über Räuber? Zu beginnen ist dieser Überblick mit der Zwangsarbeit in Versorgungs- und Zuchtinstitutionen, die über Vaganten, Bettler und Zigeuner sowie über Inquisiten, für die sich kein vollständiger Beweis gefunden hatte, also als ‚poena extraordinaria’, ausgesprochen wurde. 959 Angesichts der harten Haftbedingungen bereits während der Untersuchung konnte es sein, dass die Überlieferung in ein Zucht- und Arbeitshaus 960 , wie es manches Urteil als gemildertes Strafmaß für einfache Diebe vorsah, keine prägnante Veränderung der physischen Verfassung eines Inquisiten bedeutete. 961 Entscheidender war daher die festgesetzte Strafdauer von wenigen Wochen über zwei oder vier Jahre bis hin zu lebenslang, die das Schicksal des 954 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 42r. 955 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 258v-259r. 956 UB Albertina, Ms 2476, Nr. 12. 957 HStA Dresden, 10025, Loc. 5515 I, unfoliiert. 958 Da die von ihm eingebrachte Abwandlung einer zweijährigen Zuchthausin eine zweimonatige Gefängnisstrafe aber bedeutet hätte, sich über das Urteil hinwegzusetzen und der Frau eine Strafmilderung einzuräumen, belässt es das Geheime Kabinett bei der ursprünglichen Überlieferung ins Zuchthaus Döbschütz, HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 39r-49r. 959 Vgl. S CHUCK , Arbeit; S CHLOSSER , Motive. 960 Zur Geschichte des Zuchthaus- und Gefängniswesens im Kurfürstentum Sachsen siehe vor allem die Arbeiten von Bretschneider, allen voran den Überblick zur Entwicklung in B RETSCHNEIDER , Verdrängung und D ERS ., Gesellschaft. 961 Vgl. L UDWIG , gefengnis; K LEINHEYER , Freiheitsstrafen. <?page no="214"?> 215 Verurteilten besiegelte. Eine nachträgliche Aufhebung eines ausdrücklich befristeten und bereits vollzogenen Urteils sind nicht dokumentiert. Die häufige Verhängung dieser Strafe in Verbindung mit der Tatsache, dass es sich hier meist um „kombinierte Institutionen“ 962 handelte, in denen außerdem Waisenkinder, Arme und Kranke aufbewahrt wurden, konfrontierte die dortigen Hausverwalter regelmäßig mit akuten Platznöten. Wiederholt äußerten sie in den Akten Beschwerden und Warnungen, dass die Kapazitäten der Zuchthäuser und Gefängnisse zu überlastet seien, um die Vielzahl an Vaganten und Züchtlingen dort sicher unterzubringen. 963 Zudem sollte bei der Verwahrung darauf geachtet werden, dass Personen, die sich kannten, miteinander verwandt oder verheiratet waren, in verschiedenen Einrichtungen untergebracht wurden, um das Risiko zu umgehen, dass diese ihr weiteres Agieren absprachen oder andere Hausinsassen zu einer Flucht überredeten. Zuchthausstrafe mit einer zeitlichen Beschränkung wurde in den vorliegenden Prozessen vorwiegend über Frauen und Jugendliche ausgesprochen, 964 für die ein höheres Strafmaß nur selten diskutiert wurde, sowie über ansässige vermeintliche Diebswirte, die nicht geständig waren. 965 Eine zeitweise Unterbringung in einem Zuchthaus musste noch nicht zwingend eine nachhaltige soziale Exklusion bedeuten. So konnte beispielsweise 1784 der 20-jährige Johann Gottfried Vogel trotz der Abweisung seiner Supplik immerhin nach Verbüßung eines achtwöchigen Gefängnisaufenthalts an seinen Wohnort zurückkehren - während seine Eltern mehrjährige Zuchthausstrafen ableisten mussten. Anders war der Fall natürlich gelegen, wenn eine Entlassung mit anschließender Landesverweisung verknüpft war, was den Verlust des Lebensunterhalts, des Wohnsitzes und damit der gesellschaftlichen Stellung besiegelte. Eine höhere Sanktion als die Arbeitsstrafe im Zuchthaus war die Zwangsarbeit im Festungsbau. 966 Dieses ‚opus publicum’ kam daher vorrangig für männliche Bandenräuber zur Anwendung, denen trotz eines Verdachts aus Mangel an Beweisen keine Beteiligung bei einem todesstrafenwürdigen Verbrechen zugeordnet werden konnte oder die von einer Gerichtsinstanz Strafmilderung erhalten hatten. Diese wurde in der Regel in Dresden abgeleistet, wo gerade in der Amtszeit des Premierministers Brühl die Festungsbauanlagen heillos überfüllt 962 Vgl. B RÄUER , Rat, S. 38; B RETSCHNEIDER , Fürsorge, S. 141; D ERS ., Menschen. 963 So besagt etwa der Hinweis des Bautzener Oberamtmanns von 1784, es stünde „zu besorgen, daß der Gefängniße Raum bald nicht mehr zureichend seyn dürfte“, wenn man alle verdächtigen Personen aufnehmen solle, HStA Dresden, 10025, Loc. 5825, fol. 280r. Zur Quantifizierung der Insassen des Waldheimer Zuchthauses im betreffenden Zeitraum vgl. B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 241- 251. Am Beispiel des Leipziger Georgenhauses zeigt die Überlastung auch K EVORKIAN , rise, S. 170. 964 Vgl. etwa die beiden Frauen im Prozess der „Frenzel-Bande“, HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, oder die drei Frauen in der „Geßel-Bande“, HStA Dresden, 10079, Loc. 12347. 965 So wurde beispielsweise das Ehepaar Stolle aus Hohnstädt mit Zuchthaus in Waldheim und Festungsbau bestraft, Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337. 966 Vgl. H ÄRTER , Sanktionen, S. 81-87; K ROLL , Soldaten, S. 310-324. <?page no="215"?> 216 waren. 967 Dort mussten die in verschiedene Klassen eingeteilten Delinquenten unter strengsten Bedingungen und mit knappster Versorgung schwere körperliche Arbeit verrichten, was in einigen Fällen dazu führte, dass der Häftling noch vor seiner Entlassung verstarb. Prinzipiell sollte dem Delinquenten in der Festungsbauarbeit eine Besserung und Resozialisierung nach Ableistung der Strafzeit eingeräumt werden. 968 Die drei bzw. zeitweise vier Festungsbauklassen korrespondierten mit der Schwere, die dem Verbrechen eines Delinquenten beigemessen wurde. So wurden die meisten der Räuber und Diebe als Festungsbaugefangene in die erste und zweite Klasse eingestuft. 969 Auf die Unterbringung in der vierten Klasse - ‚für besondere Fälle’ - lautete hingegen kein vorliegendes Urteil. 970 Auch aus dieser Haft- und Arbeitseinrichtung gelang Sträflingen mitunter die Flucht. Im Jahr 1745 waren beispielsweise 96 Festungsbaugefangene aus Dresden entwichen - darunter auch Räuber und Bandenmitglieder - nach denen mit Hilfe einer verschickten Personenliste in den kursächsischen Ämtern gefahndet wurde. 971 Um sich der Gefangenen in der Festungsbauhaft endgültig zu entledigen und zudem den Platzmangel auszugleichen, ordnete Kabinettsminister Heinrich Friedrich von Friesen (1681-1739) im Jahr 1737 die Überlieferung von 60 Häftlingen aus Dresden in den Galeerendienst nach Ungarn an. 972 Wie die Festungsbaustrafe ist die Einschmiedung und die Arbeit als Ruderknecht auf der Galeere oder auf Donauschiffen ebenfalls als Mischform von Körper- und Freiheitsstrafe zu verstehen. Unter den vorgeschlagenen Delinquenten befanden sich, wie ein speziell angefertigtes Verzeichnis ausweist, unter anderem noch ein Angehöriger der 1715 zerschlagenen Tullian-Bande und mehrere Mitglieder aus anderen Diebesbanden. Diese zählten zu den 46 Personen, die von insgesamt 175 Festungsgefangenen als „Hauptdiebe und Erzbösewichter“ 973 klassifiziert und nach Ungarn gebracht wurden. Eine spätere soziale Re-Inklusion dieser, hinsichtlich ihrer Verbrechen, Lebensweise und Führung begutachteten Sträflinge war damit endgültig verhindert - unabhängig von ihrem ursprünglichen 967 Vgl. B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 215 und S. 222-226; K ROLL , Soldaten, S. 313. 968 S CHUCK , Arbeit, S. 617-620. Schuck geht für seinen Untersuchungsbereich Bayern von relativ geringen Strafzeiten wie einigen Monaten aus, die sowohl über Männer als auch Frauen verhängt wurden, was sich für das Kurfürstentum Sachsen so beides nicht bestätigt. 969 Vgl. K ROLL , Soldaten, S. 315. 970 So waren von den im Jahr 1737 inhaftierten 175 Festungsbaugefangenen nur zwei in der vierten Klasse eingestuft, HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, fol. 40r. 971 Stadtarchiv Chemnitz, III VIIb 54, Bd. 1. Vgl. auch Kapitel 3.4 Wege in den Strafprozess. 972 HStA Dresden, 10025, Loc. 5546. Damit beschäftigt sich auch B RETSCHNEIDER , Gesellschaft, S. 223-226, der resümiert, dass die Galeerenstrafe für Kursachsen nur eine Episode darstellt, da die Überführung der Festungsbaugefangenen fehlgeschlagen war. Vgl. zur Bedeutung der Galeerenstrafe auch S CHUCK , Arbeit, S. 612-617 und allgemein S CHLOSSER , Strafe. 973 Darunter seien 89 Leute, über die sich nicht beklagt werden könne, die aber auch nichts lobenswertes an sich hätten, und die restlichen 40 seien diejenigen, die sich „wohl aufführten“, HStA Dresden, 10025, Loc. 5546, fol. 40r. <?page no="216"?> 217 Urteil. Eine spätere Überweisung von Räubern und Dieben auf die Galeere ist aus Sachsen nicht nachweisbar, da die Strafe im 18. Jahrhundert zunehmend überholt erschien. 974 Eine weitere Sanktionsart, die als ‚poena extraordinaria’ häufig zum Einsatz kam, war die Ausweisung aus dem Kurfürstentum, der die Körperstrafe mit dem Staupenschlag vorausging. 975 Die ‚Stäupung’ war eine öffentlich ausgeführte Auspeitschung mit Ruten, dem so genannten ‚Staupbesen’, und besaß ehrmindernde Funktion. 976 Dazu gehörte außerdem, dass die Betroffenen vor ihrer Bestrafung die ‚Urfehde’, also einen Eid ableisteten, mit dem sie dafür garantierten, sich an die Auflagen des Urteils zu halten und keine Rache an den am Gerichtsprozess beteiligten Personen zu nehmen. 977 Der Wortlaut dieses Schwures war vom Gericht vorgegeben und musste nur noch verlesen oder mit Unterschrift bestätigt werden. Das Urfehdenformular war auf die jeweilige Person und ihren religiösen und sozialen Hintergrund angepasst: So finden sich etwa spezielle Formulierungen für Juden, die angesichts der Einschränkung für Ansiedlung und Handel häufig von den Ausweisungen über die Stadt- und Landesgrenzen betroffen waren. 978 Denn diese Sanktion wurde besonders gegen fremde Vaganten und Nichtsesshafte praktiziert, gegen die außer ihrer mobilen Lebensweise und dem Mangel an Ausweispapieren kein Kriminalitätsverdacht vorlag. 979 Bettelmandate belegen, dass der Landesverweis mit oder ohne Körperstrafe die reguläre Maßnahme war, sich armer und vorwiegend fremder mobiler Randgruppen zu entledigen. Diese Absicht konnte - naheliegender Weise - nie vollständig realisiert werden, war doch eine Rückkehr in den meisten Fällen nur eine Frage der Zeit und das Problem somit schlicht zeitlich oder höchstens räumlich verschoben. 980 Daher wird in den Bettelmandaten die Möglichkeit vorweggenommen, dass ein Ausgewiesener mehrmals im Kurfürstentum angetroffen würde. Beim zweiten Aufgriff sollte die jeweilige Person nach dem Mandat von 1715 mit einer Festungsbau- oder Zuchthausstrafe bestraft werden. 981 Einheimische Bettler waren an ihren Heimatort zu bringen. Doch auch bis dahin ansässige Sachsen wurden nach einem Strafprozess mit Stäupung und Landesverweis belegt und verloren so 974 Vgl. V IEHÖFER , Kapitel. Diese Entwicklung hing auch allgemein mit der Ablösung der Galeere durch die Segelschiffe in der Seekriegsführung zusammen, S CHLOSSER , Strafe, S. 37. 975 Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Strafe; S CHWERHOFF , Vertreibung. 976 Vgl. Art. Staupenschlag, StaupBesen oder mit Ruthen aushauen, zur Staupe hauen. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 39, Sp. 1397-1398. Vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Anprangern; A MMERER , Strafen; S CHWERHOFF , Schande; S CHNABEL -S CHÜLE , Strafe, S. 76. 977 Vgl. zu Begriff, Entwicklung, Erscheinungsformen und Interpretationsmöglichkeiten der Urfehde B LAUERT , Urfehdewesen. Erkenntnisse aus kursächsischen Urfehden liefert auch D ERS ., Sühnen. 978 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 107r-108r. Zur Situation der Juden vgl. S CHÄBITZ , Juden. 979 Schnabel-Schüle, Strafe, S. 75. 980 Ebd., S. 78-80. 981 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1843-1854. <?page no="217"?> 218 ihren Wohnsitz, ihre Lebens- und Zugehörigkeitsgrundlage. 982 Vor allem, wenn der Verweis über die Grenzen mit einer entehrenden Strafe wie der Stäupung verknüpft war, wirkte er dauerhaft exkludierend. Die Brandmarkung mit einem Relegationszeichen findet sich in den bearbeiteten Fällen des 18. Jahrhunderts nicht. 983 War die Verbannung aus dem Territorium ohne einen stigmatisierenden Zusatz ausgesprochen worden, konnte sie reversibel sein, 984 womit eine Re- Inklusion in die Rechts- und Sozialgemeinschaft prinzipiell noch möglich war. Die Ausweisung wurde im Kurfürstentum Sachsen mit dem neunten Paragraphen des Reskripts vom 2. Dezember 1770 abgeschafft und fortan jeweils abgestuft durch eine zeitlich begrenzte Zuchthausstrafe ersetzt. 985 Delinquenten, die bis dahin mit dem ewigen Landesverweis samt vorhergehendem Staupenschlag belegt worden wären, erhielten von jetzt an eine Strafe von vier Jahren Zuchthausarbeit. 986 Daher wurden nach dieser Anweisung in der Praxis Verdächtige aus Diebstahls- und Räuberbandenprozessen nicht mehr des Landes verwiesen. An ihrem Beispiel vollzieht sich also der Paradigmenwechsel „von der Ausgrenzung zur Einsperrung“ 987 . Die in den Normen genannten Todesstrafen mit dem Schwert, dem Strang oder dem Rad und dem verschärfenden Element der anschließenden ‚Radlegung’ wurden in beachtlicher Zahl an den Verurteilten umgesetzt. Über 60 einzelne Todesurteile mit darauffolgenden Hinrichtungen von kursächsischen Bandenmitgliedern sind für den Untersuchungszeitraum überliefert, 16 von ihnen wurden gerädert. Die Räderung, die, wie oben ausgeführt wurde, erst 1710 als mögliches Strafmaß für Bandenmitglieder per Mandat eingeführt und 1762 nochmals vom Kurfürsten legitimiert worden war, 988 wurde also durchaus verhängt und auch praktiziert. Die Anteile der Bestrafungen mit Erhängen oder Enthaupten sind nur unwesentlich höher. Die entehrend, abschreckend, vergeltend, also general- und spezialpräventiv wirkende und nachhaltig exkludierende Strafe des Räderns fand offensichtlich bei den Spruchgremien und in der Praxis Anklang. Die auch mit anderen Methoden durchgeführten Hinrichtungen von Bandenräubern sprechen dafür, dass man in ihren Fällen nur selten Gnade wal- 982 Das sächsische Ehepaar Querfurth wehrt sich beispielsweise konsequent gegen eine bevorstehende Ausweisung durch Gnadenbitten und letztlich durch die Verweigerung der Urfehde, HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 73r-73v. 983 Allerdings griff man durchaus sächsische Vaganten mit älteren Relegationszeichen auf, so etwa den Vaganten Johann Gustav Freudenreich im Bericht vom 8. Januar 1753, HStA Dresden, 10079, Loc. 30392 I, unfoliiert. 984 S CHWERHOFF , Vertreibung, S. 58. 985 L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 419-426, § 9. 986 Der Staupenschlag wurde außerdem als eigenständige Strafform mit dem kurfürstlichen Reskript vom 5. Januar 1774 abgeschafft und durch ein zusätzliches Jahr Zuchthaus oder eine dort vorgenommene Prügelstrafe ersetzt, die man „Willkommen“ nannte, vgl. L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 337. 987 S CHWERHOFF , Vertreibung, S. 67. 988 L ÜNIG , Codex Augusteus, 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 403-404. <?page no="218"?> 219 ten ließ. Immerhin mindestens 20 weitere sächsische Inquisiten, über die ursprünglich eine ‚Lebensstrafe’ verhängt worden war, erhielten im Verlauf ihres Verfahrens ein niedrigeres Urteil. Einige Inquisiten verstarben noch in der Haft, bevor ihre Strafe feststand. Weitere konnten sich einem Urteilsvollzug durch Flucht entziehen. Dass die höchsten Strafmaße an Räubern nicht nur normativ angeordnet, sondern auch praktisch umgesetzt wurden, belegt, dass gerade bei diesem Delikt eine Warnung möglicher Nachahmer und ein Abschreckungseffekt bei der Bevölkerung erzeugt werden sollte. 989 Um die obrigkeitliche Kontrolle über das Strafrecht zu wahren, musste ein von den Dicasterien verfasstes Todesurteil vom Kurfürsten bestätigt werden, um rechtskräftig zu werden. Der Landesherr war die einzige Instanz, die dieses noch abmildern oder verschärfen konnte. Daher wurden die Dokumente vom Schöffenstuhl verschlossen und besiegelt zuerst an die höchste Instanz geschickt und erst von dort an das zuständige Amt oder lokale Gericht weitergegeben. Hatte sich am Inhalt des Urteils nichts verändert, so kam es darauf am Ort des Verfahrens zur ‚Hegung des Hochnothpeinlichen Halsgerichts’, die die Ergebnisse des Strafprozesses an die Öffentlichkeit brachte. 990 Die Vollstreckung sollte unmittelbar nach dem ‚Urteilsverspruch‘ erfolgen. So brachte zwar der Amtmann von Dresden bei der Hinrichtung von Johann Georg Haußwald und Johann Georg Gottleber durch den Strang einen in seinen Augen wichtigen Aufschubgrund damit vor, dass in der verbleibenden Zeit bis zum vorgegebenen Termin unter anderem ein städtischer Jahrmarkt stattfinde. 991 Diesem Bedenken wurde von dem Geheimen Konsilium allerdings widersprochen. Die baldige Ausführung ging aus Perspektive der Obrigkeit vor. Desgleichen wurden Kostengründe, die ein Magistrat gegen eine angeordnete Hinrichtung einbrachte, stets zurückgewiesen. Der Rat von Zörbig hatte 1778 gegen den Bau eines neuen Galgens für die Hinrichtung zweier Diebe argumentiert, dass dies „der ohnehin ganz verarmten Stadt vielen Aufwand verursachen werden“ würde. 992 Auch dieser Einwand wurde nicht akzeptiert. Der Inquisit wurde während des streng formalisierten peinlichen Halsgerichts oder des ‚endlichen Rechtstags’ dem Richter oder der mit (Stadt-)Richter und mehreren Schöffen besetzten Gerichtsbank öffentlich vorgeführt, ein weiteres Mal mit den detaillierten Vorwürfen explizit angeklagt und musste sein Geständnis freiwillig und öffentlich bestätigen. Daraufhin wurde ihm sein Urteil 989 Vgl. E VANS , Rituale, S. 81-82 uns S. 160. Evans bestätigt, dass die Hinrichtungen in der Phase der allmählichen Abkehr von der öffentlich vollzogenen Todesstrafe umso mehr theatralischen Schauwert für die Machtausübung des Staates erhielten. 990 Vgl. N OWOSADTKO , Hinrichtungsrituale; F RIEDRICH / N IEHAUS , Transparenz; V IEHÖFER , Kapitel; E VANS , Rituale, S. 98-111; van D ÜLMEN , Theater, S. 145-149. Zum Vergleich mit England siehe K RISCHER , Hinrichtungen. Einen anderen interessanten Gesichtspunkt zur Bewertung der Hinrichtung in der öffentlichen Meinung bietet S TUART , Suicide; den hier behandelten „Mord aus Lebensüberdruß“ beschreibt außerdem M ARTSCHUKAT , Töten, S. 85-90. 991 HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 203r-208r. 992 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 315v. <?page no="219"?> 220 verkündet und der Stab über ihn gebrochen. 993 Direkt nach der Hegung des Halsgerichts wurde die Hinrichtung vollzogen. 994 In einigen Fällen wurde die Richtstätte durch Milizen gesichert, um besonderen Vorkommnissen vorzubeugen. 995 Spätestens zu diesem Ende hin wurden in den Verlauf des Strafprozesses auch Geistliche eingebunden. 996 So begleiteten diese mitunter auch bereits die Eidleistung, beispielsweise beim Reinigungseid, der bei einem Freispruch zu schwören war. Nicht nur zur Bekehrung auf dem Weg zum Galgen, sondern auch als weiteres ‚inquisitorisches Mittel’ waren Priester von den Behörden eingesetzt worden, wenn sie während der Verhöre bereits anwesend waren und auf den Verdächtigen mit zusätzlichem psychologischen Druck einzuwirken versuchten, damit er gestehe. 997 In dieser ambivalenten Funktionalität nahmen sie eine Doppelrolle ein. Als seelischer Beistand war den zum Tode Verurteilten garantiert, dass Geistliche ihrer jeweiligen Konfession zu ihnen in die Verwahrung kamen, um mit ihnen das letzte Gebet zu sprechen. Es wurden außerdem von Priestern in ihren Kirchen „Vorbitten“ für die ‚Todgeweihten’ verlesen. 998 Geistliche begleiteten Verurteilte ebenfalls zur Richtstätte, wo die Hinrichtung unter ihren ständigen Gebeten vollzogen wurde. 999 Die vom Priester erteilte Absolution war für die meisten ‚Armen Sünder’, die der Todesstrafe entgegen sahen, ausgesprochen bedeutungsvoll. 1000 Doch war auch mit ihrer Beichte oder spätem Einlenken nicht gewährleistet, dass reuigen Straftätern nach der Hinrichtung und ihrer Ausstellung auf dem Rad oder am Galgen noch ein ordentliches Begräbnis gestattet wurde. 1001 In der überwiegenden Zahl der Fälle wurden die leblosen Körper der Delinquenten nach dieser abschreckenden Prozedur allenfalls unter dem Galgen verscharrt. Diese entehrende Praxis wurde auch mit vorzeitig verstorbenen Häftlingen vorgenommen. Es kam aber auch vor, dass die Leichname zuvor zur Sektion in der medizinischen Forschung freigegeben wurden: Johann Karrasecks Körper wurde 1809 zum anatomischen Theater des Dresdener Collegium medico-chirurgum 993 Vgl. die ausführlichen Protokolle über das Hochnothpeinliche Halsgericht von Johann Georg Voigt, Johann Jacob Rehmann und Johann Hermann Hahn in Leipzig am 3. Juni 1763, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X, fol. 134r-260r. 994 Vgl. B OEHM , Schöppenstuhl, S. 368. 995 Vgl. M ARTSCHUKAT , Töten, S. 42-43. 996 Vgl. ebd., S. 37-42; K ÄSTNER , Experten. 997 D ANKER , Räuberbanden, S. 159. Auch unter der Folter waren gelegentlich Geistliche anwesend, vgl. UB Albertina, Ms 2476, Nr. 78. 998 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, X, fol. 129r-132r. 999 Staatsarchiv Leipzig, 20009, Nr. 3571, fol. 45r-48r. 1000 Vgl. zur Einordnung des ‚Armen Sünders’ unter anderem van D ÜLMEN , Theater, S. 81-85 und E VANS , Rituale, S. 100. Siehe dazu außerdem das Kapitel 6.3.3 Der Reumütige. 1001 E VANS , Rituale, S. 121-134. <?page no="220"?> 221 gebracht. Später begrub man seine sterblichen Überreste auf dem Friedhof der Anatomie. 1002 Insgesamt wurde die Todesstrafe an Räubern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Kursachsen deutlich häufiger vollzogen als zum Ende hin: Die letzte Räderung fand am 18. September 1772 statt und bereits drei Jahre später die letzte Hinrichtung eines Bandenräubers überhaupt. 1003 Von der territorialen Gesetzgebung war offiziell keine Veränderung an den Strafmaßen speziell für Räuberbanden vorgenommen worden. Erst 1783 hatten ein weiteres kurfürstliches Generale, welches die Bestimmungen von 1770 weitgehend bestätigte, und besonders ein Reskript vom 27. Mai desselben Jahres die Verhängung der Todesstrafe über verschiedene Eigentumsdelikte offiziell eingeschränkt. 1004 „Wider diejenigen, so ein furtum qualificatum, nämlich einen Diebstahl mit einem oder mehreren Gehülfen, mittelst gewaltsamen Einbruchs oder Ueberfalls, begangen, oder bey dessen Ausübung Schieß- oder anderes Gewehr, oder solche Instrumente, mit welchen ein Todtschlag geschehen kann, bey sich geführet, oder an den Personen Gewaltthaten verübet haben“ sowie für Straßenräuber, Raubmörder und Kirchendiebe hielt man allerdings weiterhin an der Todesstrafe fest. Allein in der Praxis wurde sie an vermeintlichen Räuberbanden schon länger nicht mehr ausgeführt. In einem ähnlichen Grad, wie diese zunehmend überholten Sanktionsformen und auch der Landesverweis aus der Verfahrensrealität verschwanden, nahm die Verhängung der Festungsbau- und Zuchthausstrafe an Räubern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu. Für diese Entwicklung dürfte - in gewisser Analogie zur Folter - ein durch die beginnende Aufklärung beeinflusstes verändertes Strafrechtsverständnis mit verantwortlich gewesen sein, das sich in der Verfahrens- und Strafpraxis widerspiegelte. 1005 Zudem hatte sich die Bedeutung der Freiheitsstrafe in der Zwischenzeit gesteigert und auch die territorialen Strafanstalten boten die erforderlichen Kapazitäten. 1006 Die Daten über die vollzogenen Strafen bestätigen die von Härter formulierte Beobachtung, dass auswärtige Deviante anders oder schwerer bestraft worden seien als einheimische Diebe, nicht. 1007 Bei der genaueren Differenzierung der betroffenen Personen lässt sich allenfalls eine Verschonung von Frauen von der Todesstrafe attestieren, was unter anderem in Zusammenhang mit ihrem insgesamt niedrigen Anteil an den Bandendelinquenten stehen kann. Unter den Hingerichteten war niemand weiblich und auch die Festungsbauhaft blieb stets 1002 HStA Dresden, 10114 Collegium medico-chirurgum, Sanitätskorps Loc. 2086: Nachricht über die an das Theatrum anatomicum abgelieferten Cadaver in den Jahren von 1754-1817, Nr. 1825. 1003 Johann Peter Sturm, dem vier Morde und Raubtaten zur Last gelegt wurden, vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 57v-60r und HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 63r. Zur letzten Hinrichtung vgl. HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 203r-208r. 1004 L ÜNIG , Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, Teil 1, Sp. 463. 1005 Vgl. M ARTSCHUKAT , Töten, S. 58-82; E VANS , Rituale, S. 157-192. 1006 Zur Entwicklung der Freiheitsstrafe in Kursachsen vgl. allgemein B RETSCHNEIDER , Gesellschaft. 1007 Vgl. H ÄRTER , Sanktionen. <?page no="221"?> 222 den männlichen Inquisiten vorbehalten. 1008 Dagegen wurde über Frauen häufiger die zeitlich begrenzte Zuchthausarbeit ausgesprochen, wenn man in ihnen Vagantinnen oder Diebinnen sah. Zudem wurden sie in den Gruppenprozessen häufiger in die Freiheit entlassen als ihre männlichen Komplizen. 1009 Auch wenn die Obrigkeit die Gefahr einer Vorprägung durch die Familie erkannte, war im Kurfürstentum die Vorstellung einer ‚Sippenhaft’ oder ‚Sippenbestrafung’ unüblich. Margaretha Schmied wurde gegen Kaution aus der Haft entlassen, während ihr Ehemann Michael als Mitglied der Tullian-Bande einer langjährigen Festungsbaustrafe entgegensah. 1010 Ihr Schwager Jeremias Schmied, der sich ganze 17 Jahre lang durch Flucht den Behörden entziehen konnte, wurde ein vollkommen anderes Schicksal zu Teil als seinem Bruder Michael, der immer noch seine Arbeitsstrafe ableistete. Jeremias, der alle Vorwürfe auch unter der Folter beharrlich leugnete, wurde 1735 vollständig freigesprochen. Selbst ein Landesverweis blieb ihm, der mit seiner Frau ein Lehngut in Niederbobritzsch besaß, erspart. 1011 Für Kinder, deren Eltern von der Obrigkeit verurteilt worden waren, fand man eigens Lösungen, die ihrer Ausbildung dienen sollten und den Glauben an ihre Erziehbarkeit trotz ihrer vorbelasteten Herkunft belegen. So befürwortete der Amtmann von Mühlberg im Jahr 1800 eine Unterbringung der beiden Kinder Johann Gottlob Geßels in örtlichen Versorgungsanstalten: Die zwölfjährige Johanna Christiana Friederike und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Johann Carl Geßel kamen in die Fronveste, wurden dort schulisch und religiös ausgebildet und anschließend in ein Dienstverhältnis übergeben. 1012 Für die Kosten des Strafverfahrens hatten die Inquisiten und ihre Angehörigen nach der Bekanntgabe des Urteils aufzukommen - auch wenn dieses eigentlich einen Freispruch enthielt. 1013 Die Prozesskosten wuchsen in Abhängigkeit von den - oft langwierigen - Verfahren beträchtlich an. Dabei waren Posten wie die Gefangenentransporte, Botengänge und Fuhrlohn, eine Ein- und Ausschließgebühr für den Amtsfron, eine Bezahlung der beteiligten Schöffen und Gerichtsdiener oder das Kostgeld für die Gefangenen in Haft zu berücksichtigen. Dazu kamen Gebühren zwischen drei und sechs Reichstalern für das Urteil des Schöffenstuhls und je nachdem auch die Kosten, die durch den Vollzug der 1008 Martschukat hingegen kann unter Geräderten einen Frauenanteil von fast 50 Prozent angeben, weil 15 von insgesamt 33 der auf diese Art in Hamburg hingerichteten Personen weiblich waren, M ARTSCHUKAT , Töten, S. 25. Van Dülmen wiederum bezeichnet das Rädern als eine typische Männerstrafe, van D ÜLMEN , Theater, S. 109. 1009 Zum Beispiel war Margaretha Karraseck die einzige der Inquisiten, die mit „nur“ zwei Jahren Zuchthaus ein milderes Urteil erhielt, Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 592v-594v. 1010 HStA Dresden, 10024, 11399/ 3, fol. 387r-388r. 1011 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 3, fol. 113r-115v. 1012 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 51v-52v. 1013 Ein Beispiel ist Anton Goldberg, der laut Schöffenstuhlurteil die bei seiner Untersuchung entstandenen Gerichts- und Verteidigungsgebühren von insgesamt über 26 Reichstalern entrichten musste, obwohl wegen der Vorwürfe des Diebstahls gegen ihn „weiter nichts vorzunehmen“ war, Staatsfilialarchiv Bautzen, 50141, Nr. 1923, fol. 134r-134v. <?page no="222"?> 223 Folter angefallen waren. Unabhängig davon wollten gegebenenfalls Advocaten und Schreiber zusätzlich entlohnt werden. Dabei kam allerdings die Erstattung „ex officio“ zum Tragen, die auch mittellosen Delinquenten die Möglichkeit zur Verteidigung gewährleisten sollte. Der Prozess des erwähnten, freigesprochenen ‚Tullian-Komplizen’ Jeremias Schmied verursachte allein Unkosten von über 148 Reichstalern, für deren Entrichtung ihm ein Aufschub von vier Wochen eingeräumt wurde. 1014 Der Strafprozess zweier Ehepaare im Jahr 1766 kostete die Verurteilten bei einer Dauer von knapp anderthalb Jahren zusammen 139 Reichstaler. 1015 Die im Kurfürstentum nicht ansässigen Personen waren trotz der Versteigerung ihres Hab und Guts nicht in der Lage, die Gesamtsumme aufzubringen. Heikler entwickelte sich der Fall der so genannten Frenzel-Bande im Jahr 1784: Von den vollständigen Prozesskosten, die ganze 3.174 Reichstaler bemaßen und sich auf verschiedene Gerichtssitze verteilten, die an den Untersuchungen beteiligt waren, war ein stattlicher Betrag von 1.847 Talern offen geblieben. 1016 Angesichts dieser Dimensionen verwundert es nicht, dass die Behörden sich regelrechte Auseinandersetzungen darüber lieferten, wer vermeidbare Unkosten zu verantworten und letztlich aufzubringen hatte. Als Zwischenfazit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich die weitgehend formalisierten und anonymisierten Urteile vor allem des Leipziger Schöffenstuhls sehr eng an die in den Normen vorgegebenen Richtlinien und Strafmaße hielten. Ein Bild vom Inquisiten erlangten die Richter ausschließlich über die schriftlichen Akten aus den Prozessen, die ihre Bewertungen somit stark prägten, was für einen limitierten, aber beständigen Einfluss der Beamten vor Ort spricht. Die verschiedenen Sanktionen gegen Räuberbanden wurden nicht nur in den Mandaten des 18. Jahrhunderts proklamiert, sondern auch praktiziert, wie die für Mitglieder von ‚Rotten’ nach 1710 eingeführte Räderung, welche als höchst entehrende Hinrichtungsform bis 1772 beobachtet werden kann. In den Urteilstexten sind zwar keine direkten Verweise auf Straftheorie und -zwecke enthalten. Dennoch wird am Verlauf der Prozesse erkennbar, dass man sich spätestens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht nur von der Folter, sondern auch von Sanktionsarten wie der Landesverweisung, dem Staupenschlag und der übermäßigen Anwendung der Todesstrafe distanzierte. Die Arbeitsstrafe und der Freiheitsentzug ersetzten unter Friedrich August III. die Leib- und Lebensstrafen somit zusehends. Eine gesellschaftliche Re-Inklusion nach Ableistung der Strafdauer wurde für die betroffenen Delinquenten dadurch im Prinzip immer wahrscheinlicher. Für zahlreiche Verurteilte kam aber eine Wiedereingliederung wegen des sozialen Makels, der Ex-Häftlingen anhaften blieb, härtester Arbeitsbedingungen und der „lebenslang“ oder „bis auf weiteres“ formulierten Haftdauer auch dann nicht in Frage. 1014 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 3, fol. 119r-122r. 1015 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 115r-119v. 1016 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 93r-129r. <?page no="223"?> 224 5.4 Die Gnadenverfahren Grundsätzlich verfügte ein Inquisit im Verlauf des Prozesses über sehr eingeschränkte Strafmilderungs- und Verteidigungsmöglichkeiten. Dazu gehörte neben der Rückgabe oder Entschädigung des Gestohlenen die Mitarbeit am laufenden Verfahren als ‚Kronzeuge’ 1017 in Form der ‚Besagung’ anderer Personen, wodurch die so genannte Pardonregel griff. Gebräuchlicher waren aber die Abfassung einer Verteidigungsschrift durch einen Advocaten und die Einreichung einer Gnadenbitte, also einer Supplik. Diese Mittel wurden von den vermeintlichen Bandenräubern vor Gericht umfassend genutzt. Im Folgenden stehen diese beiden schriftlichen Verfahrensweisen im Zentrum. Sie sind im Vergleich zu den Verhörprotokollen ein geeigneteres Mittel, die Inquisiten selbst oder über den Umweg eines Schreibers zu Wort kommen zu lassen und ihre oft strategisch ausgerichteten Argumentationen in die Kommunikationsabläufe der Strafprozesse einzuordnen. Welche Themen die Inquisiten und ihre Verteidiger für nennenswert hielten, durch welche Argumente sie bei der Obrigkeit eine bestimmte Reaktion zu initiieren suchten und ob und womit sie letztlich erfolgreich waren, gibt im Ganzen einen Eindruck vom zeitgenössischen Herrschafts-, Gesellschafts- und Kriminalitätsverständnis. Die Defension oder „Schutzschrift“ war im Unterschied zur Supplik stärker in den formellen und zeitlich strukturierten Ablauf der Strafverfahren eingepasst. Die Schreibenden verbanden mit dieser schriftlichen Präsentation der Verteidigungsargumente das Ziel der Begnadigung, Strafmilderung oder der Verbesserung der momentanen Situation. Eine Verteidigungsschrift konnte sich entweder auf ein Zwischenurteil beziehen und darauf ausgerichtet sein, die Folter von dem Betroffenen abzuwenden, oder auf ein Endurteil, mit der Intention die erwartbare Strafe zu verringern. Innerhalb einer zwischen vier und acht Wochen festgelegten Frist wurde einem offiziell dazu befugten Advocaten Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt, um auf dieser Basis eine Abhandlung der „Entschuldigungsgründe“ für den Inquisiten zu verfassen. 1018 Auch war es möglich, nach dem zumeist durch den Leipziger Schöffenstuhl ergangenen ersten Urteil mit einer weiteren Defension um eine Neubewertung der Rechtsfrage zu bitten. 1019 Die erhoffte nochmalige Beurteilung der Sachlage wurde nur gewährt, wenn der Betroffene nachweisen konnte, dass sich neue Umstände und Indizien ergeben hatten, die in die erste Entscheidung nicht eingeflossen waren und die den Ausgang des Verfahrens maßgeblich ändern konnten. Das neue Urteil musste von einem anderen der vier zur Verfügung stehenden Spruchgremien ergehen als das erste. Das Appellationsgericht, das 1017 Dieser moderne Begriff findet sich in den Akten für den geständigen Aussagenden noch nicht. 1018 Vgl. dazu auch B OEHM , Schöppenstuhl, S. 341-342. 1019 L UDWIG , Herz, S. 67. <?page no="224"?> 225 ebenfalls in Leipzig seinen Sitz hatte, konnte in Angelegenheiten der Strafgerichtsbarkeit dagegen nicht angerufen werden. 1020 Dieses zeit- und kostenaufwändige Verteidigungsverfahren war eigentlich Angeklagten vorbehalten, bei denen eine Verringerung der ordentlichen Strafe überhaupt plausibel war. Daher musste in den vorliegenden Beispielen häufig schon für die Abfassung einer Schutzschrift eine offizielle Bewilligung eingeholt werden. 1021 Wenn einem Beklagten zwar eine Defension gewährt war, er aber die finanziellen Mittel zur Bezahlung des Advocaten nachweislich nicht aufbringen konnte, wurden dessen Aufwendungen ‚ex officio’ aus Mitteln der zuständigen lokalen Rechtsbehörde oder vom landesherrlichen Fiskus bezahlt. Neben der finanziellen Hürde war durch das kursächsische Räubermandat vom 27. Juli 1719 außerdem die Beschränkung eingeführt worden, dass entlarvten Bandendelinquenten, die man während einer Tat ertappt hatte, keine Möglichkeit zur schriftlichen Entlastung gegeben werden solle. Diese als eindeutig betrachteten Rechtsfälle sollten beschleunigt abgehandelt und die Urteile allein nach Abschluss der summarischen Verhöre „sonder Zulassung einer Defension“ gefällt werden. 1022 Beispiele für diese extrem verkürzten Strafprozesse gegen Räuberbanden finden sich jedoch nicht. Dagegen belegen die Gerichtsakten, dass zahlreichen als Diebe, Räuber und Helfer Beklagten während ihrer Inquisitionsprozesse eine Schutzschrift erlaubt und auch ermöglicht wurde. Etwa fünfzig dieser Schreiben sind aus dem Zeitraum zwischen 1703 und 1803 überliefert, die sich um die Schicksale sowohl von ‚Diebsparthierern’ als auch von ‚Erzspitzbuben’ drehten. Der Anspruch auf eine Defension wurde demnach auch den als Kapitalverbrechern eingestuften Räubern gewährt und scheint in der kursächsischen Rechtspraxis als bedeutsam eingeschätzt worden zu sein. Zwar war sie erst mit der Generalverordnung von 1770 ohne eine Differenzierung der Fälle auch normativ legitimiert worden. 1023 Aber bereits Benedict Carpzov hatte über 100 Jahre zuvor die Möglichkeit der Defension im Inquisitionsprozess als wichtig beurteilt, weil die Verteidigung für Mensch und Tier ein natürliches Recht darstelle. 1024 In seiner Abhandlung über den sächsischen „Inquisitions- und Achtsprozess“ legte er Wert darauf, dass nicht nur dem Inquisiten und seinem Advocaten, sondern auch der Familie des Beklagten oder im Bedarfsfall ‚ex officio’ die Defension prinzipiell gewährleistet werden müsse. Sie solle zwar erst nach den Verhören, aber je nachdem vor oder nach einem Urteil und bei neuen Umständen auch mehrmals gestattet sein. 1025 Im Zusammenhang damit wird in der Forschung darauf verwiesen, dass die Leipziger Schöffen den Angeklagten 1020 B LASCHKE , Appellationsgericht, S. 335. 1021 W ILDE , Zauberei- und Hexenprozesse, S. 42-44. 1022 L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1897-1900. 1023 Ebd., 1. Fortsetzung, Teil 2, Sp. 419-426. 1024 F ALK , Geschichte; D ERS ., torture, S. 735-738. 1025 C ARPZOV , Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtsprozess, Tit. IIX. <?page no="225"?> 226 häufig Schutzschriften gestatteten. 1026 Diese Beobachtung deckt sich mit den vorliegenden Ergebnissen für das 18. Jahrhundert ebenfalls. Eine Defension war an den Richter der ersten Instanz, somit an das Stadtgericht, den Amtmann, den Träger der Patrimonialgerichtsbarkeit oder an eine Kommission adressiert. Sie wurde mit einem Begleitschreiben eingereicht, das in den meisten Fällen von einem Juristen aufgesetzt worden war und die jeweilige Angelegenheit mit der Bitte um Weitersendung an die Landesregierung kurz umriss. Sowohl das Anschreiben als auch die Schutzschrift waren mit den üblichen und notwendigen Anredeformeln versehen. Häufig besaßen die Defensionen ein eigenes Deckblatt und umfassten durchaus 25 oder mehr Folioseiten. Demgegenüber stellen Suppliken die weniger reglementierte Methode dar, ein Anliegen in einem Rechtsverfahren bei der Obrigkeit vorzubringen. Die Supplikation, die in letzter Zeit vermehrt Gegenstand historischer Forschung geworden ist, 1027 gab es prinzipiell in unterschiedlichen Erscheinungsformen. 1028 Ihnen ist gemeinsam, dass die Untertanen durch diese Schreiben in einen Kommunikationsprozess mit den Herrschaftsinstitutionen eintraten. Dieses Rechtsmittel diente zum einen der Artikulation der eigenen Interessen und der Erzeugung von Aufmerksamkeit für eine bestimmte Problemlage. Für den Adressaten der Bittschrift war sie zum anderen ein Informationskanal bezüglich der Situation in seinem Herrschaftsbereich und zugleich eine Bestätigung des administrativen und rechtlichen Systems, das durch die aktive Anwendung implizit von den Untertanen gestützt wurde. 1029 Insofern kann die Supplik als eine Form der Justiznutzung bezeichnet werden. 1030 In den hier vorliegenden eingereichten Briefen an den Landesherrn ging es in erster Linie um das „Aushandeln von Sanktionen“ 1031 . Inquisiten und auch ihre Angehörigen richteten eine schriftliche Bitte um Begnadigung oder zumindest eine mildere Behandlung an den Kurfürsten. Diese war entweder eigenhändig oder durch einen engagierten Schreiber verfasst. Der Übermittler konnte außerdem der Beamte vor Ort sein, der das mündlich vorgetragene Anliegen verschriftlichte und an die Regierung versandte. 1026 F ALK , Geschichte, S. 412-413. 1027 Vgl. L UDWIG , Herz; R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis; N UBOLA / W ÜRGLER , Bittschriften; R UDOLPH , Regierungsart; H OLENSTEIN , Klagen; B LICKLE , Supplikationen; S CHWERHOFF , Supplikenwesen; G RIESEBNER , Strafjustiz; U LBRICHT , Supplikationen. Eine oft zitierte Grundlage bildet D AVIS , Kopf. Siehe auch den aktuellen Forschungsüberblick bei E IBACH , Gleichheit. Als aufschlussreichen Quelleneinblick in Bezug auf Räuber vgl. D OBRAS / G ÖBEL , Gnadengesuch. 1028 Zum Begriffsfeld Supplik vgl. R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, S. 84-94; B LICKLE , Supplikationen, S. 274-282. 1029 Vgl. R UDOLPH , Gnade; L UDWIG , Herz, S. 151-152. 1030 D INGES , Justiznutzungen; E IBACH , Recht, S. 107-108. Generell waren die Grenzen für Justiznutzung im Strafrecht enger gezogen als im Zivil- und Policeyrecht, S CHNABEL -S CHÜLE , Rechtssetzung, S. 299. 1031 H ÄRTER , Aushandeln, S. 246. <?page no="226"?> 227 Da der Zeitpunkt, zu dem die Supplik innerhalb des Verfahrens zum Einsatz kommen konnte, nicht obrigkeitlich vorgegeben und somit flexibler war als bei der Defension, liegen diese in größerer Zahl vor. Sie kamen etwa zu gleichen Anteilen von den Beklagten wie auch von deren Eltern, Ehegatten und Nachkommen. Schreiben, in denen sich Nachbarn, Familienmitglieder entfernteren Grades oder Personen, die nicht aus dem familiären Umfeld der Betroffenen stammten, initiativ für einen Inquisiten einsetzten, sind dagegen nicht belegt. Vereinzelt wurden aber den eigenen Suppliken ausgewählte Berichte von Entlastungszeugen beigefügt, die eine religiös und sozial integrierte Lebensweise schriftlich bestätigten. So sollte etwa ein ‚Gutachten’ des örtlichen Pfarrers aus Beutha Margaretha Lists gottesfürchtiges, redliches und tadelloses Verhalten nachweisen, um sie vom Verdacht des Mitwissens oder der Beteiligung an den Verbrechen ihres Ehemannes freizusprechen: „Demnach ich Endes Unterschriebener bin ersuchet worden wegen Margareten Listin, ein glaubwürdig Attestat zuertheilen, also habe ich solches nicht abschlagen können, und bezeuge daß Margareta Listin, so viel ich aus ihren euserlichen Leben und Wandel ersehen und erkant habe, fleißig zu Kirchen kommen, und Gottes Wort mit Andacht angehöret, darneben auch zu rechter Zeit in den Heiligen Beichtstuhl sich eingefunden, und das H[eilige] Abendmahl nebst anderen frommen Christen genoßen, Wie Sie denn auch ihre Kinder fleißig zum Gebeth und zur Schule gehalten, und mit ihren nachbarn friedlich und [schiedlich] gelebet […]“ 1032 Auf diese Weise versuchten Verdächtige, ihr soziales Kapital zu nutzen und nachzuweisen, dass sie in ein funktionsfähiges System horizontaler Sozialkontrolle eingebunden waren. 1033 Diese Leumundszeugnisse kamen allerdings selten vor. Stattdessen wurde auch auf Gutachten von Zuchthausverwaltern oder den zuständigen Geistlichen dieser Institutionen zurückgegriffen, um eine ‚gute Führung’ zu bestätigen. 1034 Den in Räuberbandenprozessen Beklagten fehlte es also oft an glaubwürdigen Zeugen, die ihre Lebensweise vor ihrer Inhaftierung bestätigen konnten oder noch bereit waren, eine entlastende Aussage für sie zu tätigen. Sie waren in den meisten Fällen auf sich gestellt oder ausschließlich auf ihre engsten Familienmitglieder angewiesen. Zu beobachten ist weiterhin, dass ein Supplikant mehrmals an den Kurfürsten schrieb, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen. Außerdem wurden in vielen Strafverfahren sowohl Defensionen als auch Suppliken verfasst, um die gegebenen Interaktionsmöglichkeiten bestmöglich auszunutzen. Als besonders 1032 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 425r. 1033 Begriff erstmals bei B OURDIEU , Kapital. Zu seiner Anwendung bezogen auf Suppliken vgl. R UDOLPH , Regierungsart, S. 300-303. 1034 Für beides gibt es Beispiele aus dem Prozess gegen Andreas Weßer und Johann Roßmann, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 419r, fol. 423r und fol. 429r. <?page no="227"?> 228 betriebsam in ihrem Bitten um Gnade erwiesen sich Johann Roßmann und Andreas Weßer in dem ab 1704 gegen sie geführten Strafprozess vor dem Stadtgericht Leipzig. Sie gaben insgesamt fünf Defensionen und mindestens zwölf Suppliken ab, wodurch neun einzelne (Zwischen-)Urteile veranlasst wurden. 1035 Diese Hartnäckigkeit, auf eine Begnadigung hinzuarbeiten, zahlte sich aus. Die Gnadenbitten waren meist in einem emotional anrührenderen und persönlicheren Stil verfasst als die Defensionen, die in jedem Fall aus der Hand eines ausgebildeten Juristen stammten. Im direkten Vergleich können Suppliken eher als eine Form der Selbstrepräsentation angesehen werden. 1036 Beispielsweise führten Christoph und Maria Magdalena Querfurth mit einer Metapher an, sie „armen Verlaßenen würmer [seien] aus Kindlicher Liebe gegen unsere Eltern angetrieben“, ihren Bittbrief aufzusetzen. 1037 Ganz eindeutig zielten diese Schreiben auf die Begnadigung. Ähnlich wie Defensionen waren Suppliken taktisch ausgerichtet, worüber sowohl beim Verfasser als auch beim Empfänger keine Zweifel bestanden. Diese zumeist eigenhändig geschriebenen Bittbriefe führten aber die Unterwürfigkeitsfloskeln in einer individuelleren Sprache aus und sie nutzten Verweise auf die alltägliche und familiäre Situation als Entlastungsargumente. Anna Regina Elisabeth Lau schrieb in ihrer Gnadenbitte für die Freilassung ihres Mannes aus dem Torgauer Zuchthaus, dass sie „in dem größten Elende habe schmachten müssen, weil meine Kinder, als mein Ehemann vor 13. Jahren eingezogen wurde zum Theil noch ganz klein und unerzogen waren, und ob nun gleich selbige erwachsen und brauchbare Menschen sind, so kann ich doch auf ihre Unterstützung eben nicht sonderlich rechnen“. 1038 Diese Einblicke in die Lebenswelt sind in der Stichhaltigkeit der angegebenen Daten zu hinterfragen, da sie zum Teil sehr überspitzt und dramatisch formuliert waren. Aber gänzlich fiktiv oder unrealistisch durften die Verteidigungsgründe aus dem familiären Umfeld ebenfalls nicht sein, mussten sie doch im Ernstfall einer Überprüfung vor Ort standhalten. Die Angaben in den Suppliken mussten - und das gilt in gleichem Maß für andere Selbstaussagen während der Strafprozesse -auch für die Untersuchungsbeamten plausibel und realitätsnah sein. 1039 Ein Beispiel für die Prüfung der Inhalte bietet der Fall der oberlausitzischen ‚Räuberlegende’ Karraseck. Die Aussagen, die Johann Karraseck über sein sesshaftes Leben in Wiesa gemacht hatte, wurden durch eine Anfrage an den dortigen Gerichtsherrn kontrolliert. Die Antwort des Johann Carl Gottlob von Nostitz und Jänckendorf besagte, dass Karraseck im Herbst 1798 zusammen mit seiner Frau Magdalena und einer gemeinsamen Tochter in Wiesa für 45 Reichstaler ein Bedienstetenhaus erworben hatte. Es wurde außerdem bestätigt, dass 1035 Vgl. R UDOLPH , Regierungsart. 1036 Vgl. U LBRICHT , Supplikationen. Siehe außerdem G ERSTENMAYER / T ATARINOV , Verhältnisse. 1037 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 56r. 1038 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 108v. 1039 Vgl. E IBACH , Kriminalitätsgeschichte, S. 710-711. <?page no="228"?> 229 der Inquisit sich in der Zeit bis zum Wiederverkauf des Häuschens nach etwa anderthalb Jahren unauffällig verhalten hatte. Er habe sich nichts zu Schulden kommen lassen und als Tischler gearbeitet, während seine Frau gesponnen und „Tagearbeit“ verrichtet habe. Auch wenn man zwar erfahren habe, dass er in Reichenbach wegen eines Diebstahls verhaftet worden sei, so wäre doch „in dieser Zeit wieder ihren Lebenswandel etwas nicht einzuwenden gewesen“. 