Göttlicher Zorn und menschliches Maß
Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften
0313
2013
978-3-8649-6321-6
978-3-8676-4404-4
UVK Verlag
Alexander Kästner
Prof. Dr. Gerd Schwerhoff
Vormoderne Städte waren in ihrem Idealbild homogene Sakralgemeinschaften, die allen Ketzereien und religiösen Abweichungen entschlossen entgegentraten. Wenn eine christliche Obrigkeit diese Übel nicht energisch bekämpfe, so verkündeten zahlreiche Polizeiordnungen, dann drohe der göttliche Zorn unweigerlich das gesamte Gemeinwesen zu vernichten.
Tatsächlich entsprach die historische Realität angesichts eines hohen Maßes an sozialer Differenzierung und Heterogenität diesem Idealbild nie - erst recht nicht, nachdem die Reformation religiöse Heterogenität auf Dauer etabliert hatte. Wie gingen Städte in der Frühen Neuzeit mit dieser Verschiedenartigkeit um? Wie reagierten Stadtbewohner und Obrigkeiten auf konfessionelle Abweichungen oder Verhaltensweisen, die - etwa in Gestalt von Gotteslästerung oder Ehebruch - als unchristlich galten und die Werte der städtischen Gemeinschaft in Frage stellten? Welche Akteure waren an der Definition eines abweichenden Bekenntnisses oder abweichenden religiösen Verhaltens beteiligt? Welche Rolle spielten religiöse, rechtliche und andere, bürgerliche Leitnormen wie gute Nachbarschaft oder simpler Pragmatismus? Die Beiträge des Bandes gehen diesen und weiteren Fragen vergleichend am Beispiel ausgewählter Städte nach.
<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 28 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt <?page no="2"?> Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="3"?> Gefördert mit den Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 »Transzendenz und Gemeinsinn« der Technischen Universität Dresden Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3- 86496-321-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Ausschnitt aus »Lot und seine Töchter« von Lucas van Leyden. Original: Louvre, Paris Satz und Layout: Sebastian Frenzel, Dresden UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhalt Vorwort 7 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften. Eine Einführung in systematischer Absicht 9 I. Querschnitte Claudius Sebastian Frenzel Die Ordnung des Zorns. Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm (Gotteslästerung, Zutrinken und Unzucht, 1492-1630) 45 Annette Scherer Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten zu Beginn des 17. Jahrhunderts 73 II. Fallstudien Franziska Neumann Reformation als religiöse Devianz? Das Schneeberger Kondominat und der Fall Georg Amandus (1524/ 25) 93 Eric Piltz Reinheit oder Frieden? Religiöse Devianz und die Rhetorik der Gottlosigkeit in Antwerpen 1562-65 123 Tim H. Deubel „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“. Zum Umgang mit religiöser Abweichung im Basel des 16. Jahrhunderts am Beispiel von Antoine Lescaille 155 Alexander Kästner Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Nachbarschaft, Konflikte und religiöse Devianz in Leipzig (1640) 183 Personenregister 215 <?page no="6"?> 7 Vorwort Der vorliegende Sammelband dokumentiert Teilergebnisse eines am Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ angesiedelten Projekts, das unter dem Titel „Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“ den Umgang frühneuzeitlicher Stadtgesellschaften mit religiös abweichendem Verhalten untersucht. Ausgangspunkt dieses Projekts und dieses Bandes ist die Annahme, dass zwischen dem Leitbild religiöser Uniformität und der faktischen Existenz vielfältiger Brüche in Konfession und Religiosität der Stadtbewohner ein Spannungsverhältnis bestand. Vor dem Hintergrund dieser Annahme stellt sich die Frage, welche Konsequenzen religiöse Abweichung für die soziale und politische Ordnung städtischer Gemeinwesen hatte. Beantwortet wird diese Frage im vorliegenden Band anhand ausgewählter Querschnitte und Fallstudien, in denen ein Teil der Forschungsergebnisse anhand anschaulicher Beispiele präsentiert wird. Viele Kolleginnen und Kollegen am SFB 804 und andernorts haben über die Jahre hinweg Anregungen für unser Projekt und die Beiträge dieses Bandes gegeben, ohne dass wir sie alle namentlich nennen könnten. Sebastian Frenzel hat in mittlerweile bewährter Manier sorgfältig und umsichtig Redaktion und Druckfahnen besorgt - vielen Dank! Zu danken ist auch Miriam Groschwitz, Vincenz Schaarschmidt, Benjamin Seebröcker und Clara Sterzinger, die engagiert geholfen haben, Material für die Beiträge zusammenzutragen und Teile des Bandes Korrektur zu lesen. Ulrike Ludwig kommentierte dankenswerterweise eine vermeintlich abschließende Fassung der Einleitung und Uta C. Preimesser betreute uns engagiert von Verlagsseite. Der Druck dieses Bandes wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Unser Dank gilt stellvertretend dem Sprecher des SFB 804, Hans Vorländer, der die Publikation unbürokratisch gefördert hat. Dresden, „Blaues Haus“ im Januar 2013 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff <?page no="8"?> 9 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften Eine Einführung in systematischer Absicht 1 I. Städtische Ordnung zwischen bürgerlichem Gemeinwohl und sakraler Gemeinschaft Auch wenn die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Mittelalter und Früher Neuzeit auf dem Land lebte, das ultimative Modell gesellschaftlicher Ordnung und Unordnung war die Stadt. Dabei war die zeitgenössische Wahrnehmung von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Einerseits grenzten die städtischen Mauern einen eigenen Friedensbereich ab, innerhalb dessen die Bürger sicher und - wie bereits Jacob von Viterbo im 13. Jahrhundert etymologisch abgeleitet hatte - „jenseits der Gewalt wohnten“, die außerhalb allgegenwärtig war. 2 Andererseits warnte ein vielstimmiger Chor von Theologen und Moralisten vor den sittlichen Gefahren und Anfechtungen der Stadt mit ihren Tavernen und Frauenhäusern. Vorgeprägt war diese Ambivalenz bereits in den beiden wirkmächtigen konträren Visionen, die in der Offenbarung des Johannes eng aufeinanderfolgten: hier die ‚Hure Babylon‘ (Apk 17) als Verkörperung von Üppigkeit, Unzucht und Sündhaftigkeit; dort die Verheißung des ‚Himmlischen Jerusalem‘ (Apk 21), das nach der Vernichtung Satans und nach dem Endgericht die ewige göttliche Ordnung in aller Pracht repräsentieren werde. 3 1 Das Projekt, aus dem die Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgegangen sind, ist Teil des von der DFG finanzierten Dresdner Sonderforschungsbereichs 804 ‚Transzendenz und Gemeinsinn‘, der nach den Konstitutionsbedingungen sozialer und politischer Ordnungen fragt. Dabei werden ‚Transzendenz‘ (definiert als Diskurse und Praktiken, die auf die Konstruktion von Unverfügbarkeiten zielen) und ‚Gemeinsinn‘ (als individueller Sinn für das Gemeinsame und als gemeinsamer Sinn der Individuen) als zentrale Konstitutionsressourcen dieser Ordnungen verstanden. Vgl. zum Forschungskontext Hans Vorländer (Hg.): Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2011; ders. (Hg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013; Stephan Dreischer u.a. (Hg.): Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013. — Vgl. zum Teilprojekt Gerd Schwerhoff: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit, in: Vorländer: Transzendenz und Gemeinsinn (wie in dieser Anm.), S. 58-63; weiterhin die Einleitung in Eric Piltz/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Religiöse Devianz. Praktiken und Diskurse im konfessionellen Zeitalter, inVorbereitung für 2013. 2 Zitiert nach Peter Schuster: Dschungel aus Stein. Der mittelalterliche Diskurs über die Stadt zwischen Ideal und Wirklichkeit, in: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 8 (1995), S. 191-208, hier S. 200: „civitas, idest citra vim habitas“. 3 Vgl. zum Motiv des ‚himmlischen Jerusalem‘ in protestantischen Utopien und Architekturentwürfen der Frühen Neuzeit Claus Bernet: Gebaute Apokalypse. Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit, Mainz 2007. <?page no="9"?> 10 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Die Realität der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt bewegte sich zwischen diesen Spannungspolen. Als räumliche Verdichtungszonen für das Zusammenleben (relativ) vieler und ständig auch zuziehender Menschen heterogener Herkunft bestanden für die Städte Ordnungsprobleme, die in der ländlichen Gesellschaft mit ihrem hohen Maß von unmittelbarerem Miteinander und großer sozialer Kontrolle unbekannt waren. Sicher herrschte innerhalb der Stadtmauern angesichts meist überschaubarer Bevölkerungszonen und enger nachbarschaftlicher Bindungen keine Anonymität im modernen Sinn, aber doch eine vergleichsweise große Verhaltensfreiheit, 4 die sich in Krisenzeiten zu regelrechter Anomie steigern mochte. Allein die große Zahl der Menschen mit ihren widerstreitenden Interessen machte einen quasi natürlichen ‚Gemeinsinn‘ der Stadtbewohner unmöglich - und zwar unabhängig davon, ob ein solcher für dörfliche Gemeinschaften oder als überhaupt existent angenommen werden sollte. Seit dem 13. bzw. spätestens seit dem 14. Jahrhundert ist eine Intensivierung der formalisierten sozialen Kontrolle in den europäischen Städten zu beobachten. 5 Gerhard Oestreich hat diese normative Offensive der spätmittelalterlichen Städte unter den Begriff der ‚Sozialregulierung‘ gefasst und sie terminologisch von dem später einsetzenden Fundamentalprozess der ‚Sozialdisziplinierung‘ abgesetzt, um ihren stärker reaktiven Charakter zu betonen. 6 Zentrale Pflichten der Bürger, ohne die eine Stadtgesellschaft kaum lebensfähig sein konnte, wurden in neuen Ordnungen fixiert, von militärischen Wachdiensten über das Verhalten im Brandfall bis hin zu Steuerleistungen. Umgekehrt fanden aber auch die Rechte der Bürger hier ihren Niederschlag, vor allem natürlich Schutzrechte für Eigentum und Erbe, aber auch Sicherheitsbestimmungen für die eigene Person sowie Partizipationsmöglichkeiten. 7 Die neuere Forschung hat diese und auch spätere Normoffensiven, etwa im Zuge der Teuerungs-, Subsistenz- und Demografiekrisen des späten 16. Jahrhun- 4 Hans-Peter Duerr: Intimität, Frankfurt a.M. 1990, S. 20ff. 5 Eberhard Isenmann: Die Deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln 2012, S. 448ff. 6 Gerhard Oestreich: Policey und Prudentia Civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: ders.: Strukturprobleme der Frühen Neuzeit, Berlin 1980, S. 367-379; zur Bedeutung des Begriffs der Sozialregulierung innerhalb von Oestreichs Gesamtkonzeption grundlegend Kersten Krüger: Policey zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, Reaktion und Aktion - Begriffsbildung durch Gerhard Oestreich 1972-1974, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 107-119. Ferner Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff ‚Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit‘, in: ZHF 14 (1987), S. 265-302, hier S. 273; weiterhin Ulf Dirlmeier: Obrigkeit und Untertan in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. Zum Problem der Interpretation städtischer Verordnungen und Erlasse, in: Werner Paravicini/ Karl Ferdinand Werner (Hg.): Histoire comparée d’administration (IVe-XVIIIe siècles), München 1980, S. 437-449. 7 Umfassend dazu Isenmann, Stadt (wie Anm. 5), S. 133ff. <?page no="10"?> 11 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften derts 8 oder im Kontext der Intensivierung und Verschärfung der sozialen Kontrolle im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation, 9 umfassend erforscht. Dabei stand zwar insbesondere der Territorialstaat im Vordergrund, aber grundsätzlich besteht wohl weitgehender Konsens darüber, dass die vormoderne Stadt auf dem Feld der Policeyordnungen nicht nur Pionierarbeit geleistet hat, sondern die ganze Frühe Neuzeit hindurch eine bemerkenswerte Regelungstätigkeit entfaltete. 10 Einen (wenn auch methodisch nicht unproblematischen) Anhaltspunkt liefert die Auflistung der Verordnungstätigkeiten von Reichsstädten wie Ulm oder Köln. Nicht nur, dass beide Städte bereits seit dem 14. Jahrhundert eine sich schnell ausdifferenzierende Gesetzgebung mit über 700 bzw. weit über 1.000 Normen entwickelten; mit ca. 4.500 Policeynormen in Ulm oder sogar über 8.500 in Köln übertrafen die Städte auch in der Frühen Neuzeit ein Territorium wie Kurköln mit gerade einmal 1.200 Ordnungen bei weitem. 11 Die Policeyforschung der letzten Jahre hat deutlich herausgestellt, dass die genannten Normen nicht einfach als obrigkeitliche Setzungen verstanden werden können, die gleichsam ‚von oben’ der Gesellschaft oktroyiert wurden. Sie erwuchsen vielmehr oft aus einem intensiven Kommunikationsprozess, in dem die jeweiligen Probleme vor Ort erkundet, die Interessen verschiedener Gruppen artikuliert und gegeneinander abgewogen wurden. Diese sehr allgemeine Feststellung gilt umso mehr für städtische Gesellschaften, die nicht dynastisch, sondern in Gestalt der Ratsverfassung von einer Obrigkeit auf Zeit regiert wurden, die durch ein geregeltes Wahlverfahren ins Amt kam und deren persönliche Mitglieder wechselten. Dabei sollen die dramatischen sozialen Unterschiede ebenso wenig übersehen werden wie der unterschiedliche Handlungsspielraum der Ratsobrigkeiten in Reichsstädten im Vergleich zu den Landstädten. Überdies kam auch nur eine sehr begrenzte Zahl von Stadtbewohnern in den Genuss des vollen Bürgerrechts. Schließlich behandelten die frühneuzeitlichen Stadträte ihre 8 Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. Bernd Roeck: Die Krise des späten 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihren kulturellen Auswirkungen und zu Formen ihrer Bewältigung, in: Heinz Schilling (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München 2007, S. 3-21. 9 Hans J. Hillerbrand: The ‚Other‘ in the Age of the Reformation. Reflections on Social Control and Deviance in the Sixteenth Century, in: Max Reinhart (Hg.): Infinite Boundaries. Order, Disorder and Reorder in Early Modern German Culture, Kirksville Miss. 1998, S. 245-269. 10 Vgl. Werner Buchholz: Anfänge der Sozialdisziplinierung im Mittelalter. Die Reichsstadt Nürnberg als Beispiel, in: ZHF 8, 2 (1991), S. 129-147, exemplarisch für eine Kleinstadt Achim Landwehr: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a.M. 1999. 11 Karl Härter/ Michael Stolleis (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, hier Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürstentümer (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier), hg. v. Karl Härter, Frankfurt a.M. 1996, Bd. 6: Köln, hg. v. Klaus Militzer, Frankfurt a.M. 2005, Bd. 8: Ulm, hg. v. Susanne Kremmer/ Hans Eugen Specker, Frankfurt a.M. 2007. Vgl. die Besprechung von Gerd Schwerhoff in: Rheinische Vierteljahrsblätter 72 (2008), S. 345-347. <?page no="11"?> 12 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Bürger - im Zuge jenes von der Forschung als ‚Verobrigkeitlichung‘ beschriebenen Prozesses - immer mehr wie gewöhnliche Untertanen und pflegten das Selbstverständnis einer christlichen Obrigkeit. 12 Zu sehen ist dies etwa 1592/ 3 in einer Auseinandersetzung des Leipziger Rats mit Leipziger Bürgern über die Formen politischer Teilhabe und Kommunikation in der Stadt. Der Streit war von den Bürgern vor den Landesherrn, in diesem Fall den ‚Administrator des Sächsischen Kurstaates‘ Herzog Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar, getragen worden. Der Leipziger Rat argumentierte nun, dies sei ungebührlich, denn die Bürger hätten sich doch an „den Rat als ihre von Gott gesetzte Obrigkeit“ gütlich wenden können. 13 Trotzdem waren die Machtmittel der städtischen Obrigkeit begrenzt. Das gilt für Landstädte wohl noch stärker als für Reichsstädte, wenngleich bei Interessenskonvergenz mit den Landesherrn im Konfliktfall gegebenenfalls beträchtliche territoriale Ressourcen zur Verfügung standen. Außerökonomischer Zwang konnte in jedem Fall nur sporadisch eingesetzt werden, um Regeln und Normen durchzusetzen. Vielmehr war dazu ein gewisser ‚Konsens der Bürger‘ 14 ebenso erforderlich wie die erfolgreiche Geltungsbehauptung von Gemeinsinnsvorstellungen, hier vor allem der communitas christiana, sollte es nicht zu städtischen Unruhen kommen. Diese flammten während der Frühen Neuzeit immer wieder auf und stellten die Idee der Eintracht einer christlichen Gemeinschaft am augenfälligsten infrage. 12 Vera Isaiasz/ Matthias Pohlig: Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen. Perspektiven der Forschungsrichtung ‚Stadt und Religion‘, in: dies. u.a. (Hg.): Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-32, hierzu S. 17. 13 Zitiert nach Philip R. Hoffmann: Rechtmäßiges Klagen oder Rebellion? Konflikte um die Ordnung politischer Kommunikation im frühneuzeitlichen Leipzig, in: Rudolf Schlögl (Hg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 309-356, hier S. 326. 14 Das Konzept der ‚konsensgestützten Herrschaft‘ wurde entwickelt bei Ulrich Meier/ Klaus Schreiner: Regimen Civitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften, in: dies. (Hg.): Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 1994, S. 11-34; weiterhin Wolfgang Mager: Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment. Zur Konzeptualisierung politischer Ordnung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadt, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, München 2004, S. 13-122; zum ‚öffentlichen Dienst‘ an der Stadt und zum Verhältnis von Verantwortung und Verpflichtung der Bürger auf der einen und verschiedenen (auch Herrschafts-)Institutionen und Organisationen auf der anderen Seite siehe jetzt Manon van der Heijden: Civic Duty. Public Services in the Early Modern Low Countries, Newcastle 2012; ein Überblick findet sich bereits in dies.: Introduction. New Perspectives on Public Services in Early Modern Europe, in: Journal of Urban History 36, 3 (2010), S. 269-284; für eine über die Stadt hinausweisende, integrative Perspektive steht Stefan Brakensiek: Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 395-406. <?page no="12"?> 13 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften Insofern repräsentieren die Normen in der Regel wenn schon keinen allgemeinen Konsens, so doch das Ergebnis einer gemeinsamen Ordnungsanstrengung von Rat und Bürgerschaft. Dabei verwiesen die Normen zugleich häufig auf grundlegende und übergreifende Wertideen und Fundamentalnormen, die das Handeln der Verantwortlichen jenseits situativer Überlegungen anleiteten. Bürgerliche Leistungs- und Folgebereitschaft hing nicht zuletzt an der Identifikation mit diesen Leitideen der Stadt. In der Forschung werden sie unter dem Rubrum ‚städtische Grundwerte‘ diskutiert. 15 Dazu zählten Frieden und Einigkeit ebenso wie die Freiheit, die zunächst ständisch im Sinne von Privilegien, dann aber auch persönlich im Sinne von Freizügigkeit und Rechtssicherheit (Recht und Gerechtigkeit) verstanden werden konnten. 16 Gleichsam als Bündelung aller einzelnen Grundwerte darf das Gemeinwohl (bonum commune) gelten: Den gemeinen Nutzen hatten die Räte bei ihren politischen Handlungen ebenso im Auge zu halten wie der einzelne Bürger bei der Erfüllung seiner steuerlichen und militärischen Leistungen. Generell gilt das bonum commune nicht als ein besonderer bürgerlicher Grundwert, sondern als eine im traditionellen Tugenddiskurs fest verankerte allgemeine Richtschnur politischen und sozialen Handelns, die z.B. regelmäßig auch in Fürstenspiegeln aufscheint. Peter Blickle aber hat mit plausiblen Argumenten dargelegt, dass es sich beim ‚Gemeinnutz‘ um eine spezifisch städtische Legitimationsformel handele, die erst später auf die territorialstaatliche Ebene gewandert sei. Diese Formel habe sich zuerst und zuvorderst im Kontext 15 Heinz Schilling: Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen ‚Republikanismus‘? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in: Helmut Koenigsberger (Hg.): Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 101-143; Hans-Christoph Rublack: Political and Social Norms in Urban Communities in the Holy Roman Empire, in: Kaspar von Greyerz (Hg.): Religion, Politics and Social Protest. Three Studies on Early Modern Germany, London 1980, S. 24-60; Eberhard Isenmann: Norms and Values in the European City, 1300-1800, in: Peter Blickle (Hg.): Resistance, Representation, and Community, Oxford 1997, S. 185-215; ders.: Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Soziologie des Rats - Amt und Willensbildung - politische Kultur, in: Pierre Monnet/ Otto Gerhard Oexle (Hg.): Stadt und Recht im Mittelalter, Göttingen 2003, S. 215-479; wiederum über die Stadt hinausgreifend Olaf Mörke: Anmerkungen zu einer vergleichenden Geschichte politischer Normen im Europa der Frühen Neuzeit, in: Hein Hoebink (Hg.): Europäische Geschichtsschreibung und europäische Regionen. Historiographische Konzepte diesseits und jenseits der niederländisch-deutschen/ nordrheinwestfälischen Grenze, Münster 2008, S. 125-137. 16 Die Grundnorm der ‚Gleichheit‘ bedürfte insbesondere für die Frühe Neuzeit weiterer Erörterung; hierzu Barbara Frenz: Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts, Köln 2000. Hier wie in vergleichbaren Fällen wäre es reizvoll, diese Forschungslinie in die Frühe Neuzeit zu verlängern. Ein erster konzeptueller Versuch dazu war ein Vortrag von Gerd Schwerhoff auf dem Dresdner Historikertag 2008 zum Thema „Bürgerliche Gleichheit in der Ständegesellschaft? Die Stadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit“. <?page no="13"?> 14 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff jener gerade angesprochenen Ordnungsmaßnahmen kommunaler Verbände gefunden. 17 Hier wie auch an anderen Bezügen auf die angesprochenen Grundwerte städtischer Gemeinschaften wird deutlich, dass Ordnungsmaßnahmen auf Ideen und Deutungen Bezug nahmen, die dem Zugriff unmittelbaren lebensweltlichen Hinterfragens entzogen waren. Zweifellos hatten Diskurse und Praktiken, die auf derartige allgemein akzeptierte Werte und Normen rekurrierten, das Potenzial, Gemeinsinn freizusetzen und somit als eine Handlungsressource zu fungieren, die Bürger in Überschreitung ihrer Partikularinteressen zu Opferleistungen für die Gemeinschaft zu mobilisieren vermochte. Trotzdem sollte nicht von derartigen Postulaten auf unmittelbare Geltung geschlossen werden. Verdeckte die Rhetorik städtisch-ständischer Grundwerte lediglich Partikularinteressen und Konflikte, etwa zwischen einzelnen Zünften? 18 Gab es jenseits unvermeidlicher Auseinandersetzungen einzelner Sozialformationen grundsätzlich so etwas wie eine parallele oder sogar übergeordnete Identifikation mit der Stadt? 19 In der Diskussion über Bezugnahmen auf unverfügbar scheinende Begründungsressourcen ist nicht zu übersehen, dass Verweise auf Gott bzw. auf Vermittlerfiguren wie Stadtheilige einen prominenten Platz in der städtischen Ordnungs- und Strafpolitik des 16. und 17. Jahrhunderts einnahmen. Paradigmatisch verweist die berühmte Ordnung eines Gemeinen Kastens im kleinen sächsischen Landstädtchen Leisnig, 1523 unter direkter Beteiligung Luthers entstanden, auf die „ehre gottes“, um das Verbot von Sünden und Lastern wie das öffentliche Gotteslästern, übermäßiges Trinken, Hurerei oder betrügerisches Spiel zu bekräftigen. 20 Offenkundig reichte der Verweis auf das Gemeinwohl allein nicht aus, um eine städtische Ordnung dauerhaft zu fundieren. Es bedurfte darüber hinaus eines weiter gefassten transzendenten Bezugsrahmens, der über diese Ordnung und die sie begründenden Fundamentalnormen hinauswies, wenngleich alle ge- 17 Peter Blickle: Der Gemeine Nutzen. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: Herfried Münkler/ Harald Blum (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2002, S. 85-107. Vgl. speziell für den städtischen Kontext Jörg Rogge: Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter, Tübingen 1996, S. 7f. Interessant, aber hier nicht weiter zu vertiefen ist die Tatsache, dass bereits im 16. Jahrhundert auch eine beginnende Aufwertung des Eigennutzes zu diagnostizieren ist, vgl. Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständigen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: HZ 243 (1986), S. 591-626. 18 Für Köln exemplarisch Robert Giel: Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550), Berlin 1998, S. 242ff. 19 Gegen die Annahme einer Partikularisierung der frühneuzeitlichen Stadt durch Suburbanisierung und Gruppeninteressen ohne Identifikation mit der Stadt als Ganzem wendet sich für London im 17. Jahrhundert Joseph P. Ward: Metropolitan Communities. Trade, Guilds, Identity, and Change in Early Modern London, Stanford 1997. 20 Emil Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, I. Abteilung: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten, Bd. 1, Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete, Leipzig 1902, S. 598. <?page no="14"?> 15 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften nannten städtischen Grundwerte im Kern religiöse Züge trugen und, wie bereits deutlich gemacht, unverfügbar gestellt waren. 21 So sah sich die Stadt selbst, folgt man ihren Normen und auch ihren chronikalischen Zeugnissen, nicht nur als eine Siedlungsgenossenschaft oder ein politischer Verband, sondern als eine religiöse Erinnerungs- und Heilsgemeinschaft, bei der das Heil des Einzelnen mit der Verfassung der Gemeinschaft eng verbunden war. Nicht umsonst notierte man akribisch auch kleinere und sogar individuelle ‚Katastrophen‘, weil diese immer auch als göttliche Hinweise auf und Zeichen für ein größeres drohendes Unheil gelesen werden konnten. 22 Schon im 19. Jahrhundert wurde die - heute kritisch diskutierte 23 - Formel der städtischen ‚Sakralgemeinschaft‘ geprägt und später durch die Formulierung bekräftigt, die deutsche Stadt habe sich als ‚corpus christianum im Kleinen‘ (geprägt v.a. durch Bernd Moeller) verstanden. 24 Die neuere Forschung hat diese Sakralgemeinschaft insbesondere im Medium ihrer Rituale erforscht, die wie bspw. Prozessionen und Ratswandlungen ja immer auch zur symbolischen Vergegenwärtigung von ständischer Ordnung und Hierarchie, welche die christliche Gemeinschaft durchzogen, dienten. 25 Zwar änderte sich die konkrete Physiog- 21 So schon Hans-Christoph Rublack: Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Horst Brunner (Hg.): Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, Göppingen 1982, S. 9-36, hier S. 21. Dem folgen in der Argumentation auch Isaiasz/ Pohlig: Soziale Ordnung (wie Anm. 12), S. 20. 22 Bernd Rieken: Wütendes Wasser, bedrohliche Berge. Naturkatastrophen in der populären Überlieferung am Beispiel südliche Nordseeküste und Hochalpen, in: alpine space - man & environment 4 (2008), S. 99-119, hier S. 102. 23 Isaiasz/ Pohlig: Soziale Ordnung (wie Anm. 12), zur kritischen Diskussion des Topos der Sakralgemeinschaft in der neueren Forschung (Bünz/ Brady) S. 18-20 und 26. Prominent und kritisch aufgegriffen hatte bereits Steven E. Ozment die Vorstellung einer spezifisch protestantischen Version einer heiligen Gemeinschaft in den nachreformatorischen Städten in: The Reformation in the Cities. The Appeal of Protestantism to Sixteenth-Century Germany and Switzerland, New Haven/ Conn. 1975, zu den kritischen Fragen an Bernd Moellers Konzeption des nachreformatorisch-städtischen corpus christianum S. 7-9. 24 Vgl. Isenmann: Stadt (wie Anm. 5), S. 605. Ein umfassender Überblick zur Rezeptionsgeschichte findet sich jetzt in Thomas Kaufmann: Einleitung, in: Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation. Neue Ausgabe, hg. v. Thomas Kaufmann, Tübingen 2011, S. 1-38. 25 Wie durch Prozessionen die sakrale Topografie einer Stadt aufgespannt wird, zeigt Jacques Rossiaud: Processions de l’Ascension et paysage religieux à Lyon, à l’aube des Temps Modernes, in: Susanne Rau/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München u.a. 2008, S. 72-89. Vgl. überdies Marian Füssel: Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der frühen Neuzeit, in: Horst Carl/ Patrick Schmidt (Hg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin u.a. 2007, S. 31-55; Andrea Löther: Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln 1999; Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.-18. Jahrhundert), Köln 2003; Ruth Schilling: Stadtrepublik und Selbstbehauptung. Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2012. Dezidiert <?page no="15"?> 16 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff nomie dieser Sakralgemeinschaft vom Spätmittelalter über die Reformation bis ins Zeitalter der Konfessionalisierung mehrmals, aber der übergreifende religiöse Geltungsanspruch, die behauptete (! ) Identität von religiöser und politischer Gemeinschaft, blieb trotz zahlreicher Antagonismen, Verwerfungen und mitunter komplexer Glaubenswirklichkeiten, die sich wiederum auch in komplizierten Rechtsverhältnissen spiegeln konnten, 26 in einzelnen Städten bis ins 18. Jahrhundert prinzipiell erhalten. Die Selbststilisierung der Stadt zur Sakralgemeinschaft, die „als Heilsgemeinschaft vor Gott stehe“, 27 hatte jedoch auch eine bereits angesprochene Schattenseite, die gleichfalls aussagekräftig ist: den Zorn des Schöpfers. Wider die christliche Ordnung und die Zehn Gebote, so ein möglicherweise modellbildender ‚Ruf‘ der Basler Ratsherren von 1451, hätten sich viele Missetaten, üppige Worte und Werke gerichtet und damit Gottes Zorn erregt und seine Strafe mit Unwetter, Missernten, Seuchen und Kriegen provoziert. 28 Diese ‚Vergeltungstheologie‘ (Heinrich R. Schmidt) wurzelte zwar im Spätmittelalter, entwickelte sich dann aber zu einer überkonfessionellen Denkfigur insbesondere städtischer Ordnungspolitik in der Frühen Neuzeit: 29 Danach drohte die göttliche Strafe die gesamte Gemeinschaft für das Fehlverhalten Einzelner in Haftung zu nehmen. Wenn die Obrigkeit ihrer Aufgabe der entschiedenen Bekämpfung unchristlichen Verhaldie historiografische Einheitsidee von Stadt hinterfragend Franz Josef Arlinghaus: The Myth of Urban Unity. Religion and Social Performance in Late Medieval Braunschweig, in: Caroline Goodson/ Anne E. Lester/ Carol Symes (Hg.): Cities, Texts, and Social Networks, 400-1500. Experiences and Perceptions of Medieval Urban Space, Farnham/ Burlington 2010, S. 215-232. 26 Lars Behrisch: Protestantische Sittenzucht und katholisches Ehegericht. Die Stadt Görlitz und das Bautzner Domkapitel im 16. Jahrhundert, in: Isaiasz u.a.: Stadt und Religion (wie Anm. 12), S. 33-66. Zur Komplexität religiöser Gemengelagen siehe am Beispiel Danzigs Maria Bogucka: Religiöse Koexistenz - Ausdruck von Toleranz oder von politischer Berechnung? Der Fall Danzig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke/ Karen Lambrecht/ Hans-Christian Maner (Hg.): Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, Leipzig 2006, S. 521-532. Zu bikonfessionellen Städten siehe unten Anm. 50. 27 Isaiasz/ Pohlig: Soziale Ordnung (wie Anm. 12), S. 27 (unter Verweis auf Hillard von Thiessen). 28 Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz 2005, S. 192. 29 Heinrich Richard Schmidt: Die Ächtung des Fluchens durch reformierte Sittengerichte, in: Peter Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 65-120, hier S. 73ff. Dass die theologische exegetische Debatte über den Zorn Gottes durchaus differenzierter zu führen wäre, ist hier zunächst nicht von Belang; hierzu Jörg Jeremias: Gottes Zorn - eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments, in: Theologische Beiträge 40 (2009), S. 311-324; Ralf Miggelbrink: Der zornige Gott. Die Bedeutung einer anstößigen biblischen Tradition, Darmstadt 2002. Vgl. für eine nähere historische Erörterung und für weitere Verweise den Beitrag von Sebastian Frenzel im vorliegenden Band. <?page no="16"?> 17 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften tens nicht nachkam, wenn sie darin durch ihre Untertanen nicht tatkräftig (etwa durch Anzeigen und Denunziationen) unterstützt wurde, dann drohte den jeweiligen Gemeinschaften das Schicksal der alttestamentlichen Sündenpfuhle Sodom und Gomorra. Der Beitrag von Sebastian Frenzel in diesem Band zeigt, wie im 16. Jahrhundert nach und nach die Vorstellung einer göttlichen Kollektivstrafe als Vergeltung für Vergehen unterschiedlichster Art, jedoch nicht grundsätzlich deliktübergreifend, etabliert wurde. Frenzel verdeutlicht zudem, in welchem Verhältnis göttliche Strafen und weltliche Strafen der städtischen Obrigkeiten zueinander standen. II. Religiöse Devianz - zum Spektrum möglicher ‚Gottlosigkeiten‘ Aller ritueller Beschwörung der städtischen communitas als Sakralgemeinschaft und aller göttlichen Drohungen zum Trotz: ‚Gottlosigkeiten‘ in vielerlei Form gehörten zum Alltag der vormodernen Stadt. Dabei ist kaum eindeutig zu bestimmen, welche Vergehen im Einzelnen man dem Bereich religiöser Abweichungen zurechnen soll. Nehmen wir wiederum die Policeyordnungen als Ausgangspunkt. Bestimmungen gegen Gotteslästerung, böse Schwüre und Flüche, oft verbunden mit dem Verbot der Völlerei und der Sauferei, sowie die Einschärfung der Sonntagsheiligung finden sich in vielen dieser Ordnungen - das Beispiel Leisnig 1523 wurde bereits angesprochen. Dabei gab es im protestantischen Bereich eine fließende Grenze zwischen den Policey- und den Kirchenordnungen, weil letztere kein genuines Kirchenrecht waren, sondern von den weltlichen Obrigkeiten erlassen wurden. 30 Hinzu kam, dass zumindest nach protestantischer Vorstellung, aber auch dies ist wohl in der Praxis konfessionsübergreifend zu sehen, 31 der Magistrat eine ordnungswahrende Funktion im kirchlichen Bereich auszufüllen hatte, weil er das Wächteramt über die Befolgung des Dekalogs und über das gottgefällige Leben der Menschen inne hatte und neben der „Sorge für die zweite Tafel [… musste] er als custos primae tabulae Schutz und Hilfe für den rechten Gottesdienst leisten, dem verfallenden Kultus aufhelfen und die Lästerer und 30 Am Beispiel der großen kursächsischen Kirchenordnung von 1580 Ralf Frassek: Das ‚Wittenbergische Buch‘. Ein bedeutender Quellentext für das frühe evangelische Kirchenrecht, in: NASG 74/ 75 (2003/ 2004), S. 67-97, hier S. 69. Die Entstehung dieser Kirchenordnung, die mit einer ausgreifenden Universitätsordnung verbunden war, ist jüngst im Detail untersucht worden von Ulrike Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576-1580), Münster 2009. 31 Isaiasz/ Pohlig: Soziale Ordnung (wie Anm. 12), S. 24 halten daher allgemein fest: „Die konfessionelle Stadt zeichnete sich […] in einem noch höherem Maße als die Stadt der Reformation durch ein Eingreifen der weltlichen Obrigkeiten in religiöse Angelegenheiten aus.“ <?page no="17"?> 18 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Verführer strafen.“ 32 Der insofern auch theoretisch-konzeptionell wenig verwunderlichen „Expansion des Strafrechts“ (Dietmar Willoweit) in den kirchlichen Bereich stand die religiöse Aufladung strafrechtlicher Delikte gegenüber. Dass Gotteslästerung und Sonntagsheiligung die Deliktkataloge häufig anführten, verweist darauf, dass der Dekalog dem Grundsatz nach als Blaupause für die Ordnungs- und Strafgesetzgebung diente. 33 Insofern waren natürlich fast alle Missetaten potenziell Sünde. Bei vielen Delikten wurde dieser Charakter aber besonders betont. Das betraf aus dem Bereich der Policeyordnungen auch ökonomisches und soziales Fehlverhalten, etwa in der Wucher-, Aufwands- und Luxusgesetzgebung. 34 Dramatisiert wurde der religiöse Aspekt im Fall von Zauberei und Hexerei 35 (dem großen Konkurrenzdelikt zur Ketzerei), in abgeschwächter Form von magischen Praktiken (Wahrsagen, Segenssprechen, Schatzgraben etc.), die in der Regel zwar von der sozialen Umwelt unterstützt und gedeckt wurden, aber obrigkeitlich bzw. kirchlich von Kriminalisierung und Ausgrenzung bedroht waren. 36 Das vielleicht größte Areal policeylich regulierten Verhaltens mit starken religiösen (und wie am Beispiel des Inzests zu sehen ist, auch konfessionspolemischen) 37 Konnotationen bot die Sittengesetzgebung mit ihren Bestimmungen gegen Unzucht (ein Begriff mit einer programmatischen Unschärfe! ), Ehebruch und Bigamie, Prostitution und Kuppelei und insbesondere gegen die Sodomie 38 als dem zeitgenössischem Sammelbegriff, der alle unmoralischen Sexualpraktiken vereinigte. Darunter dürfte in den größeren Städten wohl der gleichgeschlecht- 32 Martin Heckel: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, München 1968, S. 132. 33 Dietmar Willoweit: Die Expansion des Strafrechts in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Hans Schlosser/ Rolf Sprandel/ Dietmar Willoweit (Hg.): Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen, Köln/ Weimar/ Wien 2002, S. 331-354; vgl. schon Hellmuth von Weber: Der Dekalog als Grundlage der Verbrechenssystematik, in: Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag am 24. Juni 1949, Berlin 1949, S. 44-70. 34 Klassisch Neithard Bulst: Zum Problem städtischer und territorialer Luxusgesetzgebung in Deutschland (13. bis Mitte 16. Jahrhundert), in: André Gouron/ Albert Rigaudière (Hg.): Renaissance du pouvoir législatif et genèse de l'état, Montpellier 1988, S. 29-57. 35 Vgl. statt vieler Einzelnachweise Gerd Schwerhoff: Böse Hexen und fahrlässige Flucher - Frühneuzeitliche Gottlosigkeiten im Vergleich, in: Piltz/ Schwerhoff: Religiöse Devianz (wie Anm. 1). 36 Siehe z.B. die Beiträge von Angelika Bachmann und Johannes Dillinger in Johannes Dillinger (Hg.): Zauberer - Selbstmörder - Schatzsucher. Magische Kultur und behördliche Kontrolle im frühneuzeitlichen Württemberg, Trier 2003. 37 Ulinka Rublack: ‚Viehisch, frech vnd onverschämpt‘. Inzest in Südwestdeutschland, ca. 1530-1700, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, S. 171-213, hier insbesondere S. 171-176. 38 Vgl. für die hier zur Diskussion stehende Zeit Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400-1600, Chicago/ London 2003; Susanne Hehenberger: Unkeusch wider die Natur. Sodomieprozesse im frühneuzeitlichen Österreich, Wien 2006. <?page no="18"?> 19 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften liche Verkehr am virulentesten gewesen sein. Im Bereich der Sexualmoral und Sittenzucht konvergierten mithin die Vorstellungen von sexueller und religiöser ‚Reinheit‘ der Gemeinschaft, weshalb es auch wenig verwundert, dass religiöse Abweichler ohne Hindernisse zusätzlicher Vergehen gegen die Sexualmoral beschuldigt werden konnten. 39 Die ‚christlichen Magistrate‘ handelten nach eigener Überzeugung mit dem Verbot und der Sanktionierung allen unzüchtigen Verhaltens im göttlichen Auftrag. Allerdings gab es daneben auch starke Konzepte von Ehrbarkeit, Zucht und Moral, die nicht einfach mit der Religion identisch gesetzt werden dürfen - das genauere Verhältnis dieser Konzepte, über die anders als bei den theologischen Dogmen häufig konfessionsübergreifende Einigkeit herrschte, zueinander zu klären, ist ein Forschungsdesiderat. 40 Alle bisher genannten Formen von religiöser Devianz sind insofern alteuropäische Phänomene, als sie - unbeschadet dramatischer Konjunkturen und Debatten über eine Intensivierung im Zuge der Reformation - das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit überspannen. 41 Anders stellt sich die Lage auf dem Feld expliziter Glaubensabweichungen dar. Ketzerei war in den spätmittelalterlichen Städten Mitteleuropas nach dem Niedergang der großen häretischen Bewegun- 39 Christine Reinle hat dies am Beispiel des Sodomievergehens wie folgt zusammengefasst: „Sodomie zu üben, zeichnete […] den Ungläubigen, den schlechthin ‚Anderen‘ aus“; dies.: Das mittelalterliche Sodomiedelikt im Spannungsfeld von rechtlicher Norm, theologischer Deutung und gesellschaftlicher Praxis, in: Stefan Esders (Hg.): Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 165-209, Zitat S. 189. Reinle bezieht sich an dieser Stelle auf Helmut Puff: Studien zur antirömischen Sodomiepolitik Luthers: Die Rhetorik der Sodomie in den Schriften Martin Luthers und in der Reformationspolemik, in: Gisela Engel (Hg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 2002, S. 328-342. Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit. Relevanz - Formen - Kontexte, in: Hartmut Laufhütte/ ders. (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, S. 5-118, hier S. 25 konstatiert, dass das zeitgenössisch geläufige ‚Diffamierungsmodell für Abweichungen‘ die postulierte Verletzung von Sexualnormen einschloss. Einer der Ausgangspunkte in Susanna Burghartz‘ Studie zur Neuordnung der Sexualmoral und Ehegerichtsbarkeit in Basel im 16. und 17. Jahrhundert waren Neubewertungen im theologischen Reinheitsdiskurs, in dessen reformierter Version nicht länger der Zölibat sondern die Ehe zum Ort der Reinheit erklärt und hiervon abweichende Sexualpraktiken für unrein erklärt und kriminalisiert wurden; Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn u.a. 1999. 40 Vgl. aber exemplarisch folgende Studien: Bettina Günther: Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen der Reichsstädte Frankfurt a.M. und Nürnberg (15.-17. Jahrhundert), in: Härter: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 121-148, hier bes. S. 142ff. Herman Roodenburg: Onder censuur. De kerkelijke tucht in de gereformeerde gemeente van Amsterdam, 1578-1700, Hilversum 1990. Roodenburg untersucht neben Sexualdelikten, Trunkenheit, Injurien und Bettelei auch den Umgang mit Täufern in der reformierten Gemeinde Amsterdams. Wir danken Eric Piltz für den Hinweis auf diese Studie. 41 Vgl. Gerd Schwerhoff: Alteuropa - ein unverzichtbarer Anachronismus, in: Christian Jaser u.a. (Hg.): Alteuropa - Vormoderne - Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200-1800), Berlin 2012, S. 27-45. <?page no="19"?> 20 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff gen des 12. und 13. Jahrhunderts kaum mehr ein Thema. Abgesehen vielleicht vom regional begrenzten Phänomen der böhmischen Utraquisten, das insofern spannend ist, als sich in Böhmen erstmals eine Form der Tolerierung aufgrund machtpolitischer Eingeständnisse durch die weltliche Obrigkeit durchsetzte. 42 Nimmt man dessen ungeachtet jedoch noch die großflächigen Vertreibungen der Juden 43 aus den meisten mitteleuropäischen Städten hinzu, dann bestand in den vorreformatorischen Städten ein hohes Maß an religiöser Uniformität. Und wo, wie bspw. in der vorderösterreichischen Landstadt Freiburg im Breisgau, eine entschiedene antireformatorische Politik des Landesherrn und die Interessen des Stadtrats zur Wahrung einer fragilen Machtbalance in der Stadt zusammenfanden, blieb diese Uniformität ungeachtet der Umwälzungen in naher Umgebung auch bestehen. 44 Überraschenderweise wurde ausdrücklicher Unglauben, der über situative Gotteslästerung hinausging, in den spätmittelalterlichen städtischen Verordnungen entweder überhaupt nicht thematisiert oder beschränkte sich auf Einzelfälle. 