1040 Aufschlüsse geben diese Dokumente nicht nur über den Umstand, dass Aussagen aus Verhören und Suppliken von den Behörden nachgeprüft wurden, sondern auch über eine Lebensweise, die vom Wechsel zwischen Sesshaftigkeit und Umherziehen, von Gelegenheitsarbeiten und Gelegenheitsdiebstählen geprägt war. Warum der vermeintliche ‚Räuberhauptmann’ aus dieser offenbar sicheren Existenz mit Wohnhaus, Familie und Verdienstmöglichkeiten wieder ausbrach, bleibt unklar. Die Suppliken umfassten deutlich weniger Seiten als die Defensionen und verbanden auf engerem Raum meist mehrere Themenfelder, indem sie individuell, strukturell und juristisch begründende Verteidigungsargumente miteinander kombinierten. Dagegen erörterten die Schutzschriften meist vorwiegend die rechtlich relevanten Entlastungsgründe in einem professionellen, sachlichen Stil mit einer erkennbaren Distanz vom persönlichen Schicksal des Inquisiten. Bei einem so anrührenden Thema wie den ‚Folterqualen’, die viele Suppliken stark emotional schilderten, führt der Advocat von Hans Georg Kupper lediglich aus, „so wird Inculpat in gegenwärtiger Defension kürtzlich zu deduciren haben, ob er […] zu Revocation seines so wohl an dem Orthe der Tortur gethanen, als auch der dritten Tages darauff vor Gerichte in güten wiederhohlten ausführl[ichen] Geständnüßes gegründete Uhrsache gehabt“. 1041 Die angekündigte ‚Deduktion’ beschränkt sich mehr oder weniger darauf, dass Kuppers Geständnis „unter denen zum andern mahle umbgeschlagenen, und nur ein wenig nachgelaßenen Schnüren, und also ex dolore et cruciatu corporis geschehen“ sei. 1042 Wo sich mitleiderregende Beschreibungen nahezu angeboten hätten, zogen die Advocaten und Defensoren vorwiegend lateinische Rechtsbegriffe heran und bewiesen so ihre Professionalität. 1043 Hier zeigen sich die Einflussmöglichkeiten von Advocaten, die die Defensionen und zum Teil auch die Suppliken verfasst hatten - auch wenn sich der vollständige Beitrag der Schreiber auf ihre Klienten und damit auf die Dokumente im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen lässt. 1044 Die Unterscheidung in ein juristisch anerkanntes, formales Rechtsmittel und in eine persönlich-individuelle Anrufung durch die Untertanen, die man trotz aller inhaltlichen Ähnlichkeit vornehmen kann, war sicher der Hauptgrund 1040 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 7, fol. 180r-185v. 1041 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 5, fol. 361v. 1042 Ebd., fol. 364v. 1043 Auch Lau bestätigt, dass der frühneuzeitliche Anwalt nicht nur dem Mandanten, sondern dem Gericht und dem juristischen Argument verpflichtet war, L AU , Rechtsanwalt, S. 75. 1044 Vgl. U LBRICH , Zeuginnen; R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, S. 148. <?page no="229"?> 230 dafür, dass die Wirksamkeit von Defensionen auch in den untersuchten Fällen höher einzuschätzen war als die der Suppliken. Die Beimessung einer größeren Effizienz der Schutzschriften wird auch daran erkennbar, dass so manche Supplik in erster Linie auf die Erlaubnis, Abfassung und Übernahme einer offiziellen Defension zielte. Diese Verteidigungsschrift eines Advocaten hätte sich aber erübrigt, wäre man von einer ebenso hohen Bedeutung und Wirkung der Supplik ausgegangen. So bezogen sich die Strafurteile in der Tat sehr häufig auf die vorgebrachten Argumente des Defensors und gingen auf dessen Einwände ein. 1045 Wenn auch die Suppliken nicht im gleichen Umfang und in der gleichen Regelmäßigkeit in den Entscheidungstexten zitiert wurden, so wäre es dennoch vorschnell, davon auszugehen, dass sie vollständig nutzlos gewesen seien. 1046 Als Ergänzung zu der Fallakte wurden sie von den Beamten und Richtern zumindest registriert. Manchen Inquisiten ermöglichten sie überhaupt erst eine Defension. Wäre eine Reaktion des Kurfürsten oder der Behörden auf diese Schreiben völlig ausgeblieben, hätte dies deren Logik und damit das rechtliche System, das dieses Rechtsmittel überhaupt erst einräumte und das auf der Einhaltung der Verfahrenswege gründete, untergraben. 1047 Als Voraussetzung für einen Erfolg mussten die Bittschreiber bestimmte Verhaltens- und Kommunikationsregeln einhalten. So waren die Schreiben meist mit Ausführungen versehen, die den Unschuldsbeweis jenseits von rein juristischen Begründungen unterstützen sollten. Die meisten Gnadenbitten nahmen explizit auf das Herrscherideal vom gerechten und gnädigen Kurfürsten, ihrem Empfänger, Bezug. 1048 Unterwürfig und unter ausdrücklicher Anerkennung der Herrschaftslegitimation begannen Inquisiten wie Andreas Kiesler ihre Schreiben mit Formeln wie „werffe mich armer in elenden BauFesseln liegender Sclave fußfälligst darnieder und seufze kläglich nach der gnädigsten Lossprechung“ 1049 . Die Supplikanten rekurrierten auf die Machtstellung des Landesherrn, der als oberster Gerichtsherr die letzte Entscheidungsstufe in den peinlichen Inquisitionsprozessen darstellte. Kombiniert wurde das Bild mit dem des wohltätigen „Landesvaters“, den man möglichst direkt adressierte. Die Akzeptanz des Adressaten als rechtliche, politische und moralische Instanz war dabei zentral. In annähernd jeder persönlich verfassten Supplik stößt man außerdem auf eine Ausführung, die das frühneuzeitliche Prinzip von Gabe und Gegengabe berücksichtigt, indem der Verfasser der Supplik als Ausgleich für die Gnade die 1045 Falk bestätigt die Bedeutung der Verteidigung im Inquisitionsprozess, vgl. F ALK , Geschichte. 1046 So äußert sich beispielsweise Griesebner, die mit Blick auf eine recht überschaubare Quellenbasis feststellt, es habe keinen Raum für Aushandlungsprozesse gegeben, G RIESEBNER , Strafjustiz. 1047 Rudolph, Gnade. 1048 Vgl. Ludwig, Herz, S. 174-182; Rudolph, Regierungsart, S. 276-280. 1049 HStA Dresden, 10025, Loc. 5675 II, fol. 137r. <?page no="230"?> 231 Fürsprache für den Mildtäter bei Gott anbietet. 1050 Der größte Anteil der Schreiben endet sinngemäß wie das von Hans Philipp Intermann: „Ich will durch fleißiges Gebeth den Höchsten erwegen, daß E[ure] HochFürstl[iche] Durchl[aucht] sothane Hohe Gnade, durch langes Leben, beglückte Regierung und sonst tausendfachen Seegen erwiedern soll.“ 1051 Das lebenslange Gebet für den gnädigen Herrscher - als beinahe einheitliche Abschlussformulierung der Suppliken - diente zum einen als Beweis für eine christlich-religiöse Erziehung und ein gottesfürchtiges Leben. Zum anderen sprach es für die Verinnerlichung der Auffassung, dass eine edle Tat im diesseitigen Dasein durch die Fürsprache des Beschenkten nach dem Tod mit dem ewigen Leben im Reich Gottes belohnt werde. 1052 Zu den gängigen Kommunikationsregeln gehörte auch, dass die meisten Schreiben Appelle an die Menschlichkeit und Gerechtigkeit enthielten, zu deren Sicherung der Landesherr und seine Behörden anerkannt wurden. Sie bestätigten die von Gott gegebene Ordnung, den dadurch legitimierten Kurfürsten und die göttlich gesetzte Rechtsordnung. Maria Magdalena Müller formulierte beispielhaft im August 1755: „O haben E[uer] Königl[iche] Maj[estät] nur aber doch die Allerhöchste Gnade und Barmherzigkeit, und schencken, so wie Gotte dem ganzen Menschlichen Geschlecht, wegen der Fürbitte unsers Erlösers, meinem obzwar ernstlichst zu bestraffenden Bruder, gleichwohl um meines allerunterthänigsten Flehens und Bittens willen, und seiner thränenden unschuldigen Kinder wegen, sein Bluth, sein Leben. Er ist doch ein Mensch, den Gott geschaffen, und der dem Sohn unsers Gottes ebenfalls sein Bluth gekostet hat.“ 1053 Regelmäßig deuten sich Verweise auf das Naturrecht an, indem ausgeführt wird, dass alle Menschen von Gott mit den gleichen Rechten ausgestattet worden seien. 1704 thematisierte beispielsweise die Gnadenbitte Andreas Weßers die Unmenschlichkeit der Folter, indem „er testantibus Actis dermaasen gemartert worden, daß es kein vieh, geschweige ein Mensch, ausstehen können, dahero auch derselbe sich von der unmenschlichen Pein zubefreyen alles Zugestehen 1050 Ähnlich zu zahlreichen anderen Schreibern, aber in einem individuellen Wortlaut beschließt beispielsweise Martha Roßmann einen Brief an den Kurfürsten: „Ich aber nebst meinen unerzogenen Kindern, werde vor solche hohe Königl. Gnade mit fleißigen Gebet umb alles hohe Königl. wohlergehe bey Gott zu erbitten nicht [er]müdent […]“, Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 426r. 1051 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 59v. 1052 Vgl. D AVIS , Gesellschaft, S. 27 und S. 150-157. Siehe hierzu auch L UDWIG , Herz, S. 211-213. 1053 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 122v. <?page no="231"?> 232 [...] wollen.“ 1054 Ähnlich führte Christoph Hüniger im darauffolgenden Jahr aus: „Ein Mensch nach Gottes Ebenbilde geschaffen muß doch nicht Wie ein Viehe gehalten werden,“ und wollte damit eine Verbesserung seiner Haftverhältnisse erreichen. 1055 Bei allen Verweisen auf die rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen war eine Grundvoraussetzung für den Erfolg einer Gnadenbitte oder Verteidigungsschrift, dass die Legitimation einer Strafe prinzipiell nicht in Frage gestellt werden durfte. „Demonstrative Rechtsakzeptanz“ war geboten. 1056 Zu deutlich geäußerte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Prozesses hätten dagegen die Herrschafts- und Rechtsordnung zu sehr angegriffen. Ein grundlegend kritisch formuliertes Schreiben wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Es ging in den auf das Strafmaß bezogenen Defensionen und Suppliken - wie das obige Zitat von Maria Magdalena Müller ausdrückt - eher um eine Aushandlung der konkreten Strafmittel als um eine Abwendung der Sanktion als Ganzes: Das Leben ihres Bruders solle erhalten werden, obwohl er durchaus eine ernste Bestrafung verdient habe. Diese Kommunikationsregeln, die man auch unter dem Begriff „kulturelles Kapital“ als Erfolgsfaktor für Gnadenbitten beschreiben kann, hatten die meisten Supplikanten Kursachsens anscheinend schon internalisiert. 1057 Waren die offiziellen und unausgesprochenen Voraussetzungen zur Anerkennung einer Supplik oder einer Defension erfüllt, so bestanden in Kursachsen reale Chancen, vom Landesherrn erhört zu werden. Die untersuchten Strafverfahren zeigen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Anzahl der an den Kurfürsten gerichteten Schreiben anwuchs und diese in vielen Fällen von Friedrich August III. positiv beantwortet wurden. Damit schien er seinem Beinamen „der Gerechte“ alle Ehre zu erweisen. Wie die genaue Darstellung der Argumentationsvorgänge und -themen im Folgenden belegen wird, stammten die Vorschläge zu einer Strafmilderung manchmal auch von den Regierungsbehörden und dabei vorwiegend von den Geheimen Räten, die auf dem Weg der Aktenversendung die Fälle ihrerseits eingeschätzt hatten. In manchen Beispielen war es erst der Kurfürst, der eine getroffene Entscheidung abänderte. Der letzte Kurfürst Sachsens war für eine gnädigere, mildere Strafrechtspolitik durchaus zu gewinnen. Wenn also in Bezug auf die Sanktionen bereits herausgestellt wurde, dass die Todesstrafen gegen Räuber und Diebe im Untersuchungszeitraum abnahmen, so lag das nicht zuletzt an der veränderten Begnadigungspolitik. Diese ‚Rechtsmittel’ und die auf sie erfolgten Reaktionen dienten somit insgesamt dazu, überholte Normen und Strafen zu umgehen und in der Rechtspraxis umzuformen. 1054 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 332v-333r. 1055 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 74v. 1056 R UDOLPH , Regierungsart, S. 303-309. 1057 Vgl. unter Rekurs auf den Begriff bei Bourdieu ebd., S. 295-299. <?page no="232"?> 233 5.5 Argumentationsmuster Die Entlastungs- und Gnadenbitten gingen mit Argumentationen einher, die sich aus einer Mischung von individuellen, strukturellen, gesellschaftlichen und vor allem rechtlich-justiziellen Gründen zusammensetzten. Diese tauchten nicht nur in den Schreiben, sondern auch in den Stellungnahmen dazu und in den weiteren Kommunikationszusammenhängen der Prozesse auf. Die Beklagten und die unterschiedlichen Amtsinhaber beriefen sich auf ähnliche Argumente, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Ihrer Entstehungssituation und ihren Zielen entsprechend bezogen sich Defensionen, Gutachten und Urteile stärker auf die rechtlichen Begründungen einer Strafe, während Verhörfragen und -aussagen sich zusätzlich auf das soziale Umfeld des Betroffenen richteten. In Kontexten, in denen eine Änderung des Strafmaßes gefordert oder diskutiert wurde, traten Argumentationen mit gesellschaftlichen Situationen wie Kriege und Krisen sowie individuell-persönlich geprägte Berichte und Beweggründe deutlicher hervor. Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Topoi, von denen die vier Hauptbereiche Recht, Armut, soziales Milieu und Person im Folgenden genauer untersucht werden, sich oftmals überschnitten oder eng miteinander verknüpft waren. 5.5.1 Juristische Argumente In der Gesamtsicht auf die Quellen besaß das Themenfeld um Rechtsgrundsätze, Strafmaßbestimmungen, Normvorstellungen, Gerechtigkeit und Verfahrensabläufe ein klares Übergewicht. Dazu zählen die an Strafnormen orientierten Verteidigungsargumente zu einem bestimmten Delikt, etwa das Alibi, ein geringer Beuteanteil oder der Verweis auf unzulässige Beweisführung und unglaubwürdige Belastungszeugen. Besonders wenn es sich um von ausgebildeten Juristen verfasste Dokumente handelte, nahmen die Rechtsgründe, die sich auf das konkrete Verfahren und die darin gemachten Anklagen bezogen, einen sehr großen Raum ein. Den Bittschriften der juristischen Laien entnimmt man bisweilen ebenfalls ein gewisses Maß an Vertrautheit mit den Inhalten der zeitgenössischen Rechtsvorschriften und den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. Auch darin wurde beispielsweise bei der Erläuterung eines strafmildernden Umstands auf die betreffende normative Klausel wie eine kursächsische Konstitution Bezug genommen. 1058 Zudem kann der Beleg über ein „frühzeitig“ und „freiwillig“ abgelegtes Geständnis auf ein Wissen über den Wortlaut der Normen hinweisen. Dies ist als ein Indiz dafür zu werten, dass die Supplikanten - zu einem 1058 Beispielsweise wird in einer Supplik explizit auf die „Const. Elect. 40 p. 4“ hingewiesen, nach der die Diebswirtschaft lediglich mit Staupenschlag zu bestrafen sei, HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 56v. <?page no="233"?> 234 gewissen Grad durch professionelle Unterstützung - über die Erwartungen des Adressaten informiert waren. 1059 Viele Inquisiten bewiesen sowohl in ihren Verhören als auch in ihren Gnadenbitten eine Kenntnis von der Abstufung der Strafmaße oder zumindest von den strafverschärfenden Aspekten. Dadurch ist zu erklären, dass sie gezielt damit argumentierten, im Vergleich zu anderen Tätern nur ein ‚kleines Rädchen’ gewesen zu sein. Manche sagten daher aus, dass die höchsten Beuteanteile gerade denjenigen Mittätern zu Gute gekommen seien, die noch flüchtig, bereits verstorben oder in den Augen der Beamten die ‚Anführer’ der Bande gewesen waren. Gleiches gilt für die Gewaltanwendung, die man weit von sich wies. Auch das bloße Tragen von Waffen, das nach den Gesetzen bereits ausreichte, um von einem gewaltsamen Diebstahl auszugehen, bestritten die Inquisiten. War aber bereits nachgewiesen, dass sie eine Pistole getragen hatten oder waren sie etwa bei ihrer Verhaftung bewaffnet gewesen, dann zielten die Argumentationen dahin, die Waffen lediglich zur Selbstverteidigung mitgeführt zu haben. Johann Jacob Rehmann hatte etwa 1756 seine Schusswaffe folgendermaßen erklärt: „Er habe niemahls nach einem Menschen geschoßen, und würde, wenn er sich auch in der Nothwendigkeit befunden hätte, solches zu thun, anders nicht als nach den Beinen geschoßen haben. Sie führeten die Pistohlen mit sich, theils durch einen Schreckschuß die Leuthe abzuhalten, theils um ihrer eigenen Cameraden willen, weile wenn Sie händel untereinander gehabt, welches öffters geschehen wäre, Sie gleich mit Gewehr aufeinander loßgiengen, und wer dergl[eiche] nicht hätte, allemahl unten[sic! ] liegen und leiden müßen.“ 1060 Von Johann Gottlob Müller und Johann Georg Schubarth wurde 1779 berichtet, dass sie bei ihrer Arretierung in Zörbig ein Gewehr, ein Messer, einen Bohrer und etwas Schrot sowie „einen abgebrochenen scharfen Säbel und einen großen Meißel“ bei sich gehabt hatten. 1061 Schubarth hatte das Einbruchswerkzeug eilig von sich geworfen. Außerdem wurden ihnen ein Pulverhorn und eine Pistole, die man in der Nähe aufgefunden hatte, zugeschrieben. Angesichts der erdrückenden Beweislast gestanden die beiden Verdächtigen die Beteiligung an mehreren Diebstählen. Sie pochten in ihrer Verteidigung darauf, die Waffen weder gebraucht noch die Absicht gehabt zu haben, diese gegen die Opfer anzuwenden. Schubarth habe damit wie auch Müller 1059 Es wird davon ausgegangen, dass die Untertanen im 18. Jahrhundert mit dem im Territorium gängigen Verfahren des Supplizierens vertraut waren. Dazu konnte nicht nur die lebensgeschichtlich bedingte Erfahrung oder die Unterstützung durch einen professionellen Schreiber oder Advocaten dienen, daneben entwickelte sich auch Ratgeberliteratur zu formalen Richtlinien, etwa in so genannten Briefstellern. Vgl. R UDOLPH , Regierungsart, S. 295-300. 1060 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 29v-30r. 1061 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 307v. <?page no="234"?> 235 „keine andere Absicht gehabt, als daß, wenn er bey Begehung derer Diebstähle unversehens angetroffen und arretirt werden sollte, er wider diejenigen, so ihn anzuhalten, die Flucht zu verwehren, und also ihm Wiederstand zu thun suchen wollten, sich vertheidigen, sie von sich abhalten und die Flucht ergreiffen wollen, niemals aber habe er den Vorsatz gehabt, Gewaltthätigkeiten damit auszuüben, oder jemanden zu tödten.“ 1062 Obwohl der Besitz der tödlichen Waffen bei einem Diebstahl für die Todesstrafe ausgereicht hätte, griff der Kurfürst selbst diese Begründung auf und stellte seinerseits fest, es sei unklar geblieben, ob Schubarth und Müller davon jemals „wirklich einen Gebrauch gemacht hätten“. Daher hob Friedrich August der Gerechte das Todesurteil gegen die beiden Männer auf und begnadigte sie zu lebenslangen Festungsbaustrafen. Sämtliche aufgrund ihrer Suppliken und Defensionen zuvor eingeholten Meinungen der Rechts- und Verwaltungsbehörden, darunter der Schöffenstuhl Leipzig und die Juristenfakultät Wittenberg, hatten sich eindeutig für die ordentliche Strafe ausgesprochen. Für sie war der Umstand der Bewaffnung ausschlaggebend gewesen. 1063 Friedrich August III. machte aber seinem Beinamen alle Ehre und zeigte sich gnädig. Es konnte sich demnach unter seiner Regierung auszahlen, hartnäckig auf Strafmilderung zu bestehen - selbst wenn die Verteidigungsgründe in den Normvorgaben nicht ihre wörtliche Entsprechung fanden. Ein weiteres Argumentationsmuster stützte sich auf die für Strafverfahren maßgeblichen Rechtsgründe, indem man feststellte, die Beschuldigung basiere auf unzureichenden Indizien und Zeugenaussagen. Gegenstände, die als Beute oder Hehlerware identifiziert wurden, habe man ehrlich erworben oder zumindest ohne zu wissen, dass diese gestohlen seien. 1064 Die Belastungszeugen, deren Aussagen einem Tatverdacht zugrunde lagen, seien entweder nicht glaubwürdig, hätten gelogen oder sich schlicht in ihrer Erinnerung getäuscht. 1065 Nicht nur der maßgebliche Zeuge wurde beschuldigt, er „redete solches nicht rechtschaffen“ 1066 . Auch die Opfer gerieten in den Fokus solcher Anschuldigungen, die der eigenen Entlastung dienen sollten: Die Brüder Oschatz berichteten in ihren Vernehmungen, die Spitzenhändlerin ‚Escherin’, die sie gemeinsam beraubt hatten, habe zuvor selbst Drohungen gegen dritte Personen ausgesprochen und markierten sie so als suspekt. Sogar ihr eigener Sohn hätte sie als „böse Frau“ 1062 Ebd., fol. 310r-310v. 1063 Ebd., fol. 309r-330v. 1064 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 16v-17v. 1065 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 58r-58v; HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 6r und fol. 14r. 1066 Ebd., fol. 4v. <?page no="235"?> 236 bezeichnet und - was noch schwerer wog - erzählt, sie betrüge den Landesherrn jährlich um 20 Reichstaler durch Hinterziehung der Akzise. 1067 Außerdem setzten die Verteidigungsgründe bei den Strafverfahren und den Verhören selbst an. Dazu gehören etwa die zahlreichen Klagen, es sei ausschließlich der Angst vor der Folter oder der körperlichen Peinigung zuzuschreiben, dass man vormals geständig gewesen sei. Darin ähnelten die Aussagen der Betroffenen auffallend der verbreiteten Ansicht der Aufklärer, die Folter sei gerade deswegen als Mittel der Wahrheitsfindung ungeeignet, weil unter der Tortur unschuldige Menschen zu Falschaussagen gebracht würden. In eine ähnliche Richtung zielten die Vorwürfe der Inquisiten, die Prozesse seien nicht ordnungsgemäß verlaufen, weil das Verhör zu hart durchgeführt oder man selbst nicht über die Foltergrade in Kenntnis gesetzt worden sei. Johann Karraseck verweist nach seiner Urteilsverkündung 1802 darauf, „daß er bey seiner Arretierung von dem DragonerCorporal Ott durch wiederholtes Schlagen zu diesem Geständniße gezwungen worden sey“. 1068 Hinsichtlich des langen Zeitraums, in dem die peinliche Befragung ein legitimes Mittel im Strafprozess dargestellt hatte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch nach der offiziellen Abschaffung 1770 an dem ein oder anderen örtlichen Gerichtssitz weiterhin physische Druckmittel angewendet wurden. Außerdem stellte sich Karraseck in seinem Verhör als Opfer der Justiz dar, indem er ausführte, er sei in Rumburg zu Unrecht vieler Diebstähle und Räubereien verdächtigt worden. 1069 Neben den Argumenten, die direkt auf den laufenden Prozess verwiesen, wurde auch eine ungerechtfertigte Verhaftung in der Vergangenheit für den späteren Lebensweg verantwortlich gemacht. Andreas Weßer hatte schon 1718 ausdrücklich auf die Ausweglosigkeit nach einer einmal vollzogenen Strafe hingewiesen, denn „er sey vormahls in Leipzig durch die Obrigkeit, da sie ihn 2. mahl unschuldiger weise setzen laßen und um alles gebracht, darzu gezwungen worden, daß er Stehlen müßen“. 1070 Angesprochen war damit der Verlust der Subsistenz und der Lebensperspektive, aber auch die soziale Stigmatisierung und Marginalisierung durch eine obrigkeitliche Sanktion. Eine vergleichbare Ausrichtung hatte der Argumentationsstrang, durch einen langen, harten und gegebenenfalls ungerechtfertigten Aufenthalt im Gefängnis seien der Ruf und die körperliche Unversehrtheit nachhaltig beschädigt und das Vergehen ausreichend gesühnt. Eine regelrechte Todesangst in der Haft beschreibt Christoph Hüniger: „Mein elender und erbärmlicher Zustand ist unbeschreiblich, auch so gar, daß ich letzlich gantz verderben und Hungers sterben muß, mann ängstiget, quälet, marttert und peiniget mich nicht allein unmenschlich, 1067 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 183r-183v. 1068 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 523, fol. 585v. 1069 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 5, fol. 160r. 1070 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2, fol. 416r. <?page no="236"?> 237 sondern läßet mich auch solche noth leiden, daß nicht wunder were, ich Verginge in meinem großen Elende […].“ 1071 In durchaus vielen Fällen ist dokumentiert, dass sich der physische Zustand eines Inhaftierten im Arrest sehr verschlechterte und ein Mediziner zu Rate gezogen werden musste. Die Betroffenen äußerten dabei gelegentlich Vorwürfe gegen Gerichtsdiener und Beamte. Hans Georg Kupper artikulierte in seiner - anscheinend ohne fremde Hilfe verfassten - Supplik am 17. Februar 1721 in eigenwilliger Schreibweise und Themenabfolge unterschiedliche Argumente, warum man ihn begnadigen solle: 1072 In der Hauptsache bezog er sich aber auf die außerordentlich schlechte Behandlung im Stockhaus, worunter er Schläge und Beleidigungen durch den Amtmann, große Kälte und unzureichende Bekleidung, Krankheit und Ungeziefer, Hunger und mangelhafte Versorgung mit Wasser und Brot rechnete, sowie die übermäßig harte Folterung, die er nicht durchgestanden hatte. Er meinte zudem, von schlechten Zeugen zu Unrecht beschuldigt worden zu sein, da die Spitzbuben sich an ihm, der vormals militärischer Reiter gewesen war, rächen wollten. Kupper erreichte damit immerhin die obrigkeitliche Erlaubnis einer professionellen Defension und die Freilassung seiner Frau aus dem Arrest. 1073 So wurden also nicht nur die Bedingungen in den Zuchthäusern und Strafanstalten bei den Landesbehörden als erbarmungswürdig dargestellt, die Supplikanten führten auch die Zustände während der Untersuchungshaft als Milderungsgründe an. Die Spruchgremien beantworteten diese Argumentation häufig mit der Feststellung, ein Inquisit habe durch sein Verhalten oder sein spätes Geständnis die Haftdauer selbst zu verantworten. Andererseits konnte die außergewöhnliche Länge oder Intensität der Untersuchungshaft eine spätere Strafe doch verkürzen. 1074 Es ist definitiv festzustellen, dass auf die Begründung einer Gnadenbitte mit einer übermäßig langen Untersuchungshaft stets eine Reaktion folgte - und in manchen Fällen eine positive. So ließ Friedrich August III. im März 1776 mit diesem Argument Gnade über zwei Diebe ergehen: Johann Andreas Hagenauer und Paul Burckhardt waren 1772 in Haft gekommen und nach einem langen Prozess in „zwey gleichförmigen“ Entscheidungen zum Tod durch das Schwert mit anschließender Radlegung verurteilt worden. Diesmal richtete sich der Kurfürst nach der - von der Meinung der Dicasterien abweichenden - Empfehlung des Geheimen Rates und wollte „aus verwaltender Milde, und nach dem so lange ohne ihr anscheinendes Verschulden erlittenem Gefängniße, beyde Inquisiten mit der zuerkannten Todes-Strafe verschonen“. Hagenauer, den „gefährlicheren“ der beiden, brachte man lebenslang in den Festungsbau, während 1071 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 74v-75r. 1072 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 5, fol. 333r-340v. 1073 Ebd., fol. 341r; 356r-357v. 1074 Vgl. K LEINHEYER , Untersuchungsrecht; D ERS ., Freiheitsstrafen; L UDWIG , Herz, S. 280. <?page no="237"?> 238 Burckhardt für vier Jahre ins Zuchthaus Zwickau kam, da man bei ihm noch auf eine Besserung des Lebenswandels hoffte. 1075 Wenig glaubwürdig und ebenso wenig aussichtsreich erschien dagegen das ‚Unternehmen’ des Johann Paul Prohnsca, der wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Diebesbande und der Beteiligung an einem Mord eigentlich 1767 beim Amt Freiburg zum Tod verurteilt, dann aber wegen Verfahrensmängeln nach Leipzig überliefert worden war. Der Häftling, der als boshaft und widerspenstig beschrieben wird, erstach in „seinem Behältniße“ einen Maurergesellen, der wegen Ausbesserungsarbeiten am Gemäuer dorthin gekommen war. Als Verteidigung und Erklärung für sein Verhalten führte Prohnsca unter anderem an, er habe nicht beabsichtigt, das Opfer zu töten, „sondern blos einmal vor Gerichte zu kommen, und sich über seine Behandlung im Zuchthauße zu beschweren“. 1076 Diese Begründung und die außerdem angeführte Haftdauer von über zehn Jahren hatten angesichts der Grausamkeit seines Verbrechens keine Aussicht auf Gehör beim Kurfürsten, der das Urteil der Enthauptung mit Radlegung bestätigte. 1077 Wenn sie sich auf gerechte Herrschafts-, Rechts- und Sanktionspraxis und dabei auch auf das Naturrecht beriefen, hatten die Argumentationen zugleich einen inneren Bezug zu den Strafrechtsdiskursen der Zeit. Explizite Hinweise darauf, dass die Menschen vor Gericht um reformerische Entwicklungen im Strafrecht zum Ende des 18. Jahrhunderts hin wussten, finden sich dabei allerdings nicht. Die Referenzen aus dem Recht und der Justiz, auf die die Schreiber verwiesen, bezogen sich dagegen auf tradiertes Wissen und etablierte Richtlinien, die sie aus früheren Prozessen oder durch öffentlich bekannt gegebene Normen und Mandate kannten. 1078 In Urteilen wurde am ehesten auf Verteidigungsgründe Bezug genommen, die auf Normen und Normvorstellungen basierten. Da die Argumentationen mit geltenden Recht die gleiche Sprache nutzten wie juristische Gutachten und obrigkeitliche Stellungnahmen, waren deren Erfolgsaussichten im direkten Vergleich am größten. 5.5.2 Ökonomie und Armut Vor allem in den Suppliken und Defensionen waren kurze Ausführungen über die eigene finanzielle Situation verbreitet. 1079 Das konnten zum einen Schwierig- 1075 HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 307r-307v. 1076 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 27r-28v. 1077 Ebd., fol. 49r. 1078 Vgl. dazu S CHEUTZ , Mahnung. 1079 Vgl. R EHSE , Supplikations- und Gnadenpraxis, S. 359-362. <?page no="238"?> 239 keiten bei der individuellen Existenzsicherung sein und zum anderen Krisen, Kriege und Notlagen, von denen das gesamte Territorium betroffen war. 1080 Strukturschwächen im Kurfürstentum wurden dabei vorwiegend in der Zeit der großen Hungersnot genannt, die 1771 und 1772 die Region in Mitleidenschaft gezogen hatte. Mehrere Mitglieder einer Bande versuchten 1774 ihre gemeinsamen Taten unter anderem damit zu erklären, „daß ihn die Hungers- Noth, sein Weib und 3. unerzogene Kinder zum Stehlen bewogen“ oder „daß ihn die theuer Zeit, eine langwierige Kranckheit und der Mangel an Arbeit, zu welcher er ohnehin, wegen seiner lahmen Hand nicht recht tüchtig sey, zum stehlen bewogen habe“. 1081 In der Beurteilung der sechs Täter erschien dieses Argument zunächst unerheblich. Von zwei Spruchgremien nacheinander wurden sie alle zum Tod verurteilt. Der Geheime Rat legte dem Kurfürsten in seiner Einschätzung des Falles indessen nahe, diejenigen härter zu bestrafen, die während der Einbrüche gefährliche Waffen mit sich getragen hatten. Daran orientiert belegte Friedrich August III. am 28. Januar 1775 die beiden Haupttäter Hauswald und Gottleber mit der Strafe des Stranges und ihre Komplizen Jäger, Jäckert, Winckler und Ziegenbalck mit Festungsbaustrafe, obgleich auch Hauswald die Hungersnot angeführt hatte. Ihre vorgebliche Armut mag für die Strafmilde gegen die vier Mittäter einen zusätzlichen Ausschlag gegeben haben. Die obrigkeitliche Überlieferung nennt diese Begründung allerdings nicht, sondern stellt ihren insgesamt geringeren Anteil an den Verbrechen in den Vordergrund. Für die kurfürstliche Begnadigung Paul Burckhardts im darauffolgenden Jahr war die lange Haftdauer und seine erkennbare Besserungsfähigkeit zwar ursächlich, es deutet sich aber an, dass die Krisensituation, während der ein ausschlaggebender Diebstahl stattgefunden hatte, unterstützend wirkte. Weil Burckhardt selbst keine Gewalt angewendet hatte, war es dem Geheimen Rat in seinem Bericht möglich, für den Inquisiten unter anderem das Entlastungsargument heranzuziehen, „daß der Tischendorfische Diebstal der allererste und alleinige in seinem ganzen Leben sey, worzu er sich zur Zeit der im Lande vorgewesenen größten Hungers-Noth verleiten laßen“. 1082 Ob allgemeine Armut von den Spruchgremien oder dem Kurfürsten als zusätzlicher Milderungsgrund anerkannt wurde, blieb somit abhängig von der Beurteilung der vollständigen Tatumstände. Das zeigt auch das Todesurteil gegen Joseph Ihlen, der mehrere Straßenraubüberfälle gestanden hatte. Obwohl der Inquisit zwei Defensionen eingereicht hatte, in denen er unter anderem erklärte, dass seine Taten keine willentliche Entscheidung gewesen, sondern aus einer großen Not heraus geschehen seien, wurde er 1772 im Amt Lauterstein 1080 Damit sind zwei der insgesamt drei Ursachenfelder der Armut enthalten, wie sie die Forschung formuliert. Vgl. B RÄUER , Art. Armut, Sp. 667 oder J ÜTTE , Arme, S. 28-57. Natürliche Ursachen für Armut werden in den vorliegenden Quellen nicht als Argument herangezogen. 1081 Vgl. im Folgenden HStA Dresden, 10025, Loc. 5710b, fol. 88r-145r. 1082 Ebd., fol. 249r-260r. <?page no="239"?> 240 hingerichtet. 1083 Deutlicher wird die unterschiedliche Wertung der Verteidigungsargumente ein Jahr später im Prozess um Johann Gottfried Mercker und Martin Kölling, die sich für einen vorsätzlichen Raubmord an einem Schäfer in ihrer Defension mit Hunger und Armut zu rechtfertigen suchten. Es erweckt den Eindruck, als sei dies erst eine Idee des Defensors gewesen, weil er sich angesichts der gesellschaftlichen Situation eine gesteigerte Wirksamkeit versprach oder diesbezüglich auf Erfahrungswerte baute. In den Berichten über die Urteile des Schöffenstuhls Leipzig und der Wittenberger Juristenfakultät kommt zum Ausdruck, dass es durchaus möglich war, Diebstähle von Verbrauchsgütern mit der großen Hungersnot und Teuerung zu entschuldigen. Wenn aber dort festgehalten wurde, „daß nach denen peinlichen Rechten die angeführte Hungers- Noth Inquisiten zwar wieder ein Furtum rerum consumtibilium, obschon nicht wieder einem Todtschlag einigermaaßen zu statten kommen würde“, 1084 so wird deutlich, dass man den Mord an einem Diebstahlsopfer damit allerdings keineswegs begründen konnte. Kölling und Mercker wurden daher im Amt Torgau als Raubmörder gerädert. Der Siebenjährige Krieg findet sich als besondere Notlage ausschließlich im Schreiben Johann Gottlob Vogels wieder, der 1784 mehrere Diebstähle damit erklärte, dass er dazu verleitet und „durch Mangel und Noth bey dermaligen Krieges Drangsalen […], auch bis aufs Hemde total ausgeplündert, gedrungen worden“ sei. 1085 Nach Bewertung des Bautzener Oberamtmanns war die erlittene Ausplünderung aber insofern unerheblich, als er Vogel überhaupt für einen nicht rechtschaffenen Menschen hielt und dessen Überweisung in ein Zuchthaus prinzipiell befürwortete. 1086 Außer den extremsten Ausprägungen von Versorgungskrisen wurden auch Strukturschwächen wie Arbeitsplatzmangel als Erklärungen für den eigenen prekären oder devianten Lebensweg herangezogen. Das dokumentieren beispielhaft Verhöre mit den bei Visitationen 1752 und 1753 aufgegriffenen Nichtsesshaften, die ihre Biografien meist als von äußeren Faktoren Getriebene schilderten. 1087 Johann Andreas Backhaus, ein 32-jähriger Konditor aus Gotha, beschrieb seine Schwierigkeiten, in Dresden und Wien in Dienste zu kommen und wie „er sodann seinen Weg nach Regenspurg und Nürnberg auch andrer Orte mehr genommen, nirgends aber wäre vor ihm etwas zu thun gewesen“. 1088 Als er zusätzlich krank wurde, war er zum Verkauf seines Besitzes samt seiner 1083 Staatsarchiv Chemnitz, 30012, Nr. 139. 1084 HStA Dresden, 10025, Loc. 5710, fol. 229r-275v. 1085 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 7r. In den weiteren Schreiben dient das Thema ‚Krieg’ allgemein lediglich als Zeitangabe oder als Hinweis auf militärische Dienste oder eine Desertion innerhalb biografischer Beschreibungen. Als Begründung einer territorialen Krise ist das Thema Krieg hier absolut zweitrangig. 1086 Ebd., fol. 21r-25v. 1087 Vgl. die zahlreichen Verhörberichte mit und Gnadenbitten von Vaganten in dem oberlausitzischen Aktenkonvolut von HStA Dresden, 10025, Loc. 5825 bis HStA Dresden, 10025, Loc. 6088. 1088 Registratur vom 29. Dezember 1752, HStA Dresden, 10079, Loc. 30392 I, unfoliiert. <?page no="240"?> 241 Kleidung gezwungen. Unter diesen Voraussetzungen sei ihm eine Anstellung kaum noch möglich gewesen, sodass er auf das Betteln angewiesen sei. Der junge Johann Gottlieb Geude, der sich ihm auf der Straße angeschlossen hatte, berichtete, dass er verwaist keine Arbeit als Hirte hatte finden können. Da ein Beschäftigungsverhältnis aber die Bedingung war, an einem „Orte ankommen [zu] können“, sah er keinen anderen Ausweg als das Vagieren. Prinzipiell verwiesen die Betroffenen häufiger auf ihre individuelle als auf strukturelle Notlagen, um ihre Situation oder ihr Verhalten zu rechtfertigen. Der Hinweis, man habe aus Armut gehandelt oder man sehe dieser entgegen, wenn man bestraft würde, findet sich als Ergänzung in zahlreichen Verhören, Suppliken und Defensionen. So gab Margaretha Mutscher 1756 einen Kleiderdiebstahl im Wert von drei Reichstalern zu, erklärte aber, dass sie „die vor sich und ihre 6. unerzogenen Kinder benöthigte Kleidung [...] zu erzeigen ausser Stande, und deßhalb gleichsahm genothdränget gewesen“. 1089 Ihre Gründe wurden als gültige Verteidigung anerkannt und ihre Akte zur erneuten Beurteilung an ein anderes Dicasterium geschickt. Der angebliche „Rädelsführer“ einer Diebesbande, Johann Gottlob Geßel, führte 1802 neben den Hinweisen auf die partielle Restitution des Gestohlenen, auf seinen 18 Jahre währenden Dienst als Soldat und auf seine langwierige Haft in seiner Defension als Milderungsgrund an, dass ihn die Armut zu seinen Taten genötigt habe. Aus den Entscheidungsgründen der Wittenberger Juristenfakultät ging eindeutig hervor, dass diese Argumente angesichts seiner insgesamt 16, zum Teil großen, gewaltsamen und gemeinschaftlichen Diebstähle keine Schlagkraft hatten. Mit dem Hinweis, dass diese nicht zu den Gründen gehörten, „an welche ein Richter gebunden“ wäre und dass der Defensor Geßels dadurch „eine große Unkunde in der CriminalRechtswißenschaft verrathen“ habe, hielt sie sich an das ergangene Todesurteil der Leipziger Schöffen. 1090 Obwohl die Situation des Inquisiten an dieser Stelle schon aussichtlos erschien, wendete sich für ihn noch das Blatt: Die Landesregierung bestätigte zwar dem Kurfürsten in ihrem „ohnvorgreifflichen Gutachten“ zum Fall, dass Armut bei einem Kapitalverbrechen kein Milderungsgrund sei. Uneinigkeit herrschte allerdings bei der Abstimmung der Landesregierung über den Umstand, ob Geßel härter zu bestrafen sei als seine Komplizen, die im Gegensatz zu ihm hartnäckig geleugnet hatten. Eine Ungleichheit im Bestrafen würde „auf das Publicum einen nachtheiligen Eindruck machen“. 1091 Daher begnadigte Friedrich August III. sogar diesen geständigen, ursprünglich als ‚Anführer’ genannten Geßel zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe in Zwickau. 1092 Den Zusammenhang zwischen einer (erzwungenen) Nichtsesshaftigkeit, der damit verknüpften Armut und einer devianten oder kriminellen Lebensweise 1089 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 183v-184r. 1090 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 80v-81r. 1091 Ebd., fol. 85r-98v. 1092 Ebd., fol. 99r. <?page no="241"?> 242 stellten auch Inquisiten in ihren Einwänden gegen die Bestrafung mit dem Landesverweis her. Supplikanten setzten die Ausweisung mit Armut gleich und stellten diese Strafe als letzten Schritt in die Ausweglosigkeit dar. In vielen Fällen mag diese zwangsläufige Abfolge tatsächlich zu beobachten gewesen sein - das suggerieren jedenfalls die biografischen Berichte vor Gericht. Regelrecht wie eine Drohung mutet es an, wenn das Ehepaar Querfurth sich gegen eine Ausweisung zur Wehr setzt: „den[n] wen[n] ich mit Staupenschlägen, und Wir beyderseits als junge leüte, bey welchen beßerung ihres Lebens zu hoffen, des Landes ewig verwiesen werden sollten, könnte es leicht geschehen, daß der erlittenen schande wegen ich und mein Schwanger Eheweib, unsern unerzogenen Kindern zum höchsten Schaden, Gott verhüte es! auff desperate gedancken gerathen könten“ 1093 Der drohende Ehrverlust durch eine Ausweisung wurde wie hier vielfach als Entzug der Lebensgrundlage und damit als Einstieg oder Perpetuierung einer Armutssituation angesehen. Es liegt nahe, dass diese Kausalitäten ebenfalls gegen Ehrenstrafen ins Feld geführt wurden. Ähnlich argumentierte man in den Suppliken gegen die Haftstrafen für sich oder Familienmitglieder. Durch die Bestrafung des Mannes würde nicht nur der Ruf der gesamten Familie geschädigt, auch seien durch den Wegfall des Ernährers die Nachkommen und Verwandten in ihrer Existenz bedoht. Die Beiträge von Frauen und Kindern wurden zwar zum gesamten Einkommen des Haushalts gezählt, in der zentralen Rolle des Versorgers stand aber zweifellos der Ehemann und Vater. Gerade in den Formulierungen von Frauen wird fast gleichförmig die Entlassung des Mannes gefordert, wie in dem Schreiben von Anna Regina Lau: „[...] auch mich dermahln nebst meinen Kindern in den elendesten Umständen befinde, und ohne Beyhülfe und Unterstützung meines Ehemannes, fernerhin zu subsistiren mich ganz außer Stande befinde.“ 1094 Es belaste nicht nur die finanzielle Lage der Familie und des unmittelbaren sozialen Umfelds, wenn der Ernährer eines Haushalts fehle - die Gnadenbitten rekurrierten ebenfalls auf die Lage der territorialen Ökonomie, die sich durch zerbrochene Familien verschlechtere. Die beiden Brüder Hans und Martin Mutscher argumentierten in ihrer Defension gegen ein Urteil, das ihnen die Folter ankündigte, sie wären als Bauern danach nicht mehr im Stande, mit ihren Händen schwere Arbeiten zu verrichten. Die Verletzungen durch die Daumenschrauben und Schnüre und der damit verbundene Ausfall hätten zur Folge, dass ihnen und ihren Angehörigen „ihre Nahrungen vollends ruiniret, die Landesherrlichen und andere Onera [=Lasten, C.G.] rückständig verbleiben, und 1093 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 85v. 1094 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 102r-103r. <?page no="242"?> 243 ihre vielen kleinen unerzogenen Kinder der Commun zur unnachbleiblichen Last ratione alimentationis necessariae werden müßen“. 1095 Der eigene Anteil an einer florierenden kursächsischen Wirtschaft, den man in Freiheit zu leisten im Stande sei, wurde bisweilen noch deutlicher hervorgehoben. Die Schreiber solcher Suppliken versprachen sich hierdurch besseres Gehör für ihre Gnadensache, da die glaubwürdige Ankündigung eines produktiven Beitrags zur Blüte der Ökonomie im 18. Jahrhundert mitunter nachhaltiger wirkte als ein nur persönlich oder moralisch appellierender Bittbrief. Diese Absicht liegt wohl den Suppliken Gottfried Seyferts zugrunde, der als ansässiger Bürger für seinen im Handel tätigen Sohn Salomon Friedrich Gnade forderte: „Kein Mensche wird hinfüro meinen jüngsten Sohne, wenn die Inquisition wieder ihn verführet werden solte, ein Stücke Waare mehr borgen [...]. Hierdurch nun verliehrt mein Sohn nicht alle [...] seinen Credit, sondern auch sein Vermögen, er wird in die Verfaßung gesetzt den Handel völlig liegen zu laßen, wovon er dem hohen Königl[ichen] Interesse durch die Accise und richtige Abführung Steuern und Gaben jährlich ein ansehnliches und vieles eingetragen hat, welches alles ferner zu praestiren er nicht vermögend seyn wird.“ 1096 Nach der Zahlung einer Restitution und einer außergewöhnlichen Geldstrafe von 500 Reichstalern wurde der Kaufmann aus der Untersuchung entlassen. 1097 Der Ausgang dieses Verfahrens stellt allerdings im gesamten Korpus, auch angesichts der Liquidität des Inquisiten, eine Ausnahme dar. Armut und Geldnot kam abgesehen von der Nutzung als Verteidigungsargument meist spätestens dann zur Sprache, wenn es um die Übernahme der Gerichtskosten ging, die die Beklagten stets zu leisten hatten. Der freigesprochene Hans Philipp Intermann bat in seiner Supplik darum, dass ihm die Kosten von 71 Reichstalern für seinen Inquisitionprozess erlassen würden oder er sie stückweise aus der Freiheit bezahlen dürfe. Falls die Gnade der vollständigen Aufhebung nicht in Frage käme, solle man ihm „wenigstens deren soviel erweißen, und an den Herrn Ambtmann alhier gnädigst rescribiren, daß Er gegen meine juratorische Caution, das liquidum particulariter [...] abzutragen, weil ich doch weder Pfande noch Bürgen aufzubringen weiß, mich auf freyen Fuß wiederumb stellen solle.“ 1098 Aus diesen Aussagen wird offensichtlich, dass im Laufe des Strafverfahrens das soziale Netz vieler Inquisiten weggebrochen war, zumal wenn man wie Intermann als Scharfrichter einen ‚unehrlichen’ Beruf ausübte, und sich dadurch eine Armutssituation noch verschlechtert hatte. Zahlreiche Verurteilte baten schriftlich um Erlass der Zahlung, die bei einer Hinrichtung 1095 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 191v-192r. 1096 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 176r-176v. 1097 Ebd., fol. 205r. 1098 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 58r-60r. <?page no="243"?> 244 auch die Nachkommen belastete. Bei langwierigen Verfahren konnten Betroffene trotz des Verkaufs ihres Besitzes nur einen Teil der Kosten tilgen. 1099 War die Armut - bei Intermann etwa durch eine Überprüfung vor Ort 1100 - glaubhaft erwiesen, so wurden aber mitunter die Prozesskosten gemindert und „ex officio“ getragen. 1101 Die Landesregierung gewährte unter Umständen aber auch einen zeitlichen Aufschub der Zahlung. In der Hinsicht auf die Gerichtskosten konnten Bedürftigkeit oder Notlagen also für sich stehen und besaßen die besten Erfolgsaussichten. Als Zwischenfazit der Einsatzmöglichkeiten für ökonomische Argumente und ihre Effektivität ist festzuhalten, dass Armut meist in Verbindung mit anderen Argumentationsmustern verwendet wurde. Ein Hinweis auf strukturelle und individuelle Notlagen hatte allenfalls unterstützende Funktion für andere Begründungen und floss nur indirekt in die Entscheidungen über Strafe oder Gnade mit ein. Direkte Bezugnahmen auf Armut finden sich in den Urteilsbegründungen nur selten, da bei der Behandlung der Kapitalverbrechen die juristischen Darlegungen alle anderen in Quantität und „Rechtserheblichkeit“ überwogen. Allenfalls das Thema der Hungersnot wurde aufgegriffen und unter Berücksichtigung der weiteren Umstände eingerechnet. Überhaupt zeigten sich Kurfürst und Geheimer Rat in den letzten dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts häufig gnädig und beantworteten die zahlreich eingehenden Suppliken und Defensionen immer wieder mit Strafmilde. Hätte aber ein Landesherr sich dabei zu einsichtig bezüglich der kausalen Zusammenhänge zwischen Armut und Kriminalität gezeigt, wäre dies einer Eigen- und Herrschaftskritik nahegekommen, mit der im Zeitkontext nicht zu rechnen war. Abschließend ist anzumerken, dass die Betroffenen keine ‚Umverteilungsabsichten’ zu erkennen gaben. Der ‚Sozialrebell’, der in der Forschung zu anderen Territorien des Reiches schon negiert wurde, 1102 existierte somit auch im Kursachsen des 18. Jahrhunderts nicht. Eine Sensibilität für ungerechte Sozialverhältnisse, die Armut von Mitmenschen und die finanziellen Verhältnisse der Opfer fanden in den Aussagen kaum Erwähnung. Der Fokus liegt - und das kann nicht verwundern - auf der Darstellung der eigenen Lage und Beweggründe. Dabei zu äußern, dass man mit den Taten höhere Ziele gegen die Wirtschaftsordnung des entstehenden Staates verfolgt hatte, wäre der intendierten Strafmilderung nicht zuträglich gewesen. 1099 Zur Höhe der Prozesskosten vgl. das Kapitel 5.3 Urteile und Strafen. 1100 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 66r-70r. 1101 Vgl. die Verringerung der Gerichts- und Verteidigungskosten für Anton Goldberg im Jahre 1798, Staatsfilialarchiv Bautzen, GH Hainewalde, Nr. 1923, fol. 134r-136r. 1102 Vgl. unter anderem S EIDENSPINNER , Mythos vom Sozialbanditen. <?page no="244"?> 245 5.5.3 Soziales Milieu Vorwiegend obrigkeitliche Texte begründeten die Problematik auch damit, dass die Täter einem bestimmten sozialen Milieu entstammten. In verkürzter Form stellen schon die Titel der Normen, Dokumente und Gerichtsakten den Zusammenhang zwischen einem nichtsesshaften Umfeld von „Bettlern“ und „Müßiggängern“ und der angeblich daraus erwachsenden ‚landschädlichen’ Eigentumsdelinquenz her. 1103 Die Vorsorgemaßnahmen gegen Diebes- und Räuberbanden, die in den Normen propagiert wurden, bestanden vor allem in einer umfassenden Kontrolle von Fremden, Reisenden und Vaganten. Ausführlicher beschäftigten sich die juristischen Gutachten mit den Ursachen für das Phänomen der Bandenbildung. Diese Überlegungen kulminierten kurz gesagt im Spitzbuben-Label, unter das man sowohl den Gelegenheitsdieb und Kleinganoven als auch den Bandenräuber fasste. Schon das Project der Landesregierung „wie dem Übel der Dieberey zu steuren“ von 1677 belegt dies mit der Herstellung einer Korrelation zwischen „vagierenden starcken Bettlern“, „herrenlosem Gesinde“ und Eigentumskriminalität: „Also sind wir der unterthänigsten gedancken, daß über diß vornehmlich und insonderheit die liederliche unartige und böse education der Jugend unter dem gemeinen Volcke, und dann das allgemeine schändliche Laster des Müßiggangs, die rechte quelle und der ursprung dieses eingerißenen großen übels undt Verbrechens sey […]“ 1104 Diese Begründung führte Arbeitslosigkeit und Nichtsesshaftigkeit auf eine Veranlagung zu Arbeitsscheu und Faulheit zurück sowie auf eine schlechte Vorprägung durch ein Lebensumfeld aus Müßiggängern. Sie entsprach fast wörtlich dem Gutachten des Leipziger Schöffenstuhls zum Strafverfahren gegen Räuberbanden von 1740. 1105 Der Begriff ‚Müßiggang’ impliziert eine willentliche Entscheidung und eine charakterliche Veranlagung zum devianten Verhalten. 1106 Mit der Lebenswirklichkeit der Vaganten hatte diese pauschale Verurteilung wenig gemeinsam. Viele der Verhörten aus den Bandenprozessen beschrieben zwar durchaus ihre Herkunft aus verwandtschaftlichen Netzwerken, in denen der Unterhalt auch mit Tätigkeiten und Kleinhandel verdient wurde, die ein Unterwegssein erforderlich machten. Auch von durch Trennung, obrigkeitliche Sanktionen und Tod zerbrochenen Familien, deren Auskommen nur noch über 1103 Vgl. exemplarisch den Titel eines Generale vom 14. August 1717 „wider die Diebischen Einbrüche, Postberaubung, Brandbeschädiger und Bevehder, auch vagirende Soldaten, Bettler und anderes verdächtiges Gesindel“, L ÜNIG , Codex Augusteus, Teil 1, Sp. 1879. 1104 HStA Dresden, 10079, Loc. 30397, fol. 4r (eigene Zählung). Siehe zur Einordnung auch das Kapitel 3 Der Zugriff der guten Policey. 1105 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 58iv-58kr. 1106 Vgl. Art. Müssiggang. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 22, Sp. 664-670. <?page no="245"?> 246 eine ‚Ökonomie des Notbehelfs’ 1107 funktionierte, zu der mitunter der Wanderhandel und die Kleinkriminalität zählten, war die Rede. Aber dass Nichtsesshaftigkeit und Räuberbanden in zwingender, kausaler Korrelation zueinander stünden, bestätigen die in den Aussagen gelieferten Daten nicht. Den obrigkeitlich vorgegebenen Argumentationskontext um den schlechten Einfluss eines Umfelds aus Devianten und Kriminellen bedienten - bewusst oder unbewusst - mehrere Aussagen von Betroffenen: 1108 Von der Ausbildung zum Diebstahl und Einbruch berichteten beispielsweise die jungen Inquisiten Samuel Kegel, Catharina Sophia Dorn und Johann Andreas Bütter. Sie gaben in ihren Verhören an, Erwachsene hätten sie zum Stehlen ‚abgerichtet’. Bütter etwa ließ sich auf die Fragen der Leipziger Behörden ein und bestätigte, dass seine Mutter „ihn mit auf die Märckte genommen, und darzu angehalten, daß er die Leute bemaußen [=bestehlen, C.G.] müßen“. 1109 Die Aussage Kegels verwies zudem darauf, dass die Diebstahlsausbildung nicht von der Familie ausgehen musste, sondern man auch in kriminellen Banden eine Lehre erhalten konnte, wie er am Beispiel Wilhelm Philipps erläuterte. 1110 Untersuchungen von Banden, in deren Rahmen meist mehrere Verdächtige vor Gericht standen, bildeten die geeignete Plattform für die Beschuldigung Anderer. Man musste nicht lange nach einem Sündenbock suchen, wenn zeitgleich mehrere ehemalige Komplizen unter Verdacht standen. So schrieben Befragte die hauptsächliche Verantwortung oder einen großen Anteil an der ausgeübten Gewalt oder der erbeuteten Werte nicht nur Personen zu, die von den Behörden nicht mehr zu verhaften waren, wie Flüchtigen oder Verstorbenen. Es kam auch zu gegenseitigen Anklagen und Tiraden, die darauf abzielten, die eigene Unschuld zu bestärken. Mit dieser Suche nach Verantwortlichen wurde aber immer auch das Bild einer ‚kriminellen Unterwelt’ entworfen und die obrigkeitliche Vorstellung davon, wo das üble Räuberwesen verankert sei, bestätigt. So benannte der vermeintliche Bandenräuber Johann Wilhelm Leonhardt ein deviantes Milieu in der Vorstadt von Leipzig, wo er „von bösen Leuthen verführet worden, daß er sich an anderer Leuthe Sachen vergriffen, und deshalber zur Hafft gediehen“. 1111 Im weiteren Verlauf seines Verhörs bescheinigte er vor allem Lips Tullian einen bösen Charakter. Johann Gottlob Lehmann entschuldigte sich 1754 für seine Taten damit, von Johann Christian Elzschner „seit der Zeit, alß er seine Schwester geheyrathet, ihn, da er sonst zu dergleichen Übelthaten keine Lust gehabt, zum Stehlen verführet“ worden zu 1107 Der Begriff wurde von Hufton geprägt, vgl. H UFTON , poor. 1108 Vgl. D OBRAS / G ÖBEL , Gnadengesuch, S. 192, denn auch der Schinderhannes stellte sich als „Opfer seiner schlechten Erziehung und der sozialen Umstände“ dar. 1109 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 1v. 1110 HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 34r. 1111 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 16v. <?page no="246"?> 247 sein. 1112 Mit großer Regelmäßigkeit tauchte die Formulierung der ‚Verführung’ durch Andere in den verteidigenden Aussagen auf. Weiterhin gaben Verhörte und Supplikanten an, dass Angehörige eines kriminellen Milieus regelrecht einen Zwang zur Teilnahme ausübten. Sie beschrieben die Angst, unter deren Einfluss sie der Mitgliedschaft zugestimmt hätten, oder die Umstände, unter denen die Idee zu einer Tat entstanden sei. So hatte Johann Georg Weigelt bereits in seiner summarischen Vernehmung ausgesagt, unter Alkoholeinfluss gesetzt worden zu sein: „Dieses habe erdachten Brückner veranlaßet, daß er ihn in die Bande einzuflechten gesuchet und besonders unter einen solchen Vorwande, in die Schencke zu Kuhnheyde, Böhmischen Antheils, bestellet. Daselbst habe er sich vor 15. biß 16. [Kreuz]er Böhmische 6 Bier geben laßen, und als er dadurch betruncken mithin des Gebrauchs seiner Sinne beraubet worden, wäre ihm der Vorschlag geschehen, daß er mit in die sogenannte Wiesen-Mühle zum Stehlen gehen solle.“ 1113 Weiterhin schilderte er eine Situation, in der er sich nicht mehr ohne Gefahr von der Bande hatte lösen können, da sie ihn unter anderem mit dem Tod bedroht hätten. Auch eine Flucht sei nicht möglich gewesen, da er unter genauer Beobachtung gestanden habe. Dieser Entlastungsgrund der Fremdbestimmung sowie die Bestätigung durch den Amtmann von Wolkenstein, dass Weigelt von zaghaftem Gemüt und stets gutem Ruf gewesen sei, kam ihm gegen das gefällte Todesurteil zu Gute: Ein Schreiben des Grafen von Brühl im Namen Friedrich Augusts II. milderte die Strafe zu lebenslangem Festungsbau ab, nachdem dies von den vermittelnden Behörden nahegelegt worden war. 1114 Wechselseitige Anklagen lieferten sich Anna Barbara Köhler und Andreas Philipp Fricke im März 1718. Der über zahlreiche Punkte geständige Fricke belastete die ‚Köhlerin’ schwer darin, dass sie eine treibende Kraft in der Räuberbande um Kupper gewesen sei, was sie von sich wies. Doch lieferte sie wiederum Details, die im Gegenzug Fricke beschuldigten, etwa dass „sowohl König als auch Küpper einige von denen Schlüßeln zu Dietrichen gefeilet, woran auch der junge Fricke geholffen. Welches aber dieser nicht gestehen will.“ 1115 Solche Differenzen zwischen Verdächtigen, Widersprüche im Vergleich der verschiedenen Aussagen und Schuldzuweisungen untereinander nutzten die Behörden gezielt, um die Inquisiten miteinander zu konfrontieren. Auch in der Gegenüberstellung setzten sich die gegenseitigen Verdächtigungen meist fort. Mit den Belastungen von Wirtsleuten ergänzten die Aussagenden das entworfene Bild einer ‚Spitzbubengemeinschaft’ noch um das Element des Stützpunkts, 1112 HStA Dresden, 10057, Nr. 459, fol. 52v. 1113 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640, fol. 16r-16v. 1114 Ebd., fol. 31r. 1115 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 18r. <?page no="247"?> 248 der „Diebsherberge“, in der sich Angehörige eines kriminellen Milieus treffen, versorgen, verstecken und entfalten konnten. Der Anteil am Verbrechen, der auch ansässigen Gastwirten und Herbergsvätern zugewiesen wurde, markierte sie als mehr oder weniger existenziellen Bestandteil des devianten Lebensumfelds. Die Begriffe „Diebshöhle“ oder „Diebsnest“, die etwa auf die Hohnstädter Schenke des Ehepaars Stolle mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven angewendet wurden, bringen dies überdeutlich zum Ausdruck. 1116 Die Inquisiten beschuldigten sich nicht nur gegenseitig, sondern verschoben den Verdacht auch gezielt auf Fremde, Verdächtige, die man nicht weiter beschreiben konnte, oder auf Angehörige von Randgruppen. So benannte Johann Gottfried Sahrberg in seinen, auch initiativen, Wortmeldungen gegenüber der Sonderkommission außergewöhnlich bemüht Juden als Komplizen und Hehler. In seinen Verhören ließ er im Vergleich zu anderen Bandenmitgliedern auffällig oft den Umstand einfließen, dass ein Mittäter oder Hehler jüdisch gewesen sei. Darüber hinaus kam er auf eigenen Wunsch erneut vor die Kommission und gab eine „Erzehlung“ ab, in der er ausführlich zwölf Taten schilderte, deren Hauptanteil er unterschiedlichen jüdischen Männern wie Lazarus Salomon, Samuel Marx, Aaron Moses, Jacob Simson, ‚Machele’ und einigen mehr unterstellte. 1117 Zudem reagierte Sahrberg, genannt ‚Studentenfriedrich’, im September 1714 auf die Ankündigung, dass seine Akten nun versendet würden, mit dem Angebot, „[e]r wolle Ihro Königl[ichen] Maj[estät] einen gewißen Vorschlag thun, wodurch deroselben und dero Lande einiger Nutzen geschaffet werden könne, diesen aber gern selber zu Papyr bringen“. 1118 Dieses eigenhändige Schreiben enthielt ebenfalls zahlreiche Anschuldigungen gegen Juden. 1119 Wie er im November 1714 erläuterte, wolle er damit darlegen, „wie daß böße Juden, ingleichen deß Tullians anführung mich zu solchen liederlichen gefährlich und verbothenen dingen verleitet“ und dass er selbst zu Kooperation und Verbesserung seines Lebenswandels bereit sei. Von diesen Eingaben an die Obrigkeit versprach sich der Inquisit offensichtlich nicht nur eine Verzögerung des Prozesses und eine Anerkennung seiner (späten) Kooperation mit den Behörden. Indem er seine Aussagen gezielt gegen Juden richtete, die auch im 18. Jahrhundert noch eine lediglich in Leipzig und Dresden geduldete Randgruppe darstellten, versuchte er offenbar, bei der Obrigkeit vermutete antisemitische Tendenzen für ein milderes Urteil zu nutzen. Er zeichnete dabei das Bild des kriminell veranlagten Juden, der von Natur aus einen stärkeren Hang zur Eigentumsdelinquenz habe als der christliche Sachse, der dagegen Gnade verdiene. Auch seine letzte, von einem Schreiber verfasste Supplik an den Kurfürsten spiegelt diese Absicht wider: 1116 Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1337. 1117 HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5, fol. 190v-202r. 1118 Ebd., fol. 239r-239v. 1119 Ebd., fol. 241r-248r; 272r-283v. <?page no="248"?> 249 „Ich habe, wie die hochverordneten Herrn Commissarii nicht in Abrede seyn werden, so wohl ein freywilliges Bekändnüs gethan, als auch sonsten vorgestellet, daß alles Unglück was ich und andere angestifftet, guten theils durch die Jüden befördert worden, und zugleich, wie diesen Ubel abzuhelfen, Vorschläge gethan, wodurch ich mich nach meinen Tod verdient gemacht, und ümb des willen der gesuchten Gnade, nicht unwürdig seyn werde […]“ 1120 Seine Versuche, die Schuld an zahlreichen ernsten Verbrechen auf das ‚jüdische Milieu’ abzuwälzen, scheiterten genauso wie die weiteren Verteidigungsargumente, die er einbrachte. Am 8. März 1715 vollstreckte der Henker das Todesurteil gegen Johann Gottfried Sahrberg zusammen mit Lips Tullian, Samuel Schickel, Christian Eckold und Hans Wolf Heinrich Schöneck auf der Gerichtsstätte vor Dresden und stellte ihre Körper anschließend zur Abschreckung auf aufgestellten Rädern aus. 1121 Die schon ausführlich besprochene Praxis der ‚Besagung’, aus der die Gaunerlisten entstanden, steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem Versuch, ein kriminelles Milieu zu beschuldigen um sich selbst zu entlasten. 1122 Verhörte ließen sich auf die von den Beamten intendierte Zielsetzung der Offenlegung möglichst vieler Kontakte ein und kriminalisierten damit vorwiegend vagante Personen, die sie ausführlich beschrieben. Durch die Form der Liste erhielt diese ‚nominatio socii’ den Anschein des inneren Zusammenhalts, eines gemeinsamen Gruppencharakters und eines insgesamt verdächtigen, devianten und sogar delinquenten Milieus, in dem man sich untereinander kannte, austauschte und unterstützte. Eine solche Kooperation mit den Behörden gab dem ‚Denunzianten’ die Möglichkeit, sich selbst als kleinen und unbedeutenden Teil eines Netzes von vielen, mitunter verschlageneren Verbrechern darzustellen und eigene Vergehen dadurch herunterzuspielen. Wer seine Komplizen anzeigte, konnte zudem in den Genuss der Pardonregel kommen und wegen der Mithilfe bei der Identifikation und Ergreifung weiterer Täter als ‚Kronzeuge’ behandelt werden. Da diese Regel im territorialen Recht festgeschrieben war, gelang in einigen der vorliegenden Fälle eine Begnadigung auf diesem Weg. Mit dem Bettelmandat vom 7. Dezember 1715 war ausdrücklich bestimmt worden, dass dem Mittäter einer Räuberbande, der hilfreiche Angaben gemacht hatte, Straffreiheit, eine Belohnung und unter Umständen eine Duldung im Lande gewährt werden solle. 1123 Eine ‚nützliche’ Aussage geleistet zu haben, ohne dass man zuvor ‚todesstrafenwürdiger Verbrechen’ verdächtig oder schuldig gewesen war, gereichte mindestens 1739 Samuel Kegel, 1124 1120 Ebd., fol. 298r-298v. 1121 Vgl. u.a. den knappen Bericht am Ende der Akte, ebd., fol. 299r-299v. 1122 Vgl. das Kapitel 3.3 Gaunerlisten als Fahndungsinstrument. 1123 L ÜNIG , Codex Augusteus, Bd. 1, Sp. 1843-1854, hier: Sp. 1848. 1124 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 39r-39v. <?page no="249"?> 250 1755 Christian Hühnel, 1125 1756 dem Marktdieb Nicolaus Gottlob Lauermann 1126 und 1776 Johann Christoph Otto 1127 zu einer niedrigeren Strafe. Auch wer nicht eine ganze Liste von Verdächtigen angegeben, sondern beim frühzeitigen Geständnis lediglich einzelne Mittäter beim Namen genannt hatte, konnte auf einen teilweisen Straferlass hoffen. Diese Lösung wurde beispielsweise 1718 für Johann Andreas Fricke 1128 oder 1751 für Johann David Müller 1129 diskutiert, die in ihren Aussagen - bei eigenem geringem Anteil an den Verbrechen - so manchen Komplizen „graviret“ hatten. Dem Verurteilten Georg Sachße hingegen, der des Mordes an einem Komplizen beschuldigt wurde, nutzte 1747 seine Angabe von zehn Mittätern nichts. 1130 Negative Auswirkungen hatte die Vorstellung eines bestehenden kriminellen Milieus aber andererseits, wenn dadurch im Prozess Zweifel an der Redlichkeit von Entlastungszeugen entstanden. Weil diese in dem gleichen Lebensumfeld verortet wurden wie der Verdächtige, konnten ihre Aussagen als unglaubwürdig gelten. Da „die Zeugen Zum theil seine rechte Bluthfreünde sind, Zum theil unter die DiebsBande mit gehören“, rechnete der Amtmann von Weida die Aussagen von Entlastungszeugen dem Inquisiten Christoph Hüniger nicht als Gnadengrund an. 1131 Insgesamt zeigt sich, dass die Vorstellung eines umfassenden devianten und kriminellen Milieus sowohl in den Schilderungen der Obrigkeiten als auch in den Argumenten der Betroffenen existierte. Die Beamten und Regierungsbehörden griffen Aussagen gegen ein solches Lebensumfeld auf, verfolgten sie weiter und honorierten sie im Sinne der Pardonregelung mit Strafmilderung. Auf diese Weise konnte die ‚Besagung’ einen unrühmlichen Beitrag zur Kriminalisierung der randständigen oder nichtsesshaften Bevölkerung leisten. Das Argument der Verführung und der Verleitung durch ein kriminelles Milieu wurde vor allem dann von der Obrigkeit anerkannt, wenn es mit der Denunziation und Offenlegung neuer, bisher unbekannter Täter und Tatumstände verbunden war und wenn sich keine stichhaltigen schwerwiegenden Indizien gegen den Aussagenden selbst ergeben hatten. 5.5.4 Persönliche Situation Häufig und gerade in Gnadenbitten diente der Verweis auf die Familie, für die man zu sorgen hatte oder die den Hausvater zum Auskommen benötigte, dazu, 1125 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640, fol. 13r-14r. 1126 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 159r-161v. 1127 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 107r. 1128 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 127r-136v. 1129 HStA Dresden, 10052, Nr. 361, fol. 369r-370r. 1130 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285. 1131 Vgl. HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 61r-62r. <?page no="250"?> 251 die eigene Redlichkeit und einen normgerechten Lebenswandel nachzuweisen. 1132 In den meisten Schreiben wurde daher ausgeführt, dass Angehörige und Nachkommen zu Unrecht in Mitleidenschaft gezogen würden, wenn ihnen der Lebensunterhalt durch die Bestrafung des Vaters entzogen werde. 1133 Ein Häftling würde „zum Ruin seines armen Weibes und Kindes in Eisen geschmiedet liegen“, so lautete die Situationsbeschreibung des Christian Rothe, ähnlich zu vielen anderen Argumentationen. 1134 Das Zusammenleben in der intakten Familie unter Einnahme der verschiedenen Funktionsrollen im häuslichen Bereich wurde als Basis der notwendigen Versorgung des Einzelnen hervorgehoben. Sorge und Liebe für die Familie sollten zum einen obrigkeitliche Normvorstellungen vom guten (Familien-)Leben und der gegenseitigen Einbindung in ein soziales Netz bestätigen. Zum anderen wurden die zurück bleibende und zerrissene Familie oder kranke Mitglieder als Risiko für die territoriale Wirtschaft dargestellt. Der Wegfall des Familienoberhaupts habe zur Folge, dass Kinder von lokalen Institutionen versorgt werden müssten oder dass sie andernfalls in eine prekäre Situation gerieten. Wenn ein Inquisit also begnadigt würde und weiterhin für seine Angehörigen sorgen könne, sei nicht allein der Familie, sondern auch dem Staatswesen gedient. 1135 Schon das Format der Suppliken diente der Unterstützung des Bildes vom Familienvater, der seine standesgemäße Rolle in der staatlichen Ordnung einnahm. Die meisten der Gnadenbitten wurden von engen Verwandten eingereicht, die oft emotional anrührend für ihre Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder und auch Mütter baten. Dadurch wurde dem Landesherrn als Empfänger signalisiert, dass der Inquisit oder bereits Verurteilte zuhause in ein funktionierendes gesellschaftliches Subsystem eingebunden sei, in dem füreinander Verantwortung übernommen werde und das dementsprechend auch Sozialkontrolle ausüben könne. Eine soziale Re-Inklusion durch die Wiedereingliederung in den familiären Zusammenhang sei somit möglich. Für die gesamte Familie und dieses wichtige System entstünde aber ein Schaden, wenn ein Teil entzogen oder stigmatisiert würde, wie es etwa durch eine entehrende Strafform zu befürchten war. Daher zielten Suppliken immer wieder auf die Abwendung des Landesverweises mit Staupenschlag oder darauf, dass ein Hingerichteter nicht am Galgen hängen gelassen oder auf dem Rad ausgestellt werden solle, sondern dass man ihm ein ordentliches Begräbnis ermögliche: „Solchemnach flehe E[uer] Königl[iche] Maj[estät] ich hierdurch allerdemüthigst Fußfälligst an, Allerhöchst Dieselben wollen nach Dero Vielgepriesenen Gnade die erkante Todes-Straffe vor obbemeldete meine 1132 Vgl. dazu auch G ERSTENMAYER / TATARINOV , Verhältnisse. 1133 Vgl. dazu auch L UDWIG , Herz, S. 205-208. 1134 HStA Dresden, 10047, Nr. 3968, fol. 68v. 1135 Vgl. H ÄRTER , Strafverfahren, S. 479. <?page no="251"?> 252 beyden Söhne lediglich bey dem Schwerde bewenden und daß so dann deren Cörper in die Erde gebracht werden möchten! “ 1136 So wie Anna Maria Weigold im obigen Zitat baten viele Supplikanten für einen ehrenhaften und somit würdigen Tod ihres Angehörigen. Die schändlichen Sanktionen hatten auch für die Hinterbliebenen eine rufschädigende Wirkung. Andreas Weßer führte daher in seiner letzten Gnadenbittschrift 1718 aus, dass „auch meine 4 armen unerzogenen Kinder in das allergrößte Elend gesezet und um ihre ganze zeitl[iche] Wohlfahrt und in den grösten Schimpff unschuldig gebracht würden, wenn ich durch den mir angekündigten Todt, ihnen entrissen, oder aber unbegraben zur grösten Schande und Nachrede vor aller Leuten Augen liegen solte“. 1137 Vor allem die Versorgung der Kinder durch ihre Eltern stand bei der Argumentation mit dem Thema Familie im Vordergrund. Die Schreiber von Suppliken nannten als Topos immer wieder ihre „armen unerzognen Kinder“, 1138 die ohne sie der Verwahrlosung preisgegeben wären. Ihre Befürchtungen schilderten die Gnadenbitten bildlich, wenn es hieß, dass man im Fall der Bestrafung seine „armen Kinder in der irre herum gehen laßen muß, diese auch Armuths halber nicht Redliches, worauf sie sich einsten erhalten, und durch die Welt bringen könten, erlernen laßen kan, worbey sie den[n] leichte […] verführet und dermahl einsten in größere Excesse als itzo ihr Vater verfallen könten“. 1139 Die Bestrafung des Vaters führe somit die Kinder auf direktem Weg in die Bedürftigkeit, was einen Mangel an Entwicklungschancen und die Verwahrlosung zur Folge habe. Damit hoben die Schreiben gleichsam auf ein Erziehungsideal ab, das auch obrigkeitlich vermittelt wurde. Unter anderem die Gutachten der Landesregierung von 1677 und 1740 hatten die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen zur Arbeit - notwendigenfalls auch im Zucht- und Arbeitshaus - zur Basis einer guten Entwicklung erklärt. 1140 Die Erziehung der Kinder zur Arbeit sollte dem Laster des Müßiggangs vorbeugen. Mit der Sorge für ihre „unerzognen“ und damit noch unmündigen Kinder versprachen die Eltern, für die gute Erziehung und damit einen ordentlichen Lebensweg der gesamten Familie einzustehen. Ohne dass erklärt würde, wie diese Ausbildung konkret umzusetzen sei, wird doch deutlich, dass eine Familie beide Elternteile benötigte, von denen dem Vater der größere Teil der Verantwortung beigemessen wurde. Doch handelte es sich bei der Erziehung der Kinder nicht um ein geschlechtsspezifisches Argumentationsmuster. Auch Mütter verwiesen zwecks einer Straf- 1136 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 108v-109r, unfoliierte Einlage. 1137 HStA Dresden, 10024, Loc. 11400/ 2, fol. 448v. 1138 Zur Verwendung dieses „Gemeinplatzes“ im 16. und 17. Jahrhundert vgl. L UDWIG , Armuth, S. 28. 1139 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 372r. 1140 Vgl. HStA Dresden, 10079, Loc. 30397; HStA Dresden, 10079, Loc. 30719, fol. 58a-58K. <?page no="252"?> 253 milderung auf die notwendige Versorgung gerade kleiner Kinder und erreichten damit manchmal die Freilassung aus dem Arrest. Das begann schon dabei, dass Schwangere im Strafprozess eine besondere Behandlung erhielten. Kontrovers beurteilten die Behörden aber folgendes Beispiel: Die der geringfügigen Hehlerei geständige Hanna Rosina Kurich wurde 1800 gegen einen geleisteten Eid aus der Haft im Amt Mühlberg entlassen, weil sie ein zu stillendes Kleinkind und dessen drei Geschwister zuhause habe. Die zusammen mit ihr inhaftierte Anna Regina Elisabeth Laue hatte zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren zur Pflege und wurde ebenfalls zunächst gehen gelassen, weil sie „von denen Diebs- Cameraden […] weiter nichts als einer Diebshehler und Parthiererey bezüchtiget“ worden war. 1141 Diese schnelle Entscheidung des Amtmannes, die wahrscheinlich daher rührte, dass er die Lebenssituation und die Familienverhältnisse der Inquisitinnen vor Ort kannte und beurteilte, wurde allerdings ein Jahr später vom Schöffenstuhl Leipzig aufgehoben. Die Kurichin und die Lauin wurden zu einer einbzw. vierjährigen Arbeitsstrafe im Zuchthaus Torgau verurteilt. 1142 Dagegen legten beide Frauen eine gemeinsame „Appellation“ um Gnade ein. Von ihnen wurde wegen eines geringfügigeren Verdachts nur der ‚Lauin’ 1802 eine Defension gestattet. 1143 Ein Straferlass ist für beide Frauen nicht überliefert. In diesem Fall deutet sich der Graben an, der zwischen den potenziellen Entscheidungen lokaler Beteiligter und den zentral übergeordneten Dicasterien, die keinen persönlichen Kontakt zu den Betroffenen erhielten, liegen konnte. In einem anderen Kontext war 1801 für die ‚Petermannin’ eine Freilassung gar nicht in Betracht gezogen worden. Stattdessen wurden ihre schon sieben- und 13-jährigen Kinder gezielt in eine andere Arbeitsinstitution überliefert als sie, damit diese ohne ihren Einfluss aufwuchsen. 1144 Der Argumentationszusammenhang ‚Familie’ wurde demnach von den Spruchgremien dahingehend ausgelegt, dass mehrere verdächtige Verwandte in unterschiedlichen Institutionen untergebracht wurden, um sich gegenseitig nicht zu beeinflussen. Eine Vorform der ‚Sippenhaft’ kann angesichts der vielen Fälle, in denen Verwandte einzeln und unterschiedlich verurteilt und bestraft wurden, nicht angenommen werden. In den Verhören wurde als Beweis der propagierten guten, christlichreligiösen Erziehung der eigenen Kinder darauf verwiesen, dass man ihnen das Sakrament der Taufe ermöglicht hatte. Johann Gottfried Kuntze hatte sich für den Tatvorwurf eines gewaltsamen Einbruchs in der Nacht vom 27. auf den 28. November 1752 bei Paul Müller in Wildenau damit entschuldigt, „unter Johann Heinrich Böhmens Nahmen um solche Zeit zu Brachstädt KindTauffe ausgerichtet“ zu haben. Zu dieser Taufe seiner Tochter Johanna Justina Heinrike hatten die Eltern für etwa zehn Tage im Wirtshaus in Neuhäusel bei 1141 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 50r-52v. 1142 Ebd., fol. 57r-60v. 1143 Ebd., fol. 100r-101r. 1144 HStA Dresden, 10079, Loc. 30583, fol. 107r-115r. <?page no="253"?> 254 Brachstedt logiert. 1145 Mit diesem, durch Zeugenaussagen und einen Kirchenbucheintrag belegbaren Bericht hatte Kuntze nicht nur ein Alibi für die Tatzeit, sondern auch einen Nachweis über die christliche Ausrichtung seines Familienlebens und die Existenz von mehreren, redlichen Taufpaten, unter anderem des ansässigen Schulmeisters und die Ehefrau des Richters. 1146 Aber nicht nur Eltern brachten ihre Sorge um die Kinder zum Ausdruck, auch in Umkehrung der Generationenperspektive wurde für ältere Geschwister und Familienmitglieder Position ergriffen. Supplikanten baten in ihren Schreiben um Gnade für ihre alten und kranken Eltern, wie etwa für den 70-jährigen Gottfried Küllich. 1147 In den Bitten um Begnadigung für Eltern oder Großeltern hoben die Schreiber meist militärische Dienste hervor. Diese Leistungen für das Gemeinwesen sollten den Leumund eines Inquisiten stärken. 1148 Maria Magdalena Müller führte 1755 für ihren Bruder Johann Gottfried an, dass „deßen GroßVater, Vater und verschiedene Vetter […] ihr Bluth und Leben in Kriegs- Diensten zugesetzt haben, und [d]er auch selbst Jahr lang so viel möglich treu und löblich in Kriegs-Diensten zugebracht“. 1149 Der Hinweis auf einen Lebensabschnitt, den man oft mit einem schriftlichen Abschied belegen konnte, der dem Landesherrn genutzt hatte und der implizit Bereitschaft zur Unterwerfung unter Zucht und Ordnung signalisierte, sollte das Gnadengesuch unterstützen. Auch in den mündlichen Verhören gibt es zahlreiche Beispiele für einen demonstrativen Zusammenhalt von Familien, wenn beispielsweise Delinquenten versuchten, verwandte Mithäftlinge zu entlasten. In einem extremen Fall belastete Johann Christoph Weigelt sich selbst erheblich, um seinen Bruder in Schutz zu nehmen. Er gestand dabei ein, den jüngeren Johann Georg mit anderen Komplizen zur Beteiligung verleitet, ja sogar gezwungen zu haben, womit er dessen verteidigende Aussage nachhaltig bestätigte. Diese besondere Positionierung wird von der Landesregierung durchaus registriert, indem sie anerkennt, „diese des Bruders Außage [sei] aber um so weniger einigen Zweiffel unterworffen, als er sich darbey selbst härter graviret, so erhellet darauf allerdings, daß hierunter die Wahrheit angegeben worden“. 1150 Dies entspricht der These, dass Angehörige für den Einstieg in kriminelle Aktivitäten durchaus eine entscheidende Rolle spielen konnten, wie im vorhergehenden Kapitel bereits formuliert. 1151 Von den Behörden wurde in der Verfahrenspraxis eher der Befürchtung Ausdruck verliehen, dass Familienmitglieder vorwiegend zur gegenseitigen Entlas- 1145 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, VIII, fol. 197r-198v. 1146 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IX, fol. 41r-46r. 1147 HStA Dresden, 10026, Loc. 1396/ 1, fol. 108v-109r, unfoliierte Einlage. 1148 Dieses Argument im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Strategien bei R UDOLPH , Regierungsart, S. 292-293 und L UDWIG , Herz, S. 186. 1149 HStA Dresden, 10025, Loc. 5813, fol. 121r-122v. 1150 HStA Dresden, 10025, Loc. 5640, fol. 22r. 1151 Vgl. zur Herkunft das Kapitel 4.3 Zusammensetzung: Herkunft und Karrieren. <?page no="254"?> 255 tung antraten. Sie akzeptierten daher als „glaubwürdige“ Zeugen in der Regel nur Nicht-Verwandte, während sie Ehefrauen und Schwestern nicht als Entlastungszeugen annahmen, wie im Fall des Johann Roßmann vor dem Stadtgericht Leipzig. 1152 Es finden sich allerdings ohne Mühe viele Beispiele, in denen sich Familienangehörige gegenseitig beschuldigten und auf Distanz zueinander gingen. 1153 So etwa die Geschwister Johann Christoph und Concordia Elisabeth Köhler 1719 in ihrer Konfrontation: „Köhler […] könte Ach und Weh über seine Schwester u[nd] Frau schreiben, seine Schwester hätte ihren Eltern nicht gehorchet, sie hätte es immer mit den Frickischen Leuten, den Spitzbuben, gehalten, er als ein armer Mann kähme nur zu kurz. Die Köhlerin wendet ein, das könnte ihr Bruder ihr nicht nachsagen, er könte es nicht beschweren. Köhler saget, einmahl vor allemahl habe sich seine Schwester nicht ehrlich aufgeführet. Die Köhlerin läugnet dieses alles.“ 1154 Johann Christoph Köhler stellte sich dar, als sei er den dominanten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts weitgehend unterlegen gewesen. Seine 18jährige Schwester wurde daneben auch von anderen Zeugenaussagen belastet und konnte sich diesen Beweisen gegenüber nur schwer verteidigen. Als Belastungszeugen nahmen die Beamten Familienmitglieder demnach durchaus ernst. Neben Geschwistern distanzierten sich auch Eheleute voneinander und vor allem Frauen gaben in Verhören an, von ihren Partnern unter Druck gesetzt worden zu sein. Margaretha List konnte sich im Jahr 1696 immerhin vollständig vom Verdacht befreien, ihren Mann bei Raub und Mord unterstützt oder auch nur etwas gewusst oder davon profitiert zu haben. 1155 Sie hatte nachdrücklich beteuert, sie „wüste endlich gantz und gar von ihres Mans Diebereyen nichts, es sollte woll seyn, daß Mann und Weib einander alles vertraueten, allein dasselbe were bey ihnen nicht gewesen, ihr Mann hette sie nicht anderst gehalten, wie einen Hundt“. 1156 Magdalena Karraseck fügte ihrem artikulierten Verhör zu ihrer Entschuldigung bei, „sie würde schon vorher dieß gestanden haben, wenn ihr Mann ihr es nicht verboten hatte“. 1157 Viele Frauen passten sich demnach einer Vorstellung an, die den gesamten Verfolgungs- und Verfahrenskontext gegen kursächsische Räuberbanden zu prägen scheint. Im Vergleich zu ihren 1152 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 334r-336r. 1153 Dass Angehörige sich vor Gericht nicht unbedingt berechenbar verhielten, erläutert auch S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente, S. 300. 1154 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 5, fol. 142r-142v. 1155 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1706, fol. 54r-55v. 1156 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705, fol. 136v. 1157 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50420, Nr. 7, fol. 34r. <?page no="255"?> 256 männlichen Komplizen erschienen weibliche Verdächtige von relativ marginaler ‚krimineller Energie’ und sekundärer Bedeutung innerhalb der Gruppen. Sie stützten diesen Eindruck, indem sie angaben, sich mehr mit Kindererziehung und dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt zu haben, wohingegen die Ehemänner kriminelle Kontakte ohne ihr Wissen unterhalten hätten. 1158 Doch nicht immer hatte diese vorgebliche Untergebenheit und Unwissenheit den erwünschten Effekt der völligen Straffreiheit. Auch eine Frau konnte vor Gericht als eine „der allgemeinen Sicherheit schädliche, oder wenigstens gefährliche Person“ 1159 beurteilt werden. Doch fielen die Sanktionen gegenüber Frauen, die man der „Diebs-Parthiererey“ als schuldig einordnete, mit Zuchthausstrafen meist niedriger aus als für die männlichen Mittäter. 1160 Neben den bisher erläuterten Mustern konterkarierten mitunter auch die Suppliken und Defensionen den vermeintlich innerfamiliären Zusammenhalt. Besonders augenfällig wird dies im Prozess gegen die Mitglieder der so genannten „Frenzel-Bande“, die sich in ihren eigenen Verteidigungsschriften mehrfach wechselseitig belasteten. Hier wurden den „gottlosen Schwäger“, dem „auf Tod und Leben zum Stehlen ausgehenden Ehemanne“ und dem „böse[n] Beyspiel seines Vaters“ die Verantwortung zugeschrieben, um sich selbst zu entschuldigen. 1161 Verwandtschaft stellte in der Kommunikation vor Gericht somit keineswegs einen abgeschlossenen und dichten Komplex dar, innerhalb dessen man sich stets verteidigte, schützte und versorgte. Im Gegenteil begründeten manche Delinquenten ihren Eintritt in die kriminelle Laufbahn mit der elterlichen Prägung als Kind. Indem Inquisiten wie Johann Abe 1767 zugaben, „als ein Bettelkind gebohren, seine Eltern […] im Lande herumgezogen, die Mutter zur Thüringischen Bande gehöret, seine ganze Freundschafft in liederlichen Gesindel und Dieben bestanden, er selbst […] ohne allen Unterricht im Christenthum geblieben“ 1162 zu sein, eigneten sie sich selbst die obrigkeitliche Argumentation eines vorbelasteten Umfelds und der daraus resultierenden schlechten Erziehung als Begründung für den eigenen Lebenswandel an, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Argumentationen der Delinquenten mit den Topoi Herkunft und Familie gehen fließend über zu Erklärungen über die individuelle Prägung und den eigenen Charakter. Inquisiten gestanden Unwissenheit und Naivität vielfach ein, legten das als Grund dafür dar, dass sie ‚auf die schiefe Bahn abgerutscht’ waren und schrieben dies wiederum der mangelnden christlich-religiösen Unterweisung durch die Familie zu. Die Angabe, man sei durch andere Personen zum 1158 Vgl. dazu auch R UBLACK , Magd, S. 189. 1159 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803, fol. 41v. 1160 In den Normen war eine generell mildere Bestrafung von Frauen nicht festgeschrieben, vgl. S CHNABEL -S CHÜLE , Frauen, S. 193. 1161 HStA Dresden, 10025, Loc. 5803. 1162 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 136r-136v. Vgl. zu dieser Argumentationsweise auch R UDOLPH , Regierungsart, S. 282-283. <?page no="256"?> 257 Verbrechen verleitet worden, stützte man durch die Eigencharakterisierung als ‚leicht verführbar’. Dem ähneln die Verweise auf eine wie auch immer geartete Unzurechnungsfähigkeit, indem man sich beispielsweise mit Alkohol Mut hätte antrinken müssen, wie der Inquisit Koeppel im Prozess vor dem Amtsgericht Grimma angab. 1163 Auch die Eltern Christian Gottlob Seydels hatten 1777 in einer Supplik darauf hingewiesen, „daß ihr Sohn von denen Oschazen in der Trunckenheit verleitet worden, ihnen bey der verübten Mishandlung hülfliche Hand zu leisten“. 1164 Da sich dafür aber im Nachhinein nur schwer Nachweise finden ließen, waren mangelnde Zurechnungsfähigkeit oder Alkoholeinfluss allein keine hinreichenden Begnadigungsgründe. Im Falle Seydels führten die hartnäckigen Versuche seiner Eltern, ihm eine untergeordnete Rolle bei den Verbrechen zu attestieren, zumindest dazu, dass sein Körper nach der Hinrichtung nicht auf ein Rad geflochten wurde. 1165 Schwieriger gestaltete sich dagegen der Versuch Johann Jacob Rehmanns, sein Teilgeständnis mit der Begründung zurück zu nehmen, „zu Zeiten wenn der Mond voll wäre, so sey er manchemahl verirret im Kopfe“. 1166 Das Argument fand bei den Behörden keine Anerkennung. Weiterhin galten die individuellen Beteuerungen eines guten Charakters dem Nachweis einer generellen Unbescholtenheit. Dass man sich in der Vergangenheit nichts zu Schulden hatte kommen lassen, konnten einzelne Inquisiten zusätzlich mit einem Leumundszeugnis belegen, in dem Außenstehende einen ordentlichen Lebenswandel schriftlich bestätigten. Die Erhaltung der Ehre, des guten Rufs und des damit verbundenen finanziellen Lebensunterhalts für sich und die Angehörigen war Ziel dieser Argumentationsweise. Konnte ein Befragter nicht glaubhaft nachweisen, sich bislang untadelig verhalten zu haben, so war es zumindest ein notwendiges und oft eingesetztes Mittel, einen vorbildlichen Lebenswandel für die Zukunft zu versprechen. Man würde eine Besserung beweisen, sobald man durch die Freilassung eine Gelegenheit dazu erhalte, und wie Hans Philipp Intermann „mein künfftiges Leben also führen, daß nicht nur böse Thaten, sondern auch deren Verdacht ganzlich von mir entfernet bleiben sollen“. 1167 Um die eigene Redlichkeit und Ehrlichkeit zu untermauern, woben Betroffene vielfach Gebete, Verweise auf Gott, die Heilige Schrift und die eigene Religiosität in die Argumentation ein. Dafür wurden auch das Naturrecht und die gottgegebene Gleichheit der Menschen herangezogen. Zum anderen wurden Bekräftigungen der Rechtgläubigkeit mit Zusätzen wie „Behüte Gott“ oder „wolle er darauf leben und sterben, es auch vor Gottes Gerichte verantwor- 1163 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, 20008, Nr. 1336, fol. 22r. 1164 HStA Dresden, 10025, Loc. 5711, fol. 205r-206v. 1165 Vgl. die Anweisung Friedrich Augusts III. vom 28. März 1778, ebd., fol. 259r. 1166 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 83r. 1167 HStA Dresden, 10024, Loc. 9720/ 15, fol. 59v-60r. <?page no="257"?> 258 ten“ 1168 belegt. Gott wurde auf diese Weise ganz bewusst als oberster Gerichtsherr und ‚letzter Zeuge’ benannt. Gelegentlich diente der Verweis auf die Religionsausübung auch dem Alibi, wie schon bezüglich des Taufsakraments bei Johann Gottfried Kuntzes Tochter festgestellt wurde. Ähnlich fand sich Glaubenspraxis 1766 im artikulierten Verhör des Isaac Jacob wieder: „[S]ie wären würcklich bethen gegangen weil er, der Juden Gewohnheit nach, den Tag, an welchem sein Vater verstorben wäre, gefastet und gebetet“, erklärte der Verdächtige mit den speziellen jüdischen Gebräuchen den Verhörenden, warum er und sein Freund schon um 5 Uhr morgens ihre Herberge in einem Wirtshaus verlassen hatten. 1169 Eine explizite Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott nach dem Tod konnte zudem ein gewollter Hinweis auf Reue sein, die man dem Allmächtigen und der Gesellschaft gegenüber wegen seiner Verbrechen zum Ausdruck bringen wollte und musste. 1170 So klang auch in Konfrontationen gelegentlich an, dass sich ein geständiger Inquisit als gottesfürchtig darstellen und sich so vom Gegenüber abgrenzen wollte: Johann Georg Voigt redete seinem Komplizen Rehmann zu, „Hannß mache dein Gewißen reine, was wird dier das Läugnen helffen, es ist alles wahr, es steht in der Schrifft, daß wir unsere Mißethaten bekennen sollen, ich habe es gethan, thue du es auch.“ 1171 Der geständige Inquisit hatte in diesem Fall den Schritt zum ‚Armen Sünder’ bereits vollzogen und signalisierte, dass er die Ermahnungen des Geistlichen angenommen, seine Taten bereut und sich auf die Strafe vorbereitet habe. Eine individuelle Art, sich auf seine Gottgläubigkeit zu berufen, stellt der letzte Wille Nickel Lists dar, den der berüchtigte ‚Räuberhauptmann’ in seinem Arrest in Hof am 22. Oktober 1698 formulierte. Er bat darin seinen Vater Christoph Günther, seinen Nachlass zu verwalten, indem dieser sich unter anderem um ausstehende Schulden kümmern solle. Außerdem sei sein Besitz, vor allem die Kleidung, zu verkaufen und das verbleibende Geld unter seinen fünf Kindern, von denen eines aus erster Ehe und vier aus der Beziehung mit Anna von Sien stammten, aufzuteilen. Gleichsam als Idealtypus des ‚Armen Sünders’ beschloss er dieses Testament nicht nur mit der Versorgung seiner Nachkommen, sondern auch mit der einem Gebet ähnlichen Entschuldigung: „Also nehme ich von denselben allen jetz und gute Nacht, undt bitte allenthalben umb verzeihung umb Gottes Willen, und das meine Kinder, mögen Ein Beyspiel nehmen, sich vor allen übel hüten, fleißig beten den lieben Gott fußfällig anruffen, daß ich meine arme Seele den lieben Gott befohln, in sein ewiges Himmelreich mit dem schächer und andern großen Sündern ja mit Peter auffnehmen möge, wie ich nicht zweiffle, 1168 HStA Dresden, 10047, Nr. 3944, fol. 71r. 1169 HStA Dresden, 10047, Nr. 3950, fol. 13v. 1170 Vgl. auch S CHEUTZ , Alltag, S. 166. 1171 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723, fol. 3r. <?page no="258"?> 259 daß mir mein Gott nach Bekäntnüß meiner großen Sünde auch hertzliche beweinung und bereuhung Ein Kind der ewigen Seeligkeit werde eingehen, hoffentlich auff die Grundlose Barmhertzigkeit Gottes, undt umb das hoch theure Verdienst seines lieben Sohns Jesus Christi und auff die güte des heiligen Geistes worauff ich getrost sterben will, und alles zeitliche verlaßen, […] schließlichen alle meine lieben Kinder und alle Bekandte auch alle so ich beleidiget hab, thue ich nochmahls umb Verzeihung bitten umb Gottes willen darneben nochmahl bittend, solches meinen Armen unschuldigen Kindern nicht Entgelden laßen, wünsche nochmahls allen zu tausendmahl tausend guter Nacht.“ 1172 Weitere der vorgebrachten Verteidigungs- oder Begnadigungsgründe waren durchaus kreativ und einfallsreich gestaltet und passen nicht ohne weiteres in ein Schema von Erklärungsmustern: Eine außergewöhnliche, individuelle Verhaltensweise wies Johann Gottfried Kuntze auf, der sich in seinem Verfahren beim Leipziger Stockmeister Carl Christian Schreiber meldete, um vor dem Stadtgericht freiwillig ein weiteres Mal auszusagen. Am Nachmittag des 25. September 1754 wurde der Inquisit, der sich zu diesem Zeitpunkt noch ‚Johann Gottfried Breyer’ nannte, aus dem Arrest geholt. Daraufhin sagte er vor den Stadtrichtern aus, er „sey kein Dieb wofür man ihn bisher gehalten, er habe aber ein gewißes Buch zu verfertigen in seinem Kopffe, welches wenn er es würde geschrieben haben, eine fette und wohlfeyle Zeit in allen Landen bringen würde“. Er wolle mit seinem Wissen dieses Buch für den Kurfürsten verfassen, das die Ausrottung des Diebswesens endgültig ermögliche. Er rechnete den Gewinn für das Kurfürstentum daraus exemplarisch so vor, dass die ihm vorgeworfenen Diebstähle spätestens in 20 Jahren dadurch abgegolten wären. Doch um dieses Projekt über das Räuberunwesen in die Praxis umzusetzen, müsse er sich wieder als ehrlicher Mann in Freiheit befinden. Die Richter blieben allerdings unbeeindruckt von seinem Sendungsbewusstsein und forderten ihn auf, mit einem Geständnis „dem Publico einen Dienst zu thun“. Sofort verlegte Kuntze sich wieder auf vollständiges Leugnen und wurde daher zurück in seine Haft gebracht. 1173 Ob der Verweis auf die Sorge um die Familie oder auf andere, persönlicher angelegte Verteidigungsargumente letztlich Erfolg versprach, kann nicht pauschal beantwortet werden. Ähnlich wie bei den Themen Armut und Milieu ist auch hier davon auszugehen, dass diese Rechtfertigungen für ein bestimmtes Verhalten die juristischen Begründungen in Einzelfällen lediglich unterstützen konnten. Die Urteile und Gutachten griffen den Hinweis auf die zurück gelassene Familie selten auf. Verwandtschaft und deren prägende Wirkung zogen die obrigkeitlichen Behörden eher als Bestätigung für schlechte Veranlagung, mangelnde Erziehung und leichte Verführbarkeit heran. Das zeigt beispielsweise die getrennte Unterbringung von Familienmitgliedern in verschiedenen Arbeits- 1172 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1707, fol. 103r-105v. 1173 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 83r-84r. <?page no="259"?> 260 institutionen, wenngleich festgestellt werden kann, dass die Abstammung aus einer verdächtigen Familie allein nicht für eine juristische Verurteilung ausreichte. Die Beurteilungen gestanden in vielen Fällen vor allem Jugendlichen durchaus eine Erziehbarkeit zur Arbeit und zu einem ehrlichen Lebenswandel zu. Individuelle gesundheitliche Einwände von Inquisiten und Häftlingen gegen Strafen oder die Folter wurden von den Behörden durch den Einsatz eines Mediziners überprüft. Krankheiten, Schwangerschaft oder eine schlechte körperliche Verfasstheit wegen Alters wurden bei der Behandlung von Verdächtigen berücksichtigt, reichten aber als Entlastungsgründe ebenfalls selten aus. Ähnlich wie die Supplikanten Leumundszeugen heranzogen, versuchte die Gegenseite ihrerseits, unabhängige Ortsansässige zur Belastung einer Person einzusetzen. Selbstaussagen über den redlichen Charakter oder Lebenswandel eines Verdächtigen konnten zum Beispiel durch Gegenargumente des örtlichen Bürgermeisters widerlegt werden, wenn dieser wie im Juni 1799 konstatierte, „daß Maria Christina verehel. Paulin, verwittbete gewesene Hüther Schneiderin alhier, seit ihres erstern Ehemannes Tode, von dem noch über sich gehabten Hüther-Dienst, auf den Altstädter-Viertelfeldern sich ernähret, jedoch in Ansehung ihres Lebenswandels, in keinen guten Ruff gestanden hat, auch bestehet in der Wahrheit, daß bey Haussuchungen nach gestohlenen Sachen verschiedene Male bey derselben ausgeführt worden ist, daß sie aber eine Diebesauflage in ihrem Hause unterhalten, solches ist uns nicht bekannt.“ 1174 Die Bescheinigung eines schlechten Lebenswandels durch einen neutralen Außenstehenden entzog einem Supplikanten zumeist, unabhängig von der eigenen Argumentationsstrategie, die Chance auf eine mildere Strafe. Solche Gutachten ergänzten die Gnadenverfahren und wurden auf diese Weise Teil des Kommunikationsprozesses um die Diebe und Räuber. Neben strafmildernden Beurteilungen, die auf die Fremdbestimmung durch Andere trotz eines eigentlich rechtschaffenen Charakters abhoben, wie etwa bei Johann Georg Weigelt, gab es zudem Passagen in den Gutachten, die die verschiedenen Handlungsoptionen von Inquisiten durchaus individuell berücksichtigten. Mit der Aussage, jemand hätte sich in einer bestimmten Situation anders verhalten oder einen besseren Weg einschlagen können, wiesen die Juristen dem Betroffenen eine Eigenverantwortung für sein Schicksal zu. 1174 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 13r. <?page no="260"?> 261 6 Räuberbilder: Verteufelung und Bewunderung Spätestens nachdem die Gerichtsverfahren gegen die Räuberbanden beendet und die Strafen an den Verurteilten vollzogen waren, verbreiteten sich ihre Taten und ihre Geschichten durch Medien in der Öffentlichkeit. 