45 Mit der Reformation und der nachfolgenden Etablierung verschiedener Hauptrichtungen christlicher Bekenntnisse veränderte sich das grundlegend, manche Autoren haben in der Zeit zwischen 1520 und 1565 sogar eine Hochzeit der katholischen Häretikerverfolgung ausgemacht. 46 Wie auch immer, faktisch jedenfalls war der Alleinvertretungsanspruch der römisch-katholischen ‚Orthodoxie‘ mit der Reformation gebrochen, wobei aus Sicht der Papstkirche natürlich alle Glaubensabweichung Häresie blieb. 47 Und wenngleich die anderen christ- 42 Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen religiösem Einheitsanspruch und Gemeinwohlorientierung in Böhmen Winfried Eberhard: Das Problem der Toleranz und die Entwicklung der hussitisch-katholischen Koexistenz im 15. Jahrhundert, in: Franz Machilek (Hg.): Die Hussitische Revolution. Religiöse, politische und regionale Aspekte, Köln 2012, S. 93-105, bes. S. 100ff.; zum machtpolitischen Pragmatismus der konzedierten Tolerierung der Utraquisten Jaroslav Pánek: The question of tolerance in Bohemia and Moravia in the age of the Reformation, in: Ole Peter Grell/ Bob Scribner (Hg.): Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996, S. 231-248. 43 Markus Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien 1981. 44 Horst Buszello/ Dieter Mertens/ Tom Scott: ‚Lutherey, Ketzerey, Uffruhr‘. Die Stadt zwischen Reformation, Bauernkrieg und katholischer Reform, in: Heiko Haumann/ Hans Schadeck (Hg.): Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 2, Vom Bauernkrieg bis zum Ende der habsburgischen Herrschaft, Stuttgart 1994, S. 13-65, hier insbesondere S. 35-37. 45 Schwerhoff: Zungen wie Schwerter (wie Anm. 28), S. 289ff.; jetzt vor allem Dorothea Weltecke: ‚Der Narr spricht: Es ist kein Gott‘. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt a.M. 2010. 46 William Monter: Heresy executions in Reformation Europe, 1520-1565, in: Grell/ Scribner (Hg.): Tolerance and Intolerance (wie Anm. 42), S. 48-64. 47 Insofern folgerichtig auch lakonisch knapp die Häresie-Artikel im Lexikon für Theologie und Kirche: v.a. Wolfgang Beinert: Häresie II (Historisch-theologisch) und III (Systematischtheologisch), in: LThK 4, Sp. 1190-1192 sowie Heribert Heinemann: Häresie IV (Kirchenrechtlich), in: LThK 4, Sp. 1192f. Vgl. für eine Praxis der sehr weiten Adaption des <?page no="20"?> 21 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften lichen Denominationen ihren selbstverständlichen Alleinvertretungsanspruch zunächst weniger dogmatisch fundieren konnten, so vertraten sie ihn doch oft ebenso und sanktionierten abweichende Bekenntnisse mitunter scharf. 48 Dies vor allem dann, wenn sie wie die Täufer oder die Antitrinitarier tradierte und konfessionsübergreifend gültige theologische Dogmen und mithin grundlegende Ordnungsvorstellungen bezweifelten. Das zeigt sich später auch noch in der auch ältere Positionen zusammenfassenden Diskussion der strafrechtlichen Sanktionierung von Häresie bei Benedict Carpzov. 49 Bekanntlich gab es verschiedene Abstufungen im Umgang mit anderen Konfessionen. Aus dem zunächst provisorischen, im Alten Reich spätestens seit 1555 aber rechtlich dauerhaft abgesicherten Status quo zwischen Katholiken und Lutheranern waren die Reformierten vorerst ausgeschlossen. Dabei blieb die Dominanz einer Bekenntnisrichtung der Normalfall, nur in einer Minderzahl von Städten gab es eine festgeschriebene, zumindest der Idee nach paritätische, Bikonfessionalität - das paradigmatisch und wiederkehrend behandelte Beispiel ist Augsburg. 50 Unterhalb dieser sehr groben Beschreibung existierten die ver- Häresiebegriffs in der Vormoderne sowie zur Zunahme von Gewalt gegenüber den eretici exemplarisch John Jeffries Martin: Venice’s hidden enemies. Italian heretics in a Renaissance city, Berkeley 1991. 48 Dazu demnächst ausführlicher in Piltz/ Schwerhoff: Religiöse Devianz (wie Anm 1). 49 Benedict Carpzov: Practica Nova Imperialis Saxonica Rerum Criminalium […], Wittenberg 1635, P. I, Qu. XLIV. Spätere Entwürfe einer Neukonzeptionierung des Umgangs mit Häretikern, die etwa wie bei Christian Thomasius darauf abzielten, dass die Fürsten Häretiker um der Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens willen nicht verfolgen sollten, es sei denn die Glaubensabweichler störten ihrerseits diesen öffentlichen Frieden, waren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht denkbar und blieben auch später eine nicht konsensfähige Ausnahme; Ian Hunter: The Secularisation of the Confessional State. The Political Thought of Christian Thomasius, Cambridge 2007, S. 138-167. 50 Klassisch Etienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg, Sigmaringen 1991. Ferner C. Scott Dixon: Urban Order and Religious Coexistence in the German Imperial City. Augsburg and Donauwörth, 1548-1608, in: Central European History 40 (2007), S. 1-33; Emily Fisher Gray: ‚Liebe deinen Nächsten‘. Konfessionelle Feindseligkeiten und Zusammenarbeit während der Reformation in Augsburg, in: Sandra Evans/ Schamma Schahadat (Hg.): Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform, Bielefeld 2011, S. 123-139; dies.: Good Neighbors. Architecture and Confession in Augsburg's Lutheran Church of Holy Cross, 1525-1661 (Ph.D. University of Pensylvania 2004); zur frühen Reformation Michele Zelinsky Hanson: Religious Identity in an Early Modern Community, Augsburg, 1517 to 1555, Leiden/ Boston 2009. Für Augsburg im konfessionellen Zeitalter auch Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 2. Bde., Göttingen 1989. Vgl. grundsätzlich auch Paul Warmbrunn: Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Protestanten und Katholiken in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl 1548-1648, Wiesbaden 1983; Peter Zschunke: Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1984. Daneben existieren aber auch Studien zur Nutzung von Simultankirchen, etwa im gemischtkonfessionellen Bischofszell: Frauke Volkland: <?page no="21"?> 22 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff schiedensten Konstellationen von Mehrheits- und Minderheitskonfessionen, wobei ein steter Wandel diese Konstellationen änderte. Dramatischer noch stand es um jene voluntaristischen Glaubensgemeinschaften („Sekten“) 51 und Gruppen, die - mit Blick auf das Alte Reich 52 - nicht unter dem Schutz der Augsburger Bestimmungen standen, sondern vielmehr z.T. von nachhaltiger Kriminalisierung betroffen waren: Antitrinitarier/ Sozinianer, 53 Täufer, 54 Schwenckfeldianer und andere sogenannte ‚Schwärmer‘; 55 später dann auch Deisten und Naturalisten. 56 Hier reichte der Umgang, soweit man es aus der bisherigen Forschung sehen kann, von der heimlichen Duldung bis zur Hinrichtung. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, um langfristige Veränderungen kurz anzudeuten, vollzog sich dann ein steter Wandel. An dessen Ende verlor die von George Minois als „Verwirrung des religiösen Denkens“ 57 beschriebe- Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert, Göttingen 2005. Nur sehr randständig werden in der Forschung überdies Stadtneugründungen wie Frankenthal in der Pfalz, Neu-Hanau, Altona und Glückstadt behandelt, die sich durch eine aus wirtschaftlichen Gründen pragmatische Tolerierungspolitik seitens der weltlichen(! ) Obrigkeiten auszeichneten; hierzu knapp Ole Peter Grell: Introduction, in: ders./ Scribner: Tolerance and Intolerance (wie Anm. 42), S. 1-12, hierzu S. 8. 51 Im Sinne von Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 5 1980, S. 29f. und Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1922, S. 362 verstanden als voluntaristische Glaubensgemeinschaften. 52 Blickt man über das Alte Reich hinaus, wird eine Vielzahl weiterer vergleichbarer Phänomene sichtbar, von denen hier aufgrund der zeitlichen Nähe lediglich auf die Auseinandersetzung der Puritaner in Neu-England mit den sogenannten Antinomianern (Anne Hutchinson) hinzuweisen ist, die in der neueren Forschung intensiv erforscht worden sind; Diskussion neuerer Studien in Tim Cooper: Reassessing the Radicals, in: The Historical Journal 50, 1 (2007), S. 241-252. Vgl. zur Diskussion über die ‚radikale Reformation‘ im Alten Reich den Beitrag von Franziska Neumann in diesem Band. 53 Robert Dán/ Antal Pirnát (Hg.): Antitrinitarism in the Second Half of the 16 th Century, Budapest 1982; Martin Mulsow/ Jan Rohls (Hg.): Socinianism and Arminianism. Antitrinitarians, Calvinists and Cultural Exchange in Seventeenth-Century Europe, Leiden 2005. 54 Allgemein Astrid von Schlachta: Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation, Göttingen 2009; Päivi Räisänen: Ketzer im Dorf. Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg, Konstanz 2011; speziell zur städtischen Situation am Beispiel der Reichsstadt Köln Mathilde Monge: Überleben durch Vernetzung. Die täuferischen Gruppen in Köln und am Niederrhein im 16. Jahrhundert, in: Anselm Schubert/ Astrid von Schlachta/ Michael Driedger (Hg.): Die Grenzen des Täufertums - Boundaries of Anabaptism, Gütersloh 2009, S. 214-321. 55 Zum altprotestantischen Schwärmerdiskurs siehe Thomas Kaufmann: Nahe Fremde - Aspekte der Wahrnehmung der ‚Schwärmer‘ im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.): Transkonfessionalität - Interkonfessionalität - binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003, S. 179-241. 56 Zu Letzteren und unter Einbeziehung der frömmigkeitsgeschichtlichen Wirkungen des Pietismus Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne, Erster Halbband, Deutschland und Europa 1618-1715, München 2010, S. 221-278. 57 In Anlehnung an George Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Weimar 2000, S. 201. <?page no="22"?> 23 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften ne faktische Vielfalt und Zersplitterung des Glaubens zunehmend an Brisanz. Die Entstehung einer historisch-kritischen Bibelkritik, 58 politische Vernunftargumente, Verschiebungen ökonomischer Macht, neue Kosmologien und die Philosophie (als Summe der natürlichen Erkenntnis) als nun „vorherrschende[s] diskursive[s] ‚Zentralgebiet‘ der gebildeten Schichten“ leiteten eine neue Epoche ein, die Heinz Dieter Kittsteiner prägnant als ‚Stabilitätsmoderne‘ bezeichnet hat. 59 Stabilisierung und Stabilität sollten allerdings nicht zu der Annahme verleiten, dass Dissens in Glaubensfragen nun keine Rolle mehr spielte - ganz im Gegenteil: Konflikte flammten immer wieder auf, 60 auch zwischen Dissentern. 61 Und wendet man den Blick einmal von West- und Mitteleuropa in Richtung Osten, erkennt man, dass in Russland religiöser Dissens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal überhaupt virulent wurde. 62 Ob nun, um zur Geschichte religiöser Devianz in alteuropäischen Städten zurückzukehren, überhaupt noch, wie in der Forschung häufiger zu lesen ist, die Annahme vertreten werden sollte, protestantische Städte wären grundlegend toleranter gewesen als katholische, ist aufgrund einer problematischen Verallgemeinerung konfessionspolemischer Abgrenzungsdiskurse und mangels präziser konfessionsübergreifender Vergleiche ohnehin zu bezweifeln. 63 Vielmehr ist auch 58 Hierzu bereits ausführlich Klaus Scholder: Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der historisch-kritischen Theologie, München 1966. Scholder weist deutlich auf die zeitlichen Verschiebungen dieses Wandels in den einzelnen europäischen Ländern hin, das gilt v.a. für die Verzögerung der Nachhutgefechte der altprotestantischen Orthodoxie im Alten Reich. 59 Kittsteiner: Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 56), zu den Epochengrenzen S. 291-297. 60 Statt vieler Mathis Leibetseder: Die Hostie im Hals. Eine ‚schröckliche Bluttat‘ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726, Konstanz 2009; sowie die Beiträge in Ulrich Rosseaux/ Gerhard Poppe (Hg.): Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Münster 2012. 61 Exemplarisch Douglas G. Greene: Muggletonians and Quakers. A Study in the Interaction of Seventeenth-Century Dissent, in: Albion. A Quarterly Journal Concerned with British Studies 15, 2 (1983), S. 102-122. 62 Georg Bernhard Michels: At War with the Church. Religious Dissent in Seventeenth- Century Russia, Stanford 1999. 63 Dagegen aber unter Verweis auf die Beispiele Basel und Straßburg Grell: Introduction (wie Anm. 42), S. 1-12, hier S. 12. Der Kontrast zum nominell katholischen, jedoch faktischen Multikonfessionsstaats Polen-Litauen macht deutlich, welchen entscheidenden Einfluss nicht die Konfession an sich, sondern die Machtposition der offiziell dominierenden Konfession auf den Umgang mit ‚den Anderen‘ hatte. Wie Magda Teter gezeigt hat, war die Position der katholischen Kirche überaus schwach. Katholiken bildeten in manchen Gegenden sogar nur eine Minderheit, katholische Priester sahen sich in einer defensiven Position vor allem gegenüber den vielen ansässigen Juden und Protestanten, deren Existenz sie wiederum als Schwäche der eigenen Kirche interpretierten; Magda Teter: Jews and Heretics in Catholic Poland. A Beleaguered Church in the Post-Reformation Era, Cambridge 2006. Derartige Befunde lassen im Übrigen auch Gorskis allgemein gehaltene Einschätzung fragwürdig erscheinen, religiöser Dissens wäre bis weit ins 17. Jahrhundert nur jenseits des öffentlichen Raums (über-)lebbar gewesen, auf den und auf dessen Ausgestaltung in der Regel vom dominierenden Glaubensbekenntnis ein Mo- <?page no="23"?> 24 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff hier verstärkt nach Mustern zu fragen, die Städte unterschiedlicher Konfessionen auszeichneten; Eric Piltz‘ Beitrag in diesem Band verdeutlicht die übergreifend anzunehmende Komplexität dieses Forschungsgegenstands exemplarisch an der nominell katholischen Stadt Antwerpen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass sich nicht nur in der Person Luthers seit Mitte der 1520er Jahre, sondern auch in den deutschen Städten und Territorien, die der Reformation folgten, seit den 1530er Jahren zeigt, dass vom Standpunkt einer gefestigteren machtpolitischen Position aus wesentlich rigider mit Nonkonformität umgegangen wurde - im Zentrum der Auseinandersetzungen stand dabei auch ganz grundsätzlich die Frage nach den Befugnissen weltlicher Obrigkeiten in Glaubensfragen. 64 Vor dem Hintergrund der hier lediglich angedeuteten zahlreichen Bruchstellen mochte dann selbstverständlich auch der Umgang christlicher Gesellschaften mit nicht-christlichen Individuen und Gemeinschaften eine neue Brisanz entfalten, auch wenn in den Städten des Reiches nur noch wenige Judengemeinden existierten. 65 Zumindest auf der Diskursebene waren die Juden als Erscheinungsform religiöser Devianz äußerst präsent, wobei die Verwandtschaft der abrahamitischen Religionen dazu führte, dass die Abweichung nicht allein in der Tatsache gesehen wurde, nicht christlich zu sein, sondern dass dem Judentum bzw. seinen heiligen Schriften häretische und blasphemische Eigenschaften zugeschrieben wurden. 66 nopolanspruch erhoben wurde; Philip S. Gorski: Was the Confessional Era a Secular Age? , in: Karl Gabriel/ Christel Gärtner/ Detlef Pollack (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, S. 189-224, hier S. 206. 64 Das zeigt sich exemplarisch an einer prominenten 1530 in Nürnberg abgehaltenen Kontroverse über die Frage, ob weltliche Obrigkeiten das Recht hätten, in Glaubensfragen das Schwert zu führen. Die Debatte ist (allerdings in englischer Übersetzung) ediert in James M. Estes (Hg.): Whether the Secular Government has the Right to Wield the Sword in Matters of Faith. A Controversy, Toronto 1994, sowie jetzt auch auf der Homepage des DHI Washington unter: www.germanhistorydocs.ghi-dc.org, zuletzt abgerufen am 8. Januar 2013. 65 Ronnie Po-chia Hsia: Jewish Minorities in German Towns, 1450-1650, in: Hugo Soly/ Alfons K. L. Thijs (Hg.): Minderheden in Westeuropese steden (16de-20ste eeuw) - Minorities in Western European Cities (sixteenth-twentieth centuries), Brüssel u.a. 1995, S. 157-171. Exemplarisch zum konflikthaften Verhältnis von Christen und Juden sowie für weitere Literatur Barbara Staudinger: Grenzüberschreitungen im Alltag. Das Protokoll der Friedberger Juden aus dem Jahr 1629, in: Frühneuzeit-Info 22, 1-2 (2011), S. 33-44. Zur in der Frühen Neuzeit gleichwohl sehr unterschiedlichen Lebenswirklichkeit von Juden insbesondere im Alten Reich siehe den Überblick und die Diskussion neuerer deutsch- und englischsprachiger Forschungen in Maria Diemling: Jewish-Christian Relations in Early Modern Germany - A Review, in: European Association of Jewish Studies Newsletter 16 (2005), S. 34-47. 66 Vgl. Norbert Schnitzler: Von Bilderfeinden zu Glaubensfeinden. Zur Funktion eines antijüdischen Stereotyps in christlich-jüdischen Konflikten des Mittelalters, in: Juliette Guilbaud/ Nicolas Le Moigne/ Thomas Lüttenberg (Hg.): Normes culturelles et construction de la déviance. Accusations et procès antijudaïques et antisémites à l’époque moderne et contemporaine. Actes des journées d’études organisées à Paris, les 6 et 7 juin 2003, Genf 2004, S. 27-48; Gerd Schwerhoff: Blasphemie zwischen antijüdischem Stigma und kultureller Praxis. Zum Vorwurf der Gotteslästerung gegen die Juden in Mittelalter und beginnender Frühneuzeit, in: Aschkenas 10 (2000), S. 117-155; zu antjüdischen Stereotypen und zum Aspekt, dass Juden als ‚Symbole <?page no="24"?> 25 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften Und ein fiktives jüdisches ‚Verbrechen‘ wie der Ritualmord lebte von seiner antichristlichen Symbolik. Im Zuge der militärischen Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich konnte auch die Präsenz weniger Muslime im Alten Reich Wellen schlagen 67 bzw. den Umgang der christlichen Konfessionen miteinander beeinflussen, wenn etwa in Ungarn die militärische Bedrohung durch das Osmanische Reich die Verfolgung von Protestanten erschwerte. 68 Mithin sahen sich die frühneuzeitlichen Städte mit einer neuen Qualität von je nach Perspektive religiösem Eigensinn 69 oder religiöser Abweichung bedroht. und Agenten‘ des göttlichen Zorns betrachtet wurden, Dean Phillip Bell: The Little Ice Age and the Jews. Environmental History and the Mercurial Nature of Jewish-Christian Relations in Early Modern Germany, in: AJS Review 32, 1 (2008), S. 1-27. Zu Juden im Justizsystem vorrangig am Beispiel Frankfurts am Main Maria Boes: Jews in the Criminal-Justice System of Early Modern Germany, in: The Journal of Interdisciplinary History 30, 3 (1999), S. 407-435. Boes zeigt u.a., dass antijüdische Tendenzen zunehmend unter Indienstnahme des Gerichtswegs ‚reguliert‘ wurden. Übergreifend die Beiträge in Andreas Gotzmann/ Stephan Wendehorst (Hg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007. 67 Vgl. die Beiträge in Jocelyne Dakhlia/ Bernard Vincent (Hg.): Les musulmans dans l'histoire de l'Europe. I. Une intégration invisible, Paris 2011; ferner Gerdien Jonker: Kalender, Polemiken, Geschichtsbücher. Die Verankerung islamfeindlicher Bilder im Zeitalter der Reformation, in: ZfG 58, 7-8 (2010), S. 614-626; Markus Friedrich: ‚Türken‘ im Alten Reich. Zur Aufnahme und Konversion von Muslimen im deutschen Sprachraum (16.-18. Jahrhundert), in: HZ 294 (2012), S. 329-360; Manja Quakatz: ‚Gebürtig aus der Türckey‘. Zu Konversion und Zwangstaufe osmanischer Muslime im Alten Reich um 1700, in: Barbara Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei im achtzehnten Jahrhundert - Europe and Turkey in the Eighteenth Century, Göttingen 2011, S. 417-430. Zum Verhältnis ‚des Islams‘ und Europas im Überblick auch Kittsteiner: Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 56), S. 300-318. Einen sehr guten Überblick über die gesamte religiöse Landkarte Europas bietet Wolfgang Kaiser (Hg.): L‘ Europe en conflits. Les affrontements religieux et la genèse de l'Europe moderne, vers 1500 - vers 1650, Rennes 2008. 68 Katalin Péter: Tolerance and Intolerance in Sixteenth-Century Hungary, in: Grell/ Scribner: Tolerance and Intolerance (wie Anm. 42), S. 249-261. 69 Dieser Eigensinn konnte sich durchaus auch in mehrdeutigen künstlerisch-ironischen Verkehrungen äußerlich scheinbarer ‚Wahrheiten‘ der christlichen Botschaft oder in einer künstlerischen Kritik an der Gottesferne der Menschenwelt äußern. Da insbesondere ein wohlhabendes städtisches Publikum zum Adressatenkreis dieser Kunstformen zählte, wären an sich auch entsprechende Bildformen für die Analyse der Erscheinungsweisen religiösen Eigensinns in frühneuzeitlichen Städten heranzuziehen. Hierzu am Beispiel Pieter Bruegels d.Ä. und Antwerpens Bertram Kaschek: Weltzeit und Endzeit. Die ‚Monatsbilder‘ Pieter Bruegels d.Ä., München 2012. Kaschek arbeitet ein spiritualistisch und mystisch beeinflusstes eschatologisches Programm in den Bruegelschen Monatsbildern heraus, das sich in kritischen Kontrast zur althergebrachten Vorstellung des Jüngsten Gerichts stellt; ferner Jürgen Müller: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä., München 1999. Am Beispiel der Brüder Beham in Nürnberg, die dort 1525 wegen gotteslästerlicher Reden angeklagt wurden, konnte jüngst ebenso gezeigt werden, wie spiritualistisches Denken antikonfessionelle Motive bediente, die zugleich durch eine subversive Bildsprache verschlüsselt wurden; Jürgen Müller/ Thomas Schauerte (Hg.): Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder, Emsdetten 2011. Zum Prozess gegen die Brüder Beham Gerd Schwerhoff: Wie gottlos waren die ‚Gottlosen <?page no="25"?> 26 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Vom Ideal einer einheitlichen, christlich ausgerichteten städtischen Heilsgemeinschaft war man - so eine nicht nur in den Städten, sondern auch in den Territorien verbreitete Wahrnehmung - weiter entfernt denn je. Von daher ist es verständlich, dass manche obrigkeitlichen Verordnungen den Eindruck erweckten, als sähen sich die städtischen Gesellschaften geradezu von einer Offensive der Gottlosigkeit überrannt. Dieser Begriff der Gottlosigkeit ist der Ausgangspunkt der Untersuchungen des Dresdner Forschungsprojekts, 70 welches den hier versammelten Beiträgen zugrunde liegt. Unter dem bewusst zuspitzenden Sammelbegriff, dessen zeitgenössischer Begriffshorizont im Rahmen eines weiteren Projektbandes ausgeleuchtet wird, 71 ist nicht einfach ein Mangel an Gottesglaube (das überhaupt nur in Ausnahmefällen) zu verstehen. Vielmehr dient er als ‚Abbreviatur für ein Leben ohne oder gar gegen Gott‘, dessen Existenz aber stets Bezugspunkt bleibt; 72 ein aus Sicht von Obrigkeiten und Normen gottloses Leben also, das in unterschiedlicher Intensität und Dramatik einen Ehebrecher ebenso auszeichnete wie einen ‚freventlichen Selbstmörder‘, einen notorischen Flucher ebenso wie einen Glaubensabweichler oder einen Angehörigen der ‚falschen‘ Konfession. Die Sammelbezeichnungen gottlos/ Gottlosigkeit sollen aber keineswegs die dramatischen Unterschiede bei der Behandlung der verschiedenen Formen von Devianz einebnen. Im Gegenteil ist es ein Anliegen des Dresdner Forschungsprojekts und insbesondere dieses Bandes, einen differenzierten Zugang zum Ordnungsgefüge der städtischen Gesellschaften und ihren religiösen Abweichungen zu finden. Welche Formen von Devianz, so ist zu fragen, wurden mit welchen Argumenten diffamiert, kriminalisiert, stigmatisiert und sanktioniert? 73 Wie ist das Verhältnis von konfessioneller Abweichung zu allgemein und vielleicht konfessionsübergreifend als unchristlich verstandenen Verhaltensweisen? Wurden letztere hinsichtlich der Praktiken des Sprechens über Gottlosigkeit bisweilen benutzt, um den konfessionellen Gegner (unter Bezug auf soziale Normen) zu diffamieren Maler‘ ? Zur Rekonstruktion des Verfahrens von 1525 und seiner Hintergründe [mit einer Aktenedition], in: ebd., S. 33-48. Darüber hinaus finden sich auch Beispiele in der Kunst, in denen mutmaßlich mittelalterliche Häresien fortgelebt haben könnten, und so wiederum Einfluss auf das Denken von Menschen nehmen konnten; vgl. exemplarisch am prominenten Beispiel Hieronymus Boschs, wenngleich umstritten, Lynda Harris: The Secret Heresy of Hieronymus Bosch, Edinburgh 2002 [zuerst 1995]. 70 Vgl. zu diesem die in Anm. 1 angegebene Literatur. 71 Piltz/ Schwerhoff: Religiöse Devianz (wie Anm 1). 72 Im Anschluss an Francisca Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002, S. 460-469. 73 Zur Unterscheidung von Diffamierung und Kriminalisierung vgl. Andreas Würgler: Diffamierung und Kriminalisierung von ‚Devianz‘ in frühneuzeitlichen Konflikten. Für einen Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 317-347, hier S. 320f. <?page no="26"?> 27 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften oder (unter Bezug auf rechtliche Normen) zu kriminalisieren? Oder zeichnet sich unter Umständen sogar ein Feld überkonfessioneller Gemeinsamkeiten ab? Um diese und weitere Fragen beantworten zu können, ist der Begriff der Devianz zu operationalisieren. In der Forschungsperspektive des Dresdner Projekts und der hier versammelten Beiträge wird von den Zentren der jeweiligen Stadtgesellschaft her angesetzt, denn ‚Abweichung‘ bezeichnet keine Wirklichkeit sui generis, sondern ist nur relativ zu den herrschenden Normen und zur jeweiligen sozialen und rechtlichen Praxis zu bestimmen. Im Einzelnen ist dabei nachzuvollziehen, wie Verhaltensweisen vom System sozialer Kontrolle als ‚deviant‘ etikettiert wurden. 74 Zu diesem Gefüge sozialer Kontrollagenturen gehörten verschiedene Akteure (städtische wie landesherrliche Obrigkeiten ebenso wie Korporationen und Zünfte, Kirchgemeinden, Nachbarschaften und Familienverbände, schließlich besonders profilierte Einzelpersonen wie Geistliche oder Juristen) mit ihren z.T. dramatisch unterschiedlichen Machtressourcen. Hinzu trat ein Geflecht aus von ihnen produzierten und vertretenen, durchaus oft konkurrierenden Normen formell-schriftlicher wie informeller Natur sowie Ausprägungen von sich teils ergänzenden, teils überlagernden, partiell aber auch konfligierenden Instanzen der weltlichen wie kirchlichen Gerichtsbarkeit. Die Zuschreibung religiöser Devianz kann als ein Ergebnis vielfältiger Interaktions- und Kommunikationsprozesse innerhalb dieses institutionellen Gefüges verstanden werden. Anzeige- und Ausgrenzungsverhalten konnte dabei sprachliche Diffamierung und symbolische Stigmatisierung beinhalten und bis zur konsequenten Marginalisierung oder gar Kriminalisierung der Betroffenen reichen. Umgekehrt lassen sich aber auch immer wieder Strategien der Entdramatisierung und das Bemühen um soziale Integration beobachten. III. Devianz als Zuschreibungsphänomen - der labeling approach Die zentrale methodologische Perspektive zur Erforschung von Devianz im Dresdner Forschungsprojekt ist der (kriminal-)soziologische labeling approach. Als dessen Gravitationszentrum kann die Idee gelten, dass Abweichung nicht isoliert von sozialen Sinnzuschreibungen betrachtet werden kann. Ein bestimmtes Verhalten wird erst durch soziale Reaktionen mit Bedeutungen aufgeladen und gegebenenfalls als ‚abweichend‘ klassifiziert. 75 In der Kriminalitätsgeschichte 74 Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a.M./ New York 2011, S. 9-13. 75 David Downes/ Paul Rock: Social Reaction to Deviance and Its Effects on Crime and Criminal Careers, in: The British Journal of Sociology 22, 4 (1971), S. 351-364, hierzu S. 362 Siehe auch Ken Plummer: The Labelling Perspectivity Forty Years On, in: Helge Peters/ Michael Dellwing (Hg.): Langweiliges Verbrechen. Warum KriminologInnen den Umgang mit Kriminalität interessanter finden als Kriminalität, Wiesbaden 2011, S. 83-101. <?page no="27"?> 28 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff gehört der labeling approach zum selbstverständlichen, allerdings nicht unbedingt häufig explizierten methodischen Inventar, z.B. um historische Varianzen und Entwicklungen bzw. sprachliche und soziale Grenzmarkierungen zu erfassen. 76 In Bezug auf frühneuzeitliche (Stadt-)Gesellschaften sowie auf das Feld der religiösen Devianz finden sich dagegen weniger Referenzen. 77 Dabei könnte diese Perspektive gerade hier, wo Konkurrenzen und Überlagerungen von Zuschreibungen besonders stark zu sein scheinen, ihre besonderen Stärken entfalten. Eine kurze Reflexion dieses Konzepts erscheint deshalb an dieser Stelle unumgänglich. „The deviant is one to whom that label has succesfully been applied; deviant behavior is behavior that people so label.“ 78 Mit diesen lakonischen Worten formulierte der amerikanische Soziologe Howard S. Becker 1963 eine der wohl prägnantesten Kernaussagen der modernen Devianzsoziologie in Gestalt des labeling approach. Diesem Ansatz zufolge kann Kriminalität sozialwissenschaftlich nur als Interaktions- und Zuschreibungsprozess verstanden werden, der in der Vergabe des Etiketts ‚abweichend‘ oder gar ‚kriminell‘ an bestimmte Menschen und/ oder Instanzen mündet. Damit trug er entscheidend zur Befreiung der Kriminalsoziologie aus der babylonischen Gefangenschaft ihrer positivistisch-täterzentrierten Traditionen bei. 79 Der Blick wurde frei für die Relevanz gesellschaftlicher Normen und für die Bedeutung sozialer Kontrollagenturen. 80 Hier konnte und kann die Geschichtswissenschaft anknüpfen. Die Kritik, die der Etikettierungsansatz von Beginn an auf sich zog, stellt seine Inspirationskraft nicht grundsätzlich infrage, ist aber im Sinne der analytischen Schärfung durchaus aufschlussreich. 81 Kritisiert wurde auf der einen Seite eine Verabsolutierung der labeling-Perspektive, die einer Berücksichtigung individu- 76 So zuletzt, wenngleich ohne Diskussion der konzeptionellen Implikationen des labeling approach, Paul Griffiths: Lost Londons. Change, Crime, and Control in the Capital City, 1550-1660, Cambridge 2008, S. 137-209. Insgesamt Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 74), S. 35-39. 77 Nur knapp umrissen bspw. in Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649-1785, Stuttgart 1996, S. 16. Schmidt kritisiert in erster Linie, dass die Etikettierungsperspektive nichts zur Klärung der Ursachen sozial unerwünschten Verhaltens beitragen würde. 78 Howard S. Becker: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York/ London 1963, S. 9. 79 Resümierend Fritz Sack: Kritische Kriminologie, in: Günther Kaiser u.a. (Hg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 3 1993, S. 277-286. 80 Vgl. zu Konzepten der sozialen Kontrolle die Beiträge in Roberto Bergalli/ Colin Sumner (Hg.): Social Control and Political Order. European Perspectives at the End of the Century, London 1997; Martin Dinges: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503-544, hier S. 508f. definiert soziale Kontrolle als „alle Arten, in denen Personen abweichendes Verhalten definieren und darauf durch eine Maßnahme reagieren“. 81 Douglas Raybeck: Anthropology and Labeling Theory. A Constructive Critique, in: Ethos 16,4 (1988), S. 371-397. <?page no="28"?> 29 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften eller Handlungsmotive keinen Raum mehr gebe und die im Extrem dazu führe, dass der Abweichler nur als passives Objekt, als ‚Reaktionsdepp‘ konzipiert werde. 82 Umgekehrt wurde dem Ansatz häufig der Vorwurf gemacht, sich zu sehr auf die situativen Zuschreibungsprozesse zu konzentrieren und strukturelle Aspekte wie Herrschaftsverhältnisse oder soziale Ungleichheit zu vernachlässigen. Auf die deutschsprachige Variante der kritischen Kriminologie traf dies allerdings insofern kaum zu, als sich hier der Etikettierungsansatz dominant mit einer linksemanzipatorischen Wissenschaftsströmung verband. Diese hob zentral auf die Definitionsmacht öffentlicher Institutionen ab und erblickte in der Definierung von abweichendem Verhalten in der Regel den Ausdruck objektiver gesellschaftlicher Machtverhältnisse. 83 Lange habe man den labeling approach, so Michael Dellwing, vornehmlich als „Befreiungswissenschaft der Unterdrückten“ gesehen und verband ihn mit einer entschlossenen „Parteinahme für den underdog“. 84 Mit der gegenwärtig andauernden Krise dieser Spielart der kritischen Kriminologie rückte auch der Etikettierungsansatz in den Hintergrund. Neuerdings wird eine Renaissance des Konzepts im Vorzeichen einer Rückkehr zu seinen pragmatisch-interaktionistischen Wurzeln diskutiert. Dabei plädiert Dellwing für eine Entideologisierung durch den Verzicht darauf, verschiedenen Akteuren oder Institutionen so etwas wie einen objektiven Wahrheitsstatus wiederum ‚zuzuschreiben‘; vielmehr sollte das Gefüge ambiger und ambivalenter Zuschreibungen selbst zum Gegenstand der Analyse erhoben werden. Daraus folgt auch, dass Normen ebenso wenig als gleichsam naturalisierte Tatsachen zu verstehen sind wie Normbrüche. Dies ist eine Einsicht, die bei Becker und anderen Vertretern des labeling approach nicht immer ganz eindeutig formuliert ist. 85 Allerdings sah auch Becker, dass Normen Gegenstand von Konflikten und Aushandlungsprozessen sind. Er nahm aber auch an, dass es regelverletzendes Verhalten mitunter als objektiven Sachverhalt geben könne, ohne dass dies entweder wahrgenommen oder darauf reagiert würde. Er nannte dies ‚verborgene (heimliche) Verhaltensabweichung‘. 86 Jenseits von erkenntnistheoretisch inspirierten Debatten über objektivistische Reste des labeling approach scheint dies eine interessante Kategorie zu sein, deren heuristischer Wert für historische Forschungen sich etwa bei der Analyse von Fällen wie dem des Täufers David Joris 82 So die klassische Formulierung von Trutz von Trotha: Ethnomethodologie und abweichendes Verhalten. Anmerkungen zum Konzept des ‚Reaktionsdeppen‘, in: Kriminologisches Journal 9 (1977), S. 98-115. 83 Michael Dellwing: Das Label und die Macht. Der Labeling Approach vom Pragmatismus zur Gesellschaftskritik und zurück, in: Kriminologisches Journal 41, 3 (2009), S. 162-178, hier S. 168f. 84 Michael Dellwing: Reste. Die Befreiung des Labeling Approach von der Befreiung, in: Kriminologisches Journal 40, 3 (2008), S. 162-178, hier S. 163 und 168 (kursiv i. O.). 85 „In short, whether a given act is deviant or not depends in part on the nature of the act (that is, whether or not it violates some rule) and in part on what other people do about it.“; Becker: Outsiders (wie Anm. 78), S. 14. 86 Ebd., S. 20: „secret deviance“ (kursiv i.O.). <?page no="29"?> 30 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff erweisen könnte. 87 Dieser hatte sich unter falscher Identität 1544 mit einigen Anhängern in Basel niedergelassen. Im Zuge von Erbstreitigkeiten nach seinem Tod 1556 wurde nicht nur Joris‘ ‚wahre Identität‘ bekannt und sein Leichnam exhumiert und verbrannt. Vielmehr zeigte sich auch, dass er offenkundig von einem Teil der Basler Führungsschichten gedeckt worden war, was im Grunde genommen ebenfalls als ‚verborgene Devianz‘ beschrieben werden könnte. Festzuhalten bleibt, dass der labeling approach den Horizont weitet, um vielschichtige und mehrdeutige Devianz-Phänomene zu analysieren. Abweichung kann dann, das war bereits angesprochen, nicht mehr als eine Wirklichkeit sui generis verstanden werden. Vielmehr ist sie relativ zu geltenden Normen zu bestimmen, die ihrerseits selbst Konstruktions- und Institutionalisierungsleistungen sind. Zudem beinhalten Normen nie zugleich ihre Anwendungsregeln. Daher ist der Blick auf die situations- und kontextbezogenen Interaktionsprozesse der Aushandlung, Anwendung, Um- und Durchsetzung von Normen zu richten, die auch durch sozialstrukturelle Machtgefälle definiert sind - eine Einsicht, die mittlerweile als Allgemeinplatz der Forschung gelten kann. 88 Eine auf der Etikettierungsperspektive basierende Analyse religiöser Devianz in der Frühen Neuzeit fügt sich damit in geschichtswissenschaftliche Forschungsbemühungen der letzten Jahre ein, verstärkt Normsetzungsprozesse zu untersuchen, wobei hier insbesondere die Pluralität der geltenden Normen bzw. auch die häufig auftretenden Normkonkurrenzen thematisiert werden. 89 Anthropologisch vergleichende Studien haben gezeigt, dass die Befunde der Devianzsoziologie zu Etikettierungs-Prozessen, die vor allem auf der Grundlage der Analyse moderner Industriegesellschaften gewonnen wurden, nicht ohne Weiteres auf weniger differenzierte bzw. weniger komplexe Gesellschaften übertragen werden können. 90 Insbesondere kleinere, segmentär organisierte Gemeinschaften weisen - nicht zuletzt aufgrund der hohen sozialen Kosten der Stigmatisierung und Ausgrenzung einzelner Gruppenmitglieder - eine deutliche Tendenz zu Versöhnung und Wiedereingliederung auf, wenn abweichendes Verhalten als solches wahrgenommen wird. Frühneuzeitliche Stadtgesellschaften eignen sich daher vermutlich in besonderer Weise für die Analyse von Devianz-Phänomenen, 87 Zu Joris siehe Gary K. Waite: David Joris and Dutch Anabaptism, 1524-1543, Waterloo (Ontario/ Canada) 1990. Kurze Ausführungen zum Fall auch im Beitrag von Tim H. Deubel in diesem Band. 88 Dies schon bei Siegfried Lamnek: Kriminalitätstheorien - kritisch. Anomie und Labeling im Vergleich, München 1977, S. 88-90. 89 Hillard von Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert, in: Jens Ivo Engels/ Andreas Fahrmeir/ Alexander Nützenadel (Hg.): Geld - Geschenke - Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 91-120; vgl. grundsätzlich auch die Beiträge in Jan-Dirk Müller/ Wulf Oesterreicher/ Friedrich Vollhardt (Hg.): Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, Berlin 2010. 90 Hierzu und zum Folgenden Raybeck: Anthropology (wie Anm. 81). <?page no="30"?> 31 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften denn sie weisen im Vergleich zu Industriegesellschaften einen geringeren, im Vergleich zu segmentär organisierten Stammesgesellschaften aber deutlich höheren Grad an funktionaler Differenzierung auf. Überdies waren und sind städtische Gesellschaften in eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Gruppen gegliedert, die für die Untersuchung von Etikettierungs-Prozessen relevant sind. Das gilt vor allem dann, wenn man Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen und nicht nur den mit Herrschaftsgewalt ausgestatteten Institutionen eine jeweils näher zu bestimmende Definitionsmacht in diesen Prozessen zubilligt. Es ist zu vermuten, dass allein aufgrund dieser strukturellen Gegebenheiten Wahrnehmungen von abweichendem Verhalten und daraus resultierende Reaktionen weniger eindeutig waren, als ein moderner Beobachter dies zunächst vielleicht erwarten würde. Ganz im Gegenteil dürften Ambiguitäten und Ambivalenzen der erwartbare ‚Normalfall‘ sein. Dies zeigt sich nun vor allem auf dem Feld religiöser Abweichung, deren Konstruktion und ‚Produktion‘ wir als einen Prozess verstehen, an dem eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure mit jeweils sehr unterschiedlichen Interaktionsstrategien beteiligt sind. Der labeling approach erweist sich hier als besonders hilfreich, weil von dessen Blickwinkel aus die Eigensicht konfessioneller Akteure hinterfragt werden kann, ohne die Relevanz ihrer Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen in Abrede zu stellen. Auch geht sein Sichtfeld über das Gravitationsfeld des Religiösen im engeren Sinn hinaus und vermeidet Engführungen in der Deutung. Und schließlich geraten Prozesse der Zuschreibung und Etikettierung, d.h. die Interaktionen zwischen Kontrollsystem und den jeweils als abweichend etikettierten Personen und/ oder Gruppen, als in beide Richtungen rückgekoppelte Prozesse in den Blick. Im Extremfall konnten aus der Sicht der Etikettierten die Etikettierungs-Instanzen, bspw. Prediger, selbst deviant sein. 91 So bezeichneten, um hier zwei Beispiele zu nennen, die martyriologischen Schriften des 1564 hingerichteten Christoffel Fabritius die städtischen Obrigkeiten in Antwerpen, die ihn verfolgten, als gottlos. 92 Der 1688 in Wittenberg öffentlich als ‚Atheist‘ geschmähte Student Joachim Gerhard Rahm geißelte vor seinem Suizid in einem Abschiedsbrief christliche Theologen und Pfarrer als die eigentlich wahren Unchristen und Betrüger an den Menschen. 93 Die Liste möglicher Beispiele ließe sich mühelos erweitern. Spannend wären umfassende Antworten auf die Frage, ob und inwiefern sich auf Seiten der jeweils als abweichend Bezeichneten und Ausgegrenzten neben ‚devianten Karrieren‘, die dem Umstand geschuldet sind, dass man den Fremd- 91 Vgl. bspw. Luke Brekke: Heretics in the Pulpit, Inquisitors in the Pews. The Long Reformation and the Scottish Enlightenment, in: Eighteenth-Century Studies 44, 1 (2010), S. 79-98. 92 Vgl. zu Fabritius den Beitrag von Eric Piltz in diesem Band. 93 Zu diesem Fall ausführlich Jens Glebe-Møller: En fortvivlet Atheist. Rams testamente, in: Fund og Forskning 42 (2003), S. 69-79; Alexander Kästner: Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815), Konstanz 2012, S. 144-158. <?page no="31"?> 32 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff zuschreibungen und Typisierungen nicht zu entfliehen vermag, auch Formen von ‚sekundärer Devianz‘ ausprägen. In diesem Fall verfestigt sich deviantes Rollenverhalten überhaupt erst durch die und in der Auseinandersetzung mit offiziellen negativen Etikettierungen. 94 Daran schließt sich die Frage an, inwiefern in bestimmten Fällen dann konsequenterweise auch deviante Selbstdefinitionen oder gar Identitäten ausgeprägt werden, die, so der quellenkritische Einwand, in den Texten allerdings immer nur als stets kontextbezogene Selbstzuschreibungen bzw. Narrative auftauchen. Hintergrund dieser Fragen ist die Feststellung, dass negative (Selbst-)Zuschreibungen die Reduktion sozialer Teilhabe nicht nur reflektieren, sondern diese auch verstärken. 95 Formales und offizielles Etikettieren/ Qualifizieren/ Typisieren benötigt Rituale und Verfahren, 96 weshalb in den einzelfallorientierten Beiträgen dieses Bandes die Gerichtsverfahren einen zentralen Platz einnehmen. Zugleich werden die vorgelagerten und/ oder parallel verlaufenden Formen des Interagierens nicht ausgeblendet. Klar ist, dass weder die Wahrnehmung noch die Zuschreibung devianten Verhaltens durch einzelne Akteure unmittelbar zu einer offiziellen Verurteilung führen mussten. Zu fragen ist immer, wie hegemonial und/ oder dominant einzelne Akteure und/ oder Institutionen auftreten konnten. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Wirkungen der Gerichtsverfahren ambivalent waren. Sie konnten sowohl dramatisieren, indem bspw. Personen offiziell kriminalisiert wurden, als auch entdramatisieren, indem die Verhöre etwa ans Licht brachten, dass die Vorwürfe strategisch genutzt wurden, um bestehende soziale Konflikte durch eine Instrumentalisierung der Justiz zu regulieren. Bisweilen bestätigten sich die Vorwürfe schlicht auch nicht, weil Vorwürfe entweder bewusst fingiert waren oder weil die konkurrierenden Wahrheitsansprüche der Erzählungen vor Gericht nicht zu Lasten der Beklagten entschieden werden konnten. Der Beitrag von Alexander Kästner verdeutlicht dies am Beispiel eines Leipziger Essigkramers, gegen den 1640 nach der Denunziation eines Nachbarn ein Prozess wegen mutmaßlicher ‚Erzketzerei‘ geführt wurde. Mitunter reagierten Gerichtsträger auch mit Nichtentscheidung auf unüberbrückbare Normkonkurrenzen und Geltungsansprüche. Das zeigt der Beitrag von Franziska Neumann, die untersucht, wie 1524/ 5 im Kondominat der sächsischen Bergstadt Schneeberg der Fall eines devianten Predigers zwischen städtischen und landesherrlichen Magistraten sowie den beiden in Glaubensfragen unterschiedlich agierenden Familien des Hauses Wettin verhandelt wurde. 