1175 Kriminalität gehörte seit jeher zu den bevorzugten Sujets frühneuzeitlicher Druckmedien vom Flugblatt bis zur Zeitung. 1176 Dass die Räuberbanden von obrigkeitlicher Seite zu einer großen Bedrohung der allgemeinen Sicherheit und zu einem Thema von öffentlichem Interesse stilisiert worden waren, trug dazu bei, dass sich auch jenseits der Gerichte Autoren und Publizisten mit verschiedenen Kommunikationsmitteln an der Formierung von Räuberbildern beteiligten. Die kurfürstlichen Mandate, Befehle und Reskripte waren auf möglichst weitläufigen Verbreitungswegen bekannt gemacht worden, um alle Untertanen zu erreichen und die gesamte Bevölkerung in die Verfolgung einzubeziehen. Zudem wurden die peinlichen Sanktionen an den Tätern öffentlich durchgeführt. 1177 Populäre Medien beschäftigten sich mit diesen bereits publik gemachten Reizthemen und Beispielfällen und wirkten gleichzeitig als Multiplikator der ostentativen Handlungen der Obrigkeit. 1178 Daher steht nun anschließend an die Darstellung der Kommunikation der Akteure ‚vor Gericht’ die Behandlung des Räuberthemas in zeitgenössischen kursächsischen Drucken im Vordergrund. Inwieweit orientierten sich die Repräsentationen an den Verbrechensschilderungen und Täterbiografien aus der Prozessüberlieferung, welche Semantiken wurden für die Banden verwendet und wie beeinflussten sich die beteiligten Gattungen dabei gegenseitig? Da für die Entstehung und den Verlauf des Räuberbandendiskurses in den Medien unzweifelhaft auch Repräsentationen und Deutungskontexte aus dem Recht und der Rechtspraxis eine Rolle spielten, werden sie hier ebenfalls mit einbezogen. Sie werden zum Spektrum von Diskurs-Bestandteilen gerechnet und zu anderen in Bezug gesetzt. 1179 Es stellt durchaus keinen Widerspruch dar, Praktiken aus dem Umgang mit Delinquenten zum Diskurs hinzuzurechnen. 1180 Denn sowohl in den schriftlichen Repräsentationen als auch in der Praxis, die uns sprachlich und 1175 Vgl. das aufgeführte Spektrum unterschiedlicher Genres bei S CHÖNERT , Ausdifferenzierung, S. 96-106. 1176 Vgl. S CHWERHOFF , Kriminalitätsgeschichte; K OŠENINA , Recht; L ANDFESTER , Recht; P FARR , Neue Zeitung. 1177 Vgl. zum Thema der visuellen Evidenz auch R UDOLPH , Abcontrafactur. 1178 Vgl. P EIL , Strafe, S. 485 oder D AINAT , Abaellino, S. 152-153. Foucault benennt diese Vorgänge daher als „Schafottdiskurse“, F OUCAULT , Überwachen, S. 85-90. Vgl. dazu vor allem D AINAT , Räuber. 1179 Als Desiderat wird diese Herangehensweise genannt bei H ÄRTER [u.a.], Repräsentationen, S. 6. Auf die - hier nicht unreflektierten - Problemstellungen bei der Einbindung von Verhörprotokollen in eine Diskursanalyse weist Eibach hin, E IBACH , Recht, S. 118-119. 1180 Vgl. L ANDWEHR , Diskursen. <?page no="261"?> 262 zum Teil bildlich überliefert ist, konnten sich stereotype Vorstellungen äußern oder Stereotype generiert werden. Auf diese Prägung der Räuberbilder durch Stereotypisierung wird im letzten Teil gesondert eingegangen. Um zu betrachten, wie sich Vorstellungen von Räubern konstituierten, müssen die jeweiligen Repräsentationen im Rahmen ihrer medien- und kontextspezifischen Voraussetzungen betrachtet werden. 6.1 Printmedien: Formate und Kontexte Im ersten Teil des folgenden Kapitels werden die publizierten, verkauften und kursierenden Druckwerke im Kontext der entstehenden ‚Massenmedien’ in den Vordergrund gestellt, während im zweiten Abschnitt Objekte aus dem Bereich der „Individualkommunikation“ vergleichend mit einbezogen werden. Auf Gesetzestexte, Briefe und Verhörmitschriften, die sich zwar an einen beschränkten Leserkreis richteten und mitunter auch wechselseitig verliefen, lassen sich die oben genannten Kriterien wie Zeichenverwendung, Technik und Visualität, die zur Definition von ‚Medien’ 1181 entscheidend sind, ebenfalls anwenden. Da mit Medien nicht nur im technischen Verständnis die ‚Träger von Information’ gemeint sind, ist es notwendig, die jeweiligen Mediendispositive mit in den Blick zu nehmen: Die Inhalte der Kommunikation über Räuberbanden, die vermittelt wurden, werden in den Kontext des gesamten Systems gerückt, also mit einem Seitenblick auf die Produzenten, die Distribution und den Rezipientenkreis. Nur unter Berücksichtigung dieser Aspekte ist es möglich, die Bilder, die von Delinquenten und Banden gezeichnet wurden, in ihrer Absicht und Wirkungsweise einzuordnen. Die hier getroffene Auswahl richtet sich auf diejenigen Gattungen, die innerhalb der im Untersuchungszeitraum florierenden Medienlandschaft Sachsens mit ihrem Zentrum Leipzig von Bedeutung waren. Schwerpunkte liegen demnach auf der aktuellen Publizistik mit Einblattdrucken und Flugschriften, auf Aktenmäßigen Berichten und auf Zeitschriften, zu denen auch die sogenannten ‚Totengespräche’ gezählt werden können, sowie auf weiteren Medien der Wissensvermittlung, wie Lexika oder moralischen Lehrschriften. Periodische Zeitungen und Intelligenzblätter besetzten gegenüber den Zeitschriften im sächsischen Mediensystem des 18. Jahrhunderts eine untergeordnete Position. 1182 Obwohl eine Einbeziehung von Räuberromanen, deren Blüte im 19. Jahrhundert begann, äußerst reizvoll gewesen wäre, da die belletristische Bearbeitung vor allem der Fälle Lips Tullian, Nickel List und Johann Karraseck sich teilweise bis 1181 Vgl. das Kapitel 2.3 Strukturen der Medienlandschaft. 1182 Vgl. dazu den Überblick bei W ILKE , Grundzüge, S. 78-127. Die erste Tageszeitung „Einkommende Zeitungen“, die ab 1650 in Leipzig erschienen war, hatte man mittlerweile bereits wieder eingestellt. <?page no="262"?> 263 in die Gegenwart erstreckt, kann diese Ausweitung innerhalb des vorliegenden Analyserahmens nicht vorgenommen werden. Eine Trennung von Text und Bild in der folgenden Untersuchung mag auf den ersten Blick überraschen, da die Visualisierungen mitunter einen wichtigen Bestandteil der untersuchten Medien ausmachten. Allerdings ist die so mögliche Zusammenführung der verschiedenen textbegleitenden Abbildungen sinnvoll, um gemeinsame Linien in der visuellen Repräsentation zu erkennen und herauszufiltern, welchen Bildtraditionen sie folgten. 1183 6.1.1 Aktuelle Drucke und Aktenmäßige Berichte Was hier unter dem Oberbegriff der aktuellen Berichterstattung zusammengefasst wird, enthält mit Flugschriften, Zeitungsartikeln und Aktenmäßigen Berichten 1184 auf den ersten Blick unterschiedliche Medientypen in Bezug auf Umfang, Gestaltung und Kontext. Ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie in der chronologischen Abfolge aller Darstellungen eines Kriminalfalls zeitlich am nächsten an der Gerichtsüberlieferung lagen. Diese Fallschilderungen verbindet damit - im Vergleich zu den weiteren Texten - der höchste Neuigkeitswert, auch wenn dieser aus nachvollziehbaren zeitspezifischen und produktionstechnischen Gründen nicht an moderne Vorstellungen von Aktualität heranreicht. So konnte zwischen dem Strafprozess und der Publikation des verarbeitenden Berichts durchaus ein Jahr vergehen. Neben ihren Gemeinsamkeiten werden im Folgenden auch ihre Unterschiede in Form, Inhalt und Wirkungsabsicht thematisiert. In beinahe allen Titeln der Medienerzeugnisse trifft man auf eine Aktualität und Wahrhaftigkeit postulierende Wortwahl: „Relation“, „Nachricht“ oder „Beschreibung“ wurden mit Adjektiven wie „wahrhaftig“, „ausführlich“ und „gründlich“ kombiniert, die auf einen journalistischen Anspruch der Glaubwürdigkeit und Sorgfalt verwiesen. 1185 Auch die so genannte ‚Aktenmäßigkeit’ stand als Etikett für die Authentizität der Falldarstellung. 1186 Diese Hervorhebung 1183 Vgl. grundlegend zur Entwicklung von Räuberdarstellungen im Bild B OSKAMP -P RIEVER , Blicke. Zur Historischen Bildkunde vgl. A NDRASCHEK -H OLZER , Bildkunde und R OECK , Umgang. 1184 Sie werden auch Aktenmäßige Geschichten genannt. Vgl. L ANGE , Gesellschaft, S. 16 und allgemein zu dieser Gattung auch die auf Fallsammlungen des 19. Jahrhunderts ausgerichtete und literaturwissenschaftlich angelegte Dissertation D UHNKE , Straff. Literaturwissenschaftllich arbeitet ebenfalls Suter - auch wenn dem Leser die spezifische Auswahl der Quellen, die auch die These stark beeinflusst, nicht erklärt wird, vgl. S UTER , Räuberporträt. Der ebenfalls mögliche Begriff der „Kriminalgeschichte“ erscheint mir im vorliegenden Kontext eher allgemein und bezeichnet die übergeordnete Kategorie mehrerer literarischer Gattungen, die sich der Darstellung von Kriminalität und Strafrecht widmen, vgl. W ILLEMS , Verbrecher; D AINAT , Mörder; S CHÖNERT , Kriminalgeschichten. Innerhalb der Kriminalgeschichten waren die Aktenmäßigen Berichte eine frühe Erscheinungsform der literarischen Berichterstattung über Verbrechen. 1185 Vgl. M AUELSHAGEN , Fallstudie. 1186 S CHÖNERT , Ausdifferenzierung, S. 115. <?page no="263"?> 264 einer Informationsabsicht kann in den meisten Beispielen nicht darüber hinweg täuschen, dass vorrangig ein Bedürfnis des Lesers nach Sensationen gestillt werden sollte. Das beweisen die weiteren Bestandteile der Titelzeilen, die mit Begriffen wie „grausamste Räuber“, „Hauptdieb“ und „Erzspitzbube“ keinen Zweifel daran ließen, dass es sich hier um biografische Schilderungen von Schauwert handelte, die dem Leser die ruchlosesten und verdorbensten Kriminellen vorführen wollten. Den Reiz des Neuen und Außergewöhnlichen zu bedienen und gleichzeitig Bewunderung für die Täter zu vermeiden war in den authentisch erzählten Geschichten der Kapitalverbrecher angelegt und gehörte zu den intendierten Wirkungsweisen der verschiedenen Texte. Die Kontexte, in denen sie entstanden waren, wurden in bisherigen Forschungsarbeiten, die allein diese Textgattung zur Grundlage genommen haben, meist nicht ausreichend berücksichtigt. 1187 Die Forschung geht davon aus, dass die Aktenmäßigen Berichte sich über den Verkauf finanzierten. Die Vertriebswege, Auflage oder Preise dieser Medien sind allerdings bisher nicht bekannt. Auch die sächsischen Quellen bieten kaum neue Anhaltspunkte. Die Titelseite der „Actenmäßigen Geschichte“ über den 1812 in Heidelberg hingerichteten Hölzerlips liefert zumindest die Angabe über einen Preis von sechs Kreuzern, was nicht nur für interessierte bürgerliche Kreise erschwinglich gewesen sein dürfte. 1188 Dafür, dass die Texte auf ein breites Publikum ausgerichtet waren, sprechen außerdem ihre Einleitungen, die das Ideal eines ansässigen, obrigkeitstreuen und redlichen Untertanen als „geneigten Leser“ adressierten. Angesichts ihrer Erschwinglichkeit, ihrer reizvollen Aufmachung und ihres für alle Bevölkerungskreise einschließlich der Verwaltung interessanten und anschaulichen Themas zielten diese Berichte auf ein großes Publikum, das vorwiegend, aber nicht exklusiv innerhalb des Territoriums anzusiedeln ist. Dass die Berichte daneben zum Austausch unter den Beamten und als Leitlinie für spätere ähnliche Fälle gedacht waren, legte Hosmann schon 1700 dar, indem seine Schrift „vielen Gerichten zu einem Licht in vielen wichtigen Dingen / ja zu einem Preiswürdigen Exempel dienen“ solle. 1189 Aus dem Umstand, dass seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in wachsender Zahl und oft auch in mehreren Auflagen im ganzen Reich Aktenmäßigen Berichte erschienen, 1190 kann geschlossen werden, dass sie beim erwarteten Leserkreis Absatz fanden. 1187 Obwohl sich beispielsweise Katrin Lange in ihrer Studie zu Räuberbanden ausschließlich auf Aktenmäßige Geschichten stützt, streift sie deren eigenen Medienkontext nur rudimentär. Ihr Hinweis, sich nicht an der „negativen Zeichnung in den zeitgenössischen Schriften“ zu orientieren, da die Quellen darüber hinaus „genügend neutrale Daten“ enthielten, kann daher nicht überzeugen, vgl. L ANGE , Gesellschaft, S. 22. 1188 In vielen süddeutschen Territorien des 19. Jahrhunderts entsprachen sechzig Kreuzer einem Gulden. Vgl. T RAPP , Handbuch, S. 91. 1189 H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl (Zuschrifft). 1190 Vgl. nur als einige Beispiele aus einem großen Spektrum Actenmäßige Relation Berlin 1719; W EISSENBRUCH , Ausführliche Relation; [E INERT ,] Actenmäßige Designation [1736]; Actenmäßige <?page no="264"?> 265 Die sich in dieser Art etablierende Form der medialen Kriminalitätsrepräsentation zeichnete stets einen authentischen Fall aus der Perspektive eines Prozessbeobachters nach und lieferte auf Basis der Gerichtsakten Tatbeschreibungen mit Abläufen und Beutelisten, den Verlauf von Verhören und Konfrontationen sowie die abschließenden Urteile. Oft waren die Aktenmäßigen Berichte umfangreiche Bücher. Katrin Lange geht darüber hinaus davon aus, dass die Untersuchungsrichter, Aktuare und Prediger, die als Verfasser der Berichte verantwortlich zeichneten, „alle Informationen“ an die Leser weitergaben, die sie während des Prozesses erhalten hatten. 1191 Eine kritische Überprüfung dieser Behauptung anhand des Vergleichs von Darstellung und Prozessmaterialien steht aber noch aus. Ein Gegenbeispiel für die Annahme einer Vollständigkeit bietet etwa ein über die Bande des Johann Gottfried Kuntze 1764 in Leipzig erschienener „Aktenmäßiger Verlauf“ 1192 . Er liefert in sechs „Hauptstücken“ auf rund 260 Seiten die Entstehung des Verdachts, den Ablauf der ersten Untersuchungen gegen die Räuberbande und nacheinander die Schilderungen der Verbrechen, Prozesse und Urteile von Kuntze, Johann Georg Voigt, Johann Jacob Rehmann, Johann Herrmann Hahn und Johann Andreas Bamberg. Da die Aktenlage zu diesem Fall, der zwischen 1754 und 1763 verhandelt wurde, günstig ist, lässt sich der in den Beständen des Stadtarchivs Leipzig dokumentierte Strafprozess 1193 seiner literarischen Verarbeitung gegenüberstellen. So zeigt sich beim Vergleich der ausführlich überlieferten Verhörprotokolle Johann Jacob Rehmanns, dass es an einigen Stellen Abweichungen von der im Prozess ermittelten Beute gibt: Der anonyme Autor des Berichts fügt in einem Beispiel sogar eine Null zur Geldsumme hinzu, sodass für einen Diebstahl zu Saalburg der verhältnismäßig hohe Ertrag von 2.000 Talern erst entsteht. 1194 Hält sich der Bericht ansonsten nahezu wörtlich an Teile der ihm zu Grunde liegenden Verhöre, so sind dennoch gewisse Kürzungen auszumachen. Dies betrifft vorwiegend Passagen, in denen Rehmann den Besitz von Schusswaffen verneint oder ihre Verwendung mit der alleinigen Absicht zur Selbstverteidigung zu erklären versucht. Diese Unterschiede zur Textvorlage erwecken den Eindruck, dass der Autor des Aktenmäßigen Berichts zwar ein sehr quellennahes Porträt der Haupträuber und ihres Prozesses lieferte, dabei aber die von den Verurteilten ausgegangene Bedrohung Nachricht Hildburghausen 1753; Actenmässige Nachrichten Bayreuth 1773; B ECKER , Actenmäßige Geschichte; G ROLMAN , Actenmäßige Geschichte; Raub- und Diebsgenossen 1835. Siehe dazu auch die vielen edierten Quellenauszüge in den Bänden von Boehncke und Sarkowicz, unter anderem in B OEHNCKE / S ARKOWICZ , Räuberbanden. 1191 L ANGE , Gesellschaft, S. 17. Lange formuliert diese Feststellung unhinterfragt. 1192 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764. 1193 Vgl. die sechs vollständigen Akten von Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV bis Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 723. 1194 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 150. <?page no="265"?> 266 übertrieb und betonte, indem er ihre vorgebrachten Verteidigungsargumente bezüglich der Bewaffnung bewusst aussparte. Insgesamt wurde nur der erste Abschnitt des Strafprozesses wiedergegeben. Längere spätere Ermittlungen um einen Straßenraub an einem Juden, die im Rahmen artikulierter Verhöre und Konfrontationen geführt wurden, die Vorgänge um einen weiteren Schatz, dessen Verwahrungsort Rehmann angeblich kannte, sowie die zahlreichen Korrespondenzen, die wegen ihm mit anderen Behörden geführt wurden, sind in den Bericht nicht eingearbeitet worden. Abgesehen von diesen Änderungs- und Kürzungstendenzen ist aber zu erkennen, dass die verschiedenen Verhaltensweisen der Inquisiten im Verhör und die Argumentationsmuster in der berichtenden Darstellung wieder auftauchten. Es wird ebenfalls mit angegeben, ob und wann ein Inquisit eine Defension eingereicht hatte. Gleichwohl wurden die Inhalte der Verteidigungsschriften, die dem Verbrecher zur Entschuldigung gereichen oder den Leser zum Nachdenken hätten veranlassen können, in den Aktenmäßigen Berichten nicht ausgeführt. Insofern setzten diese Repräsentationen lediglich einen Akzent auf die Rechtssicherheit im Lande und den gesetzlich verankerten Anspruch auf Verteidigung, dem auch in der Praxis nachgekommen wurde. Entlastungsgründe, die eine Angemessenheit der Justizausübung hätten in Frage stellen können, wurden vom anonymen Autoren unterschlagen. Richtet man den Blick auf die zentralen Funktionen der Textgattungen, so werden diese in der Forschung zu Aktenmäßigen Berichten neben der Unterhaltung des Lesers mit der Information weiterer Justiz- und Policeybehörden, mit der Verbrechensprophylaxe durch genaue Aufklärung, mit der Vermittlung der Arbeitsergebnisse von den Behörden an die jeweilige Regierungsebene sowie mit der Generalprävention gegenüber weiteren potenziellen Tätern beschrieben. 1195 Demgegenüber hatten die aktuellen Nachrichten in Form von Flugschriften ihren Hauptzweck eher darin, einzelne Rechtsfälle und die Hinrichtungen von Verbrechern zu überliefern. 1196 Sie wurden von der Forschung bisher mit unterschiedlichen Begriffen benannt. 1197 Im direkten Vergleich enthielten sie nur einen Teil der Informationen, den die Aktenmäßigen Berichte boten: Sie nahmen die Bestrafung von Verbrechern zum Anlass und schilderten deren Taten, Strafprozesse oder ihr vorheriges Leben. 1198 So beschreibt beispielsweise die aus acht Doppelseiten im Quartformat bestehende „Gründliche und ausführliche 1195 L ANGE , Gesellschaft, S. 16-17. 1196 Vgl. auch L ANDFESTER , Recht, S. 158. 1197 So laufen sie in mehreren Forschungsarbeiten unter Schafottliteratur, Hinrichtungsflugblätter oder Armesünderblätter, vgl. dazu A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter. 1198 Vgl. Außführliche Relation [Celle] 1699. Als Beispiel für eine Kombination aus Hinrichtungs- und Tatenschilderung in einem Flugblatt vgl. Ausführliche Nachricht, und Beschreibung, Der zu Berlin vollzogenen grossen EXECUTION, Des aller Welt, weit und breit berüchtigten Haupt- Diebes und einer grossen, von 800. Mann bestehenden Diebes-Bande Heerführers Gottfried Käsebier, aus Halle gebürtig, [...] in: HStA Dresden, 11125, Nr. 7476, unfoliiert. <?page no="266"?> 267 Nachricht“ über eine 1741 in Staschwitz verhaftete und in Zeitz arretierte Gruppe von Dieben weder die policeylichen Untersuchungen noch ihre Verhöraussagen. 1199 Diese Druckschrift beschränkt sich auf eine Darstellung der vorgeworfenen Diebstähle, eine Auflistung der 25 Inhaftierten, von denen zwei hingerichtet werden sollten, und eine Liste weiterer 27 Personen, die denunziert worden waren. Ihrem geringeren Umfang entsprechend stellten solche Flugmedien auch ihre Wirkungsabsicht nicht explizit in der gleichen Detailliertheit vor, wie die längeren Abhandlungen das häufig in ihren „Vorreden“ taten. Dennoch wird zum einen deutlich, dass der Zweck der Abschreckung im Vordergrund stand, denn die Räuber wurden mit Adjektiven wie ‚lasterhaft’, ‚schädlich’ und ‚verrucht’ gekennzeichnet. Zum anderen wurden der Gebrauch von Waffen und das gewaltsame Aufbrechen von Gebäuden besonders hervorgehoben. Überzeugend wirkte die Schwarz-Weiß-Zeichnung der gefährlichen ‚Rotte’ allerdings im vorliegenden Beispielfall nicht, gehörten doch zur Auflistung auch Tatversuche, in denen sich die Einbrecher durch die Nachbarn und Opfer hatten stören, erschrecken und vertreiben lassen. Bei einem Vorfall in Rötha trafen die Täter während ihrer Suche nach Beute auf eine ruhig auf dem Bett sitzende Frau, „vor welche sie erschrocken, einer von diesen Diebes-Gesellen aber hat sich sogleich resolviret, dieser Frau, weil dieser Diebstahl gleich am einen Ober-Neu-Jahres- Tage verübet worden, ein Neu-Jahr zu wünschen, und sind darauf sämtlich davon gesprungen“ 1200 . Da die ‚Nachricht’ darüber aber immerhin über 30 versuchte oder geglückte Diebstähle zusammentrug, bei denen angeblich Werte zwischen 16 und 1.663 Reichstalern entwendet wurden, diente sie dennoch der Rechtfertigung des Strafprozesses und der Hinrichtung der Haupttäter sowie zur Information darüber, welche Verbrechen dadurch schließlich aufgeklärt werden konnten. Ein ähnliches Bestreben lässt sich auch in der vierseitigen „Ausfürliche[n] Nachricht von der Salzburgischen Bande“ von 1751 feststellen, wenn ein kurzer Bericht die Leistung der Verfolgungsbehörden herausstellte, indem er vor allem die Entstehung des Verdachts und die Verhaftung der Täter an exponierter Stelle abhandelte. 1201 Der ausführliche „Vorbericht“ zum Aktenmäßigen Bericht über die Kuntze- Bande dagegen lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sein vorrangiger Zweck darin bestand, den Prozess, die angemessene Strafe und die Gerechtigkeit hinter dieser Regierungshandlung darzustellen. Damit wollte man dem Mitleid vorbauen, das bei der Bevölkerung durch den Anblick des während der Hinrichtung Leidenden entstehen könne. In dieser Beschreibung wird die Absicht deutlich, die Öffentlichkeit nicht nur an der Durchführung der Strafe, die immer eine Unberechenbarkeit in ihrer Wirkung barg, sondern auch an dem gesamten Prozess über die Verbrechen teilhaben zu lassen. Wenn die Bevölkerung lediglich die Misshandlungen an ihr unbekannten Personen beobachte, könne sich 1199 Gründliche Nachricht Räuber-Rotte [1742]. 1200 Ebd., S. 8 (eigene Zählung). 1201 Vgl. Ausfürliche Nachricht Salzburgischen Bande 1751. <?page no="267"?> 268 ohne genaue Kenntnis der Vorgänge ein Unverständnis entwickeln, so die Befürchtung. Aber da die Untersuchung mit großer Sorgfalt und Behutsamkeit geführt worden sei, verdiene sie es, „öffentlich bekannt gemacht zu werden“ 1202 . An den Formulierungen wird diese Absicht der Vermeidung jeglichen Mitgefühls zudem deutlich. Die Richter werden als „erhaben“ sowie mit „Einsicht, Weisheit und Geduld“ versehen als die „Väter der Stadt“ beschrieben, das Stadtgericht insgesamt als „wohllöblich“ und die Strafen als „längstverdient“ gekennzeichnet, während der Autor für die Verbrecher die schändlichsten Vokabeln gebraucht. Als „Missetäter“ und „verartete Menschen“ von außerordentlicher Bosheit wird so der Kontrapunkt zur Gerechtigkeit der Regierung gesetzt. Die Verbrechen hätten sich zudem gegen das Gemeinwesen und die allgemeine Sicherheit gerichtet. Es wird die Intention deutlich, Tumulten oder einem Stimmungsumschlag gegen den Henker oder die Richter bei Hinrichtungen vorzubeugen. 1203 Damit geht eine Bestätigung des Herrschaftsanspruchs der Obrigkeit einher. Flugschriften und Einblattdrucke wie die „Ausführliche Nachricht von denen entdeckten Sechs Diebs-Banden und erfolgten grossen Executionen“ 1204 von 1755 oder die „Nachricht von denen Sechs berüchtigten Dieben und Räubern“ 1205 , berichteten aktuell, widmeten sich aber nicht ausführlich den Prozessverläufen und Verhöraussagen, sondern verkürzten freier und prägnanter. Sie hoben die Leistungen der Behörden hervor und konnten auf diese Weise die Obrigkeiten stützen, 1206 wohingegen die ausführlicheren Berichte den biografischen Darstellungen deutlich mehr Platz einräumten. Die detaillierten Ausführungen über die Lebenswege, die Verhöre und damit auch die Verbrechen befriedigten die Sensationslust der Leserschaft und bildeten gleichzeitig ein zunehmendes Interesse am Individuum des Verbrechers ab. Insofern kann anhand der vorliegenden Aktenmäßigen Berichte bestätigt werden, dass anthropologische Deutungsmuster von Kriminalität in den Druckwerken immer mehr die Überhand gewannen. 1207 Diese Beobachtung wird durch Aufbau und Gliederung der Berichte unterstrichen, die sich an den Lebensgeschichten orientierten. Gleichsam ist diese Struktur dem Verlauf der ‚Erzählung’ der Verhören als zentralen Quellen geschuldet, die ebenfalls mit einem kurzen biografischen Abriss des Inquisiten starteten. Indem sich eine Entwicklung von kürzeren Darstellungen, die sich vorwiegend mit den Verbrechen und der Bestrafung der 1202 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 2 (Vorbericht). 1203 Dass es in der Praxis tatsächlich zu solchen Vorfällen kommen konnte, in denen sich die Bevölkerung gegen die Ausführung der Todesstrafe wendete, bestätigen unter anderem van D ÜLMEN , Theater, S. 153-160 und M ARTSCHUKAT , Töten, S. 42. 1204 Ausführliche Nachricht Sechs Diebs-Banden 1755. 1205 Nachricht Sechs berüchtigten Dieben [1755]. 1206 Dass diese Funktion aber nicht eindimensional zu verstehen, sondern in einen größeren Rezeptionskontext eingebunden war, darauf weist unter anderem Schwerhoff hin, vgl. S CHWERHOFF , Kriminalitätsgeschichte, S. 310-312. 1207 W ILLEMS , Verbrecher, L ANDFESTER , Recht, S. 179-180 <?page no="268"?> 269 Räuber beschäftigten, hin zu umfassenderen Abhandlungen vollzog, die ebenso aktuell auf die Täterbeschreibungen und die Gerichtsverfahren eingingen, rückten die Einzelschicksale stärker in den Fokus. Die wachsende Zahl ausführlicher Berichte ging einher mit dem Bedeutungsverlust von Flugblättern insgesamt. (Illustrierte) Flugblätter von geringerem Umfang und knapperem Inhalt verschwanden im 18. Jahrhundert zusehends aus der Medienlandschaft 1208 und stellten nur noch einen marginalen Teil der Kriminalitätsrepräsentationen. In den wenigen Exemplaren, die über die Schicksale der kursächsischen Räuber berichteten, finden sich etablierte, von der Obrigkeit propagierte und übernommene Argumentationsweisen, 1209 beispielsweise, dass Müßiggang, Faulheit und Gier das Phänomen der Räuberbanden begründeten: „Die Lust zu Ueppigkeit, die niedre Seelen reitzt, Macht, daß der Müßiggang, nach fremden Gute geitzt, Verbindet faules Volck zu frechen Räuber-Rotten, Das sich beruffen glaubt, GOTT und das Recht zu spotten. Die tolle Laster-Brut! bey aller Uebelthat, Verheert sie andrer Glück, und baut ihr Unglücks-Rad.“ 1210 „Moralreden“ 1211 in Form einzelner Verse und kurzer Gedichte wurden den Flugblättern und Flugschriften häufig einleitend oder abschließend beigefügt und ordneten auf diese Weise die Kriminalität als ethisch-moralische Verfehlung ein. Die Charaktere der Räuber wurden im Gros als verdorben, hinterlistig und berechnend beschrieben. So bewertete der Aktenmäßige Bericht zur Bande Lips Tullians von 1716 das Verhalten Gottfried Sahrbergs als bewusstes Taktieren: „Es äussterte sich auch seine neue Invention am 3ten Tage noch besser, als er sein gantzes Geständniß wieder revocirte, da er seine Urgicht in loco libero ratificiren solte. Welches Kunst-Stück derselbe nachgehends noch zu zweyen mahlen practicirte, da er sich das einemahl auch schon wieder in Marter-Keller bringen und ausziehen, auch die Daumen-Stöcke anlegen lassen, darauff aber sein Bekenntniß wieder gethan […] und doch, bey eingezogener Erkundigung […] wieder geläugnet und zurückgezogen. […] Wovon man nachgehends so viel von ihm selbst noch erfahren, daß diese revocationes bloß darum practiciret und vorgenommen, damit er nur etwas Zeit gewinnen möchte, weil er den Anschlag gehabt, sich aus dem Stockhause zu brechen und fortzukommen.“ 1212 [Hervorhebungen im Original, C.G.] 1208 Vgl. unter anderem W ILKE , Grundzüge, S. 71. 1209 Vgl. auch S CHILLING , Bildpublizistik, S. 231. 1210 Nachricht Sechs berüchtigten Dieben [1755]. 1211 A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter, S. 306. 1212 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 84 (Anderer Theil). <?page no="269"?> 270 Wie hier der Widerruf eines gegebenen Geständnisses, so werden auch andere Kommunikationsweisen im Verfahren, wie das vorgebliche Buchprojekt von Johann Gottfried Kuntze, 1213 als rein taktische Schachzüge interpretiert, was der Auslegung durch die Beamten vor Ort und während der Prozesse entspricht. Bosheit, Verschlagenheit und Abgeklärtheit finden sich in den psychologischen Deutungen der Verbrecher durch die Texte in verschiedenen Abstufungen und Varianten. So geben sie ebenfalls die schon in Verwaltungsquellen geäußerte Sichtweise wieder, dass äußerst abgebrühte Kriminelle in der Lage seien, die Folter auszustehen. Sahrberg habe beispielsweise eindeutige Kenntnisse über Recht und Justiz zu erkennen gegeben, weil „er gantz accurat gewust, wie weit die Jura bey der Tortur gehen, und nach Beschaffenheit der Indiciorum dieselbe nach denen gradibus erkannt werden“. 1214 Dass andererseits die physische Qual der peinlichen Befragung ambivalent bewertet und auf diese Weise Justizkritik zum Ausdruck gebracht würde, lassen die biografischen Abschnitte der Aktenmäßigen Berichte nicht durchscheinen. Sahrbergs umfangreiche und freiwillige Denunziationen von Juden und ihren vermeintlich großen Einflussmöglichkeiten, die seinem Prozessverhalten antisemitische Züge verliehen hatten, werden in dem Kapitel über ihn nicht in Gänze wiedergegeben. Der anonyme Autor ließ sich zudem nicht zur Übernahme der Werturteile über das ‚jüdische kriminelle Milieu’ hinreißen, sondern ordnete diese Aussagen lapidar als Versuch Sahrbergs ein, Pardon zu erreichen, was aber von den „hohen Collegiis“ zu Recht abgewiesen worden sei. 1215 Diese Haltung ist bemerkenswert, widerspricht sie doch deutlich der Intention anderer Autoren, wie Sigismund Hosmann oder Nicol Einert 1216 , die in den von ihnen besprochenen Räuberbanden jüdisch dominierte Gemeinschaften erkannt haben wollten. Ein unbekannter Verfasser führte schon im Titel seiner 1699 erschienen Druckschrift über die Nickel-List-Bande auf, dass „die Juden bey allen und jeden Diebställen am meisten interessirt“ gewesen seien [vgl. Abb. 1]. 1217 Die Prozessakten verschiedener Provenienz gegen Nickel List ließen zwar erkennen, dass tatsächlich einige Mittäter jüdisch waren. Doch die Gerichtsschreiber nutzten diesen Umstand während des Verfahrens anscheinend nicht zur allgemein abwertenden Auslegung. Lediglich zu dem Zeitpunkt, als sich verurteilte Juden wie Jonas Meyer während der Hinrichtung subversiv und abweichend verhielten, wurde ihnen dies in der Überlieferung als gotteslästerlich angerechnet. 1218 In 1213 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 61. 1214 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 97 (Anderer Theil). 1215 Ebd. 1216 Die Einert zugeschriebene „Actenmäßige Designation“ über eine im benachbarten Sachsen- Coburg aktive Räuberbande von 1735 beschrieb die kriminelle Gruppe mit einem jüdischen Übergewicht, [E INERT ], Actenmäßige Designation [1736]. 1217 Historische Ausführliche Erzehlung 1699. 1218 Vgl. eine Ergänzung zu seinem Urteil vom 22. März 1699, HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. <?page no="270"?> 271 diesem Zusammenhang setzte der Prediger Hosmann eine Druckschrift darüber auf, die „Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz“ behandelte. 1219 Auch sein im darauffolgenden Jahr erschienener Aktenmäßiger Bericht über die Bande von Nickel List enthielt das eindeutige Gebet, dass der Leser „vor aller Betrübung der bösen Juden / und aller Diebe“ 1220 bewahrt bleibe. Vielleicht war der nachweislich belesene Johann Gottfried Sahrberg 1715 in Kenntnis dieser älteren Schriften davon ausgegangen, unter den Richtern Fürsprecher zu finden, wenn er antijüdische Stereotype mit seinen Aussagen unterfütterte. Nichtsdestotrotz führte ihn dies nicht zu einer erhofften gnädigeren Beurteilung. Abb. 1: Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung / was bey dem grossen Inquisitions- Process, welcher auf des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Georg Wilhelms / Hertzogs zu Braunschweig und Lüneburg / gnädigste Verordnung wider die Veruffene Diebe der berühmten Güldenen Taffel […], Celle/ Leipzig 1699, Titelseite. 1219 H OSMANN , Juden=Hertz. Vgl. zu diesem Thema S CHMID , Juden-Hertz. 1220 H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl (Vorrede). <?page no="271"?> 272 Im Vergleich der in den Berichten bewerteten ‚Temperamente’ von vermeintlichen Anführern wie Lips Tullian, Stellvertretern wie Sahrberg und untergeordneten, ‚einfältigen’ Komplizen zeigten sich in den Medienberichten keine allzu großen Abstufungen. Allenfalls lässt sich eine tendenzielle Verschiebung des Schwerpunkts von der angeborenen Sucht nach Anerkennung hin zur lediglich leichten Verführbarkeit ausmachen. Dem jungen Daniel Lehmann wird zugestanden, dass er vor allem durch den Kontakt mit Dieben und Gaunern, die bei seinem Vater ein- und ausgingen, dazu verleitet worden war, sich auch kriminell zu betätigen. Besonders seinem Vetter Samuel Schickel wird die Verantwortung dafür beigemessen. Diese Auslegung der Vorgänge gründete auf den Aussagen Lehmanns vor der Dresdener Kommission, in der er zwar nicht eingestand, mit Schickel verwandt zu sein, diesem aber eine ausschlaggebende Rolle zuwies, weil er „ihn darzu verführet, ihm die Sache so leichte gemachet, und gesaget habe, daß er wohl einen [Taler] bekommen könte, wenn er nur mit gienge und verschwiegen wäre, weil er, inquisit, ein armer Teuffel sey und nichts habe.“ 1221 Es wird Lehmann aber von dem anonymen Autor darüber hinaus ein eigener „Appetit zu dergleichen Verrichtungen“ 1222 und eine wachsende kriminelle Energie sowie steigende Professionalität bei der weiteren Verrichtung von Diebstählen zugeschrieben. Die Beurteilung der psychischen Anlagen von Räubern wurde auch in den Aktenmäßigen Berichten unterstützt, etwa durch die Übernahme gegenseitiger Charakterisierungen. So hätte Tullian vor Gericht über Sahrberg ausgesagt, „daß er ein gar listiger und behutsamer Dieb sey, welcher viel Böses begangen und begehen helffen […], wäre darnebst sehr betrüglich und suchte allezeit den besten Antheil zu bekommen, und die wenigste Arbeit oder Gefahr zu übernehmen“. 1223 Die Rivalität und wechselseitige Verleumdung, die sich während der Konfrontationen des Strafverfahrens geäußert hatte, eignete sich für die Autoren bestens, um das Bild des durchweg verdorbenen Unmenschen auszuschmücken. An den schriftlichen Gerichtsquellen orientierte sich auch die Mediendarstellung von „Räuberbräuten“ oder anderen beteiligten Frauen: Weibliche Protagonistinnen sind, entsprechend ihrer untergeordneten Position während der Räuberbandenprozesse, in den medialen Abbildungen aus Kursachsen selten und haben eine deutliche Unterordnung als ‚Randfiguren’. Frauen werden allenfalls im Rahmen der biografischen Schilderungen als Mütter, Ehefrauen sowie Partnerinnen, und in Bezug auf die Diebstähle als Opfer erwähnt. Dabei bieten die Texte nie ausführliche Beschreibungen der zwischenmenschlichen Kontakte oder der prägenden Rollen, die auch weibliche Komplizinnen einnehmen konnten. Insofern ist für die Aktenmäßigen Berichte aus dem untersuchten sächsischen Territorium der These Eva Wiebels beizupflichten, dass Delinquentinnen in den Lebensbeschreibungen durch die Medien ihrer Biografien beraubt wur- 1221 HStA Dresden, 10047, Nr. 3942, fol. 170v. 1222 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 204-205 (Anderer Theil). 1223 Ebd., S. 87 (Anderer Theil). <?page no="272"?> 273 den und nicht im Vordergrund des öffentlichen Interesses zu stehen schienen. 1224 Vor diesem Hintergrund blieb das - von Dainat in der Langzeitperspektive beobachtete 1225 - anthropologisch-biografische Interesse an den Bandenräubern in den Aktenmäßigen Berichten doch begrenzt. Wie die charakterliche Zeichnung der Täter in den Medien vorgenommen wurde, war durch die Ausführungen der Gerichtsakten und besonders durch die vorab erfolgte Beurteilung von den Richtern prinzipiell vorbestimmt. Da die Autoren zumeist selbst dem Umfeld der Gerichte entstammten, wäre eine erkennbare Justizkritik wiederum einer Selbst- und Herrschaftskritik zu nahe gekommen. 1226 Die Endurteile wurden innerhalb der einzelnen Kapitel in der Regel vollständig wörtlich wiedergegeben. Entscheidend für die Einordnung der Kriminellen waren außerdem die anschließenden Ausführungen darüber, wie sie sich in die Vollstreckung ihres Urteils gefügt und ob sie ihre Taten in der Vorbereitung darauf bereut hatten. Erst wenn dies eingetreten war, fand der Begriff vom ‚Armen Sünder’ auf den betreffenden verurteilten Räuber Anwendung. Die Aktenmäßigen Berichte wie die Flugschriften spiegelten demnach wider, dass die sittlich-religiöse Seite des Strafrechts auch im 18. Jahrhundert immer noch eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielte. 1227 So finden sich spätestens am Ende der einzelnen biografischen Ausführungen und in den Schlussformulierungen der Gesamttexte weitere Hinweise auf die moralisch belehrende Absicht der Berichte, die Leser und damit die Untertanen auf Ordnungstreue und eine rechtschaffene Lebensweise einzuschwören. Besonders, aber nicht ausschließlich, wird diese religiöse Schwerpunktsetzung von dem Prediger Hosmann vorgenommen. Die Strafe wird durchweg als gottgewollt und gerechtfertigt ausgelegt und der Lebensweg eines Verbrechers ist - hat er einmal die falsche Richtung eingeschlagen - als schicksalhaft vordefiniert. Verbrechen wird in der Darstellung auch als Sünde gedeutet, Strafrecht und Moral stehen noch immer in enger Korrelation. Nur Gott als oberstem Gerichtsherrn wird damit das Recht zugewiesen, einem ‚Armen Sünder’ nach der weltlichen Strafe auf dem Weg ins Jenseits zu vergeben. Dem rechten Glauben und moralisch einwandfreien Verhalten werden somit oberste Prioritäten eingeräumt, wodurch die Texte zur positiven Generalprävention beitragen sollen: Das Vertrauen in die Gerechtigkeit des unter dem Schutz des Herrn stehenden Landesvaters soll konsolidiert werden, indem man das Rechts- und Strafwesen als funktionsfähig präsentiert. Die Abschreckung vor eigener Verfehlung und Devianz, die sich schon im öffentlichen Hinrichtungsritual ausdrückt, wird zusätzlich verstärkt. 1224 Vgl. W IEBEL , Schleiferbärbel. 1225 D AINAT , Mörder. 1226 Ähnlich lautet auch das Ergebnis zu Flugblattproduzenten, vgl. S CHILLING , Bildpublizistik, S. 230. 1227 Vgl. A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter, S. 282. <?page no="273"?> 274 Weitere aktuelle Medien, wie die periodischen Zeitungen, die im 18. Jahrhundert an Zahl und Auflage zunahmen, 1228 und Intelligenzblätter, deren kürzere Blütezeit etwa zwischen 1720 und 1800 anzusiedeln ist, 1229 hatten bei der Darstellung von Räuberbanden eher Randpositionen. Die ausführliche abschreckende oder belehrende Beschreibung von Verbrechen und Strafen gehörte nicht zu ihrem Themen- und Funktionen-Repertoire. 1230 Unter anderem setzte man Intelligenzblätter zeitweise als Organe zur Bekanntmachung von Gesetzen ein. 1231 Daneben wurden Kriminalität und Delinquenten in diese Druckwerke nur aufgenommen, wenn es um deren konkrete Verfolgung ging. So wurden in Zeitungen und Intelligenzblättern seit dem 18. Jahrhundert auch Fahndungs- und Gaunerlisten publiziert. 1232 Beispielsweise war Johann Gottlob Geßel nach der Veröffentlichung seines Steckbriefes in den ‚Leipziger Zeitungen’ verhaftet worden. 1233 Mehrere Nachweise über den Einsatz der ‚Leipziger Zeitungen’ innerhalb der Fahndung und Verfolgung sächsischer Räuberbanden, unter anderem in Form von kurzen Tatbeschreibungen, sind überliefert. 1234 Zur Ausprägung und Verfestigung von Räuberbildern leisteten sie dadurch jedoch keinen eigenständigen Beitrag. 6.1.2 ‚Totengespräche’ Manche kursächsischen Bandenräuber traten nach ihrem Tod im literarischen Format der „Gespräche in dem Reiche der Todten unter den Spitzbuben“ medial in Erscheinung. Angelehnt waren diese Zusammentreffen zweier Krimineller, die sich im wahren Leben meist nicht begegnet waren, an einen bereits bestehenden Medientyp: ‚Totengespräche’ als fiktive Dialoge Verstorbener kannte man schon in der griechischen Antike, zum Beispiel von dem Dichter Lukian von Samosata, und sie lebten gerade im 18. Jahrhundert im Pressezentrum Leipzig wieder auf. 1235 Dazu trug vor allem David Fassmann (1685-1744) bei, der durch die „Gespräche im Reiche derer Todten“ eine historisch-politische Zeit- 1228 Vgl. W ILKE , Grundzüge, S. 78-94; B ÖNING , Aufklärung. 1229 Vgl. grundlegend als Übersichten von S CHWARZKOPF , Zeitungen, außerdem W ILKE , Grundzüge, S. 115-127 und B ÖNING , Intelligenzblatt. 1230 W ILKE , Grundzüge, S. 84. 1231 S CHILLING , Policey, S. 428. 1232 B LAUERT / W IEBEL , Gauner- und Diebslisten, S. 32; S CHILLING , Policey, S. 427. 1233 HStA Dresden, 10079, Loc. 12347, fol. 16v. 1234 Vgl. hierzu Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 148-156; Staatsarchiv Leipzig, 20383, Nr. 1294, fol. 7-8; Staatsarchiv Leipzig, 20347, Nr. 137, fol. 320. 1235 Vgl. etwa die bibliographische Übersicht der Totengespräche Lukians von Samosata im Projekt Gutenberg-DE unter URL: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ 3961/ 1 (letzter Zugriff: 15. August 2012). Hans Magnus Enzensberger trug mit der Edition von Totengesprächen in „Die Andere Bibliothek“ und mit „Ohne uns. Ein Totengespräch“ (1999), „Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten“ (2004) und „Hammerstein oder der Eigensinn“ (2008) zur aktuellen Wiederbelebung dieser biografischen literarischen Gattung bei. <?page no="274"?> 275 schrift etablierte, die zeitweise eine durchschnittliche Auflage von 3.000 Exemplaren erreichte. 1236 In den 240 einzelnen Ausgaben zwischen 1718 und 1739 begegneten sich berühmte Menschen des öffentlichen Interesses aus der Vergangenheit im Jenseits und unterhielten sich dort über ihre persönlichen Biografien, besondere Ereignisse sowie allgemeine moralische und aktuelle politische Problemstellungen. Beispiele dieser Textgattung, deren Zahl sich für das 18. Jahrhundert nicht genau bestimmen lässt, stammen aber nicht nur von Fassmann, sondern erschienen auch in Journalen anderer Verfasser. 1237 Unter den Herrschern und Herrscherinnen, geistlichen und weltlichen Würdenträgern, Philosophen oder Feldherren, die normalerweise auf diese Weise postum in Szene gesetzt wurden, war im Jahr 1733 beispielsweise der sächsische Kurfürst. In dem über 190 Seiten starken „Gespräche Im Reiche derer Todten, Zwischen Zweyen grossen Königen unserer Zeit, Nehmlich, Dem Könige von Pohlen/ und Chur-Fürsten zu Sachsen/ Friedrich August/ und Dem Könige von Sardinien, und Hertzoge von Savoyen/ VICTOR AMADEO, Darinnen Beyder Herren ausserordentliche Lebens-Geschichte und Helden-Thaten auf eine angenehme Art vollständig beschrieben werden“ führten die beiden erst jüngst verstorbene Persönlichkeiten eine ausführliche Konversation miteinander. 1238 Die Dialogform und die Instrumentalisierung populärer Personen, auf deren Geschichte hin ihre fiktiven Aussagen passend zugeschnitten werden konnten, ermöglichten es dem jeweiligen Autoren, zeitkritische Thesen vorzubringen und strittige Themen in literarischer und manchmal satirischer Form zu diskutieren. 1239 Daneben enthielten die privaten Lebensgeschichten der Protagonisten und die durch ihre jeweilige Zusammenstellung erzeugte Spannung ebenfalls Material zur leichten anschaulichen Lektüre, sodass diese Gespräche Information, Bildung und Unterhaltung miteinander verknüpften. Diese besondere Kombination trug wohl dazu bei, dass den Totengesprächen ein großer Publikumszuspruch attestiert werden kann. 1240 Wie bei anderen Periodika des 18. Jahrhunderts ist zu vermuten, dass sie im Rahmen eines Abonnentensystems regelmäßig an zahlende Leser ausgeliefert wurden und so eine bildungsinteressierte, aber nicht ausschließlich bürgerliche Teilöffentlichkeit erreichten. An dieses Publikum oder zumindest an eine Leserschaft, dem die Zeitschrift von Fassmann bekannt sein musste, richteten sich in ähnlicher Weise die vier als 1236 Vgl. S CHMID , Gespräche und G ESTRICH , Absolutismus, S. 192-193. Als ‚historisch-politische’ Zeitschrift’ wird diese Gattung auch begriffen im Überblick von W ILKE , Grundzüge, S. 101 und bei W INTER , Zeitschrift, S. 420. 1237 Sie erschienen in hoher Zahl zwischen 1680 und 1810. Vgl. R UTLEDGE , Dialogue, S. 129 und S. 134-166. 1238 Gespräche Friedrich August Victor Amadeo 1733. Dies war nicht das einzige Totengespräch, in dem der sächsische Kurfürst auftrat. 1239 Satirische Ausrichtungen beobachtet Rutledge eher in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, in Schriften, die sich von Fassmann distanzierten, R UTLEDGE , Dialogue, S. 103-127. 1240 S CHMID , Gespräche, S. 54; D AINAT , Gespräche, S. 318. <?page no="275"?> 276 „Entrevuen“ bezeichneten Bände „Gespräche In dem Reiche der Todten“ 1241 von 1722 und 1723, ein „Besonderes curieuses Gespräch im Vorhofe Des Reichs Der Todten“ 1242 von 1722 und die im Jahr 1808 mit Verspätung und leicht abweichend angelegten „Gespräche aus der Schattenwelt“ 1243 . Hier kommunizierten unter anderem Nickel List, Lips Tullian, Jonas Mayer, Moses Orsenninck (Hoscheneck) und Christian Müller miteinander und mit anderen berühmt gewordenen Räubern. Die fingierten Unterhaltungen umfassten etwa 45 bis 75 Seiten und waren in Gestaltung und Aufbau den Totengesprächen Fassmanns ähnlich. Allerdings wurden sie wahrscheinlich im freien Verkauf vertrieben. 1244 Sie besaßen ebenso wie diese jeweils ein Titelkupfer, das die Dialogpartner abbildete, deren ‚Entrevue’ von einem zusammenfassenden, moralisch belehrenden Gedicht begleitet wurde. So besagt der Moralvers zum Austausch zwischen Thomas Wilmot und Christian Müller [vgl. Abb. 2]: „Es hat uns jene Welt, geraedert und gehenckt, Weil wir durch Raub und Mord, auch diebstahl sie geckraenckt. Solt alles haencken, was sich naehrt von Raub und stehlen, Es würde warlich bald an Strick und Galgen fehlen.“ 1245 Durch die leichten Abwandlungen in der Formulierung ihrer Titelzeile wird deutlich, dass es sich bei den Druckschriften zwar um eine Adaption des medialen Formats handelte, aber die anonym verfassten ‚Spitzbubengespräche’ nicht aus der Feder Fassmanns stammen. 1246 Hier wurde verurteilten Verbrechern ein Forum gegeben, sich vermeintlich ‚persönlich’ zu äußern und die eigene Perspektive der Dinge darzulegen. Dadurch erhob man sie gleichsam zu Akteuren des medialen und sozialen Geschehens. Gleichwohl diente ihre Rolle als eingesetztes ‚Sprachrohr’ des Autors dazu, ihre Leben und Taten kritisch einzuordnen und zu gesellschaftlichen Themen kontrovers Stellung zu beziehen. Vor allem aber lässt sich ihre literarische Hervorhebung zum öffentlichen Gesprächspartner als satirische Unterwanderung der Totengespräche deuten, deren ursprüngliche Protagonisten in ihrem Leben zumeist Verdienste und Ehrentitel gesammelt 1241 Gespräche Erste Entrevue 1722; Gespräche Zweyte Entrevue 1722; Gespräche Dritte Entrevüe 1722; Gespräche Vierdte Entrevüe 1723. 1242 Besonderes curieuses Gespräch 1722. 1243 Gespräche Schattenwelt 1808. Dieses späte Beispiel unterscheidet sich grundlegend von den anderen, indem es als Anhang eines Aktenmäßgen Berichts konzipiert ist und sich in seiner Form stärker an der Dramatik orientiert. So ist es in drei Szenen unterteilt und bindet mit dem Satan, mehreren Teufeln, einem Buchhalter und Charon neben den Verurteilten noch zahlreiche Protagonisten ein. Es funktionierte somit nach einem anderen Wirkungsprinzip als die Totengespräche Fassmanns und bleibt daher im Folgenden außen vor. 1244 D AINAT , Gespräche, S. 324. 