94 Schon die empirischen Befunde älterer Studien legten indes nahe, dass solche Prozesse weniger eindeutige Ergebnisse zeitigen, als die Etikettierungs-Perspektive suggeriert. Vgl. exemplarisch Anthony C. Meade: The Labeling Approach to Delinquency. State of the Theory as a Function of Method, in: Social Forces 53, 1 (1974), S. 83-91. Auf die Kontingenz der Wirkungen von Etikettierungen weist ebenso hin Ryken Grattet: Societal Reactions to Deviance, in: Annual Review of Socioly 37 (2011), S. 185-204, hier S. 191-193. 95 Raybeck: Anthropology (wie Anm. 81), S. 383. 96 Ebd., S. 390. <?page no="32"?> 33 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften Das Verfahren vor Gericht(en) war mithin nur ein Schritt innerhalb eines längeren Prozesses des Versuchs Etikettierungen/ Typisierungen durchzusetzen. Dieser Prozess konnte Phänomene inoffizieller sowie offizieller Diffamierung, Stigmatisierung und Kriminalisierung ebenso aufweisen wie Indifferenz oder Entdramatisierung. Schließlich hielt das Verfahren vor Gericht stets auch die Möglichkeit offen, dass die Zuschreibungen (in-)formeller Kontrollagenturen nicht in offizielle Etikettierungen, Urteile oder Stigmata transponiert wurden. Das Gericht musste die Sicht von Denunzianten oder Zeugen weder voll teilen noch war allein aufgrund der Schwere eines Vorwurfs eine Verurteilung gewiss. Grundsätzlich hatte jede/ r Beklagte/ r vor Gericht eine wenn auch sehr ungleiche Chance seine Sicht der Dinge auch gegen Widerstreben durchzusetzen - insofern waren diese auch nicht grundsätzlich ohnmächtig gegenüber der Strafverfolgung. Wie dann ferner und vor allem im Falle eines Freispruchs oder milden Urteils das soziale Umfeld ein Urteil aufnahm und wie dieses das Verhältnis zu der als deviant wahrgenommenen Person beeinflusste, ist eine weitere Frage, die aufgrund der Quellenlage aber häufig unbeantwortet bleibt. In den Verfahren trat gleichermaßen der normative Stellenwert des städtischen Wertehorizonts hervor, etwa des ‚Friedensgebots‘ oder der ‚nachbarschaftlichen Solidarität‘. 97 Aus der Perspektive des labeling approach ist es dabei erheblich, nicht von einem einzigen normativen Gravitationskern auszugehen, von dem aus Zuschreibungs- und Etikettierungsprozesse zu beurteilen sind. Für das in diesem Band untersuchte Feld bedeutet dies, dass religiös entlehnte und begründete Normen nicht zwangsläufig andere Normen dominieren mussten, menschliches Verhalten mithin mehrdeutig bleiben konnte, ohne dass dies die religiösen Grundlagen der frühneuzeitlichen Gesellschaft automatisch infrage stellen musste. 98 David Downes und Paul Rock haben ihre Überlegungen zu den Ursachen der Varianz von und des Umgangs mit Devianz in vier Punkten zusammengefasst, 99 die das Verstehen und Erklären 100 von Etikettierungsbzw. Typisierungsprozessen von (hier religiöser) Devianz und des Umgangs mit dieser erleichtern. Erstens ist zu berücksichtigen, dass Abweichung selbst eine Eigendynamik aufweist, d.h. 97 So wurde für England unter Charles I. festgestellt, dass katholische Gemeinden auch deshalb überleben konnten, weil viele protestantische Räte nicht auf eine gnadenlose Verfolgung ihrer Nachbarn eingestellt waren; hierzu John Coffey: Persecution and Toleration in Protestant England 1558-1689, Harlaw 2000, S. 123. 98 Diese Sicht wäre wohl auch mit der hier nicht zu entfaltenden Debatte über ‚hard‘ und ‚soft deviance‘ zu verknüpfen, die deutlich macht, dass unterschiedlichen Abweichungen in ihrer Wahrnehmung auch eine unterschiedliche Qualität hinsichtlich der Gefährdung der bestehenden Ordnung zugemessen wird. 99 Downes/ Rock: Social Reactions (wie Anm. 75), S. 362f., vgl. auch S. 358-360. 100 Dass Verstehen und Erklären keine Gegensätze sind, sondern der vermeintliche Gegensatz eine wissenschaftspolitische Konstruktion mit auch historischen Gründen, hat Ute Daniel unmissverständlich klar gestellt; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 400-409. <?page no="33"?> 34 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff bestimmtes Verhalten nicht allein dadurch hervorgerufen wird, weil es als deviant bezeichnet wird - oder wie Howard Becker selbstironisch einräumte: „Räuber überfallen nicht andere Leute, weil sie irgendjemand als Räuber bezeichnet hat“. 101 Hierbei ist auch zu bedenken, dass gleichfalls die Wahrnehmung unterschiedlicher Motivationen und/ oder Rechtfertigungen abweichenden Verhaltens unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Ein zweiter Einflussfaktor ist die Dynamik sozialer Kontrollagenturen, die je eigenen Prozeduren oder Prioritäten folgen. Ganz grundsätzlich ist drittens die Dynamik des Kontextes nicht zu vernachlässigen, in dem die als abweichend Typisierten und Akteure wie Agenturen sozialer Kontrolle miteinander interagieren und verbunden sind. Je geringer die soziale Distanz, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sonst als abweichend bezeichnetes Verhalten ‚normalisiert‘ wird. 102 Dies spiegelt sich in dem übergreifenden Befund, dass frühneuzeitliche Gemeinschaften abweichendes Verhalten von Fremden anders beurteilten als das von eigenen Mitgliedern und die Gerichte hier auch sehr unterschiedlich urteilten. Entscheidend ist dabei auch als der vierte von Downes und Rock benannte Faktor: die Beziehung zwischen der typisierten Person und den das ‚Label‘ vermittelnden Akteuren. Diese Beziehung ist nicht als quasi-natürliches Feind-, sondern als ein komplexeres Verhältnis zu denken, welches neben Momenten von Repression und Ausgrenzung auch Absprachen, Kooperation und Koexistenz aufweist. IV. Städtische Eigenlogik im Umgang mit (religiöser) Devianz - Nürnberg und Basel im Vergleich In der Stadtsoziologie wird gegenwärtig das spezielle Erkenntnisinteresse von Fallstudien im urbanen Raum intensiv reflektiert. Sind die Städte, insbesondere große Metropolen, Laboratorien der Gegenwartsgesellschaften, in denen sich gleichsam konzentriert Befunde erheben lassen, die für das soziale Gefüge insgesamt gelten? Oder geht es um urbane Lebenswelten im Gegensatz zu ländlichen? Oder ist auch dieser Ansatz viel zu unspezifisch, und müssten nicht stattdessen einzelne Städte zum Thema gemacht werden? Die „Eigenlogik der Städte [… zu erforschen,] ‚diese‘ im Unterschied zu ‚jener‘ Stadt zum Gegenstand der Analyse zu machen“ - das ist z.B. der Ansatzpunkt eines aktuellen gegenwartsbezogenen Großforschungsprojektes. 103 In der Geschichtswissenschaft gehören Fallstudien zu einzelnen Stadtgesellschaften schon länger zum methodischen Arsenal, ohne 101 Zitiert nach Ignatz Kerscher: Sozialwissenschaftliche Kriminalitätstheorien. Eine Einführung, Weinheim 4 1988, S. 69. 102 Downes/ Rock: Social Reactions (wie Anm. 75), S. 359 im Anschluss an Matza. 103 Helmut Berking/ Martina Löw (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M. 2012, Zitat Einleitung ebd., S. 7. Vgl. zum Projektkontext: http: / / www.stadtforschung.tu-darmstadt.de/ eigenlogik_der_staedte/ , zuletzt abgerufen am 5.12.2012. <?page no="34"?> 35 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften dass dabei ihr Status und die Frage des Vergleichs immer näher betrachtet werden. 104 Auch das Forschungsprojekt, dem die Beiträge dieses Bandes entspringen, geht zunächst von Fallstudien zu einzelnen Städten aus. 105 Die Analysen in den Beiträgen dieses Bandes setzen noch eine Ebene tiefer an. Sie zielen zunächst auf konkrete Aspekte der Konstitution religiöser Devianz in einzelnen Städten, sei es durch die Bearbeitung bestimmter diskursiver ‚Knotenpunkte‘ wie der Polizeiordnungen in Ulm (Sebastian Frenzel) bzw. der Rechtsgutachten der Ratskonsulenten in Nürnberg (Annette Scherer), sei es durch die ‚dichte‘ Rekonstruktion von signifikanten Einzelfällen in den anderen Städten. Die Beiträge von Annette Scherer (Nürnberg), Franziska Neumann (Schneeberg), Tim H. Deubel (Basel), Eric Piltz (Antwerpen) und Alexander Kästner (Leipzig) nehmen zudem eine eher mikrohistorische Perspektive ein, um am ‚außergewöhnlich Normalen‘ (‚eccezione normale‘, Edoardo Grendi) greifba- 104 Vgl. etwa zuletzt die knappen Bemerkungen von Schilling: Stadtrepublik (wie Anm. 25), S. 20 zur Auswahl- und Vergleichslogik ihrer Städte. 105 Zum Projektkontext Anm. 1. In diesem Zusammenhang ist natürlich hier wie in ähnlichen Projekten die Auswahl konkreter Untersuchungsobjekte begründungsbedürftig. Dabei ist angesichts der Vielfalt möglicher Auswahlkriterien, die nicht zuletzt auch quellenmäßige Erwägungen einschließt, eine gewisse Kontingenz nicht völlig zu vermeiden. Es liegt nahe, dem konfessionellen Faktor hier ein starkes Gewicht zu geben, um die Religionspolitik von Städten unterschiedlicher Bekenntnisses miteinander vergleichen zu können. Mit den Reichsstädten Nürnberg und Basel waren im Projektkontext schnell zwei paradigmatische Untersuchungsräume lutherischer bzw. reformierter Prägung gefunden, denen für bestimmte Fragedimensionen die Reichsstadt Ulm an die Seite gestellt wurde. Ebenfalls als protestantische Großstadt, die allerdings als landesherrliche Messe- und Universitätsstadt in ganz andere politische Kräfteverhältnissen eingebunden war, kam Leipzig hinzu. Auf katholischer Seite im Reich eine Stadt von ähnlichem Gewicht zu finden, erwies sich nicht als ganz einfach. Die Reichsstadt Köln war unter den Leitgesichtspunkten des Projekts bereits vergleichsweise intensiv erforscht (Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör: Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991; ders.: Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.-17. Jh.), in: Ius Commune 25 (1998), S. 39-120). Und die eigentlich ins Auge gefasste Landstadt Freiburg im Breisgau, urbanes Zentrum der habsburgischen Vorlande, erwies sich von der Quellenlage als weniger günstig als erhofft (nach wie vor grundlegend Georg Schindler: Verbrechen und Strafen im Recht der Stadt Freiburg im Breisgau von der Einführung des neuen Stadtrechts bis zum Übergang an Baden (1520-1806), Freiburg i.Brsg. 1937; Clausdieter Schott: Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i.Br., Freiburg i.Brsg. 1965; jetzt, wenngleich mit Fokus auf Eigentumsdelikten, Peter Wettmann-Jungblut: Der nächste Weg zum Galgen? Eigentumskriminalität in Südwestdeutschland 1550-1850 (Diss. Univ. des Saarlandes 1997)). In den genannten Studien spiegelt sich das durch eigene Recherchen bestätigte Bild, dass die Gerichtsverfahren nur in Ansätzen rekonstruierbar sind und die Überlieferung sehr fragmentiert ist. Zu diesem Befund kommt für die universitäre Gerichtsbarkeit in Freiburg auch Bettina Bubach: Richten, Strafen und Vertragen. Rechtspflege der Universität Freiburg im 16. Jahrhundert, Berlin 2005. Immerhin stand mit Antwerpen das prominente Beispiel einer nominell immer katholischen Stadt unter habsburgischer Herrschaft im Fokus der Untersuchungen, die aber zeitweilig eine faszinierende Vielfalt religiöser Strömungen beherbergte und demzufolge ein Paradefeld für den Umgang mit religiöser Abweichung zu sein verspricht. <?page no="35"?> 36 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff rer und anschaulicher Fallbeispiele übergreifende Einsichten in die Vielfalt der Geschichte religiöser Devianz in frühneuzeitlichen Städten zu gewinnen. 106 Dabei geht es nun aber gerade nicht darum, in einem Verständnis von allgemeiner Repräsentativität „über das Besondere zum Typischen zu gelangen“, wie es Michelle Vovelle formuliert hat. 107 Stattdessen bilden die wechselseitigen Verknüpfungen des vermeintlich Typischen und des vermeintlich Exzeptionellen den Kern unserer Überlegungen, denn das (häufig nur bei isolierter Betrachtung so verstandene) Einzelschicksal ist ohne historischen Kontext, verstanden in einem umfassenden Sinn als Widersprüche einschließende Kategoriensysteme, ebenso wenig erklär- und verstehbar wie umgekehrt dieser Kontext ohne konkrete Einzelschicksale. 108 Anders ausgedrückt liegt den Fallstudien die Annahme zugrunde, dass die zum Teil äußerst reichhaltige Quellenüberlieferung einzelner Fälle, so hat es in einem anderen Zusammenhang Elke Jahnke formuliert, „einen ‚Bedeutungsüberschuss des Einzelphänomens‘ [generiert], der jeden historischen Gegenstand auch immer zu einem Kommentar der Bedingungen seiner selbst werden lässt.“ 109 Von räumlich wie zeitlich übergreifend gültigen Generalisierungen des Umgangs mit religiöser Devianz in der Frühen Neuzeit, in ‚der‘ frühneuzeitlichen Stadt oder auch nur in bestimmten Städten der Epoche ist das Projekt so wie die Forschung insgesamt vorerst noch weit entfernt, allein schon, weil eine präzise Quantifizierung religiös abweichenden Verhaltens kaum sinnvoll geleistet werden kann. 110 Überhaupt kann natürlich nicht genug betont werden, wie stark 106 Den Begriff, die Konzepte, Fragen und Perspektiven der Mikrogeschichte hat zuletzt Otto Ulbricht derart umfassend dargestellt, dass hier gar nicht erst suggeriert werden soll, unsere Diskussion würde der Komplexität des Themas gerecht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./ New York 2009, v.a. S. 9-28 und dann kritisch die Rezeption mikrohistorischer Perspektiven in der Forschung diskutierend S. 29-60. Vgl. aus den deutschsprachigen Darstellungen auch den Überblick über die Perspektiven einer historischen Anthropologie und Mikrogeschichte von Susanna Burghartz: Historische Anthropologie/ Mikrogeschichte, in: Joachim Eibach/ Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 206-218. 107 Michelle Vovelle: Serielle Geschichte oder ‚case studies‘. Ein wirkliches oder nur ein Schein-Dilemma? , in: Ulrich Raulff (Hg.): Mentalitäten-Geschichte, Berlin 1987, S. 114-126, Zitat S. 121. 108 Vgl. hierzu die Diskussion von Matti Peltonen: Clues, Margins, and Monads. The Micro- Macro Link in Historical Research, in: History and Theory 40, 3 (2001), S. 347-359. 109 Elke Jahnke: Migration und Identität in einer bikulturellen Gemeinde. Anglo- und Frankokanadier zwischen Isolation und Integration 1850-1920, Frankfurt a.M. 2002, S. 18, vgl. auch S. 16-18 mit weiterer Literatur. Jahnke nimmt unter anderen Bezug auf Edoardo Grendi: Microanalisi e storia sociale, in: Quaderni Storici 35 (1977), S. 506-520. 110 Vgl. exemplarisch die überzeugende Diskussion am Beispiel der Kirchenzucht von Judith Pollmann: Off the Record. Problems in the Quantification of Calvinist Church Discipline, in: The Sixteenth Century Journal 33, 2 (2002), S. 423-438, die mit Konsistorialaufzeichnungen zugleich eine Quellengattung untersucht, in der, wenn überhaupt, man ja eigentlich erwarten würde, systematische Aufzeichnungen religiöser Abweichung im Alltag vorzufinden. Die Quellenproblematik wird auch in neueren Arbeiten zur Kirchenzucht deutlich. Vgl. etwa <?page no="36"?> 37 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften die Quellenlage das Potenzial konkreter Fallstudien determiniert. 111 Dennoch besteht natürlich die Erwartung, aufgrund solcher Einzeluntersuchungen übergreifende Handlungs- und Zuschreibungsmuster im Zusammenhang mit religiöser Devianz herauspräparieren zu können. Auch dürfte es möglich sein, durch die Ergebnisse von Fallstudien sowie durch die Einbeziehung des allgemeinen Forschungsstandes das Profil so mancher Stadt schärfer zu zeichnen. Dies sei abschließend am Beispiel zweier der in diesem Band vorgestellten Städte, nämlich von Nürnberg und Basel, näher erläutert. 112 Diese Städte stehen in der Forschung jeweils idealtypisch für die Modelle einer milden Sanktionspolitik (Nürnberg) und eines ‚toleranten Klimas‘ in Bezug auf Glaubensabweichungen (Basel). Nürnberg spielt in der Geschichte der Strafrechtspflege des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine herausgehobene Rolle. Schon früh war die Reichsstadt zum Gegenstand einschlägiger Studien gemacht worden, 113 und bis zum heutigen Tag wird die Stadt intensiv rechts- und kriminalitätshistorisch erforscht. Trotzdem ist es nicht einfach, übergreifende Aussagen in Hinblick auf ihr vergleichendes Profil in der Behandlung von Gottlosigkeiten zu machen. Was die Strafrechtspflege des Nürnberger Rates angeht, so ist das zeitgenössische ebenso wie das moderne Urteil häufig vom Image prinzipienstrenger Härte geprägt. Diesem rigoristischen Ruf gibt etwa jene Geschichte Nahrung, die der Humanist Konrad Celtis in seiner „Norimberga“ über ein Gespräch zwischen Kaiser Friedrich III. und einem patrizischen Ratsherren im Jahr 1471 kolportiert. Wie der Rat es schaffe, diese Menge Menschen „sine seditione et tumultu“ zu regieren, so habe der Kaiser gefragt, und jener habe bündig geantwortet, dies geschehe durch gute Worte und schwere Geld- und Körperstrafen. Celtis fügte hinzu, Bürger seien wohl mit frommen Ermahnungen zu bessern, die große Masse („vulgus“) aber sei nur durch harte Strafen in Schach zu halten. 114 Auf den ersten Blick scheint die Praxis Christine D. Schmidt: Sühne oder Sanktion? Die öffentlichen Kirchenbußen in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück während des 17. und 18. Jahrhunderts, Münster 2009. 111 Kriminalhistorische Arbeiten sind stets in der Gefahr, die Evidenz der Quellen nicht als Ergebnis von Etikettierungsprozessen zu verstehen, sondern sie gleichsam zum Nennwert zu nehmen. Vgl. zur problematischen Quantifizierung von Nürnberger Achtbüchern des Spätmittelalters Gerd Schwerhoff: Falsches Spiel, Zur kriminalhistorischen Auswertung der spätmittelalterlichen Nürnberger Achtbücher, in: MVGN 82 (1995), S. 23-35. 112 Ein Vergleich städtischer Sanktionspolitiken für Nürnberg und Basel in Bezug auf die Blasphemie bereits bei Schwerhoff: Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 105); für das 15. und frühe 16. Jahrhundert jetzt komparativ auch Laura Patricia Stokes: Demons of Urban Reform. Early European Witch Trials and Criminal Justice, 1430-1530, New York 2011. 113 Vgl. z.B. Hermann Knapp: Das Lochgefängnis, Tortur und Richtung in Alt-Nuernberg. Auf Grund urkundlicher Forschung, Nürnberg 1907; Theodor Hampe: Die Nürnberger Malefizbücher als Quellen der reichsstädtischen Sittengeschichte vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Bamberg 1927. 114 Albert Werminghoff (Hg.): Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg, Freiburg i.Br. 1921, S. 185f. Vgl. Uwe Israel: Masse und Stadt. Die Bewältigung großer Menschenmengen im Mittelalter am Beispiel von Nürnberg, in: Concilium medii aevi 15 (2012), S. 151-183, hier S. 157f. <?page no="37"?> 38 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff der Nürnberger Strafrechtspflege dieses Bild zu bestätigen. Im Vergleich etwa zur Reichsstadt Köln lässt sich der fränkischen Reichsstadt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf der Basis statistischer Befunde eine „drakonische Ausübung der Strafjustiz“ bescheinigen. 115 Die Nürnberger Führungselite scheute sich bekanntlich nicht, auch Mitglieder des eigenen Kreises bei schweren Verfehlungen mit schwersten Strafen zu belegen, wie die Hinrichtung von Nikolaus Muffel wegen seines Griffs in die Stadtkasse im Jahr 1469 belegt. 116 Wie entschlossen der Rat politische Gefahren mit harter Hand zu wehren suchte, zeigte sich z.B. 1524, als er zwei Männer, die auf dem Marktplatz öffentlich aufrührerische Reden geschwungen hatten, hinrichten ließ. 117 Neuere Untersuchungen zeichnen allerdings ein nuanciertes Bild der Nürnberger Prinzipienstrenge und betonen auch hier differenzierte Strafzumessungen, das Bemühen um Integration und soziale Aushandlungsprozesse. 118 Dieses Bild lässt sich für den Bereich der religiösen Devianz nachdrücklich bestätigen: Hier zeichnet sich deliktübergreifend eine Tradition der Nachsicht und Milde ab. Exemplarisch lässt sich dies an der Affäre der sogenannten drei gottlosen Maler im Jahr 1525 belegen. Angesichts ihrer durchaus gewichtigen und potenziell gefährlichen Skepsis gegenüber christlichen Grundüberzeugungen und ihrer offenen Infragestellung der Autoritäten wurden sie mit einer zeitweiligen Verbannung aus der Stadt durchaus milde und wenig nachhaltig bestraft. Noch vor Ablauf von Jahresfrist befanden sich die drei wieder innerhalb der Nürnberger Stadtmauern. 119 Allgemein urteilt Gottfried Seebaß, im Umgang mit dem linken Flügel 115 Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 105), S. 155 und 468 auf der Basis von Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1985, S. 187f. Zu beachten ist, dass in der vierten durchgesehenen Auflage dieses Buches aus dem Jahr 1995 (ebenfalls S. 187) die Zahlen präzisiert und korrigiert wurden, ohne dass sich am grundlegenden komparativen Befund etwas geändert hätte. Vgl. für eine neuere Aufstellung Manfred Grieb (Bearb.): Die Henker von Nürnberg und ihre Opfer. Folter und Hinrichtungen in den Nürnberger Ratsverlässen 1501 bis 1806, aus dem Nachlass von Friedrich von Hagen, hg. v. Michael Diefenbacher, Nürnberg 2010. 116 Gerhard Fouquet: Die Affäre Niklas Muffel. Die Hinrichtung eines Nürnberger Patriziers im Jahre 1469, in: VSWG 83 (1996), S. 459-500; allgemein Peter Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Bd. 1, Der Kleinere Rat, Neustadt a.d. Aisch 2008, S. 294. Vgl. für einen komplexen Fall von Oberschichtdelinquenz wegen Amtsmissbrauch und Unterschlagung, Parteienverrat, Unzucht und Inzest, der mit einem Todesurteil endete Wilhelm Fürst: Der Prozess gegen Nikolaus von Gülchen, Ratskonsulenten und Advokaten zu Nürnberg, 1605, in: MVGN 20 (1913), S. 132-174. 117 Günter Vogler: Nürnberg 1524/ 5. Studien zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt, Berlin 1982, S. 112ff.; Grieb: Die Henker von Nürnberg (wie Anm. 115), S. 349. 118 Ulrich Henselmeyer: Ratsherren und andere Delinquenten. Die Rechtsprechungspraxis bei geringfügigen Delikten im spätmittelalterlichen Nürnberg, Konstanz 2002; Andrea Bendlage: Henkers Hetzbruder. Das Strafverfolgungspersonal der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, Konstanz 2003. 119 Schwerhoff: Wie gottlos waren die ‚Gottlosen Maler‘? (wie Anm. 69). <?page no="38"?> 39 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften der Reformation habe der Rat aufgrund politisch-städtischer Motive (gemeint war seine Orientierung an den Werten von Frieden und Eintracht) ebenso wie aufgrund seiner christlich-humanistischen Gesinnung die „schlimmsten Auswirkungen einer strikten Konfessionalisierung“ verhindert. 120 Einen erstaunlichen Langmut unter Vermeidung einer entschiedenen Kriminalisierung attestiert auch Hans-Dieter Schmid dem Rat in seinem Verhalten gegenüber den - freilich sozial eher höher stehenden und institutionell wenig greifbaren - Schwenckfeldianern. 121 Mit dem ehemaligen Täufer und Schwenckfeld-Anhänger Jörg Schechner ließ sich der Rat um 1560 auf Verhandlungen ein. Schließlich wurde Schechner in der Stadt geduldet, obwohl er seinen Überzeugungen treu blieb. 122 Ein „Höchstmaß an Toleranz“ bescheinigt Richard van Dülmen dem Nürnberger Rat in seinem Umgang mit den ‚Weigelianern‘ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Schließlich erscheint faktisch die Behandlung der Altdorfer Socinianer 1616 als vergleichsweise milde, ganz im Gegensatz zu Karl Brauns anachronistischem Urteil von 1933. 123 Ein zuverlässiger Maßstab für die Religionspolitik einer Obrigkeit war das Verhalten gegenüber den Täufern. Zwar wurde im Jahr 1527 der Täufer Wolfgang Vogel, Pfarrer von Eltersdorf, dem man vorwarf, ein böses „verbundnis“ zur Vertilgung aller Obrigkeit initiiert zu haben, mit dem Schwert gerichtet. 124 Schnell aber wurde die Grenze zwischen Aufruhr und täuferischer Sektenbildung, die von der Reichsgesetzgebung ebenso wie von lutherischen Obrigkeiten etwa in Sachsen systematisch eingeebnet wurde, wieder schärfer gezogen. Einzig führenden Aufrührern wurde in der Folge die Todesstrafe angedroht. Hartnäckige Täufer wurden der Stadt verwiesen, reumütige nach öffentlichem Widerruf 120 Gottfried Seebass: Dissent und Konfessionalisierung. Zur Geschichte des ‚linken Flügels der Reformation‘ in Nürnberg, in: ders.: Die Reformation und ihre Außenseiter: gesammelte Aufsätze und Vorträge. Zum 60. Geburtstag des Autors, hg. v. Irene Dingel, Göttingen 1997, S. 244-266, hier S. 266. 121 Hans-Dieter Schmid: Nürnberg, Schwenckfeld und die Schwenckfelder, in: Horst Rabe u.a. (Hg.): Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976, Münster 1976, S. 215-247. Vgl. zum Umgang mit Reformierten Hans Neidiger: Die Entstehung der evangelisch-reformierten Gemeinde in Nürnberg als rechtsgeschichtliches Problem, in: MVGN 43 (1952), S. 225-340. 122 Irene Stahl: Jörg Schechner. Täufer - Meistersinger - Schwärmer. Ein Handwerkerleben im Jahrhundert der Reformation, Würzburg 1991. 123 Richard van Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618-1648). Ein Beitrag zum Problem des ‚Weigelianismus‘, in: AfK 55 (1973), S. 107-137, hier S. 136; Karl Braun: Der Socinianismus in Altdorf 1616, in: ZBKG 8 (1933), S. 65-81 und 129-150, hier S. 141. Vgl. jetzt auch Martin Schmeisser/ Klaus Birnstiel: Gelehrtenkultur und antitrinitarische Häresie in der Nürnberger Akademie zu Altdorf, in: Daphnis 39, 1-2 (2010), S. 221-285; siehe zur Flexibilität des Rates bei der Durchsetzung theologischer Glaubensnormen gegenüber seinen Geistlichen Ernst Riegg: Eigenwille und Pragmatismus. Der Konflikt um die Norma Doctrinae in der Reichsstadt Nürnberg, in: Rudolf Schlögl (Hg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 237-267. 124 Hans-Dieter Schmid: Täufertum und Obrigkeit in Nürnberg, Nürnberg 1972, S. 140ff., hier S. 149. <?page no="39"?> 40 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff begnadigt, und dies sogar gegen den Widerspruch der theologischen und juristischen Berater. 125 Mäßigung und Verhältnismäßigkeit zeichneten auch hier die Aktionen des Rates aus. Interessant sind nun Hinweise darauf, dass die Nürnberger Obrigkeit auch andere Formen von ‚Gottlosigkeit‘ jenseits des Konfessionellen tendenziell milde sanktionierte. Insbesondere auf dem Feld der Zauberei und Hexerei urteilten der Rat und seine Konsulenten eher zurückhaltend. Nur wenige einschlägige Hinrichtungen sind überliefert, während umgekehrt im Jahr 1590, am Beginn der Massenverfolgungen in benachbarten fränkischen Territorien der vormalige Gehilfe des Eichstätter Scharfrichters mit dem Schwert gerichtet wurde, weil er sich „auß lauterem frechen mutwillen“ unterstanden hatte, „etlicher hiesiger burger weiber ohne einichen grundt und warheit für unhulten oder druten felschlich zu beschrayen“. 126 Für andere Deliktfelder sind belastbare Sanktionsprofile kaum zu erstellen. Immerhin deutet im Bereich der Unzucht, des Suizids und der Blasphemie nichts darauf hin, dass es eine im Vergleich zu anderen Städten oder Territorien besonders scharfe Ahndung dieser Vergehen gegeben hätte. 127 Und was den Verkehr mit Tieren angeht, so verzeichnet die einschlägige Literatur lediglich die Hinrichtung eines etwa 15jährigen Hirtenjungen im Jahr 1659 wegen „abscheulicher und unmenschlicher Sodomiterey“. 128 Betrachtet man diese Schlaglichter im Zusammenhang, beleuchten sie das Bild einer überwiegend zurückhaltenden Strafpraxis gerade in Hinblick auf die Spielarten von ‚Gottlosigkeit‘. Diese Zurückhaltung wird im Kontrast zur rigiden Bestrafung von Dieben und Räubern noch deutlicher. Welche Gründe erklären 125 Ebd., S. 152ff., S. 209. Zur Sanktionspolitik gegenüber den Täufern generell Horst W. Schraeppler: Die rechtliche Behandlung der Täufer in deutschen Schweiz, Südwestdeutschland und Hessen, Tübingen 1957; von Schlachta: Gefahr oder Segen (wie Anm. 54), S. 83ff. Zur Rolle der Ratskonsulenten und ihren Konsilien in Nürnberg ausführlicher der Beitrag von Annette Scherer in diesem Band. 126 Zitiert nach Hartmut H. Kunstmann: Zauberwahn und Hexenprozeß in der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1970, S. 77. Was die Todesurteile anging, so wurde 1520 Els Gernoltin wegen Liebeszaubers gegen junge Männer, von denen mindestens einer gestorben sein soll, zum Tod durch Ertränken verurteilt (ebd., S. 39ff.); in der Spätphase wurden 1659 zwei Frauen nach Verfahren mit allen Attributen klassischer Hexenprozesse hingerichtet (ebd., S. 94ff.). Zum Vergleich: Aus Frankfurt am Main ist kein einziger tödlich endender Hexenprozess bekannt; Walter Eschenröder: Hexenwahn und Hexenprozeß in Frankfurt a.M., Gelnhausen 1932. In Köln dagegen gab es nach anfänglicher Zurückhaltung im 17. Jahrhundert eine zwar kurze, aber doch heftige Verfolgungswelle mit zwei Dutzend Todesurteilen; Gerd Schwerhoff: Hexenverfolgung in einer frühneuzeitlichen Großstadt - das Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Hexenverfolgung im Rheinland. Ergebnisse neuerer Lokal- und Regionalstudien, Bensberg 1996, S. 13-56. 127 Bettina Günther: Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2004; Jürgen Dieselhorst: Die Bestrafung der Selbstmörder im Territorium der Reichsstadt Nürnberg, in: MVGN 44 (1953), S. 58-230; Schwerhoff: Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 105), S. 64f. und 96ff. 128 Grieb: Die Henker von Nürnberg (wie Anm. 115), S. XXII und 389. <?page no="40"?> 41 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften diesen Befund? Eher anachronistisch muten allgemeine Zuschreibungen von ‚Aufgeklärtheit‘ oder städtischer ‚Toleranz‘ an. 129 Angemessener ist es vielleicht, eine starke Diskursivierung der Nürnberger Sanktionspolitik als einen signifikanten Grundzug zu identifizieren: Im Dreieck zwischen Theologen und Juristen als Konsulenten und dem Rat wurden ausgiebig die Schwere der Vergehen und mögliche Milderungsgründe abgewogen, wobei sich oft die leichtere Strafvariante durchsetzte. 130 Für diese Erklärung ist der Beitrag von Annette Scherer in diesem Band durchaus repräsentativ. Auch Basel steht in der einschlägigen Literatur im Ruf, im Zeitalter der Reformation und der beginnenden Konfessionalisierung ein Hort relativer Toleranz gewesen zu sein, wie der Beitrag von Tim H. Deubel im vorliegenden Band nachzeichnet. Als Gegenpol zu Genf - namentlich zu Jean Calvin und seiner unerbittlichen Ketzerpolitik, die 1553 in der Verbrennung von Michel Servet gipfelte - wurde Basel (konkret Sebastian Castellio und sein Kreis) zum Inbegriff der Vermeidung von weltlichen Strafen gegen Häretiker. 131 Am Beispiel des Umgangs mit dem religiösen Unruhestifter Antoine Lescaille macht Deubel plausibel, dass die überkommene Auffassung, nach der Ende des 16. Jahrhunderts in Basel eine strenge Orthodoxie diese Phase der Duldung abgelöst habe, indes zu revidieren sein könnte. Allerdings setzt schon die Retrospektive auf die Haltung der Basler Obrigkeit gegenüber den Täufern Fragezeichen hinter das gängige Narrativ vom ‚toleranten‘ Basel vor der Zeit der Orthodoxie. Um 1530 war in Basel deren harte Verfolgung in einigen Hinrichtungen kulminiert. Erst gegen Mitte des Jahrhunderts profitierten die einheimischen Täufer mehr und mehr vom „relativ offenen Klima“ (Hanspeter Jecker) der Stadt; wer sich still verhalte, so der aus den Niederlanden stammende Peter von Mecheln Anfang der 1540er Jahre, dem drohe kaum eine Gefahr. 132 Wie aber sollte sich Basel als tolerant erweisen und rückblickend als tolerant beschrieben werden, wenn sich Diejenigen, deren abweichende Überzeugungen es zu tolerieren gelten würde, der Aussage Mechels zufolge still verhalten und abducken, gleichsam nikodemische Existenzen führen mussten? 129 Vgl. noch Reinhard Heydenreuter: Strafrechtspflege in den fränkischen Reichsstädten, in: ZBLG 73 (2010), S. 453-477, hier S. 472, ein Beitrag, der sich überhaupt durch seine strikte Ausblendung aller nicht im engeren Sinne landesgeschichtlichen Literatur zu seinem Thema auszeichnet. 130 Vgl. insbesondere zur Hexerei Kunstmann: Zauberwahn (wie Anm. 126), S. 176ff.; zu den Täufern Schmid: Täufertum (wie Anm. 124), passim; zur Blasphemie Schwerhoff: Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 105), S. 101ff. Interessant wäre auch hier ein Vergleich mit Basel, doch sind die dortigen Rechtsgutachten nur für eine spätere Zeit untersucht, und außerdem mit einem historisch weniger ergiebigen Zugriff, vgl. Stefan Suter: Die strafrechtlichen Bedenckhen der Basler Stadtconsulenten (1648-1798), Basel 2006. 131 Hans R. Guggisberg: Sebastian Castellio 1515-1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997, S. 107ff. 132 Hanspeter Jecker: Ketzer, Rebellen, Heilige. Das Basler Täufertum von 1580 bis 1700, Liestal 1998, S. 40ff., 46 und 49. <?page no="41"?> 42 Alexander Kästner/ Gerd Schwerhoff Weitet man dazu den Blick zeitlich in die vorreformatorische Zeit und sachlich auf das Feld unchristlicher Verhaltensweisen aus, so wird eine Basler Strafpolitik der ‚harten Hand‘ sichtbar, die geradezu wegweisend für andere Städte und Territorien gewesen ist. In Hinblick auf gotteslästerliche Schwüre und Flüche dürfen die Basler Sanktionen in dieser Epoche im Vergleich zu denjenigen in Köln und Nürnberg als die härtesten und die konsequentesten gelten. 133 Und auf dem Feld der dämonischen Verbrechen Hexerei und Sodomie besaß Basel, als Konzilsort von der neueren Forschung als spätmittelalterliche Denkfabrik zur Entwicklung der gelehrten Hexentheorie ausgewiesen, 134 zweifellos eine Vorreiterfunktion. Bereits Mitte des 15. Jahrhunderts kam es zu Verfahren mit tödlichem Ausgang, und ab 1482 häuften sich die Anschuldigungen gegen angebliche Hexen, wobei die Beteiligten meist aus dem Umland kamen, die Prozesse aber in der Stadt geführt wurden. Laura Stokes mutmaßt, dass damit auch die Hexenangst ‚importiert‘ wurde. Dass die spektakuläre Hinrichtung von 18 burgundischen Söldnern auf dem Scheiterhaufen an Weihnachten 1474 wegen Sodomie die Angst vor dämonisch-unchristlichen Umtrieben weiter angeheizt haben könnte, ist allerdings weniger einsichtig. Denn während im frühen 15. Jahrhundert einige Verfahren wegen Bestialität bzw. gleichgeschlechtlicher Sexualität zu verzeichnen sind, schweigen die Basler Quellen dann bis 1581 über ähnliche Fälle. Eine deliktübergeifende ‚moral panic‘ ist damit am Ende des 15. Jahrhunderts in Basel kaum zu konstatieren, und im 16. Jahrhundert kam die Jagd auf gottlose Elemente wie Sodomiten und Hexen für längere Zeit völlig zum Erliegen. 135 Das oben am Beispiel Nürnbergs gezeichnete unfertige Bild einer milden städtischen Sanktionspolitik in der Frühen Neuzeit wird durch das Basler Beispiel insofern ergänzt, als hier Brüche und Brechungen einer solchen Strafpolitik deutlicher hervortreten. Zugleich stellen diese auch gängige allgemeine Bewertungen, etwa die vom ‚toleranten‘ Basel infrage; die Befunde zum Umgang mit religiöser Devianz nehmen weiter an Komplexität zu, weil in Basel bereits innerhalb von vergleichsweise kurzen Zeitspannen erhebliche Unterschiede sichtbar werden. 133 Schwerhoff: Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 105), S. 70; anders Stokes: Demons (wie Anm. 112), S. 141. 134 Stefan Sudmann: Basler Konzil 1431-1449, in: Gudrun Gersmann/ Katrin Moeller/ Jürgen-Michael Schmidt (Hg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, online: http: / / www.historicum.net/ no_cache/ persistent/ artikel/ 5514, zuletzt abgerufen am 5.12.2012. 135 Zu den Hexen Stokes: Demons (wie Anm. 112), S. 37ff. und passim; weiterhin Dietgen Guggenbühl: Mit Tieren und Teufeln. Sodomie und Hexen unter Basler Jurisdiktion in Stadt und Land 1399 bis 1799, Liestal 2002, vor allem S. 105ff. (eine Materialsammlung, die bei Stokes nicht zitiert wird); weiterhin Dorothee Rippmann: Hexenverfolgungen im 15. und 16. Jahrhundert, in: dies./ Katharina Simon-Muscheid/ Christian Simon: Arbeit - Liebe - Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags, 15. bis 18. Jahrhundert, Liestal 1996, S. 159-226; für die Spätzeit dann Albert Schnyder: Zauberei und Schatzgräberei vor dem Basler Rat, Liestal 2003. Zu den Sodomiten ausführlich Guggenbühl: Mit Tieren und Teufeln (wie in dieser Anm.), S. 52ff. Zum Prozess gegen die burgundischen Landsknechte 1474 Puff: Sodomy (wie Anm. 38), S. 43ff. <?page no="42"?> 43 Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften Ganz anders stellte sich allerdings, um einen möglichen Gegenpol abschließend noch zu benennen, die Situation im ebenfalls von Laura Stokes untersuchten eidgenössischen Luzern dar: Diese Stadt kann nicht nur den zweifelhaften Ruhm für sich beanspruchen, dass dort 1419 zum ersten Mal der deutsche Begriff ‚Hexe‘ auftauchte. Sie besaß auch eine ungebrochene Verfolgungstradition über die Epochenschwelle um 1500 hinweg. Der Luzerner Rat habe, so Stokes, eine entschlossene obrigkeitliche Moralpolitik betrieben, die auf eine Dämonisierung jeglicher Vergehen abgezielt habe. 136 Diese vorstehenden kurzen Schlaglichter auf die Städte Nürnberg und Basel konnten und sollten deren Sanktionspolitiken in Hinblick auf Erscheinungsformen religiöser Devianz nicht in ihrer ganzen Komplexität analysieren, sondern allenfalls die potenzielle Fruchtbarkeit eines solchen zukünftig noch zu leistenden Unternehmens deutlich machen. Neben der umfassenden Auswertung der jeweiligen Quellen und Literatur zu einem Gemeinwesen erweist sich in diesem Zusammenhang der Vergleich als ein wichtiges methodisches Rüstzeug. Gegenstand der komparativen Analyse müssten dabei zum Einen, wie oben skizziert, alle als abweichend etikettierten Verhaltensweisen im zeitlichen Verlauf ihrer Wahrnehmung und Sanktionierung sein; 137 zum Anderen ist aber auch ein Städtevergleich notwendig, denn wie anders ließe sich die jeweilige Eigenlogik der Devianzkonstruktion und Sanktionierung herausarbeiten als im Kontrast? Ein solcher Vergleich benötigt tiefer gehende Fallstudien. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind notwendige und aufschlussreiche Schritte auf dem Weg zu derart komplexeren Vergleichen. Sie zeigen, wie vielgestaltig die Lebenswirklichkeit idealer Ordnungsentwürfe in sehr unterschiedlichen Stadtgemeinschaften war. Auch wenn die Gegenstände der einzelnen Untersuchungen einige Unterschiede aufweisen, so ist ihnen doch eines gemeinsam: Sie alle zeigen, dass der Umgang mit religiöser Abweichung weder allein von nackter Angst vor dem göttlichen Zorn noch von vordergründig eindeutigen normativen Strafandrohungen bestimmt wurde. Vielmehr waren es sehr verschiedenartige Menschen in unterschiedlichen städtischen Kontexten, die aufgrund ihrer divergierenden Wahrnehmungen und Deutungen den Maßstab für den angemessenen Umgang mit religiöser Devianz stets neu verhandelten. 136 Stokes: Demons (wie Anm. 112), S. 16 und 163. 137 Pioniercharakter kann hier die Studie von Gary K. Waite: Eradicating the Devil’s Minions. Anabaptists and Witches in Reformation Europe, 1525-1600, Toronto 2007, beanspruchen. <?page no="44"?> 45 Claudius Sebastian Frenzel Die Ordnung des Zorns Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm (Gotteslästerung, Zutrinken und Unzucht, 1492-1630) Zahlreiche Ordnungen und Mandate des 16. und 17.-Jahrhunderts begründeten die unbedingte Notwendigkeit, sie zu befolgen, mit der Abwendung des drohenden göttlichen Zorns. Eine Ulmer Policeyordnung von 1558 kommt gleich in der Vorrede auf den göttlichen Zorn zu sprechen: Die Laster der Gotteslästerung, des Fluchens, Schwörens, Zutrinkens, Spielens, des Ehebruchs und vielfältiger Unzucht hätten sich in Stadt und Land „eingewurtzelt, dadurch ungezweyfelt Gott der Allmechtig zu billicher rach vnd straff gegen vnns höhlich verursacht vnd erzurnt wurdt unnd vns daherr beschwerliche Kriegs vnd sterbende leuff Auch Pestilentz vnerhörte Kranckhaiten theure zeit andere wolverschuldete Plaagenn Töglich vber halß kommen vnnd wachsen“. 1 In ähnlichen Worten klagte die Ordnung von 1683 über diegleichen Laster. 2 Die von den Ratsherren ausgegebene Botschaft war eindeutig: Die sträflichen Sünden der Untertanen konnten, so sie nicht durch die von Gott verordnete Obrigkeit gebändigt würden, den Zorn des Schöpfers provozieren, der dann drohte, sie mit seinen Strafen heimzusuchen. Es bestand folglich die explizit moralisch begründete und rechtlich fixierte Verpflichtung, für ein Ende der sündhaften Laster in der Mitte des Gemeinwesens zu sorgen. Der hier aufscheinende drohende Zorn Gottes ist in fast jeder neueren Studie zur ‚Guten Policey‘ Thema. In den meisten Fällen bleibt es allerdings bei pauschaleren Hinweisen. Zahlreiche grundlegende Aspekte sind bisher nicht systematisch beleuchtet worden. Allein schon für die Normen selbst gibt es 1 {2194} „Ordnung in Straff offenbarer Laster unnd anderer Unzucht.“ vom 07.12.1558, Bayerische Staatsbibliothek München (künftig abgekürzt als: BSB- M), 4 J.germ. 120- y, VD16 U62, ohne Paginierung. Im Nachfolgenden werden zu allen Verordnungen die entsprechenden Nummerierungen des Ulmer Repertoriums der Policeyordnungen in geschweiften Klammern mit ausgewiesen. Vgl. Karl Härter/ Michael Stolleis (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 8, Reichsstädte 3: Ulm, hg. v. Susanne Kremmer/ Hans Eugen Specker, Frankfurt a.M. 2007. 2 „Um welcher greulichen und abschröcklichen Sünden, Mißhandlungen und Unthaten wegen Gott der Allmechtig zu anbrennung seines göttlichen Zorns und wolverdienten Straffen mit Krieg, Blutvergiessen, Pestilentzund andern hoch beschwerlichen, eines Theils hievor unerhörten Kranckheiten, langwirigen Theurungen und andern Plagen nicht allein höchlich verursacht und bewegt […]“. Vgl. {3903} „Gesatz und Ordnung, Von Straff offenbarer Laster, auch leichtfertigen Verheurathens und anderer Unzucht“ von 1683, StdA- UL, A- 3708, ohne Nummerierung, S.-2 [auch BSB-M, 2 J.germ. 14 a#Beibd.3, VD17 1: 016177R]. <?page no="45"?> 46 Claudius Sebastian Frenzel keine verlässliche Auskunft über die Reichweite des Arguments: Wurde es nur für bestimmte Regelungsbereiche verwendet oder zielte es auf die gesamte ‚gute‘ Ordnung des Gemeinwesens in all ihren Facetten? Wie weit konnte sich die Argumentation entfalten? In welchem Verhältnis stand sie bspw. zu theologischen oder juristischen Darlegungen in Predigten, Traktaten oder Bedenken? Insgesamt ist der Umgang mit der Rede vom göttlichen Zorn in der Policeyforschung durch ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit über dessen Bedeutung und Reichweite geprägt. Sich dem argumentativen Spektrum der Rede vom göttlichen Zorn in den Ordnungen und Mandaten zuzuwenden, wurde bislang von der Forschung vernachlässigt. Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die Bedeutung von Inhalt und Funktion des Arguments präziser zu bestimmen und gezielt zu hinterfragen, ob die Wendung derart festgefügt war, wie es bislang angenommen wird. Die Beantwortung dieser Frage ist zugleich für die in diesem Band vorgeschlagene Analyse religiöser Devianz aufschlussreich. Religiöse Abweichung kann im Spannungsverhältnis zwischen dem Ordnungsanspruch eines gottgefälligen Gemeinwesens einerseits und der Identifizierung von den Abweichungen zu diesem Ideal andererseits analytisch gefasst werden. 3 Zu diesem Zweck muss aber eben auch dieser Ordnungsanspruch differenziert in den Blick genommen werden. Ein erster Zugriff für diese umfassendere Fragestellung bildet die Auswertung von Policeygesetzen. 4 Die Fragestellung des Aufsatzes soll zunächst im Hinblick auf die einschlägigen Vorarbeiten zum Zorn Gottes präzisiert werden (I.). Sodann wird die empirische Grundlage der Fallstudie erläutert (II.). Im Hauptteil werden sodann, ausgehend von den übergreifenden Konjunkturen der Ordnungsgesetzgebung (III.), spezifische Ausprägungen des Vergeltungsmotivs herausgearbeitet. So frage ich danach, welche göttlichen Strafen angekündigt werden, und ob diese die Stadtgemeinde als Ganze bedrohen (IV.); ferner, welche Konsequenzen daraus gezogen werden, und insbesondere wie der Zusammenhang zwischen obrigkeitlichen und göttlichen Strafmaßnahmen dargestellt wird (V.). Abschließend wird untersucht, was bzw. wer als Ursache für den Zorn Gottes und dessen Strafgericht in den Normen verantwortlich gemacht wird (VI.). Im Ergebnis soll ein genaueres Bild von der obrigkeitlichen Rhetorik des göttlichen Zorns bis 1630 entstehen. 3 Ausführlicher dazu die Einleitung von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff zu diesem Band. 4 Policeyordnungen und Mandate stellen gewiss nur einen Teilausschnitt dar; allerdings einen nicht zu vernachlässigenden, wie dies die neuere Policeyforschung deutlich zeigen konnte. Pars pro toto Karl Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, 2-Teilbde., Frankfurt a.M. 2005. <?page no="46"?> 47 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm I. Das Motiv der göttlichen Kollektivstrafe am Gemeinwesen ist für das Verständnis der Sanktionspolitiken des 16. und 17.-Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung. Wegweisende Forschungen hierzu haben Helga Schnabel-Schüle und Heinrich Richard Schmidt geleistet. Deshalb muss jede weitere Beschäftigung bei ihren Arbeiten ansetzen. Ziel der Arbeit von Schnabel-Schüle ist es, das zum Zeitpunkt ihrer Studien noch kaum ausgeleuchtete Zusammenspiel von Strafrecht und Strafrechtspraxis im frühneuzeitlichen Territorialstaat zu rekonstruieren. 5 In der Beantwortung der Frage, was die rechtlichen und sozialen Voraussetzungen für das Funktionieren von Strafjustiz gewesen sind, kommt sie zu der These, dass die Notwendigkeit des Strafens mit der Angst vor der göttlichen Strafe am Gemeinwesen für die Vergehen Einzelner begründet worden sei. Diesseitige Strafen sollten göttlichen Sanktionen vorbeugen. Dies zeige sich u.a. im Ineinandergreifen von kirchlicher Sündenzucht und weltlicher Kriminalzucht, die sich funktional ergänzt hätten. 6 Der Kitt, der die Interessen von Landesherr, Beamtenschaft, Geistlichen und Untertanen zusammenführte und zum Handeln motivierte, sei die Angst vor dem göttlichen Zorn gewesen. 7 Nur durch diese Angst konnte überhaupt erst das Funktionieren des Strafrechtssystems gewährleistet werden. Ohne „ein effizientes System strafrechtlicher Sanktionen“ zu errichten, sei der Territorialfürst überdies in seiner religiösen Legitimation gefährdet gewesen, habe er doch für die Einhaltung der religiös fundierten Normen Sorge zu tragen gehabt. 8 Das Zusammenwirken horizontaler und vertikaler Kontrollmechanismen lasse ferner auf eine „hohe Konformität mit obrigkeitlichen Normen“ schließen, denn die Normen seien auf fruchtbaren Boden gefallen, weil ihre Begründung 5 Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln u.a. 1997. 6 Ebd., S.-46. Auch dies.: Kirchenzucht als Verbrechensprävention, in: Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, S.-49-64, insb. S.-55. Expressis verbis: „Die Kirchenzuchtsgremien wurden somit in das strafrechtliche Verfahren integriert und damit zugleich die Mitwirkung der Geistlichen institutionalisiert. Ihre Anwesenheit personalisierte die religiöse Dimension aller Vergehen und Verbrechen; sie verwies auf die religiöse Fundamentierung des gesamten Strafrechtssystems, […]. […] Die Kirchenzuchtsgremien mit ihrer Sanktionsgewalt garantierten, daß bei kleineren Vergehen durch die direkt verhängten Strafen, bei größeren Vergehen durch die Weiterleitung an die zuständigen Behörden göttliche Reaktionen ausgeschlossen werden konnten.“ Ebd., S.-49. 7 Die Angst vor dem göttlichen Zorn sei die „[…] Triebfeder aller strafrechtlicher Regelungen und zugleich das Mittel, bei den Untertanen die Internalisierung strafrechtlicher Normen zu erreichen“. Dies.: Überwachen und Strafen (wie Anm. 5), S.-165-168, insb. S.-167, das Zitat auf S.-8; dies.: Verbrechensprävention (wie Anm. 6), S.-53-55. 8 Dies.: Überwachen und Strafen (wie Anm. 5), S.-8. <?page no="47"?> 48 Claudius Sebastian Frenzel der Mentalität der Menschen entgegengekommen sei. Erziehung, Seelsorge und Katechese hätten dies weiter gefestigt. 9 Folgt man diesem Befund, dann lässt sich die Bedeutung der Angst vor göttlichen Sanktionen nicht hoch genug einschätzen, um die normativen und sozialen Mechanismen der frühneuzeitlichen Kirchenzucht und Strafverfolgung zu verstehen. Allerdings bleibt fragwürdig, ob der göttliche Zorn derart absolut verstanden werden kann, dass seine tatsächliche Reichweite fast ebenso universal erscheint wie sein normativer Geltungsanspruch. Das Motiv der Angst vor dem göttlichen Zorn determinierte nach dieser Auffassung die Handlungsweisen der maßgeblichen Akteure weitgehend. 10 Es stellt sich die Frage nach der Reichweite und Bedeutung des göttlichen Zorns in der normativen Ordnung, für die der Policeydiskurs einen wichtigen Bestandteil bildet. Eine konkrete inhaltliche Betrachtung hinsichtlich des Begründungs- und Deutungsmusters vom göttlichen Zorn ist indes kein Gegenstand der Arbeiten Schnabel-Schüles. Hierfür ist eher auf die Studien Heinrich Richard Schmidts zu verweisen. Er beschäftigt sich mit der Sittenzucht in den Berner Landgemeinden und wertete u.a. die vom Berner Rat erlassenen Normen aus. Schmidt kam zu der These, dass der göttliche Zorn von zentraler Bedeutung für deren Verständnis ist und die „Angst vor Gottes Strafe […] die eigentliche Motivation der Sittenzucht“ sei. 11 Für diesen Zusammenhang prägte Schmidt den Begriff der ‚Vergeltungstheologie‘: Der Terminus soll die „überkonfessionellen“, „gemeinchristlichen“ und „grundlegenden Axiome in den Sittenordnungen“ erfassen. 12 Schmidt rekonstruiert das den Normen zugrundeliegende Gottesbild. Gott sei dezidiert in die Zusammenhänge der weltlichen, sozialen Ordnung eingebettet gewesen, was etwa durch das Vorhandensein von Ehre, die verletzt werden könne, deutlich werde. Gott wurde nicht als ein unbeteiligter Beobachter der Sittenzucht konzipiert, sondern als eine Figur, die aktiv in das Geschehen eingreife: zum Einen durch seine Strafen; zum Anderen aber auch durch Belohnungen für gottgefälliges Handeln. Die göttlichen Strafen werden nach dieser Auffassung durchweg an der ganzen Gemeinde, gleichsam kollektiv, vollzogen. Am deutlichsten zeige sich 9 Dies.: Verbrechensprävention (wie Anm. 6), Zitat auf S.-54f.; dies.: Überwachen und Strafen (wie Anm. 5), S.-199-201. 10 Ungeklärt ist in diesem Kontext vor allem wie das Anzeigeverhalten der Untertanen zu erklären ist, da es hinter den obrigkeitlichen Erwartungen zurückblieb. Schnabel-Schüle wertet den Befund positiv: „Ohne diese nachhaltige religiöse Begründung der Anzeigepflicht [mit dem göttlichen Zorn; C.S.F.] wäre die Anzeigewilligkeit mit Sicherheit noch geringer gewesen.“ Vgl. dies.: Überwachen und Strafen (wie Anm. 5), das Zitat auf S.- 329, vgl. auch S.-170-176, insb. 175. 11 Heinrich Richard Schmidt: Die Ächtung des Fluchens durch reformierte Sittengerichte, in: Peter Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 65-120, hier S.-66. 12 Heinrich Richard Schmidt: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart/ Jena/ New York 1995, S.-3 Anm. 5. <?page no="48"?> 49 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm dies an den Strafformen, die in den Mandaten mit Verteuerungen, seltsamen und ansteckenden Krankheiten, Unwettern, Missernten und Krieg ganz eindeutig in diese Richtung weisen. Auch wenn die Gemeindeglieder selbst keine namhaften Sünder waren, würden sie mit zur Verantwortung gezogen, da Sünde die Ansteckung und Beschmutzung der Zuhörer und Mitwisser zur Folge hätte. Daher könne sich niemand der Pflicht entziehen, Missetaten auch beim Rat anzuzeigen, der wiederum als göttlich legitimierte Obrigkeit dem Auftrag verpflichtet war, die Sittenzucht konsequent durchzusetzen. 13 Sowohl Schnabel-Schüle als auch Schmidt verstehen also die Funktion der Normbegründung durch das Argument des göttlichen Zorns moraldidaktisch. Die Rede vom göttlichen Zorn wird als obrigkeitliches Instrument zur Durchsetzung von Normen interpretiert. Bei der Bewertung der daraus folgenden Konsequenzen beziehen beide m.E. jedoch unterschiedliche Positionen. Schmidt betont sehr deutlich, dass die Vergeltungstheologie überwiegend auf Reue und Buße abstellte, dass die Abstrafung also keinesfalls das anvisierte Ziel, sondern eher die ultima ratio gebildet habe. 14 Für Schnabel-Schüle bildet die „brüderliche Ermahnung“ und der Gewissensappell eine Camouflage, die de facto nicht den Kern der Straf- und Kirchenzucht ausgemacht habe, sondern hinter der ‚nackten‘ Angst vor der göttlichen Strafe zurückstand. 15 Während Schmidt die Reintegration der Sünder in die Abendmahlsgemeinschaft als dominantes Motiv ausmacht, 16 impliziert für Schnabel-Schüle die ängstigende Vorstellung der göttlichen Kollektivstrafe eher soziale Ausgrenzung. 17 Diese Differenz resultiert vor allem aus den unterschiedlichen Fragestellungen und Schwerpunktsetzungen. So klammert Schmidt das Strafrecht dezidiert aus, auf dem der Schwerpunkt in Schnabel-Schüles Analyse liegt. 13 Ebd., S.-3-11; ders.: Die Ächtung des Fluchens (wie Anm. 11), hier S.-65-70. 14 „Der erzieherische, ins Gewissen zielende Appell der Obrigkeit verlangt nach Buße, Umkehr, Besserung. Es geht keineswegs nur um die äußerliche Abstrafung von Verbrechen oder Policeyvergehen. Es geht um Sittenzucht, und der Aspekt der Sündlichkeit des Tuns steht im Mittelpunkt. Besserung wird auch Gott veranlassen, seine Strafandrohung zurückzunehmen.“ Vgl. ders.: Die Ächtung des Fluchens (wie Anm. 11), S.-69. 15 „Kirchenzucht als Möglichkeit, durch brüderliche Ermahnung von Lastern und Vergehen abzuhalten orientierten und zu einem an den göttlichen Geboten und damit mittelbar auch an den weltlichen Gesetzen konformen Leben zu führen, erreichte ihr Ziel partiell, aber letztlich auf anderen Wegen, als die theologische Diskussion dieses Problems glauben macht. Nicht Einsicht, sondern Angst dominierte.“ Vgl. ders.: Verbrechensprävention (wie Anm. 6), S.-64. 16 Schmidt.: Dorf und Religion (wie Anm. 12), S.-13f.; ders.: Gemeinde und Sittenzucht im protestantischen Europa der Frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.): Theorien kommunaler Ordnung in Europa, München 1996, S.-195-202, insb. 196f. 17 „Jeder, der vor ein Kirchenzuchtsgremium zitiert wurde, war damit potentiell für das verantwortlich, was die gesamte Gemeinde treffen konnte. Die Zitation vor ein Kirchenzuchtsgremium beinhaltete so bereits das Moment der sozialen Ausgrenzung, ehe noch eine wie auch immer geartete Strafe verhängt worden war. Sie verwies außerdem auf den Dekalog als Grundlage der Verbrechenssystematik und als Quelle des Unrechtsbewußtseins.“ Schnabel- Schüle: Verbrechensprävetion (wie Anm. 6), hier S. 52. <?page no="49"?> 50 Claudius Sebastian Frenzel Die Bedeutung des göttlichen Zorns als Argument in Normen scheint unstrittig. Unscharf bleiben jedoch Profil und mögliche Unterschiede in der Rhetorik der Normen, da z.B. Schmidt seinen Begriff der Vergeltungstheologie aus den zeitlich invarianten „Axiomen“ der Sittenzuchtordnungen zusammensetzt. Um aber Bedeutung und Reichweite innerhalb der normativen Ordnung präziser zu bestimmen, muss ein Profil des Vergeltungsdenkens zugrunde gelegt werden. Hierfür kann ausgehend vom Begriff der Vergeltungstheologie nach den Konjunkturen und Modi der Rede vom göttlichen Zorn gefragt werden. II. Eine ‚totale‘ Erfassung von Normen erscheint angesichts des großen Feldes der Policeyordnungen kaum möglich. Daher wird mit einem zeitlich und regional begrenzten Sample gearbeitet. In den Blick genommen wird mit dieser Pilotstudie die Reichsstadt Ulm, für die ein umfangreicher Bestand an Verordnungen überliefert ist, der durch das Repertorium der frühneuzeitlichen Policeyordnungen erfasst ist. 18 Wie alle großen Reichsstädte besitzt die Stadt ein spezifisches politisches, soziales und religiöses Profil. Der Umschlagsplatz am Oberlauf der Donau konkurrierte mit dem wenig entfernten Augsburg um wirtschaftliche und politische Größe. 19 Hervorzuheben ist die ökonomische Schlüsselrolle Ulms vor allem im Textilgewerbe sowie die politische Bedeutung der Stadt im Schwäbischen Bund und Schwäbischen Reichskreis. Ulm gelang es kontinuierlich, die städtische Autonomie durch kaiserliche Privilegien auszubauen. Bis zum Ende des 13.-Jahrhunderts war es gelungen, die Reichsunmittelbarkeit abzusichern. Wichtigstes Zeugnis der eigenständigen Satzungstätigkeit ist das Rote Buch der Stadt Ulm, das ab 1346 angelegt wurde. 20 Die Organisation des Stadtregiments und vor allem die zunftbürgerliche Partizipation wurden mit dem ‚Kleinen Schwörbrief‘ von 1345 und dem ‚Großen Schwörbrief‘ von 1397 fixiert. Als durchaus typische Entwicklung zeigt sich eine verstärkte Tendenz zur Eingliederung des 18 Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1). Es existiert keine Gesamtedition der Verordnungen. Siehe aber: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, begr. v. Emil Sehling, hg. v. Gottfried Seebass/ Eike Wolgast, Bd. 17, Baden-Württemberg IV, Südwestdeutsche Reichsstädte, Teilbd.- 2: Reutlingen, Ulm, Esslingen, Giengen, Biberach, Ravensburg, Wimpfen, Leutkirch, Bopfingen, Aalen, bearb. v. Sabine Arend, Tübingen 2009. 19 Zum Nachfolgenden grundlegend Hans-Eugen Specker: Ulm, Stadtgeschichte, Ulm 1977. An ein breites Publikum zuletzt Michael Wettengel/ Gebhard Weig (Hg.): StadtMenschen. 1150 Jahre Ulm: Die Stadt und ihre Menschen, Ulm 2004. 20 Carl Mollwo: Das Rote Buch der Stadt Ulm, Stuttgart 1905, S.- 10; vgl. auch Susanne Kremmer/ Hans Eugen Specker: Einleitung, in: dies.: Ulm (wie Anm. 1), S.- 1-25. Gudrun Litz: Entstehung und Bedeutung der Reichsstadt Ulm und ihre verfassungsrechtliche Stellung im Reich, in: Hans Eugen Specker (Hg.): 600 Jahre Großer Schwörbrief, Stuttgart 1997, S.-13-68, sowie die weiteren Beiträge darin. <?page no="50"?> 51 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Kirchenwesens unter das Stadtregiment seit dem 15.-Jahrhundert. 21 Unbeschadet der Tendenzen zur ‚Verobrigkeitlichung‘ der Ratsherrschaft wurden alle Stadtbürger zur Abstimmung über die Einführung der Reformation aufgefordert. 22 Nach Einführung der Reformation unter zwinglianischem Vorzeichen mit dem Erlass der Ordnung von 1531 23 sowie dem „Gemain Ausschreiben“ an alle Reichsstände, kam es in der Folgezeit zu einer Umorientierung hin zum Luthertum. Nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg nahm Kaiser Karl- V. die Neuordnung des Stadtregiments unter eigener Regie vor. Der Status als Reichsstadt blieb zwar unberührt, jedoch wurde eine patrizisch-altgläubige Majorität im Rat eingesetzt. Trotzdem ging die Stadt den eingeschlagenen lutherischen Weg weiter. 24 Zugleich kam es in diesem Jahrhundert, der demografischen Gesamtentwicklung im Reich folgend, zu einem enormen Bevölkerungszuwachs. Um 1600 lebten geschätzte 21.000 Einwohner im Stadtgebiet. Ulm kann daher zu den größeren urbanen Zentren des Alten Reichs gezählt werden und war als Reichsstadt zugleich Obrigkeit eines umfänglichen Landgebiets. Es verwundert also nicht, dass für Ulm auch eine relativ umfangreiche Policeygesetzgebung überliefert ist. 25 Doch auch aus diesem umfangreichen Bestand gilt es zwingend auszuwählen. Im Folgenden betrachte ich ausschließlich die städtischen Regelungen zur Gotteslästerung, zur Unzucht und zum Zutrinken. 26 Ordnungen und Mandate, 21 Zuletzt Hans Eugen Specker: Zur Entstehung, Entwicklung und Struktur des reichsstädtischen Kirchenregiments in Ulm, in: Norbert Haag u.a. (Hg.): Tradition und Fortschritt. Württembergische Kirchengeschichte im Wandel. FS für Hermann Ehmer zum 65.-Geburtstag, Epfendorf 2008, S.-69-81. 22 Hans-Eugen Specker/ Gebhard Weig (Hg.): Die Einführung der Reformation in Ulm. Geschichte eines Bürgerentscheids, Ulm 1981; Gudrun Litz: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007, S.-91-132. 23 Zuletzt Sabine Arend: Martin Bucer und die Ordnung der Reformation in Ulm 1531, in: Wolfgang Simon (Hg.): Martin Bucer zwischen den Reichstagen von Augsburg (1530) und Regensburg (1532). Beiträge zu einer Geographie, Theologie und Prosopographie der Reformation, Tübingen 2011, S.-63-79. 24 Für das späte 16. und 17.-Jahrhundert siehe: Oliver Kaul: Undankbare Gäste. Abendmahlsverzicht und Abendmahlsausschluss in der Reichsstadt Ulm um 1600. Ein interkultureller Prozess, Mainz 2003; Peter Thaddäus Lang: Die Ulmer Katholiken im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Lebensbedingungen einer konfessionellen Minderheit, Frankfurt a.M. 1977; Norbert Haag: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm. 1640-1740, Mainz 1992; Monika Hagenmaier: Predigt und Policey. Der gesellschaftliche Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614-1639, Baden-Baden 1989. 25 Karl Härter: ‚Gute Ordnung und Policey‘ des Alten Reiches in der Region: Zum Einfluß der Reichspoliceygesetzgebung auf die Ordnungsgesetzgebung süddeutscher Reichsstände, in: Rolf Kiessling/ Sabine Ullmann (Hg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005, S.-187-223, insb. S.-197. 26 Zur Einteilung der Regelungsmaterien Karl Härter/ Michael Stolleis: Einführung, in: dies. (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd.-1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürsten (Kurmainz, Kurtrier, Kurköln), hg. v. Karl Härter, Frankfurt a.M. 1996, S.-1-36. <?page no="51"?> 52 Claudius Sebastian Frenzel die sich explizit nur an das Territorium richten, bleiben außen vor. 27 Der Untersuchungszeitraum beginnt 1492. Denn erst mit diesem Jahr lässt sich eine Verdichtung der Regelungstätigkeit gegen Zutrinken, für das es zuvor in Ulm keine Erlasse gegeben hatte, 28 und gegen Gotteslästerung, wofür lediglich zwei deutlich ältere Regelungen aus dem Roten Buch existieren, 29 feststellen. Für den Regelungsbereich der Unzucht gibt es zwar auch vorreformatorische Verordnungen, 30 jedoch verdichtet sich die Regelungstätigkeit eindeutig erst in den 1520er Jahren. Für alle drei Regelungsbereiche lässt sich ein signifikanter Rückgang der Intensität erst im 18.- Jahrhundert beobachten. Für diesen Beitrag wurde ein zeitlicher Endpunkt um 1630 gewählt, bevor für Ulm die ‚heiße Phase‘ des Dreißigjährigen Krieges begann. 31 Warum wurden die drei genannten Regelungsbereiche ausgewählt? Ziel ist es, vermuteten Konjunkturen und Varianzen von Topos und Argument des göttlichen Zorns auf die Spur zu kommen. Während die Blasphemieforschung die enge Verbindung des Delikts der Gotteslästerung mit dem Topos vom göttlichen Zorn in den Normen in aller Deutlichkeit herausgearbeitet hat, 32 ist dies für die anderen beiden Regelungsbereiche keinesfalls eindeutig ausgemacht. Der Zorn Gottes als normatives Argument wurde in Forschungen zu Unzucht und Trunkenheit nur gelegentlich thematisiert, religiöse Bezüge in den Normen wurden kaum systematisch berücksichtigt. 33 Diese Regelungsbereiche können daher als Vergleichs- und gegebenenfalls Kontrastfolien dienen. 27 Das Gros der Verordnungen adressiert allerdings alle Untertanen. 28 Dies deckt sich mit dem Befund von B. Ann Tlusty zu Augsburg. Vgl. dies.: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg, übers. v. Helmut Graser, Augsburg 2005 [engl., Charlottesville, Va. u.a. 2001], S.-93. 29 {98} „Swern oder Meßer züken.“ von 1376, in: Mollwo: Das rote Buch (wie Anm. 20), Nr.-127, S.-74; {186} „Straff wegen Schwörens“, in: ebd., Nr.-197, S.-114. Die früheste Regelung des „Anderen Gesatzbuch“, datiert auf den 19.12.1492. Zur Überlieferung Kremmer/ Specker: Einleitung (wie Anm. 1), insb. S.-21-24, insb. S.-21. 30 {277} „Ehegerichtssachen nach Costanz von hier gewiesen“ vom 23.04.1420, in: Mollwo: Das Rote Buch (wie Anm. 20), Nr.- 468-472, S.- 231-233. Die erste Regelung gegen Ehebruch, uneheliche Beiwohnung und Priesterkonkubinat des ‚Anderen Gesatzbuchs‘ lässt sich auf ca. 1510 datieren. 31 Eine zeitliche und inhaltliche Ausweitung soll im Rahmen der Fortführung des Dresdner Forschungsprojektes erfolgen. 32 Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz 2005, insb. S.-190-195. 33 Tlusty: Bacchus (wie Anm. 28), S.- 93-120. Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der frühen Neuzeit, Paderborn u.a. 1999, S.- 71-105; Bettina Günther: Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17.-Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004. - Zur These Blasphemie als religiöses Leitdelikt zu verstehen: Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a.M./ New York 2011, S.-168-170. <?page no="52"?> 53 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Gotteslästerung, Unzucht und Zutrinken stehen hier verkürzend für drei in sich differenzierte Komplexe. 34 Unter der Überschrift „Vom Gotzlestern“ werden in den Ordnungen zwei Felder unterschieden, zum Einen - und ohne hierfür konkrete Beispiele zu nennen - schwere Gotteslästerungen, zum Anderen Flüche und Schwüre, die als ‚gotteslästerlich‘ galten, etwa auf die Passion oder die Glieder Christi sowie auf die Sakramente. 35 Der Begriff der Unzucht stellt einen besonders stark schillernden Begriff dar. 36 Mindestens zwei Gebrauchsformen müssen mit Blick auf die Verordnungen unterschieden werden: Als pejorativer Begriff findet er sich in Verboten zahlreicher unterschiedlicher Ordnungsübertretungen, die nicht zwingend mit Sexualpraktiken zu tun hatten. Enger gefasst, und in den Einteilungen der Ordnungen auch so gebraucht, meinte Unzucht Praktiken illegitimen Geschlechtsverkehrs. In die hier ausgewertete Stichprobe wurden Ehebruch und außerbzw. vorehelicher Geschlechtsverkehr aufgenommen, was allgemein als „Hurerey“ (nicht zu verwechseln mit Prostitution) bezeichnet wurde. Eine Sonderform war die sogenannte „Winckelehe“, das ‚unordentliche‘ Heiraten nach Eheversprechen ohne Zeugen oder Einvernehmen der Eltern. Dagegen werden in diesem Aufsatz Delikte wie ‚Notzucht‘, Zulassen oder Ermuntern des Ehepartners zum Ehebruch oder Kuppelei nicht betrachtet. Entscheidendes Auswahlkriterium war die Tatsache, dass nur die enger gezogene Auswahl jenseits der großen Ordnungen auch in den kleineren Rufen und Mandaten des Ulmer Rats gehäuft vorkommt. 37 Die Rubrik des ‚Zutrinkens‘ leitete sich von der Todsünde der Völlerei ab. Neben der Beschränkung übermäßigen Konsums alkoholischer Getränke wurde daher Wirten auch vorgeschrieben, was, wie viel an und zu welchen Zeiten sie Speisen anbieten durften. Mit Blick auf das Trinken konnte sowohl das Übermaß, als auch die rituelle Praxis des sich ‚Zutrinkens‘ und ‚Bescheidtuns‘ gemeint sein. 38 34 Im Nachfolgenden benutze ich der Einfachheit halber immer nur die verkürzten Oberbegriffe, wenn eine Präzisierung nicht notwendig ist. 35 Zur Phänomenologie des Fluchens und Schwörens siehe Gerd Schwerhoff: Zungen (wie Anm. 32), Kap. 5 und 6, S. 196-235. Auch ders.: Christus zerstückeln. Das Schwören bei den Gliedern Gottes und die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit, in: Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S.-499-527. 36 Überblicke zum Gesamtphänomen bei: Susanna Burghartz: Art. Unzucht, in: Historisches Lexikon der Schweiz (2009), online: http: / / mobile.hls-dhs-dss.ch/ m.php? article=D43742. php, zuletzt abgerufen am 04.01.2013; Gerd Schwerhoff: Art. Unzucht, in: EdN 13, Sp. 1107-1109. 37 Siehe für die Policey allgemein Härter: Kurmainz (wie Anm. 4), Kap. 8, S.-820-929; Burghartz: Reinheit (wie Anm. 33), Kap.3, S.-71-105, und Günther: Sittlichkeitsdelikte (wie Anm. 33). 38 Siehe allgemein vor allem Tlusty: Bacchus (wie Anm. 28), ferner Gerd Schwerhoff: Die Policey im Wirtshaus. Obrigkeitliche und gesellschaftliche Normen im öffentlichen Raum der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Christian Hochmuth/ Susanne <?page no="53"?> 54 Claudius Sebastian Frenzel Die in der neueren Forschung heiß diskutierte Frage nach der Implementation der Normen bleibt hier weitgehend ausgeklammert. 39 Stattdessen dient die Rhetorik der Guten Policey als Ansatzunkt, 40 wobei davon ausgegangen wird, dass diese Rhetorik eine eigene Wirklichkeit generierte. Neben der Bekanntgabe von Anordnungen und policeylichen Regelungen sollten sie den obrigkeitlichen Geltungsansprüchen Ausdruck verleihen. Die Ratsherren erließen die Ordnungen und Mandate ‚für den Gemeinen Nutzen‘ oder ‚für die Ehre Gottes‘, um die ‚gute Ordnung‘ im Gemeinwesen wiederherzustellen. 41 Diese Topoi geben deshalb vor allem Auskunft über die Leitbilder der normativen Ordnung. Die Verordnungen geben (ohne breitere Kontextualisierung) keinerlei Auskunft über tatsächliche Missstände in der Stadt oder die Motive der Ratsherren zum Normerlass. 42 III. Bevor ich mich der Sprache der Ordnungen zuwende, ist die Stichprobe kurz quantitativ zu beschreiben und einzuordnen. Es soll dabei sowohl nach den Konjunkturen der ausgewählten Regelungsbereiche als auch nach dem Anteil der Nennung des göttlichen Zorns gefragt werden. Wie Tabelle 1 zeigt, handelt es sich bei den ausgewählten Verordnungen mit 2,1% gegenüber der gesamten Verordnungstätigkeit um einen relativ geringen Anteil an der Ulmer Ordnungsgesetzgebung. Die Stichprobe umfasst 55 Verordnungen, die, mitunter kombiniert, 35 Regelungen zur Gotteslästerung und jeweils 28 zu Unzucht und Zutrinken enthalten. 43 Durchschnittlich wurden vier relevante Ordnungen pro Jahrzehnt erlassen, Rau (Hg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006, S. 355-376 (mit weiterer Literatur). 39 Zuletzt, mit zahlreichen weiteren Verweisen: Johannes Staudenmaier: Gute Policey in Hochstift und Stadt Bamberg. Normgebung, Herrschaftspraxis und Machtbeziehungen vor dem Dreißigjährigen Krieg, Frankfurt a.M. 2012, insb. S. 3-15. Grundlegend Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000. 40 Grundlegend Achim Landwehr: Die Rhetorik der „guten Policey“, in: ZHF 30 (2003), S.- 251-287. Die Rhetorik der Guten Policey weist in ihrer Bedeutung über die Ordnungen und Mandate hinaus. So wurden policeyliche Topoi vor Gericht, in Predigten oder in Suppliken angeführt. Siehe bspw. Hagenmaier: Predigt (wie Anm. 24). Ulrike Ludwig: Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548-1648, Konstanz 2007. 41 Siehe auch Achim Landwehr: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a.M. 1999, Kap. 4 („Der Anspruch der Obrigkeit“), S.-57-95. 42 Robert Giel: Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450- 1550), Berlin 1998, insb. S.-36f. und passim. 43 Dabei wurden alle Verordnungen in das Sample aufgenommen, die ausweislich des Repertoriums mindestens einen der drei ausgewählten Regelungsbereiche beinhalten. Lediglich die nachstehenden Statuten und Gerichtsprozessordnungen wurden nicht erhoben. Ausschlag- <?page no="54"?> 55 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm wobei daraus noch nicht hervorgeht, welche Regelungsbereiche diese jeweils einschlossen. Dies resultiert aus dem Charakteristikum von Policeygesetzen 44 , keinesfalls immer nur eine Rechtsmaterie pro Verordnung zu behandeln; ebenso gut konnten mehrere verschiedene Regelungsbereiche zugleich thematisiert werden. Es ist folglich nur möglich, entweder die Anzahl derjenigen Verordnungen zu bestimmen, die wenigstens einen der drei ausgewählten Bereiche enthalten. Damit würde aber der genaue Umfang der enthaltenen Regelungsbereiche vernachlässigt. Oder man zählt die Regelungsbereiche selbst, hat dann aber keinen Überblick mehr, wie viele Verordnungen diesen zugrundeliegen, da einige Normen doppelt oder dreifach gezählt werden müssten. Vergleicht man die drei Regelungsbereiche (siehe Abbildungen 1-3), zeigt sich mit durchschnittlich 2,5 Verordnungen pro Jahrzehnt ein deutliches Übergewicht der Gotteslästerung gegenüber der Unzucht und dem Zutrinken mit durchschnittlich jeweils zwei Verordnungen pro Jahrzehnt. Dabei bleibt die Häufigkeit der Regelungen zur Gotteslästerung eher stabil, während sie für das Zutrinken eher ab- und die Häufigkeit der Regelungen zur Unzucht eher zunimmt. Eine Möglichkeit, die Zählung von Regelungsbereichen und Verordnungen zu kombinieren, ist in Tabelle 3 dargestellt. Die Verordnungen werden dort nach den Kombinationsmöglichkeiten der Regelungsbereiche differenziert, und ihr jeweiliger relativer Anteil zur gesamten Stichprobe ausgewiesen. In 21,8% der erhobenen Verordnungen wurden alle drei Regelungsfelder gleichzeitig behangebendes Kriterium dafür ist, das ausschließlich Zuchtordnungen in den Blick genommen werden sollten. In chronologischer Reihenfolge: {725} „Articul und Stukh, so jährlich auff S. Jörgtag nach verlesenem Schwörbrieff zugleich denen Bürgern zu halten abgelesen worden“ von 1500; {1662} „Der Zucht- und Wahrnunghern Ayd“ von 1535; {2322} „Ordnung […] in Ehesachen unnd mit wasmassen hinfüro darinnen gerichtlich procediert und fürgangen werden soll.“ vom 23.05.1565; {3225} „Der Armen Ordnung.“ von 1616. 44 Den Begriffen Policeygesetz und policeyliche Verordnung liegt ein weiter, den Spezifika der Vormoderne entsprechender Gesetzesbegriff zugrunde. Vgl. hierzu und zum Folgenden (mit weiterer Literatur) Härter: Kurmainz (wie Anm. 4), Kap. 3., insb. 3.1.1 („Policeygesetze - Typen und Formen“), S.-118-123; ders.: Statut und Policeyordnung: Entwicklung und Verhältnis des Statutarrechts zur Policeygesetzgebung zwischen spätem Mittelalter und Früher Neuzeit in mitteleuropäischen Reichs- und Landstädten, in: Gisela Drossbach (Hg.): Von der Ordnung zur Norm: Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn u.a. 2010, S.-127-152; ders./ Stolleis: Einführung (wie Anm. 26). Tabelle 1: Anzahl der ausgewählten Verordnungen im Verhältnis zur gesamten Verordnungstätigkeit. Auf der Grundlage von: Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1), ohne Territorium. <?page no="55"?> 56 Claudius Sebastian Frenzel Abbildung 1: Zeitliche Verteilung des Regelungungsbereichs Gotteslästerung. Auf der Grundlage von: Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1), ohne Territorium. Abbildung 2: Zeitliche Verteilung des Regelungsbereichs Unzucht. Auf der Grundlage von: Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1), ohne Territorium. Abbildung 3: Zeitliche Verteilung des Regelungsbereichs Zutrinken. Auf der Grundlage von: Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1), ohne Territorium. <?page no="56"?> 57 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm delt. Dabei handelt es sich sowohl um Mandate als auch um größere Ordnungen, die jeweils auch noch weitere Regelungsbereiche jenseits der drei ausgewählten enthalten können. 45 Sehr häufig, nämlich in 60% der Verordnungen, wurde nur eine der drei ausgewählten Materien behandelt. Mit Blick auf die Zweierkombinationen zeigt sich, dass Unzucht und Zutrinken zwar mit der Gotteslästerung, nie aber untereinander kombiniert wurden. Zudem zeigt sich ein abnehmender Trend der Kombination von Gotteslästerung und Zutrinken, während es sich für Gotteslästerung und Unzucht genau umgekehrt verhält. Ausgehend von dieser Differenzierung soll nach der Häufigkeit des Auftretens des göttlichen Zorns als Topos und Argument gefragt werden; zunächst nur in Bezug auf die hier ausgewählten Verordnungen. Aus Tabelle 2 lässt sich der in Abbildung 4 dargestellte Trend ableiten, wonach der göttliche Zorn in den Verordnungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend häufiger vorkam. Dessen Häufigkeit stagnierte dann auf hohem Niveau (über 60%). Gezählt wurde nur der Begriff ‚Zorn Gottes‘. In einem Fall wurde von ‚Gottes Strafen‘ gesprochen, was aufgrund der generellen semantischen Nähe zum Zorn Gottes mitgezählt wurde (dazu Abschnitt IV). In zwei weiteren Fällen wurde lediglich vom ‚Missfallen Gottes‘ gesprochen, was nicht mit gezählt wurde, da in diesen Fällen zudem keine Konsequenzen für die Delinquenten oder die Gemeinschaft gezogen werden. Diese Ergebnisse lassen sich weiter verfeinern, indem gefragt wird, wie hoch der Anteil der Nennung des göttlichen Zorns in den jeweiligen Kombinations- 45 Allerdings ist jede andere Kombination sehr viel seltener. ! " Tabelle 2: Nennung des ‚Zorn Gottes‘ (GZ) in den Verordnungen des ausgewählten Samples. Abbildung 4: Prozentualer Anteil des ‚Zorn Gottes‘ (GZ/ Prozent) und der davon abgeleitete logarithmierte Entwicklungstrend (Log. (GZ/ Prozent)). Auf der Grundlage von Tabelle 2. <?page no="57"?> 58 Claudius Sebastian Frenzel ! ! # $ # $ # $ # $ # $ # $ # $ % ! # $ # $ # $ # $ " ! # $ # $ ! % ! & " ! # $ # $ # $ # $ # $ # $ # $ # $ ! & % ! # $ # $ # $ & " ! # $ # $ # $ # $ Tabelle 3: Anteil einzelner Regelungsberreiche und ihrer Kombinationen untereinander am ausgewählten Sample sowie der Anteil des ‚Zorn Gottes‘ (in Klammern). Abkürzungen: Gl.: Gotteslästerung; Unz.: Unzucht; Zut.: Zutrinken. Grundlage: Kremmer/ Specker: Ulm (wie Anm. 1), ohne Territorium. möglichkeiten der ausgewählten Regelungsbereiche ist. Dabei zeigt sich eine sehr eindeutige Korrelation des Auftretens von Topos und Argument des göttlichen Zorns mit einer Kombination aus allen drei Regelungsbereichen; ebenso gibt es eine deutliche Korrelation mit den Zweierkombinationen. Deutlich geringer liegt der Anteil bei Verordnungen, die nur einen der drei Regelungsbereiche enthalten. Was können Gründe hierfür sein? Zunächst lassen sich nur formale Eigenschaften der Verordnungen anführen. Dass in den fünf großen Zuchtordnungen der Zorn Gottes in der Arenga angesprochen wird, ist ein durchaus zu erwartendes Ergebnis. Bei den übrigen acht Verordnungen aus der Dreierkombination handelt es sich um Mandate und Rufe, die den umfassenderen Ordnungsanspruch der großen Zuchtordnungen gleichsam verkürzt zum Ausdruck bringen. Dies trifft ebenso auf die beiden Zweierkombinationen Gotteslästerung-Zutrinken und Gotteslästerung-Unzucht zu. Größere Abweichungen zeigen sich bei Verordnungen, die nur einen der drei ausgewählten Regelungsbereiche enthalten. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Einzelmandate, die nur gegen Gotteslästerung vorgehen, nennen fast immer den Zorn Gottes (außer bei den vorreformatorischen Rufen); wenn dessen Nennung fehlt, dann in der Kombination mit anderen Delikten. So bspw. in einem Ruf gegen Glücksspiel, der in durchaus typischer Weise für Glückspielverordnungen auf die Gefahr hinweist, dass das Spielen um Geld zur Gotteslästerung reizt, und deshalb das Gotteslästern gleich mit vermahnt. Das zentrale Anliegen der Verordnung ist es aber, primär gegen das Glückspiel vorzugehen. 46 Ein von diesem Muster abweichendes Bild zeigt sich für das Zutrinken und die Unzucht. Gerade die Regelungen zum Zutrinken weisen jenseits der Kombination mit der Gotteslästerung so gut wie nie die Nennung 46 {2592} „Ruoff Spilens halben.“ vom 16.06.1580, StdA UL, A 3681, fol. 351. Vgl. zum Zusammenhang von Glücksspiel und Gotteslästerung Gerd Schwerhoff: Der blasphemische Spieler - zur Deutung eines Verhaltenstypus im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: ludica, annali di storia e civiltà del gioco 1 (1995), S.-98-113. <?page no="58"?> 59 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm des göttlichen Zorns auf, obwohl das Zutrinken in engem Zusammenhang zur Todsünde der Völlerei stand. 47 Für die Einzelverordnungen, in denen der göttliche Zorn fehlt, muss festgehalten werden, dass die Sündhaftigkeit des Trinkens ebenso unerwähnt bleibt, wie der Zorn Gottes, so bspw. als ein Ruf von 1552 das Zechen und Weintrinken während der Wache bei schweren Leibesstrafen verbot; zwar gefährde das Trinken die Sicherheit der Stadt, wenn die Wachen dadurch ihre Aufgaben nicht ernst nehmen. Die Bedrohung ist aber nicht religiöser Art: „Meine Herrn Burgermayster vnnd ain Ersamer Rath Lassen hirmit auß beweglichen vrsachen allen Irn Burgern So jederzeyt vff die wachten verordnet werden, ernstlich vnnd beyleib straff gebieten das Irn kheiner weder für sich selbst noch mit andern vff den angezeigten wachten es sey tags noch nachts nit zechen noch wein trinckhen sondern sollichs gentzlich abstllen vnnd vermeyden sollen bey obgemelter straff dannach wisse sich menigclich zugerichtn. Actum den 26. aprillio anno 1552.“ 48 Die Unzuchtsdelikte der Quellenauswahl wurden weniger mit anderen Regelungsbereichen kombiniert, sieht man von der Gotteslästerung ab. Vielmehr ist die Kombination der Unzuchtsdelikte untereinander auffällig. So fehlt der göttliche Zorn in den Einzelverordnungen gegen die ‚Leichtfertigkeit‘, die sich zum Ende des 16.- Jahrhunderts häufen. Die Konjunktur der Unzuchtsgesetzgebung wurde maßgeblich vom verschärften Kampf gegen das ‚leichtfertige Zusammenheiraten‘ im letzten Viertel des 16.- Jahrhunderts getragen. 49 In Ulm bildete die Ordnung von 1581 einen ersten Höhepunkt dieser Kampagne, da praktisch sämtliche Regelungen zum Bereich der Unzucht und abweichenden Sexualität überarbeitet und zum Teil ausdrücklich verschärft wurden. Bereits im Zuge der Reformation wurde dem Ehestand eine umfassende Bedeutung für die Konstitution der gesamtgesellschaftlichen Ordnung zugemessen, was sich auch in restriktiven Regelungen niederschlug. Außerehelicher Geschlechtsverkehr widersprach dem Ziel, Ehestand und Jungfräulichkeit der Töchter zu schützen. Zunächst galt das beiderseitige Einverständnis der Eltern als verbindliche Voraussetzung für den Bund der Ehe; er sollte aber nicht von den Eltern erzwungen 47 Dazu Tlusty: Bacchus (wie Anm. 28), insb. Kap. 5.1 u. S.-120 sowie passim. 48 {2091} „Ruff, das die Burger uff den Wachten nit zechen sollenn.“ vom 26.04.1552, StdA UL, A 3672, fol. 266 v . 49 Dazu v.a. Burghartz: Zeiten (wie Anm. 33), Kap. 3-5; dies.: Jungfräulichkeit oder Reinheit? Zur Änderung von Argumentationsmustern vor dem Basler Ehegericht im 16. und 17.- Jahrhundert, in: Richard van Dülemen (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt a.M. 1992, S.- 13-40. Renate Dürr: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995, S.- 220-265. Härter: Kurmainz (wie Anm. 4), S.- 820-929. Nachwievor grundlegend: Stefan Breit: ‚Leichtfertigkeit‘ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991. Lyndal Roper: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Aus dem Englischen von Wolfgang Kaiser, Frankfurt a.M./ New York 1995 [engl., Oxford 1989], Kap.-4, S.-114-140 und passim. <?page no="59"?> 60 Claudius Sebastian Frenzel werden. 50 Wohl nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit der Ehe- und Sittengerichte wurde diese Grenze restriktiver gezogen. Erst der Eintrag in das Eheregister und die kirchliche Trauung sollten den Ehestand begründen. Daher war der eheliche Beischlaf auch erst nach dem Kirchgang zulässig. Diese Anforderungen lagen quer zu den bisherigen Praktiken der Eheanbahnung, denn der Beischlaf der Verlobten war nach einem bezeugten Eheversprechen traditionell legitim. Auf diese nun vehement als ‚Leichtfertigkeit‘ etikettierte Praxis richtete die Obrigkeit ihre Aufmerksamkeit. Die verschobene Grenzziehung wurde von zahlreichen Mandaten bekräftigt, die auf die Markierung abweichender Sexualpraktiken als Sünde zielten. Wenn sich Töchter als ‚ehrbare Jungfrauen‘ trauen lassen wollten, und dennoch „mit grossen schwangeren leibern zur kirche“ gingen, was ihrer ‚Leichtfertigkeit‘ einen öffentlichen Ausdruck verlieh, sei das „vor gott vnnd aller erbarkait lästerlich vnd abscheülich“. 51 Dies alles sind natürlich nur einige Mosaikstücke, die noch lange kein komplettes Bild von den Gründen für das Fehlen des göttlichen Zorns als Topos und Argument in nahezu der Hälfte der Verordnungen bilden. Zwei Befunde lassen sich nach meinem Dafürhalten dennoch generalisieren: Erstens zeigt sich für die Gotteslästerung eine sehr deutliche Korrelation mit der Rede vom göttlichen Zorn. Dies bestätigt die bisherigen Befunde der Forschung. Unzucht und Zutrinken weisen die Tendenz auf, zumindest in Kombination mit Gotteslästerung auf den Zorn Gottes zu rekurrieren. Dies spiegelt den zweiten Befund, wonach sich mit der Nennung des göttlichen Zorns die Tendenz verbindet, dass mehrere Regelungsbereiche miteinander verknüpft auftreten. Diese Ergebnisse differenzieren die bestehenden Vorstellungen zur Konjunktur des göttlichen Zorns in den policeylichen Verordnungen. Gut aufgearbeitet sind diese vor allem für die Frühphase der Vergeltungstheologie und mit Blick auf die Verordnungen zur Gotteslästerung. Zuletzt ist Gerd Schwerhoff den Anfängen der Vergeltungstheologie im Spätmittelalter nachgegangen. 52 Danach lassen sich für das 15.-Jahrhundert nur vereinzelte Beispiele anführen. Lediglich in den Baseler Rufen gegen das gotteslästerliche Schwören und Fluchen ist die Vergeltungstheologie schon in der zweiten Hälfte des 15.-Jahrhunderts präsent. 53 Den 50 Vgl. {1544} „Ordnung, die ain ersamer Rath der Statt Ulm in Abstellung hergeprachter etlicher Mißpreuch in irer Stat und Gepietten zu halten fürgenommen“ in: Arend: Ulm (wie Anm. 23), S.-157; vgl. auch ebd., S.-72-74, die Ausführungen zum Ulmer Ehegericht. 51 {2875} „Mandat wegen dess leichtfertigen Zusamenheüratens, Schwengerns und Verfellens, […].“ vom 04.09.1601, StdA UL, A- [6558], fol.- 149 r -150 r , hier 149 r . - Ähnlich bereits {2472} „Gesaz von ainem Erbarm Rath von wegen der Weibspersonen, so sich im Verkünden unnd Kirchgang alls Junckfrawen erzaigen, aber zuvor beschlaffen worden.“ vom 30.12.1573, StdA UL, A-2505, fol.-41. 52 Schwerhoff: Zungen wie Schwerter (wie Anm. 32), S.-190-195, insb. S.-192; ders.: Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.-17. Jh.), in: Ius Commune 25 (1998), S. 39-120, hier v.a. S.-56-59. 53 Mit einem Ruf von 1451 und einem von 1491 in dieser Form; vgl. den ausführlichen Wortlaut bei: Schwerhoff: Zungen (wie Anm. 32), S.- 192 Anm. 743. - Die These Beate <?page no="60"?> 61 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Baseler Rufen kommt (bislang) eine Vorreiterrolle zu. Der These Josef Segalls zufolge waren sie womöglich eine Inspirationsquelle für den Reichsabschied von 1495. 