1245 Gespräche Vierdte Entrevue 1723, Titelkupfer. 1246 Laut Schmid erschienen die Totengespräche Fassmanns anonym, S CHMID , Gespräche, S. 55. <?page no="276"?> 277 hatten. Indem Geächtete und Kriminelle mit diesen auf eine Ebene gestellt wurden, erfuhr das literarische Format eine ironische Spiegelung. 1247 Abb. 2: Gespräche In dem Reiche der Todten unter den Spitzbuben / Vierdte ENTREVüE, Zwischen Dem Englischen Strassen-Räuber Thomas Wilmot, und dem mocquanten Nicol- Listischen Cammeraden, Christian Müllern […], Frankfurt/ Leipzig/ Hamburg 1723, Titelseite. 1247 D AINAT , Gespräche, S. 319. <?page no="277"?> 278 Die Auswahl und die Reihenfolge der vier zusammengehörigen ‚Entrevuen’ von 1722 und 1723 erlauben Rückschlüsse auf den Bekanntheitsgrad der darin vorgestellten Räuber. Dementsprechend waren sowohl der Name Nickel List als auch Lips Tullian, die die Protagonisten des ersten Bandes waren, dem Publikum auch nach ihren Strafprozessen noch Begriffe. Diese Berühmtheit hatten die in der Zwischenzeit erschienenen Druckerzeugnisse anderer Mediengattungen sicherlich mit gefördert. Die zweite ‚Zusammenkunft’ war mit Falsette und Cartouche 1248 zwei französischen Kriminellen gewidmet, während der dritte Band zwei Verurteilte aus der Bande Nickel Lists in den Mittelpunkt stellte. Dass die beiden Spitzbuben Jonas Meyer und ‚Hoscheneck’ Zeitgenossen und miteinander bekannt gewesen waren, weicht etwas vom eigentlichen Ansatz der Literaturgattung ab, in der es vorrangig darum ging, die Konfrontation zweier Personen miteinander zu fingieren. Die Auswahl fiel aber ganz unzweifelhaft deshalb auf die beiden Personen, weil die beiden jüdischen Räuber als Idealtypen der als verstockt, gierig und betrügerisch verschrienen Juden exemplarisch vorgeführt werden sollten. Durch ihre Hinrichtungen, bei denen sie sich geweigert hatten, zum Christentum überzutreten, waren sie zum Gegenstand weiterer Medienrepräsentationen und allgemein bekannt geworden. In der vierten ‚Entrevue’ wurden mit Thomas Wilmot ein englischer Straßenräuber 1249 und mit Christian Müller ein weiterer Mittäter Nickel Lists herausgegriffen, um sich über aktuelle Begebenheiten auszutauschen. Die Auswahl der Bandenräuber spiegelt ein erhöhtes Interesse des Autors - wahrscheinlich auch des Publikums - an der Bande um den 1699 hingerichteten Nickel List wider. Den Texten werden nur kurze Einleitungspassagen mit Erläuterungen vorweggeschickt und so gelangen die Leser mit dem Zusammentreffen der beiden Protagonisten zumeist schnell zum Hauptteil. Wie die Titelformulierungen bereits ankündigen, schildern die beiden Personen nacheinander ihre Biografien. Der fiktive jeweilige Zuhörer schaltet sich nur hin und wieder mit erläuternden Bemerkungen oder Nachfragen in den Bericht seines Gegenübers ein. Nachdem sie ihre von Anekdoten begleiteten Lebensgeschichten mit der Hinrichtung und ihrem ‚Nachruhm’ beendet haben, besprechen die Protagonisten mehrere Seiten lang im Wechsel Themen aus Gesellschaft, Religion und Recht. Die klare Vorrangstellung der Biografien der Räuber legt die Vermutung nahe, dass auch diese Repräsentationsform einer insgesamt stärker täterzentrierten und anthropologischen Sichtweise auf Kriminalität Vorschub leistete. Die Texte liefern Indizien dafür, dass den Autoren die lebensgeschichtlichen Beschreibungen aus den Gerichtsakten oder zumindest aus den Aktenmäßigen Berichten über die Fälle bekannt gewesen sein mussten. Beispielsweise stimmten die Ausführungen über Konfrontationen während der Verhöre mit den tatsächlich belegbaren Verhaltensweisen der Inquisiten überein. Tullian, der in seinem 1248 Zur literarischen Darstellung Krimineller in Frankreich am Beispiel Cartouches vgl. L ÜSEBRINK , Kriminalität, S. 14-35. 1249 Zum Bild englischer ‚Highwaymen’ vgl. A RNOLD , Lives und S PRAGGS , Outlaws. <?page no="278"?> 279 Gespräch mit Nickel List einige Erzählungen über den Komplizen Studentenfriedrich einfügt, gibt zu, selbst schnell geständig gewesen zu sein, sein Wissen um die Verbrechen und Mittäter weitergegeben und dabei Sahrberg zum Geständnis überredet zu haben. 1250 Auch enthält das Gespräch den Hinweis auf Lists Testament, was ebenfalls von einer großen Quellennähe zeugt. 1251 Handlungsorte, Zeitangaben, Opfernamen und Beutesummen der zahlreich dargestellten Taten stimmen ebenfalls weitgehend mit den überprüfbaren Daten überein. Weil aber für die Totengespräche ausführliche Selbstrepräsentationen von Verstorbenen konstruiert werden mussten, die keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hatten, war es für den Autoren zusätzlich zu den Fakten aus den Gerichtsquellen notwendig, Anekdoten und Alltägliches zu erdichten und zu ergänzen, um eine runde, ansprechende und abgeschlossene Geschichte entstehen zu lassen. So berichtet Jonas Mayer in seiner Lebenserzählung davon, wie er ohne Wissen seiner Komplizen eine Affäre mit Nickel Lists Partnerin Anna von Sien eingefädelt habe. 1252 Solche Beigaben dienten nicht nur dazu, die Lesbarkeit einer gerichtlichen Überlieferung zu verbessern, indem sie die rohen Fakten in der Dialogform mit privaten, pikanten oder witzigen Details ausschmückten, sondern auch dazu, eine deutlichere Charakterisierung der Personen zu liefern. Im vorliegenden Beispiel wurden damit vermeintliche Treulosigkeit, Promiskuität und Ignoranz gegenüber religiösen und moralischen Instanzen präzisiert. Der Gesprächscharakter droht zwar an manchen Stellen zur Nebensache zu geraten, kommt aber andererseits wieder voll zur Geltung, wenn kontroverse Meinungen geäußert oder die Geschichten und Schicksale der Protagonisten gezielt miteinander verglichen werden sollen. Mit der direkten Gegenüberstellung wurde das ‚Spitzbubengespräch’ aufgelockert und dem Publikum das Verständnis und die Einordnung der Zusammenhänge erleichtert, wenn beispielsweise Lips Tullian resümiert: „Ihr waret ein listiger Schleicher und sehr heimlich/ ich aber ein verwegener parforce Dieb/ der sich auf seine Stärcke verließ. […] Gedachte man damahls eurer listigen Streiche gegen mich/ und lobte sie/ so that ich dargegen gantz verächtlich/ und pflegte zu sagen/ daß eure Thaten gegen die Meinigen nichts zu achten/ weil ihr nur mit Dietrichen und Nachschlüsseln eure Sachen gemacht/ ich hingegen alle Thüren und Schlösser mit meinen Fäusten und Schreibe-Federn/ so nennete ich die Brecheisen/ aufgemacht.“ 1253 1250 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 54. 1251 Ebd., S. 20. 1252 Gespräche Dritte Entrevue 1722, S. 14-15. 1253 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 26. <?page no="279"?> 280 Zum einen verfolgen diese Konfrontationen zweier Räuber bezüglich ihrer Bewertung die in anderen Medien bereits eingeschlagenen Pfade. Insofern wird die Angemessenheit ihrer Bestrafung nicht prinzipiell hinterfragt. Verbrechen, Vorgehensweise, Gewalttätigkeit, Organisationsgrad und Alltagsleben in den Banden werden präsentiert und nicht in Zweifel gezogen. Zum anderen aber dienten gerade die vergleichenden Passagen dazu, auch Zwischentöne zuzulassen: Dass Nickel List eher ein kluger Gauner und geschickter Techniker war, der die Komplizen nicht drillte, sondern selbst schon mal den Kürzeren zog, und vor Gericht nicht resistent gegen die Folter war, sondern schnell alles zugegeben hatte, unterschied ihn in der Repräsentation klar von Tullian, der als gewaltbereit, stur und hart gegenüber seinen Mittätern, Opfern und der Justiz gezeigt wurde. Dieser Charakterisierung entspricht auch der Stolz, mit dem Tullian seine Persönlichkeit und Karriere beschreibt. 1254 Weiterhin wurde einerseits in den unterschiedlichen Gesprächen die Existenz einer kriminellen Gruppierung nachgezeichnet, die unter Umständen klare Strukturen aufwies, andererseits führten Mayer und Horscheneck beispielsweise an, dass sie zwar zur gleichen Bande gehört, aber nicht einen ihrer Diebstähle gemeinsam begangen und sich nicht einmal sonderlich gut gekannt hätten. 1255 Das darin erkennbare offenere Verständnis einer Bande und ihrer Persistenz ist eine mögliche Differenzierung, die implizit aus den Gesprächen hervorgehen konnte. Sehr einseitig kommen in mehreren Berichten antijüdische Klischees zum Ausdruck. So wird in der „Ersten Entrevue“ aus Nickel Lists Perspektive die Unterstellung formuliert, „in Verkauffung des Silberwercks betrogen mich die Juden/ nach ihrer angeerbten Gewohnheit abscheulich/ deren grossen Tücke und Falschheit ich jetzo noch so feind bin“ 1256 . Ebenso werden Tullian Meinungen in den Mund gelegt wie: „Keine wusten mich zu solcher schändlichen Lebens-Arth mehr zu persuadiren/ als die verfluchten Juden/ welches Volck geschickt ist/ Heyden und Christen zur Schelmerey zu verführen.“ 1257 In der „Dritten Entrevue“ geben darüber hinaus die grundsätzliche Anlage des Textes und die Zusammenstellung der Gesprächspartner antisemitischen Meinungen eine Bühne. 1258 Vom Vorwort, das konstatiert, „es sey die Betrügerey das eintzige Naturell der sämmtl[ichen] jeztlebenden Judenschafft“ 1259 , bis zum Fazit werden durchgehend abwertende Urteile über das gesamte Judentum gefällt. Juden werden kriminalisiert und ihre Handlungen und Alltagspraktiken auf hinterhältige und zweifelhafte Zielsetzungen bis hin zu gegenseitigem Betrug reduziert. Der Diebstahl wird als ihre ‚Arbeit’ bezeichnet, wobei sie stets auf den 1254 Ebd., S. 25. 1255 Gespräche Dritte Entrevue 1722, S. 11. 1256 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 10. 1257 Ebd., S. 24. 1258 Vgl. dazu auch D AINAT , Gespräche, S. 325-326. 1259 Gespräche Dritte Entrevue 1722, S. 2. <?page no="280"?> 281 größten ‚Profit’ bedacht seien. 1260 Der Autor streut zahlreiche hebräische Ausdrücke und Worte aus der „Spitzbubensprache“ - teilweise mit Übersetzungen - in die Erzählungen ein, um deren hohe Bedeutung im Alltag deutlich werden zu lassen. Das Totengespräch der jüdischen Räuber ist „in die untersten Oerter der Erden“ und damit zweifellos in die Hölle verlegt. Der Verfasser folgte damit einerseits den zeitgenössischen Vorstellungen von Recht, Strafe und Ehrverlust bei Versäumnis der Bezeugung von aufrichtiger Reue. Trotzdem räumte er beiden im Rahmen der Gespräche eine Tendenz zum Bedauern ihrer Verbrechen und ihres Mangels an Bereitschaft zur Konversion ein. Jonas Mayer erklärte sein ‚schändliches’ Verhalten bei der Hinrichtung mit seiner Furcht vor dem Galgen, die ihn zu lästerlichen Reden veranlasst habe. In Rückschau auf ihr Schicksal aber stellten beide im Gespräch fest: [Hoscheneck: ] […] „Wie gut wäre es doch, wenn wir uns dargegen alle beyde zum Christlichen Glauben bekehret hätten. Jonas Mayer: Nunmehro ist es zu langsam, da wir schon sitzen, wo wir bleiben sollen […]“ 1261 Hoscheneck richtete zum Abschluss seines Berichts einen Appell an seine Glaubensbrüder zur Bekehrung, denn es sei „freylich zu bejammern, daß unser Geschlecht seine Blindheit nicht will erkennen, und so vergeblich auf einen andern Meßiam hoffet“. 1262 So bildet das Totengespräch zwar die Idee der gerechten, ewigen Strafe für die zutiefst verdorbenen und verstockten Juden ab, übersendet aber gleichzeitig die versöhnliche Botschaft, dass die Bestraften, die sich während der Hinrichtung abweichend verhalten hatten und daher nicht zu ‚Armen Sündern’ geworden waren, nun doch noch Einsicht zeigten. Der Text trug so einerseits zur Verfestigung gängiger Vorurteile gegen Juden bei, lieferte aber andererseits ein Erklärungsmuster für das für Zeitgenossen schwer verständliche Verhalten Mayers und Hoschenecks. Vor allem aber machte er aus den beiden Delinquenten im Nachhinein Reumütige, die zum Vorbild für alle Juden erhoben wurden, und gab den Lesern gleichsam einen versöhnlichen ‚Abschlussbericht’ der Geschichte. Im direkten Vergleich der beiden aus dem Jahr 1722 überlieferten, anonym verfassten Gespräche über die Räuber Lips Tullian und Nickel List - also „Erste Entrevue“ und „Besonderes curieuses Gespräch“ 1263 - lassen sich einige formale und inhaltliche Unterschiede ausmachen: „Besonderes curieuses Gespräch“ 1260 Ebd., S. 7. 1261 Ebd., S. 22. 1262 Ebd., S. 40. 1263 Gespräche Erste Entrevue 1722; Besonderes curieuses Gespräch 1722. <?page no="281"?> 282 konzentrierte sich völlig auf die Biografien, die teilweise in Passagen von 20 bis 30 zusammenhängenden Seiten ohne Unterbrechung durch den Gesprächspartner ausgeführt wurden und beendete die erdichtete Zusammenkunft im unmittelbaren Anschluss daran. Dagegen nahm die Dialogform innerhalb der „Ersten Entrevue“ eine bedeutendere Rolle ein. Das ist auch daran zu erkennen, dass sich List und Tullian nach Beendigung ihrer biografischen Abschnitte noch weiter über das Strafwesen, Religion, Familie und Ehe unterhielten. 1264 Währenddessen wurden dann mehr oder weniger aktuelle Anekdoten dazu aus dem Zeitgeschehen und aus dem Leben Studentenfriedrichs eingeflochten oder nacherzählt. 1265 Die täterbezogene biografische Orientierung der Texte wurde auf diese Weise bewusst mit Gesellschaftskritik kombiniert. Während die Räuber, die als gewitzt, geschickt, durchtrieben, aber nicht unsympathisch gezeichnet werden, mit Distanz und in abgeklärtem Duktus auf ihr Leben und ihre Taten zurückblickten, wurden immer wieder Einschübe vorgenommen, die der Stellungnahme zu den aktuellen sozialen, rechtlichen und religiösen Verhältnissen dienten. So übte Christian Müller in seinem Dialog mit dem englischen Räuber Kritik am Berufsstand der Advocaten, denen man an ihrer roten Kleidung ansehe, dass „denen Clienten nicht mehr der Schweiß, sondern gar das Blut ausgepresset würde“. 1266 Tullian erwähnte nebenbei, dass Studenten „meistentheils listige und leichtfertige Vögel“ seien. 1267 Besonders die auf den letzten Seiten geführten Gesprächsabschnitte enthielten Anekdoten und Fallberichte mit Bezug auf Gesellschaft, Kriminalität und Zeitgeschehen. Neben Kriminalgeschichten, die in mehr oder weniger nachvollziehbarer Verbindung zu den vorliegenden standen, wurde etwa von List und Tullian mit unterschiedlichen Argumenten diskutiert, ob für Diebe und Räuber eher die Arbeitsstrafe im Zuchthaus oder die Todesstrafe zu befürworten sei, bevor Nickel List damit schloss, es sei besser, wenn „die Geistlichen und Obrigkeit davor sorgen/ wie sie das Böse bestraffen sollen/ indem solche Leute ex praxi klüger sind“. 1268 Nach der so gegebenen Bestätigung des Rechtssystems folgte unter anderem eine Auseinandersetzung mit den christlichen Konfessionen, wobei gar Calvin in der Unterwelt verortet und der Katholizismus ebenfalls ins Lächerliche gezogen wurde. Bemerkenswert ist darüber hinaus eine kurze Reflexion des Mediensystems, innerhalb dessen sich im 18. Jahrhundert zunehmend Zeitungen und Zeitschriften zu etablieren begannen. Nickel List weist deutlich darauf hin, dass er ehemals, als er noch einen ehrlichen Lebenswandel als Gastwirt betrieben habe, „dergleichen Diebs-Historien/ und Lebens-Beschreibungen von Räubern und 1264 Vgl. zur Funktion der Gesprächsform in Zeitschriften des 18. Jahrhunderts G ESTRICH , Absolutismus, S. 190-191. 1265 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 42-60. 1266 Gespräche Vierdte Entrevüe 1723, S. 15-16. 1267 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 50. 1268 Ebd., S. 47. <?page no="282"?> 283 Mördern hertzlich gerne gelesen“ hätte. Auf dem wachsenden und vielfältigen Markt der von Gelehrten verfassten Journale wünsche er sich daher ein monatliches ‚Spitzbuben-Journal’ „von den neuesten besonderen Streichen/ die in Europa, absonderlich in Deutschland/ mit dergleichen listigen Nacht-Raben sich zugetragen“ hätten. 1269 So wurde ein Desiderat formuliert, das die Leserschaft angeblich verspüre und das gleichsam mit den ‚Spitzbubengesprächen’ gefüllt werden könne, die später aus gleicher Hand entstehen würden. Zusammengefasst konnten ‚Totengespräche’ somit kritische Lesarten entfalten, während andere Druckmedien stärker unter territorialer Kontrolle standen, wie vor allem die Zeitungen, in denen Meinungsäußerung und Kommentierung lange Zeit kaum möglich war. 6.1.3 Texte der Wissensvermittlung Weist der Kontext der Totengespräche bereits in die Richtung regelmäßig erscheinender Druckmedien, so werden im Folgenden unter anderem weitere Periodika in den Blick genommen. Unter dem weiten Begriff der Wissensvermittlung wird ein Spektrum unterschiedlicher Textsorten mit Bezug auf Kursachsen zusammengefasst, wozu periodisch und sporadisch vertriebene Druckmedien zählen. Während sich die oben behandelten Gattungen Aktenmäßige Berichte, Sensationsnachrichten und ‚Spitzbubengespräche’ oft in besonderer Weise der Delinquenz widmeten, wurden dem Thema Räuberbanden in aufklärenden Abhandlungen, gelehrten Zeitschriften und moralischen Wochenschriften, expositorischen Lexika sowie erbaulichen Predigten nur gelegentlich Abschnitte oder einzelne Ausgaben eingeräumt. Diese konnten aber - wie die stärker auf außergewöhnliche Kriminalität spezialisierten Mediengattungen - ebenfalls dazu dienen, ein allgemeines Wissen über Räuber zu generieren. Verschiedene periodische Zeitschriften sprachen zwar einen speziellen Leserkreis an, der anfangs vorwiegend im Adel und gebildeten Bürgertum anzusiedeln war, manche richteten sich aber zunehmend - wie moralische Wochenschriften oder gedruckte Predigten überhaupt - an eine ausgeweitete Öffentlichkeit. Der Blick richtet sich zunächst auf zentrale Nachschlagewerke: Das in Leipzig zwischen 1731 und 1754 erschienene Zedlersche ‚Universal-Lexicon’ und die 1773 begründete ‚Oekonomische Encyklopädie’ von Johann Georg Krünitz geben im Vergleich aufschlussreiche Einblicke in die zeitgenössische Verwendung und Erklärung einschlägiger Begriffe. 1270 Dabei zielten frühneuzeitliche Enzyklopädien nicht nur auf gelehrte Kreise, sondern mit einer möglichst unkomplizierten Zugänglichkeit auch auf ein breiteres Lesepublikum, das natürlich 1269 Ebd., S. 48. 1270 Z EDLER , Universal-Lexicon und K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie. Vgl. dazu S CHNEI- DER , Bücher und D ÖRING , Leipzig, sowie S CHNEIDER , Zedlers Universal-Lexicon. Siehe außerdem F RÖHNER , Technologie und B OUZIANE [u.a.], Lust. <?page no="283"?> 284 auch außerhalb des Kurfürstentums angesiedelt war. 1271 Neben ‚Dieberey/ Furtum’, ‚Räuber’ und ‚Räuberrotte’ werden in beiden Lexika auch Stichwörter wie der ‚Spitzbube’ aufgeführt. Daran zeigt sich bereits, dass der in den kursächsischen Gerichtsakten, ‚Spezifikationen’ und literarischen Quellen genutzte Spitzbubenbegriff keine regionale Besonderheit war. Im Zedler fällt die Erklärung des Terminus, der analog zum ‚Beutelschneider’ gesetzt ist, relativ kurz aus. Obwohl der Artikel mit Querverweisen ausdrücklich Verbindungen zu den Begriffen ‚Furtum’ und ‚Raub’ herstellt, grenzt er den Spitzbuben insofern davon ab, als dieser den Taschendiebstahl auf Messen und Märkten „mit guter Manier, durch List und Verschlagenheit“ 1272 begehe. Der Krünitz behandelt den Spitzbuben ausgreifend und detaillierter. Reich an Beispielen stilisiert der Artikel ihn unter den Eigentumsdelinquenten als Gegenpol zum gewalttätigen und vorwiegend nachts tätigen Einbrecher und Straßenräuber. 1273 List und Verschlagenheit stellen auch hier die charakteristischen Eigenschaften seines kriminellen Tuns dar, das in erster Linie aus Taschen-, Markt- und Ladendiebstählen bestehe und keineswegs darauf ausgerichtet sei, ein Opfer physisch zu schädigen. Wenngleich hier gründliche Anstrengungen unternommen werden, den Spitzbuben präzise zu definieren und ebenso seine rechtmäßige Bestrafung als Dieb und Betrüger in allen Facetten zu beleuchten, so bleibt die Definition dennoch ungenau. Spätestens wenn der Autor einräumt, dass auch Spitzbuben gelegentlich Banden bildeten und ihre Taten gemeinschaftlich begingen, und er dazu so fragwürdige ‚Persönlichkeiten’ wie Schinderhannes, Cartouche und Käsebier in die Liste seiner berühmten Beispiele aufnimmt, beginnen die Kategorien Spitzbube und Räuber vollends zu verschwimmen. 1274 Die Lexikonartikel spiegeln ein sehr grob gefasstes Label Spitzbube im zeitgenössischen Verständnis des 18. Jahrhunderts. Gerade die Hinweise auf gemeinschaftliche oder wiederholte Ausübung von Delikten erwecken den Eindruck einer inkonsequenten Abgrenzung und breiten Anwendbarkeit des Begriffs. Sowohl das Lemma „Furtum, der Diebstahl oder Deube“ des Zedler als auch der Artikel „Dieb“ im Krünitz behandeln auf viel Raum mit zahlreichen Exempeln die genaue Bestimmung des Diebstahls in seiner Abgrenzung und Bestrafung. Der Zedler setzt als definierend den Vorsatz, die tatsächliche oder versuch- 1271 S CHNEIDER , Bücher, S. 17. 1272 Art. Spitzbube. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 39, Sp. 279. 1273 Es klingt sogar eine gewisse Begeisterungsfähigkeit mit, wenn der Artikel expliziert: „Der Spitzbube sucht dasjenige durch seinen Scharfsinn, seine Gewandheit zu erhalten, was der gemeine Dieb, nur durch Dietrich, Brecheisen, Messer, Dolch oder Pistol erhält; wenn es daher auch unter den Verbrechern ein Rangverhältniß giebt oder vielmehr geben könnte, so hat der Spitzbube den ersten Rang, steht er auf der obersten Stufe, wenn der Räuber auf der letzten steht.“ Art. Spitzbube. In: K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie, Bd. 159, S. 372-515. 1274 Aus der literarischen Überlieferung über diese drei Räuber stammen deutliche Hinweise auf gewaltsame und bewaffnete Verbrechen, die ihre unterschiedlichen Lebenswege begleiteten, wodurch sie sich von dem eigentlich gemeinten Spitzbuben oder Marktdieb signifikant unterschieden haben dürften. <?page no="284"?> 285 te Berührung des Gegenstands, einen dabei begangenen Betrug und den Aspekt, dass die Wegnahme der Sache gegen den Willen des rechtmäßigen Besitzers geschehe. 1275 Der Autor weist besonders darauf hin, dass Diebstahl unter „gewissen Umständen“ mit dem Strang zu bestrafen und es andererseits erlaubt und straffrei sei, einen Dieb in Gegenwehr oder Verteidigung zu töten. Krünitz hingegen stellt als definierende Faktoren Heimlichkeit und Bosheit dar und untergliedert in einfachen schlechten oder gewaltsamen Diebstahl. 1276 Raub grenzt er ab als eine offene, vor den Augen der Eigentümer und unter Gewaltanwendung begangene Tat. Dennoch nimmt er zusätzlich eine weitere Differenzierung in „offenbaren“ und „heimlichen“ Diebstahl vor, je nachdem, ob der Täter auf frischer Tat ertappt worden sei oder nicht. Dieser Versuch der Kategorisierung bringt implizit die zeitgenössisch bestehende Unklarheit einer präzisen Terminologie gerade hinsichtlich der Frage nach der Gewaltanwendung und Offenheit oder Heimlichkeit zum Ausdruck. Mit historischen Beispielen aus verschiedenen Ländern verweist der Artikel umfänglich auf angrenzende Themen wie die Absicherung und Vorbeugung gegen Diebstähle, was der vorrangigen Ausrichtung der Enzyklopädie auf Ökonomie Rechnung zu tragen scheint. Zur Bestrafung wird angeführt: „Das göttliche Gesetz, welches den Dieb und Diebs-Hehler leben läßt, und nur auf den Ersatz, oder Geldstrafe oder Knechtschaft des Diebes dringt, verdient bey allen Völkerschaften die Nachahmung.“ 1277 Wer über Mörder und Totschläger hinaus auch über andere Delinquenten eine Todesstrafe verhänge, der habe „die Kunst zu regieren noch lange nicht gelernt“. 1278 Dass dieser Autor mehr Gewicht auf die Prävention legte und dagegen die Hinrichtung von Tätern, die selbst nicht getötet hatten, ablehnte, spricht außerdem für eine zunehmende Verbreitung der rationalen, aufgeklärten Sichtweise, die eine allmähliche Abkehr von archaischen Strafformen und daher eine Einschränkung der Todesstrafe befürwortete. Die eigentliche Definition des Räubers und eine gründliche Diskussion der verschiedenen Strafmaße, unter anderem unter Berufung auf Carpzov und das Sächsische Recht, wird in Zedlers ‚Universal-Lexicon’ unter dem Lemma ‚Strassen-Raub’ vorgenommen: „Wenn man dem andern das Seinige mit dessen Wissen; aber wider dessen Willen wegnimmt, so ist dieses ein Raub; wenn er nun auf öffentlicher Strasse geschiehet, so wird er ein Strassen-Raub genennet. Ueberhaupt ist zwar das Laster der Strassen-Rauberey denen Diebstählen sehr nahe verwandt. An und vor sich selbst aber sind die Räuber dennoch 1275 Art. Furtum, der Diebstahl, oder Deube. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 9, Sp. 2353-2357. 1276 Art. Dieb. In: K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie, Bd. 9, S. 229-247. 1277 Ebd., S. 235. 1278 Ebd. <?page no="285"?> 286 ärger, als die gemeinen Diebe. Daher denn auch die Räuber in denen gemeinen Rechten so wohl Ertz- Gott- und ruchlose Leute, als auch so gar Mörder, genennet werden.“ 1279 Der kurze Zedler-Artikel ‚Räuber’ dagegen diente vorrangig dazu, festzulegen, dass jener deutlich vom Mörder zu unterscheiden sei, da sein Vergehen „nur in gewaltthätiger Beraubung derer Personen, ohne Entleibung“ bestehe. 1280 Das ‚Räuber’-Lemma im Krünitz beschränkt sich, ähnlich knapp, sogar auf die Darlegung der Situation in England, wobei in den präsentierten Anekdoten eine Bereitschaft zur verharmlosenden und romantisierenden Deutung erkennbar wird. Schon zu Beginn lautet die Feststellung, dass unter den Straßenräubern die englischen „nicht eben wegen ihrer Grausamkeit, sondern wegen der Verwegenheit, womit sie auf öffentlichen verkehrsreichen Landstraßen Reisende ausplündern“, bekannt seien. Diese würden aus Vorsicht „gemeinhin nur einzeln ihr Handwerk treiben“, da Banden leichter zu entdecken wären. 1281 Dass der Autor den (englischen) Straßenräuber nicht mit Gewalt verbindet, ist insofern bemerkenswert, als in dem Abschnitt ‚Raub’ des gleichen Lexikons der Tatbestand durchaus als eine mit Geschwindigkeit und Gewalt in der Öffentlichkeit vollzogene Wegnahme einer Sache definiert wird, die zu den schwersten Verbrechen gehöre. Zur Bestrafung des Raubes führt der Autor im Folgenden die Abstufungen der Sanktionen in Preußen aus, die je nach Tatbestand zwischen mehrjähriger Festungs- oder Zuchthausstrafe und Räderung ‚von unten herauf’ lagen. 1282 Obwohl die Begriffe ‚Diebsbanden’ und ‚Diebsrotten’ in den diversen Worterklärungen des Krünitz auftauchen, enthält das Lexikon keinen eigenen Eintrag zum Begriff ‚Bande’. Als ‚Rotte’ wird vornehmlich eine Menge von Tieren oder eine Gruppe von Soldaten im Militärwesen begriffen. Nur in einem untergeordneten und „verächtlichsten“ Sinn seien damit „Personen, welche sich zu einer lasterhaften oder schändlichen Absicht versammeln“ gemeint. 1283 Deutlich pejorativ war etwa 50 Jahre zuvor im Zedler zum Stichwort ‚Rotte’ vermerkt worden, dass es sich dabei um konspirative Versammlungen handle. 1284 Als Erläuterung des Begriffes ‚Räuber-Bande’ oder ‚-Rotte’ ist dennoch nur lapidar angeführt, es sei ein „gantzer Hauffen solcher Leute“, die miteinander stehlen und rauben. 1285 Auch das Lemma ‚Diebs-Gesellen’ führt in diesem Fall nicht weiter, da auf das Verhältnis, in dem die Komplizen zueinander stehen, nicht eingegangen wird. 1286 Die enzyklopädischen Artikel enthalten somit weder Hin- 1279 Art. Strassen-Raub. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 40, Sp. 724-730. 1280 Art. Räuber, oder Rauber. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 30, Sp. 579. 1281 Art. Räuber. In: K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie, Bd. 121, S. 15-18. Vgl. mit ähnlicher Zielrichtung auch den Art. Straßenräuber. In: Ebd., Bd. 175, S. 380-395. 1282 Art. Raub. In: K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie, Bd. 121, S. 4-11. 1283 Art. Rotte. In: K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie, Bd. 128, S. 45. 1284 Art. Rotte, Rotten. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 32, Sp. 1242-1243. 1285 Art. Räuber-Bande, Räuber-Rotte. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 30, Sp. 580. 1286 Art. Diebs-Gesellen. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 7, Sp. 816. <?page no="286"?> 287 weise auf eine vermutete Organisation noch auf die Annahme festgelegter Rollenmuster innerhalb der Räubergruppen. Auch wird in den Beiträgen keine Stellung dazu bezogen, ob man die Banden aktuell als ein belastendes und allgegenwärtiges Problem empfand. Im Gegensatz dazu verortet der Zedler den ‚Banditen’ sogar geographisch in Italien: 1287 Die inhaltliche Verknüpfung zwischen der Verbannung eines Müßiggängers und einer folgenden Neigung zu „Verwegenheiten“ auf der Flucht vor den „vielerleyen Herrschafften“ klingt zwar als Zeitkritik sehr aufschlussreich - allein, es werden keine Analogien zur Situation im territorial ebenfalls zersplitterten Reich hergestellt. Verweise aus den Lexikonartikeln führen zu anderen Textgattungen der Wissensvermittlung. Unter dem Lemma ‚Spitzbube’ im Zedler wird beispielsweise eine Predigt des Pegauer Theologen Johann Martin Schamelius oder Schämel 1288 erwähnt, die sich 1715 auf 32 Seiten eingehend mit dem Umgang mit Marktdieben und Spitzbuben auseinandersetzt. 1289 Wie in der Forschung hervorgehoben wird, konnten gerade auch die gedruckten Predigten, die wie erbauliche Flugschriften vertrieben wurden, zur Bestimmung eines „Anderen“ und somit bei der Konstruktion von Feindbildern und Stereotypen beitragen. 1290 Ihre mündlich auf den Kanzeln und danach auch schriftlich verbreiteten Inhalte waren dazu geeignet, spezielle Vorstellungen von ‚normal’ und ‚abweichend’ in der Gesellschaft eines Territoriums zu verankern. Umso bemerkenswerter erscheint es, wenn Schamelius’ Argumentation vorrangig darauf abzielte, dass die „mörderliche eigenmächtige Verfolgung“ von Spitzbuben auf öffentlichen Messen und Jahrmärkten „einer unerkannten Sünde“ gleichkomme. Sein Augenmerk richtete er darauf, zu verhindern, dass einfache Diebe in die Arme von Banden getrieben und dadurch zu schlimmeren Verbrechern würden, was mit einer Mischung aus moralischer Belehrung und staatlicher Strafe erreicht werden könne. 1291 Für wirkliche Räuber hingegen galt seine Agitation nicht, denn Schamelius räumte ein, dass in diesen Fällen Gegenwehr erlaubt sei. 1292 Mit dieser Separation der geringfügigen Marktdiebe als Spitzbuben von gewaltsamen oder zusammengeschlossenen Räubern als verachtenswerten Verbrechern trug der Autor implizit seine Definition der beiden Typen vor. Er ergriff Position für den einfachen Dieb und stellte dessen unrechtmäßige Behandlung mittels der Predigt unter göttliche Strafe. Gleichzeitig räumte er diesem ein Potenzial zur Erziehbarkeit und Läuterung ein. Unter Zitierung der juristischen, philosophischen und theologischen Grundlagen nahm der Prediger Stellung zu den potenziellen Gegenargumenten, die 1287 Vgl. im Folgenden Art. Banditen. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 338-339. 1288 Vgl. auch Art. Schamelius, Johann Martin. In: Z EDLER , Universal-Lexicon, Bd. 34, Sp. 848- 849; Art. Schamel, Joh. Martin. In: ADB, Bd. 30, S. 571. 1289 S CHAMELIUS , Predigt Spitz-Buben. 1290 S EIDENSPINNER , Angst, S. 79. 1291 S CHAMELIUS , Predigt Spitz-Buben 1715, S. 26. 1292 Ebd., S. 12. <?page no="287"?> 288 vorgebracht werden könnten, um „Lynchmorde“ an Dieben und Spitzbuben zu rechtfertigen. Er widerlegte diese vollständig und führte außerdem aus, dass die geistliche Bekehrung von Marktdieben möglich sei und dass auch weltliche Mittel wie die Folter und obrigkeitlich kontrollierte Zucht- und Arbeitshäuser, die der Todesstrafe vorzuziehen seien, wirkungsvoll sein könnten. Den Landesverweis hingegen stellte er als wenig hilfreich dar. Indem er sich explizit von der Ausweisung oder der Hinrichtung von Dieben distanzierte, griff Schamelius zwar moderne Tendenzen auf, verknüpfte sie aber gleichzeitig mit einem überholten Strafverständnis, da er beispielsweise die unübliche Stigmatisierung durch Brandzeichen befürwortet. 1293 Mit gewissen Ähnlichkeiten zum Text von Schamelius hatte sich eine anonyme kursächsische Druckschrift fünf Jahre zuvor ebenfalls zu strafrechtlichen und außerprozessualen Maßnahmen gegen Banditen und Vaganten geäußert. Unter dem Titel „Wohlgemeynter/ doch Unvorgreifflicher Unmaßgeblicher Vorschlag“ bezog der nicht genannte Autor 1710 Stellung zum Beispielfall einer im Kurfürstentum umherschweifenden Räuberbande. 1294 Diese „neue grosse Diebs-Rotte“ beschrieb er als eine verfluchte und vom Teufel verführte „Gesellschaft“, die sich ihren vielsagenden Namen der „schwarzen Cavallier-Garde“ selbst gegeben habe, was angesichts der Prozessaussagen zu bezweifeln ist. Sie würden „durch Stehlen/ Rauben und Plündern/ auch wohl durch Martern und Quälen/ Tödten und Morden andern Menschen Schaden zufügen“ und hätten sich die schwarze Farbe als Attribut nicht nur deswegen zugeschrieben, weil sie bei Nacht loszögen und sich dafür ihre Gesichter schwärzten. Die Bezeichnung sei besonders deswegen passend, weil ihre Gewissen innerlich „mit der Sünde geschwärtzet/ [und] das Licht der göttlichen Erkänntnüß und alle Tugend […] verdunckelt und ausgelöschet“ sei. Am Schluss würde sie auch nichts anderes erwarten als Dunkelheit und Finsternis in den Kerkern, wenn ihre Körper nach der Hinrichtung verwesten und ihre Seelen in der Hölle büßen müssten. In 45 Paragraphen geht der Text darauf ein, wo die Ursachen für die vermehrte Entstehung von Banden lägen, wie ihnen Einhalt geboten und wie die Bevölkerung am effektivsten geschützt werden könne. Die Wurzeln der Räuberbanden sah der Autor bei desertierten und abgedankten Soldaten, fremden und einheimischen Bettlern sowie Müßiggängern. 1295 Letztere, von den Bettlern unterschiedene Risikogruppe bestehe aus Faulenzern, die im Lande lebten wie die übrigen Einwohner und dennoch keinem geregelten Beruf nachgingen. Mit besserer Kontrolle dieser generell Verdächtigten und einer Beschäftigung der Arbeitsunwilligen könne der Bandenbildung vorgesorgt werden. In dieser Sichtweise auf den Müßiggang als größtem Laster, aber mit dem Glauben an eine generelle Erziehbarkeit zur Arbeit, zeigte der Text innere Kohärenzen zu den juristischen Gutachten aus der sächsischen Verwaltung, wie etwa zu dem Project 1293 Ebd., S. 27. 1294 Wohlgemeynter Vorschlag. 1295 Ebd., § 7. <?page no="288"?> 289 der Landesregierung von 1677. 1296 Die Hinweise zur angemessenen Sicherung des Territoriums stützen diesen Eindruck. Sie richteten sich ausdrücklich an unerfahrene Beamte und waren unter anderem der Durchführung von Visitationen, der Handhabung der Pardonregel und einer Befürwortung der Festungsbaustrafe an Stelle der umstrittenen Ausweisung gewidmet. 1297 Den Abschluss bildeten etwa zehn Paragraphen, die dem durchschnittlichen sächsischen Hausherrn Mittel und Wege aufzeigten, sich selbst und die Familie im Alltag vor Räuberbanden zu schützen. 1298 Angesichts seines Argumentationsstils bleibt unklar, ob der Autor einem theologischen Umfeld entstammte, worauf unter anderem seine zentralen Hinweise auf den Einfluss des Teufels, auf das Vertrauen in Gottes Strafe oder auf Gottes Gerechtigkeit - unter Verweis auf das Buch Hiob - hindeuten. 1299 Ein Gebetsvers zu Beginn oder am Ende des Textes, wie man ihn in geistlich ausgerichteten Texten häufig findet, fehlt hier allerdings. Außerdem könnte der anonyme Urheber eine juristische Ausbildung genossen haben, besaß er doch vertiefte Kenntnisse über die strafrechtliche Verfolgung von Vaganten und Räuberbanden und brachte ein großes Reflektionsvermögen darüber zum Ausdruck. Des Weiteren liegen in der logisch gegliederten und ansprechenden Textstruktur Anzeichen dafür, dass der Schreiber literarische Erfahrung hatte, da eine klare Linie von der Nennung des Anlasses, über die Ursachen des dargestellten Phänomens bis hin zu Hinweisen an die Verwaltung und Verhaltenstipps für ‚Jedermann’ verläuft. Abgesehen von diesen Überlegungen erscheint aufschlussreich, dass die Druckschrift mit der Übernahme einer aktuellen Fahndungsmeldung aus den „Leipzigischen Zeitungen“ über einen Diebstahl im Ort Glashütte vom 24. August 1710 schließt: Mit dieser Reproduktion standen zeitgleich zwei unterschiedliche Druckmedien im Dienst einer größeren Verbreitung der obrigkeitlichen Suchmeldung, um deren Effizienz zu steigern. Direkt an vier als Räuberbande verurteilte Personen war eine weitere, achtseitige „Rede“ eines Dresdener Predigers im Jahr 1803 adressiert. Während ihrer Festungsbauhaft sollten auf diese Weise Johann Georg Kessel, Gottlieb Neumann, Carl August Wessel und Johann Gottlieb Kühnel, die als Komplizen des „Anführers“ Johann Karraseck galten, zur Beichte und Buße ermahnt und „durch Jesu Abendmahl gleichsam entsündiget“ werden. 1300 Auch in diesem Text, der die Räuber direkt anspricht, äußert der Prediger den Gedanken, dass selbst Straffällige durchaus erziehbar seien und durch Reue göttliche Vergebung erhalten könnten. Noch umfangreicher als in den vergleichbaren früheren Texten, die sich an ein ähnliches Publikum gerichtet hatten, wird dazu der Schaden unter den Opfern und in der allgemeinen Bevölkerung hervorgehoben, der 1296 HStA Dresden, 10079, Loc. 30397. 1297 Wohlgemeynter Vorschlag, § 31. 1298 Ebd., § 32-42. 1299 Ebd., § 44. 1300 Vgl. im Folgenden Rede Dresden 1803. <?page no="289"?> 290 durch die Verbrecher entstanden sei. Als Ursache für ihre Untaten führt der Autor die charakterliche Disposition der Täter wiederum in Kombination mit dem Müßiggang an. Diese Argumentation ist ausschließlich dem Ziel der späten Bekehrung, wodurch die Räuber zu bereuenden ‚Armen Sündern’ gemacht werden sollen, gewidmet. „Noch ist es Zeit, noch könnt ihr zwischen Himmel und Hölle wählen; noch tragt ihr zeitliche Eisen, aber weh weh! wenn Ketten ewiger Verdammnis euch einschliessen“, appelliert der Redner an die Delinquenten. Zum Abschluss wurde den Angesprochenen daher ein Gnadengebet in den Mund gelegt, das sie lediglich bejahen mussten. Daraufhin erhielten sie die Absolution: „[…] ich hoff Alles von der göttlichen Erbarmung, die nicht will den Tod des Sünders, sondern die Bekehrung und Besserung. Daher vergebe ich auf euer ausdrückliches Verlangen, und nach der Vollmacht, die mir Jesus Christus gegeben hat, euch alle eure Sünden im Namen Gottes des Vaters, Sohnes und des heiligen Geistes.“ Zweck der Veröffentlichung dieser Predigt war offensichtlich, der lesenden Bevölkerung die eindringliche Ermahnung und die Reue der vorherigen landschädlichen Übeltäter zu bestätigen, und damit die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, trotz aller ‚Unordnung’, welche die Räuber zuvor gestiftet hatten. Die Wirkungsabsicht ähnelte insofern bis zu einem gewissen Grad den versöhnlichen Tendenzen, die in den ‚Spitzbubengesprächen’ steckten, und lag vor allem in der Erbauung und der moralischen Belehrung der Leser. War in den Predigttexten die Möglichkeit der Läuterung und Besserung der Räuber vorgestellt worden, und hatte die im Gegensatz zum Zedler neuere Enzyklopädie von Krünitz schon eine merkliche Abkehr vom perhorreszierenden Bild des ‚unmenschlichen Verbrechers’ spüren lassen, so wurde die Entwicklung von der Abschreckung hin zur Romantisierung am deutlichsten in Zeitschriftenartikeln. Vor allem für diese in ihrem Gesamtbild ganz unterschiedlichen Typen von Periodika war Leipzig ein wichtiger Druckort. 1301 Im untersuchten Zeitraum erlebten gerade die ‚Moralischen Wochenschriften’, die zumeist aus bürgerlicher Feder stammten und damit eher eine Selbstbeschreibung der größten Leserschicht selbst boten, einen merklichen Boom und ihre Titelzahl sowie Auflagen stiegen. 1302 Das aufstrebende Bürgertum scheint somit an der wachsenden Räuberromantik in Sachsen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Im Gegensatz zu den Enzyklopädien, die durch die Übernahme aus älterer Literatur oder durch Verallgemeinerungen einen Wissenskanon schöpften und weitergaben, sowie den Predigten und Flugschriften, die sich einen Einzelfall 1301 W ILKE , Grundzüge, S. 97; S TÖBER , Mediengeschichte, S. 69. 1302 W INTER , Zeitschrift, S. 420; B RANDES , Wochenschriften. Vgl. auch M AAR , Bildung, und den Überblick über die Zeitschriftenlandschaft im 18. Jahrhundert bei G ESTRICH , Absolutismus, S. 183-193. <?page no="290"?> 291 zum Anlass nahmen, um über Zeitprobleme zu referieren, bezogen sich die vorliegenden moralischen Zeitschriftenartikel selten auf ein konkretes Beispielobjekt. Sie nutzten in den vorliegenden Texten eher Parabeln und biografische Erzählungen, um den gesellschaftlichen Umgang mit Devianten und Kriminellen zu reflektieren. In der Gesamtschau ergibt sich dadurch eine größere Vielfalt an phantasievollen und idealisierenden Repräsentationsmodi des Räuberlebens als in den übrigen Druckschriften, die zur Wissensvermittlung gezählt werden können und die sich direkter der Abschreckung, Belehrung und Erbauung widmeten. Ein frühes Beispiel gibt das kurze Gedicht „Der großmüthige Räuber“, das bereits 1755 von dem Leipziger Philosophie-Professor Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) verfasst worden war. 1303 Darin verspricht ein auf dem Weg nach London überfallener Wandersmann, am nächsten Tag sein bis dahin verdientes Geld mit dem Verbrecher zu teilen. Als der arme Händler dem Räuber auf dem Rückweg die doppelte Menge geben will, unter der Angabe, die Summe stehe ihm zu, erlässt dieser dem ehrlichen Opfer die gesamte Schuld und lässt es - beeindruckt von dessen Redlichkeit - ziehen. Indem Gellert die Geschichte um den verharmlosend als „Schelm“ bezeichneten Protagonisten nach England verlegt, nimmt er zwar nicht Stellung dazu, ob unter den Kriminellen im Reich ebenfalls großmütige, edle Gemüter seien. Er lässt diese Frage aber offen. Der Verweis auf den gewaltfreien englischen Straßenräuber zeigt Parallelen zur Erklärung des Räubers in Krünitz’ Enzyklopädie. Ähnlich und ebenfalls mit Bezug auf einen englischen Straßenräuber ist die kurze Erzählung „Der ehrliche Räuber“ angelegt, die innerhalb des Abschnittes „Charakteristische Züge zur Menschenkenntnis“ im „Deutschen gemeinnützigen Magazin“ von 1788 zu finden ist: 1304 Auch hier weigert sich ein namenloser Räuber, alles zu nehmen, was er eigentlich haben könnte. Das Opfer und damit die angebliche Quelle für die Geschichte wird vom Autor als „Herr Malone“ namentlich genannt, um größere Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Ein kurzer Wortwechsel und vor allem das Ende vermitteln die Einsicht, dass der Kriminelle durch äußere Zwänge zum Raub verleitet worden war, nun Scham über sein Handeln empfand und damit Ehre und Aufrichtigkeit an den Tag legte. Der englische Straßenräuber war offensichtlich als besonderer Typus des edlen Kriminellen bei den Autoren und Lesern des ausgehenden 18. Jahrhunderts etabliert. Zu dieser Sammlung in der gleichen Zeitschriftenausgabe gehörte außerdem eine nach Frankreich verlegte Erzählung, die mit „Macht des Gefühls der Menschlichkeit bei einem Räuber“ überschrieben worden war: 1305 In der kurzen Anekdote zeigte sich diesmal einer von mehreren französischen Räubern gegen- 1303 G ELLERT , großmüthige Räuber. Siehe auch Art. Gellert, Christian Fürchtegott. In: ADB, Bd. 8, S. 544-549 und Art. Gellert, Christian Fürchtegott. In: NDB, Bd. 6, S. 174-175. 1304 W EST , ehrlicher Räuber. 1305 Macht des Gefühls. <?page no="291"?> 292 über seinem Opfer gnädig und sorgte dafür, dass dieses nicht zur Vertuschung des Verbrechens ermordet wurde. Signifikant auf den Räuberhelden verwies der mehrseitige ‚Bericht’ des in Bautzen geborenen August Gottlieb Meißner (1753-1807) „Die Räuber- Schenke“ mit dem Authentizität beanspruchenden Untertitel „Wahre Anekdote“, der im Jahre 1785 erschien. 1306 Der Jurist Meißner, der zu diesem Zeitpunkt Kanzleimitarbeiter in Dresden war, machte sich Ende des 18. Jahrhunderts einen Namen als Autor zahlreicher ‚Kriminalgeschichten’, die Verbrecher als Menschen mit individuellen Motiven vorstellten und von einem psychologisierenden Kriminalitätsverständnis geprägt waren. 1307 Nachdem sich der Erzähler, ein Graf, mit seinem Knecht im Spessart verirrt hat, kommt es zum abendlichen Zusammentreffen im Wirtshaus und zum Gespräch mit einem Räuberhauptmann, in dem dieser seine Lebensgeschichte darlegt. Nicht nur, dass darin die Beweggründe, eine kriminelle Laufbahn zu beginnen, den sozialen Schwierigkeiten nach einer beendeten Militärkarriere zugeschrieben werden. Auch scheint es in der angetroffenen Straßenräuber- und Mörderbande klare hierarchische Strukturen zu geben. Die Lebensumstände dort werden zudem als komfortabel dargestellt, da man innerhalb der kriminellen Gruppe Tapferkeit und Zusammenhalt erlebe. Der Hauptmann weist zusätzlich darauf hin, dass er durch seinen Einfluss dort auch Gutes bewirkt habe, indem er verhinderte, „daß nicht von neuem diese Schuld sich mehre“. Der Leser wird, gemeinsam mit dem Erzähler, dazu veranlasst, Verständnis für die Lage des Delinquenten aufzubringen, der prinzipiell von edler Gesinnung und gutem Charakter und nur durch äußere Umstände fehlgeleitet ist. Die Geschichte führt das Publikum zu einem erbaulichen Ende, da der Räuber dem Grafen sechs Monate später in einem Brief schreibt, dass er auf dessen Anraten hin die Bande verlassen habe und wieder in Militärdienste eingetreten sei. Vergleichbar in Verlauf und Aussageabsicht ist die Erzählung „Der Räuber“ von E.F.W. von Rössing aus der „Deutschen Monatsschrift“ von 1794: 1308 Auf der Reise nach Böhmen wird der Erzähler von einem Fremden aufgenommen, der sich erst beim Aufenthalt in seiner Stube als Räuber offenbart. Als er seine Lebensgeschichte preisgibt, wird er dem Leser zwar nicht als Sozialrebell, aber als ein melancholischer Held von großer Schönheit, Bildung und Menschenfreundlichkeit präsentiert. Wie bei Meißner wird der Gesprächspartner des Erzählers somit als edler, von äußeren Bedingungen beeinflusster Räuberhauptmann gezeichnet, der zudem von einer Bande begleitet wird, die sich ausgesprochen gesittet und höflich verhält. Zusammenfassend beschreiben die Artikel aus den moralisch belehrenden Zeitschriften oft Geschichten aus der Sicht von Bürgern oder Adligen, die auf 1306 M EIßNER , Räuber-Schenke. Vgl. dazu D AINAT , Abaellino, S. 194-195. Siehe auch Art. Meißner, August Gottlieb. In: ADB, Bd. 21, S. 242-243 und Art. Meißner, August Gottlieb. In: NDB, Bd. 16, S. 694. 1307 Vgl. D AINAT , Mensch, S. 196-198. 1308 R ÖSSING , Räuber. <?page no="292"?> 293 Reisen unfreiwillig mit Räubern konfrontiert werden. Entgegen ihren vorherigen Meinungen zu Kriminellen, aber mit einer prinzipiellen inneren Aufgeschlossenheit gegenüber Personen mit abweichenden Lebensläufen und -zielen, machten die Erzählerfiguren dabei gute Erfahrungen mit der Menschlichkeit und dem Charakter der „Schelme“. Der Räuberbegriff schien den ‚Spitzbuben’ in den literarischen Darstellungen zwar abgelöst zu haben. Analog zu den ‚Spitzbubengesprächen’ ermöglichte es aber die Dialogform, den Kriminellen als Protagonisten Erzählungen und Biografien in den Mund zu legen, in denen diese ihr Handeln begründen oder bereuen konnten. Mit der repräsentierten Zwangslage, aus der heraus deviante Wege eingeschlagen worden waren, den edlen charakterlichen Zügen und einer bereuenden Grundhaltung wurde in diesen Texten eine Basis für die romantische Verklärung des Räuberlebens gelegt. Indem den Lesern die Sichtweise nahe gebracht wurde, dass Kriminelle trotz ihres Tuns nicht verdorben und abgestumpft seien, vermittelten die psychologisierenden Geschichten einerseits eine erbauliche Botschaft und bereiteten andererseits den Boden für den Typus des Räuberhelden, der in Räuberromanen des 19. Jahrhunderts eine literarische Verbreitung finden sollte. 