54 Erst dieser Reichsabschied mit seinen Erlassen gegen die Gotteslästerung bildete dann die normative Grundlage für die reichsweite Verbreitung der Vergeltungstheologie. 55 Für die hier untersuchte Auswahl an Ulmer Ordnungen lässt sich zeigen, dass die einzigen beiden vor dem Wormser Reichstag von 1495 erlassenen, die in einem Fall Regelungen gegen das Zutrinken und im anderen Fall gegen das Gotteslästern und Zutrinken enthielten, den Zorn Gottes nicht anführten. 56 Das Gleiche gilt für alle früheren Verordnungen gegen Unzucht und Gotteslästerung im erwähnten Roten Buch. Und auch die Rufe nach 1495 beziehen sich noch vergleichsweise selten auf den Zorn Gottes (siehe Tabelle 2 und 3 sowie Abbildung 4). Vergleichbar präzise Fixpunkte für ein mögliches Ende lassen sich bisher nicht identifizieren. Es zeichnet sich eher eine schleichende Veränderung ab. Helga Schnabel-Schüle macht eine merkliche Zäsur um 1700 aus. 57 Achim Landwehr hat unterdessen beobachtet, dass sich bereits seit dem ersten Viertel des 17.- Jahrhunderts ein Bedeutungsverlust religiöser Argumente für den Begründungszusammenhang der policeylichen Verordnungen abzeichnet - ein mit äußerster Vorsicht, wie er hervorhebt, als ‚Säkularisierungsschub‘ zu bezeichnender Vorgang, der aber (noch) nicht dazu geführt habe, die Policey ihrer christlich- Schusters, wonach das Aufkommen der Argumentation mit dem göttlichen Zorn in den Normen durch einen Transfer aus den im 15.-Jahrhundert re-formulierten Ehrvorstellungen der Zünfte zu erklären sei, ist bislang nicht überprüft worden. Vgl. dies.: Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16.-Jahrhundert, Frankfurt a.M./ New York 1995, Kap.-7, S.-316-341. 54 Josef Segall: Geschichte und Strafrecht der Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577, Breslau 1914 [Reprint: Frankfurt a.M./ Tokyo 1977], S.-38f. Eingehend diskutiert bei: Schwerhoff: Schranken (wie Anm. 52), S.-58f. 55 Vgl. Schwerhoff: Zungen (wie Anm. 32), S.-192. Zur Policeygesetzgebung auf dem Wormser Reichstag Karl Härter: Policeygesetzgebung auf dem Wormser Reichstag von 1495, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hg.): 1495 - Kaiser, Reich, Reformen: Der Reichstag zu Worms, Koblenz 1995, S.-81-93. 56 Vgl. {622} „Gesatzt und Gebot vom Spil, von Vogeln unnd vom Zutrincken.“ vom 10.03.1492, StdA UL, A 3669, fol. 115; {628} „Ordnung und Gesatzt, durch ain Rat fürgenomen und beschlossen, zum ersten des Gotzschwerens halben, zum anndern des Zutrinckenns halb, zum dritten, das kain Wirt kain Trunk über die Weinglogken setzen soll, zum vierden, das niemant des nachts nach der Wein“ vom 19.12.1492, StdA UL, A 3669, fol. 118 v -119 v . 57 „Seit dem Ende des 17.- Jahrhunderts trat in den Präambeln der weltlichen Verordnungen und Gesetze die Vermeidung der göttlichen Rache als Begründung ihrer Notwendigkeit deutlich in den Hintergrund. Statt dessen tauchten die Sorge für das allgemeine Beste und die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auf. Die Angst vor dem göttlichen Zorn lebte aber weiter, viele Menschen konnten sich davon noch nicht befreien.“ Vgl. Schnabel-Schüle: Verbrechensprävention (wie Anm. 6), Zitat auf S.-59. <?page no="61"?> 62 Claudius Sebastian Frenzel religiösen Grundlagen gänzlich zu entkleiden. 58 Zwischen beiden Positionen ist hier nicht zu entscheiden. Ausweislich einer ersten Stichprobe zeigt sich für Ulm eher der von Schnabel-Schüle angesprochene Trend. Während die bereits eingangs zitierte Zuchtordnung von 1681 noch in demselben Muster argumentierte wie die vorangegangenen, ist die 1717 erlassene „Universal-Straff- und Policey- Ordnung“ 59 Ausdruck einer veränderten Systematik. Das rhetorische Schema der älteren Zuchtordnung wurde gänzlich aufgegeben. Stattdessen wurden alle Frevel- und Straffälle nun alphabetisch sortiert, da dies handlicher sei, wie es in der sehr knappen Vorrede heißt. Für die einzelnen Delikte wird nur das Strafmaß ohne Begründung festgehalten. Nach der Policeyordnung von 1717 gibt es keinen weiteren Erlass mehr gegen das Gotteslästern und nur noch sehr wenige gegen Trunksucht und Unzucht. Ausgehend von diesen Beobachtungen kann nun das semantische Feld des göttlichen Zorns in den Blick genommen werden, denn die ausschließliche Fokussierung auf den Begriff vom göttlichen Zorn lässt das Wortfeld, in das er eingebunden ist, außen vor; mögliche Differenzen werden eingeebnet. Im Folgenden sollen drei Fragen beantwortet werden: Wie stellt sich das Profil der aus dem Zorn Gottes folgenden Strafen dar? In welchem Zusammenhang stehen die obrigkeitlichen und die göttlichen Strafen? Auf welche Ursachen wird der Zorn Gottes zurückgeführt? IV. In den beiden eingangs zitierten Zuchtordnungen ist geradezu idealtypisch formuliert, was mit ‚kollektiver‘ Strafe am Gemeinwesen gemeint ist: „vns daherr beschwerliche Kriegs vnd sterbende leuff Auch Pestilentz, vnerhörte Kranckhaiten, theure zeit, andere wolverschuldete Plaagenn Töglich vber halß kommen vnnd wachsen“. 60 ‚Krieg, Pest und Teuerung‘ bildeten als Trias eine feststehende Wendung in den Arengen zahlreicher Policeyordnungen, die man oft auch zusammengefasst als „Landplagen“ oder „Landstrafen“ bezeichnete. Doch die Formulierungen, mit der die Strafen Gottes angekündigt wurden, weisen konjunkturelle Schwankungen auf. Vor 1529 61 benennt keines der Ulmer Mandate die Strafen, die der zornige 58 Vgl. Landwehr: Policey im Alltag (wie Anm. 41), S.-68f. 59 {4332} vom 17.09.1717, StdA UL, A 3972. 60 {2194} „Ordnung […]“ vom 07.12.1558, BSB- M, 4 J.germ. 120- y, VD16 U62, ohne Paginierung. - „Gott der Allmechtig zu anbrennung seines göttlichen Zorns und wolverdienten Straffen mit Krieg, Blutvergiessen, Pestilentzund andern hoch beschwerlichen, eines Theils hievor unerhörten Kranckheiten, langwirigen Theurungen und andern Plagen nicht allein höchlich verursacht und bewegt […]“. Vgl. {3903} „Gesatz und Ordnung, Von Straff offenbarer Laster, auch leichtfertigen Verheurathens und anderer Unzucht“ von 1683, StdA-UL, A-3708, ohne Nummerierung, S.-2 [auch BSB-M, 2 J.germ. 14 a#Beibd.3, VD17 1: 016177R]. 61 Das Mandat aus dem Jahr 1529 führt bereits wörtlich die durchaus interessante Begründung der Ulmer Reformationsordnung von 1531 aus, da dort die über hundert Jahre alten Rege- <?page no="62"?> 63 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Gott schicken würde, nur dass sie die ganze Gemeinde treffen würden, wird, wenn auch sehr knapp, deutlich gemacht: „[…] wo das [Gotteslästern; C.S.F.] nit abgestöllt werden sollte das gott der her sein straff weyter über diß statt […] verhengen würde.“ 62 Ebenso verhält es sich mit einer Ordnung von 1508, die wiederum einen Sonderfall bildet, weil sie dezidiert individuelle 63 und kollektive Vergeltung unterschied. In ihr wurde sehr viel eindringlicher vor dem Laster und Übel der Gotteslästerung gewarnt, da diese „zuverachtung gottes und der oberkeit […] nit klein erschreckn und mißfall bringn“ würde. Die Konsequenz dessen sei, dass „gott der allmechtig deßhalb schwerlich erzürnt und bewegt werden möchte nit allain straff und rach bey den Ihenen so sollich last[er] und übel vollbringen sond[ern] auch bey ainem rat und gemain statt zufürchtn“ wäre. 64 Diese Formulierung blieb singulär. Auch fehlte noch der Topos der Landplagen. Beide Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Rhetorik des göttlichen Zorns erst nach und nach in diesem Regelungsbereich ihren festen Platz erhielt. ‚Krieg, Pest und Teuerung‘ als Konsequenzen des göttlichen Zorns anzuführen, etablierte sich nur langsam. Noch Mitte des 16. Jahrhunderts wurde keinesfalls in jeder Ordnung und jedem Ruf auf diese Trias zurückgegriffen. Erst in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts verdichtete sich die Formel in den Ordnungen und Mandaten, während etwa noch die Gebetstagsordnung von 1546 die drohende Gefahr in Form eines sich in Bayern formierenden päpstlichen Heeres sehr konkret benannte. 65 Die Trias von ‚Krieg, Krankheit und Teuerung‘ galt nicht nur als Resultat des göttlichen Zorns, sondern sie konnte auch als Zeichen der Apokalypse gedeutet werden. Apokalyptik und Straftheologie waren nicht deckungsgleich, schlossen sich aber auch nicht gegenseitig aus. Volker Leppin hat dies treffend in die Formulierung gebracht: „Die Trias von Krieg, Pest und Teuerung konnte man - ebenso wie Astralphänomene und Naturkatastrophen - durchaus gängig als Zeichen der Strafe Gottes verstehen. Daß sie auch Zeichen des Endes waren, lungen aus dem Roten Buch aufgegriffen werden. Vgl. {1492} vom 02.11.1529, StdA UL, StdA UL, A 3971, Nr. 29; {186} „Straff wegen Schwörens.“ von ca. 1390, in: Mollwo: Das Rote Buch (wie Anm. 20), Nr. 197, S. 114; {1544} „Ordnung, die ain ersamer Rath der Statt Ulm in Abstellung hergeprachter etlicher Mißpreuch in irer Stat und Gepietten zu halten fürgenommen […]“ 06.08.1531, in: Arend: Ulm (wie Anm. 18), S.-152. 62 {1029}von ca. 1512, StdA UL, A 3669, fol.-422 v . 63 In der Flugpublizistik gab es zahlreiche Beispiele für individuelle Vergeltungen Gottes an Blasphemikern. Siehe Schwerhoff: Zungen (wie Anm. 32), S.-59 und passim. 64 {930} „Wie ain Rat das Gotzlestern und Zutrincken in der Statt verbotten hatt“ vom 20.11.1508, StA-UL, A-3669, fol.-362 v -363 r . In derselben Ordnung wird nur noch das Zutrinken verboten, jedoch in einem seperaten Absatz. Dagegen wird der Zorn nicht in der Vorrede gebraucht, sondern direkt auf die Regelungen zur Gotteslästerung bezogen. 65 {1904} „Ains Erbarn Raths der Stat Ulm christenliche Ermanung und Ordnung zum Gepett […]“ vom 13.08.1546, StdA UL, A 3688, fol.-15 r -20 v . <?page no="63"?> 64 Claudius Sebastian Frenzel stellte eine besondere Pointe der lutherischen Verkündigung dar.“ 66 Insofern liegt die Frage nahe, ob sich dies auch in den Ulmer Ordnungen und Mandaten beobachten lässt, wenn man bedenkt, dass neben straftheologischem Denken apokalyptische Vorstellungen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts zentral für die lutherische Verkündigung waren. 67 Jedoch dominiert in den Ulmer Verordnungen eindeutig die straftheologische Deutung, wenngleich sich zeigt, dass diese seit der zweiten Hälfte des 16.- Jahrhunderts in einen eschatologischen 68 Kontext eingebettet werden konnte. So heißt es in der Gebetstagsordnung von 1560, man müsse die Sünden in der Stadt beenden, und solle sich nun eines „gottwolgefällign lebens, sonderlich bey diser latsten zeiten, getreulich vnnd emsig befleißen“. 69 In der großen Zuchtordnung von 1558 wurde gemahnt, man solle sich stets des göttlichen Gerichtes gewiss sein. 70 Aus dem Zorn Gottes wurde indes nicht nur das Potenzial einer ‚Kollektivstrafe‘ abgeleitet. Auffällig sind auch die sich seit dem Ende des 16.-Jahrhunderts mehrenden Appelle an die Gotteslästerer, ihr eigenes Seelenheil zu bedenken, welches sie durch ihr gottloses Verhalten gefährdeten. 71 Während dies dem Argument drohender ‚Kollektivstrafen‘ zur Seite gestellt wurde, verwiesen die Einzelverordnungen gegen Leichtfertigkeit auch auf ausschließlich individuelle Konsequenzen. 66 Volker Leppin: „…mit dem künfftigen Jüngsten Tag und Gericht vom sünden schlaff auffgeweckt“. Lutherische Apokalyptik zwischen Identitätsvergewisserung und Sozialdisziplinierung (1548-1618), in: Wolfram Brandes/ Felicitas Schmieder (Hg.): Endzeiten. Eschatologie in monotheistischen Weltreligionen, Berlin/ New York 2008, S.- 339-349, hier S.-340. Leppin unterscheidet „gegenwärtig immanentes Unglück“ und „das zukünftige totale Weltende“; ders.: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618, Gütersloh 1999, S.-151-168, insb. Kap.-5.3, S.-161-164, Zitate: S.-151. Siehe zur Apokalyptik ferner Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20.- Jahrhundert, Göttingen 1999; Matthias Pohlig: Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600 - Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: ARG 93 (2002), S.-278-316; Thomas Kaufmann: Apokalyptische Deutung und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16.-Jahrhunderts, in: ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, S.-29-56. 67 So Leppin: Apokalyptik (wie Anm. 66), S.- 347-349. Grundlegend ders.: Antichrist (wie Anm. 66). 68 Walter Sparn: Art. Endzeit, in: EdN 3, Sp.-278-281; Michael N. Ebertz/ Gerhard Sauter: Art. Eschatologie, in: EdN 3, Sp.-521-542. 69 Vgl. {2209} „Hierauff volgt nun ain Proclamation unnd offenlich Abmanung von allerlay Lastern.“ von 1560, StAL, B-207, Bü 51, fol.-250 r -251 v , Zitat: fol.-250 r-v ; {2344} „Ruoff zur Zeit dess Turck Rat unnd Gevar anno 66, zu Abstöllung der Laster und annderer Leichtvörtigkaiten, Freuden und Kurzweil.“ vom 15.07.1566, StdA UL, A 2503, fol.-296 r -298 r . 70 Sie wird explizit an die Hausvorstände und Schullehrer gerichtet. Vgl. {2194} „Ordnung in Straff offenbarer Laster unnd anderer Unzucht.“ vom 07.12.1558, BSB-M, 4 J.germ. 120-y, VD16 U62, ohne Paginierung. 71 {3442} von 1630, StdA UL, A- 3971, o.N.; {3561} „Mandat des Gottslästerns halber.“ vom 17.08.1638, StdA UL, A-3971, N.-57. <?page no="64"?> 65 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Welche Rolle spielte das Argument des göttlichen Zorns in den Kampagnen gegen Unzucht? Zunächst einmal kam es immer häufiger vor (s. o. III.). Dieser Anstieg wird aber nur sichtbar, wenn man Regelungen zur ‚Leichtfertigkeit‘ isoliert betrachtet. In einem 1573 erlassenen „Gesaz von ainem Erbarm Rath von wegen der Weibspersonen, so sich im Verkünden unnd Kirchgang alls Junckfrawen erzaigen, aber zuvor beschlaffen worden“ 72 fehlte der göttliche Zorn noch und ein Ruf von 1593 formulierte: „vß disen Ergerlichen vnd Ohnordentlichen Winckelheurathen das Gott dem Allmechtigen zum höchsten Mißfällige vnd Schandtliche Laster des Leichtferttigen zusamen gehens Schändens vndd Versöllens auch Schwängerens der Ledigen Döchtern vnnd Wittiven fürnemblich sein Vrsprung bekommt“. 73 Erst in einem Mandat von 1601 wurde der Zorn Gottes erwähnt. Ausführlich beschrieb das Mandat, wie ‚Leichtfertigkeit‘ persönlich vor Gott zu verantworten wäre: „dardurch gottes willte [wille; C.S.F.] zue dem h. ehestand, sonderlich zum höchsten erzörnet, sonnder es würdet auch durch solche vnglüchselige, schöndtliche anfahung daß ehelichen lebenns, der göttliche segen, dem ehestan[d] entzog[en], vnnd dargegen alles vnglückh, vnnd enndtlich wie die lebenndige exempta bezeugen, elend vnd armut eingefürt, […].“ Erst nachdem im Jahr 1605 die Narratio eines Mandates bilanzierte, dass das leichtfertige Zusammenschließen und das Ehebrechen trotz konsequenter Turm- und Geldstrafen sowie Landesverweise immer noch „im Schwanck gehen will“, wurde daraus auf den Zorn Gottes gefolgert: „Dahero dann der Allmechtige Gott zu billicher Raach vnd Straff gegen vnns höchlich Verursacht“ werde. 74 Doch sollte nicht voreilig ein Trend konstruiert werden. Ein „Zettul inn die Handtwerckher“ von 1614 75 lässt den Zorn Gottes ebenso außen vor wie ein Fürhalt von 1619. 76 Zuvor hatte ein Ruf von 1586, allerdings nicht gegen ‚Leichtfertigkeit‘, sondern gegen außerehelichen Geschlechtsverkehr 77 , klar herausgestellt, dass durch diese Sünde der Zorn Gottes provoziert werde. Zugleich sprach er die individuellen Konsequenzen an, denn „von disen vunzüchtigen schandlichen gottlosem vnnd ergerlichem leben“ würden „schwere langwirige beharliche leibskranckheiten“ hervorgehen sowie „endtlichs vnd ewig verderben“. 72 {2472} vom 30.12.1573, StdA UL, A-2505, fol.-41. 73 {2787} vom 12.03.1593, StdA UL, A 3688, fol. 34. 74 {2930} „Des leichtfertigen Zusammenschließen betreffend“, vom 15.10.1605, StdA UL, A 3701, Nr. 22 75 {3194} StdA UL, A 3682, fol. 43 r -44 v . 76 {3277} „Fürhalt in alle Zünfften, 1) wegen Nachlauffens der ledigen Mägdt und Dochtern nach den Soldaten, 2) wie auch deß Uberstandts halben vor unnd zwischen denn Thoren“ vom 13.05.1619, StdA UL, A 3674, fol. 36 r -38 v . 77 Der nur in Umschreibung angedeutet wird: Die von jenen „vnzüchtigen weibs bilder[n] vor den Thorn, nahen bey der Statt“, die sich dort „sehen vnnd finden lassen vnnd denen vilfeltig schand vnd vnnd laster […] geübt vnd getrib[en] würden, durch welche grausame Sünd Zuvorderst der liebe Gott Im himel Zum höchsten erzünet“ werde. Vgl. {2687} vom 20.07.1586, <?page no="65"?> 66 Claudius Sebastian Frenzel V. Obrigkeitliches Strafen sollte präventiv einschreiten, bevor Gott über die Sünden erzürnt und endliches und ewiges Verderben schicken würde. Was geschah aber, wenn die göttlichen Strafen nicht mehr nur als zukünftige Option angekündigt wurden, sondern das Gemeinwesen akut betrafen? Es könnte vermutet werden, dass daraufhin auch mit einer sehr viel rigoroseren Strafverfolgung gedroht wurde. Umgekehrt ließe sich fragen, ob die Androhung härterer Strafen mit drohenden göttlichen Sanktionen begründet wurde. Zu klären ist also der Zusammenhang zwischen göttlicher und weltlicher Strafe. Um diese Frage zu beantworten, werden Verordnungen untersucht, die in der Narratio mit der Verhängung entsprechend verschärfter Strafen argumentieren. So etwa ein Mandat von 1605: „Damit aber solchen obgehörten Täglichs mehrenden Lastern mit auffsetzung Schörpfferer Straff künftig fürkommen vnnd abgewöhrt werden möge“. 78 Die Passage wirft Licht auf den generalpräventiven Strafzweck der Verordnung, d.h. zukünftige Vergehen durch Strafe zu vermeiden. 79 Der Zorn Gottes selbst spielte als Ausgangspunkt für das Androhen schärferer Strafen keine Rolle. Der ausdrückliche Grund der Strafverschärfung war es, die abschreckende Wirkung der Strafen sicher zu stellen. Einfluss auf göttliche Entscheidungen sollte, zumindest explizit, nicht genommen werden. 80 An dieser Stelle lohnt ein erneuter Blick auf den Zweck, den man göttlichen Strafen zuschrieb. In der Ordnung von 1581 wurde in der Vorrede zu den Unzuchtsdelikten die mangelnde Abschreckung der doch allzu oft erfolgten göttlichen Strafe an der Gemeinde beklagt. Zwar hätte man eigentlich erwarten können, so die Ordnung, dass die zurückliegenden schweren Zeiten zu einer Verringerung der Sünden geführt hätten, so war faktisch das Gegenteil eingetreten. Sie hatten sich, wie es so viele Mandate beklagten, vermehrt. Nun war es 78 {2930} „Des leichtfertigen Zusammenschließen betreffend.“ vom 15.10.1605, StdA UL, A-3701, Nr.-22. Ebenso im Mandat von 1611: „nicht allein die Allbreit vff solche Laster gesetzte, Sondern auch noch schärffern Straffen an Leib, Ehr vnnd Guet, die wir gegen den Verbrechern ohne einigen respect mit besondern Ernst (andern zum abschewen) vnnd Ergehn zulassen endtlichen entschlossen […].“ {3085} „Mandat. Das Fluchen, Schweren, Hurerey vnnd Ehebruch belangend.“ vom 18.11.1611, StdA UL, A-3701, Nr.-25. 79 „[…] wie nicht weniger das Laster deß Ehebruchs vber die bißhero gegen dergleichen Mißhändler fürgenommene Thurn vnnd Gelt Straff auch ernstlicher verweisung der Statt vnd Herschafft jeh länger jhe mehr vber handt nemmen vnd im Schwanck gehen will.“ Vgl. {2930} „Des leichtfertigen Zusammenschließen betreffend.“ vom 15.10.1605, StdA UL, A-3701, Nr.-22. Vgl. einführend Andreas Deutsch: Art. Strafzweck, in: EdN 12, Sp.-1120-1127. 80 Einzig und allein die Begründung zur Verhängung schwerer, peinlicher Strafen bei Fällen schwerer Gotteslästerung adressiert auch Gott, denn mit ihnen sollten „Got und die Welt unnser mißfallen zum höchsten spüren und vernhemen.“ Vgl. {1544} „Ordnung, die ain ersamer Rath der Statt Ulm in Abstellung hergeprachter etlicher Mißpreuch in irer Stat und Gepietten zu halten fürgenommen […]“, Arend: Ulm (wie Anm. 18), S.-153. - Dagegen bedurfte die Androhung gegen alle Ehemänner, die sich der Notzucht schuldig machten, „on alle gnad an […] leib und leben“ zu strafen, gar keiner Begründung. Vgl. ebd., S.-56. <?page no="66"?> 67 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm an der Obrigkeit, die weltlichen Strafen zu steigern, weil die göttlichen Strafen offensichtlich ihre abschreckende Wirkung verfehlten. 81 Hierin zeigt sich, dass auch den Strafen Gottes ein generalpräventiver Strafzweck zugeschrieben wurde, dem die weltlichen Strafen der Obrigkeit komplementär zugeordnet waren. Dies wird auch im Ausdruck von der ‚Rute des göttlichen Zorns‘ deutlich, die der anthropomorph gedachte Gott ergreift, um die Gemeinschaft zu züchtigen, so wie die Obrigkeit die Rute ergreifen muss, um Gleiches zu tun. Eine unmittelbare Beeinflussung Gottes in seinem Zorn durch weltliches Strafen wurde in den ausgewählten Verordnungen jedoch ausdrücklich nicht erwähnt. Das wäre auch einer Erniedrigung Gottes gleichgekommen, dessen Ratschluss dem Menschen als verborgen und von diesem als nicht unmittelbar beeinflussbar galt. Allenfalls konnte durch Strafen mittelbar Einfluss genommen werden und so legitimierten sich die obrigkeitlichen Strafen durch die Hoffnung, mit ihnen könnte göttlichen Sanktionen vorgebeugt werden. Was geschah aber, wenn Gott das Gemeinwesen bereits bestrafte? Die in diesem Falle durchweg angestrengten Maßnahmen waren Buße und Gebet. 82 Zuchtordnung und außerordentliche Gebetstagsordnung gingen hier fließend ineinander über: Sie enthielten Aufforderungen zu Buße und Gebet ebenso wie Regelungen gegen Gotteslästerung, Unzucht und Trunksucht. Alle drei Materien 81 „Nach dem aber solche Göttliche Straffen bey disen vnnseren Zeiten vnnd derselben zuuil mutwilligen vnnd Rochlosen Welt wenig abscheuhens machen will Setzen vnnd ordnen wir hiemit […]“ Vgl. {2600} „Gesatz vnnd Ordnung, inn Straff Offenbarer Laster, auch leichtfertigen verheuratens, vnnd anderer Vnzucht“, Ulm 1581, BSB-M, 2 J.austr. 46#Beib.11, VD-16 U-64, p.-iii r . - Gleichwohl wiederholt die Vorrede zur gesamten Ordnung die nahezu unveränderte Formel von 1558. - So wurde bspw. für Ehebruch (bei erstmaliger Übertretung) statt 12 nun 30-Tage Turmhaft angesetzt. Bei mangelnder Einsichtigkeit (wiederholte Übertretung) blieb es beim Stadtverweis, wobei man sich auch explizit vorbehielt, „das wir als dann gegen ihnen mit anderen vnnd ernstlichen Straffen anderen zu einem Exempel oder Ebenbild zuuorderst aber zu erhaltung Göttlicher Ehr vnnachläßlich vnnd dermassen volnfaren vnnd handlen wurden das Ihnen zu schwer sein vnnd Meniglich vnnser hochmißfallen inn solchem erkennen werden.“. Ebd., p.-iii v . Im Bereich der Leichtfertigkeit wurden zahlreiche Neuregelungen getroffen. Diegleiche Formulierung zur mangelnden Abschreckung göttlicher Strafen wurde in der Zuchtordnung von 1616 wieder aufgegriffen. Vgl. {3235} „[…] Gesatz und Ordnung inn Straff offenbarer Laster auch leichtfertigen Verheuratens unnd anderer Unzucht […].“ vom 12.07.1616, BSB-M 2 J.germ. 150,23, S. 6. 82 Siehe zu Buß-, Bet- und Fastentagen: Ruth Schilling: Stadtrepublik und Selbstbehauptung. Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16. und 17.-Jahrhundert, Köln u.a. 2012, Kap. 3, S.-141-221, insb. S.-168-175; Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717: Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992, Kap. 5, S.-79-111, insb. S.- 107-111. Martin Sallmann: „Innerlichkeit“ und „Öffentlichkeit“ von Religion. Der Fast- und Bettag von 1620 in Basel als offizielle religiöse Bewältigung der Kriegsbedrohung, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/ Hartmut Lehmann (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S.- 157f. Andreas Gestrich: Protestantismus, Endzeiterwartung und Krieg in Württemberg, in: Ute Planert (Hg.): Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit, Paderborn u.a., 2009, S. 167-182. Zu Ulm: Haag: Predigt und Gesellschaft (wie Anm. 24), S.-208f.; Hagenmaier: Predigt (wie Anm 24), S.-33. <?page no="67"?> 68 Claudius Sebastian Frenzel kommen in diesen Fällen vor. Aber auch hier ließ sich - der Idee nach - Gott nicht unmittelbar beeinflussen, sondern handelte aus eigener Vollkommenheit und Gnade, auf die man im Gebet hoffen solle: „ein gemain, einhellig, beharrlich vn[d] inbrünstig gepet der gleubigen vnd Gotseligen auß demütigem vnnd innerlichem hertzen fliessend bey Got dem Herrn allwegen vil gewirckt vnnd erlangt“, wobei dies für „allen denen so jne in der warhait anruffen gnedige erhöhung versprochen vnd zugesagt“ sei, was aus „Biblicher vnd heiliger Schrifften“ abgelesen werden könne. 83 Tatsächlich waren ja nicht alle bekannten Städte, die der Zorn Gottes getroffen hatte, ausgelöscht. Ein biblisches Beispiel hierfür konnte die Stadt Ninive im Buch Jona sein. Nachdem Jona kommendes Unheil prophezeit hatte, befahl der König strenges Fasten, Buße und Predigten in der Stadt, wodurch das verkündete Unheil abgewendet werden konnte. 84 Energisch wurde daher nicht nur demonstrative, sondern „rechte, waare, vngefälschte Buß“ eingefordert, 85 deren Vollzug die Hoffnung bestärken sollte. 86 Der Blick auf das Verhältnis von göttlichem Zorn und obrigkeitlichen Strafen in diesem Beispiel zeigt, dass die Androhung schärferer Strafen nicht mit dem Zorn Gottes begründet wurde. Wenn beides aufeinander bezogen wurde, dann um den Strafzweck der Generalprävention herauszustreichen. Eine unmittelbare Beeinflussung des göttlichen Entschlusses, die Sünden im Gemeinwesen kollektiv zu strafen, gab es nicht. Durch die Minimierung der Sünden erhoffte man jedoch ganz klar auch ein Abflauen des göttlichen Zorns. Besonders deutlich wird dies, wenn in den Ordnungen der unmittelbar bevorstehende oder bereits wütende Zorn Gottes angeführt wird. Die Absicht, die vordringlichsten Sünden zu bestrafen, wird ebenso klar formuliert, wie die (berechtigte) Hoffnung, Gottes 83 {1904} „Ains Erbarn Raths der Stat Ulm christliche Ermanung und Ordnung zum Gebtt von wegen dieser vorsteenden sorgsamen und beschwerlichen Leüff […]“ vom 13.08.1546, StdA-UL, A-3688, fol. 15 r -20 v , Zitat: fol.-17 v . 84 Welche konkreten biblischen und historischen Beispiele dafür in Frage kommen sollten, überließen die Normgeber den Assoziationen der Adressaten. Allerdings unterstreicht Leppin: Apokalyptik (wie Anm. 66), S.-349, ders.: Antichrist (wie Anm. 66), S.-165 und passim, dass Ninive als das markanteste und auch in der Flugpublizistik am häufigsten in dieser Hinsicht genannte, biblische Beispiel gelten darf. 85 {3638} „Mandat wegen deß Fluchens, undzüchtig Lösterens, ubermessig Prachts und Hofarths, Ehebruch und Hurerey, auch überflüßig Essen und Trinckens.“ vom 08.08.1643, StdA UL, A-3971, N.-58. 86 „Der weil aber zuainem Jedem christlichem gebed das von dem lieben Gott mit gnaden soll erhört werden, vnnd welches man, zu zeitlich vnd ewiger wolfart würcklich zu haben, begert, zum allerhöchsten vnnd eusersten von nöten das bey menigclichem alle laster, sünd vnnd leichtfertigkait abgestellt vnnd sich durch ain jedes christenmensch auß buß förtign bösserlichn vnnd gottwolgefällign lebens, sonderlich bey diser latsten zeiten, getreulich vnnd emsig befleißen werdt.“ Vgl. {2209} „Hierauff volgt nun ain Proclamation unnd offenlich Abmanung von allerlay Lastern.“ von 1560, StAL, B- 207, Bü 51, fol.-250 r -251 v , Zitat: fol.-250 r-v . <?page no="68"?> 69 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm Zorn durch Predigt, aufrichtiges Gebet und Buße zu besänftigen. Eine Zwangsläufigkeit dafür wurde nicht proklamiert. VI. Was waren die Ursachen für den Zorn Gottes? Wie die bisherigen Beispiele deutlich gezeigt haben, wurde er immer wieder auf die als Sünde verstandenen Delikte direkt zurückgeführt. Lassen sich also aus den Verordnungen Merkmale ableiten, die bestimmte Eigenschaften oder Personengruppen anvisierten, um einen Kreis potenzieller Sünder einzugrenzen? Zunächst zum Adressatenkreis der Verordnungen. Zahlreiche Paarformeln, 87 die explizit Stadt und Land einschließen, 88 sprachen dezidiert und ausnahmslos alle Untertanen an. Überdies wurden keine Feindbilder formuliert, wie sie sich in vielen anderen Regelungsfeldern finden. 89 Grundsätzlich ließen sich also die inkriminierten Sünden nicht auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft eingrenzen, sondern galten als etwas, das jede/ n Einzelne/ n betraf. Die Zuchtordnung von 1581 fügte dem eine wichtige Nuance hinzu. Dem schon zuvor in den Regelungen zu den Gebetstagen geforderten ‚gottgefälligen Leben‘ wird, wenngleich nicht als Paarformel, als negatives Gegenstück das ‚gottlose Leben‘ gegenüber gestellt. Meist ist von „gottlosen Manns und Weibspersonen“ die Rede, die „widerchristliche Laster“ begehen würden. Tatsächlich taucht die Rede vom ‚gottlosen Wesen‘ oder ‚gottlosen Leben‘ nicht ohne den Zorn Gottes auf. Die Bezeichnung ‚gottloses Wesen und Leben‘ bündelte die Liste der schweren sündhaften Laster und Vergehen, wie sie bereits in den Zuchtordnungen aufgelistet waren. An deren Spitze standen fast immer die Regelungen zu Gotteslästerung, Unzucht und zum Zutrinken. Hinzu traten Kleider- und Luxusbestimmungen oder Aussagen zu Untugenden wie Neid, Hass und Müßiggang. Ein verbindendes Element war dabei die hartnäckige ‚Unbußfertigkeit‘ der mutmaßlichen Delinquenten. Einige 87 „männiglich Alt vnd Jung, Reich vnd Arm, Burger, Vnderthanen, Einwohner, An= vnd Zugehörige, auch Andere so sich in Statt vnd Land auffhalten, wes Standes oder Wesens […].“ Vgl. {3780} vom 07.05.1658, StdA UL, A-3701, Nr.-33. 88 Besonders deutlich angesprochen: „Inn dem nun dißfalls [wenn gott noch härtere Strafen schicken würde; C.S.F.] wir nicht allein fur vnsere personen vnns der schuldigkeit erinnern bey vnns vnd vnserer burgerschafft inn der statt, gute fürsehung thon, sondern auch ausserhalb, so weit sich vnsere oberkeit erstreckt […] dahinsehen sollen, wie die laster sovil möglich abzuschaffen vnd abzustraffen vnnd ein christlichen gott wolgefelliger wandel anzustellen.“ Vgl. {3042} vom 09.03.1610, StdA UL, A-3701, Nr.-24. 89 Neben der Gesetzgebung gegen stake Bettler, wäre auch an die Störerei zu denken: Philip R. Hoffmann: Winkelarbeiter, Nahrungsdiebe und rechte Amtsmeister. Die Bönhaserei als Forschungsproblem der vorindustriellen Gewerbegeschichte und deren Bedeutung für das frühneuzeitliche Handwerk am Beispiel Lübecks, in: Christof Jeggle/ Mark Häberlein (Hg.): Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2004, S.-183-210. <?page no="69"?> 70 Claudius Sebastian Frenzel Mandate erklärten diese zum unmittelbaren Grund für das andauernde - bzw. wie im nachfolgenden Zitat aus dem Jahr 1610 sich auch steigernde - Strafgericht Gottes: „Es gibt die leidige erfahrung vnd der augenschein, das weil biß dahero wir weder mit sterbendtsläuffen, tewrenzeitten, fewer vnd wassers nöthen, auch anndern schwären lanndtstrafen vnns zu rechter buß bewegen vnnd bringen lassen wollen: sondern im vnbußferttigen leben forthgefahren: der gerechte gott damit zu brennendem zorn bewegt vnd gleichsam bezwungen worden vnns noch hörtter heimzusuchen, wie er dann mit kriegßgschrey sich allbreit sehen vnd gantz betröwlichen gegen vnns erzeigen thut.“ 90 In einem nur ein Jahr später erlassenen Mandat bestätigten sich diese Befürchtungen, da „der Allmächtig Gott […] vffs Euserst vnd zwar der masen Erzürnet, das Er vns derselben Straffen vnnd Plagen nunmehr nicht von ferren allein Antwortet, Sondern auch vnder vns selbsten beharrliche thewrung vnd tödliche Seuchen vnnd Kranckheiten sendet“. 91 Auch dieses Beispiel zeigt, dass ausdrücklich eine allgemein verbreitete ‚Unbußfertigkeit‘ zum Kriterium für Gottes unablässiges Strafen gemacht wird. VII. Die Überlegungen in diesem Aufsatz sollten einen Beitrag zum Stellenwert der Vorstellung des göttlichen Zorns in der normativen Ordnung der frühneuzeitlichen Stadt liefern. Das Beispiel der Policeygesetzgebung hat gezeigt, dass der Verweis auf das Erzürnen Gottes durch die Sünden im Gemeinwesen im Regelungsbereich von Gotteslästerung, Unzucht und Zutrinken in der ersten Hälfte des 16.- Jahrhunderts kontinuierlich zunahm. Eine Leitfunktion kam dabei dem Vorgehen gegen das Gotteslästern zu. Gleichwohl waren es besonders jene Ordnungen und Erlasse, die alle drei Materien (und z.T. weitere) miteinander kombinierten, in denen der drohende oder aktuelle Zorn Gottes ein zentrales Argument war. Dagegen spielte der Zorn Gottes in den Verordnungen, die nur Unzucht oder Zutrinken behandeln, deutlich seltener eine Rolle. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Argument benutzt wurde, um hinter dem umfassenderen Anspruch, eine ‚gute Ordnung und Policey‘ errichten zu wollen, in der sündhaftes Verhalten nicht nur als dysfunktional für das Funktionieren, sondern auch gefährlich für das Überleben der Gemeinschaft deklariert werden konnte, dann ein deutliches Ausrufezeichen zu setzen, wenn die Bedrohung durch 90 Vgl. {3042} vom 09.03.1610, StdA UL, A-3701, Nr.-24. 91 Die vorangegangen Regelungen seit 1581 werden aufgezählt, und die Ankündigung die Spruchpraxis verschärfen zu wollen bekräftigt. Vgl. {3085} „Mandat. Das Fluchen, Schweren, Hurerey vnnd Ehebruch belangend.“ vom 18.11.1611, StdA UL, A-3701, Nr.-25. <?page no="70"?> 71 Der Zorn Gottes in den Policeygesetzen der Reichsstadt Ulm abweichendes Verhalten als besonders brisant empfunden wurde. Das bedeutet allerdings nicht zugleich, dass Gefährdungen der Ordnung, die nicht in diesen Kontext eingeordnet wurden, wie das oben angeführte Beispiel des Zechens und Weintrinkens der Wachen, als Bagatellvergehen aufgefasst worden wären. 92 Ganz im Gegenteil bedrohte auch ein solches Verhalten die Sicherheit der Gemeinschaft - aber eben nicht das Seelenheil ihrer Mitglieder. Anhand der Verwendung der im lebensweltlichen Erfahrungshorizont überaus realen Strafen Gottes, die seinem Zorn folgten, konnte gezeigt werden, dass sich der Landplagen-Topos parallel zur quantitativen Steigerung der Benennung des göttlichen Zorns verdichtete. Auch dies spricht für eine allmähliche Etablierung und Ausgestaltung von Topos und Argument des göttlichen Zorns im 16. Jahrhundert. Spannend wäre es hier zukünftig nach vermutlichen Verbindungslinien zur engeren Verzahnung von weltlicher und kirchlicher Sphäre im Zeitalter von Reformation/ Gegenreformation und Konfessionalisierung, nach möglichen konfessionellen Unterschieden sowie nach der konkreten Beteiligung von Geistlichen an Gesetzgebungsprozessen zu fragen. All dies konnte hier nicht geleistet werden, bereits die Frage nach der Beteiligung ‚religiöser Experten‘ an einzelnen Gesetzgebungsprojekten und deren Kompetenzen richtet aber die Frage nach der Verwendung religiöser Topoi in Straf- und Policeygesetzen noch einmal neu aus. Unabhängig von solchen offenen Fragen konnte in diesem Beitrag verdeutlicht werden, wie die schrittweise Etablierung der Zorn-Gottes-Rhetorik zugleich die stereotype Vorstellung einer göttlichen Kollektiv-Vergeltung für menschliche Sünden fundierte und wie diese wiederum mit dem Ziel einer generalpräventiven Abschreckung vor weiteren Vergehen gekoppelt wurde. Wenn die gesamte Gemeinschaft prinzipiell bedroht war, war sie auch als Ganze angesprochen. Jedoch sollte mit den Strafen nicht automatisch Gottes Entschluss, die Gemeinschaft zu strafen, abgewehrt werden können. Die hier untersuchten Ordnungen und Mandate zeichnete kein mechanisches Verständnis göttlichen Eingreifens in der Welt aus - eine andere, die Normrezeption betreffende Sache wäre es allerdings, danach zu fragen, wie die Zorn-Gottes-Rhetorik wahrgenommen und, etwa als Argument vor Gericht, verarbeitet worden ist. Bereits Helga Schnabel-Schüle hatte in der Praxis ein ‚einfacheres‘ Gottesbild vermutet, welches durchaus auf monokausalen Vorstellungen von göttlicher Belohnung und Strafe in breiten Teilen der Untertanenschaft aufbaute. Ob und in welchem Maße dies zutrifft, gilt es in zukünftigen Forschungen genauer zu bestimmen. 92 Siehe oben, Abschnitt III. <?page no="72"?> 73 Annette Scherer Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten zu Beginn des 17. Jahrhunderts Für eine Analyse zeitgenössischer Identifizierung und Beurteilung religiöser Devianz bietet sich für das frühneuzeitliche Nürnberg ein systematischer Zugang über die Rechtsgutachten der Ratskonsulenten an. Diese von der Stadt beschäftigten graduierten Juristen übernahmen mitunter auch in strafrechtlichen Fällen eine beratende Funktion gegenüber den gerichtlichen Instanzen. 1 Ihre diesbezüglichen Ratschläge gewähren Einblick in den Prozess der Einschätzung und Bewertung mutmaßlicher Straftaten und Straftäter(innen) und legen so einen wichtigen Teil der Definitions- und Zuschreibungsprozesse offen, die abweichendes Verhalten erst konstituieren. 2 Eine Vielzahl juristischer Gutachten ist in den Nürnberger Ratschlagbüchern überliefert, deren erster erhaltener Band aus dem 15. Jahrhundert stammt. Das Anlegen dieser Bände sollte eine einheitliche Linie in der Rechtspraxis und damit auch in der Ratspolitik der Stadt sichern. Sie waren demnach insbesondere für den Gebrauch der beratenden Konsulenten bestimmt, denen als weiteres Arbeitsinstrument die Ratsbibliothek zur Verfügung stand. 3 Im Staatsarchiv Nürnberg befinden sich heute 115 dieser Ratschlagbücher, die nach unterschiedlichen Kri- 1 Zu den Nürnberger Ratskonsulenten generell Friedrich Wolfgang Ellinger: Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg vom 15. bis 17. Jahrhundert, in: Genealogica, Heraldica, Juridica. Reichsstadt Nürnberg, Altdorf und Hersbruck, Nürnberg 1954, S. 130-222. Vornehmlich für das Spätmittelalter und den Beginn der Frühen Neuzeit z.B. auch Hartmut Boockmann: Gelehrte Juristen im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: ders. u.a. (Hg.): Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 bis 1995, 1. Teil, Göttingen 1998, S. 199-214. Helmut G. Walther: Die Bibliothek des gelehrten juristischen Praktikers. Beobachtungen zu Handschriften und Frühdrucken der Nürnberger Ratsbibliothek, in: Vincenzo Colli (Hg.): Juristische Buchproduktion im Mittelalter, Frankfurt a.M. 2002, S. 805-818. Des Weiteren mit Hinweisen zur Tätigkeit der Ratskonsulenten (in Abgrenzung zu der der Ratsschreiber) Manfred J. Schmid: Die Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1979. 2 Siehe zur hier angelegten Perspektive auf abweichendes Verhalten ausführlich die Einleitung in diesem Band. 3 Vgl. Walther: Bibliothek (wie Anm. 1) oder ders.: Italienisches gelehrtes Recht im Nürnberg des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann: Recht und Verfassung (wie Anm. 1), 1. Teil, S. 215-229. Allgemein zur Ratsbibliothek auch mit Hinweisen auf die vorhandene juristische Literatur Renate Jürgensen: Nürnberg 1. Stadtbibliothek, in: Eberhard Dünninger (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 12, Hildesheim 1996, S. 111-152. Tatsächlich wird in den hier ausgewerteten Gutachten einige Male auf frühere Ratschläge verwiesen (siehe Abschnitt IV). <?page no="73"?> 74 Annette Scherer terien aufgebaut sind. 4 So finden sich unter diesen Bänden auch fünf thematisch angelegte zu Kriminalsachen. Für die folgende Untersuchung wurde eines dieser Ratschlagbücher als Quellengrundlage gewählt, welches Abschriften von Rechtsgutachten aus dem Zeitraum vom 26. September 1603 bis zum 17. März 1612 in grob chronologischer Sortierung enthält. 5 Die Auswahl genau dieses Bandes begründet sich in der für den betreffenden Zeitraum kriminalitätshistorisch guten Parallelüberlieferung. 6 Im Folgenden sollen die entsprechenden Ratschläge systematisch unter dem Aspekt der zeitgenössischen Zuschreibung und Bewertung religiöser Devianz untersucht werden. Konkret soll in einem ersten Schritt vor dem Hintergrund des prinzipiell möglichen Verständnisses aller Verbrechen als Sünde 7 versucht werden, den Bereich religiöser Devianz über eine Betrachtung religiöser Bezüge innerhalb der Gutachten näher einzugrenzen. Ausgehend von diesen Ergebnissen wird dann ein Blick auf einzelne Fälle geworfen und der Umgang der Juristen, 4 StAN, Ratschlagbücher, Nr. 1*-15*, 1-100. Bei Isenmann findet sich ein Überblick über die diversen Inhalte der Bände. Eberhard Isenmann: Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.-17. Jahrhundert), in: Roman Schnur (Hg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S. 545-628, hier S. 555-557. Gerade die spätmittelalterlichen Ratschlagbücher sind bereits Gegenstand systematischer Untersuchungen geworden. Z.B. ebd.; Walther: Recht (wie Anm. 3); Eberhard Isenmann: Recht, Verfassung und Politik in Rechtsgutachten spätmittelalterlicher deutscher und italienischer Juristen, vornehmlich des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann: Recht und Verfassung (wie Anm. 1), 2. Teil, Göttingen 2001, S. 47-245. Unter strafrechtlicher Perspektive greifen v.a. Kunstmann und Schmid in ihren Darstellungen zur Hexerei bzw. zu den Täufern in größerer Breite auch auf einzelne Rechtsgutachten aus den Ratschlagbüchern zurück. Hartmut H. Kunstmann: Zauberwahn und Hexenprozeß in der Reichsstadt Nürnberg, Mainz 1970. Hans-Dieter Schmid: Täufertum und Obrigkeit in Nürnberg, Nürnberg 1972. 5 StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46. 6 So finden sich für den genannten Zeitraum (neben den auch für andere Zeiträume vorhandenen Quellen) zwei amtliche Bände vom 18.9.1605 bis zum 3.4.1613 mit summarischen Einträgen, die v.a. mit Stadtverweis oder sträflicher Rede gestrafte Personen auflisten. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, 200. Außerdem gewährt das Diensttagebuch des Diakons zu St. Sebald, Johann Hagendorn, der Hinzurichtende seelsorgerisch zu betreuen hatte, interessante Einblicke. Seine Aufzeichnungen beginnen am 2.7.1605 (wobei er auch über einen Fall vom 14.9.1602 rückblickend berichtet) und enden am 14.10.1620. StadtAN, E 8, Nr. 5120. Identifizierung des Autors der Quelle bei Theodor Hampe: Die Nürnberger Malefizbücher als Quellen der reichsstädtischen Sittengeschichte vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Bamberg 1927, S. 5-7. Zur Person Hagendorns auch Matthias Simon: Nürnbergisches Pfarrerbuch. Die evangelisch-lutherische Geistlichkeit der Reichsstadt Nürnberg und ihres Gebietes 1524-1806, Nürnberg 1965, S. 84. Eine generelle Übersicht über die kriminalitätsgeschichtlich relevanten Quellen bietet Michael Diefenbacher (Hg.): Die Henker von Nürnberg und ihre Opfer. Folter und Hinrichtungen in den Nürnberger Ratsverlässen 1501 bis 1806, Nürnberg 2010, S. IX-XII. 7 Siehe bspw. Friedrich Schaffstein: Studien zur Entwicklung der Deliktbestände im Gemeinen Deutschen Strafrecht, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1985, Göttingen 1985, S. 121-176, hier S. 170. Siehe hierzu genauer die Einleitung in diesem Band. <?page no="74"?> 75 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten aber auch anderer Akteure, mit solchermaßen als religiös abweichend beschriebenem Verhalten näher hinterfragt werden. Diesen Abschnitten werden zur besseren Einordnung einige Anmerkungen zur Nürnberger Strafgerichtsbarkeit sowie eine Übersicht über die ermittelten quantitativen Daten zu den im genannten Ratschlagbuch verhandelten vorgeworfenen Delikten vorausgeschickt. Um Bedeutung und Besonderheiten der Gutachterpraxis genauer zu beleuchten, sollen zudem eine Rekonstruktion der Verfahrensabläufe zwischen den Konsulenten und den richtenden Instanzen sowie einige knappe Bemerkungen zu den betreffenden Juristen vorangestellt werden. I. Strafgerichtsbarkeit und Verfahrensabläufe zwischen Ratskonsulenten und Ratsherren Die Regierung lag in Nürnberg beim Kleinen Rat, wobei der eigentliche Großteil der Entscheidungen vom Ratsgremium der sieben Älteren Herren getroffen wurde. Der Kleine Rat bestand aus 34 patrizischen Ratsherren und acht Vertretern aus dem Handwerk. Die Patrizier stellten die 26 Bürgermeister, aufgeteilt in 13 Consules und 13 Scabini (Schöffen), und die acht Alten Genannten. Unabhängig von ihrer Stellung als Consul oder Scabinus wurden die Ratsherren in 13 alte und 13 junge Bürgermeister unterteilt. Der Größere Rat, zusammengesetzt aus Vertretern des Patriziats wie des Bürgertums, wurde nur in seltenen wichtigen Fällen, z.B. vor Kriegseintritt, befragt. 8 Die Strafgerichtsbarkeit lag in der Stadt beim Halsgericht und beim Fünfergericht, wobei das Fünfergericht, bestehend aus fünf Ratsherren, nur über geringere Strafsachen urteilte. Unter Vorsitz des Stadtrichters bildeten die Schöffen des Kleinen Rats das oberste Strafgericht. Todesurteile waren jedoch dem Ratskollegium zur Bestätigung vorzulegen. Ein Großteil der Strafuntersuchungen wurde von jeweils zwei Schöffen (auch Lochschöffen genannt) aus dem Kreis der jüngeren Bürgermeister geführt, die dann gegenüber dem Rat Bericht erstatteten. 9 8 Vgl. hierzu Peter Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Bd. 1, Der Kleinere Rat, Neustadt a.d. Aisch 2008, S. 18-22, 45, 62-68, 119-136. Wilhelm Gebhard: Organisation der Reichsstadt Nürnberg in den letzten Jahrzehnten ihrer Selbständigkeit bis zu ihrer Einverleibung mit Bayern, Nürnberg 1910, S. 10-14. 9 Vgl. zur Nürnberger Gerichtsbarkeit, deren Instanzen und den verschiedenen Verfahrensabläufen Rudolf Schielein: Die Entwicklung der Gerichtsverfassung in der Reichsstadt Nürnberg vor allem vom 15. bis 18. Jahrhundert, Diss. Erlangen 1952. Gebhard: Organisation (wie Anm. 8), S. 36-50. Werner Schultheiss: Altnürnberger Rechtspflege und ihre Stätten in: MVGN 61 (1974), S. 188-203. Wolfgang Leiser: Nürnbergs Rechtsleben, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.): Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 171-176. Ottmar Böhm: Die Nürnbergische Anwaltschaft um 1500 bis 1806, ihr Verhältnis zum örtlichen Gerichtswesen sowie ihre Stellung im reichsstädtischen Organismus, Diss. Erlangen 1949, v.a. S. 47-84. Vgl. zum Strafprozessverlauf auch Ellinger: Juristen <?page no="75"?> 76 Annette Scherer In schwierigen Fällen wurden die Fragstücke für die Verhöre mitunter von den Ratskonsulenten verfasst. 10 Diese hatten auch beratende Funktion bei Fragen der Prozessführung und bei der Findung der Strafurteile; die jeweiligen Entscheidungen wurden aber letztlich durch die Ratsherren selbst getroffen. 11 Ein Abgleich mit den im Diensttagebuch des Scharfrichters Franz Schmidt gelisteten vollzogenen Strafen lässt erkennen, dass das Gericht den Empfehlungen der Konsulenten aber größtenteils folgte. Für den betreffenden Zeitraum unterrichtet das Tagebuch über 80 verurteilte Personen. Zu 44 von ihnen finden sich im untersuchten Ratschlagbuch rechtliche Gutachten, die für einen Vergleich heranziehbar sind; zwei zusätzliche Fälle lassen sich aus den von Diefenbacher herausgegebenen edierten Ratsverlässen erschließen. In etwa 76 Prozent dieser ermittelten Fälle folgten die Ratsherren dem Urteilsvorschlag der Juristen. Waren diese sich über die Schärfe des Urteils uneinig oder vermerkten, dass Gnade denkbar sei, entschied sich das Gericht meist für den milderen Weg. Wichen die empfohlenen von den vollzogenen Strafen ab, so lag die Differenz zumeist im nicht bzw. zusätzlich angeordneten Prangerstehen, ein Mal auch im Verzicht auf das Aushauen mit Ruten. In einem Fall verhängte das Gericht eine zusätzliche Leibesstrafe, in einem weiteren milderte es die angeratene Todesin eine Leibesstrafe. 12 Aus den hier untersuchten Rechtsgutachten lassen sich nähere Informationen zu den konkreten Verfahrensabläufen bei Konsultation der städtischen Juristen durch den Rat gewinnen. 13 Im Durchschnitt waren drei Konsulenten an einem Gutachten beteiligt; bis zu neun Juristen beratschlagten über einen Gegenstand. Vornehmlich scheinen die Ratschläge schriftlich an den Rat übersandt worden zu (wie Anm. 1), S. 177-180. Hermann Knapp: Das Lochgefängnis, Tortur und Richtung in Alt-Nuernberg. Auf Grund urkundlicher Forschung, Nürnberg 1907. 10 Vgl. Knapp: Lochgefängnis (wie Anm. 9), S. 25f. 11 Vgl. Ellinger: Juristen (wie Anm. 1), v.a. S. 159-162, S. 177-180. 12 Zu 46 der bei Franz Schmidt genannten Personen finden sich Ratschläge. Zu einem Fall liegt allerdings nur ein Gutachten zu Fragen der Prozessführung vor. In einem weiteren Fall vermerkt Franz Schmidt, der Betreffende sei am Rechtstag erbeten worden. Es lässt sich vermuten, dass eine während der Konsultation noch nicht vorliegende Fürbitte Anlass für die Begnadigung war. Beide Fälle werden daher in den Berechnungen nicht berücksichtigt. In den von Diefenbacher herausgegebenen Ratsverlässen finden sich vier weitere im Schmidtschen Tagebuch nicht erwähnte Urteile (da es sich um Haftstrafen bzw. eine Begnadigung handelte). Zu drei dieser Fälle liegen Gutachten im untersuchten Ratschlagbuch vor. Im Fall einer Begnadigung auf Fürbitte lag diese zur Zeit der Konsultation offensichtlich noch nicht vor und konnte von den Juristen nicht miteinbezogen werden. Dieser Fall ist in den Berechnungen nicht berücksichtigt. Abgleich auf Grundlage von: Das Tagebuch des Meister Franz Scharfrichter zu Nürnberg. Kommentar v. Jürgen Carl Jacobs/ Heinz Rölleke, Dortmund 1980 [Nachdruck der Buchausgabe von 1801], S. 93-113, 174-180. Diefenbacher: Henker (wie Anm. 6), S. 168-179, 378-381. Die Ergebnisse decken sich im Übrigen mit denen Kunstmanns, der für die Zaubereiprozesse feststellt, dass der Rat den Gutachten der Juristen meistens folgte. Vgl. Kunstmann: Zauberwahn (wie Anm. 4), S. 152. 13 Die folgenden Ergebnisse beziehen sich auf die Auswertung von StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46. <?page no="76"?> 77 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten sein, nur bei etwa acht Prozent der Gutachten ist die Anwesenheit zumeist eines Ratsdeputierten, die auf eine mündliche Befragung der Juristen durch den Rat schließen lässt, vermerkt. 14 Bei den abgesandten Ratsmitgliedern handelte es sich meist um jüngere Bürgermeister aus dem Kreis der Schöffen, 15 was sich in die obigen Anmerkungen zum Strafverfahren einfügt. Die Zahl der konsultierten Rechtsgelehrten hing augenscheinlich mit der zu erwartenden Schwere der Strafe zusammen. So lässt sich beobachten, dass im Regelfall wenigstens fünf Juristen an den Rechtsgutachten beteiligt waren, die zur Todesstrafe rieten oder diese als rechtlich möglich diskutierten, während in den anderen Fällen fast immer im kleineren Kreis beratschlagt wurde. In einigen Ratschlägen baten die beteiligten Juristen überdies mit der Begründung, dass das Urteil allem Anschein nach auf eine Lebensstrafe hinauslaufe, darum, auch die Meinung der anderen Konsulenten einzuholen. Diese Praxis sollte womöglich ein hohes Maß an Objektivität zum Ausschluss rechtlicher Willkür garantieren. Daneben fällt auf, dass die Fälle, in denen die Juristen mündlich um ihr Votum gebeten wurden, mit denen, in denen über eine mögliche Todesstrafe beratschlagt wurde, nahezu deckungsgleich sind, was auf ein Bemühen um ein möglichst schnelles Verfahren in diesen Fällen hindeuten könnte. Bei den mündlichen Konsultationen wurden den Juristen die jeweiligen Fallakten oder auch einzelne Zeugenaussagen oder Schriftstücke vorgelegt bzw. verlesen und darauf die Meinungen der Anwesenden zum weiteren Verfahrensverlauf oder zum möglichen Urteil eingeholt. In manchen Fällen wurde das Aktenmaterial den Juristen auch im Vorfeld zugeschickt. Durch Krankheit, Reisen oder andere Geschäfte verhinderte Konsulenten reichten ihr Urteil mitunter schriftlich ein; lag es zur gemeinsamen Sitzung bereits vor, wurde es dort verlesen. Die Wortmeldungen in den gemeinsamen Sitzungen erfolgten, soweit sich dies rekonstruieren lässt, nacheinander, geordnet nach absteigendem Dienstalter. 16 Teils wurde in einer Sitzung der Reihe nach auch mehrfach nach der Meinung der einzelnen Juristen gefragt. 14 Die Praxis des schriftlichen Austauschs bzw. der Befragung durch einzelne Ratsabgesandte resultierte aus der Vorgabe, dass die Ratskonsulenten selbst keinen Zutritt zu den Ratsversammlungen haben sollten. Vgl. Ellinger: Juristen (wie Anm. 1), v.a. S. 142-150, 159-162, 177-180. 15 Eine Übersicht der Ratsherren und ihres jeweiligen Status für die entsprechenden Jahre, anhand derer dieses ermittelbar ist, findet sich bei Fleischmann: Rat und Patriziat (wie Anm. 8), Bd. 3, Ratsgänge (1318/ 23 bis 1806/ 08), Register und Verzeichnisse, Neustadt a.d. Aisch 2008, S. 1449-1458. 16 Angaben zum Diensteintritt der jeweiligen Ratskonsulenten bei Ellinger: Juristen (wie Anm. 1), S. 163f., 173f. <?page no="77"?> 78 Annette Scherer II. Gutachtende Ratskonsulenten im untersuchten Ratschlagbuch Auch wenn aus den Betrachtungen zu den Verfahrensabläufen hervorgeht, dass die Konsulenten mit den mutmaßlichen Täter(inne)n, über die sie zu urteilen hatten, nur indirekt über die ihnen übersandten Strafakten in Kontakt kamen, unterscheidet sie doch von den Rechtsgelehrten gutachtender Juristenfakultäten, dass sie in das Stadtgeschehen eingebunden waren. So weist Ellinger darauf hin, dass ein Ratskonsulent zumeist in seinem Dienstvertrag zusagte, seinen Wohnsitz in Nürnberg zu nehmen. 17 Bei einigen der im untersuchten Zeitraum beschäftigten Konsulenten lässt sich feststellen, dass darüber hinaus eine biographisch engere Verbindung zur Stadt bestand. Als gutachtende Juristen kommen in den analysierten Ratschlägen die Doktoren Philipp Camerarius, Christoph Andreas Gugel, Nikolaus von Gülchen, Johann Busereuth, Abel Strasburger, Christoph Held, Georg Rem, Johann Christoph Oelhafen, Georg Heher, Georg Adelbrecht Burkhard, Matthias Hübner, Hieronymus Fetzer und Jacob Scheurl vor. Über Wills ‚Nürnbergisches Gelehrten=Lexicon‘ lässt sich rekonstruieren, dass wenigstens fünf der Konsulenten in Nürnberg geboren wurden oder dort aufwuchsen. Vier weitere waren außerdem bereits vor Erwerb ihrer Konsulentenstelle in Nürnberg als Advokat tätig oder hatten einen Lehrauftrag an der Akademie in Altdorf erhalten. 18 17 Vgl. Ellinger: Juristen (wie Anm. 1), v.a. S. 142-150. Bei Sauter findet sich eine überblicksartige Darstellung zur Quellengattung der Konsilien und zur Aktenversendung. Sie verweist auf den Vorteil objektiver Fallbeurteilung durch die Juristen sowie auf den Nachteil, dass die Juristen nur aus dem übersandten Material ein Urteil fällen konnten. Außerdem hätten sie, vom eigentlichen Geschehen (z.B. der Folter) weit entfernt, „ziemlich emotionslos über einen Fall urteilen [können]“. Vgl. Marianne Sauter: Juristische Konsilien, in: Christian Keitel/ Regina Keyler (Hg.): Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven, Stuttgart 2005, S. 35-41. Inwieweit mehrfach in den Nürnberger Ratschlägen auftauchende Anmerkungen, dass man dem/ der Verhafteten eine mildere Strafe gern gönnen wolle, eher floskelhaft oder doch als Ausdruck ‚emotionalen Eingebunden-Seins‘ zu verstehen sind, muss dahingestellt bleiben. 18 Sofern es Angaben dazu gibt, werden als häufigste Studienorte im Übrigen Basel und Straßburg genannt; werden Studienreisen erwähnt, so führten diese bevorzugt nach Italien. Siehe die entsprechenden Personenartikel bei Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten=Lexicon oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes […], 4 Teile, Nürnberg/ Altdorf 1755-1758. Böhm weist darauf hin, dass die Nürnberger Advokaten nicht selten später auf Konsulentenstellen berufen wurden. Vgl. zum Advokatenamt generell Böhm: Anwaltschaft (wie Anm. 9), und hier v.a. S. 107f. Zur Verknüpfung der Konsulenten mit der Akademie Altdorf Ellinger: Juristen (wie Anm. 1), S. 191-196. Eine systematische Aufarbeitung biographischer Eckdaten aus Nürnberg stammender Juristen bietet im Übrigen Wachauf, jedoch mit einem Schwerpunkt auf der vorreformatorischen Zeit. Er stellt u.a. fest, dass die Mehrzahl der Nürnberger nach ihrer juristischen Ausbildung in ihrer Heimatstadt eine Anstellung fand, nur die Hälfte der dortigen Stellen aber mit Einheimischen besetzt war. Er vermutet, die Stadt habe die Stellen v.a. nach Qualifikation besetzt. <?page no="78"?> 79 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten ' () *+ ,( ) ( - ' () *+ ,( ) ( . ( / + *+ ,( ) ( . ( 0 12 3 / 2 - #( ) ! 4 ( ( , $ # $ # $ # $ 5( - 2 - 6. (. #( ) ! 4 ( ( , $ # $ # $ 57 8 #( ) ! 6 (, $ # $ # $ 4 (-( # $ # $ # $ 4 - 2 4 , - # $ # $ # $ 4 - (, # $ # $ 9 : ( # $ # $ ; . # $ # $ '( . #( ) ! 6 (, / ( : ( 3 , 4 ( ( , $ # $ # $ # $ * ( # $ # $ 4 # $ # $ # $ 0+ 3 - () #( ) ! 4 ( ( , / ( : ( 3 , $ # $ # $ # $ <( - ( # $ # $ 9 - =0 3 6 ) . # $ # $ # $ % , - . 3 # $ # $ # $ / ( (-=0 3 # $ # $ # $ >. ( ) ( - () #/ ( 3 - >. ( ) ( . : ! ( 9 <(- - 6 2 6 8 3 + ( $ # $ # $ # $ 2 + 0 3 6. - ( . 3 # $ # $ # $ " . ( # $ # $ ? # $ # $ # $ @ . 3 # $ # $ # $ 4( ( # $ # $ # $ % 3 # $ # $ # $ 5 ( # $ # $ # $ * ( (3 9 7. ( # $ # $ # $ *+ (3 ' () =A (3 B . # ! 4! 3 =4 (-( = 9 - @ =- @ ( 1 ( ) 3 3 * = 9 3 : - C # $ # $ # $ *2" # $ # $ * ( # $ # $ Tabelle 1: Häufigkeit der einzelnen in den Ratschlägen vorgeworfenen verhandelten Delikte (gesamt und geschlechtsspezifisch) in absoluten Zahlen und (gerundeten) Prozentwerten. * Oft ist dies aber nicht konkretisiert. Vgl. Helmut Wachauf: Nürnberger Bürger als Juristen, Diss. Erlangen-Nürnberg 1972, v.a. S. 86. <?page no="79"?> 80 Annette Scherer III. In den Ratschlägen verhandelte vorgeworfene Delikte Das untersuchte Ratschlagbuch enthält insgesamt 532 Gutachten unterschiedlichen thematischen Zuschnitts und Umfangs (von einer knappen Seite bis zu 28 Seiten). Die strafrechtlichen Ratschläge stammen aus unterschiedlichen Prozessstadien; sie betreffen die Prozessführung (Verhör von Zeug(inn)en, Anwendung der Tortur, Haftentlassung auf Kaution usw.), Fragen der Gerichtsbarkeit (Gerichtszuständigkeit innerhalb der Stadt, Wahl des Prozessverfahrens, Auseinandersetzungen mit Nachbarterritorien über die Gerichtshoheit) und die einzelnen Strafurteile. Außerdem finden sich 49 Gutachten, die weniger konkret dem eigentlichen Strafprozess zuzuordnen sind (z.B. zur Gültigkeit des Testaments Hingerichteter) oder die eher dem zivilgerichtlichen Bereich hinzuzuzählen sind (z.B. zu ausstehenden Schulden). Für die quantitative Datenerfassung zu Täter(inne)n und Delikten wurden diese Gutachten ausgeklammert und somit insgesamt 483 Ratschläge zu 276 Fällen mit 396 Verdächtigten (hiervon etwa 65,8 Prozent männlichen Geschlechts) berücksichtigt. Einen Überblick über die in den Ratschlägen verhandelten vorgeworfenen Delikte gibt die beigefügte Tabelle. 19 Diese zeigt, dass Delikte gegen die Sexualmoral (verstanden als Ehebruch, Bigamie, Inzest, Kuppelei, Unzucht) und Eigentumsdelikte (verstanden als Raub, Diebstahl, Hehlerei, Betrug) innerhalb der untersuchten Gutachten als die am häufigsten von den Konsulenten diskutierten Vergehen erscheinen, wobei die Mehrzahl der Frauen wegen Sexualvergehen, die Mehrzahl der Männer wegen Eigentumsvergehen verdächtigt wurde. 20 Der Frage, bei welchen dieser Delikte 19 In etwa 19 Prozent der Fälle wurden einer Person mehrere Tatbestände vorgeworfen. In die Tabelle (siehe Tabelle 1) sind alle diese Tatbestände aufgenommen. In einigen Fällen herrschte bei den Juristen Unklarheit über den vorliegenden Tatbestand; es wurde z.B. parallel zur angezeigten Tat die Möglichkeit der strafbewehrten bewussten Falschanzeige diskutiert. In solchen Fällen sind beide Delikte in der Tabelle verzeichnet. Hier zeigt sich letztlich auch die prinzipielle Deutungsoffenheit von Situationen und Handlungen. Die Fälle, in denen in den Gutachten auf kein konkretes Delikt Bezug genommen wird, sind hier ausgeklammert. Farblich hervorgehoben sind die zahlenmäßig dominierenden Sexual- und Eigentumsvergehen. 20 Das Geschlecht der Verdächtigten lässt sich (anders als z.B. der Stand) jeweils erschließen, so dass die Einbeziehung dieser Kategorie sinnvoll möglich ist. Eine systematische deliktübergreifende Untersuchung zu geschlechtsspezifischen Erwartungen oder Zuweisungen an Verhaltensweisen soll hier nicht geleistet werden. Hier lässt sich aber auf andere Arbeiten verweisen. Bspw. finden sich bei Frank und Schwerhoff Ergebnisse zu einer geschlechtsspezifischen Wertung von Verhaltensweisen und zur Konstruktion gewisser Frauen- und Männerrollen. Michael Frank: Trunkene Männer und nüchterne Frauen. Zur Gefährdung von Geschlechterrollen durch Alkohol in der Frühen Neuzeit, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 187-212. Gerd Schwerhoff: Starke Worte. Blasphemie als theatralische Inszenierung von Männlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 237-263. Für diese Perspektive z.B. auch interessant Ulrike Gleixner: „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt a.M. 1994. Zu geschlechtsspezifischer Kriminalität (u.a. auch unter Einbeziehung statistischer Daten zu Nürnberg) auch Robert Jütte: Geschlechts- <?page no="80"?> 81 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten von den Juristen religiöse Bezüge überhaupt oder besonders häufig angebracht wurden, soll im Folgenden nachgegangen werden. IV. Herangezogene Rechtsquellen, Begründung der Strafe und Strafbemessung Ein Blick auf die Rechtsnormen, auf welche von den Konsulenten bei der Begutachtung der einzelnen Fälle explizit als Entscheidungsgrundlage oder -orientierung verwiesen wurde, ergibt, dass die Juristen sich am weit häufigsten auf die Carolina bezogen. Des Öfteren finden sich - vielfach in einem rechtsvergleichenden Sinne - Verweise auf römisches Recht, einige Male auf biblische Stellen, Reichsabschiede und Entscheide des Reichskammergerichts, seltener auf germanisches Recht, die Rechtsgewohnheiten in anderen Territorien bzw. auf auswärtige Fallbeispiele, nur in den wenigsten (im weitesten Sinne Eheangelegenheiten betreffenden) Fällen auf kirchenrechtliche Regelungen. Bei Unzucht und (einfachem) Ehebruch wurde darüber hinaus oft an die in Nürnberg, im Vergleich zu den Vorgaben anderer Rechtsquellen als milde bewertete, gebräuchliche Strafe erinnert. 21 Sonst finden sich eher selten direkte Verweise auf entsprechende städtische Ordnungen. 22 Als wichtig erscheinen hingegen Verweise auf Nürnberger Strafurteile und Ratschläge in früheren vergleichbaren Fällen. Die Relevanz der Wahrung einer einheitlichen Strafrechtspraxis wurde hierbei teils direkt thematisiert. 23 Daneben bezogen sich die Juristen auf zahlreiche Rechtsgelehrte verschiedener Nationalität - wobei etliche Male auch nur allgemein von spezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 108 (1991), S. 86-116. 21 Das zeitlich etwas spätere Mandat zu Unzucht und Ehebruch vom 9.2.1619 spricht von der gewöhnlichen Strafe für einfachen Ehebruch als einer Haftstrafe bei Wasser und Brot. Vgl. StAN, Mandate lose, Nr. 378. Aus den untersuchten Ratschlägen lässt sich dies ebenso als übliches Strafmaß ableiten. In einem Kindsmordfall wurde außerdem auf eine weitere für Nürnberg spezifische Bestrafungspraxis verwiesen, nämlich darauf, dass das Ertränken von Frauen in Nürnberg bereits seit 1580 (zugunsten der Schwertstrafe) abgeschafft war. Siehe hierzu bspw. auch Knapp: Lochgefängnis (wie Anm. 9), S. 59, 74. 22 Dies hängt sicherlich auch mit den verhandelten Delikten zusammen. Bei heimlichem Verlöbnis und Hoffart wurden bspw. die städtischen Ordnungen bemüht. In einigen eher prozessrechtlich oder zivilrechtlich einzuordnenden Fragen wurde auch auf die Nürnberger Reformation Bezug genommen. Zur Nürnberger Reformation siehe weiterführend Wolfgang Leiser: „Kein doctor soll ohn ein solch libell sein“. 500 Jahre Nürnberger Rechtsreformation, in: MVGN 67 (1980), S. 1-16. 23 So verwiesen die Konsulenten vereinzelt darauf, dass eine eher ungewöhnliche Verurteilung zur Schwertstrafe auch Konsequenzen für die weitere Strafpraxis mit sich bringen würde, eine zu milde Strafe in einem jetzigen Fall vorherige schärfere Urteile zweifelhaft machen könnte usw. <?page no="81"?> 82 Annette Scherer ‚den Criminalisten‘ gesprochen wurde. Julius Clarus und Joost de Damhouder fallen hierbei als häufiger genannte auf. 24 Betrachtet man die Fälle, in denen von den Konsulenten auf ‚göttliches Recht‘, ‚Gottes Wort‘ oder konkrete mosaische Bibelstellen verwiesen wurde, genauer, so stellt man fest, dass in jeweils drei dieser Fälle über Inzest bzw. Ehebruch 25 diskutiert wurde, in weiteren Einzelfällen über Kuppelei und Vergewaltigung (in Bezug auf die Frage, ob ein Vergewaltiger die Geschädigte zu ehelichen habe), Falschaussage und Meineid, Wahrsagerei 26 und Zauberei, Diebstahl, ein Tötungsdelikt und Abtreibung (in Bezug auf die Einbeziehung des Schwangerschaftsfortschritts bei Bewertung des Tatbestands). 27 Wenn innerhalb der strafrechtlichen Ausführungen also eine Rückbindung an ‚göttliches Recht‘ erfolgte, so geschah dies vor allem bei bestimmten Sexualvergehen. Generell mag sich in den Verweisen auf biblische Gebote eine religiöse Einbindung des Strafrechtssystems widerspiegeln, wie sie sich auch in einigen beiläufigen Bemerkungen der Konsulenten zeigt. So verwiesen diese vereinzelt darauf, dass man nicht alles in dieser Welt richten könne, sondern ein Teil Gottes Gericht sei, oder merkten an, dass Gott den Täter habe in seine Strafe laufen lassen, indem er die Tat durch ihn selbst habe offenbar werden lassen. 28 Gleichwohl fällt auf, dass in den Gutachten lediglich zwei Mal eine vergeltungstheologische Strafbegründung genannt ist. So wurde in einem mehrfachen Gotteslästerungs- und einem mehrfachen Ehebruchsfall mit der Abwendung göttlichen Zorns bzw. drohender göttlicher Strafe für das ganze Gemeinwesen argumentiert. In einem Fall des versuchten Gattenmords zur Verschleierung einer außerehelichen Beziehung findet sich zumindest angemerkt, 24 Gut aufgearbeitet ist die Frage nach in Gutachten herangezogenen Rechtsquellen für die Basler Juristenfakultät. Hier lassen sich viele Parallelen zum Nürnberger Beispiel in Bezug auf die genutzten Rechtsquellen finden. Stefan Suter: Die Gutachten der Basler Juristenfakultät in Straffällen (vom ausgehenden 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts), Diss. Basel 1988, S. 33-46. Siehe hierzu auch allgemein Schaffstein: Deliktbestände (wie Anm. 7), S. 123-146. 25 In zweien dieser Ehebruchsfälle handelte es sich explizit um den Vorwurf des mehrfachen Ehebruchs. Bei den Inzestfällen wurde jeweils angenommen bzw. als möglich erachtet, dass dieser wissentlich geschehen sei. 26 Da hierüber im Zusammenhang mit einem als Betrug gewerteten Fall zwar sinniert, das Delikt dem Angeklagten aber nicht vorgeworfen wurde, ist es nicht in Tabelle 1 mit aufgenommen. 27 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 13 v -16 r , 57-71, 106 v -107 r , 201-202 r , 268 v , 275-276 r , 285 v -286 r , 317 v -318 r , fol. 339-340, 347 v -350 r , 434 v -438, 481-484 r , 514-520 r , 540 v -548, 566 v -567 r . Dass die Heranziehung biblischer Gebote im Übrigen nicht personell bedingt war, zeigt ein diesbezüglicher Abgleich der Gutachten, bei denen sich einzelne Wortmeldungen zuordnen lassen. 28 Suter weist für die Basler Gutachterpraxis darauf hin, dass sich Bezüge auf die Bibel stets im bestätigenden Sinne für bereits anders hergeleitete Befunde v.a. in Gutachten des späten 16. und 17. Jahrhunderts finden. Er wertet dies als Ausdruck des theokratischen Strafrechtsverständnisses. Er stellt im Übrigen fest, dass parallel dazu, dass in den Gutachten weniger auf die Bibel Bezug genommen wurde, die Gewohnheit einsetzte, die Gutachten zumeist mit „In Nomine Domini“ zu übertiteln. Vgl. Suter: Gutachten (wie Anm. 24), S. 19, 36f. <?page no="82"?> 83 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten dass man die Strafbemessung auch gegenüber Gott verantworten müsse. 29 Untersucht man die Gutachten auf Äußerungen zur Begründung der jeweiligen Strafe, so zeigt sich, dass der Hauptzweck des Strafens für die Rechtsgelehrten deliktunabhängig bei der Prävention lag. So sprechen zahlreiche Ratschläge davon, man solle ‚zum Abscheu und Exempel‘ strafen. Bisweilen wurde (zusätzlich) darauf verwiesen, dass das betreffende Delikt ‚gemein‘ geworden sei. Eher in einzelnen Fällen wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Geschädigte durch eine Haft- oder Todesstrafe vor dem/ der mutmaßlichen Täter(in) zu schützen seien. 30 Der präventive Strafzweck spiegelt sich in gewisser Weise auch in den Diskussionen der Juristen um die Höhe des Strafmaßes bzw. um einzelne Prozessentscheidungen (Entlastung/ Belastung der Angezeigten, Möglichkeit einer Entlassung auf Kaution usw.) wider. So maßen sie der Frage, ob Hoffnung auf Verhaltensbesserung bei den Verdächtigten bestehe bzw. ob sie sich den Vorfall eine Warnung sein lassen wollten, deliktunabhängig große Bedeutung bei. Jugend wurde hierbei oft mit Lernfähigkeit assoziiert. Außerdem findet sich häufiger die Vermutung, der/ die Jugendliche sei lediglich einmalig von anderen verführt worden. Oft im Zusammenhang mit dem Besserungsaspekt achteten die Konsulenten auch auf eventuelle Vorstrafen und den vorherigen Lebenswandel der angezeigten Personen. 31 Prinzipiell konnten bei der Strafbemessung auch Erwägungen, die sich vor allem auf soziale und wirtschaftliche Konsequenzen konkreter Strafen für die angeklagten Personen selbst sowie mittelbar betroffene Akteure bezogen, eine 29 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 40 v -41 r , 347 v -350 r , 57-71. Im Gotteslästerungsfall wird v.a. der neben der Kirchenbuße zusätzlich anempfohlene Stadtverweis mit „abwendtung göttliches zorns, so […] uber ein ganz landt ergehen möchten“ begründet. Im Ehebruchsfall heißt es strafbegründend, es sei „in historien zubefindten, dz, wo der ehebruch per conniventiam magistratus so gar uberhandt genommen, woll ganze könnigreich undt stätte durch göttliche augenscheinliche bestraffung zue grundt unndt boden gangen“. Im letztgenannten Fall wird erklärt, es müsse ein „exempel […] statuirt werdten“, „weill diße thatt ein gemein ergernus mit sich ziehe, […], damit man es auch gegen gott im himel verantwortten könne“. Dahingestellt bleibt, inwieweit hiermit auch auf eine drohende göttliche Kollektivstrafe bei zu nachsichtigem Strafen verwiesen oder v.a. der Rat in seiner Funktion als ‚strafende Obrigkeit‘ angesprochen ist. Zum zeitgenössischen Argumentieren mit dem ‚göttlichen Zorn‘ und zu Differenzierungen innerhalb der Argumentationen siehe den Beitrag von Sebastian Frenzel in diesem Band. 30 Überblicksartig zur zeitgenössischen Strafrechtsauffassung Wolfgang Sellert/ Hinrich Rüping: Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1, Von den Anfängen bis zur Aufklärung, Aalen 1989, S. 253f. Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 3 1983, S. 161-166. Schaffstein: Deliktbestände (wie Anm. 7). 31 Eher deliktspezifisch oder personenspezifisch wurden auch andere Strafmilderungsgründe diskutiert. So wurde bspw. Armut mitunter als entschuldigend bei Diebstahl und Wilderei diskutiert bzw. bei Diebstahl als schwerwiegend erwogen, dass die Armut nicht zu diesem gezwungen habe. In zwei Fällen, in denen über vermeintliche von Soldaten begangene Tötungsdelikte verhandelt wurde, wurde bspw. diskutiert, ob das Zurwehrsetzen bzw. die Annahme der Herausforderung zur Rettung der Ehre erfolgen musste. Fürbitten wurden darüber hinaus aber generell als strafmildernd anerkannt und nur in einem Fall zurückgewiesen. <?page no="83"?> 84 Annette Scherer tragende Rolle spielen. So wurde bspw. in einigen Fällen, in denen ein vermeintlicher Dieb eines Handwerks kundig war, von entehrenden Strafen abgesehen, um die Ausübung des Handwerks als Einnahmequelle nicht zu behindern und womöglich weitere Diebstähle zu forcieren. Auch die möglichen Auswirkungen auf die Angehörigen des/ der mutmaßlichen Täters/ Täterin wurden bedacht und deswegen z.B. eine Züchtigung im Lochgefängnis einer entehrenden öffentlichen vorgezogen. Außerdem besaß für die Konsulenten die Frage nach den Konsequenzen gewisser Strafen für das Gemeinwesen bzw. für einzelne städtische Akteursgruppen Relevanz. So wurde einige Male zu bedenken gegeben, dass eine Bestrafung dazu führen könne, dass die Kinder der Betroffenen der städtischen Fürsorge zur Last fielen, so wie im Übrigen aus finanziellen Erwägungen heraus auch einige Male die Einstellung von Ermittlungen empfohlen wurde. Insbesondere bei gesperrten Handwerken wurde zum Teil erwogen, von Verweisungsstrafen abzusehen, um die Fachkräfte in der Stadt zu halten bzw. zu verhindern, dass sie andernorts ihre Kenntnisse einbrachten. 32 V. ‚Gottloses‘ Verhalten Generell finden sich direkte Zuschreibungen an Personen in Form wertender Charakterisierungen in den untersuchten Gutachten eher selten. Am häufigsten begegnet man solchen bei Kindsmord - hier wurden die betreffenden Frauen meist zusätzlich als ‚leichtfertig‘ beschrieben 33 -, bei Meineid, bei häuslichem Unfrieden, Sexual- und Eigentumsvergehen. Bei Sexualverbrechen wurden die Verdächtigten dabei häufig als ‚leichtfertig‘, ‚lose‘ oder ‚liederlich‘ gekennzeichnet, bei Eigentumsdelikten öfter als ‚böse‘, ‚schädlich‘ oder ‚arglistig‘. Für die Thematik religiöser Devianz scheint die Frage nach der Verwendung der Bewertung ‚gottlos‘ von besonderem Interesse. 34 In neun Ratschlägen findet sich diese 32 Verwiesen werden kann in Bezug auf diese Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls auf Karl Härter: Policeygesetzgebung und Strafrecht: Criminalpoliceyliche Ordnungsdiskurse und Strafjustiz im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Sylvia Kesper-Biermann/ Diethelm Klippel (Hg.): Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte, Wiesbaden 2007, S. 189-210, der ausgehend vom Argument einer wechselseitigen Beeinflussung von Policey und Strafjustiz u.a. eine zunehmende Flexibilität in der strafrechtlichen Entscheidungspraxis konstatiert. Auch in Bezug auf den Strafzweck sei im Übrigen eine Verknüpfung mit policeylichen Zielvorstellungen festzustellen. Hierzu auch Karl Härter: Zum Verhältnis von Policey und Strafrecht bei Carpzov, in: Günter Jerouschek/ Wolfgang Schild/ Walter Gropp (Hg.): Benedict Carpzov. Neue Perspektiven zu einem umstrittenen sächsischen Juristen, Tübingen 2000, S. 181-225, hier v.a. S. 186f. 33 Dies passt zur Beobachtung, dass bei Vergehen gegen die Sexualmoral (als der heimlichen Schwangerschaft und Kindstötung vorausgehend) häufig eine Zuschreibung an die Personen als ‚leichtfertig‘, ‚lose‘ oder ‚liederlich‘ erfolgte (siehe dazu weiter unten im Text). 34 Siehe zur ‚Gottlosigkeit‘ als Schlüsselbegriff für die im Band angelegte vergleichende Forschungsperspektive die Einleitung in diesem Band. <?page no="84"?> 85 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten Zuschreibung an einzelne (zwei weibliche und sechs männliche) Personen oder ihr Verhalten bzw. in einem Fall auch in Bezug auf eine ganze Ortschaft. Direkt als ‚gottlos‘ tituliert wurden die vermeintliche Gotteslästerin Anna Körmerin sowie die wegen ihres langwierigen unzüchtigen Verhaltens bekannte und wegen Urfehdebruchs und Bedrohung angeklagte Barbara Zainerin 35 . Einem Angeklagten wurde in Bezug auf den ihm vorgeworfenen Missbrauch des Abendmahls ein „gottloß gemüeth“, einem Ehemann, dem Tätlichkeiten gegenüber seiner Ehefrau vorgehalten wurden, ein „gottloßes leben“ vorgeworfen. 36 In den anderen Fällen bezog sich die Zuschreibung ‚gottlos‘ nicht auf die aktuell verhandelte Tat, sondern stellte eher eine prinzipielle Charakterisierung des Angeklagten oder seines vorherigen Verhaltens dar; diese konnte die Verdachtsmomente zusätzlich untermauern. In einem Fall von falscher Anklageerhebung betonten die Konsulenten sogar, dass der verhaftete Jörg Lengenfeld auch deswegen die Strafe verdient habe, „weill er auch sonsten ein verruchter gottloßer mensch“ sei. 37 Zumindest für drei der letztgenannten Fälle lässt sich über die Auswertung weiteren Aktenmaterials Näheres zum jeweiligen Kontext erschließen. Der im Ratschlag als ‚gottlos‘ beschriebene Michel Gülich war offenbar auch deshalb inhaftiert worden, weil er öffentlich Personen verhöhnt und bedroht und dabei Gott gelästert hatte. Über Albrecht Hoffman, dessen bisheriger Lebenswandel, aufgrund dessen er, laut Gutachten, bereits zuvor in Haft geraten war, im Ratschlag als ‚gottlos‘ bezeichnet wird, lässt sich erfahren, dass dieser vormals wegen der Verschwendung seines Erbes „mit loser gesellschafft“ und Unzucht inhaftiert gewesen war. Zu Jobst Friedrich Endtner, von dem es im Ratschlag heißt, er werde als „sehr gottloßer mensch“ befunden, findet sich die zusätzliche Information, dass er „gotloße reden“ geführt habe. Gotteslästerung und Verschwendung ließen sich also in diesen Fällen als Hintergrund für die Zuschreibung ‚gottlos‘ zumindest vermuten. 38 Die ‚Gottlosigkeit‘ der anderen konnte hingegen auch entlastend wirken. So wurde in einem Fall eine vorgeworfene Tätlichkeit eines Nürnberger Bürgers damit entschuldigt, dass in diesem „gottloße[n] nest zue Fürth [dem Tatort]“ Schreien und Balgen alltäglich seien, so dass man vermuten könne, dass man dem Angeklagten berechtigten Anlass zur Gegenwehr gegeben habe. 39 Hinweisen lässt sich in Bezug auf die Frage nach der Verwendung religiöser Verweise innerhalb der Gutachten außerdem auf den vereinzelten Gebrauch des Wortes ‚Sünde‘ in Bezug auf Inzest, Bigamie, Gotteslästerung und Verschwendung. Das beharrliche Leugnen während der Verhöre oder gar der Meineid wurden auch als „verschweerung [d]er seelen seeligkeit“ umschrieben. 40 Im Übrigen fällt auf, dass sich eine Bemerkung, die persönliches Empfinden zum Ausdruck 35 Siehe zu diesem Fall auch unten Abschnitt VI. 36 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 301, 42-43 r , 57-71, 175. 37 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 131-132 r , 338-339 r , 512 v -514 r , 123 v -124 r . 38 Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, fol. 15, 102 v -103 r und ebd., Nr. 200, fol. 202. 39 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 2-3. 40 So z.B. in StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 90-93. <?page no="85"?> 86 Annette Scherer bringt, in einem Meineidfall finden lässt. So erklärten die Juristen Busereuth, Rem, Oelhafen und Heher in ihrem entsprechenden Gutachten, dass sie „in unzehlichen so schrifflichen händeln alls mündtlichen fürträgen täglichs befindten undt mit erschrockhenen herzen erfahren müßen, wie hochsträfflich der aidt mißbraucht“. 41 In einem Gotteslästerungsfall und einem Fall von Ehebruch und Kuppelei legten die Konsulenten des Weiteren nahe, gegen die jeweiligen Delikte auch von der Kanzel predigen zu lassen. 42 Fügt man die Ergebnisse zur Bezugnahme auf biblische Gebote, zur vergeltungstheologischen Begründung der Strafe und zu den Zuschreibungen ‚gottlos‘ und ‚Sünde‘ zusammen, ergibt sich ein Gesamtbild, dass den Bereich religiöser Devianz (aus der Perspektive der untersuchten juristischen Gutachten) vor allem stärker auf gewisse Delikte gegen die Sexualmoral, nämlich insbesondere Inzest und Ehebruch, Falschaussage und Meineid sowie Gotteslästerung einengt. Ausgehend von dieser Beobachtung soll abschließend ein Blick auf die konkrete Bewertung einzelner Fälle aus diesem Deliktfeld geworfen werden. Neben dem juristischen Standpunkt soll hier auch die Perspektive anderer Akteure, z.B. die der Nürnberger Obrigkeit, miteinbezogen werden. VI. Beurteilung religiöser Abweichung In den untersuchten Ratschlägen lassen sich einige Beispiele dafür finden, dass der religiösen Haltung verdächtigter Personen besondere Beachtung zuteil wurde. Auf den Fall des Jörg Lengenfeld wurde bereits weiter oben verwiesen. Die Zuschreibung, er sei „auch sonsten ein verruchter gottloßer mensch“, konnte das Urteil der gutachtenden Juristen hier durchaus beeinflussen. Dass sich zusätzlich zu anderen Tatvorwürfen vermerktes religiös abweichendes Verhalten für Verhaftete negativ auf die Strafbemessung auswirken konnte, zeigt auch das Beispiel des wegen Diebstahls angeklagten Hans Drentz. Eine Strafmilderung wurde hier von den urteilenden Konsulenten auch aufgrund dessen zurückgewiesen, dass Drentz sich seit seiner Verhaftung „mit hohem schwehren undt verlaugnen seins namens unndt dz er sonderlich nicht betten wöllen, sondern dz gespött daraus getriben“ beschwert habe. Die Aufzeichnungen im Achtbuch erläutern die Umstände in einer angefügten Notiz genauer. Hier heißt es, der Pfleger zu Hersbruck - Drentz war zuerst in Hersbruck inhaftiert gewesen, bevor man ihn nach Nürnberg überführte - habe in seinem Schreiben mitgeteilt, dass sich der Verhaftete durch die Geistlichen, die sich Tag und Nacht um ihn bemüht hätten, nicht in Gottes Wort 41 StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 90-93. 42 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 40 v -41 r , 347 v -350 r . In zwei weiteren Fällen wurde im Übrigen zur Einbeziehung eines Predigers geraten. Im einen Fall sollte dieser einen vermeintlichen Dieb zum Bekenntnis seiner Taten bringen, im anderen Fall sollte er einen Ehemann, der seiner Frau gegenüber mit Tätlichkeiten drohte, seelsorgerisch betreuen. Vgl. ebd., fol. 456, 263 v -264. <?page no="86"?> 87 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten habe unterweisen lassen; außerdem habe er weder „reue“ noch „laidt“ gezeigt und sich geweigert, das Abendmahl zu empfangen. 43 Als ein weiteres Beispiel für die Ablehnung strafmildernder Umstände - hier aufgrund einer vermuteten inzestuösen Verbindung - lässt sich der Fall der Barbara Wagnerin anfügen. Dieser wurden unter anderem der mehrfache Ehebruch mit Conrad Zwickelsberger und der Mordversuch an ihrem Ehemann vorgeworfen. Die befragten Juristen diskutierten in diesem Fall lange über die Frage der Schuld- und Strafzumessung; einer ersten Fürbitte des Ehemannes wurde hierbei nur eingeschränkt Bedeutung beigemessen. Im letzten vorliegenden Ratschlag lehnte Oelhafen die Berücksichtigung einer weiteren vorliegenden Fürbitte dann letztlich mit der Begründung ab, dass man, beziehe man die Fürbitte mit ein, der Bürgerschaft wissentlich „ein scandalum für die augen stellen [würde], weill die sach ruchtbahr unndt so vill an tag kommen, dz sie [Barbara Wagnerin] selbsten von einer verfluchten würzel unndt radice herkommen“. 44 Ein vorheriger Ratsverlass unterrichtet von der „gemeine[n] sag“, Barbara Wagnerin sei in Wirklichkeit die leibliche Tochter Zwickelsbergers. 45 An diesem Fall zeigt sich, dass eine Zuschreibung nicht nur vonseiten der Strafverfolgungsorgane wirksam erfolgen konnte. Allein das Gerücht über einen möglichen Inzest floss hier in das juristische Urteil mit ein. Dass eine negative Verhaltensbewertung durch das soziale Umfeld im Prozessverlauf mitbestimmend sein konnte, illustriert ein weiteres Beispiel. Zugleich verweist dieses darauf, dass das Urteil obrigkeitlicher bzw. obrigkeitlich agierender Akteure nur eines im Prozess der Markierung devianten Verhaltens darstellte. Nach Ansicht der urteilenden Juristen war Michel Kornmair aufgrund einer entscheidenden Zeugenaussage der falschen Anklageerhebung überwiesen, zumal - wie sie hinzufügten - er von vier Personen als ein „leichtferttige[r] verwegene[r] kundten unndt graußame[r] gottslästerer“ angegeben worden sei. Ein amtlicher Eintrag berichtet über die Verhängung einer von den Juristen anempfohlenen Verweisungsstrafe sowie darüber, dass Kornmair gesagt worden sei, er habe „als ein gottslesterer, verleumbder und nicht würdiger bub wol den peßen verdient“. 46 Die Charakterisierung Kornmairs als Gotteslästerer verblieb also sogar im amtlichen Eintrag. 43 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 46-50 r . StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 215, fol. 313 v -314 r . 44 StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 57-88. 45 Vgl. StAN, Verlässe des Inneren Rats, Nr. 1769, fol. 51. Die Aufzeichnungen im Achtbuch geben Auskunft darüber, dass Barbara Wagnerin zuletzt tatsächlich auch zum Verhältnis ihrer Mutter zu Zwickelsberger, zu ihrer Taufe und zum Verhalten ihres (sozialen) Vaters ihr gegenüber befragt wurde. Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 216, fol. 53-76. Aus einem weiteren Ratsverlass lässt sich im Übrigen ersehen, dass das Urteil in der Tat ungeachtet der vorliegenden Fürbitte an ihr vollzogen werden sollte. Vgl. StAN, Verlässe des Inneren Rats, Nr.1770, fol. 14. 46 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 460 v -461. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 200, fol. 159. <?page no="87"?> 88 Annette Scherer Dass der durch die/ den Betroffene(n) gezeigten religiösen Haltung im Übrigen auch noch nach der Urteilsfindung von verschiedenen Seiten Bedeutung beigemessen wurde, macht ein Blick auf weiteres Quellenmaterial ersichtlich. So schrieb bspw. der Scharfrichter Franz Schmidt über den oben erwähnten Hans Drentz, dass dieser vor der Hinrichtung weder beten wollte noch das Abendmahl gereicht bekommen habe und so „in seinen Sünden gestorben [sei]“. Der Eintrag schließt mit der Bemerkung: „Ein Gottloser Mensch.“ 47 Aufschlussreich erscheinen auch die Aufzeichnungen des Geistlichen Hagendorn. Seinem Bericht ist zu entnehmen, dass er ab Juli 1605 zusammen mit seinem Kollegen Wolfgang Lüder als Gefängnisseelsorger eingesetzt war. Offenbar betreuten sie die hinzurichtenden Personen die letzten drei oder vier Tage vor dem angesetzten Rechtstag und begleiteten sie zur Hinrichtungsstätte. Sie hatten den Inhaftierten „den trost göttlichen worts“, die wichtigsten Glaubensgrundsätze und in manchem Fall die Schwere und die Konsequenzen der vorgeworfenen Taten zu vermitteln. So wertete Hagendorn auch die Akzeptanz der Strafe und die Annahme des Trostes in Bezug auf die Betroffenen als positiv. Zudem finden sich häufig Angaben zu den Glaubenskenntnissen derselben. Hagendorns Fallberichte schließen meist mit der Bemerkung bzw. der Hoffnung, der/ die Gerichtete sei ‚christlich‘, ‚wohl‘ bzw. ‚selig‘ gestorben. 48 So urteilte Hagendorn auch über den unter anderem wegen Körperverletzung verurteilten Caspar Schweinsbein, dem auf zahlreiche Fürbitten hin das Leben geschenkt worden war, er sei unter denen, die er betreut habe und die erbeten worden seien, derjenige, bei dem die Gnade am besten angelegt sei. Er habe sich während der Besuche durch die Seelsorger wohl verhalten, habe den Trost göttlichen Worts angenommen und sich mit Geduld und Gehorsam gegenüber Gott und der Obrigkeit auf seinen Tod vorbereitet. 