1309 6.1.4 Bildliche Darstellungen Viele der vorab beschriebenen Druckmedien wurden durch Visualisierungen in Form von Holzschnitten, Kupferstichen und Radierungen begleitet. Nicht nur illustrierte Flugblätter oder Einblattdrucke bildeten eine formatprägende Einheit aus Text und Bild, die hinsichtlich des Themenbezugs zu Kriminalität, Strafrecht und Gewalt jüngst ins Zentrum einiger Forschungen gerückt wurde. 1310 Auch die Aktenmäßigen Berichte und ‚Spitzbubengespräche’ waren mit Illustrationen versehen, deren spezifische Deutungspotenziale bisher nicht näher analysiert oder beschrieben worden sind. Die Bilder, um die es hier zum Abschluss geht, standen somit zwar im Kontext der textlichen Repräsentationen, mussten aber auch isoliert betrachtet verständlich und deutbar sein. 1311 Die Visualisierung spielte für die frühneuzeitlichen Medien trotz der zunehmenden Durchsetzung rein textlich ausgerichteter Formen wie der periodischen Zeitung, der Zeitschrift sowie des Intelligenzblatts auch im 18. Jahrhundert immer noch eine bedeutende Rolle. Auch wenn das entstehende Bürgertum die Medienlandschaft und die öffentliche Kommunikation zunehmend prägte und gleichzeitig das lesefähige Publikum stetig anwuchs, so war man gerade bei nicht-bürgerlichen Leserkreisen an Bild-Text-Kombinationen gewöhnt, die von nicht alphabetisierten Rezipienten betrachtet und verstanden werden konnten. Zudem steigerte es 1309 Vgl. unter anderem D AINAT , Abaellino. 1310 R UDOLPH , Abcontrafactur; H ÄRTER , Criminalbildergeschichten; P EIL , Strafe; S CHWERHOFF , Kriminalitätsgeschichte. Weitere Deutungskontexte auch bei G ROEBNER , Ungestalten. 1311 Grundlegend zur bildlichen Darstellung von Räubern vgl. B OSKAMP -P RIEVER , Blicke. <?page no="293"?> 294 den Unterhaltungs- und somit Verkaufswert von Druckwerken, wenn sie mit visuell ansprechenden Merkmalen als Kauf- und Rezeptionsanreizen versehen waren. 1312 So gibt der anonyme Autor des ersten Aktenmäßigen Berichts über Nickel List an, „[d]ie Abrisse der allhier executirten Diebe nebst andern Kupffern/ hat man mit beylegen wollen/ dem Leser desto mehr zu gefallen.“ 1313 Wie Harriet Rudolph hervorhebt, konnte das Bildelement im Verhältnis zum Text nicht nur eine illustrative Funktion einnehmen, sondern ergänzende oder sogar kommentierende Wirkungen entfalten. 1314 Einerseits diente es dem nicht lesenden Rezipienten zum Verständnis der wichtigsten Umstände des betreffenden Vorfalls. Andererseits bot es dem Leser des Textes die Möglichkeit, erläuternde oder vom Textinhalt abweichende Aspekte im Bild vorzufinden, wie den Kleidungsstil des Beklagten, die Rückschlüsse auf seine soziale Schicht und damit auf erweiterte Hintergründe der Tat erlaubten. Abb. 3: Eine grausame Execution Von einer grossen Diebes- und Räuber-Bande, So in 110. Personen bestanden, Welche zu Berlin den 8. December an 12. Rädelsführern vollzogen worden. Nach Ratsakten in Pirna gedruckt, Pirna 1747, Titelseite. 1312 Am Beispiel von Flugblättern vgl. S CHILLING , Bildpublizistik, S. 53-75. 1313 Historische Ausführliche Erzehlung 1699, Vorrede. 1314 R UDOLPH , Abcontrafactur, S. 172. <?page no="294"?> 295 Unter den Verbrecherdarstellungen in ‚Criminalbildergeschichten’ auf Einblattdrucken avancierten die Räuber neben den Kindsmörderinnen im 18. Jahrhundert zu einem Hauptmotiv. 1315 Die visuellen Elemente dieser auch ‚Armesünderblätter’ 1316 genannten Drucke richteten den Blick vor allem auf die Hinrichtungen. In zwei vorliegenden Hinrichtungsflugblättern über Räuber von 1747 und 1748 [Abb. 3 und 4] gestalteten sehr vereinfachende Holzschnitte das Titelbild und kennzeichneten so das Thema auf den ersten Blick. 1317 Lediglich in groben Zügen waren Räder, Galgen, Henker und Delinquenten stilisiert. Abb. 4: Ausführliche Nachricht, und Beschreibung, Der zu Berlin vollzogenen grossen EXECVTION […], [Berlin] 1748, Titelseite. In: HStA Dresden, 11125 Ministerium für Volksbildung Nr. 7476: Confiscierte Schriften betr. 1758-61, unfoliiert. 1315 H ÄRTER , Criminalbildergeschichten, S. 75. 1316 A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter. 1317 Grausame Execution Pirna 1747; HStA Dresden, 11125, Nr. 7476. Verschiedene Gründe sprechen dafür, dass das Flugblatt über Gottfried Käsebier eine vollkommen fiktive Hinrichtung beschreibt. Die Ähnlichkeiten des dargestellten Räubers zu Andreas Christian Käsebier sind zwar frappierend, doch da dieser nie hingerichtet wurde, sondern in Berlin nur inhaftiert war, kann es sich auch nicht um eine reine Verwechslung von Vornamen handeln. <?page no="295"?> 296 In der Darstellung des in Berlin exekutierten Gottfried Käsebier waren verschiedene Bestandteile seiner Strafe wie das Reißen mit glühenden Zangen, das Zerschmettern seines Körpers und die Räderung parallel zu erkennen. Dabei nahmen die Schwerter der Henker eine überdimensionale Größe ein. Oftmals waren in solchen Simultanbildern auf Einblattdrucken nicht nur die verschiedenen Elemente der Sanktionen eingefügt, sondern auch einzelne Stationen der kriminellen Laufbahn auf dem Weg zum Strafvollzug. So wurde dem Leser ein zeitlicher Verlauf der Ereignisse geboten und gleichzeitig ermöglicht, den unmittelbaren Bezug von Tat und Strafe zu erkennen. Die Abbildungen nahmen in vielen Aspekten Stilisierungen vor, da ihre Künstler und Stecher häufig nicht selbst am Ort der Hinrichtung und schon gar nicht am Tatort gewesen waren. Solche Handlungsorte galt es den Lesern aber in einer schnell zugänglichen und daher vereinfachten Version zu präsentieren. Stilisierte Abbildungen von Hinrichtungen und Hinrichtungsorten boten auch die vorliegenden Aktenmäßigen Berichte. Sie orientierten sich in einigen Bestandteilen an den Darstellungstraditionen älterer Medientypen. In den Bildern von Galgen und aufgestellten Rädern, die in chronologischer Logik auf die Textausführungen folgten, wurden wie bei der „Abbildung des Zellischen Gerichts“ gegen die List-Bande [Abb. 5] häufig die Namen der Verurteilten präsentiert. 1318 Diese vermeintliche Detailgenauigkeit spiegelte die postulierte Authentizität der jeweiligen Darstellung wider. Darüber hinaus hatte die künstlerische Reproduktion der Zurschaustellung von Hingerichteten das Ziel, deren abschreckende Wirkung noch zu vergrößern. Durch die Wiedergabe im Bild war der generalpräventive Strafzweck, der der öffentlichen Ausstellung von Leichen zugrunde lag, um solche Rezipientenkreise verbreitert, die nicht mehr in der räumlichen oder zeitlichen Nähe des Geschehens anzusiedeln waren. 1319 Damit wurde gleichsam das harte Durchgreifen des Staates gegen Kriminelle für Alle sichtbar und drucktechnisch verewigt. Eine ähnliche Intention hatte die Abbildung der Hingerichteten im Bericht über die Tullian-Bande [Abb. 6]. 1320 Diese Darstellungen der Strafpraxis unterstützten die Texte der Aktenmäßigen Berichte in ihrer abschreckenden und das territoriale Rechtssystem bestätigenden Funktion. 1318 Historische Ausführliche Erzehlung 1699, S. 52. 1319 Insofern bilden die Visualisierungen einen wesentlichen Bestandteil der „Schafottdiskurse“, vgl. F OUCAULT , Überwachen, S. 85-90. 1320 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 261 (Anderer Theil). <?page no="296"?> 297 Abb. 5: Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung […], Celle/ Leipzig 1699, S. 52: Abbildung der Hinrichtungsstätte. Abb 6: Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians, und seiner Complicen Leben und Ubelthaten…, Dresden 1716, S. 261 (Anderer Theil): Abbildung der Hinrichtungsstätte. In den Räuber-Porträts der Aktenmäßigen Berichte sind zwei entgegengesetzte Perspektiven auszumachen. Erstens stellte man die Täter vor dem Zeitpunkt ihrer Arretierung dar. In diesen Visualisierungen, die vorzugsweise an den Anfang eines biografischen Kapitels gesetzt waren, erschienen die Delinquenten in ‚Freiheit’, ausnahmslos gepflegt, ordentlich gekleidet, gesund und unversehrt. In teuren Kleidungsstücken, auch mit Perücken oder Hüten versehen, standen die Porträtierten im Ausschnitt ihres Oberkörpers als Halb- oder Ganzfigur in einer unscharf definierten, vereinfachten Bildlandschaft [vgl. Abb. 7]. <?page no="297"?> 298 Abb. 7: Actenmäßiger Verlauf, die vor denen Wohledlen Stadt-Gerichten zu Leipzig wegen verschiedener Erzdiebe und Räuber, welche sich zu der Kunzisch-Mehnertisch- und Heßischen Bande gehalten, ergangene Peinliche Untersuchung […], Leipzig 1764, S. 31: Porträt von Johann Jacob Rehmann. <?page no="298"?> 299 Abb. 8: Actenmäßiger Verlauf, die vor denen Wohledlen Stadt-Gerichten zu Leipzig […], Leipzig 1764, Titelseite. <?page no="299"?> 300 Dabei trugen sie manchmal Attribute bei sich, die auf ihre berufliche, handwerkliche Vorprägung oder besondere Kennzeichen hinwiesen. Die Gesichtszüge wurden recht präzise und individuell wiedergegeben und deuten in ihrer Ausdifferenzierung auf eine tatsächliche Begegnung des Illustrators mit dem Betroffenen hin. Hervorstechend ist das Fehlen jeglicher Merkmale von Krankheit, Gebrechen, Armut oder vom Alltagsleben mit einer eigenen Familie. Eingerahmt mit einem Namensschild und einem erläuternden Vers oder Text am unteren Bildsockel erscheint der jeweilige Räuber seinem jeweiligen Lebenskontext für den Moment der Aufnahme entzogen. Dem entspricht auch der stolze und überhebliche Ausdruck, der die Porträts insgesamt prägt. Übersteigert wirkt diese herrenhafte Haltung in der Darstellung Johann Gottfried Kuntzes auf dem Titelbild des „Aktenmäßigen Verlaufs“ von 1764 [Abb. 8]. Auf einem Pferd, das sich aufbäumt, reitet er in den Vordergrund und wird dabei unzweifelhaft in Herrscherpose abgebildet. Die Unterschrift identifiziert den kräftigen, lachenden und aufwändig gekleideten Reiter ebenfalls als „Johann Gottfried Kunze, wie sich als den Edeler oder Juncker Hanß aufgeführt“. 1321 Auf diese Weise sollte jegliches Mitgefühl, das sich beim Leser des Berichts hätte einstellen können, vermieden werden. Zudem erhielt diese Darstellung den deutlichen Hinweis, dass Räuber, die generell auch als Betrüger angesehen wurden, sich selbst oft eine falsche Identität zulegten. Der Täter wurde nicht in Ausweglosigkeit oder in Abhängigkeit der sozialen und politischen Verhältnisse dargestellt, die ihn zu seinen Untaten verleitet haben könnten, sondern mit eigenen Entscheidungsmöglichkeiten. Dieser Deutungsrichtung entsprechen die Aussagen der bildbegleitenden Verse explizit, wie im Beispielfall des Schneiders Michael Hentzschel: „War meine Scheere scharff und schwer mein Siegel-Eisen, So konten beyde mich des Hungers schon entreißen, Doch kahm der Diebstahl mir wohl etwas leichter vor, Daß ich zu solchen Thun, dem Schwäher gab mein Ohr, Nun aber bleibe ich in diesem Pech gefangen, Und kann zur Freyheit nicht hinwiederum gelangen.“ 1322 Faulheit und Müßiggang, die charakterliche Neigung zu kriminellem Handeln und die Verführbarkeit durch verdorbene Verwandte und Bekannte ebneten demnach die schiefe Laufbahn des jeweilig Dargestellten. Die Autoren zogen die individuell-persönlichen Begründungsmuster deutlich allen strukturell und ökonomisch basierten Argumenten, wie sie die Betroffenen selbst zu ihrer Rechtfertigung herangeführt haben könnten, vor. Auf diesen Abbildungen wurde jedoch immerhin kein grundsätzlich und von Geburt an durchtriebener ‚Unmensch’ vorgeführt, zu dem man keinerlei rationalen Zugang hätte finden kön- 1321 Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, Titelkupfer. 1322 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 227 (Anderer Theil). <?page no="300"?> 301 nen. Doch auch für die Person, die sich aus einem geregelten Berufsleben heraus irgendwann zu einem verfehlten Lebenswandel entschlossen hatte, sollte kein Mitleid bleiben, sondern nur der Weg in den konsequenten Vollzug der obrigkeitlichen Strafe. Zweitens enthielten die Berichte daher Porträts der Räuber nach ihrer Verhaftung im Arrest oder während des Strafvollzugs. Wirklichkeitsgetreue Abbildungen der Prozesse, beispielsweise von Folterszenarien oder anderen Verhörsituationen, wurden dagegen nicht visuell wiedergegeben. In ihrer Haft waren sie nun als abgemagerte, zerknirschte, angekettete Männer zu sehen, deren Haltung und Gesamtsituation stark an Melancholie-Darstellungen erinnert. 1323 Hier sollte zum einen der reuige Täter, der ‚Arme Sünder’, vorgeführt werden, der sich nun mit seinem unausweichlichen Schicksal konfrontiert sah und durch seine geistige Einkehr zur inneren Distanzierung von seinen Untaten gleichsam gezwungen war. Besonders deutlich wird dies am Titelkupfer, das Lips Tullian in Ketten und Fesseln zeigt. 1324 Wie auch in der Erklärung angegeben wird, tritt die Justitia mit ihren Attributen Waage und Schwert 1325 zu dem Übeltäter, um ihm Reue und Akzeptanz seines Schicksals anzumahnen und ihm den Strang oder das Rad als den Weg zu Gott und zur Bekehrung zu weisen. Die Vergebung durch Gott wurde den ‚Armen Sündern’ durch Geständnis, Kooperation und Einsicht in Text und Bild in Aussicht gestellt. Zum anderen dienten diese Szenarien, ähnlich wie die der Hinrichtungen, dazu, das Publikum vor eigenen Verbrechen abzuschrecken und Stärke und Durchsetzungskraft der Obrigkeit zu demonstrieren. Dass die Justiz der vormals selbstbewussten Täter inzwischen Herr geworden war und sie zwangsläufig der Bestrafung zuführte, wurde besonders durch die direkte Gegenüberstellung der Bilder im „Vorher-Nachher“-Modus verdeutlicht. Die verschiedenen Perspektiven konnten direkt nebeneinander angeordnet sein, wie auf der Titelseite von „Besonderes curieuses Gespräch“, die jene Kupferstiche reproduzierte, die zuvor in Aktenmäßigen Berichten veröffentlicht worden waren [Abb. 9]. 1326 Dazu wurden sie mit den Bildunterschriften „in seinen Staate“ und „in Gefängniß“ versehen. Die unterschiedlichen Situationen des Verbrechers konnten in den Berichten auch auf aufeinander folgenden Seiten oder getrennt durch den Text ihres Lebensberichts positioniert sein. 1323 Vgl. zum Beispiel einführend zur Darstellung von Melancholie bei Dürer W ARNKE , Geschichte, S. 170-173. 1324 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, Titelkupfer. 1325 Vgl. zu Justitia-Personifikationen und ihren Attributen im Bild S CHILD , Bilder. 1326 Besonderes curieuses Gespräch 1722, Titelkupfer. <?page no="301"?> 302 Abb. 9: Besonderes curieuses Gespräch im Vorhofe Des Reichs der Todten/ Zwischen zwey grossen beruffenen Dieben, Räubern und Mördern/ Nemlich NICOL Listen, und LIPS TULLIANEN […], Frankfurt a.M. [u.a.] 1722, Titelseite. <?page no="302"?> 303 Abb. 10: Der in ganz Europa verschmitzte und berüchtigte Mörder und Ertz-Spitzbube Christian Andreas Käsebier […]. O.O. 1748, Bildbeilage. <?page no="303"?> 304 Auf den Titelbildern anderer ‚Spitzbubengespräche’ findet man ebenfalls die (in edlem Zwirn) porträtierten Dialogpartner einander gegenübergestellt. Sie sind im Totenreich situiert, das mit einem Flussverlauf im Mittelgrund oder ganz explizit mit der Darstellung eines Schattenrisses des Teufels gekennzeichnet ist. In der hinteren Bildebene werden entweder ihre Hinrichtungen mit Galgen oder aufgestellten Rädern angedeutet oder eine kriminelle Tat. So laufen im Hintergrund des Gesprächs zwischen Thomas Wilmot und Christian Müller gleichzeitig ein Straßenraub und ein nächtlicher Einbruch ab [Abb. 2]. 1327 Von den üblichen Totengesprächen ist hier eine deutliche Abweichung zu konstatieren, da sich die Landschaften der Titelkupfer in diesen Ausgaben oft an „den Orten, wo sich die Toten zu Lebzeiten aufgehalten hatten“, 1328 orientierten. Auch visuell wird durch die ‚Spitzbubengespräche’ also ein besonderer Akzent auf die Delinquenz der Täter gelegt. Gleichzeitig wird eine moralisch-religiöse Erbauung geboten, da die durch ihre kriminellen Biografien charakterisierten Personen zwar verdientermaßen auf dem Weg ins Totenreich, also in ihrem Fall in die Hölle sind, dort aber ihr ewiges Leben im Einklang mit der göttlichen Ordnung verbringen können. Um den Leser mit der Zwangsläufigkeit eines kriminellen Karriereverlaufs zu konfrontieren, wurden auch Bildfolgen von Leben, Taten und Strafen auf Titelseiten und illustrierenden Beilagen in getrennten Einzeldarstellungen oder Simultanbildern abgebildet. Beispielsweise begann die „Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung“ über Nickel List mit einem vierteiligen Titelbild, auf dem ein nächtlicher Einbruch, ein Gelage, der Aufenthalt in bewachter Haft und die Hinrichtung 1698 an Galgen und Rad mit der Überschrift „Trifurum Comico-Tragoe-Dia - Gewonnen, Zerronnen, Gefangen, Gehangen“ versehen war [Abb. 1]. 1329 Noch detail- und anekdotenreicher war eine Bild-Einlage in dem achtseitigen Bericht über „Ertz-Spitzbube Christian Andreas Käsebier“ von 1748 [Abb. 10]: 1330 Die zentrale Abbildung des auch noch in Haft und Ketten verschmitzt lächelnden Räubers ist gerahmt von zehn kleinen, getrennten Darstellungen, die nummeriert und jeweils kommentiert die im Bericht aufgeführten Erzählungen und Legenden über Käsebier wiedergeben. Die Visualisierung enthält sowohl belegbare Lebensstationen wie Militärdienst und Haft, als auch fantastische Geschichten, wie den Mord an seiner schwangeren Frau, um sich eine Diebskerze aus „des Kindes Glieder[n]“ zu machen, 1331 oder die Tötung 1327 Gespräche Vierdte Entrevüe 1723, Titelkupfer. 1328 S CHMID , Gespräche, S. 51. 1329 Historische Ausführliche Erzehlung 1699, Titelkupfer. Das gleiche Bild verwendet auch der ein Jahr später erschienene Bericht Hosmanns, vgl. H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl, Titelkupfer. 1330 Der in ganz Europa Käsebier 1748, Mitte. 1331 Die Anfertigung von Diebskerzen oder Diebslichtern als magische Praxis war ein Vorwurf, der immer wieder in den Repräsentationen von Räuberbanden auftauchte, unter anderem auch in dem Verhörprotokoll von Matthias Brückmann, HStA Dresden, 10025, Loc. 5636. Vgl. dazu auch K ÖHLER -Z ÜLCH / S HOJAEI K AWAN , Art. Räuber. <?page no="304"?> 305 eines Komplizen, indem er diesen kopfüber in einen Ameisenhaufen gehängt habe. Mit ihrer illustrativen Abbildung wurde diesen schweren Verbrechen eine höhere Relevanz und Glaubwürdigkeit verliehen. Trotz dieser angeblichen Untaten, die zum Teil in Kursachsen stattgefunden haben sollten, war Käsebier nicht zum Tode, sondern zu lebenslanger Gefangenschaft in der Festung Küstrin verurteilt worden. Vermutlich um dieses ‚Ungleichgewicht’ zu erklären, waren in die Bildreihe zudem Anekdoten eingebunden, in denen der Räuber seine Mitmenschen absichtlich zu verschonen schien. Auch war er im Gefängnis in schweren Ketten und Banden mit gefalteten Händen betend dargestellt, was ihn - zur Versöhnung mit dem Leser - als ‚Armen Sünder’ markierte. Obwohl die Bilder nicht die kompletten Lebensgeschichten von Räubern aufrollen konnten und sollten, ist dennoch aus der täterzentrierten Darstellung von Anekdoten und Stationen auch ein durchaus biografisches Interesse an den Delinquenten herauszulesen, das in engen Zusammenhang mit der Gliederung und dem Aufbau der textlichen Repräsentation und der Gesamtentwicklung der ‚Kriminalgeschichten’ im 18. Jahrhundert gestellt werden kann. Dieser Herangehensweise entspricht ebenfalls die porträtierende Abbildung der gefassten Täter als Gruppe: „Fünffzehen stehen da, mit Fäßeln angethan, An ihrer Stirnen ist gar viel geschrieben an. Das Hertz ist Eisen fest, viel härter als ein Stahl, Die Marter ist umsonst, vergebens alle Quahl. Ihr Unglück ist doch gros, sie müßen endlich spühren, Daß sie durch ihren Trotz, die Seeligkeit verliehren.“ 1332 Unter dieser Überschrift wurden fünfzehn mit dem Prozess um Lips Tullian in Verbindung stehende Täter in einer Reihe namentlich und bildlich vorgestellt, von denen einige zum Tode und einige zu Festungsbau- und Zuchthausstrafen verurteilt worden waren. Diese frühe Darstellung mehrerer Räuber im Gruppenporträt setzt sich fort in späteren Berichten aus benachbarten Regionen, wie die 1812 entstandene „Aktenmäßige Geschichte der Räuberbanden zu den beiden Ufern des Mains“ 1333 durch Ludwig Pfister, die von Grolman verfasste „Actenmäßige Geschichte der Vogelsberger und Wetterauer Räuberbanden“ 1334 von 1813 oder Brills „Actenmässige Nachrichten von dem Raubgesindel in den Maingegenden“ 1335 von 1814 belegen. Die bessere Vergleichbarkeit gerade durch die Zusammenstellung mehrerer Profilabbildungen oder frontaler Porträts schon verhafteter Verbrecher lässt dahinter die Absicht der Autoren vermuten, Ähnlichkeiten in der Physiognomie von Delinquenten zu präsentieren. Versuche 1332 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 212-213 (Anderer Theil). 1333 P FISTER , Aktenmässige Geschichte. 1334 G ROLMAN , Actenmäßige Geschichte Vogelsberger. 1335 B RILL , Actenmässige Nachrichten. <?page no="305"?> 306 und Studien zu erkennbaren körperlichen Merkmalen und Gemeinsamkeiten Krimineller und Devianter und ihrer Degeneration werden in der Forschung zumeist mit dem erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden italienischen Arzt und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso in Verbindung gebracht. 1336 Eine Vorstellung vom „geborenen Verbrechertypus“ und ein anthropologisch-medizinisches Interesse am Täter deuten sich im Kontext der Gruppenporträts in Aktenmäßigen Berichten aber zumindest bereits an. Gerade der Gießener Friedrich Ludwig Adolf von Grolman konkretisiert den Zweck der Kupferstiche in seinem Vorwort: Sie dürften zwar vorwiegend „Verehrer der Physiognomik und Schädellehre“ interessieren, aber böten auch darüber hinaus für Beamte und „Menschenforscher“ die Möglichkeit, „über die äussere Characteristik der Spitzbuben aus der Erfahrung gemachte Abstractionen, an neuen Erscheinungen in der Wirklichkeit zu prüfen“. 1337 Zudem hatte diese Darstellungsform den Nebeneffekt, dass die wie vor allem bei Pfister als Gruppe nebeneinander Dargestellten auf den Betrachter zwangsläufig wie eine Einheit, wie eine zusammengehörige Bande wirkten, unabhängig davon, ob die Gerichtsakten oder die textlichen Ausführungen der Aktenmäßigen Berichte eine enge Zusammengehörigkeit faktisch unterstützten. 6.2 Wechselwirkungen Querverweise zwischen Gerichtsakten und den Produkten der Medienlandschaft sowie Hinweise auf eine gezielte Nutzung von informierend-unterhaltenden Berichten auch zu administrativen Zwecken finden sich im Quellenmaterial verschiedentlich. Klar bestätigt werden kann die Erkenntnis, dass man in Zeitungen und Intelligenzblättern Steckbriefe, Fahndungslisten und Gesetzestexte öffentlich verbreitete. Die besagten Ausschnitte aus den Druckmedien wurden manchmal rückwirkend in die Gerichtsüberlieferung eingefügt. Auch Verbrechensdarstellungen in kurzen Berichten zum Zweck der gemeinschaftlichen Nachverfolgung der Täter und der informierenden wie sensationellen Bekanntmachung finden sich in kursächsischen Periodika. Doch endete der Verbreitungsweg dieser Fahndungsmedien nicht bei den „Leipziger Zeitungen“ oder den „Leipzigischen Nachrichten“, sondern es ist zu beobachten, dass diese zusätzlich in erbauliche Schriften eingefügt wurden, um die Suche nach den Verbrechern möglichst umfassend zu gestalten. So enthielt der „Wohlgemeynte Vorschlag“ von 1710 eine vorher noch nicht publizierte Meldung über einen Diebstahl in Glashütte, der, wie sich später herausstellen sollte, eindeutig der Lips Tullian-Bande zugerechnet werden kann. 1338 1336 Als aktueller Überblick zu Lombroso vgl. E WEN / E WEN , Typen, S. 317-335. 1337 G ROLMAN , Actenmäßige Geschichte Vogelsberger, VIII. 1338 Wohlgemeynter Vorschlag. <?page no="306"?> 307 Außerdem zeigte sich in den Strafverfahren, dass Aktenmäßige Berichte von den Obrigkeiten gezielt eingesetzt wurden, um bestimmte Umstände zu prüfen oder weitere Komplizen und Taten zu entdecken. Die Akte des Stadtgerichts in Leipzig zum Inquisiten Zacharias Jacob begann mit dem Hinweis, dass die Ermittlungsrichter sich „erinnern, daß in dem in Druck heraus gekommenen, so genannten Denck-Mahle von Nicol Listen und seinen Complicibus, dieses Perl Einohrs, unterschiedlich gedacht“, weshalb über den Häftling, dem man diesen Zweitnamen zuschrieb, weitere Informationen bei anderen Herrschaften eingefordert wurden. 1339 Noch im Prozess um die jugendliche Vagantin Catharina Sophia Dorn 1767 wurde explizit darauf verwiesen, dass man den Aktenmäßigen Bericht aus dem benachbarten Hildburghausen, der immerhin bereits 1754 gedruckt worden war, hinzugezogen hatte, um die Aussagen hinsichtlich der angeblichen Mittäter und der Verwendung der Gaunersprache zu überprüfen. 1340 Nicht nur zur direkten Prüfung der Faktizität von Indizien wurden Medienberichte genutzt. Die auf diese Weise dargelegten bisherigen Erfahrungen mit Räuberbanden sollten ebenfalls bestimmte Argumentationslinien zur Mentalität der Verbrecher unterstützen. Als anlässlich des 1702 begonnenen Prozesses gegen Diebe, die im Gräflich Beichlingischen Haus in Dresden Silber und Geld gestohlen haben sollten, die Folteranwendung in die Diskussion geriet, verwies ein Schreiben der Landesregierung auf den Prozess gegen Nickel List, dessen Komplize Christian Müller „nach ausweise Denckmahls Göttl. Regierung fol. 230 […] er wüste wohl wie der Proceß fallen würde, man würde ihn torquiren, er würde nichts bekennen, und dann würde er loßkommen“, ausgesagt habe. 1341 Zur Bestätigung, dass erfahrene Räuber wie dieser die Bedrohung durch die Folter nicht fürchteten und bereit waren, die vorübergehenden körperlichen Strapazen auf sich zu nehmen, um ihr Leben zu erhalten, wurden in dem Schreiben lange Abschnitte des Berichts mit Müllers „spöttischen Reden“ über die Strafgerichtsbarkeit wörtlich zitiert. 1342 Die kriminelle Gruppe um Nickel List zog man häufig als Vergleich heran. Damit manifestiert und bestätigt sich gleichsam ein hoher Bekanntheitsgrad dieser frühen kursächsischen Räuberbande. Das zeigt sich schon in der Auswahl mehrerer Dialogpartner aus dieser ‚Rotte’ in den ‚Spitzbubengesprächen’. Lips Tullian und Nickel List wurden einander als besonders ‚hervorragende’ Räuberhauptleute nicht nur in den Totengesprächen gegenübergestellt. Auch innerhalb der Aktenmäßigen Berichte ist immer wieder eine Bezugnahme aufeinander zu beobachten. In „Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians, und seiner Complicen Leben und Uebelthaten“ wird mehrfach die Parallele zu 1339 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 9r-9v. 1340 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 19v. 1341 HStA Dresden, 10025, Loc. 8303, fol. 28r. 1342 Vgl. ebd., fol. 28r-29r und H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl, S. 84-85 (Anderer Theil). <?page no="307"?> 308 „des vormahls bekannten Nicol Lüstens und Consorten Thaten“ 1343 gezogen - ein Vergleich, den Tullian selbst vor Gericht hergestellt hatte. Unter den verschiedenen ‚Nachrufen’ auf den Räuber war nach Auskunft des Aktenmäßigen Berichtes zusätzlich das folgende Gedicht zu finden: „Lips Tullian, Ein Haupt-Dieb tritt allhier in seinen Banden auf/ Lips Tullian/ ein Schalck von Nicol Listens Geiste/ Der Mord und Kirchen-Raub vors beste Handwerck preiste/ Drum folgte böser Lohn auf bösen Lebens-Lauff: Der Diebes-Nacken ward durch Henckers Schwerdt gebrochen/ Und seine Missethat durch die Justiz gerochen.“ 1344 Querverweise wurden auch zu anderen, früheren Repräsentationen vorgenommen. Der anonyme Bericht von 1699 und die Schriften Hosmanns über die Nickel-List-Bande nahmen sogar wechselseitig in ihren Vorworten aufeinander Bezug. 1345 Die Autoren waren offensichtlich über vergleichbare aktuelle und laufende Publikationsprojekte informiert. 1346 In der Annahme, dass die Schilderungen der Aktenmäßigen Berichte über Verbrechen eine breite Rezeption erfahren würden, diskutiert der Autor des Tullian-Berichts deren mögliche Auswirkungen. Er räumt in seiner Vorrede ein, man könne „auf die Gedancken gerathen, daß durch die Publication der gleichen Verbrechungen böse Leuthe geärgert [d.h. hier: verschlimmert, C.G.] werden“, wenn diese einen Missbrauch der Schriften betrieben. Insofern könnten die Berichte den Delinquenten womöglich eher zur Anleitung als zur Abschreckung dienen. Zwar wies der Verfasser deutlich darauf hin, dass die nützlichen Zwecke der Medien überwogen. Da er jedoch nicht bestritt, dass die Texte in die falschen Hände geraten könnten, wurde offenbar zeitgenössisch davon ausgegangen, dass auch Deviante und nicht-bürgerliche Untertanen Zugang zu Aktenmäßigen Berichten erhalten würden: ein deutlicher Hinweis auf die Breite der Zielgruppe dieser Texte. Auch mit dem metaphorischen Argument, dass aus der schönsten Blume eine Biene zwar Honig, eine „vergifftete Spinne“ aber schädliches Gift saugen würde, kann der Verdacht nicht ausgeräumt werden, dass die Inhalte der Druckschriften bestimmten Lesern zum Vorbild und als Anregung zur Nachahmung gereichen konnten. Außerdem lassen die Berichte gelegentlich Spekulationen darüber zu, ob mitunter auf anderen Übermittlungswegen Prozessergebnisse zu früh an die interessierte Öffentlichkeit gelangt waren. So wird im Tullian-Bericht konstatiert, dass 1343 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 11 (Anderer Theil). 1344 Ebd., S. 65 (Anderer Theil). 1345 Vgl. Historische Ausführliche Erzehlung 1699, Vorrede, und H OSMANN , Fürtreffliches Denck- Mahl, Vorrede. 1346 In dem vorliegenden Fall kann das Wissen um die Konkurrenzberichte auch dadurch begründet gewesen sein, dass sie beide von Hieronymus Friedrich Hoffmann verlegt wurden. <?page no="308"?> 309 Samuel Schickel in Freiheit über das Geständnis seines Komplizen Gottfried Marx informiert worden sei. Aus diesem Grund habe er sich damals umgehend auf die Flucht begeben. 1347 Nicht erst durch die Druckschriften erfuhr das Publikum somit von einem laufenden Kriminalverfahren, sondern es kann daneben ebenso von mündlicher Überlieferung der rechtspraktischen Vorgänge an interessierte Zuhörer ausgegangen werden. Dadurch, dass die Schreiber und Prozessbeteiligten häufig auch die Autoren und Informationslieferanten der Druckmedien waren, hing die Darstellung beispielsweise in den Aktenmäßigen Berichten und Predigten eng mit der Prozessüberlieferung zusammen. Die ‚Spitzbubengespräche’ zeugten wiederum von der Kenntnis Aktenmäßiger Berichte. Die diversen Verfasser von Medienerzeugnissen waren demnach meist sowohl über rechtliche Kontexte als auch über im Vorfeld erschienene Repräsentationen zum Thema im Bilde, wie ferner der Verweis auf die Predigt von Schamelius im entsprechenden Artikel des Zedler über Spitzbuben belegt. Die hier dargestellte Zunahme von Medienrepräsentationen im 18. Jahrhundert, in denen Räuberbanden thematisiert wurden, und ihre breite Aufnahme in der Öffentlichkeit generierten in der Bevölkerung eine hohe Sensibilität für das Thema. Somit kann ein Ineinandergreifen der obrigkeitlichen Erzeugung eines Bedrohungsgefühls durch Fahndungsmittel und Verordnungen einerseits und der medialen Berührungspunkte mit der Problematik andererseits festgestellt werden. Daneben konnte in untergeordnetem Ausmaß bei einigen Lesern die mögliche direkte Konfrontation mit Devianten und Delinquenten aus der Alltagserfahrung treten, sei es als Opfer, als Bekannte der Inquisiten oder als Teilnehmer bei den Verfolgungsmaßnahmen. Durch mündliche Tradierung floss diese ebenfalls in die Überlieferung und den kursächsischen Räuberbandendiskurs ein. 1348 Auszugsweise und kurz soll im Folgenden dargestellt werden, wie sich das Bild eines bestimmten Räubers in der Weiterverarbeitung durch verschiedene Repräsentationen hindurch wandeln konnte. Als Beispiel wird der frühe ‚Räuberhauptmann’ Nickel List ausgewählt, dessen Karriere und Schicksal - wie bereits erwähnt - im territorialen Rahmen eine zentrale Bezugsgröße gebildet hat. In den diversen Gerichtsakten aus der Kooperation kursächsischer, Schönburgischer und Celle-Lüneburgischer Behörden wird Nickel List als „großer Kirchenräuber und Dieb“ benannt, der „das Haubt einer großen noch latirenden Bande SpitzBuben seyn soll“. 1349 Bei den Obrigkeiten begriff man ihn auch schon vor dem endgültigen juristischen Schuldbeweis und Urteil als überführten „Delinquenten“, von dem „große bosheiten“ und Gefährdung der öffentlichen 1347 Des bekannten Diebes Lips Tullians 1716, S. 81 (Anderer Theil). 1348 Als frühe, volkskundliche Studie zur mündlichen Überlieferung von sächsischen Räuberlegenden vgl. S CHWÄR , Volksgeschichten. 1349 HStA Dresden, 10024, Loc. 8915/ 12, fol. 3r-3v. <?page no="309"?> 310 Sicherheit ausgingen, warum zu seiner Überführung durch verschiedene Herrschaftsbereiche nach Celle einiger Aufwand betrieben wurde. 1350 Während der Ermittlungen im sächsischen Amt Hartenstein, die sich teilweise auf seine dort verbliebene erste Ehefrau Margaretha und die Tochter Anna Maria richteten, wurde List - auch von den beiden Frauen - übereinstimmend als undurchsichtiger Familientyrann umrissen, dessen kriminelle Aktivitäten sich nicht auf Eigentumsdelikte beschränkt hatten, sondern auch mindestens den hinterhältigen Mord an einem ‚Wachtmeister’ in Beutha umfassten. 1351 Obwohl die Subsistenz der Familie von verschiedenen Tätigkeiten wie auch dem Pferdehandel geprägt war, schien der Alltag vorrangig und nahezu professionell auf die Kriminalität hin ausgerichtet gewesen zu sein, wie die behauptete Existenz einer Werkstatt zur Herstellung von Waffen und Einbruchs-Hilfsmitteln andeutete, sowie die Angabe, über seinem Bett habe stets ein Gewehr gehangen. 1352 Als List von dem Hartensteinischen Amtsverweser Jost Hermann Schönheim 1698 im Arrest besucht und zu zwei Tötungsdelikten an Verfolgern befragt wurde, zeigte er sich selbst als bereuender ‚Armer Sünder’, der „jämmerlich weinete, auch vorgab, daß es ihm hertzlich leydt sey, daß er die Leute erschoßen“ habe. 1353 Sein in der Haft aufgesetztes Testament zu Gunsten seiner Kinder sollte ebenfalls ein aufrichtiges Bedauern seiner Untaten bezeugen, 1354 unabhängig davon, dass die übrigen Zeugenaussagen ihn vornehmlich als tatsächlich „listigen“ Verbrecher bezeichneten, der sich zur Vertuschung seiner „vielen guten theils sehr importanten Diebstähle“ 1355 immer wieder falsche Identitäten zugelegt hatte. Im Urteil wird anerkannt, dass er „frey und offenhertzig“ seine und die Taten anderer eingestanden habe. Die „Außführliche Relation“ über List und seine Komplizen berichtete 1699 mit einem Verweis auf die Analogie zu seinem Namen über einen listreichen Versuch, am Tag vor Vollstreckung des Todesurteils aus der Haft auszubrechen. 1356 Verwunderung wird darüber geäußert, wie er es trotz massiver Ketten und Fesseln habe schaffen können, sich zu befreien. Der Fluchtversuch hätte nur vereitelt werden können, weil sein jüdischer Mithäftling Schmuel ihn verraten habe. Darin steckt zum einen die Anerkennung für seine professionelle Handfertigkeit mit Schlössern und zum anderen ein Hinweis auf Treuelosigkeit unter den Komplizen. Neben der abschreckenden und gleichzeitig auf die Gerechtigkeit verweisenden Wirkungsabsicht des Textes mit Schwerpunkt auf der Hinrichtung ist noch zu bemerken, dass Lists Pseudonym „Doctor von der Mosel“ 1350 Vgl. die verschiedenen dazu geführten Korrespondenzen ebd. 1351 Vgl. die Aussagen der beiden Frauen in Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1705. 1352 Ebd., fol. 138r-138v. 1353 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1706, fol. 90v. 1354 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1707, fol. 103r-105v. 1355 So lautete die Formulierung in seinem Urteil vom 23. Mai 1699, HStA Hannover, Hann. 70, Nr. 3549/ 2. 1356 Außführliche Relation Celle 1699. <?page no="310"?> 311 in die Darstellung übernommen wird. Der Grund dafür kann darin liegen, dass der unbekannte Autor Abwechslung in den kurzen Bericht bringen wollte oder dass List unter seinem zweiten Namen regional bekannt war. Die Praxis, sich falsche Identitäten zuzulegen, welche mitunter in höheren Gesellschaftsschichten angesiedelt waren, wurde durch die Aufnahme in den Druck zusätzlich hervorgehoben. In Bezug auf den ersten Aktenmäßigen Bericht aus Celle und Leipzig von 1699 fällt zunächst auf, dass Nickel List auf dem Titelblatt und im gesamten Vorwort weder als Anführer noch als Teilnehmer der „Beruffenen Diebe“ namentlich genannt wurde. 1357 Der anonyme Autor schien die Rolle Lists im Vergleich mit dem angeblich großen Anteil der jüdischen Komplizen als zweitrangig einzuschätzen. Zumindest nutzte er den Namen nicht als Werbefaktor, sondern den Diebstahl der „Güldenen Taffel“ aus dem Michaeliskloster in Lüneburg, der als berühmteste Tat auch im Zentrum seiner Darstellung stand. Die gleiche Beobachtung gilt auch für das spätere „Fürtreffliche Denckmahl“ Sigismund Hosmanns. Erst auf Seite drei, nach der wiederholten Bezichtigung jüdischer Bösewichter, findet Nickel List als „Haupt-Dieb“ überhaupt eine erste Erwähnung. Durch die wiedergegebenen Zeugenaussagen bestätigte sich, dass List im Verlauf seiner Karriere immer wieder als „Herr von der Mosel“, mit Komplizen als vorgeblichen Dienern, in Wirtshäusern und Herbergen logiert hatte. Auch der Bericht übernahm die Bezeichnung als „Doctor“ oder „der von der Mosel“ oft wörtlich. Insgesamt wurden die Inquisiten hier beschuldigt, sich bei ihren Kirchendiebstählen gottlos und boshaft verhalten zu haben. Allerdings wird deutlich, dass dem anonymen Autoren die Mitschriften aus Nickel Lists Verhören nicht vorgelegen hatten. Er stützte sich vollständig auf die Akten aus den Verfahren gegen Schwancke, Peerman, Pante und Meyer. Vor allem dieser Umstand scheint zu begründen, warum der „Räuberhauptmann“ hier nicht überzeugend als Werbeträger für den Bericht eingesetzt werden konnte. Der Celler Stadtprediger Hosmann, der selbst an den Prozessen gegen die Komplizen um List beteiligt gewesen war, wies 1700 ausdrücklich darauf hin, dass er nicht der anonyme Autor des im vorangegangenen Jahr erschienenen 50seitigen Berichtes sei. 1358 Sein „Fürtreffliches Denckmahl“ basierte dagegen ohne Zweifel auf den Ermittlungsakten und umfasste mit seinen drei Teilen über 300 Seiten. Der zweite Teil enthält zu Beginn „Nickel Listens LebensLauff“ und seine Aussagen aus Verhören. 1359 Hosmann, der zur „geistlichen Unterredung“ regelmäßig persönlich mit List zusammengetroffen war, beschrieb ihn darin als einen inzwischen vollkommen von jeder Tugend abgekommenen Mann, der mit seinen angeborenen Talenten und einer rudimentären Schulbildung durchaus einen anderen Weg hätte einschlagen können. Auch während des Militärdienstes 1357 Vgl. im Folgenden Historische Ausführliche Erzehlung 1699. 1358 Vgl. H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl, hier: Vorrede. 1359 Vgl. im Folgenden ebd., S. 1-35 (Anderer Theil). <?page no="311"?> 312 habe er beweisen können, „daß es ihm weder an Hertz noch Klugheit fehlete“. Da er sich außerdem mit Paracelsus’ Lehren beschäftigt habe, sei er in der Arzneikunde bewandert und von anderen ohne sein eigenes Zutun als „Doctor“ bezeichnet worden. Vor allem durch äußere Faktoren wie der Verleitung durch Wirtshausbesucher, das Erleiden mehrerer Überfälle und Diebstähle im eigenen Haus und die unglückliche Ehe mit einer schlechten Frau sei er zur Kriminalität gekommen. In der Betonung dieser Fremdeinflüsse schloss sich der Autor deutlich den verteidigenden Selbstaussagen des Räubers an. Dennoch fügte er an einer zentralen Stelle ein, dass List den rechten Zeitpunkt zur möglichen Umkehr verpasst habe. Dadurch gerät die Darstellung nicht zur vollständigen Stellungnahme im Sinne einer Fremdbestimmung Lists, sondern weist ihm durchaus Mitverantwortung zu. Auch Hosmann bringt über die Fähigkeiten des Diebes, vor allem im eigens vorgeführten, geschickten Öffnen jeglicher Schlösser, Erstaunen und Bewunderung zum Ausdruck. Von seinen zahlreichen Taten, bei denen er zumeist der Anführer war und die sich gegen Kirchen und Arme wie Reiche gerichtet hätten, habe er keinen allzu großen Gewinn zurückbehalten. Unter anderem sei er selbst von den Juden als den ärgsten „Spitzbuben“ betrogen worden, worüber er sich auch immer wieder beklagt habe. Die beiden „Entleibungen“, die ihm nachgewiesen werden konnten, beschrieb der Autor als Versehen, die List stets zutiefst bereut habe, die ihn aber endgültig in die kriminelle Lebensweise gezwungen hätten. Nach den ersten erfolgreichen Taten habe er begonnen, sich als adligen Herrn mit einem ‚Hofstaat’ auszugeben, in dem seine Komplizen die Diener oder Jäger spielten. Respekt und Anerkennung habe er sich bei den vielen anderen Spitzbuben durch seine hohe ‚Kunstfertigkeit’ im Herstellen von Diebswerkzeug und Aufbrechen von Schlössern erarbeitet. Den Gebrauch von magischen Praktiken wie Diebslichtern wies List vor Gericht weit von sich. Nach seinem Geständnis von über 30 Verbrechen ging er in Begleitung Hosmanns betend und bereuend zur Hinrichtung. Hosmann stellte Nickel List als klugen, geschickten und anführenden, aber nicht als abgrundtief bösen oder gewalttätigen Räuber dar. Obwohl er von äußeren Einflüssen getrieben und verführt worden sei, übertrug der Autor ihm dennoch Verantwortung für seine Taten und stellte als einziges mögliches, von Gott gewolltes Schicksal die gerechte Todesstrafe in Aussicht. Mit Anna von Sien, seiner zweiten Frau, habe ihn zwar eine Art der Seelenverwandtschaft verbunden, doch darüber hinaus wird er nicht als fürsorglicher Familienmensch präsentiert. Die beiden ‚Spitzbubengespräche’ von 1722, in denen Nickel List jeweils im Dialog mit Lips Tullian steht, stellen den Räuberhauptmann ebenfalls als durchaus menschlich dar. In ihrer Zeichnung der Persönlichkeit Lists orientierten sich die Autoren anscheinend an dem Bericht Hosmanns, wobei „Besonderes curieuses Gespräch“ deutlich näher an dessen Formulierungen lag als die „Erste <?page no="312"?> 313 Entrevue“. 1360 Obwohl die beiden Räuber im Titel der „Ersten Entrevue“ als „liederlich“ und „böse“ bezeichnet werden, spricht die Sichtweise auf sie als „Spitzbuben“ und „Schelme“ dafür, dass man ihnen und ihren Taten zumindest einen Unterhaltungswert beimaß. 1361 Dem entsprach auch, dass man Nickel List mehr als 20 Jahre nach seinem Tod einen hohen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit attestierte. Tullian erhob diesen deshalb im Text zu seinem Vorbild. Charakterlich wird List noch stärker als bei Hosmann als gewitzt und zu Streichen aufgelegt beschrieben und er gesteht selbst ein, „daß es meine Art so mit sich bringt“. Teils mit wörtlichen Übernahmen, teils unter Einflechtung von Anekdoten, die keiner der Aktenmäßigen Berichte so wiedergab, spiegelte die ‚Entrevue’ einen durch den Militärdienst und den Kontakt zu Juden sowie zur falschen Frau verdorbenen, aber cleveren Kriminellen wider. Die abgekürzte Darstellung der Delikte stimmte ungefähr mit der Abfolge bei Hosmann überein. Markant wird herausgearbeitet, dass sich der Räuber seiner Berühmtheit bewusst war und dass er vor der Hinrichtung eine innerliche Umkehr signalisierte. Insgesamt wurde seiner Person ein größeres Maß an Bildung und sogar „Stil“, dafür aber eine geringere Härte und Gewaltbereitschaft zugeschrieben als Tullian. Er räumt sogar im Gespräch ein, dass er „ein Sanguineus und empfindlicher Kerl/ von Natur gewesen“ sei. 1362 Als aussagekräftiges Resümee wird List daher auch in dem anderen Totengespräch in den Mund gelegt: „Doch habe ich mich bey meiner Profession, in so wenig Jahren in ziemliche renomme gebracht, nur betaure, daß ich mein von Gott verliehenes herrliches Naturell, zu einer solchen Seegenslosen Kunst angewendet habe.“ 1363 An der Aufarbeitung biografischer Erzählungen über Nickel List beteiligten sich verschiedene Autoren vorwiegend im beginnenden 19. Jahrhundert und stellten ihn dabei teilweise anderen Verbrechern gegenüber. 1364 1802 erschien in Leipzig ein anonymes Buch, das die „Leben des berüchtigten Haiducken Sotschiwizka und Nikel Lists“ miteinander verglich. 1365 Es könnten zwar einige Begebenheiten „romanhaft“ wirken, der Autor betont aber, sich stets an seine „Führerin, die Wahrheit“ zu halten. Es handelte sich allerdings beim zweiten Abschnitt um die wörtliche Übernahme des „Leben Nickel Lists“ aus den „Tha- 1360 Vgl. im Folgenden Gespräche Erste Entrevue 1722 und Besonderes curieuses Gespräch 1722. 1361 Gespräche Erste Entrevue 1722, Titel. 1362 Ebd., S. 33. 1363 Besonderes curieuses Gespräch 1722, S. 44. 1364 Als Beispiel vgl. etwa W ILDER , Biographien, darin: Nickel List, berüchtigter Räuber mehrerer Kirchen zu Zelle im Merz 1699 hingerichtet, S. 255-285. Ohne Umschweife wird hier eindeutig Hosmanns Aktenmäßiger Bericht als eine Hauptquelle benannt. Dem ähnelt als Teil einer Kompilation auch S EYBT , Nickel List. Der Autor wählt im Vergleich einen anderen Textaufbau und stellt zur Hälfte die bedeutendsten Taten und die Ermittlungen dazu in den Vordergrund, aber erst in der zweiten Hälfte die Biografie des Räubers. 1365 Leben Haiducken Sotschiwitzka 1802. <?page no="313"?> 314 ten und Feinheiten renommierter Kraft- und Kniffgenies“, die Ludwig Tieck bereits 1790 in Berlin veröffentlicht hatte. 1366 Tendenziell und faktisch am Bericht Hosmanns orientiert, wurde hier ausführlich die Biografie des Räubers beschrieben - nicht ohne seine Klugheit und gute Veranlagung zu verdeutlichen. In seiner bildlichen und ausschmückenden Sprache nahm Tieck spekulative Ergänzungen vor, die die inneren Beweggründe, die seelische Verfassung und Gemütslage des Räubers betrafen. Die deutlichsten Vorwürfe richteten sich gegen die Frauen, Margaretha List wie Anna von Sien, die den Mann nachteilig beeinflusst hätten. Die Wirkungsabsicht der Darstellung schien weder in der Bestätigung der territorialen Justiz noch in religiöser Erbauung zu liegen, zweifelte der Autor auf den letzten Seiten doch daran, dass die Richter stets die wahren Täter zum Geständnis gebracht hätten und dass die Reue eines verurteilten Verbrechers überhaupt noch von Bedeutung sei. Ohne einen expliziten oder abschließenden Vergleich vorzunehmen führt 1850 ein anonymer Autor die Lebensgeschichten Lists, Andreas Christian Käsebiers und des Bayerischen Hiesels, also Matthias Klostermayrs, als „Die drei grausamsten Räuber Deutschlands“ anachronistisch zusammen, um mit deren Charakterzeichnungen vor dem Einschlagen der „verkehrten Richtung“ zu warnen. 1367 Der Text gibt nur einen kurzen Abriss des Lebenslaufs Lists wieder. Den Schwerpunkt legt der Autor darauf, die fünf wichtigsten und „merkwürdigsten Thaten“ emotional anrührend darzulegen. Vom berichtenden und belehrenden Stil augenscheinlich abgerückt, verwandelt er die Verbrechensdarstellung in eine dramatische Unterhaltungslektüre. Während die Daten inhaltlich mit den Quellen übereinstimmen, dienen zahlreiche fiktive Dialoge der Täter untereinander und mit den Opfern in anschaulicher Sprache dazu, dem Leser die Geschehnisse möglichst nahe zu bringen. List erscheint als der geschickte, überlegene und unhinterfragte Anführer der Bande, der stets die Vorbereitung und Organisation der Taten übernommen hatte. Seine ‚Kunstfertigkeit’ kommt in Worten und Formulierungen zur Sprache, die Anerkennung durchscheinen lassen. Gleichsam wird er für den ‚Erfolg’ und die ‚Effizienz’ der Räuberbande verantwortlich gemacht. Von den Aktenmäßigen Berichten über die Gegenüberstellungen im Dialog der Totengespräche und die vergleichenden Biografien entwickelten sich die Repräsentationen Nickel Lists immer stärker hin zur Darstellungsform des biografischen Romans 1368 . Auch wenn sich dabei die Grundlinien der Inhalte nicht stark veränderten, lag der Fokus anfangs doch mehr auf den Strafprozessen gegen die gesamten Räuberbanden, wohingegen sich der Schwerpunkt in späteren Aufarbeitungen deutlich auf den vermeintlichen Anführer und seine Biogra- 1366 Vgl. T IECK / R AMBACH , Leben Lists. 