49 Ein konträrer Bericht findet sich zu Hans Schrencker, der wegen Diebstahls belangt wurde. Hagendorn führte aus, von den Lochschöffen zu diesem geschickt worden zu sein, da dieser sich in der Haft widerspenstig verhalten und zudem selbst um geistlichen Beistand gebeten habe. Weder mit tröstlichen noch ernsten Worten sei er jedoch zu ihm durchgedrungen; zwar habe Schrencker bisweilen Reue gezeigt, sich dann aber wiederum der ganzen Situation gegenüber spöttisch verhalten und unter anderem auf den Hinweis auf die ewige Verdammnis gekontert, er habe mit der langwierigen Haftstrafe, seiner Ansicht nach, schon genügend für seine Taten gebüßt. Zudem beschrieb Hagendorn, dass Schrencker am zweiten Tag der Betreuung auch noch katholische Ansichten vertreten habe, die er ihm widerlegt habe, ihn aber letztlich nicht habe überzeugen können. Auf dem Weg zur Richtstatt habe der Verurteilte dann aber zumindest - teils lachend, teils weinend - die ihm vorgesagten Gebete nachgesprochen und sich zu Christus bekannt, 47 Tagebuch (wie Anm. 12), S. 95f. 48 Siehe für den hier relevanten Zeitraum StadtAN, E 8, Nr. 5120, fol. 1-56 r . Zur Quelle und zum Verfasser siehe Anm. 6. Zur Person Lüders Simon: Pfarrerbuch (wie Anm. 6), S. 138. 49 Vgl. StadtAN, E 8, Nr. 5120, fol. 34-36 r . Ratschläge zu diesem Fall finden sich im Übrigen in StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 489 v -504 r . <?page no="88"?> 89 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten wenngleich er das Abendmahl nicht empfangen wollte. Auch im Achtbuch ist diese Episode mit einer Notiz vermerkt. Hier heißt es, Schrencker sei „päpstischer religion zugethan gewest“, habe im Gefängnis „wider gott und unßern christlichen glauben sehr spöttische reden“ getrieben und die Seelsorger ausgelacht sowie er auch vor Gericht und beim Hinausführen zur Richtstatt immerzu gelacht habe. 50 Wie im Fall Drentz wurde das als religiös abweichend wahrgenommene Verhalten also amtlich vermerkt, selbst wenn es im Fall Schrencker für den Strafprozess als solchen keine Rolle mehr spielte. Obgleich als religiös abweichend befundenes Verhalten derart starke Beachtung fand, lässt sich doch keine durchgängig rigorose Sanktionspolitik in derlei Fällen behaupten. Auf die von den Juristen deliktübergreifend diskutierten Strafmilderungsgründe wurde weiter oben bereits verwiesen. Auch für die Delikte, die (in den untersuchten Ratschlägen) am stärksten durch religiöse Bezüge gekennzeichnet sind, lassen sich dementsprechend Fallbeispiele für die Diskussion dieser Argumente finden. So wurde bspw. in einem Ehebruchsfall die Hoffnung auf Besserung der Angeklagten von den gutachtenden Juristen angesprochen (wenngleich auch zurückgewiesen), in einem Inzestfall unter anderem auch die Jugend einer Beschuldigten in die Erwägungen miteinbezogen und einem wegen Fluchens Verdächtigten die „gutte gezeugkhnus“, die er von etlichen erhalten habe, zugute gehalten. 51 Mögliche Strafkonsequenzen für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld spielten in den Überlegungen gleichsam eine Rolle. So wiesen die gutachtenden Konsulenten z.B. bei der Abwägung über den Prozessfortgang gegen einen vermeintlichen Ehebrecher und Kuppler darauf hin, dass es beim Rat liege, „in ansehung seines weibs unndt kinder unndt da sonderlich etwa fürbitt volgen sollte, gnadt ein[zu]wendten“. 52 Dem des Ehebruchs beschuldigten Reck, der zudem in der Haft mit „falsch schweeren“ erst alles geleugnet hatte, geschehe zwar, so das juristische Urteil, mit einer Verweisungsstrafe nicht unrecht, da er aber alt sei und „zubesorgen, sein weib dißer gestallt wegen solcher ausschaffung sich von ihm zue scheiden begeren möchte“, könne er aus Gnaden damit verschont werden. 53 Einen Fall, an dem sich eine flexible Sanktionspolitik über einen längeren Zeitraum aufzeigen lässt, stellt der der Barbara Zainerin dar. Ein erster Ratschlag zu ihrer Person, „ein[er] uberaus leichtfertige[n] gottloße[n] hochstraffwürdtige[n] vettel“, wie die gutachtenden Juristen angesichts ihres langwierigen unzüchtigen Lebens, ihrer Bedrohung etlicher Personen und ihres Urfehdebruchs urteilten, 50 Vgl. StadtAN, E 8, Nr. 5120, fol. 27-30 r . StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 216, fol. 282 v . Über Schrencker hatten auch die Konsulenten beratschlagt und zur Hinrichtung mit dem Strang geraten, welche Franz Schmidt vollzog. Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 343-345. Tagebuch (wie Anm. 12), S. 106f. Franz Schmidt erklärte gleichfalls, Schrencker habe das Abendmahl nicht empfangen, er sei katholisch gewesen. Außerdem berichtete er, Schrencker habe zu seinem Beichtvater pilgern und danach wieder zurückkommen wollen; er habe auch sonst viele seltsame Reden und Sachen getrieben. 51 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 488, 514-520 r , 474 v -475 r . 52 StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 227. 53 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 300 v -301 r . <?page no="89"?> 90 Annette Scherer liegt vom 3. August 1604 vor. Da die Verhaftete vorbestraft und keine Hoffnung auf Besserung vorhanden sei, rieten die befragten Konsulenten, der Rat solle sie mit einer halben Stunde am Pranger, Staupenschlägen und nochmaligem ewigen Stadtverweis strafen und sie warnen, dass ein nächster Verstoß eine Lebensstrafe nach sich ziehen könne. 54 1606 wurde Barbara Zainerin dann gleich drei weitere Male wegen ähnlicher Delikte aktenkundig, ohne dass sich jedoch eine verschärfte Strafpolitik feststellen lässt. Den amtlichen Aufzeichnungen nach wurde sie im Januar 1606 unter anderem auch wegen einer gotteslästerlichen Äußerung verhaftet. Angeblich hatte sie diejenigen, die sie wegen ihrer begangenen Gotteslästerung getadelt hatten, zu erstechen gedroht, darüber hinaus Unzucht getrieben und erneut die Urfehde gebrochen. Wieder wurde sie mit Ruten ausgestrichen und mit der Warnung, man werde sie beim nächsten Vergehen am Leib strafen, der Stadt verwiesen. 55 Im März 1607 hatten die Juristen ein weiteres Mal über sie zu beratschlagen. Abermals wurden ihr Gotteslästerung, Fluchen, Beschimpfen und Bedrohen etlicher Personen sowie Unzucht und Urfehdebruch vorgeworfen. Da der genaue Wortlaut der Gotteslästerung unklar und sie selbst nicht geständig sei, empfahlen die befragten Konsulenten, sie erneut auf ewig zu verweisen oder, falls der Rat aufgrund ihrer Vorstrafen schärfer gegen sie vorgehen wolle, weitere Erkundigungen einzuziehen und diese nebst Informationen über ihre vorherigen Straftaten wiederum durch die Rechtsgelehrten beurteilen zu lassen. 56 Interessanterweise wurde in diesem Fall die Bezichtigung der Gotteslästerung durch die Zeugen von den Juristen also nur eingeschränkt in die Beurteilung miteinbezogen, die Möglichkeit einer Strafverschärfung aufgrund der Vorstrafen nur angedeutet. Obgleich die Nürnberger Obrigkeit weitere Erkundigungen über Barbara Zainerin einzog und die „unnerhörtte gottslesterung“ sowie weitere Untaten dadurch bestätigt fand, wurde sie abermals lediglich mit einer ernsten Verwarnung verwiesen. 57 Als sie im Juli des gleichen Jahres ein weiteres Mal auf städtischem Gebiet aufgegriffen wurde, entschieden die Ratsherren sogar, der Verhafteten, die über ihre große finanzielle Not klagte und versprach „frommer zu werden“, fortan 54 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 42-43 r . Ein Eintrag im Tagebuch Franz Schmidts bestätigt, dass die Verhaftete im August 1604 mit Ruten ausgestrichen wurde. Tagebuch (wie Anm. 12), S. 174. 55 Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, fol. 36 v -37 r . Ein Eintrag im Schmidtschen Tagebuch bestätigt, dass Barbara Zainerin im Januar 1606 zum zweiten Mal mit Ruten ausgestrichen wurde. Tagebuch (wie Anm. 12), S. 175. Die beiden anderen Male, die man sie wegen Urfehdebruchs, Unzucht und Bedrohung aufgriff, wurde sie lediglich in ihre „voriege straff gewiesen“. Ob womöglich ihre Aussage, sie habe in der Stadt an Ostern lediglich das Abendmahl empfangen wollen, oder ihre Klage, sie habe keine Bleibe und niemanden, der sich um sie kümmere, zu so viel Nachsicht bewogen, bleibt unbeantwortet. Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, fol. 62 v , 96 v -97. 56 Vgl. StAN, Ratschlagbücher, Nr. 46, fol. 228 v -230 r . 57 Wieder wurde sie mit der Warnung, sie werde beim nächsten Vergehen am Leib gestraft, aus der Stadt gewiesen. Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, fol. 186 v -187 r . Einen spannenden Fall für das Scheitern von Zuschreibungen von Zeugen vor Gericht liefert im Übrigen der Beitrag von Alexander Kästner in diesem Band. <?page no="90"?> 91 Zuschreibung und Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafrechtsgutachten den zeitweiligen Aufenthalt bei St. Rochus zur Reinigung der Wäsche zu gestatten, da man dort Leute benötige. 58 Nach zahlreichen Strafandrohungen wurde nun also der immer wieder ausgesprochene Stadtverweis mit der Begründung des möglichen sinnvollen Einsatzes ihrer Arbeitskraft in Teilen aufgehoben. Dies scheint im Übrigen in eine dauerhafte Regelung übergegangen zu sein. 59 Unter bestimmten Nützlichkeitserwägungen war hier trotz vorgehaltener wiederholter Vergehen und unter anderem auch mehrfach vorgeworfener Gotteslästerung - die zumindest dem juristischen Urteil in einem anderen Fall nach durchaus den göttlichen Zorn für das gesamte Gemeinwesen provozieren konnte 60 - also eine gesellschaftliche Reintegration möglich. VII. Fazit Die im Vorangegangenen untersuchten strafrechtlichen Ratschläge der Nürnberger Konsulenten stellen für die in diesem Band eingenommene Zuschreibungsperspektive eine wertvolle Quelle dar, da es sich bei ihnen - im Gegensatz zu den bspw. eher knappen Ratsverlässen - um argumentative Texte handelt und sich in ihnen ein entscheidender Prozessabschnitt des Strafverfahrens widerspiegelt. Die Juristen klassifizierten das durch Zeugenaussagen und andere vorliegende Aktenstücke beschriebene Verhalten und bestimmten, wie die erhobene Stichprobe zeigte, das Urteil der gerichtlichen Instanzen maßgeblich mit. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Wertungen der Juristen auch durch vorhergehende Zuschreibungen beeinflusst wurden. Schließlich lag ihnen für ihre Gutachten nur das übersandte Aktenmaterial zugrunde, wenngleich zusätzliche Kenntnisse über die jeweiligen Fälle (z.B. über das ‚Stadtgespräch‘) nicht auszuschließen sind. Auf der anderen Seite konnten Zuschreibungen devianten Verhaltens von Zeug(inn) en durch die juristischen Beratungen durchaus infrage gestellt werden - man denke an den Fall der Barbara Zainerin, in dem die Konsulenten die Eruierung des genauen Wortlauts einer angeblichen Gotteslästerung nahelegten und die Einstellung weiterer Ermittlungen zumindest in Betracht zogen. Das Urteil der Konsulenten war also nur ein Teil des Prozesses der Markierung devianten Ver- 58 Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 199, fol. 221 v -222 r . Der gegen sie verhängte Stadtverweis blieb aber generell bestehen. 59 Ein Hinweis auf die Dauerhaftigkeit dieser Regelung ist einem amtlichen Eintrag vom September 1611 zu entnehmen. Erneut in Untersuchungshaft geraten, erklärte Barbara Zainerin u.a., dass sie harte Arbeit im Franzosenhaus verrichte. Da sich der Verdacht gegen sie nicht erhärten konnte, wurde sie nach eingezogener Erkundigung, dass sie im Franzosenhaus zur Auswaschung der Wäsche gebraucht werde, mit einer sträflichen Rede entlassen und ihr der weitere Aufenthalt bei St. Johannis gestattet. Vgl. StAN, Amts- und Standbücher, Nr. 200, fol. 288-288 v . Zu den Örtlichkeiten Kurt Pilz: St. Johannis und St. Rochus in Nürnberg. Die Kirchhöfe mit den Vorstädten St. Johannis und Gostenhof, Nürnberg 1984. 60 Siehe Abschnitt IV. <?page no="91"?> 92 Annette Scherer haltens - jedoch vor allem in Hinblick auf die mögliche Sanktionierung und Kriminalisierung angeklagter Personen ein ausschlaggebender. Das Feld religiöser Devianz wurde hier ausgehend von der Untersuchung religiöser Bezüge insbesondere auf Inzest, Ehebruch, Gotteslästerung, Meineid bzw. Falschaussage eingegrenzt, wobei anzumerken ist, dass die genannten Betrachtungen nur den juristischen Standpunkt reflektieren. Blickt man auf die Aufzeichnungen des Seelsorgers Hagendorn, zeigt sich bspw. ein sehr viel breiterer Gebrauch des Begriffs der Sünde. Die Betrachtung exemplarischer Fälle für die Delikte, bei denen religiöse Bezüge von den Juristen am häufigsten angebracht wurden, verdeutlichte, dass der religiösen Haltung der Betroffenen starke Beachtung beigemessen wurde. Diesbezügliche Wertungen des sozialen Umfelds konnten die Entscheidung der Juristen beeinflussen oder auffälliges Verhalten während der Untersuchungshaft eine Strafmilderung verhindern. Aber auch für das engere Feld religiöser Devianz ließ sich keine rigorose Sanktionspolitik feststellen; gängige Strafmilderungsgründe und Erwägungen, die sich vor allem auf mögliche soziale und wirtschaftliche Folgen konkreter Strafen für die Beklagten, deren soziales Umfeld sowie das Gemeinwesen bezogen, fanden auch hier Beachtung. Unter bestimmten nützlichkeitsorientierten Erwägungen konnte, wie der Fall der Barbara Zainerin zeigte, sogar eine gesellschaftliche Reintegration wiederholt aktenkundig Gewordener versucht werden. <?page no="92"?> 93 Franziska Neumann Reformation als religiöse Devianz? Das Schneeberger Kondominat und der Fall Georg Amandus (1524/ 25) * „GEORGIUS AMANDUS, welcher wie er hinkend an Beinen gewesen also auch hernachmahls in der Lehre weil er Dr. Carolstadts Discipul gewesen zu hincken angefangen. Sonsten ein solcher hitziger und widersinniger Kopff, der in seinem Schmelzen wohl recht die Ofen übersetztet.“ 1 So beschrieb 1684 der Schneeberger Chronist Christian Meltzer den reformatorischen Prediger Georg Amandus, einen angeblichen Schüler Karlstadts, - ein Etikett, das ihm bis in die neuere Forschung anhaftet. Amandus predigte zwischen Dezember 1524 und August 1525 in Schneeberg. 2 Ein kleiner Auszug der Vergehen, die Amandus vorgeworfen wurden, verdeutlicht die Brisanz des Falls - zwei Kruzifixzerstörungen, aufrührerische Predigten, Befreiung von Gefangenen, unziemliches Verhalten und nicht zuletzt zwei mit ihm in Verbindung stehende innerstädtische Proteste. Und so verwundert es wenig, wenn Meltzer vor allem dessen Abweichung von der lutherischen Lehre hervorhob. 3 * Ich danke herzlich den Beiträgern dieses Bandes und vor allem Ulrike Ludwig, Aline Hetze sowie Matthias Pohlig für anregende Hinweise und kritische Lektüre. 1 Christian Meltzer: Bergkläufftige Beschreibung Der Churfürstl. Sächß. freyen und im Meißnischen Ober-Ertz-Geburge löbl. Bergk-Stadt Schneebergk, Schneeberg 1684, S. 216. Meltzer verknüpft in seiner Stadtchronik eine Sammlung von Bergpredigten mit stadtgeschichtlichen Informationen. Zu Christian Meltzer vgl. Stefan Dornheim: Das lutherische Pfarrhaus und die Anfänge heimat- und landeskundlicher Forschung in Sachsen (1550- 1750), in: NASG 79 (2008), S. 137-159, bes. S. 149; Werner Unger: Christian Meltzer. Ein bedeutender Chronist und Bergbaukenner, in: Glück Auf. Kultur- und Heimatblätter der Kreise Aue/ Schneeberg 8,1 (1961), S. 90-91. 2 Vgl. Susan C. Karant-Nunn: What Was Preached in German Cities in the Early Years of the Reformation? ‚ Wildwuchs ‘ Versus Lutheran Unity, in: Phillip N. Bepp/ Sherrin Marshall (Hg.): The Process of Change in Early Modern Europe. Essays in Honor of Miriam Usher Chrisman, Athens 1988, S. 81-96, S. 87f. In Anlehnung an Christian Meltzer betont Karant- Nunn, dass Amandus „ one of the most persistent and troublesome of Carlstadt’s adherents “ sei; auch Adolf Laube sieht in Amandus einen Anhänger von Karlstadt, vgl. ders.: Studien über den Erzgebirgischen Silberbergbau von 1470 bis 1546. Seine Geschichte, seine Produktionsverhältnisse, seine Bedeutung für die Klassenkämpfe in Sachsen am Beginn der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, Berlin (Ost) 1974, S. 224-235; Siegfried Bräuer versucht hingegen eine inhaltliche Nähe zwischen Thomas Müntzer und Amandus herauszuarbeiten, vgl. ders.: Der hinkende Prediger von Schneeberg. Georg Amandus und seine Flugschrift von christlichen Ritter aus dem Jahre 1524, in: NASG 68 (1997), S. 67-99. 3 Vgl. Meltzer: Bergkläufftige Beschreibung (wie Anm. 1), S. 546-548. <?page no="93"?> 94 Franziska Neumann Was im späten 17. Jahrhundert eindeutig im konfessionellen Gedächtnis der Stadt verankert war, ließ sich für die Zeitgenossen jedoch keineswegs so klar bestimmen. In der religiösen Umbruchsituation der 1520er Jahre war die Entwicklung der reformatorischen Lehre noch im Fluss; sie war noch kein feststehendes theologisches Bekenntnis. Anders formuliert: Ohne eine etablierte Orthodoxie gestaltete sich die Identifikation der Heterodoxie entsprechend schwierig. 4 Verkomplizierend wirkten sich für die Zeitgenossen auch die politischen und religiösen Rahmenbedingungen in Schneeberg 1524/ 25 auf die Bewertung von Amandus aus. Die junge und prosperierende Stadt wurde seit der Leipziger Teilung 1485 bis 1533 in einer Herrschaftsgemeinschaft, einem sogenannten Kondominat, zwischen dem albertinischen Herzog Georg und dem ernestinischen Kurfürsten Friedrich sowie Herzog Johann d.Ä. regiert. 5 In Schneeberg waren demnach mehrere Stadtherren an der Ausgestaltung der städtischen Politik und somit auch der Religionspolitik beteiligt. Diese spezifische politische Konstellation sollte vor allem in der Reformationszeit für erhebliche Spannungen sorgen. Schließlich war die Reformation für den altgläubigen Herzog Georg per se eine Form religiöser Devianz, während die Ernestiner ihr wohlwollend gegenüberstanden. 6 Politik und damit auch Religionspolitik gestaltete sich in einer Herrschaftsgemeinschaft im wahrsten Sinne des Wortes als Aushandlungsprozess: 7 nicht als subtile Kommunikation unter Ungleichen, sondern als de jure gleichberechtigtes 4 Thomas Kaufmann: Nahe Fremde - Aspekte der Wahrnehmung der ‚Schwärmer‘ im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.): Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität: Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003, S. 179-241, hier S. 181. 5 Alexander Jendorff: Condominium. Typen, Funktionsweisen und Entwicklungspotenziale von Herrschaftsgemeinschaften in Alteuropa anhand hessischer und thüringischer Beispiele, Marburg 2010. 6 Zur Religionspolitik Herzog Georg von Sachsens vgl. Günther Wartenberg: Landesherrschaft und Reformation. Herzog Moritz von Sachsen und albertinische Kirchenpolitik, Weimar 1988, S. 23-63 sowie Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488-1525, Tübingen 2008; einen allgemeinen Überblick über die Person und die Kirchenpolitik Kurfürst Friedrichs des Weisen liefert Uwe Schirmer: Die ernestinischen Kurfürsten bis zum Verlust der Kurwürde (1485-1547), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089-1918, München 2004, S. 55-75 sowie Karlheinz Blaschke: Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen und die Luthersache, in: Fritz Reuter (Hg.): Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache. Im Auftrag der Stadt Worms zum 450-Jahrgedenken, Köln/ Weimar/ Wien 2 1981, S. 316-335. 7 Vgl. u.a. Ute Frevert: Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: Dies./ Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. 2005, S. 7-26, bes. S. 15. Zur Kritik am Begriff des Aushandelns von Herrschaft vgl. Wolfgang Reinhard: Zusammenfassung: Staatsbildung durch ‚Aushandeln‘? , in: Ronald G. Asch/ Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 2005, S. 429-438, bes. S. 434. <?page no="94"?> 95 Reformation als religiöse Devianz? Aushandeln von Entscheidungen zwischen zwei Fürstenhäusern. Im Folgenden sollen die Aushandlungsprozesse untersucht werden, die den Umgang der Stadtherren mit dem reformatorischen Prediger kennzeichneten. Methodisch orientiert sich der Beitrag dabei am ‚Labeling Approach‘. 8 Dabei stehen vor allem die obrigkeitlichen Zuschreibungs- und Etikettierungsprozesse im Mittelpunkt der Untersuchung. Diese Fokussierung auf die Wettiner als Stadtherren resultiert zum Ersten aus deren Relevanz für die innerstädtische Religionspolitik. Zum Zweiten hat sich aufgrund der Herrschaftsgemeinschaft eine Doppelüberlieferung erhalten, die es ermöglicht, in der Mikroperspektive verschiedene Zuschreibungs- und Interaktionsprozesse zu rekonstruieren. Es wird gefragt, auf welche Normen und Wertvorstellungen sich der altgläubige und die zwei reformationsfreundlichen Stadtherren unter den spezifischen Bedingungen des Kondominats in der Auseinandersetzung um den reformatorischen Prediger bezogen. Der Umgang mit dem Prediger, so die These, war in erster Linie durch einen komplexen Aushandlungsprozess um die Definitionsmacht in Religionsfragen geprägt. Zwar versuchte Herzog Georg, über den Fall Amandus die Reformation als solche als Phänomen religiöser Devianz zu stigmatisieren. Allerdings ließen sich die ernestinischen Stadtherren auf diese Deutung nicht ein, problematisierten den Fall darüber hinaus aber auch nicht als Form innerreformatorischer Abweichung. In der spezifischen Konstellation des Kondominats erwiesen sich reformationsunspezifische Referenzpunkte, anhand derer das abweichende Verhalten und nicht die Glaubensinhalte des Predigers verhandelt werden konnten, als konsensstiftend. Um diese These zu belegen, gehe ich in fünf Schritten vor: Erstens werde ich die Rahmenbedingungen (Kondominat, Reformation in Schneeberg) klären (I.). Daran anschließend werde ich in aller Kürze den Konfliktverlauf skizzieren, Amandus’ theologisches Profil untersuchen und den reformatorischen Prediger in den Kontext der frühen Reformation einbetten (II.). Drittens werde ich den Aushandlungsprozess der Ernestiner und Albertiner über den richtigen Umgang mit Amandus in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken (III.). Abschließend soll zunächst das Spezifische dieses Falls herausgearbeitet werden (IV.), um daran anknüpfend zu diskutieren, welche Vorteile die Forschungsperspektive ‚Religiöse Devianz‘ und die Einnahme einer Labeling-Perspektive für die Untersuchung der frühen und speziell der sogenannten radikalen Reformation besitzt (V.). I. Herrschaftsgemeinschaften wie das Schneeberger Kondominat waren selten, aber im ‚Alten Reich’ keinesfalls eine kuriose Randerscheinung, wie Alexander Jendorff 8 Dazu die Einleitung von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff in diesem Band. <?page no="95"?> 96 Franziska Neumann jüngst anschaulich aufzeigen konnte. 9 Dabei sind die Gründe für die Einrichtung von Kondominaten vielfältig. Die Bildung des Schneeberger Kondominats hing eng mit der Relevanz des Bergbaus für die Wettiner und damit auch mit den Bergstädten im Erzgebirge als wirtschaftliche Grundlage landesherrlicher Macht im 15. und 16. Jahrhundert zusammen. Bereits in den 1530ern stammten fast 70% der wettinischen Ämtereinnahmen aus dem Bergwesen. 10 Insbesondere auf dem Silberbergbau gründete der reichspolitische Einfluss der Wettiner. Seit den 1470er Jahren wurde im Zuge des sogenannten ‚zweiten Berggeschreys‘ eine Reihe von Bergstädten gegründet, die sich zu kulturellen, wirtschaftlichen und administrativen Zentren der Region entwickelten und zu regelrechten ‚Boomtowns‘ avancierten. 11 Die Bergstadt Schneeberg lag in der Grundherrschaft Wiesenburg der Herren von der Planitz und ist eine der ältesten Stadtgründungen des ‚zweiten Berggeschreys‘. Bereits 1446 lassen sich in dem Gebiet erste bergbauliche Tätigkeiten nachweisen. 12 In diesem Jahr kam es zu umfangreichen Erzfunden, und infolgedessen wuchsen auch die Ausbeuten rasant an. 13 Der einsetzende Bergsegen führte zu einem stetigen Zuzug von bauwilligen Gewerken in die noch ungesicherte Ansiedlung. 1481 bekam die Stadt durch einen landesherrlichen Freiheitsbrief die gängigen Privilegien einer Bergstadt zugesichert, u.a. die Niedergerichtsbarkeit. 14 Allein das Recht auf eine freie Wahl des städtischen Schöppengremiums gewährten die Wettiner der Stadt nicht. 1485, im Zuge der Leipziger Teilung, wurde auch die Verwaltung und Organisation des Bergbaus im Erzgebirge reglementiert. 15 Wie bereits in früheren 9 Jendorff: Condominium (wie Anm. 5). 10 Vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 81. Siehe auch Uwe Schirmer: Kursächsische Staatsfinanzen (1456-1656). Strukturen - Verfassung - Funktionseliten, Stuttgart 2006, S. 164 sowie S. 165 Grafik 2. 11 Ulrich Thiel: Die Bergstädte des sächsischen Erzgebirges, in: Cecilia Hollberg/ Harald Marx (Hg.): Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004, S. 91-102. 12 Die erste urkundliche Erwähnung lässt sich auf das Jahr 1446 datieren. Am 22. Juli 1446 wurde den Bergwerken auf dem Schneeberg eine vierjährige ‚Bergfreiheit‘ gewährt, welche den Schneeberger Gewerken das Privileg zusicherte, ihr Silber zu einem Preis von zwei Groschen pro Schock der Zwickauer Münze verkaufen zu dürfen, vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 16. 13 Betrug die Ausbeute in Schneeberg 1470 noch 118 Mark Silber zu 233,58 Gramm, konnten 1471 bereits 12.740 Mark, bzw. im Jahre 1472 insgesamt 29.409 Mark Silber erreicht werden, vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 268. Nach 1485 ging der Ertrag in Schneeberg stetig zurück. Im 16. Jahrhundert lässt sich festhalten, dass nicht mehr Schneeberg, sondern Freiberg und Annaberg im Zentrum des erzgebirgischen Bergbaus standen, vgl. Schirmer: Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 10), S. 164 sowie S. 165 Grafik 2. 14 Zum Freiheitsbrief vgl. Helmut Bräuer: Der Schneeberger Freiheitsbrief von 1481, in: Sächsische Heimatblätter 52 (2006), S. 312-320. Der Freiheitsbrief ist ediert bei Oswalt Hoppe: Der Silberbergbau zu Schneeberg bis zum Jahre 1500, Freiberg 1908, S. 142-144. 15 Zur Beziehung Leipziger Teilung und Bergbau vgl. Herbert Kaden: Leipziger Teilung, Maastrichter und ‚Brüderlicher‘ Vertrag und der Aufbau der Bergverwaltung im ‚Freiberger <?page no="96"?> 97 Reformation als religiöse Devianz? Erbteilungen griff man auch hier auf ein gemeinsames Bergregal zurück und bestimmte, dass sich die Ernestiner und Albertiner zukünftig alle Einnahmen aus dem Bergbau teilen sollten. 16 Für die noch junge, aber wirtschaftlich bedeutende Bergstadt Schneeberg entschied man sich zudem für die im Vergleich einzigartige Regelung, neben dem geteilten Bergregal auch die Stadt unter gemeinsamer Stadtherrschaft zu verwalten. 17 In der Folge betrieben in dem hier interessierenden Zeitraum Herzog Georg, Kurfürst Friedrich und Herzog Johann d.Ä. eine gemeinsame städtische Politik, die auf der Einmütigkeit von Entscheidungen basierte. Für die Ausgestaltung der Organisation und Verwaltung des Kondominats gab es keinen einheitlichen Modus, vielmehr wurde mit verschiedenen Regierungsformen experimentiert. 18 1510 entschied man sich für eine gemeinsame Regierung, da die vorher ausgeübte jährlich wechselnde Regierung zu massiven Kommunikationsproblemen und rechtlichen Uneindeutigkeiten unter den Stadtherren, aber auch zwischen den Wettinern und den Grundherren von Planitz geführt hatte. 19 Das gemeinsam geteilte Regiment wurde bis zum Ende der Herrschaftsgemeinschaft 1533 beibehalten. Der Prozess der Entscheidungsfindung konnte auf verschiedenen Wegen und Ebenen ablaufen: Neben Korrespondenzen der Wettiner untereinander spielten vor allem die landesherrlichen Räte eine entscheidende Rolle in der Aushandlung und Vermittlung von Entscheidungen, sowohl unter den stadtherrlichen Parteien als auch zwischen Stadt und Stadtherrschaft. 20 Ländchen‘ in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Yves Hoffmann/ Uwe Richter (Hg.): Herzog Heinrich der Fromme (1473-1541), Beucha 2007, S. 147-181. 16 So blieben nach den wettinischen Teilungen von 1379, 1382, 1407, 1410, 1411, 1436, 1445, 1448 und 1451 die Bergwerksrechte im gemeinsamen Besitz der verschiedenen Linien. Vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 11. 17 „Zcum Andern Sollen Wir beide den Sneeperg Mit dem Neustetil unnd alle gebirge, die an den Sneeperg, dem Newstetil vnd Dorumb in einer Meil wegis gelegen vnd begriffen sein, […] mit aller bestellung, Mit allen nutz und versorgung zu gleich in eintrechtigem Weßen haben und halten, Also das In solchem einer an den andern odir des andern gantze gewalt und macht nichts vor andern nach naues machen soll.“ Zitiert nach Kaden: Leipziger Teilung (wie Anm. 15), S. 153. Vgl. Adolf Laube: Der Weg der Annaberger Bergordnung von 1509 - ein Weg der Bewältigung gesellschaftlicher Interessenkonflikte durch die Landesherrschaft, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz, Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (Hg.): Rechtsbücher und Rechtsordnungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Dresden 1999, S. 161-185, hier S. 170-172. 18 Nach 1485 teilten sich die beiden wettinischen Dynastien zunächst das Stadtregiment, eine Regelung, die im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zugunsten eines jährlich an Bartholomäi (24. August) wechselnden Regiments aufgegeben wurde. Felician Gess: Die Anfänge der Reformation in Schneeberg, in: NASG 18, 1-2 (1897), S. 31-55, hier S. 32. 19 Vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 60. Zu den rechtlichen Schwierigkeiten vgl. das Gesuch Friedrich von Thuraus, die turnusmäßige Übernahme der Regierung zugunsten eines gemeinsamen Regiments abzulösen, und die entsprechende positive Reaktion beider Landesherrn: SächsHStA Dresden, 10024, Loc. 4489/ 3, fol. 58 r -59 r . 20 Zur Entwicklung des Hofrats und der Kanzlei sowie deren Funktion: Uwe Schirmer: Untersuchungen zur Herrschaftspraxis der Kurfürsten und Herzöge von Sachsen. Institutionen und <?page no="97"?> 98 Franziska Neumann Eine besondere Herausforderung dieser fragilen politischen Konstellation stellte die Reformation dar. 21 Auf der einen Seite war Herzog Georg seit der Leipziger Disputation 1519 ein erbitterter Gegner Luthers und versuchte in seinem Territorium reformatorische Umtriebe nach Kräften zu unterdrücken. 22 Auf der anderen Seite musste sich Herzog Georg früh mit dem Wirken reformatorischer Prediger in der Stadt arrangieren. So gab es bereits 1519 neben dem altgläubigen Stadtpfarrer Wolfgang Krauß in der Stadtkirche St. Wolfgang auch einen neugläubigen Prediger in der Stadt. 23 Dem ersten Prediger Nikolaus Hausmann 24 folgte im Herbst 1522 Wolfgang Ackermann, der durch seine provokanten Predigten für erste Spannungen zwischen den Wettinern im Bereich der Religionspolitik sorgte. 25 Ihm folgte im Dezember 1523 jener Prediger, der im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht: Georg Amandus. 26 Funktionseliten, in: Jörg Rogge/ Uwe Schirmer (Hg.): Hochadelige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200-1600). Formen - Legitimation - Repräsentation, Stuttgart 2003, S. 305-378, bes. S. 311-315; Heiner Lück: Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550, Köln/ Weimar/ Wien 1997, zum Hofrat bes. S. 101-105, zur Entwicklung der Kanzlei vgl. ebd., S. 105-110; zudem für die Albertiner Volkmar: Reform (wie Anm. 6), bes. S. 103-111. 21 Wie Rolf Kießling aufzeigt, war eine faktische Bikonfessionalität als Folge einer Herrschaftsgemeinschaft, in der keiner der Beteiligten die Hoheit in religionspolitischen Fragen für sich gewinnen konnte, keinesfalls untypisch. Vgl. Rolf Kiessling: Vom Ausnahmefall zur Alternative. Bikonfessionalität in Oberdeutschland, in: Carl A. Hoffmann u.a. (Hg.): Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005, S. 119-130, hier S. 123f. 22 Vgl. Volkmar: Reform (wie Anm. 6), Zweiter Teil (Die Auseinandersetzung mit der frühen Reformation), bes. Kap. I. (Herzog Georg und Martin Luther: Neues zu einer alten Feindschaft), S. 446-473. 23 Zu Wolfgang Krauß mit weiterführender Literatur vgl. Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2), S. 74, Anm. 24. 24 Zu Hausmann vgl. Franz Lau: Art. Hausmann, Nikolaus, in: NDB 8, S. 126 sowie Reinhold Grünberg (Bearb.): Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539-1939), Bd. 2/ 1, Freiberg 1940, S. 312. 25 So soll er während der Predigt mehrmals den Klerus geschmäht, gelästert und zudem das Volk zu Unruhe angestiftet haben. Vgl. Felician Gess (Hg.): Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 1, 1517-1524, Leipzig 1905 (Nachdruck: Köln/ Weimar/ Wien 1985), Nr. 569, 576, 585 (künftig abgekürzt als: ABKG 1); sowie Gess: Die Anfänge (wie Anm. 18), S. 36f.; zu Ackermann vgl. Grünberg: Sächsisches Pfarrerbuch (wie Anm. 24), S. 1. 26 Zu Amandus vgl. Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2); Ernst Koch: Art. Amandus, Georg (Amantius), in: Hans-Gert Roloff (Hg.): Die Deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon, Reihe II, Die deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620, Abteilung A, Autorenlexikon, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 418f.; sowie Otto Clemen: Georg Amandus, in: Zeitschrift für sächsische Kirchengeschichte 14 (1899), S. 221-224. <?page no="98"?> 99 Reformation als religiöse Devianz? II. Über Amandus’ Lebensweg sind nur wenige gesicherte Aussagen möglich. Wahrscheinlich studierte er 1523 in Wittenberg Theologie und kam dort in Kontakt mit der reformatorischen Lehre. Nachdem er 1525 Schneeberg verlassen hatte, erhielt er 1528 eine Pfarre im fränkischen Hirschberg. 27 Dort blieb Amandus vermutlich bis 1533, um anschließend zunächst im Kloster Heilig Herz in Saalburg/ Saale (bis 1545) 28 sowie als Pfarrer in Möschlitz/ Saale zu predigen. 29 Er war verheiratet mit der Schwester des Zwickauer Bürgers Peter Hack, mit der er einen Sohn namens Paul Amandus hatte. 30 Wenngleich der neue Prediger zu seinem Amtsantritt ermahnt wurde, das „evangelium ohne lesterung und plasphemirung geistlicher und weltlicher oberkeyt“ 31 zu verkünden, begann er bereits im Frühjahr 1524, durch sein Verhalten das Missfallen der städtischen Obrigkeiten zu erregen. 32 So wurde er wegen angeblicher obrigkeitskritischer Reden während der Predigt zum Palmsonntag (20. März 1524) in das Rathaus vorgeladen. Amandus soll in der Predigt gesagt haben: „ir 6 ader 12 hetten nicht eyn gemeyn zu regiren, sonder eyn gemeyn hette eynen rat zu regiren, desgleichen eyn furst nicht eyn land, sonder eyn land hette eyn fursten 27 Hirschberg/ Saale lag in der Grafschaft Reuß, die wiederum sächsisches Lehen war. Während dieser Zeit arbeitete Amandus an dem Gutachten evangelischer Theologen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach-Kulmbach zur Vorbereitung des Augsburger Reichstags von 1530 mit. Vgl. Bernhard Schneider: Gutachten evangelischer Theologen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach/ Kulmbach zur Vorbereitung des Augsburger Reichstags von 1530. Zugleich ein Beitrag zur fränkischen Reformationsgeschichte, Neustadt a.d. Aisch 1987, S. 121. 28 Hirschberg verließ Amandus 1533 laut Schneider, da er sich weigerte, die Kirchenkleinodien inventarisieren zu lassen. Vgl. ebd., S. 121. - Siegfried Bräuer und Manfred Kobuch hingegen geben an, dass Amandus Hirschberg bereits 1530 verlassen habe. Vgl. dies. (Bearb.): Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2: Briefwechsel, Leipzig 2010, S. 226, Anm. 2, Brief 71 und Brief 72. 29 Vgl. Grünberg: Sächsisches Pfarrerbuch (wie Anm. 24), S. 10. 30 Vgl. Koch: Art. Amandus (wie Anm. 26), S. 418. 31 ABKG 1: Nr. 585. 32 Aufgrund des Kondominats hat sich für die Zeit seines Wirkens in Schneeberg eine Doppelüberlieferung erhalten. Neben den Protokollen der Berghandlungen sind zudem die Korrespondenzen der Wettiner die Quellengrundlage für die Rekonstruktion des Konflikts. Die Akten zur Kirchenpolitik der Albertiner sind durch die Edition von Felician Gess verfügbar; die ernestinischen Protokolle liegen im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar und weichen zum Teil inhaltlich von denen der Albertiner ab, hinzu kommt eine Akte, in der der gesamte Konfliktverlauf nachträglich zusammengefasst wurde sowie vereinzelte Berichte, die nicht in die Edition aufgenommen wurden, vgl. ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35; ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35a; ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. T 90, fol. 28-33; 96-99; 119; ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. T 116, fol. 131-175; SächsHStA Dresden, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 4489/ 7; Loc. 4489/ 6; Loc. 4490/ 1; sowie ABKG 1: passim; Felician Gess (Hg.): Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 2, 1525-1527, Leipzig/ Berlin 1917 [ND Köln/ Weimar/ Wien 1985] (künftig abgekürzt als: ABKG 2): passim. <?page no="99"?> 100 Franziska Neumann zu regiren.“ 33 Da diese Worte zu Aufruhr, Zwietracht und Ungehorsam führen könnten, ordnete das Schneeberger Schöppengremium ein Verhör an. Amandus beteuerte, seine Worte seien nur falsch verstanden worden, und er werde sie in der Abendpredigt auf der Kanzel richtigstellen, was jedoch nicht geschah. 34 Vielmehr heftete er seine ‚teutschen Posiciones‘ - sieben Thesen für eine Reform der lateinischen Messe - an die Kirchentür der Stadtkirche St. Wolfgang. 35 Den Wettinern kamen diese Ereignisse im April 1524 auf der regulären Berghandlung Quasimodogenitur (3. April) zu Gehör. Die Berghandlungen waren das zentrale Verfahren in Schneeberg, um kollektiv verbindliche Entscheidungen zwischen den Wettinern zu treffen. Die zunehmende Ausdifferenzierung des landesherrlichen Verwaltungsapparats und das geteilte Bergregal machten es notwendig, einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Dieser sollte zum Einen die Kommunikation zwischen der Bergverwaltung und den Landesherren ermöglichen, zum Anderen aber auch eine Kontrollinstanz darstellen, um Übervorteilungen des einen oder des anderen Regalherrn in Schneeberg zu unterbinden. Zweimal im Jahr trafen sich die ernestinischen und albertinischen Räte in Schneeberg, um vor Ort auf den Berghandlungen über montanwirtschaftliche, aber auch städtische und religionspolitische Belange zu verhandeln. 36 Amandus wurde auf der Berghandlung ermahnt, sich an die Weisungen der Obrigkeit zu halten und sich in seinen Predigten zu zügeln. Diesem ersten Warnschuss zum Trotz mehrten sich Gerüchte über obrigkeitskritische Reden und Predigten gegen die altgläubigen Zeremonien durch den Prediger. Einen ersten Höhepunkt stellte ein Tumult zwischen Anhängern der neuen und der alten Lehre in der Stadtkirche St. Wolfgang zum Fronleichnamsfest (Mai 1524) dar, der unter Ziegelsteinbeschuss mit der Flucht des altgläubigen Stadtpfarrers aus der Kirche endete. 37 33 ABKG 1: Nr. 631. 34 Amandus verteidigte sich damit, dass er seine Worte eigentlich auf das in der Bibel verbriefte Widerstandsrecht gegen tyrannische unchristliche Herrschaft bezogen habe. Einen guten Einstieg in die Problematik des Widerstandsrechts liefert Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht im Europa der Neuzeit. Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in: Ders. (Hg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001, S. 11-60. 35 Zum Inhalt der Thesen und deren Einbettung in die Debatte um die Messproblematik vgl. Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2), S. 74-77. 36 Zu den Berghandlungen allgemein vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 59-64 sowie zur Funktion des Verfahrens als Medium stadtherrlicher Politik auf Basis einer qualitativen und quantitativen Auswertung der Berghandlungsprotokolle Franziska Neumann: Diener zweier Herren? Herrschaftspraxis im Schneeberger Kondominat (1485-1533), unveröffentlichte Masterarbeit, Dresden 2012. 37 Am 26. Mai 1524 predigte Amandus über das Fronleichnamsfest, der Teufel habe dieses Fest erdacht, und „er weste nicht, das die monstranzen eines pfennig nutz were, er wolte sy dan vertrinken, und es muste ein einfeltiger got sein, der sich dahinein sperren ließe“. Drei Tage später wiederholte Amandus während seiner Predigt diese Meinung und provozierte damit den altgläubigen Stadtpfarrer Wolfgang Krauß, vom Altar aus die Messe und das Sakrament zu <?page no="100"?> 101 Reformation als religiöse Devianz? Dieser Tumult gab für die wettinischen Landesherren den Anstoß, sich intensiver mit Amandus zu befassen. 38 Der Zeitraum zwischen März 1524 und September 1524 stellte eine erste Eskalationsstufe innerhalb des Konflikts dar. In dieser Phase kam es jedoch zu keiner einmütigen Entscheidung unter den Wettinern. Entsprechend ihrer Haltung zur Reformation waren die Standpunkte, wie mit dem Prediger umzugehen sei, grundlegend verschieden. Herzog Georg insistierte mehrmals darauf, dass Amandus’ Predigten und sein Auftreten in der Stadt zu Aufruhr und Zwietracht in Schneeberg führten und die städtischen Obrigkeiten ihn um ‚Schutz und Schirm‘ gebeten hätten. 39 Daher sei es seine Pflicht, als christliche Obrigkeit entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und Amandus zumindest aus seinem Amt zu entfernen und aus der Stadt zu verweisen. 40 Kurfürst Friedrich und Herzog Johann hingegen verwiesen darauf, dass Amandus zunächst verhört werden solle, bevor ein Urteil über ihn gefällt werde. Auch seien seine Predigten möglicherweise missverstanden worden; so habe Amandus in Weimar persönlich eine Supplikation vor Herzog Johann d.Ä. gebracht, worin er versicherte, nur falsch verstanden worden zu sein. 41 Letztlich einigte man sich darauf, den Fall an Mauritius 1524 (19. September) auf der Berghandlung zu verhandeln. Obwohl die albertinischen Räte instruiert worden waren, Amandus des Landes zu verweisen, scheiterte die Verhandlung an der fehlenden Instruktion der ernestinischen Räte, die darauf verwiesen, keinen entsprechenden Befehl in dieser Angelegenheit zu haben. 42 Trotz mehrmaliger Vorstöße Herzog Georgs, den Fall erneut zu verhandeln, versandete die Kommunikation, und es kam zu keinen weiteren Maßnahmen. Dies änderte sich erst im Februar 1525, als der Konflikt in eine zweite Eskalationsphase (bis April 1525) mündete. Im Februar erreichte erneut ein schriftliches Hilfegesuch des Schneeberger Schöppengremiums die beiden stadtherrlichen Parteien und lenkte den Fokus der Ernestiner und Albertiner wieder auf die Zustände in Schneeberg. 43 Georg Amandus hatte die mangelnde Aufmerksamkeit der beiden Landesherren genutzt, um seine Kritik an den alten Zeremonien und Gebräuchen auszuweiten. Er zerstörte zwei Kruzifixe und predigte offen gegen die Obrigkeiten, wie seine Gegner klagten. 44 Das städtische Schöppengremium verteidigen. Es entspann sich ein deutsch-lateinisches ‚Kanzelduell‘; Versuche, Amandus am Predigen zu hindern, wurden durch städtische Handwerker unterbunden. Es kam zu einem Auflauf in der Kirche, und der Stadtpfarrer musste nebst Anhängerschaft aus der Kirche flüchten, vgl. ABKG 1: Nr. 678, Anm. 3. 38 Vgl. ebd., Nr. 678. 39 Das Schneeberger Schöppengremium hatte sich nach dem Kanzelduell an Herzog Georg mit der Bitte um Abhilfe im Fall Amandus gewandt. Vgl. ebd., Nr. 679. 40 Vgl. ebd., Nr. 679, Nr. 683, Nr. 708. 41 Vgl. ebd., Nr. 687. Die Supplik ist nicht überliefert. 