1367 Vgl. im Folgenden Die drei grausamsten Räuber [1850]. Die Darstellung stammte wohl ungefähr von 1850, da der Autor zu Beginn der Lebensgeschichte Klostermayers aussagt, dessen Verbrechen lägen nun mehr als siebzig Jahre zurück. 1368 Vgl. B ERTRAND , Abenteurer; L EIBROCK , Leben Unthaten Nickel-List. <?page no="314"?> 315 fie verlagerte. Die Kriminalitätsgeschichten wurden so - zunächst noch mit Hilfe des Vergleichs - personalisiert und individualisiert, um als außergewöhnlich (in Bezug zum Leser) und dennoch exemplarisch (für fehlgeschlagene Karrieren) vorgeführt zu werden. Dabei schien das öffentliche Interesse an Nickel List auch 150 Jahre nach seiner Hinrichtung noch nicht abzureißen. Die ungefähr 30 Verbrechen innerhalb von fünf Jahren waren offenbar so spektakulär gewesen, dass seine kriminelle Laufbahn wiederholt aufgegriffen und literarisch verarbeitet wurde. Auch mag die überregionale Aktivität der Bande eine Rolle gespielt haben. In der Charakterisierung hielten sich die Darstellungen weitgehend an die frühe, ausführliche Schilderung durch Hosmann. Dass der Verfasser während des Prozesses mehrmals mit Nickel List zusammengetroffen und eine persönliche Verbindung entstanden war, gab anscheinend den Ausschlag für die Färbung seines ‚Nachruhms’. Da schon der Prediger der Beteuerung, dass die Tötungsdelikte Unfälle gewesen waren, Glauben geschenkt hatte, wurde der Räuber in keinem der späteren Texte als ‚Mörder’ bezeichnet, obwohl die Beweise dies eigentlich erlaubt hätten. Auch die ursprüngliche Schilderung Lists als gebildet, geschickt und gut veranlagt spiegelt sich in allen Darstellungen wider. Die Suche nach Rechtfertigungen für seine Taten führte auch in späteren Repräsentationen immer wieder dazu, dass unhinterfragt andere Spitzbuben, die Frauen und vor allem Juden als eigentliche Urheber des Unglücks beschuldigt wurden, wie bereits bei Hosmann. Die Aussagen Margaretha Lists oder der jüdischen Verdächtigen hingegen wurden als mögliche Vergleichsquellen nicht herangezogen. Vielmehr dichteten verschiedene Autoren umso mehr Ergänzungen in Form von Anekdoten oder Dialogen hinzu, je weiter man sich zeitlich vom tatsächlichen Strafprozess entfernte, um die Geschichte des Räubers anschaulicher auszugestalten. Am Wandel dieser Räuberbiografie, an den unterschiedlichen Einflussnahmen der Repräsentationen aufeinander und an der Entwicklung der thematisch beteiligten Medien lässt sich ein Zwischenfazit festmachen: Die ausgewerteten Beispiele aus dem 18. Jahrhundert lassen eine allmähliche Abkehr vom allgemein abschreckenden und eine Hinwendung zum individuelleren, romantisierenden Räuberbild erkennen. 1369 Mit Abnahme der bebilderten Flugblätter und dem gleichzeitigen Boom textlastiger Periodika auf dem Markt ging ein Bedeutungsverlust der visuellen Kriminalitätsdarstellungen in den Medien einher, die vorwiegend einer Abschreckung gedient hatten. Da in Kursachsen immer weniger Übeltäter öffentlich hingerichtet wurden, konnten solche Ereignisse ohnehin seltener medial vermittelt werden. In Aktenmäßigen Berichten blieben Einzel- oder Gruppenporträts als anthropologisch-kriminologisches Anschauungs- 1369 Vgl. dazu auch D AINAT , Abaellino, S. 280-281. <?page no="315"?> 316 material jedoch erhalten. Zahlreiche Texte über Johann Karraseck aber schienen beispielsweise ohne visuelle Beigaben auszukommen. 1370 Mit der zunehmend milderen Behandlung der Straftäter durch die kursächsische Justiz - durch die wachsende Distanzierung von Folter und Todesstrafe - veränderten sich zum Jahrhundertwechsel hin die Repräsentationen der Räuberbanden. Zusätzlich leistete der zeitliche Abstand zwischen dem tatsächlichen Rechtsfall und seiner medialen Darstellung dieser Tendenz Vorschub. Gerade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren im Kurfürstentum, wo man sich im Vergleich zu anderen Territorien früh mit dieser Delinquenz konfrontiert gesehen hatte, Mediendarstellungen verbreitet, die vorwiegend generalpräventive Strafzwecke stützten und die Leistungen der Exekutive hervorhoben. Weil die Regierungsbehörden unter Friedrich August dem Gerechten das Bedrohungspotenzial durch ‚diebische Rotten’ weniger hochstilisierten, war den vorwiegend bürgerlich geprägten Medienerzeugnissen der Weg bereitet, einen neuen, mitunter idealisierenden Blick auf das Leben und die Taten von Räuberbanden zu werfen, der sich erst im folgenden Jahrhundert vollständig durchsetzen sollte. 6.3 Stereotype Walter Lippmann prägte 1922 den Begriff ‚Stereotype’ und definierte ihn als „Bilder in unseren Köpfen“ 1371 . Seitdem wurde er von verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft angewandt und weiterentwickelt. 1372 Schon durch Lippmanns Ansatz ist eine Verbindung des Terminus zur ‚öffentlichen Meinung’ und dadurch zu den inneren Vorstellungen jedes Einzelnen angelegt. Daher ist gerade bei der Darstellung von Kriminalität, die häufig auf eine öffentliche Wahrnehmung abzielte, mit der Stereotypen zu rechnen. 1373 In der aktuellen Forschung wird außerdem der enge Zusammenhang zum Diskursbegriff betont. 1374 Ein Stereotyp ist zumeist Bestandteil eines Diskurses. In der qualitativ ausgerichteten soziologischen Konversationsanalyse werden Stereotypisierungen als vereinfachende Kategorisierungen verstanden, „die als generalisierte Zuschreibungen menschlicher Verhaltensweisen in die interaktionale Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern eingehen“ 1375 . Sie sagen meist mehr über den Akteur aus, der 1370 Vgl. als Beispiel P ANNACH , Auszug Leben. 1371 L IPPMANN , Meinung, S. 10 und S. 28. 1372 Vgl. zum Begriff Stereotyp und seiner Verwendung allgemein R EISIGL , Stereotyp (I) und D ERS ., Stereotyp (II). 1373 Vgl. beispielsweise die beiden Studien, die das Stereotypmodell an Darstellungen bestimmter devianter Gruppen überprüfen: S EIDENSPINNER , Angst; A MMERER , Menschenrace. Für die soziologische Herangehensweise zum kriminellen Stereotyp vgl. C HAPMAN , Sociology. 1374 Vgl. R EISIGL , Stereotyp (II), S. 114-115; I MHOF , Stereotypen; H AHN / H AHN , Nationale Stereotypen, S. 38-43. 1375 R EISIGL , Stereotyp (I), S. 248. <?page no="316"?> 317 sich in der Kommunikation ihrer bedient, als über denjenigen, zu dessen Beschreibung sie verwendet werden. Unter anderem Hahn bestimmt in seinen Arbeiten der historischen Stereotypenforschung eine Reihe verschiedener Komponenten, die die Wirkungen und Funktionen von Stereotypen konstituieren: 1376 In Abgrenzung zum „Begriff“, der seinem Anwender ebenfalls eine Orientierung in der Komplexität des Alltagslebens bietet, sind hier immer Emotionalität und eine Wertung impliziert. Die Nutzung der Worte „Erzverbrecher“ oder „Armer Sünder“ beinhaltet in jedem Fall eine wertende Absicht und übt als solche eine grob einordnende Funktion aus. ‚Vorurteil’ und ‚Stereotyp’ werden zwar häufig analog verwendet, sind aber nicht völlig identisch. 1377 Neben der Möglichkeit, Stereotype zur Manipulation der öffentlichen Meinung und damit zur Stabilisierung eines obrigkeitlichen oder hegemonialen Interesses zu generieren, werden sie meist auf Gruppen und somit zur Verallgemeinerung verwendet. Ein besonderer Stellenwert kommt im vorliegenden Kontext dem Umstand zu, dass Stereotypisierungen immer dazu dienten und dienen, bewertend das ‚Eigene’ von dem ‚Fremden’ abzugrenzen, sich also durch Verallgemeinerungen selbst zu orientieren und einzuordnen. Demnach bildet die Verwendung von Stereotypen einen unterstützenden Faktor im Hinblick auf die gesellschaftliche Inklusion und Exklusion von Individuen und Gruppen 1378 - im vorliegenden Fall von Kriminellen als sozial Devianten. Durch Zuschreibungen wurde ein Feindbild geschaffen, von dem man sich als gesellschaftliche Einheit oder Gruppe positiv abheben konnte. 1379 Da diese Abgrenzungsfunktion nicht immer von der Mehrheitsgesellschaft ausgehen und auf Randgruppen zielen muss, spielt die Unterscheidung in Autostereotyp und Heterostereotyp als Selbst- und Fremdbezeichnung ebenfalls eine bedeutende Rolle. 1380 Auch die Zurechnung des Selbst zu einem bestimmten Stereotyp kann der eigenen Verortung in der Gesellschaft und der Abgrenzung gegen Andere dienen. Das Stereotyp gilt schon prinzipiell als sozial vermitteltes Werturteil. Im Folgenden werden fünf über Verhalten definierte, soziale Stereotype des Räubers herausgearbeitet. 1381 Sie umfassen ein Spektrum verschiedener Charakterbilder und Verhaltensmodi, die den kursächsischen Räubern in Fremd- oder Selbstbezeichnung beigemessen wurden. Überschneidungen zwischen den diversen Zu- 1376 Vgl. im Folgenden H AHN , Stereotypen; H AHN / H AHN , Nationale Stereotypen und G REDIG , Untersuchung. 1377 Vgl. G REDIG , Untersuchung, S. 13; R EISIGL , Stereotyp (I), S. 245-246. 1378 Vgl. R EISIGL , Stereotyp (I), S. 250. 1379 Vgl. auch S EIDENSPINNER , Mobilität, S. 160. 1380 H AHN / H AHN , Nationale Stereotypen, S. 28-36. 1381 Politische, religiöse oder nationale Stereotype, die bisher am häufigsten Gegenstand historischer Forschungsarbeiten mit dem Ansatz der Stereotypanalyse waren, spielen beim vorliegenden Untersuchungszuschnitt eine marginale Rolle. Allenfalls eine geschlechtsspezifische oder sexistische Stereotypisierung des Räubers und der Räuberin sind gegebenenfalls ergänzend zu prüfen. <?page no="317"?> 318 ordnungen zu den (Auto- und Hetero-)Stereotypen sind durchaus möglich. 1382 Die Beschränkung auf ein einzelnes, zugespitztes kursächsisches „Bandenräuber- Stereotyp“ des 18. Jahrhunderts würde der Vielfalt an Erscheinungsformen, Repräsentationsmodi und Deutungskonzepten nicht gerecht. Da diese Zusammenführung der Stereotype im folgenden Abschnitt einige Ergebnisse der vorherigen Kapitel aufgreifen wird, dient sie als Präzisierung einer Synthese und als Überleitung zur Schlussbetrachtung. 6.3.1 Der Bösewicht Zahlreiche Repräsentationen unterschiedlicher Provenienz stellten aus einer Menge von Delinquenten zumindest einen Räuber vor, dem wenig Menschliches zu Eigen sei, dem Rätselhaftigkeit oder Undurchschaubarkeit gepaart mit Gottlosigkeit, Gier oder Brutalität vorgeworfen wurden. Für den als fremdartig oder ‚anders’ begriffenen Täter wurde häufig die Bezeichnung „Erzbösewicht“ gewählt, weil er aus der Sicht des Beschreibenden die schlimmsten Verbrechen beging, sich nur schwer fassen ließ und sich im Prozess verstockt und überheblich verhielt. Bei diesem durch und durch verdorbenen und kaum zugänglichen Verbrecher handelte es sich um ein vielfach zugewiesenes Heterostereotyp. Vor allem auf Raubmörder, die Gewalt ausgeübt hatten, auf Straßenräuber, die sich nicht scheuten, ihre Überfälle auf öffentlichen Straßen zu praktizieren und auf ‚Rädelsführer’, die mit einer großen kriminellen Gruppe eine besondere Bedrohung darstellten, fand der ‚Bösewicht’ Anwendung. Die besondere Grausamkeit richtete sich nicht nur gegen Diebstahlsopfer, sondern auch gegen Gerichtsdiener, Mittäter oder Familienmitglieder. In Texten aus der juristischen Praxis wurde diese Stereotypisierung angewandt, wenn es darum ging, höchste Strafmaße zu erklären und für die Mitwirkung der gesamten Bevölkerung bei der Verfolgung von Straftätern zu werben. Wenn ein Inquisit in einer Untersuchungsakte als „ein das DiebsWesen von Jugend auf treibender Bösewicht“ 1383 bezeichnet wurde, war unmissverständlich ein ‚geborener Verbrecher’ gemeint, wie er durch die Gruppenporträts und vor allem etwa 100 Jahre später von Lombroso anhand physiognomischer Anzeichen konstruiert werden sollte. Ähnlich deutlich lautete auch die Beschreibung des Diebswirts Wolffert, der nach Meinung der Stiftsregierung Naumburg-Zeitz „ein Kerl sey, der von Jugend auf zu allen Gottlosigkeiten aufgeleget und längst werth gewesen, zu einem ewigen Züchtling verurtheilet zu werden“. 1384 Die Fremdbezeichnung wurde nicht nur von Beamten und Juristen, sondern ebenfalls von Belastungszeugen und Mittätern sowie von Autoren und Predigern 1382 Mediendarstellungen können in der Zuschreibung von Stereotypen durchaus mehrdeutig sein, wie unter anderem Dainat hervorhebt, D AINAT , Mörder. 1383 Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009, Nr. 496, fol. 721r-721v. 1384 HStA Dresden, 10025, Loc. 5674, fol. 113r-113v. <?page no="318"?> 319 geäußert, um insgesamt zu bescheinigen, dass einem Täter Verantwortung zuzurechnen und für ihn eine strenge Strafe angemessen sei, da er jegliche Hoffnung auf Erziehbarkeit und Läuterung selbst verwirkt habe. Es leuchtet ein, warum besonders (Raub-)Mörder dieser Bewertung unterlagen, konnten sie doch für eine Tötung kaum ein glaubwürdiges Entschuldigungsargument geltend machen. Der „berüchtigte Bösewicht“ Johann Gottlieb Frenzel wird beispielsweise von der Leitung des Torgauer Zuchthauses 1791 in dem Sinne charakterisiert, „daß Frenzel ein äuserst unternehmender Kerl ist, zu deßen Festhaltung alle nur ersinnliche Praecaution nöthig seyn will, wie auch der Fall mit dem ermordeten Amtsfrohn Wagner in Bautzen klärlich zu Tage giebt“. 1385 Zur Beschreibung und gleichzeitig als Erklärungsmuster für das kaum kontrollierbare Verhalten vermeintlicher Erzbösewichter diente das wiederkehrende Motiv der Verführung durch den Teufel oder der Zuweisung teuflischer Eigenschaften. Die Nutzung dieser Argumentationslinie entsprach am deutlichsten der Ausrichtung moralisch belehrender Texte. Prägnant bringt es „Wohlgemeynter doch Unvorgreifflicher und Unmaßgeblicher Vorschlag“ von 1710 zum Ausdruck, in dem konstatiert wird, dass die betreffenden Räuber Anhänger des „höllischen Lucifers“ seien und „sich doch diese unselige Menschen von ihm so weit verführen lassen/ daß sie (so zu sagen) seine Garde seyn/ ihm dienen/ gehorchen und auffwarten wollen“. 1386 Die hier gemeinten Männer um Lips Tullian eigneten sich geradezu als Paradebeispiele der berechnenden, brutalen und folterresistenten Erzbösewichter, wie sich in mehreren Mediendarstellungen zeigte. Auch in ‚Spezifikationen’ fanden sich bereits Assoziationen mit schwarz und dunkel, die mit der Beschreibung eines ‚Bösewichts’ - sogar als „Teuffelischer Kerl“ 1387 - einhergingen. Bis hin in die Verhöraussagen von Komplizen ist eine Konnotation des ärgsten Verbrechers mit dem Teufel belegbar. In seiner eigenen Verteidigungsschrift führte Zacharias Jacob alias Perl Einohr 1703 über Nickel List an: „Er ist wie sein Vater, der Teuffel, der Lügenkönig, daß Sie beyderseits durch ihre Lügen andere in Unglück zu sezen Tag und Nacht bemühet leben, Derowegen seinen unverschämbten Lügen nicht zu glauben.“ 1388 Der Aussage eines solchen Erzbösewichtes sollte die Justiz also kein Gewicht beimessen. Daneben gaben Mittäter in einem Prozess von 1718 an, Hans Christoph Köhler habe unter Komplizen von sich selbst prahlerisch „des Teufels bin ich“ 1389 gesagt, was er selbst allerdings abstritt. 1385 Staatsarchiv Chemnitz, 30572, Nr. 3139, fol. 40r-41v. 1386 Wohlgemeynter Vorschlag, § 2. 1387 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 49r. 1388 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 634, fol. 59r. 1389 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 14r. <?page no="319"?> 320 Als einer der schlimmsten Erzbösewichter wurde in Aussagen und Medienberichten außerdem Andreas Christian Käsebier umschrieben: Er, der im Kurfürstentum unterwegs, aber dort nicht zu arretieren gewesen war, sollte mit seiner ‚Rotte’ aus über 800 Verbrechern neben Räubereien auch Morde begangen und Diebskerzen angefertigt haben. Diebsfinger und Diebskerzen wurden ebenfalls als Attribute der unmenschlichsten unter den Verbrechern verstanden. 1390 Weiterhin gab eine Flugschrift von 1748 an, „daß sie unter ihrer Bande über 100. Juden hätten, welche mit denen Christen so barbarisch umgiengen, daß kein Wunder, wenn die Hölle ihren Rachen aufsperrete, und solche verruchte Mörder lebendig verschlänge“. 1391 So stellte ‚der Jude’ mit seiner zugeschriebenen Geldgier, Fremdartigkeit und Verstockung eine wichtige Kategorie des Stereotyps dar, die zahlreiche Repräsentationen wiedergaben. Dass jüdische Räuber besonders gottlos und kriminell veranlagt seien, unterstellten ihnen immer wieder diverse Aussagen und Medien, indem sie beispielsweise wie Sigismund Hosmann ausführten, unter den Juden ginge man zur „Academiae und hohen Schule der rechten Haupt-Diebe“ 1392 . Von solchen Berichten und beispielsweise Johann Gottfried Sahrbergs Aussagen ausgehend entstand das Bild eines jüdischen Bösewichts als stereotypen Sündenbocks, das sich mehr oder weniger durchsetzen und in der öffentlichen Meinung verfestigen konnte. Im Gegensatz zum jüdischen Räuber, der so häufig nahezu zum archetypischen Dieb stilisiert wurde, geben die Quellen keinen Aufschluss darüber, dass der ‚Zigeuner’ ebenfalls als eine Sammelkategorie für den fremden, andersartigen Erzbösewicht genutzt worden wäre. Eine Beschreibung als ‚zigeunerisch’ scheint in den kursächsischen Strafprozessen unüblich gewesen zu sein. Der Nutzen des Stereotyps Erzbösewicht lag vor allem in der Konstruktion eines abschreckenden Beispiels, an dem Obrigkeit und Justiz ein glaubwürdiges Exempel statuieren konnten. Mit der Präsentation eines solchen Feindbildes wurde eine ständige und umfassende Bedrohung generiert, vor der sich kein Untertan sicher wähnen und gegen die sich die Mehrheit der Betrachter ihrerseits abgrenzen konnte. Es leistete der dauerhaften Exklusion eines Verbrechers durch Strafe Vorschub, wenn man ihm nachweisen konnte, dass er ein geborener verdorbener und unverbesserlicher Charakter sei. Der Öffentlichkeit konnte damit die Unausweichlichkeit vermittelt werden, mit der auf solche Täter ausschließlich die Todesstrafe oder lebenslange Zwangsarbeit warteten. Gleichzeitig diente die Vorstellung des vom Teufel verführten Bösewichts dazu, grausame und unmenschliche Untaten, die außerhalb rationaler Erklärungsmuster lagen, überhaupt nachvollziehbar zu machen. 1390 Vgl. S EIDENSPINNER , Angst, S. 80 1391 Ausführliche Nachricht Käsebier 1748, hier: S. 3. 1392 H OSMANN , Fürtreffliches Denck-Mahl, S. 5 (Anderer Theil). <?page no="320"?> 321 6.3.2 Der Spitzbube Mit gewissen Überschneidungen zum Bösewicht und wie dieser ebenfalls gelegentlich mit der Vorsilbe „Erz-“ gesteigert, erscheint der Spitzbube in zahlreichen Repräsentationen von Räuberbanden. Die aus anderen geographischen und zeitlichen Kontexten stammenden ähnlichen Begriffe des Gauners oder des Schlitzohrs, welcher von einer im Mittelalter üblichen Körperstrafe für kleine Diebstähle herrührte, 1393 finden dagegen in den kursächsischen Quellen keine Anwendung. Auf die Undeutlichkeit des Labels Spitzbube, das sich kaum ein Betroffener selbst beimaß, sondern das ausschließlich als Heterostereotyp betrachtet werden kann, wurde bereits eingegangen. Mit der großen und vielfältig gebrauchten Sammelkategorie des Spitzbuben wurden - nicht nur in Kursachsen - Eigentumsdelikte im Sinne von geringfügigem, einfachem Diebstahl, Gelegenheits- oder Marktdiebstahl verbunden. Die Nähe zwischen dem Taschen- und Marktdieb und dem Spitzbuben und ihre Abgrenzung zum Räuber machte besonders Schamelius’ Predigt deutlich. 1394 Wie die ausgewerteten Lexikonartikel darlegen, gehörte zur zeitgenössischen Definition des Stereotyps Spitzbube vor allem, dass dieser seine Verbrechen heimlich, mit List und Betrug vollzog. Weil er angeblich keine Gewalt an seinen Opfern ausübte, erfuhr er in manchen Repräsentationen sogar eine spezifisch positive Färbung. Unter seiner Kriminalität verstand der ‚Schelm’ vorgeblich eine Kunstfertigkeit oder ein Handwerk, mit dem er neben anderen ‚Talenten’ vorübergehend seine notwendige Existenzsicherung betrieb. In der charakterlichen Zeichnung erschien der Spitzbube daher eher als clever, verschmitzt und einfallsreich. Mehr als in Bezug auf den geborenen Räuber einerseits oder den von äußeren Umständen gezwungenen Dieb andererseits wurde dem Spitzbuben eine innere Neigung zu Müßiggang, Faulheit und zum Fehlverhalten sowie eine bewusste Entscheidung als Voraussetzung und Grundlage seiner Laufbahn nachgesagt. Vor allem in diesem Zusammenhang unterschied er sich deutlich vom Bösewicht, dem quasi von Geburt an keine andere Entwicklungsmöglichkeit gegeben war. „Du Spitzbube“ taucht in diesem Verständnis auch in Zeugenaussagen als wörtlich wiedergegebenes Schimpfwort gegen Personen auf, die man damit als generell verdächtig und kriminell einstufte. 1395 Auch gehörte es zur Vorstellung einiger Autoren, dass er mitunter seine ‚Spielchen’ sowohl mit Komplizen und Bestohlenen als auch mit den Juristen trieb, die er belog und an der Nase herumführte. Dem entsprachen gewisse Verhaltensweisen vor Gericht, wenn sowohl Kuntze als auch Sahrberg den Beamten eine selbst verfasste Handreichung zur effizienten Verfolgung von Dieben 1393 Vgl. van D ÜLMEN , Theater, S. 69. 1394 S CHAMELIUS , Predigt Spitz-Buben 1715. 1395 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 639, fol. 19v oder Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 5r. <?page no="321"?> 322 und Räubern anboten. 1396 Gerade Sahrberg erhielt - besonders durch seine Darstellung im Aktenmäßigen Bericht - den Zug von Verwegenheit, wenn er sich über die gegen ihn geäußerten Vorwürfe lachend amüsierte und den Prozess anfangs nicht ernst zu nehmen schien. Auch wurde gelegentlich Inquisiten „freche Verwegenheit“ 1397 attestiert. Zur Charakterisierung passt es, wenn Johann Andreas Lindemann bezüglich eines misslungenen Einbruchs im Verhör einräumte, „daß die Spizbuben Eyer auf die Bauern gegeben“ 1398 und so ihre Verfolger nicht mit gefährlichen Waffen bedroht hatten, während diese auf sie schossen. Die Meinung darüber, ob der Spitzbube naturgemäß als Einzelgänger oder in einer Gruppe unterwegs war, scheint gespalten. Auffällig ist jedoch, dass sich der Begriff außerordentlich oft in den untersuchten Quellen von der „Specification der SpitzbubenRotte“ 1399 bis hin zu den ‚Spitzbubengesprächen’ wiederfindet, was deutlich macht, dass man auch Mitglieder von Banden als solche verstand. Zudem wurden im Krünitz seltsamerweise gewalttätige Räuberanführer als Beispiele für dieses Begriffsverständnis beschrieben. Besonders in der speziellen Adaption der Totengespräche wurden Spitzbuben aus Räuberbanden aufgegriffen und einander im Dialog gegenüber gestellt. Hier zeigte sich besonders die Assoziation mit Witz, Klugheit und Verschlagenheit, indem selbst Kriminelle, die sich zu Lebzeiten nachweislich kapitale Delikte zu Schulden hatten kommen lassen, durch ihre Erzählungen und Anekdoten zur leichten Unterhaltung des Publikums beitragen konnten. Die undeutliche Formulierung des Begriffs hat zur Folge, dass die Labels etwa in Form der „Diebs- Räuber- und SpizbubenRotten“ 1400 miteinander kombiniert auftreten und dass es je nach Perspektive zu Schnittmengen mit anderen Stereotypen kommen kann. Der berüchtigte Räuber Nickel List wird unter anderem als Spitzbube betrachtet, weil einige seiner Wesenszüge dem gerissenen, aber nicht unmenschlichen Verbrecher zu entsprechen scheinen. 1401 Sogar Andreas Christian Käsebier wird nicht nur im Krünitz, sondern auch aufgrund bestimmter Begebenheiten, in denen er sich angeblich gnädig gezeigt hatte, von medialen Repräsentationen als Spitzbube eingeordnet. 1402 Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Stereotyp in seiner Breite gerade in den politischen und juristischen Verwendungskontexten dazu dienen konnte, eine dem Einzelfall angepasste Behandlung und Strafe zu legitimieren - ohne dass es sich hier um eine strafrechtlich definierte Kategorie handelte. Da der 1396 Stadtarchiv Leipzig, Richterstube, Nr. 722, IV, fol. 83r-83v. Vgl. im Folgenden auch HStA Dresden, 10024, Loc. 11399/ 5. 1397 HStA Dresden, 10047, Nr. 3946, fol. 10r. 1398 HStA Dresden, 10024, Loc. 10118/ 4, fol. 50v. 1399 HStA Dresden, 10079, Loc. 30396/ 6, fol. 1r. 1400 HStA Dresden, 10024, Loc. 9661/ 4, Nr. 6. 1401 Vgl. zum Beispiel die Formulierung in HStA Dresden, 10024, Loc. 8915/ 12, fol. 3v. 1402 Der in ganz Europa Käsebier 1748. <?page no="322"?> 323 Spitzbubenterminus die alltägliche Kleinkriminalität auf Märkten ebenso zu umfassen schien wie die planmäßige Beraubung in Gruppen, und das verschmitzte Gemüt ebenso wie den verschlagenen Opportunisten, nutzte die Zuschreibung dazu, individuelle Abstufungen in die jeweilige Bewertung einzubauen. Das konnte ebenfalls für die späteren medialen Repräsentationen gelten, denen damit die Möglichkeit eröffnet war, einen Raubmörder als interessante Persönlichkeit vorzustellen, dessen ehrmindernde Strafe ihn offiziell aus der göttlichen Ordnung ausgeschlossen hatte. Mit der Bezeichnung konnte je nachdem eine potenzielle rechtliche oder soziale Re-Inklusion oder aber die Bekräftigung einer vollständigen Exklusion des Bezeichneten beabsichtigt sein. 6.3.3 Der Reumütige In den Repräsentationen von Räubern gab es nicht nur abgebrühte und verwegene Kriminelle, die ihrem Schicksal mit Gelassenheit oder Galgenhumor entgegen zu sehen schienen. Mediendarstellungen bildeten in vielen Beispielfällen den Typus des ‚Armen Sünders’ 1403 ab, der bereits zum Tod verurteilt war und sich dennoch explizit und oft öffentlichkeitswirksam von seinen Untaten distanzierte. Das Stereotyp des Reumütigen ist aber nicht auf den todgeweihten ‚Armen Sünder’, der seine vermeintliche Umkehr nur noch auf dem Weg zur Hinrichtung praktizieren konnte, beschränkt. Auch die Gerichtsakten liefern zahlreiche Nachweise, in denen Beklagte die Reue über ihre Taten und ihre Verbindungen zum kriminellen Bandenwesen in Aussagen artikulierten und sich damit in Abgrenzung zu ihren Komplizen als „kleine Lichter“ präsentierten. 1404 Insofern ist in dem hier vorgestellten Reumütigen sowohl ein Heterowie auch ein Autostereotyp zu verstehen. Zur Selbstbezeichnung gehörte es etwa, wenn sich Inquisiten als unschuldig, durch andere verführt oder für das kriminelle Netzwerk als unbedeutend präsentierten. Da den Betroffenen ausschließlich äußere Umstände wie große Notlagen, ein falsches Lebensumfeld oder ein Justizirrtum in seine aktuelle Situation geführt hätten, legte er zumeist eine tiefe Traurigkeit an den Tag und bat um Verzeihung. Mitunter brachte er Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck, indem er eine geleistete Rückerstattung oder Entschädigungszahlung als Beweis der Reue zu nutzen versuchte. Diese Aussagetaktik und Eigendarstellung sollte einen Willen zur Besserung bekunden, indem man einen Wandel zum ehrlichen Leben und zum rechten Glauben in Aussicht 1403 Vgl. zur Einordnung unter anderem A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter; S CHUBERT , Räuber, S. 38-45; M ARTSCHUKAT , Töten, S. 13-14 und S. 34 und van D ÜLMEN , Theater, S. 81- 85. 1404 In der Auswertung literarischer Darstellungen wird dieser reumütige kriminelle Protagonist als „mittlerer Charakter“ beschrieben, dem nicht die Boshaftigkeit eines Unmenschen, aber auch nicht das ‚Sozialrebellentum’ eines romantischen Helden bescheinigt werden kann, W ILLEMS , Verbrecher, S. 38-40. <?page no="323"?> 324 stellte. Damit wollte sich der Inquisit Strafmilderung oder einen Gnadenspruch verschaffen. Da diese Selbstrepräsentation der Betroffenen als reumütig auch in juristischen Korrespondenzen über die Räuberbandenprozesse zahlreich erwähnt wird, hat sie für die Abwandlung der Sanktion unterstützend gewirkt. Unter das Stereotyp vom reumütigen Räuber zählt weiterhin der Verurteilte, der sogar dann Selbsteinsicht und Umkehr bekundete, wenn sein Schicksal bereits durch ein rechtskräftiges Todesurteil besiegelt war. Ein vor seiner Hinrichtung bereuender Verbrecher war zeitgenössisch als ‚Armer Sünder’ zu bezeichnen, wie unter anderem die Hinrichtungsschilderungen belegen. Erst nach seinem Geständnis und der glaubwürdigen Äußerung von Reue wurde dem Delinquenten die Absolution und die seelsorgerische Begleitung durch einen Geistlichen gewährt, die seiner Seele die Vergebung seiner Untaten durch den höchsten Gerichtsherrn Gott gewährleisten sollte. Diese Repräsentation hatte für die Zeitgenossen eine herausgehobene Bedeutung, weil sich der Verurteilte nach dieser Glaubensvorstellung mit seinem geleisteten Geständnis gereinigt hatte und durch seine ‚Opferung’ die gestörte göttliche Ordnung wiederhergestellt werden konnte. 1405 Diese Zielrichtung vermittelt das 1731 in einem Hinrichtungsflugblatt zur Exekution des Diebes Christian Richter beigefügte, fünfstrophige „Sterbe-Lied des armen Sünders“: „3. [Strophe: ] Drum fall ich Dir mein GOtt zu Füßen Erbarme dich, erbarme dich, Ich will hier gerne willig büßen, Nur schaue dort gnädiglich, So geh ich durch die kurtze Pein, Zu dir in deinen Himmel ein.“ 1406 Der Hingerichtete wurde als bekehrt wahrgenommen und ihm konnte daher von der Gesellschaft vergeben werden. 1407 Selbst wenn sich das Bild der Delinquenz im 18. Jahrhundert allmählich vom Verstoß gegen das göttliche Gebot hin zur Verletzung der inneren Sicherheit sowie des staatlichen Gesetzes zu säkularisieren begann, 1408 wird an der häufigen Verwendung des Begriffs ‚Armer Sünder’ das lange Überdauern des religiösen Rechts- und Strafverständnisses erkennbar. 1405 Dass sich diese höhere Bewertung des ‚Armen Sünders’ gegenüber dem verstockten Verbrecher in der frühneuzeitlichen Gesellschaft etabliert hatte, zeigen weiterhin die verschiedenen Fälle von ‚Mord aus Lebensüberdruss’, den Hommel als ‚mittelbaren Selbstmord’ beschrieb. Statt einen verwerflichen Suizid zu begehen, der in die ewige Verdammnis geführt hätte, töteten manche Lebensmüden offenbar ohne Motiv ein fremdes Kind, um so im Rahmen der gerechten Bestrafung als bereuender Sünder die Gelegenheit der Absolution und der geistlichen Wegbegleitung zur Hinrichtung zu erhalten. Vgl. dazu S TUART , Suicide und M ARTSCHUKAT , Töten, S. 85-90. 1406 Staatsarchiv Leipzig, 20009, Nr. 3571, fol. 63r. 1407 A MMERER / A DOMEIT , Armesünderblätter, S. 281. 1408 Vgl. K LEINHEYER , Wandlungen und M ARTSCHUKAT , Töten, S. 60-65. <?page no="324"?> 325 Im Räuberbandendiskurs taucht das Stereotyp sowohl in den Argumentationen während der Prozesse als auch in den darüber berichtenden Medien auf. So wird über Georg Sachße in den Akten von 1747 berichtet, er habe in der „Arme-Sünder-Stube“ nicht nur um den Besuch seines Beichtvaters gebeten. Außerdem habe er vorgebracht, „es möchte doch Michael Bräunlich aus Langenheßen anhero gefordert werden, u[nd] zu ihm kommen, er, Sachße, wollte sich mit demselben, wegen der ihm, bey der Arrestirung, zugefügten Beleyd- und Beschädigung, versöhnen, und ihm solche abbitten, […] er bereuete diese seine und alle andern Sünden, und wollte es gerne allen Menschen, die er durch Diebstähle, und sonst, beleydiget und betrübet hätte, abbitten“. 1409 Bräunlich nahm die Entschuldigung Sachßes an. Seinem Zweck entsprechend, den Beitrag der Strafgerichtsbarkeit zur göttlichen Ordnung zu bestätigen und eine Versöhnung zu ermöglichen, trat der ‚Arme Sünder’ speziell in Predigten, wie der Rede an die Festungsbaugefangenen von 1803, 1410 und moralisch erbaulichen Kontexten in Erscheinung. Zudem wurde oben festgestellt, dass die zur Bekehrung erforderlichen Reuebekundungen den sächsischen Räubern noch nach ihrem Tod im Rahmen der ‚Spitzbubengespräche’ nachträglich in den Mund gelegt wurden, um so eine versöhnliche Grundbotschaft zu vermitteln. Überschneidungen zu anderen genannten Stereotypen sind gerade hier denkbar, da selbst ein eindeutiger Kapitalverbrecher wie Nickel List sich in seinen Prozessaussagen oder spätestens auf dem Weg zum Schafott als reumütiger Sünder präsentieren konnte. 1411 Anerkennend konstatiert noch die vergleichende literarische Darstellung von 1850 über diesen: „er starb mit mehr Reue, als man erwarten konnte“. 1412 Die vom Delinquenten erhoffte Wirkung lag prinzipiell in einer potenziellen Re-Inklusion, sei es durch einen späten Gnadenakt von Seiten der Obrigkeit, der das Todesurteil abwenden konnte, oder durch die Aufnahme in den Himmel dank der göttlichen Barmherzigkeit. 6.3.4 Der Familienmensch Der Familienmensch ist in seiner zeitgenössischen Bezeichnung nicht so deutlich abgegrenzt und beschrieben wie der ‚Arme Sünder’, aber dennoch als wiederkehrender Typus in diversen Repräsentationen erkennbar. Dabei konnte der Kontext der Verwandtschaft, wie die Analyse der Argumentationen aufgezeigt hat, negativ ausgelegt werden, da die Straffälligkeit von Angehörigen dazu führte, dass weitere Familienmitglieder unter Kriminalitätsverdacht gerieten. Auch wurde in obrigkeitlichen Gutachten und Normen auf den engen Zusammenhang von schlechter Erziehung und Müßiggang oder Diebstahl in der Familie 1409 Staatsarchiv Chemnitz, 30023, Nr. 1285, fol. 98r-98v. 1410 Rede Dresden 1803. 1411 Staatsarchiv Chemnitz, 30584, Nr. 1706, fol. 90v-91r. 1412 Die drei grausamsten Räuber [1850], S. 15. <?page no="325"?> 326 hingewiesen. Im Gegensatz dazu konnte - und das stand besonders in den Gnadenbitten und Verteidigungsargumentationen im Vordergrund - die Argumentation mit der Einbindung in ein funktionierendes verwandtschaftliches Netz und mit der Versorgung einer Familie dazu beitragen, sich als rechtschaffen und verantwortungsbewusst darzustellen. In den meisten Fällen handelte es sich bei der bewussten Selbstdarstellung als Familienmensch um eine positiv ausgelegte Eigenbezeichnung und somit um ein Autostereotyp. Mit einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die individuelle Situation stellte man sich mit der Zeichnung als Familienmensch nicht nur als fürsorglich gegenüber den eigenen Kindern, Partnern und Eltern dar, sondern auch als wichtigen Bestandteil des funktionsfähigen örtlichen und gesellschaftlichen Netzwerks. Für das Zusammenleben und somit die Ökonomie in Wohnort und Territorium konnte ein sesshafter Untertan seinen Beitrag nur leisten, solange die Familie nicht wegen der Bestrafung eines zentralen Mitglieds zerbrochen und von Armut bedroht war. In medialen Repräsentationen wird die in den Akten so häufig anzutreffende Argumentation mit Familie seltener aufgegriffen. Gemeinhin gaben die Aktenmäßigen Berichte und biografischen Texte lediglich die kurzen Abrisse über Herkunft und Verwandtschaftsverhältnisse wieder, wie sie am Anfang der Verhöre erfragt worden waren, um die berufliche und soziale Basis des Räubers einschätzen zu können. Nur, wenn es einem bestimmten Erklärungzusammenhang diente, hob ein Autor die spezielle Beziehung des Beschriebenen zu seiner Familie hervor, beispielsweise wenn der Einstieg in die Kriminalität mit dem Einfluss Angehöriger begründet wurde. Zur Beantwortung der Frage, warum der wahre Name Lips Tullians bis zuletzt nicht herauszufinden gewesen war, wird in einem ‚Spitzbubengespräch’ erläutert, er habe dies verschwiegen, „damit/ wenn ich über dergleichen Thaten ertappet würde/ meine Familie dadurch nicht einen Schandfleck bekommen mögte“. 1413 Diese kurze Erläuterung kann einerseits durchaus als Verantwortungsgefühl Tullians gegenüber seiner hinterlassenen Familie gedeutet werden. Andererseits kann der Autor hier schlicht den Versuch unternommen haben, sich und dem Leser die unklar gebliebene Herkunft und Familiensituation des Räubers zu erklären. Was von dem Bild des Familienmenschen mitunter ebenfalls in Mediendarstellungen einging, war die Übertragung verwandtschaftlicher Ordnungs- und Umgangsformen auf das Zusammenleben in den Banden. In verschiedenen der vorliegenden Texte werden die Komplizen als „Brüder“ betitelt oder es wird darauf hingewiesen, dass sie sich selbst untereinander als solche bezeichneten. 1414 Der Hauptzweck der Beschreibung als Familienmensch lag für den Betroffenen vor allem darin, den Willen und die Möglichkeit zur Besserung und Resozialisierung zu vermitteln. Dafür war es besonders bedeutsam, sich als ‚normal’ zu 1413 Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 23. 1414 Vgl. Actenmäßiger Verlauf Leipzig 1764, S. 78; Der in ganz Europa Käsebier 1748, S. 2; Gespräche Erste Entrevue 1722, S. 8 und Die drei grausamsten Räuber [1850], S. 19. <?page no="326"?> 327 präsentieren und jeden Anschein von devianter Lebensweise zu vermeiden. Daher hörte der demonstrative Einsatz für Familienmitglieder und die Selbstdarstellung als Teil eines familiären Netzwerks meist dort auf, wo Angehörige bereits allzu schwer mit kriminellen Vorwürfen belastet waren oder wo der Verwandtschaftsgrad größer war, wie etwa unter Verschwägerten. Mit dem Bild eines für Kinder und Eltern treu sorgenden Familienoberhaupts sollte hingegen eine Strafmilde nahegelegt und eine zukünftige soziale Re-Inklusion plausibel gemacht werden. 6.3.5 Der Held Auch wenn das Bild vom Räuber als ‚Rächer der Armen’, als Sozialrebell 1415 oder als Heldenfigur in vielen Köpfen mit klaren Vorstellungen verbunden sein mag: In den vorliegenden zeitgenössischen Repräsentationen findet sich das auf diese Weise idealisierende Stereotyp ausgesprochen selten. 1416 Wenn man es überhaupt ausmachen will, so muss man sich auf die medialen Darstellungen von Räuberbanden beschränken, und auch dort stößt man allenfalls auf Ansätze als auf Belege. Vor Gericht argumentierte weder ein Inquisit mit der Absicht zur ‚Umverteilung’ oder mit sozialer Ungerechtigkeit, noch wurden einem Räuber von Zeugen, Komplizen oder dem Beamten politische Überzeugungen oder Ziele nachgesagt. Es handelt sich demnach ganz klar um ein Heterostereotyp. Dass ein kursächsischer Delinquent Arme vor einem Diebstahl gezielt verschont oder einen Teil seines Geldes mit Bedürftigen geteilt habe, findet sich ebenso wenig in den Aussagen aller Beteiligten. Selbst in Bezug auf die Kirchen, deren oft prächtige Ausstattung immer wieder auf der Agenda von Räuberbanden stand, wurde das Argument der gerechteren Verteilung von Gütern nicht genutzt. Auch wenn viele gemeinschaftliche Einbrüche sich auf lukrative und aussichtsreiche Ziele gerichtet hatten, blieben einfach ausgestattete Häuser nicht verschont, obwohl sie häufig nur eine geringfügige Beute erbrachten. Wenn im Verlauf des Untersuchungszeitraums allmählich ein medial vermitteltes Bild des Bandenräubers als menschlich, edel, gewaltlos und gerecht entstand, ist dies vor allem literarischen Darstellungen zuzuschreiben, die oft keinen erkennbaren Bezug zu den kursächsischen Rechtsfällen hatten. Von den Enzyklopädien und den belletristischen Artikeln wird der Typus des redlichen, aber von äußeren Zwängen getriebenen Straßenräubers nach England verlegt. Es handelt sich dabei vorwiegend um Fiktionalisierungen oder um die Stilisierung überlieferter Beispiele. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass für den späteren Mythos vom Sozialbanditen, der seine Beutewerte gerecht verteilte, durchaus 1415 Vgl. H OBSBAWM , Banditen; S EIDENSPINNER , Mythos vom Sozialbanditen und S CHUBERT , Räuber, S. 246-249. 1416 Vgl. u.a. L ANGE , Verurteilung, S. 274-275. <?page no="327"?> 328 Nickel List als mögliches Vorbild gedient haben konnte, da er von seinem „Biografen“ Hosmann auch in anerkennenden Worten beschrieben worden war. Zudem hatte er sich trotz seiner vielen Taten nicht mehr als 200 Reichstaler an ‚Reichtümern’ ansparen können, was sich für eine wohlwollende Auslegung in die Richtung des gerechten Diebes angeboten hätte. Vorerst war es lediglich der Autor Julius Seybt, der 1848 in seiner biografischen Erzählung über „den großen Gaunerhelden“ Nickel List den Begriff verwendete. Wenn er über dessen Komplizen anführte, „um Kleinigkeiten bemühten sich aber diese Helden nicht“, 1417 so verdrehte er allerdings das Stereotyp unverkennbar ins Ironische, da seine Schilderung im Gesamtbild durchaus keine heldenhafte Räuberbande beschrieb. Auch um Johann Karraseck, der zur Jahrhundertwende in der Oberlausitz und Böhmen als „Räuberhauptmann“ unterwegs gewesen und 1809 nach mehrjähriger Haft im Festungsbau gestorben war, rankten sich zunehmend Legenden, die ihn zum Helden erhoben. 1418 Keine seiner eigenen Aussagen vor Gericht rechtfertigt das Bild eines Rebellen gegen die kursächsischen Obrigkeiten und Reichen. Doch bereits die erste literarische Überarbeitung des Falles durch Carl Gottlieb Pannach, der noch zu Karrasecks Lebzeiten 1803 einen Aktenmäßigen Bericht herausgebracht hatte, lässt eine gewisse Anerkennung für Charakter und Taten des Oberlausitzers erkennen. 1419 In der teilweise beschönigenden und begünstigenden Darstellung einzelner Räubergestalten wie List und Karraseck wurden aber noch vergleichsweise zurückhaltend Idealisierungen vorgenommen und Mythen konstruiert. Die „Räuberbegeisterung“ 1420 , die sich somit erst im Kontext der literarischen Publikumserfolge der Räuberromantik im 19. Jahrhundert einstellte, ist an den vorliegenden Beispielen im Untersuchungszeitraum noch nicht greifbar. 1417 S EYBT , Nickel List, S. 148 und S. 168. 1418 So wurde er noch in den 1990er Jahren als Oberlausitzer Gegenstück zu Robin Hood bezeichnet, vgl. Q UATAERT , Strategies, S. 172. Vgl. zu den Legenden um Karraseck S CHWÄR , Volksgeschichten. 1419 P ANNACH , Auszug Leben. 1420 E IBACH , Recht, S. 119. <?page no="328"?> 329 7 Zusammenfassung Das Kurfürstentum Sachsen befand sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Schaffung neuer administrativer Institutionen und Schritte in der Armenpolitik, die durch Ausweitung der ‚guten Policey’ mit der verstärkten Landessicherung und Restriktionen einhergingen, in einer Phase der inneren Zentralisierung und Herrschaftsverdichtung. Die Personalunion mit Polen trug zwar insgesamt zur Schwächung der Stellung des Kurfürsten während des ‚Augusteischen Zeitalters’, auch gegenüber den Ständen, bei. Dennoch arbeiteten Friedrich August I. und sein Sohn im Inneren vor allem mit Hilfe des Geheimen Kabinetts energisch an Gesetzesinitiativen gegen Räuberbanden. In der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums unter Friedrich August III. finden sich in nicht annähernd hoher Frequenz Verordnungen, die eine stetige Bedrohung durch diebische ‚Rotten’ heraufbeschwören. Allerdings zeigt der Blick in die Verwaltungskorrespondenz, dass die Dicasterien nicht alle Versuche der Kurfürsten, normativ an einer Verschärfung von Strafverfolgung und -praxis mitzuwirken, aufgriffen und unterstützten. In ihren Schreiben zeigte sich beispielsweise in den 1740er Jahren, dass diese rechtlichen Kollegien, die durch ihre zentrale Stellung und das Institut der Aktenversendung eng in die Verfahrenspraxis einbezogen waren, das Problem der Räuberbanden als nicht so dringlich einstuften wie der Kurfürst, der im Vergleich dazu ein ‚juristischer Laie’ war. Die Mandate stützten sich meist auf die territoriale Rechtstradition. Im Sächsischen Landrecht, der Carolina, den kursächsischen Konstitutionen sowie den rechtswissenschaftlichen Abhandlungen beispielsweise Benedict Carpzovs finden sich der gemeinschaftliche Diebstahl und die damit verbundene Problematik der über eine längere Zeitspanne wiederholt stehlenden Diebes- und Räuberbanden allerdings nur am Rande. Das gab der landesherrlichen Legislative, die ab 1706 eine neue Dimension erreichte, den nötigen Spielraum, um hohe Strafen gegen Bandenräuber zu etablieren. Mit dem Mandat von 1710 wurde die Räderung erstmals als mögliche Sanktionsform für Mittäter bei einem gemeinschaftlichen gewaltsamen Diebstahl eingeführt. Implizit und explizit wurde so die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch die verbrecherischen Gruppen in den Mandatstexten überzeichnet. Der als notwendig beschriebene Kampf gegen ‚landschädliches Gesindel’ und seine Multiplikation durch normativ veröffentlichte Repräsentationen konnten dazu dienen, den Fokus von außenpolitischen Unsicherheiten abzulenken. Vor allem aber präsentierten sich Kurfürst und Justizbehörden dadurch als durchsetzungsfähig und leistungsstark. Die deutliche Strafverschärfung in Form der Radbrechung, ihre öffentlichkeitswirksame Durchführung bei Hinrichtungsritualen und die davon geprägten abschreckenden Medienrepräsentationen leisteten dieser Wirkungsabsicht Vorschub. Eine weitere zentrale Zielsetzung der gesteigerten Mandatstätigkeit gegen Räuber, die mit der Intention der Herrschafts- und Justizlegitimation verknüpft <?page no="329"?> 330 war, lag in der Aktivierung der Gerichtsherren, Wirtsleute und der übrigen Bevölkerung zur Kontrolle von Vaganten und Verfolgung von Dieben. Um das Netz der Sicherheitsvorkehrungen möglichst eng zu spannen, wurde ein enger Zusammenhang von Armut, Bettelei, schlechter Erziehung und Eigentumskriminalität hergestellt, wodurch eine hohe Zahl an armen unselbstständigen Inwohnern und mobilen Gruppen in Kursachsen unter Generalverdacht geriet. Des Weiteren galten die Verordnungen und Befehle der Beschleunigung der Strafverfolgung sowie der Koordination und Anwendung der strafmildernden ‚Pardon’-Regel durch die freiwillige, rechtzeitige und hilfreiche Anzeige anderer Verdächtiger. Dabei hatten erneuerte Vorschriften vor allem den Zweck, kooperierende Inquisiten nicht vorschnell mit Strafmilderung und -verschonung zu honorieren. Unter Friedrich August dem Gerechten, dem letzten sächsischen Kurfürsten, der sich in der Innenpolitik engagierte, dabei aber eine reformorientierte Zielsetzung, die den zeitgenössischen Problemen angemessen gewesen wäre, nicht mit letzter Konsequenz verfolgte, nahm das Thema Räuberbanden einen niedrigeren Stellenwert ein. Anstatt den Regelungseifer seiner Vorgänger aufrecht zu erhalten, schuf der Kurfürst vor allem mit der Generalverordnung von 1770 neue Bedingungen für das Strafrecht und schaffte beispielsweise die Folter ab. Körperstrafen und Ausweisung wurden zunehmend durch Freiheitsstrafen in den territorialen Zucht- und Arbeitsanstalten ersetzt. Des weiteren ist erkennbar, dass der Landesherr, der bei der Bevölkerung durchgehend ein hohes Ansehen genoss, vermehrt Begnadigungen gegen supplizierende Straftäter aussprach und dass zudem im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kaum noch Todesstrafen gegen Bandenräuber ausgeführt wurden. Die praktische Umsetzung der vor allem von Friedrich August I. und Friedrich August II. angeordneten policeylichen Maßnahmen zur verstärkten Kontrolle der Straßen, öffentlichen Orte und Herbergen lief nicht ohne interne Konflikte ab. Vor allem die Kosten für deren Durchführung sowie für die Prozesse mit überführten Straftätern und die Einschaltung von intermediären Instanzen zur Aufsicht, wie den Kommissionen, sorgten für Reibungen zwischen den Amtleuten, Grundherren, Magistraten und Zentralbehörden, die mit unterschiedlichen Kompetenzen an der Strafverfolgung beteiligt waren. So wurden die lokalen Beamten wiederholt der Korruption und Mauschelei verdächtigt, während diese ihrerseits die konstatierten Mängel in der Normdurchsetzung mit Versäumnissen benachbarter oder übergeordneter Behörden erklärten. Daher erwiesen sich auch die angeordneten Maßnahmen als unterschiedlich effektiv. Unter anderem blieben die Mithilfe ansässiger Wachmänner sowie die Patrouillen durch bezahlte Straßenreiter stets umstritten. Die Visitationen stellten generell das wirksamste Mittel dar, mobile Personen und Gruppen, die sich oft nicht ausweisen konnten, ausfindig zu machen und diese in den Arrest zu bringen. Aus den daraus resultierenden Verhören gingen diverse Gaunerlisten oder ‚Spezifikationen’ hervor, die ein heterogenes Bild der vagierenden Gesell- <?page no="330"?> 331 schaftsgruppen malten. Bei der Auswertung dieses Sozialgefüges geben besonders die Vulgo- oder Spitznamen Aufschlüsse über die räumliche Herkunft oder die zwischenmenschlichen Umgangsformen. Die Verwendung dieser ‚internen’ Bezeichnungen ist allerdings mehr als Merkmal der frühneuzeitlichen Volkskultur einzuordnen denn als Anzeichen bewusster Selbstexklusion gegenüber hegemonialer Gesellschaftsteile. So wie die Aufnahme einer Person in eine Gaunerliste bereits half, einen Kriminalitätsverdacht gegen diese zu begründen, so führte bereits das Format dieser Verfolgungs-Listen dazu, die beschriebene Personengruppe als ‚Bande’ zu konstruieren. Diesen war, wie im Fall der 240 Personen umfassenden ‚Spezifikation’ von Catharina Sophia Dorn, oft ein nicht plausibler und nahezu unüberschaubarer Umfang zu eigen. Es gab in den Listen zwar Kategorisierungen in unterschiedliche kriminelle Typen, aber dagegen kaum Anzeichen einer internen Organisation. Die Label des ‚Erzspitzbuben’ oder des ‚Nachträubers’ dienten dazu, die umfassende Verfolgung dieser gelisteten Personen zu rechtfertigen. Auch wenn die Listen in der policeylichen Praxis Kursachsens genutzt und unter benachbarten Behörden ausgetauscht wurden, reichte die reine Nennung in einer Gaunerliste für die Durchführung eines Strafverfahrens nicht aus. In der Verfolgungspraxis wurde also letztlich zwischen dem Vaganten und dem Kriminellen oder den Räuberbanden differenziert. Im zeitlichen Querschnitt der Strafprozesse und Verfolgungsmaßnahmen gegen Räuberbanden zeigt sich ein Schwerpunkt, der in einen deutlichen Zusammenhang mit dem Mandat von 1753 und den Kommissionstätigkeiten der Folgejahre zu stellen ist. In dieser Phase ist demnach von einem erhöhten Druck auf die beteiligten Institutionen und Beamten auszugehen. In der topographischen Streuung der Strafverfahren äußert sich außerdem eine höhere Einsatzbereitschaft von Amtleuten und Stadtrichtern an Verkehrsknotenpunkten. Während sich in dieser Verteilung eine enge Verbindung von Norm und Praxis andeutet, bestätigt sich eine weitere mögliche Vorannahme nicht: Während und in Folge des Siebenjährigen Krieges oder anderer Versorgungskrisen ist keine höhere Prozessdichte gegen Räuberbanden zu konstatieren. Das quantitative Ausmaß an Bandendelikten bzw. deren Verfolgung lässt sich somit nicht in einen Zusammenhang zu strukturellen Krisenphasen setzen. Die sächsischen Räuberbanden wiesen einige Merkmale auf, die sie als eine Form der ‚sozialen Kleingruppe’ erscheinen lassen. So besaßen hier Familienverbindungen eine stabilisierende Qualität. Mittäter standen auffallend häufig in einer verwandtschaftlichen Beziehung. Zudem übertrugen sich Umgangsweisen aus dem Familienkontext in die Gruppen hinein und können als Indikator eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls gelesen werden. Die Obrigkeiten nahmen diese familiären Bindungen wahr und setzten sie für ihre Zwecke ein. Gleichwohl entwarfen die Beamten in ihrer Kommunikation nicht das Bild von ‚Familienbanden’, sondern konnotierten mit einer kriminellen ‚Rotte’ zumeist <?page no="331"?> 332 eine größere Anzahl von Personen, welche sie als - vorwiegend männliche - ‚Diebsgesellen’, Kameraden und Komplizen bezeichneten. Aus den verschriftlichten und gefilterten Angaben der Gerichtsakten ergeben sich Einblicke in das Zusammenleben der Bandenräuber. Bei kriminellen Aktivitäten wurde häufig mit einer erfahrungs- und talentbezogenen Arbeitsteilung vorgegangen. Feste Hierarchien oder Positionen wie auch die eines dauerhaften Anführers innerhalb der Gruppe ergaben sich dadurch nicht. Da die Banden je nach Vorhaben unterschiedlich zusammengesetzt und für Informationen oder zum Handel mit Diebesgut auf verschiedene Kontaktpersonen angewiesen waren, besaßen sie fließende Übergänge zur ansässigen Bevölkerung. Dabei stammten die Räuber in einem großen Teil der untersuchten Fälle selbst aus der sesshaften Gesellschaft. Es handelte sich vorwiegend um Männer zwischen 20 und 40 Jahren, von denen etwa die Hälfte in Sachsen geboren war, die in ihren Lebensläufen auf eine Militärangehörigkeit zurückblickten und die sich in ähnlichen Anteilen der lutherischen, katholischen oder jüdischen Konfession zurechneten. Frauen fanden sich in diesen Banden in vielfältigen, aber nie in führenden Funktionen. Dass auch im Strafverfahren von einer nur marginalen weiblichen Mithilfe und Komplizenschaft mit den Räubern ausgegangen wurde, wirkte sich für die Frauen meist begünstigend aus. Familiäre Wurzeln, eine ähnliche geographische Herkunft oder ein gemeinsamer Aufenthalt in Strafanstalten waren die vorrangigen Faktoren, die dazu führen konnten, mit einer kriminellen Gruppe in Kontakt zu kommen. Außerdem verstärkten diese Umstände vorliegende Verdachtsmomente und konnten dazu beitragen, dass sich Gerichtskarrieren verfestigten. Eine innere Beziehung zu ihren Handlungsräumen gaben die Räuber unter anderem dadurch zu erkennen, dass sie zumeist den eigenen, sächsischen Wohnort und das engere Lebensumfeld von den Eigentumsdelikten ausnahmen. Mehrere Aspekte, wie Reisewege, das Wissen über normative Regelungen, bestimmte Vulgo- oder - seltener - Bandennamen, deuten darauf hin, dass sich die Betroffenen über die Räume, in denen sie sich aufhielten, bewusst waren. Räuberbanden überschritten oft Grenzen und einige agierten gezielt in Grenzgebieten, um sich der Verfolgung in ihrer Heimat bestmöglich zu entziehen. Als lukrative Ziele für gemeinsame Einbrüche und Diebstähle erwiesen sich Kirchen und Mühlen. Des weiteren waren Wirtshäuser, Herbergen, Märkte und Kaufläden Anlaufpunkte für Delinquenten und fungierten als Schnittstellen, da sie sowohl zum Tatort als auch zum Ort des Austauschs, der Planung, der Versorgung und des Rückzugs avancieren konnten. Durch diese Multifunktionalität ihrer Häuser gerieten vor allem Wirtsleute wie auch jüdische Händler in den Blick der Behörden und standen nicht selten als ‚Verpartierer’ im Kriminalitätsverdacht. Im Mittelpunkt der Verhöre standen besonders strafverschärfende Faktoren wie Gewaltausübung, Bewaffnung und Beuteanteile, nach denen die Beamten intensiv forschten. Dabei handelte es sich um die Elemente, die die Annahme, <?page no="332"?> 333 eine Räuberbande sei besonders gefährlich, rechtfertigten. Insgesamt zeigt die Auswertung der Akten aber deutlich, dass die Schilderungen von Tatbeständen und -anteilen stets von der gezielten Selbstdarstellung der Verhörten einerseits und den Erkenntnisinteressen der Verhörer andererseits beeinflusst waren. Die Räuberbandenprozesse und die Handlungsoptionen der Akteure waren somit stark von deren jeweiligen Motivationen und Interessen geprägt. Familienangehörige, die als Zeugen berufen worden waren, konnten beispielsweise ebenso zur Entlastung eines Inquisiten als auch zu dessen Belastung beitragen. Finanzielle Interessen spielten sowohl bei den Bestohlenen eine Rolle, die sich eine Rückerstattung erhofften, als auch bei Advocaten, die an der Verteidigung von Beklagten verdienten. Defensoren, Experten und Amtleute stellten sich mit ihren vorwiegend neutral gehaltenen Stellungnahmen in erster Linie als professionell und vertrauenswürdig dar. Lokale Beamte und Gerichtsknechte signalisierten dabei den Obrigkeiten, dass sie nicht korrumpierbar oder voreingenommen waren. All diese Eigeninteressen der Prozessbeteiligten spielten in ihre jeweiligen Darstellungen der Räuber hinein. Sowohl aus den Mitschriften der summarischen als auch der artikulierten Verhöre lassen sich die Positionen der Beteiligten zueinander sowie Besonderheiten und jeweilige Handlungsmöglichkeiten herauslesen. In der Konfrontation, der gerichtlichen Gegenüberstellung, kamen häufig Konflikte der Verhörten untereinander zum Vorschein und wurden mitunter von Beamten genutzt. Nicht selten wurden einzelne Delinquenten in diesen Situationen zu Zeugen der Anklage und bewegten Komplizen zum Geständnis. Die Folter, die bis 1770 häufig in den Strafprozessen angewendet wurde, bewirkte ebenfalls bei zahlreichen des Bandenraubs verdächtigten Personen ein Geständnis. Friedrich August III. strebte ihre Abschaffung gezielt an. Als es darum ging, diese Verfahrensweise in eine humanere Behandlung zu überführen, zeigten sich die praxiserfahrenen Dicasterien mit Ausnahme der Juristenfakultät Leipzig, in der unter anderem Karl Ferdinand Hommel tätig war, zunächst abgeneigt. Während der Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Frage nach der Folter spielte der Umgang mit Räuberbanden eine besondere Rolle. In der Positionierung der Theoretiker und Rechtsinstitutionen zur Abschaffung der ‚peinlichen Frage’ zeichnete sich eine spezifische Ambivalenz ab: Einerseits erweise sich die Folter gerade in Verhören gegen mehrere Täter wie bei Räuberbanden als effektiv und sei daher beizubehalten. Andererseits seien besonders die verdorbenen und professionellen Verbrecher aus delinquenten ‚Rotten’ häufig gegen die körperlichen Druckmittel resistent, weshalb diese zwecklos seien. In den Urteilssprüchen bedienten sich die Juristen keiner abwertenden Wortwahl. Außerdem nahmen sie nur selten Bezug auf territoriale Mandate oder Texte der Jurisprudenz, wenn sie die Zwangsarbeit in Zuchthäusern oder im Festungsbau und anfangs auch in vielen Fällen den Landesverweis mit vorherigem Staupenschlag über Delinquenten verhingen. Ihre Werturteile richteten sich sehr stark nach den schriftlichen Einschätzungen der lokalen Stellen. In <?page no="333"?> 334 manchen Prozessen wurde der Beteiligungsgrad einzelner Angeklagter verglichen und das Strafmaß auf diese Weise differenziert. Zahlreiche Todesstrafen wurden an verurteilten Bandenräubern durchgeführt. Da neben der Hinrichtung durch das Schwert oder den Strang ein beachtlicher Anteil an Räderungen darunter fiel, fand die normative Erhöhung des Strafmaßes nach 1710 offensichtlich ihre praktische Umsetzung. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts distanzierte man sich aber wieder allmählich von überholten Sanktionsarten wie der Ausweisung, der Stäupung und der gehäuften Anwendung der Todesstrafe. Stattdessen setzte sich der Freiheitsentzug in den erweiterten Straf- und Arbeitsinstitutionen stärker durch. Die schon von Carpzov als bedeutsam eingestufte Möglichkeit der Verteidigung wurde - mit Ausnahme der eindeutig überführten, besonders schädlichen Verbrecher - häufig gewährt. Die professionellen Defensionen bildeten ein anerkanntes Rechtsmittel im Prozess, während die Suppliken von Inquisiten und Angehörigen individuellere und emotionalere Argumentationsmuster enthielten. Jene, zum Teil eigenhändig verfassten Bittbriefe ließen ebenfalls die Berücksichtigung verschiedener ungeschriebener Kommunikationsregeln erkennen, ohne deren Einhaltung kaum mit einem positiven Ergebnis zu rechnen gewesen wäre. Die Autoren setzten vor allem ihr Wissen über geltendes Recht und Normen ein und versuchten in erster Linie, die strafverschärfenden Anklagepunkte auszuräumen. Die obrigkeitlichen Reaktionen und Beurteilungen nahmen relativ häufig Bezug auf die Argumente der Defensionen. Doch auch das durch die Supplik gegebene Signal der Einbindung in ein funktionierendes soziales Netz konnte die Entscheidung über das Schicksal eines Delinquenten beeinflussen. Bei der Anwendung der Argumentationsstränge Recht, Ökonomie, Milieu und Persönliches besaßen juristische Begründungen vergleichsweise hohe Erfolgschancen im Bemühen darum, eine geringere Bestrafung zu erwirken. Es wird dabei erkennbar, dass die tragenden rechtlichen Argumente zumeist aus dem Wissen der Betroffenen um die Bestimmungen normativer Regeln resultierten. Wenn die Gnadenbitten auf Armutssituationen oder auf strukturelle Krisen wie Hungersnöte verwiesen, wirkte dies dagegen allenfalls unterstützend. Nahm die Obrigkeit in ihren Schreiben auf diese Beweggründe oder auf dargestellte erbärmliche Verhältnisse in den Gefängnissen Bezug, dann geschah dies stets vorbehaltlich der gesamten Belastungsargumente und der übrigen Tatumstände. Sowohl wenn sich Inquisiten als Opfer falscher Justizentscheidungen darstellten, als auch wenn sie darlegten, gerade eine Ehrenstrafe führe sie und ihre Angehörigen durch den Verlust der Lebensgrundlage in die Armut, stellten sie explizit eine Kausalität zwischen Marginalisierung und Kriminalisierung her. Äußere Umstände als Grund für abweichendes Verhalten erkannten die beurteilenden Instanzen allerdings nicht an. Viel häufiger zog man dagegen die Vorprägung durch ein ‚randständiges’ Milieu als belastendes Argument heran. Obwohl sich in der quantitativen Auswertung nicht bestätigt, dass Nichtsess- <?page no="334"?> 335 haftigkeit und Räuberbanden in engem Zusammenhang gestanden hätten, stützten die Verhöraussagen von Betroffenen oft diese Vorstellung. Die Absicht sich selbst zu entlasten ging nicht selten auf Kosten anderer ‚Sündenböcke’. Einblicke in ein kriminelles Umfeld malte man mitunter in bunten Farben aus. Ob es nun dazu führte, dass ein ‚jüdisches Helfer-Netzwerk’, ein ‚vagantes Milieu’ oder eine Bande konstruiert wurde: Mehrfach zeigte sich, dass diese Verhör- und Aussagetaktiken eine fatale Eigendynamik entwickeln konnten, weil durch die Denunziation eine Strafmilderung in greifbare Nähe rückte. Auch als wiederkehrendes Argumentationsmuster spielte die ‚normengerecht’ funktionierende Familie als Basis der Versorgung eines jeden Mitglieds vor allem in Suppliken eine wichtige Rolle. Kombiniert waren Ausführungen über das verwandtschaftliche Netzwerk oft mit dem Verweis auf einen bisherigen redlichen Lebenswandel als auch auf den rechten Glauben. Leumundszeugen konnten den guten Ruf eines Inquisiten zudem gelegentlich mit einem Gutachten bestätigen. Dieser Argumentationsmix zielte vor allem auf die Abwendung der ehrenrührigen Strafen, die Verwandte in Mitleidenschaft zogen, sowie auf die demonstrative Bestätigung einer soliden Einbindung in ein System gegenseitiger Fürsorge und Absicherung zwischen den Generationen. Als Entlastungszeugen wurden Familienangehörige allerdings wiederholt nicht zugelassen, wohingegen sie als glaubwürdig eingestuft wurden, wenn sie einander beschuldigten. Die Herkunft aus einer kriminellen Familie wirkte somit in den Augen der Obrigkeit viel eher als ein verschärfender Faktor denn als ein Verteidigungsargument. In diesem Zusammenhang kamen wechselseitig belastende Aussagen auch unter Verwandten immer wieder vor. Auf den Inhalten der Gerichtsakten basierten einige der zeitgenössischen Mediendarstellungen von Räuberbanden, die hier in chronologischer Abfolge in den Blick genommen wurden. Auch bauten verschiedene Texte über Räuber erkennbar aufeinander auf. So bildete der frühe Aktenmäßige Bericht Hosmanns deutlich die inhaltliche Grundlage vieler folgender Texte über den ‚Räuberhauptmann’ Nickel List. Auf diese Weise gingen die Informationen aus den Prozessen, die bis zur Hinrichtung ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattgefunden hatten, in die publizistischen Repräsentationen ein. In dieser Arbeit wurden einige gemeinsame Linien herausgearbeitet, die die Entwicklung des Räuberbandendiskurses im Kurfürstentum Sachsen kennzeichneten. Aus der Abfolge der unterschiedlichen beteiligten Mediengattungen wird ein zunehmend biografisches Interesse am Verbrecher deutlich. Im Übergang von den knappen und vornehmlich abschreckenden illustrierten Flugblättern über die ausführlichen Aktenmäßigen Berichte und Totengespräche bis hin zu den verschiedenen Textvarianten der Wissensvermittlung wuchs der Umfang der lebensgeschichtlichen Abhandlungen an. Damit ging ein Anstieg von (fiktionalen) Anekdoten, allgemeiner Zeitkritik und anthropologisch-psychologischen Erklärungsansätzen in den Texten einher. Das Interesse war dabei vorwiegend auf führende männliche Räuberpersönlichkeiten gerichtet, deren <?page no="335"?> 336 Lebensweg, Verbrechen, Verfolgung und Schicksal einem interessierten Publikum präsentiert wurden. Bedeutende ‚Räuberbräute’ wurden - entsprechend ihrer untergeordneten Rolle innerhalb der rechtlichen Verfahren - in den vorliegenden Medien nicht konstruiert. Nicht nur in den erbaulichen und religiös belehrenden Predigten wird ein Überdauern der religiös-moralischen Komponente des Strafens offensichtlich. Im Unterschied zu den anderen Mediengattungen widmeten sich diese Texte aber vor allem dem richtigen Verhalten gegenüber Räuberbanden und priesen die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung. Der nachträglichen Erläuterung bestimmter Vorkommnisse und Verhaltensweisen nahmen sich auch die ‚Spitzbubengespräche’ an. In dieser Textgattung eröffneten sich mehr Spielräume für kritische Lesarten als in anderen Medien. Obwohl enzyklopädische Texte begriffliche Ungenauigkeiten klären sollten, spiegeln die Artikel in Zedler und Krünitz die unpräzise terminologische Abgrenzung der Zeit zwischen Diebstahl und Raub wider. In diesen Definitionen äußerte sich keine feste Vorstellung einer organisierten Bande und zudem ein sehr weit gefasstes Spektrum der so genannten Spitzbuben. In Bezug auf den Artikel im Krünitz lässt sich sogar eine gewisse Verharmlosung des (englischen) Straßenräubers feststellen, die mit einer zunehmenden Romantisierung der alternativen Lebensformen in Kriminalität zusammen fiel, wie sie in einigen Zeitschriftenartikeln deutlich thematisiert wurde. Die bildlichen Darstellungen, die den Medien über Räuberbanden oft beigefügt waren, verstärkten zunächst die Abschreckungswirkung bestimmter Sanktionen und vermittelten, beispielsweise durch Bildfolgen, auch visuell eine logische Abfolge vom schweren Verbrechen hin zur gottgewollten Strafe, welche durch die legitime territoriale Obrigkeit umgesetzt worden war. Die porträtierenden Visualisierungen sollten kein Mitleid für die Täter aufkommen lassen, sondern ihre ‚Karrieren’ widerspiegeln. Dabei wurde ihre Physiognomie häufig individuell abgebildet, um dem Leser einen lebendigen Eindruck vom Räuber zu übermitteln. Durch die Abbildung einer Gruppe wurde der Anschein einer zusammengehörigen Bande erweckt. Diese Darstellungsweise ermöglichte es dem Betrachter zusätzlich, nach äußerlichen Anzeichen des ‚geborenen Verbrechertypen’ zu forschen. Der Räuberbandendiskurs im Kurfürstentum Sachsen des 18. Jahrhunderts setzte sich aus den diversen Repräsentationen des administrativen, rechtlichen oder medialen Bereichs zusammen, die nachweislich aufeinander wirkten und Bezug nahmen. Trotz unterschiedlicher Intentionen, Zielgruppen, Darstellungsformen und Deutungspotenziale waren sie alle an der Konstruktion von Räuberbildern beteiligt. Übergreifend wurden dadurch der Bösewicht, der Spitzbube, der Reumütige, der Familienmensch und der Held als fünf Stereotype gezeichnet, die sich überschneiden konnten. Nicht immer sind diese eindeutig der Selbst- oder Fremdzuschreibung, das heißt dem Auto- oder dem Heterostereotyp zuzuordnen. Dementsprechend konnten diese Bilder entweder dem <?page no="336"?> 337 Zweck der konsequenten und dauerhaften Exklusion oder der sozialen oder rechtlichen Re-Inklusion gewidmet sein. Die Bandenräuber-Stereotypen waren das Resultat bestimmter Kombinationen von Argumenten und Argumentationsmustern, die zumeist den normativen Grundlagen und Strafprozessen entnommen waren und unter Einfluss einer bestimmten Wirkungsabsicht mal mehr und mal weniger literarische Überarbeitung erfahren hatten. Es kann zusammengefasst werden, dass sich ein spezifisch ‚kursächsischer Räuberbanden-Typ’ in den Repräsentationen nur sehr unscharf abzeichnet. Vielmehr lässt sich ein breites Spektrum von Kleingruppen beschreiben, die im Laufe des 18. Jahrhunderts im gesamten Kurfürstentum aktiv gewesen waren und hinsichtlich der Zusammensetzung, der Spezialisierung auf Delikte und Vorgehensweisen oder ihrer Konstanz deutlich variierten. Gemeinsamkeiten lagen beispielsweise in der großen Bedeutung von Familienverbindungen, im untergeordneten Stellenwert von Konfessionszugehörigkeit und in der deutlich stärkeren männlichen Prägung. Diese Parallelen können aber sowohl als ein Produkt der lebensweltlichen Erfahrungen der Inquisiten gelesen werden als auch als ein Resultat der Verfahrenspraxis, welche besonders auf die strafverschärfenden Aspekte hin konzentriert war. Diejenigen Themen, die in den Strafprozessen verhandelt worden waren, prägten zudem vorrangig die weitere Repräsentation einer sächsischen Räuberbande in den Medien und damit ihren ‚Nachruf’. Deutliche Gemeinsamkeiten der Delinquenten in Bezug auf das Territorium bilden ihre geographische Herkunft aus sächsischen oder benachbarten Regionen, ihre häufige Konzentration auf Mühlen und Kirchen, die Nutzung sich bietender Stützpunkte auf Reisewegen sowie ein Zugehörigkeitsgefühl zu Kursachsen oder zumindest zu dem (meist verschonten) Wohnort. Das Verhalten vor Gericht beweist zudem Ähnlichkeiten in der Anwendung bestimmter Kommunikationsregeln vorrangig bei der Nutzung der juristischen Verteidigungsmittel und Argumentationsmuster. Diese Handlungsoptionen führen zu der abschließenden These, dass ‚der sächsische Bandenräuber’ über die territorialen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie Einflussfaktoren ‚im Bilde’ war, was wiederum durch die verschiedenen öffentlichen Repräsentationen unterstützt wurde. Die zeitliche Entwicklung des Verhältnisses von Räuberbandendiskurs und territorialer Herrschaftspraxis zeigt Kohärenzen zum Verlauf der medialen Repräsentationen auf: Sie begann mit einer intendierten Herrschaftsstabilisierung durch die Stilisierung einer landesweiten Bedrohung und ihrer erfolgreichen Bekämpfung, die gestärkt wurde durch abschreckende Darstellungen. Zum Ende des Untersuchungszeitraums hin in einem fließenden Übergang definierte die Obrigkeit ihre Legitimation zunehmend ohne die Konstruktion innerer Feindbilder und eher über die gerechte und gnädige Herrschaftspraxis, in deren Rahmen allmählich neue, idealisierende Räuberbilder möglich wurden. <?page no="338"?> 339 8 Verzeichnisse 8.1 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 1: Übersicht über die einschlägigen ‚Räuberverordnungen’ des 18. Jahrhunderts. S. 57 Tabelle 2: Untersuchungen gegen Räuberbanden im Kurfürstentum Sachsen. S. 111 Abb. 1: Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung / was bey dem grossen Inquisitions- Process, welcher auf des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Georg Wilhelms / Hertzogs zu Braunschweig und Lüneburg / gnädigste Verordnung wider die Veruffene Diebe der berühmten Güldenen Taffel […], Celle/ Leipzig 1699, Titelseite. Bestand Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Sign. Fy 10481. S. 271 Abb. 2: Gespräch In dem Reiche der Todten unter den Spitzbuben / Vierdte ENTREVüE, Zwischen Dem Englischen Strassen-Räuber Thomas Wilmot, und dem mocquanten Nicol- Listischen Cammeraden, Christian Müllern […], Frankfurt/ Leipzig/ Hamburg 1723, Titelseite. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Sign. Crim.R.qt.136. S. 277 Abb. 3: Eine grausame Execution Von einer grossen Diebes- und Räuber-Bande, So in 110. Personen bestanden, Welche zu Berlin den 8. December an 12. Rädelsführern vollzogen worden. Nach Ratsakten in Pirna gedruckt, Pirna 1747, Titelseite. Stadtarchiv Pina, Sign. L VII-V, 5. S. 294 Abb. 4: Ausführliche Nachricht, und Beschreibung, Der zu Berlin vollzogenen grossen EXECVTION […], [Berlin] 1748, Titelseite. HStA Dresden, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 7476: Confiscierte Schriften betr. 1758-61, unfoliiert. S. 295 Abb. 5: Historische Ausführliche und glaubwürdige Erzehlung […], Celle/ Leipzig 1699, S. 52: Abbildung der Hinrichtungsstätte. Vgl. Abb. 1. S. 297 Abb 6: Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians, und seiner Complicen Leben und Ubelthaten…, Dresden 1716, S. 261 (Anderer Theil): Abbildung der Hinrichtungsstätte. SLUB Dresden, Sign. Hist.Sax.D.609.f. S. 297 Abb. 7: Actenmäßiger Verlauf, die vor denen Wohledlen Stadt-Gerichten zu Leipzig, wegen verschiedener Erzdiebe und Räuber, welche sich zu der Kunzisch-Mehnertisch- und Heßischen Bande gehalten, ergangene Peinliche Untersuchung […], Leipzig 1764, S. 31: Johann Jacob Rehmann. SUB Göttingen, Sign. DD 94 A 66. S. 298 Abb. 8: Actenmäßiger Verlauf, die vor denen Wohledlen Stadt-Gerichten zu Leipzig […], Leipzig 1764, Titelseite. Vgl. Abb. 7. S. 299 Abb. 9: Besonderes curieuses Gespräch im Vorhofe Des Reichs der Todten/ Zwischen zwey grossen beruffenen Dieben, Räubern und Mördern/ Nemlich NICOL Listen, und LIPS TULLIANEN […], Frankfurt a.M. [u.a.] 1722, Titelseite. Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. Res/ 4 H.misc. 84-1. S. 302 Abb. 10: Der in ganz Europa verschmitzte und berüchtigte Mörder und Ertz-Spitzbube Christian Andreas Käsebier […]. O.O. 1748, Bildbeilage. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Sign. Crim.R.qt.K.46-25. S. 303 <?page no="339"?> 340 8.2 Quellen- und Literaturverzeichnis 8.2.1 Ungedruckte Quellen Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Bestand 10024 Geheimer Rat Loc. 8915/ 12: Canzley Acta Die auf Requisition Ihro Herrn Herzog Georg Wilhelms zu Braunschweig-Lüneburg Fürstl. Durchlt. verstattete Durchsuchung des zu Hoff in Verhafft gebrachten KirchenRäubers Nicol Listens, und was dem anhängig betreffend, Anno 1698-1699. Loc. 9661/ 4: Criminalsachen 1697-1735, Räuberbanden, Diebstahl im Municipalamt 1723. Loc. 9720/ 15: Canzley Acta Andreas Dechanten von Lobeda, David Seyferten von Hauptmannsgrün, Valentin Gläsern von ZSchorla, Christian Fischern von Wiesenthal und Toffel Hünnigern von Grabsdorff btr. De anno 1704 item Wegen verübter Rauberey und begangener deuben; George Sperrürthen zu Trebniz und sein Weib Marien auch den ScharfRichter von Pegau, Hannß Philip Intermannen betr. Loc. 10118/ 4: Acta Commissionis et Inquisitionis contra Die in Adel-Bülauischen Berichtten zu [Beyer]-Naumburg eingefangene Diebes-Rotte, Hannß George Kuppern und Consorten in pto. furti Ergangen vorm Ambte Dreßden 1718. Loc. 10118/ 5: Acta Commissionis et Inquisitionis contra Die in Adel-Bülauischen Gerichten zu Beyer-Naumburg eingefangene Diebes-Rotte Hannß George Kuppern und Consorten in po. furti Ergangen vorm Ambte Dreßden de ao. 1719. Loc. 10118/ 6: Acta Commissionis et Inquisitionis contra Die in Adel-Bülauischen Gerichten zu Beyer-Naumburg eingefangene Diebes-Rotte Hannß George Kuppern und Consorten in po. furti Ergangen vorm Ambte Dreßden de ao. 1719. Loc. 10119/ 7: Fasciculus Actorum Die exequirte Tortur an denen allhie sizenden Räubern Christophen Andran und Christianen denen Richteren, wie auch Nicol Genzschen betr. Ergangen … Amte Arnshaugk De Anno 1720. Loc. 11398/ 1: Actas Inquisitionis contra Samuel Schickelln, Hanns Wolff Schönecken, George Limpachen, Christoph Rothen, Peter Schumachern, Gottfried Bennemannen, Lietn. Schleiffen, Grenadier Stephan, LangenMeyern und Den Jäger Rothen, in p. furti. Loc. 11399/ 3: Acta inquisitionis contra Michael Schmieden Bauern von NiederBobritzsch in puncto furti Ergangen vorm Amte Dreßden Ao 1715. Loc. 11399/ 5: Acta inquisitionis contra Johann Gottfried Sahrbergen oder sogenannten StudentenFriedrich und Cons. wegen angeschuldigter Strassen Dieb- und Raubereyen Ergangen vor der allergnädigst angeordneten Commission im Amte Dresden Anno 1714. Loc. 11400/ 1: Acta inquisitionis Den vormahls aus hiesigen Lazareth flüchtig gewordenen und beym Ambte Moritzburg wieder zur Hafft gebrachten ehemahligen Vestungs-Gefangenen Peter Schumachern betr. Ergangen in Dreßden ao [1715]. <?page no="340"?> 341 Loc. 11400/ 2: Acta Den beym Königl. Preußl. und Churfürstl. Brandenburgischen Amte Giebichenstein zur Hafft gedyhenen berüchtigten KirchenRäuber und Dieb, Andreen Weßern betr. Ergangen vor dem Amte Dreßden Anno 1716. Loc. 11400/ 3: Acta Judicialia Inquisitionis contra Jeremias Schmieden von NiederBobrizsch. Bestand 10025 Geheimes Konsilium Loc. 5515 I: Justiz- und PolizeySachen. Loc. 5546: Die wider die bißhero über Hand genommene gewaltsame Einbrüche und Raubereyen gemachte Anstalten Ao 1710, Vol. I. Loc. 5546: Die, unter Angebung ermangelnden Platzes, verweigerte Auffnahme mehrerer Baugefangener und das dahero eingeforderte Verzeichnüss von der dermahligen Anzahl dererselben nebst der Anzeige, wo jeder her sey? was er verwürcket? auch wie lange er zu solchem Gefängniss condemniret? der Zeit würcklich gesessen? auch wie er sich bey seinem Darseyn betragen? und wie lange er noch zu sitzen hätte? ingleichen ist zubefinden, Was wegen Fortschaffung derer berüchtigten BauGefangenen auf die Galeeren geschrieben worden 1737- 1738. Loc. 5577: Acta Wegen der in Thüringen sich geäußerten großen Anzahl von Bettlern und Landstreichern ingleichen Zigeuner und dagegen getroffenen Veranstaltungen an: 1737. 38. 39. 42. 43. Loc. 5632: Acta Die, Zu Untersuchung wieder die zu Leipzig, Meißen und Senfftenberg wegen Raubes und Dieberey eingezogene verdächtige Personen, oder dahin ferner einkommenden Delinquenten angeordnete besondere Commissiones nebst Concurrenz des würckl. CammerRath, Weydens zu Suppeditirung erforderl. Nachrichten betr., Vol. I. Loc. 5634: Acta Die wegen Verführung der Untersuchung wieder einige gefänglich eingegangene, des Raubens und Stehlens verdächtige Personen zu Leipzig, Meißen und Senfftenberg angeordnete Comissiones betr. De an. 1754, Vol. II. Loc. 5636: Acta Die zu Verführung der Untersuchung wieder einige gefänglich eingezogene, des Raubens und Stehlens verdächtige Personen zu Leipzig, Meißen und Senfftenberg angeordnete Commissiones betr. de an: 1754, Vol III. Loc. 5640: Acta Die bey dem Amte Wolkenstein eingebrachte Diebe und Räuber, und Zwar Matthias Killigen, Gottfried Müllern, Christian Hühneln, Johann Augusten, Gottloben, Abraham und Christian Gabrielen, Gebrüdere derer Freyer, Johann Gottlieb Steitzschen, auch Johann Christophen und Johann Georgen Gebrüdere derer Weigelte betr. de an 1753. Loc. 5674: Acta Die in hiesigen Landen und benachbarten Orten sich aufhaltenden Diebs- und Räuberbesonders die sogenannten Heßische, Thüringische und Sächßische Banden, und die zu deren Entdeck und Vertreibung vorzukehrende Anstalten betr. Vol. I de ao 1767, 68 usque 71. (hierinnen sind die im Fränckischen Creiße wegen des daselbe befindlichen Landstreicher und Diebsgesindels ergangene Verordnungen befindlich). Loc. 5675 II: Acta Die in hiesigen Landen und benachbarten Orten sich aufhaltenden Diebs- und Räuberbesonders die sogenannten Heßische, Thüringische und Sächßische Banden, und die zu deren Entdeck- und Vertreibung vorzukehrende Anstalten betr. Vol. II d. ao. 1771. <?page no="341"?> 342 Loc. 5675, III: Acta Die in hiesigen Landen und benachbarten Orten sich aufhaltenden Diebs- und RäuberBanden und die zu deren Entdeck- und Vertreibung vorzukehrende Anstalten betr. Vol: III. d 1792. Loc. 5710: Acta Die an Dieben, Räubern und Mördern vollstreckten Todesstrafen betr. Vol. I ab ao 1767 usque 73. Loc. 5710b: Acta Die an Dieben, Räubern und Mördern vollstreckten Todesstrafen betr. Vol. II de ao 1774. Loc. 5711: Acta Die an Dieben, Räubern und Mördern vollstreckten Todesstraffen betr. Vol. III, d. ao 1776. Loc. 5803: Acta Die wider die Frenzelsche Diebs- und Räuber-Bande zu Schmölln angestellte Untersuchung, samt was dem anhängig betr. Anno 1784 seqq. Loc. 5813: Acta Die Aufsuch- und Entdeckung auch Bestrafung der Räuber und DiebesGesindels ingleichen die Publication des ungeschärfften Mandats in dem Marggrafthum OberLausitz betr. Anno 1754 seqq - 1783. Loc. 5825: Acta die Anordnung einer General-Visitation in dem Marggraffthum Ober-Lausiz, zu Ausforsch- und Erlangung des liederlichen Gesindels betr. Anno 1743 seq. Ingleichen die Aufsuch- Entdeck- und Bestrafung des Räuber- und Diebs-Gesindels s.w.d.a. betr. Ao 1780 seqq. Vol. I. Loc. 5864: Acta, Eine angebliche, in dem Hojerswerdischen Amts-Dorffe Geyerswalde sich beij 100. Mann starck eingefundene Diebs-Bande, wovon 20. Mann Kaiserl. Königl. Trouppen, die übrigen ihre ordentl. Kleidung getragen. Anno 1758 betr. Loc. 6053: ACTA Die Aufsuch-, Entdeck- und Bestrafung… Oberlausitz betr., Vol. VI, Anno 1794-1795. Loc. 6059: ACTA Aufsuch- Entdeck- und Bestrafung des Diebs- und Räuberauch andern liederlichen Gesindels in dem Marggrafthume OberLausitz betr. De Anno 1800-1803, Vol. VIII. Loc. 6088: ACTA Die Aufsuch-, Entdeck- und Bestrafung des Diebs- und Räuberauch andern liederlichen Gesindels in dem Marggrafthum Oberlausiz betr. Anno 1803-1806, Vol. IX. Loc. 8303: Den in dem Graefflich-Beichlingischen Hauße in Dreßden verübten Diebstahl und dißfalls angestelte Inquisition betreffende, 1702-1703, darbey auch, was wegen Schärff- und Reiterirung der Tortur zu befinden, Anno 1704. Loc. 9997/ 14: Acta und Mandat: die Ausrottung der Zigeuner belangend. 1601-1722. Loc. 9997/ 21: Zigeuner 1698-1725. Bestand 10026 Geheimes Kabinett Loc. 1396/ 1: Die zu Entdeckung verschiedener Diebs- und Räuber-Banden zu Meißen, Senfftenberg und Leipzig angeordnete Untersuchung Anno 1754 seq. Loc. 1409/ 1: Die wieder die Diebe und Räuber-Rotten auch Ziegeuner, Bettlere, Land-Streicher und ander böses Gesindel publicirte Mandate betr. Anno 1710 seq. Loc. 1409/ 2: Die wieder die Diebs- und Räuber-Rotten, auch … publicirte Mandate betr. Ao 1733. seq. Ingl. wider die Hauß-Diebe Ao. 1736. Vol. II ferner General-Visitationes so zu Aufhebung des liederlichen Gesindels auf dem Lande in Städten und Dörffern durch die Miliz angeordnet worden. Ao. 1737-1738. <?page no="342"?> 343 Loc. 1409/ 3: Die wieder die Diebs- und Räuber-Rotten auch Mordbrenner… General-Visitationes … angeordnet worden Ao. 1740 seqq. Vol. III. Bestand 10047 Amt Dresden Nr. 3930: Acta Commissionis die auf den hiesigen Vestungs-Bau von den Gerichten zu OberLeutersdorff abgelieferten Johann Karraseck, Johann Gottlieb Kühnel, Johann Georg Keßel, Anton Klinger, Gottlieb Neumann, Jacob Engelmann, und Carl August Weßel, und Cons. betr. auch den von den Gerichten zu Niederrennersdorf abgelieferten Joseph Engelmann betr. Ergangen vor dem Amte Dresden Ao 1803. Nr. 3942: Acta inquisitionis contra Daniel Lehmannen von Schönfeld, in puncto Sacrilegii & furti, Ergangen vor der allergnädigst angeordneten Commission im Amte Dresden Anno 1714-15. Nr. 3944: Acta inquisitionis contra Johann Wilhelm Leonhardten einen hiesigen Vestungsgefangenen in puncto furti Ergangen im Amte Dresden ac ad 1714/ 15. Nr. 3946: Acta inquisitionis contra George Limpachen, einen hiesigen Vestungs-Gefangenen in puncto furti & sacrilegii. Nr. 3949: Acta Judicialia zwey verdächtige Juden Nahmens Isaac Jacoben und Joel Marcussen betr. Vol. I, in puncto furti. Nr. 3950: Acta Inquisitionis Isaac Jacoben und Joel Marcußen welche sich verschiedener Diebstähle verdächtig gemacht Vol. II. Nr. 3963: Acta Judicialia in Untersuchungs-Sachen wieder Johann Christian Reicherten und deßen leibl. Tochter Margarethen Sophien in pto incestus et Adulterii Ergangen vor dem Amte Dreßden Anno 1741. Nr. 3968: Acta Inquisitionis contra Christian Rothen, George Limbachen und Hannß Wolff Schönecken, wegen beschuldigter Diebereyen und anderer Begünstigungen Vol. III, Ergangen vor Ambte Dreßden Anno 1713. Bestand 10079 Landesregierung Loc. 12347: Special-Volumen des Meißnischen Creyses Die in der Gegend von Mühlberg im Jahr 1796 entdeckte Diebsbande und insonderheit deren Rädelsführer Johann Gottlob Geßeln betr. Loc. 30392 I: Diebs- und Räubergesindel betr. Loc. 30396/ 15: Eine Rotte Räuber welche im Amte Dippoldiswalda und sonst an denen Gränzen sich blicken laßen und allerhand Gewaltthätigkeiten verübet betreffend, Anno 1695. Loc. 30396/ 6: Untersuchung gegen Hempel und Nolle in Leissnig betr. so bei einer Diebsbande betheiligt gewesen 1687 ff. Loc. 30396: Die, Dem Herrn Hoff und JustitienRathe D. Ritter, wie auch dem Obristen Lieutenant Richtern und AmbtManne allhier, Auffgetragene u. noch fortwährende, von dem hingerichteten Lips Dullian, herrührende große Diebs-Inquisitions- und Untersuchungs-Sache sambt was deme mehr anhängig betr. Angefangen Mit dem 3. Septembr. Ao. 1716. Vol. 2.dum. Loc. 30397: Bedencken wie dem Übel der Dieberey zu steuren. Loc. 30398: Ritter und Richter Untersuchungsakte. Loc. 30583: Canzley- Acta, Diebe und Räuber betr. Vol. 9. d ao. 1801. Loc. 30703: A. Die Zigeunerbande bey Zaunröden betr. 1791 sqq. <?page no="343"?> 344 Loc. 30719 Vol. II: CantzleyActa Criminalia betr. Vol. II. 1768. 1769. 1770. 1771. Loc. 30719: Criminalia Vol. I, 1734-1768. Loc. 30783: Andr. Chr. Käsebier - Raubanfall 1743. Sonstige Bestände 10052 Amt Grillenburg Nr. 361: Acta Inquisitionis Marien Elisabeth Zimmermannin und Consorten in pto. Infanticidii betr. Ergangen vor dem Amt Grillenburg 1726 [Titel der Akte abweichend vom Inhalt]. 10057 Kreisamt Meißen Nr. 459: Acta Judicialia Die an dreyen vor der allergnädigst verordneten CriminalUntersuchungsCommission verurtheilten Mißethätern, Johann George Großmannen, Johann Gottlob Lehmannen, und Johan Christian Eltzschnern sonst GlaserChristeln genannt, durch Veranstaltung des CreysAmts, am 28. Juny a.c. vollstreckte Execution, samt was dem anhängig betr. 10062 Amt Pirna Nr. 2598: Acta Denunciationis contra Johann Gottlieb Kochen und Johann George Krebßen aus Berggießhübel in pto verübter Deuben und Kirchen Raube, s.w.d.a. betr. 10114 Collegium medico-chirurgum, Sanitätskorps Loc. 2086: Nachricht über die an das Theatrum anatomicum abgelieferten Cadaver in den Jahren von 1754-1817. 10117 Stiftsregierung Wurzen Loc. 13240: Canzley Acta Die von dem Ambte alhier beschehene Untersuchung, Wegen eines, an einem Courier und Postillon auff öffentl. Straßen ohnweit Wurzen verübten räuberischen Anfals Ergangen Anno 1711. 11125 Ministerium für Volksbildung Nr. 7476: Confiscierte Schriften betr. 1758-61. Staatsarchiv Leipzig 20008 Amt Grimma Nr. 620: Acta Inquisitionis, Die von denen Döringischen Gerichten zu Hohnstädt in dasiger Schencke arretirte und in 8 Personen bestehende auch zum hiesigen Erb- Amte, zur Verwahrung, auch Verführung der Untersuchung einzuliefern allergnädigst anbefohlene DiebsBande, ingleichen den Schenck-Wirth Franciscus Stollen, deßen Ehefrau und Magd betr. Ergangen vor dem Erb-Amte Grimma Anno 1754. 20008 Amt Grimma Nr. 621: Acta Inquisitionis, Die von denen Döringischen Gerichten zu Hohnstädt in dasiger Schencke arretirte und in 8 Personen bestehende auch zum hiesigen Erb- Amte zur Verwahrung, auch Verführung der Untersuchung einzuliefern allergnädigst anbefohlene Diebs-Bande, ingleichen den Schenck-Wirth Franciscus Stol[len] deßen Ehefrau und Magd betr. Ergangen vor dem Erb-Amte Grimma Anno 1753. 20008 Amt Grimma Nr. 1302: Acta Inquisitionis Die von denen Döringischen Gerichten zu Hohnstädt in dasiger Schencke arretirte und in 8 Personen bestehende, auch zum hiesigen ErbAmte zur Verwahrung auch Verführung der Untersuchung einzuliefern allergnädigst anbefohlene Diebs-Bande betr. Ergangen vor dem ErbAmte Grimma Anno 1753. 20008 Amt Grimma Nr. 1303: Acta Inquisitionis, Die von denen Döringischen Gerichten zu Hohnstädt in dasiger Schencke arretirte, und in 8 Personen bestehende, annoch zum hiesigen ErbAmte zu Verwahrung auch Verführung der Untersuchung einzulieffern allergnädigst anbefohlene DiebesBande betr. Ergangen vor dem Erbamte Grimma, Anno 1753. <?page no="344"?> 345 20008 Amt Grimma Nr. 1336: Acta Inquisitionis, Johann Andreas Bütters und Consorten Vernehmungen über Inquisitional-Articul betr. Hf Ergangen vor dem Erb-Amte Grimma Anno 1754. 20008 Amt Grimma Nr. 1337: Acta Judicialia, Franciscum Stollen und deßen Eheweib, auf den BurgBerg vor Hohnstein betr. Ergangen vor dem ErbAmte Grimma, Anno 1755. 20009 Amt Leipzig Nr. 3571: Acta Christian Richters Execution betr. in pcto furti. 20347 RG Borna, Nr. 137: Acta in UntersuchungsSachen wider Christoph Richtern [xx]losen Bedienten aus Dreßden ingl. Deßen angebliches Eheweib, [Johannen] Rosinen [Mögelin] in pto Falsi Furti injurii etc. Erg. ao 1773-1776. 20383 RG Frohburg Nr. 1294: Acta Den in der Nacht zwischen den 19. und 20. Decembr. 1769. in der Kirche zu Frohburg beschehenen Einbruch und Raub unterschiedener Kirchen-Sachen und Gelder betr. Ergangen vor denen HochAdel. Hardenbergischen Gerichten zu Frohburg, de ao. 1769-1771. Staatsarchiv Chemnitz 30012 Amt Lauterstein Nr. 139: Acta ad inquirendum contra Joseph Ihlen, einen Tagelöhner aus Brandan in Böhmen, in pto robbariae ad dubitavi [ceali] tertia vice reiteratae, Ergangen beym Amte Lauterstein ao. 1772. 30023 Amt Zwickau Nr. 1285: Acta Inquisitionis contra George Sachßen, oder den sogenannten LeyerGörgen, einen Vagabunden, in pto. incendii homicidii attentati et inculpati ac furti violenti, Ergangen beym Ambte Zwickau Anno 1747. 30572 Schönburgische Gesamtregierung Glauchau Nr. 2825: Das Diebsgesindel betr. 1745. 30572 Schönburgische Gesamtregierung Glauchau Nr. 3139: Acta Die beym Amte Lichtenstein zur Verhaft und Untersuchung gekommenen beyden Hauptdiebe Nahmens Harnisch und Frenzel s.w.d.m. betr., Ergangen Bey der Gräfl. Schönburg. Gesammt-Regierung, Ao. 1791, 1792, 1793, 1794. 30584 Herrschaft Hartenstein Nr. 1706: Inquisitionsakten gegen den flüchtigen Dieb und Mörder Nicol Listen aus der Beutha Vol II. 1696-1698. 30584 Herrschaft Hartenstein Nr. 1705: Inquisitionsakten gegen den flüchtigen Dieb und Mörder Nicol Listen aus der Beutha, Vol. I 1698. 30584 Herrschaft Hartenstein Nr. 1707: Inquisitionsakten gegen den flüchtigen Dieb und Mörder Nicol Listen aus der Beutha Vol. III, 1698-1699. Staatsfilialarchiv Bautzen 50009 Oberamt Nr. 469: Oberamtsberichte. 50009 Oberamt Nr. 470: Oberamtsberichte de Anno 1749. 50009 Oberamt Nr. 496: Oberamtsberichte. 50009 Oberamt Nr. 497: Oberamtsberichte. 50009 Oberamt Nr. 523: Oberamtsberichte. 50009 Oberamt Nr. 524: Oberamtsberichte. <?page no="345"?> 346 50009 Oberamt Nr. 6019: O Acta Derer OberLausitzischen Herren Stände Vorstellen und Suchen gegen das, wegen Aufsuch- und Entdeckung, auch Bestraffung des Diebs- und Räuber-Gesindels, ins Land publicirte Königl. allergnädt. Mandats betr. Ergangen Anno 1754. 50141 Gutsherrschaft Hainewalde Nr. 1923: Anzeige [contra] Anton Goldberg aus Leutersdorf, wegen Teilnahme an verschiedenen Diebstählen usw. 1797-1798. 50420 Gutsherrschaft Oberleutersdorf Nr. 4: Vol I. Gerichtliche Untersuchung, Acta wieder Johann Gottlieb Kühnel/ Carl August Weßel/ Gottlieb Neumann/ Anton Klinger/ Johann Gottlob Keller/ Johann Karrasec und Compz./ wegen in Oberleutersdorf in der Nacht vom 31ten Jul. zum 1ten Aug. 1800 Verübten grosen Diebstahls Ergangen vor denen Herrz Glathischen Gerichten zu Oberleutersdorf 1800. 50420 Gutsherrschaft Oberleutersdorf Nr. 5: Vol II. Gerichtliche UntersuchungsActa wider Johann Gottlieb Kühnel, Carl August Weßel, Gottlieb Neumann, Anton Klinger, Johann Gottlob Keller, Johann Karrasek und Complicen wegen verübten Raubes, Ergangen vor dem [Herr Gla]thischen Gerichten zu O[ber-] Leutersdorf 1800. 50420 Gutsherrschaft Oberleutersdorf Nr. 6: Vol III. Gerichtliche UntersuchungsActa wider Johann Gottlieb Kühnels, Carl August Weßel, Gottlieb Neumann, Anton Klinger, Johann Gottlob Keller, Johann Karraseck und Complicen wegen verübter Räuberreyen und Mords. 50420 Gutsherrschaft Oberleutersdorf Nr. 7: Vol IV. Gerichtliche UntersuchungsActa wider Johann Gottlieb Kühnel, Carl August Weßel, Gottlieb Neumann, Anton Klinger, Johann Gottlob Keller, Johann Karraseck und Complicen wegen verübter Räubereyen und Mord. Stadtarchiv Leipzig Richterstube Strafakten Nr. 634: Inquisition-Acta Zacharias Jacoben Anno 1703 betr. Ergangen vor dem Edl. Stadtgerichten zu Leipzigken. Richterstube Strafakten Nr. 639: Inquisition-Acta Andreen Weßern und deßen Eheweib Marien sowohl Johann Roßmannen wie auch Andreen Lehmannen betr. 1704 Ergangen vor denen StadtGerichten zu Leipzig. Richterstube Strafakten Nr. 722, IV: Acta Johann Andreas Bambergen, so sich vorher Johann Jacob Wichmann genannt Johann Tauberten, Johann Andreen Guntzenbergen, Johann George Voigten, sonst Johann Christoph Richter genannt, Johann Gottfried Breyern, Johann Andreas Döringen, Christoph Friedrich Seilern, Marien Elisabeth Seilerin betr. Anno 1754, Vol. IV. Richterstube Strafakten Nr. 722, VII: Acta Johann Andreas Bambergen, so sich vorher Johann Jacob Wichmann genannt, Johann Herrmann Hahnen, so sich vorhero Johann Taubert genennet, Johann George Voigten, sonst Johann Christoph Richter genannt, Johann Gottfried Kuntzen, so sich vorher Breyer genannt Johann Gottfried Dachsen, welcher sich vorher Johann Andreas Gruntzenberg genannet, Johann Jacob Rehmannen welcher sich vorhero Johann Andreas Döring genennet Anno 1756 Ergangen Vol. VII. Richterstube Strafakten Nr. 722, VIII: Acta Johann Andreas Bambergen, so sich vorher Johann Jacob Wichmann genannt, Johann Herrmann Hahnen, so sich vorhero Johann Taubert genennet, Johann George Voigten, sonst Johann Christoph Richter genannt, Johann Gottfried Kuntzen, so sich vorher Breyer genannt Johann Gottfried Dachsen, welcher sich vorher Johann Andreas Gruntzenberg genannet, Johann Jacob Rehmannen welcher sich vorhero Johann Andreas Döring genennet Anno 1756 Ergangen Vol. VIII. <?page no="346"?> 347 Richterstube Strafakten Nr. 722, IX: Acta Johann Andreas Bambergen, so sich vorher Johann Jacob Wichmann genannt, Johann Herrmann Hahnen, so sich vorhero Johann Taubert genennet, Johann George Voigten, sonst Johann Christoph Richter genannt, Johann Gottfried Kuntzen, so sich vorher Breyer genannt Johann Gottfried Dachsen, welcher sich vorher Johann Andreas Gruntzenberg genannet, Johann Jacob Rehmannen welcher sich vorhero Johann Andreas Döring genennet Anno 1756 Ergangen Vol. IX. Richterstube Strafakten Nr. 722, X: Acta Johann Andreas Bambergen, so sich vorher Johann Jacob Wichmann genannt, Johann Herrmann Hahnen, so sich vorhero Johann Taubert genennet, Johann George Voigten, sonst Johann Christoph Richter genannt, Johann Gottfried Kuntzen, so sich vorher Breyer genannt Johann Gottfried Dachsen, welcher sich vorher Johann Andreas Gruntzenberg genannet, Johann Jacob Rehmannen welcher sich vorhero Johann Andreas Döring genennet Anno 1756 Ergangen vor denen Edl. StadtGerichten zu Leipzigk Vol. X. Richterstube Strafakten Nr. 723: Acta Johann Andreas Döringen nunc Johann Jacob Rehmann betr. Anno 1755 Ergangen vor dem Edlen StadtGerichte zu Leipzig. Stadtarchiv Chemnitz III Stadtverwaltungssachen VIIb 47, Bd. 3: Protocoll Von allerhand einzelnen Sachen ao 1738. III Stadtverwaltungssachen VIIb 54, Bd. 1: Protocoll gehalten vor dem Rathe zu Chemnitz Anno 1746. III Stadtverwaltungssachen VIIb 56, Bd. 2: Protocoll gehalten vor dem Rathe zu Chemnitz Anno 1748. V Policeysachen XIXa 10: Convolut Derer bey E.E. Rathe zu Chemniz eingelangten Steck-Brieffe, Chemniz ab Ao 1530f-1763. V Policeysachen XIXa 16: Acta Das Diebs- und Räuber-Gesindel betr. Ergangen vor dem Rathe zu Chemnitz Anno 1767. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover Hann. 70 Nr. 3548/ 1: Acta Inquisitionis [contra] Nickel List et. Comp. in puncto furti, 1698 sqq. Vol. Imum. Hann. 70, Nr. 3549/ 2: Acta Inquisitionis [Contra] Nickel List et. Comp. in pto. furti, 1698 sqq. Vol. IIdum [Fortsetzung]. UB Albertina Leipzig Sondersammlungen, Ms 2476: Formula Sententiarum. <?page no="347"?> 348 8.