42 Ebd., Nr. 736. 43 Vgl. ABKG 2: Nr. 816. 44 Die Zerstörung des Kruzifixes gab Amandus im Zuge des Verhörs im April 1525 zu. Vgl. ebd., Nr. 868. <?page no="101"?> 102 Franziska Neumann versuchte wie bereits im März 1524, das Problem auf eigene Faust zu lösen und verweigerte dem Prediger die weitere Besoldung. Daraufhin kam es zu einem bewaffneten Auflauf vor dem Rathaus, und das Stadtregiment musste sich abermals Hilfe suchend an seine Stadtherren wenden. 45 Die Wettiner reagierten ähnlich wie bereits im Juni/ Juli 1524 und traten zunächst in einen Schriftwechsel, um den Ort und die Art der Verhandlung über Amandus zu bestimmen. 46 Innerhalb dieser Korrespondenzen traten die Differenzen der Wettiner von neuem deutlich zutage: Abermals wollte Georg den Prediger aus der Stadt entfernen, und erneut verwies Herzog Johann auf den ernestinischen Vorschlag vom Sommer 1524 und forderte ein Verhör von Amandus auf der Berghandlung Quasimodogenitur 1525 (24. April). 47 Nach einigem Zögern rückte Georg von seinem rigiden religionspolitischen Kurs ab und erklärte sich mit einem Verhör einverstanden, das für den 25. April 1525 einberufen wurde. Als vorläufiges Ergebnis der Verhandlung in Schneeberg wurde Amandus wie bereits im September 1524 ermahnt; es folgten jedoch keine Sanktionen. Die Entscheidung der Räte sollte aber nur vorläufig gelten, bis sich die Stadtherren über das weitere Vorgehen gegen ihn geeinigt hätten. 48 Statt eine endgültige Entscheidung im Falle Amandus zu treffen, versandete der Konflikt auch diesmal, ohne dass sich die Wettiner über einen Umgang mit Amandus verständigen konnten. Somit lässt sich eine gewisse Gleichförmigkeit innerhalb des Konfliktverlaufs feststellen, der in beiden Eskalationsphasen durch das Fehlen einer eindeutigen und bindenden Entscheidung gekennzeichnet war. Erst ein drittes Hilfegesuch der Richter und Schöppen sowie ein Schreiben hoher Bergbeamter am 30. Juni bzw. 1. Juli 1525 brachte eine Wende in dem Konflikt. 49 Wie gewohnt waren sich die beiden Wettiner nicht einig über das Vorgehen. Der inzwischen nach dem Tod von Friedrich zum Kurfürsten erhobene Johann argumentierte, dass ein entschiedenes Vorgehen gegen Amandus die Gefahr eines innerstädtischen Aufruhrs in Schneeberg mit massiven Konsequenzen für die Region nach sich ziehen könnte. So schrieb Johann am 7. Juli 1525 an Georg, dass ein Aufstand in Schneeberg sich auch auf „s[ant] Annaperg und andern pergwergen […] ereignen […], welchs E[uer] F[ürstlich] G[naden] wol zu bewegen hetten.“ 50 Erst nachdem der altgläubige Pfarrer Krauß aus Angst vor der 45 Das städtische Regiment sicherte Amandus zunächst zu, ihn weiter zu besolden, und wandte sich zeitgleich Hilfe suchend an seine Stadtherren, vgl. ebd., Nr. 816. 46 Vgl. ebd., Nr. 817; Nr. 824. 47 Vgl. ebd., Nr. 838; Nr. 845. 48 Vgl. ebd., Nr. 868. 49 Vgl. ebd., Nr. 1071; Nr. 1072. - „[W]eil aber desmals E. F. G. andere mergliche geschefte und sachen des aufruhr und anders halben zu handen gestoßen, haben wir [gemeint sind Richter und Schöppen; F.N.] uns des ansuchens bysher enthalten […]. Domit aber nochmals ergers nicht folge, das ane zweifel aus sunderlichen gottes gnaden bisher vorplieben“, bitten Richter und Schöppen um eine erneute Verhandlung des Falles durch die landesherrlichen Räte, vgl. ebd., Nr. 1071. 50 Ebd., Nr. 1076. <?page no="102"?> 103 Reformation als religiöse Devianz? Plünderung seiner Pfarre aus Schneeberg geflohen war und das Schöppengremium abermals um Beistand bei seinen Stadtherren gebeten hatte, entfernte Johann den Geistlichen im August 1525 ohne weitere Absprachen mit Herzog Georg. 51 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Stadtregiment nicht in der Lage war, den Konflikt stadtintern zu regulieren. Vielmehr musste das Schöppengremium immer wieder zwischen den Interessen der Amandus-Anhänger und seinen Stadtherren lavieren. Diese schwache Position der städtischen Obrigkeit resultierte nicht zuletzt aus der geringen politischen Autonomie des Stadtregiments. 52 Dementsprechend war der Umgang mit Amandus weniger durch die stadtinternen Kräfte geprägt als vielmehr durch die Stadtherren und ihre religionspolitischen Interessen. Die Bewertung und damit auch Reaktion auf Amandus war das Ergebnis eines langwierigen Aushandlungsprozesses zwischen den Ernestinern und den Albertinern. Dies verwundert wenig, erforderte doch jede Veränderung des politischen Status quo in der Herrschaftsgemeinschaft eine entsprechende Legitimation. Das galt auch und womöglich sogar im besonderen Maße für den Bereich der Religionspolitik. Wie aufgezeigt wurde, war es Herzog Georg, der versuchte, aktiv gegen den Prediger in Schneeberg vorzugehen, und der immer wieder an der zögernden bis verschleppenden Haltung der Ernestiner scheiterte. Dass das Verhalten des Predigers nicht der Wittenberger Linie folgte, zeichnete sich spätestens ab April 1524 für alle Beteiligten ab. Dennoch ging es in dem Fall immer wieder auch um Deutungshoheit in religionspolitischen Angelegenheiten; um die Positionierung zur und den Umgang mit der Reformation. Auseinandersetzungen wie jene um Amandus konnten innerhalb des Kondominats schnell zur Machtfrage zwischen den beiden sächsischen Herrschaftshäusern werden. Die Frage nach der religiösen Abweichung dieses Predigers barg somit das Konfliktpotenzial, die grundlegende Frage nach dem Umgang mit der Reformation als solcher aufzuwerfen. Entsprechend ihrer allgemeinen Position zur Causa Lutheri handelten die Stadtherren auch auf lokaler Ebene. War Herzog Georg ein entschiedener Gegner der Reformation und wollte demgemäß gegen den Prediger vorgehen, verhielten sich Herzog Johann d.Ä. und vor allem Kurfürst Friedrich eher abwartend und forderten immer wieder ein Verhör, wenngleich dieses im April 1525 zu keiner Entscheidung führte. Im lokalen Kontext befanden sich die Wettiner in der gleichen Pattsituation, die auf Reichsebene, aber auch in den innerwettinischen Aus- 51 Vgl. ebd., Nr. 1106; Nr. 1107. 52 Die gering ausgeprägte politische Autonomie des Stadtregiments war symptomatisch für die sächsischen Bergstädte des ‚zweiten Berggeschreys‘. Ihre Interessen konnten die Wettiner über ihr Vetorecht in der Wahl des Schöppengremiums realisieren. Missliebige Personen, die eine größere politische Autonomie des Stadtregiments anstrebten oder Entscheidungen gegen den Willen der Wettiner durchzusetzen versuchten, wurden schlicht nicht als Richter oder Schöppen bestätigt. <?page no="103"?> 104 Franziska Neumann einandersetzungen auf Territorialebene in den 1520er Jahren den Umgang der Ernestiner und des Albertiners mit Martin Luther und der Reformation prägte. 53 Verkompliziert wurde die Situation in Schneeberg durch das Verhalten des Predigers selbst, der durch seine aufrührerischen Predigten, die Zerstörung von zwei Kruzifixen und seine anmaßenden und spöttischen Worte auch innerhalb der reformatorischen Bewegung eine eher abweichende Position einnahm. Hier nun ergab sich für die Ernestiner das Problem, dass ein entschiedenes Vorgehen gegen Amandus auch als Zurückweichen in der Reformationsfrage hätte wahrgenommen werden können. Nicht zuletzt aus diesem Punkt erklärt sich das unentschiedene Vorgehen der Ernestiner im Bezug auf Amandus. Die Verhandlung über den Fall stellte somit die fragile Machtbalance innerhalb der Herrschaftsgemeinschaft empfindlich infrage. Wie lassen sich die Handlungen und Predigtinhalte von Amandus bewerten, oder anders gefragt: Wie radikal war Georg Amandus? Das theologische Profil von Amandus herauszuarbeiten ist schwierig. Dies liegt zum Ersten an der dürftigen Quellenlage; bis auf eine Flugschrift sind für den hier interessierenden Zeitraum keine eigenen Schriften von ihm überliefert. 54 Erschwerend kommt zum Zweiten hinzu, dass das Wissen über seine Predigtinhalte entweder von seinen Gegnern oder aus Verhörsituationen stammt. Dementsprechend schreibt auch Siegfried Bräuer, dass eine eindeutige Bestimmung von Amandus’ religiöser Überzeugung kaum möglich ist, wenngleich er aufgrund der Untersuchung seiner Flugschrift vom christlichen Ritter aus dem Jahr 1524 starke Einflüsse Thomas Müntzers und einiger spätmittelalterlichen Spiritualisten vermutet. 55 Es lassen sich jedoch weder direkte Kontakte zu Müntzer noch auch zu Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, nachweisen. Fest steht hingegen, dass die Vorwürfe gegen Amandus im Kern genau jene Assoziations- und Konnotationsfelder berührten, welche die innerlutherische Auseinandersetzung mit den sogenannten ‚Schwärmern‘ und eben auch mit Karlstadt prägten: 56 So wurde ihm das Predigen und Handeln gegen Bilder und Sakramente, der Aufruhr gegen die Obrigkeit und obrigkeitliche Amtsträger und nicht zuletzt die Kritik am altgläubigen Kultus und der kirchlichen Verfassungspraxis vorgeworfen. Und so ist Susan Karant-Nunns Annahme auf den ersten 53 Zur Religionspolitik der Reichsfürsten vgl. Eike Wolgast: Die deutschen Territorialfürsten und die frühe Reformation, in: Bernd Moeller/ Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Heidelberg 1998, S. 407-435. 54 Georg Amandus: Wye eyn geistlicher, christlicher Ritter und Gottes Heldt in diser Welt streytten sall, Zwickau 1524. Die Schrift wird im OPAC der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden irrtümlich Johann Amandus zugeschrieben, obwohl das Titelblatt eindeutig „Georgius Amandus Ecclesiastes auffm Schneberge“ als Urheber namhaft macht. Auf die Verwechslung von Georg Amandus mit Johann Amandus hat bereits Siegfried Bräuer verwiesen. Vgl. ders.: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2), S. 68. 55 Ebd., S. 86-96. 56 Vgl. Kaufmann: Nahe Fremde (wie Anm. 4), S. 183. <?page no="104"?> 105 Reformation als religiöse Devianz? Blick nachvollziehbar, der Prediger sei „an outspoken and irrepressible Karlstadtian […]. Amandus was antigovernment, iconoclastic, and mystical.“ 57 Oder, an anderer Stelle, er sei „one of the most persistent and troublesome of Carlstadt’s adherents“. 58 Diese Deutung trifft sich mit der eingangs zitierten Passage in Christian Meltzers Stadtchronik, in der Amandus ebenfalls als Schüler Karlstadts beschrieben wurde. 59 Dennoch soll noch einmal hinterfragt werden, welche Informationen wir aus welchen Kontexten über den Prediger haben. Aus den 20 Artikeln, an denen sich das Verhör im April 1525 orientierte, stechen zwei Punkte besonders hervor, an denen sich letztlich auch die Problematik der Interpretation von Amandus’ theologischem Profil deutlich aufzeigen lässt: 60 zum Einen der Vorwurf der Zerstörung von zwei Kruzifixen, zum Anderen obrigkeitskritische Predigtinhalte. Zunächst soll der Ikonoklasmusvorwurf im Mittelpunkt stehen. 61 Aus seinen mündlichen und vor allem schriftlichen Aussagen im Verhör im April 1525 zeigt sich eine starke Zeichen- und Ritualkritik, die über das Zeichenverständnis von Luther hinausging. So antwortete er spontan auf die Frage, ob er zwei Kreuze zerstört habe: „Das hab ich gerne getan und habe es aus befelh eins Christen getan.“ 62 Nach dem Verhör bezog er nochmals schriftlich und ausführlich zu den 57 Susan C. Karant-Nunn: From Adventurers to Drones: The Saxon Silver Miners as an Early Proletariat, in Thomas Max Safley/ Leonard N. Rosenband (Hg.): The Workplace Before the Factory: Artisans and Proletarians, 1500-1800, Ithaca u.a. 1993, S. 72-100, hier S. 89. 58 Karant-Nunn: What Was Preached (wie Anm. 2), S. 87. 59 Diese Deutung zeigt sich auch in dem Bemühen Siegfried Bräuers, eine Verbindung zwischen Thomas Müntzer und Amandus zu konstruieren. Bräuer vermutet aufgrund zweier Briefe zwischen Müntzer und einem gewissen ‚Jeori‘ vom März 1524, dass dieser ‚Jeori‘ Georg Amandus sei und sich die beiden vor März 1524 in Allstedt getroffen haben. Er kann dafür jedoch keinen Beleg liefern. Die Briefe sind ediert in Thomas-Müntzer-Ausgabe (wie Anm. 28), S. 224-234, Anm. 2, Brief 71 und Brief 72. Nach Bräuer lassen sich für Amandus’ Wirken in Schneeberg sowohl in seinen Predigten als auch in seinen Handlungen zumindest „Ansätze von Radikalität“ herausarbeiten, vgl. Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2), S. 98. 60 Zu dem Verhör wurde Amandus vorgeladen und sollte zunächst spontan Stellung zu den 20 Artikeln beziehen, die das Schöppengremium gegen ihn verfasst hatte. Im Anschluss bat Amandus, sich nochmals ausführlicher und schriftlich zu den Artikeln äußern zu dürfen. Die Artikel sowie die schriftlichen als auch die mündlichen Antworten von Amandus sind ediert in ABKG 2: Nr. 868, Anm. 1. 61 Die Verspottung, Verhöhnung oder Zerstörung von Kruzifixen kam in der Frühzeit der Reformation häufig vor. Scribner vermutet, dass die Aktionen in Verbindung mit dem Glauben an die Realpräsenz stehen. Vgl. Robert W. Scribner: Volkskultur und Volksreligion - zur Rezeption evangelischer Ideen, in: Peter Blickle/ Andreas Lindt (Hg.): Zwingli und Europa. Referate und Protokoll des Internationalen Kongresses aus Anlass des 500. Geburtstages von Huldrych Zwingli vom 26.-30. März 1984, Zürich 1985, S. 151-161, hier S. 152; eine umfangreiche Auflistung von Beispielen für Kruzifixzerstörungen und -verspottungen findet sich bei Sergiusz Michalski: Das Phänomen Bildersturm. Versuch einer Übersicht, in: Robert W. Scribner (Hg.): Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990, S. 69-124, hier S. 95f. 62 ABKG 2: Nr. 868, Anm. 1. <?page no="105"?> 106 Franziska Neumann Vorwürfen Stellung. Er sei von einem Mann gebeten worden, das Kruzifix zu entfernen, denn dieser brauche „keins bildes nach eußern erinnernus“. 63 In der Folge relativierte er, „Bilder haben, ader nit haben, macht keynen Christen, item bilder zerbrechen, ader aufrichten auch nit. Sunder gottes gnade und der reyne lautere vordienst Jhesu Christi.“ 64 Lässt sich die Zerstörung der Kruzifixe und die spontane mündliche Äußerung als Annäherung an Karlstadt verstehen, der in Abgrenzung zu Luther alle bildlichen Darstellungen und somit auch Kruzifixe ablehnte, 65 so klingt in der schriftlichen Rechtfertigung hingegen Luthers gemäßigte Position an. Bilder sind nach Luther weder nützlich noch schädlich (Adiaphora); wenn Bilder entfernt würden, dann müsse dies im Auftrag der Obrigkeit geschehen. 66 Wie sind Amandus Aussagen zu bewerten? Handelt es sich bei Amandus tatsächlich um einen Karlstadtschüler, wie der Schneeberger Stadtchronist Christian Meltzer oder auch Susan Karant-Nunn mutmaßen? In dieser Deutung wären die ikonoklastischen Handlungen Folgen eines mehr oder minder expliziten theologischen Konzepts. Bedingt durch die Verhörsituation würde der Prediger jedoch opportunistisch seine wirklichen Überzeugungen verheimlichen. Der Unterschied zwischen der spontanen mündlichen und der späteren schriftlichen Stellungsnahme würde hierfür ebenso sprechen wie die Tatsache, dass er zwei Kruzifixe zerstört hatte. Für eine enge Bindung an Karlstadt spricht auch die Meldung des Schneeberger Stadtregiments vom Februar 1525, in der Richter und Schöppen gegenüber ihren Stadtherren behaupten, dass Amandus „doctori Carolstadt zugetan gewest“. 67 Bereits Siegfried Bräuer hat jedoch darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Aussage auch um ein Belastungsargument gehandelt haben könnte. 68 Die mögliche Nähe zu Karlstadt wurde zumindest innerhalb des Konfliktverlaufs nicht weiter aufgegriffen. Man kann die Kluft zwischen Handlung und mündlicher sowie schriftlicher Antwort jedoch auch weniger opportunistisch deuten und davon ausgehen, dass es sich bei Amandus um einen jener frühen reformatorischen Prediger handelte, die sich auf sehr eigene Art und Weise die reformatorischen Gedanken aneigneten. Robert Scribner betont, dass es sich bei bilderstürmerischen Aktionen um „rituelle Prozesse“ gehandelt habe, also um performative Akte, die sich zumeist 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Vgl. Thomas Lentes: Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: Reinhard Hoeps u.a. (Hg.): Bildbestreitung, Paderborn 2007, S. 213-240, hier S. 227f. 66 So sagt Luther in seinen Invocavitpredigten 1522: „Alhie müssen wir bekennen, das manns bilder haben und machen mag, aber anbetten sol wir sie nit, und wenn man sie anbettet, so solt man sie zerryssen und abthuon.“ vgl. WA, Bd. X/ 3, S. 28. 67 ABKG 2: Nr. 816. 68 Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2), S. 95. <?page no="106"?> 107 Reformation als religiöse Devianz? im vertrauten Rahmen von Ritualen und Symbolen bewegten. 69 Ikonoklastische Aktionen mussten dabei nicht zwangsläufig Ausdruck eines tiefer gehenden Verständnisses der theologischen Debatten um die Bedeutung der Zeichen sein, sondern konnten der Einübung der neuen und ungewohnten Gedanken in performativer Form dienen. Durch das Zerstören konnten die alten Rituale und Zeichen herausgefordert, der Bruch mit dem alten Glauben vollzogen und neue Glaubenspraktiken eingeübt werden. Somit waren bilderstürmerische Aktionen nicht zuletzt eine Möglichkeit, neue Ideen zu erlernen und einzuüben, indem „man verschiedene Aspekte des hergebrachten Kultus auf die Probe stellte“. 70 Überträgt man diese Überlegung auf Amandus, so kann man sein Verhalten als Ausdruck des ‚Wildwuchses der Reformation‘ deuten. Mit diesem umstrittenen Begriff versuchte Franz Lau die Heterogenität der frühen Reformation bis 1525 zu fassen und die Differenzen in den reformatorischen Predigtinhalten zu verdeutlichen. 71 Vielfältigkeit und Ungenormtheit der reformatorischen Predigtinhalte führten zu sehr unterschiedlichen Ausdeutungen der reformatorischen Lehre; von zaghaften Versuchen, den eigenen Predigten einen reformatorischen Anstrich zu verpassen, bis hin zur Verweigerung der Kindstaufe. Entsprechend schwierig gestaltet sich auch eine klare Abgrenzung zwischen ‚Mainstream Reformation‘ und ‚Schwärmertum‘. 72 Interpretiert man die Zerstörung der Kruzifixe aus dieser Perspektive, wich Amandus in seinen Handlungen zwar von den Grundaussagen Luthers ab; dies kann jedoch auch Ausdruck des Willens zur Reformation und der Einübung neuer Verhaltensweisen durch einen Bruch mit alten Ritualen und Zeichen sein. Nicht zuletzt spricht für die Deutung einer eigensinnigen Affizierung durch die reformatorische Lehre, dass Amandus in einer religiös sehr vielschichtigen und aufgeheizten Region wirkte und vermutlich mit vielen unterschiedlichen Deutungsangeboten in Berührung kam. Von der Pluralität und Heterogenität der Auslegung der reformatorischen Lehre in der Gebirgsregion zeugen nicht zuletzt Akteure wie Thomas Müntzer, Wolfgang Ackermann, Friedrich Mykonius oder 69 Scribner: Volkskultur und Volksreligion (wie Anm. 61), S. 160. 70 Ebd. 71 Vgl. Franz Lau: Reformationsgeschichte bis 1532, in: Ders./ Ernst Bizer (Hg.): Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555, Göttingen 2 1969, S. K1-K65, hier S. K32-K33. Gegen diesen Begriff argumentiert Bernd Moeller. Nach Moeller hätten die meisten reformatorischen Prediger in den Städten, bis zum Bauernkrieg 1525 in großer Übereinstimmung zu den Grundaussagen Luthers, eine relativ einheitliche Doktrin und Lehre gepredigt. Daher spricht er stattdessen von einer ‚lutherischen Engführung‘, um die frühe Reformationszeit zu erfassen, vgl. Bernd Moeller: Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt? , in: Ders.: Luther-Rezeption: Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1984, S.- 91-107, bes. S. 107. Am Beispiel Amandus kritisch zu Moeller Karant-Nunn; vgl. dies.: What Was Preached (wie Anm. 2), S. 94-96. 72 Lau: Reformationsgeschichte (wie Anm. 71), S. 33. <?page no="107"?> 108 Franziska Neumann die Zwickauer Propheten. 73 Aus dieser Perspektive muss hinterfragt werden, ob es sich bei Amandus tatsächlich eindeutig um einen „outspoken and irrepressible Karlstadtian“ handelte. 74 Dieses Grundproblem lässt sich auch am Beispiel des Vorwurfs der obrigkeitskritischen Predigten verdeutlichen. Wenn Karant-Nunn schreibt, „Amandus was antigovernment“, so bezieht sie sich auf den Vorwurf, dass Amandus am 20. März 1524 gepredigt habe: „ir 6 ader 12 hetten nicht eyn gemeyn zu regiren, sonder eyn gemeyn hette eynen rat zu regiren, desgleichen eyn furst nicht eyn land, sonder eyn land hette eyn fursten zu regiren.“ 75 Als er direkt nach dem Vorfall vom Stadtrichter zu der Äußerung befragt wurde, antwortete Amandus, er habe sich konkret auf die Messproblematik bezogen und sei nur falsch verstanden worden: „Das man die meß teutsch mocht singen, vnd got In teutsch sprach loben, Es were ire acht ad[er] 12 die es wolten wehrn vnd das lob gottis hinden, den dorfft man nicht volgen, Dann ein gemein hett einen Radt Zu Regirn vnd nicht ein Radt dy gemeyn, vnd man lestere got mit Lateinisch mess halden, die man Ir funf ader sechs halten muse.“ 76 Bei der erneuten Befragung zu dieser Aussage im April 1525 gab er in seiner schriftlichen Stellungnahme an: „Obrigkeit ist von Gotte geboten […], derhalbe were es unchristlich, so ich wider den h. gayst oberkeyt verneynte, auch mit aserley weyse ich das tete, alleyn das sich den abgrund unsers herzen zu regiren nymand vormesse.“ 77 Auch hier stellt sich die Frage, ob Amandus tatsächlich missverstanden wurde oder ob er sich opportunistisch den Bedingungen des Verhörs anpasste und zwischen seinen Interessen und den Vorwürfen der Obrigkeiten geschickt lavierte. Es ist bei aller Skepsis sicherlich nicht plausibel, in Amandus ein unschuldiges ‚Opfer‘ eines Labeling-Prozesses zu sehen, dennoch sind die Uneindeutigkeit der Aussagen von Amandus ein Anreiz, kritisch zu hinterfragen, welche Informationen aus welchen Kontexten wir über den Prediger besitzen. Ihn eindeutig als radikalen Reformatoren und Anhänger Karlstadts zu beschreiben, lässt die Quellenlage schlicht nicht zu. Vielmehr scheint gerade die Ambiguität der Deutungsmöglichkeiten im Fall Amandus entscheidend zu sein. Gerade in dieser Mehrdeutigkeit bietet sich der Perspektivwechsel durch den ‚Labeling Approach‘ an. Statt weiter nach eindeutigen Kategorien für Amandus theologische Position 73 Karant-Nunn: From Adventurers to Drones (wie Anm. 57), S. 88-92; dies.: Zwickau in Transition, 1500-1547. The Reformation as an Agent of Change, Columbus 1987, bes. S. 92-113; Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), bes. S. 214-260; Bräuer: Der hinkende Prediger (wie Anm. 2). 74 Karant-Nunn: From Adventurers to Drones (wie Anm. 57), S. 89 75 ABKG 1: Nr. 631. 76 Bericht des Stadtrichters an die Ernestiner, ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35a, ohne Paginierung. 77 Vgl. ABKG 2: Nr. 868, Anm. 1. <?page no="108"?> 109 Reformation als religiöse Devianz? zu suchen, sollen die zeitgenössischen Zuschreibungs- und Etikettierungsprozesse über Amandus im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, und damit die Frage, wie dieser reformatorische Prediger vor allem durch die Stadtherren wahrgenommen wurde. III. Wie sich bereits in der Beschreibung des Konfliktverlaufs angedeutet hat, stand der Fall Georg Amandus nicht permanent auf der politischen Agenda der Wettiner. Vielmehr reagierten sie jeweils auf die Hilfegesuche der Stadtobrigkeiten im März 1524 sowie im Februar und Juni/ Juli 1525. Bevor die Ernestiner und die Albertiner untereinander in Austausch traten, forderten sie zunächst ausführliche Berichte über die Lage in Schneeberg durch ihre landesherrlichen Bergbeamten, die vor Ort in Schneeberg agierten, sowie durch das Stadtregiment an. Sowohl die Hilfegesuche als auch die Berichte zu den einzelnen Vorfällen schilderten detailliert die einzelnen Predigtinhalte, benannten aber auch Amandus’ Anhänger oder beschrieben sein Verhalten jenseits der Kanzel. So betont das Stadtregiment in seinem Hilfegesuch an die Stadtherren vom 23. Februar 1525, es sei „aus seinen [Georg Amandus, F.N.] predigen und unordentlichen leben, nachdem er vilfeltig in schenkheusern auch bey nechtiger zeit befunden, wenig anders, dann ungehorsam, widerspennigkeit, entporung und mutwilligkeyt zu befinden.“ 78 Das Schöppengremium versuchte, durch die diffamierende Beschreibung von Amandus’ nächtlichen Wirtshausbesuchen Handlungsdruck zu erzeugen. Der Alkoholkonsum selbst war im 16. Jahrhundert mitnichten eine Abweichung von der sozialen Norm. 79 Die Abweichung bestand darin, dass der Prediger, über das normale Maß hinaus, häufig und zu später Stunde das Wirtshaus besuchte. Diese Beschreibung des abweichenden Verhaltens Amandus’ hatte in den Augen der Stadtobrigkeiten durchaus eine gewisse Durchschlagskraft, um die Wettiner zur Intervention in Schneeberg zu motivieren. Das Stadtregiment beließ es jedoch nicht dabei, Amandus zu diffamieren, mehr noch koppelten sie diese Zuschreibung an sein aufrührerisches Potenzial. Neben einer Strategie der Diffamierung finden sich in der Rhetorik des Schöppengremiums Tendenzen der Kriminalisierung des reformatorischen Predigers. Amandus, so die immer wiederkehrende Polemik der städtischen Honoratioren, stifte das gemeine Volk zu Aufruhr und Empörung an und halte sich mit seinen ‚stachligen‘ und ‚stürmischen‘ Worten nicht zurück. Dies gehe sogar so weit, dass das städtische Regiment selbst in Gefahr sei. So könnten Richter und Schöppen ohne die fürstliche Intervention das gemeine Volk gar nicht mehr steuern „noch yemandes schucz und 78 ABKG 1: Nr. 816. 79 Zur vormodernen Trinkkultur vgl. exemplarisch B. Ann Tlusty: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg, Augsburg 2005. <?page no="109"?> 110 Franziska Neumann schirm […] halten“. 80 Amandus sei somit nicht nur ein einzelner Abweichler, sondern sein Verhalten bedrohe den zentralen Leitwert der Stadt, den städtischen Frieden. Detaillierte Berichte dieser Art waren die Grundlage, auf der die beiden Stadtherren ihre Positionierung zu Amandus bestimmten. In den Verhandlungen der Wettiner untereinander wurden jedoch keine differenzierten Positionen zu Amandus’ Predigtinhalten oder Handlungen bezogen. Vielmehr reduzierten die beiden Herrschaftsparteien die Komplexität des Falls, in dem sie die Angelegenheit innerhalb tradierter Topoi verhandelten. Die Hintergrundfolie für die Auseinandersetzungen der Ernestiner und Albertiner um den richtigen Umgang mit Amandus stellte während des gesamten Konfliktverlaufs der Bezug auf die Grundlagen fürstlicher Herrschaft dar. Die fragile Machtbalance innerhalb des Kondominats fußte prinzipiell auf den gleichen Grundwerten obrigkeitlichen Handelns wie in monokratischen Herrschaften auch. 81 Werte wie Frieden, Ordnung und Recht mussten gegen zerstörerische Kräfte verteidigt werden. Die Obrigkeit, und das galt im gleichen Maße für territoriale wie städtische Herrschaften, hatte diesen Werten Geltung zu verschaffen. 82 Gerade im Konfliktfall wurden in der politischen Sprache der Vormoderne zerstörerische ‚Antiwerte‘ (Berndt Hamm), wie Zwietracht, Unordnung, Aufruhr und Empörung, Grundwerten, wie dem Erhalt der christlichen Ordnung, der Schutzfunktion des Fürsten gegenüber dem gemeinen Mann und nicht zuletzt der Wahrung des städtischen Friedens, gegenübergestellt und somit Handlungsdruck und Legitimation erzeugt. Das zähe Ringen um Konsens im Fall Georg Amandus wurde vor dem Hintergrund dieses Wechselspiels gemeinsam geteilter Grund- und Antiwerte ausgetragen: Amandus, so die immer wiederkehrende Rhetorik, stifte durch seine aufrührerischen Predigten den gemeinen Mann zu Unruhe, Aufruhr, Zwiespältigkeit und Ungehorsam an. Daher müsse die christliche Obrigkeit ihrer Schutzfunktion gegenüber ihren Untertanen und ihrer Verantwortung gegenüber Gott nachkommen und gegen den Prediger vorgehen. 83 80 ABKG 1: Nr. 676. 81 Gegen die Bewertung der Herrschaftsgemeinschaft als Anomalie und für die Vergleichbarkeit zwischen Kondominaten und Monokratien plädiert auch Alexander Jendorff: Kondominatorische Herrschaftsbeziehungen im Konfessionellen Zeitalter: die Ganerbschaft Treffurt 1555-1630, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 107 (2002), S. 163-180, hier S. 179. 82 Ebd., S. 17. 83 Der Vorwurf der Seditio ist typisch für die Kommunikation über missliebige reformatorische Prädikanten, vgl. u.a. am Beispiel des Soester Prädikanten Johann Wulff van Kampen bei Winfried Ehbrecht: Reformation, Sedition und Kommunikation. Beiträge und Fragen zum Soester Prädikanten Johann Wulff van Kampen, in: Gerhard Köhn (Hg.): Soest. Stadt - Territorium - Reich. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest mit Beiträgen zur Stadt, Landes- und Hansegeschichte, Soest 1981, S. 243-325, hier S. 244. Die Instrumentalisierung des seditio-Vorwurfs für innerstädtische Konfessionspolitik zeigt auch Eric Piltz am Beispiel von Antwerpen in diesem Band. <?page no="110"?> 111 Reformation als religiöse Devianz? Der Rekurs auf die gemeinsam geteilten Grundwerte stellte für die Ernestiner und die Albertiner eine Möglichkeit dar, auch in religionspolitischen Fragen während der Reformationszeit eine gemeinsame Verhandlungsbasis herzustellen. So herrschte bei beiden Parteien immer Einigkeit darüber, dass Aufruhr verhütet werden sollte und dass etwas gegen Georg Amandus unternommen werden müsse. Nur wie und mit welchen Konsequenzen man gegen ihn vorgehen sollte, blieb durchaus umstritten. Ergab sich für Herzog Georg die Notwendigkeit der sofortigen Intervention und Sanktionierung des Predigers, wollten die Ernestiner hingegen Amandus zunächst verhören und nicht sofort eine Entscheidung treffen. Wie Hans-Christoph Rublack am Beispiel der Reichsstädte aufzeigen konnte, führte der Rekurs auf geteilte Grundwerte eben nicht zwangsläufig zu einem politischen Konsens. Vielmehr konnten die geltenden Werte in politischer Absicht durchaus flexibel gehandhabt werden: eine Flexibilität, die in gleichem Maße aus den politischen Machtkonstellationen wie auch aus den äußeren Umständen und der Einsicht in Notwendigkeiten resultieren konnte. 84 Dies galt auch und vielleicht sogar im besonderen Maße in der Schneeberger Herrschaftsgemeinschaft. In der spezifischen Situation des Kondominats proklamierten zwei gleichberechtigte Herrschaftsparteien ihren Anspruch auf Deutungshoheit über den Konflikt, ein Anspruch, der nicht zuletzt auch eng mit aktuellen Ereignissen und den politischen Verhältnissen des Kondominats verbunden war. Der alleinige und allgemeine Bezug auf die Interventionspflicht des Herrschers, war also nicht ausreichend, um in dieser Herrschaftskonstellation Konsens zu stiften. Im Laufe des Konflikts versuchte Herzog Georg demgemäß, seine Argumentation auszuweiten und die Situation in Schneeberg zuzuspitzen. Eine seiner Strategien war die Verlagerung des Konflikts auf die Reichsebene unter Verweis auf reichsrechtliche Normen. 85 So beharrten Georgs entsprechend instruierte Räte auf der Berghandlung Quasimodogenitur 1524 (3. April) auf der Durchsetzung des Befehls des kaiserlichen Regiments aus Nürnberg, „das dye Ihenigen welche solche ader dergleichen entporung Ader Widerwillen vorvrsachen ader anfingen das denselben soltenn gestrafft werden.“ 86 84 Hans-Christoph Rublack: Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Horst Brunner (Hg.): Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, Göppingen 1982, S. 9-36, hier S. 22. 85 Zu Georgs Positionierung zur Reformation auf Reichsebene vgl. Volkmar: Reform (wie Anm. 6), Erster Teil, Kap V (Kaiser und Reich), S. 169-179 sowie Zweiter Teil (Die Auseinandersetzung mit der frühen Reformation), Kap. III. (Kirchenpolitik gegen die Reformation auf der Reichsebene (1522-1525), S. 487-499. Diese Entlastung von Spannungen in der Herrschaftsgemeinschaft durch die Verlagerung von Konflikten auf die Reichsebene findet sich auch in anderen Herrschaftsgemeinschaften. Jendorff: Kondominatorische Herrschaftsbeziehungen (wie Anm. 81), S. 168. 86 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. T 90, fol. 31 v . <?page no="111"?> 112 Franziska Neumann Aus der Quelle geht nicht eindeutig hervor, welchen Befehl des kaiserlichen Regiments die Albertiner hier meinen. 87 Es ist jedoch plausibel anzunehmen, dass sie sich auf das zweite Reichsregiment beziehen, welches während der Abwesenheit von Karl V. unter seinem Bruder Ferdinand in Nürnberg tätig war. 88 Georg hatte seit 1522 einen Sitz im Reichsregiment und versuchte auch dort eine konsequent reformationsfeindliche Religionspolitik durchzusetzen. 89 Dieses Regiment exekutierte am 6. März 1523 ein auf dem zweiten Nürnberger Reichstag (18. November 1522 - 9. Februar 1523) erlassenes Reichsmandat. 90 Da Georg ausdrücklich auf das Regiment in Nürnberg und die rechtlichen Bestimmungen gegen Unruhe stiftende Prediger rekurrierte, ist es plausibel anzunehmen, dass er sich eben auf dieses Reichsmandat vom 6. März 1523 bezog, welches die Beschlüsse des Reichstages in Religionsfragen als kaiserliches Edikt zusammenfasste. Jeder Kurfürst und Fürst sollte laut diesem Mandat „nichts anders, dann das heilig evangelium nach auslegung der schriften von den christlichen kirchen approbiert und angenomen gepredigt“, zulassen. 91 Die Obrigkeiten sollten zudem die Prediger anhalten, „in iren predigen zu vermeiden, was zu bewegung ungehorsam, uneinigkeit und aufrur zu füren ursach geben mügen.“ 92 Im Falle der Missachtung durch den Klerus könnten sie gegebenenfalls auch mit harten Sanktionen reagieren. 93 Das Mandat ermöglichte somit ein rechtliches Vorgehen gegen aufrührerische reformatorische Prediger. Wenngleich durch diese Regelung in der Reformationsangelegenheit eher ein Status quo bis zur anvisierten endgültigen Klärung der Lutherfrage hergestellt werden sollte, was auch von Luther und Friedrich begrüßt 87 Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieser Verweis auf den dritten Nürnberger Reichstag vom 14. Januar bis 18. April 1524 bezog, da die Berghandlung bereits am 3. April begann. 88 Zu dem zweiten Reichsregiment vgl. Christine Roll: Das zweite Reichsregiment 1521- 1530, Köln 1996. 89 Manfred Schulze: Zwischen Furcht und Hoffnung. Berichte zur Reformation aus dem Reichsregiment, in: Thomas A. Brady (Hg.): Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, München 2001, S. 63-90, hier S. 68. 90 Ebd., S. 82f.; sowie Deutsche Reichstagsakten (künftig abgekürzt als: DRTA), Jüngere Reihe, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 3, bearb. v. Adolf Wrede, Gotha 1901, S. 448-452, bes. S. 449; Cornelis Augustijn: Allein das heilig Evangelium. Het mandaat van her Reichsregiment 6 maart 1523, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis, NF 48 (1967/ 68), S. 150-165; Heinrich-Richard Schmidt: Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/ 30, Stuttgart 1986, S. 109-112. 91 DRTA: Jüngere Reihe 3, S. 449. 92 Ebd., S. 450. 93 Ebd., S. 449-450. Neben dem Umgang mit reformatorischen Predigern ging es in dem Mandat vor allem um die Regulierung der reformatorischen Drucke und Flugschriften. In einer zusätzlichen Klausel wurde Luther und seinen Anhängern ein zeitlich begrenztes Druckverbot auferlegt. Trotz anfänglichem Protest erließ Friedrich das Mandat, und auch Luther erklärte sich bereit, sich an das Mandat zu halten, vgl. Schulze: Zwischen Furcht und Hoffnung (wie Anm. 89), S. 82. Diese Regelung sollte solange Gültigkeit besitzen, bis ein freies und christliches Konzil an einem deutschen Ort über die Angelegenheit entscheiden sollte. Vgl. Armin Kohnle: Art. Reichstage der Reformationszeit, Abschnitt 1. und 2., in: TRE 28, S. 457-464, hier S. 459. <?page no="112"?> 113 Reformation als religiöse Devianz? worden war, quittierten die ernestinischen Räte auf der Berghandlung das Argument mit dem üblichen Verweis, dass sie keinen Befehl in dieser Sache hätten. 94 Dieser Punkt wurde im weiteren Verlauf des Konflikts weder von Georg noch von Friedrich oder Johann nochmals aufgegriffen. Im August 1524 wagte Georg einen erneuten Vorstoß. Abermals bezog er sich auf den Kaiser und versuchte erneut, den Konflikt durch den Bezug auf bestehende rechtliche Normen auf die Reichsebene auszulagern und somit zu vereindeutigen. 95 So ließ er Kurfürst Friedrich durch seine Räte übermitteln, dieser solle: „dieselben boßhaftigen propheten nach Inhalt kayserlicher maijestat mandat selber […] verfolgen, vnd yren mutwillen nicht gestatten denn wo sie lenger seyner furstlichen gnaden also sein folgk zuvorsuchen vnderstehen, vnnd von Ewren Churfurstlichen vnd furstlichen gnaden nicht kann vnderkomen werden, So wirdt sein furstlich gnad geursacht, selber sich kegen denselben nach lawt kayserlicher maijestat aus-gegangen mandat zubetzaygen, damit er solchs von yhne vortrag hab.“ 96 Georg drohte seinen Vettern unverhohlen, dass er gegebenenfalls auch gegen den Willen der Ernestiner, gestützt durch das kaiserliche Mandat, intervenieren würde. Auch hier lässt sich nicht eindeutig auflösen, auf welches Mandat sich Georg berief. Da er einen direkten Bezug zu Luther und den bestehenden Normen zog, ist es wahrscheinlich, dass er sich diesmal auf das Wormser Edikt von 1521 bezog. 97 Auf dem dritten Nürnberger Reichstag wurde das Wormser Edikt erneut als Reichsgesetz bestätigt, wenngleich mit der folgenreichen Einschränkung, dass die jeweilige Durchsetzung des Edikts „sovil inen muglich“ geschehen sollte. 98 Der Versuch, den lokalen Konflikt unter Bezug auf den reichsrechtlichen Status der Causa Lutheri zu beenden, war erneut von keinem sonderlichen Erfolg gekrönt. Entsprechend ihrer Position auf Reichsebene ließen sich die Ernestiner 94 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. T 90, fol. 32 r . 95 Diese Strategie hatte Georg bereits bei Amandus’ Vorgänger Wolfgang Ackermann ohne Erfolg anzuwenden versucht. Herzog Georg versuchte auch hier das Konfliktpotenzial, das der Reformation innewohnte, durch die Verlagerung auf Reichsebene zu entschärfen. ABKG 1: Nr. 567. Ähnliche Beispiele vgl. Jendorff: Kondominatorische Herrschaftsbeziehungen (wie Anm. 81), S. 168 sowie S. 178. 96 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35, fol. 22 r . 97 Vgl. Kohnle: Art. Reichstage (wie Anm. 93), S. 460. Zum Wormser Edikt allgemein Rainer Wohlfeil: Der Wormser Reichstag von 1521, in: Fritz Reuter (Hg.): Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache. Im Auftrag der Stadt Worms zum 450-Jahrgedenken, Köln/ Weimar/ Wien 2 1981, S. 59-151, vor allem S. 148-154. Aus der Perspektive Karls V. vgl. Horst Rabe: Karl V. und die deutschen Protestanten. Wege, Ziele und Grenzen der kaiserlichen Religionspolitik, in: ders. (Hg.): Karl V.: Politik und politisches System; Berichte und Studien aus der Arbeit an der politischen Korrespondenz des Kaisers, Konstanz 1996, S. 317-345, hier S. 322f. 98 Vgl. DRTA: Jüngere Reihe 4, S. 499-503, hier S. 500. Vgl. zu dem Reichstag Brigitta Mogge: Studien zum Nürnberger Reichstag von 1524, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 62 (1975), S. 84-101. <?page no="113"?> 114 Franziska Neumann auch in lokalen Kontexten nicht auf die Durchsetzung des Wormser Edikts ein. Zwar stimmte Friedrich seinem Vetter Georg durchaus zu und betonte, ein Fürst habe seine Untertanen vor Unruhe und Aufruhr zu schützen und müsse gegebenenfalls auch präventiv gegen Unruhestifter vorgehen - wie bereits aufgezeigt wurde, war der Wertehorizont, vor dem der Fall verhandelt wurde, nicht kontrovers. Kontrovers waren die abzuleitenden Handlungen. Jede sofortige Intervention im Falle Amandus lehnte Friedrich mit dem Verweis auf das geforderte Verhör des Predigers ab, „damit vngehorsam entborung vnd aufrur verkomen wurde so hielten es sein f[urstlich] g[naden] dafur, das beqeem auch billich vnd gut sein sold, das der prediger pfarner vnnd andere eheweiten etwas furgenomen gegeneinander gehoret vnd sonst ferner erkundigung vmb die sachen genauen wirden.“ 99 Die gleiche rhetorische Figur konnte somit innerhalb des Konfliktverlaufs für die verschiedenen Interessen instrumentalisiert werden: erstens im Sinne einer Dramatisierung (Albertiner), um Aufruhr entgegenzuwirken, oder zweitens, um Aufruhr zu verhindern und somit zu einer Entdramatisierung des Konflikts beizutragen (Ernestiner). Hier zeigt sich deutlich die ganze Problematik des Wormser Edikts und dessen Anerkennung als Reichsgesetz auf dem Reichstag zu Nürnberg. Für den altgläubigen Herzog Georg war die ‚so vil inen muglich‘-Klausel keinesfalls situativ auslegbar, sondern das Wormser Edikt spätestens seit Nürnberg 1524 Reichsgesetz: 100 eine Regelung, der Friedrich sowohl auf Reichsals auch auf lokaler Ebene nur bedingt Folge leistete. Entsprechend seiner Reichs- und Territorialpolitik setzte Friedrich weiterhin auf seine inzwischen bewährte Hinhaltetaktik und ließ sich nicht auf den politischen Kurs Herzog Georgs ein. 101 Die territoriale Frontstellung bezüglich der Reformation ragte somit in den lokalen Konflikt hinein. Dies galt nicht nur für die Reaktion der Ernestiner, sondern auch für den Versuch Georgs, über die Aushandlungsprozesse um Amandus zugleich die Reformation als solche anzugreifen. In der bereits erwähnten Meldung wird seine Position sehr deutlich: Luther verführe durch seine irrige Lehre solche „boeßen propheten“ wie Amandus oder Thomas Müntzer. Da diese Prediger zu Widerstand gegen das fürstliche Regiment und gegen die göttliche Ordnung aufriefen, sei es die Pflicht eines Fürsten einzugreifen und ein Verteidiger des „Evangely Cristy“ zu sein. 102 Neben der Einbindung des Konflikts in tradierte 99 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35, fol. 49 r . 100 Es ist ein Merkmal der Kirchenpolitik Georgs 1522-1524, dass er die ambivalenten Auslegemöglichkeiten nicht rezipierte, vielmehr diente ihm das Reichsregiment, vergleichbar den evangelischen Fürsten, zur Legitimation seines eigenen politischen Kurses, vgl. Volkmar: Reform (wie Anm. 6), S. 490. 101 Vgl. ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35, fol. 45-52. 102 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N 35, fol. 22 r . <?page no="114"?> 115 Reformation als religiöse Devianz? Herrschaftsdiskurse stellte Herzog Georg den Prediger in eine Reihe mit dem bereits erfolgreich stigmatisierten und als religiös abweichend gebrandmarkten Thomas Müntzer. Nicht zuletzt richtete der Albertiner seine Argumentation in Form eines Appells an Friedrich, denn dieser wolle doch, so Georg, kein Tyrann und Verteidiger des „Ewangely lutters“ sein, sondern ein christlicher Herrscher und Verteidiger des „Evangely Christy“. 103 Der Verweis auf das Widerstandsrecht im Sinne des Widerstandes gegen den ‚tyrannus ex parte exercitii‘ - den sich zum Tyrannen entwickelnden Herrscher - legitimierte aus Georgs Sicht die unumwundene Drohung, eigenmächtig zu handeln, um Ungehorsam gegenüber der höchsten weltlichen Autorität, den die Nichtanerkennung des Wormser Edikts aus seiner Sicht darstellte, abzustellen. Dies sei seine rechtliche, aber auch seine religiöse Verpflichtung als Herrscher gegenüber seinen Untertanen und gegenüber Gott. 104 Diese Argumentation entsprach ganz den zeitgenössischen Diskursen um das Widerstandsrecht im 16. und 17. Jahrhundert. Widerstandsrecht wurde dabei zumeist als obrigkeitlicher Widerstand gegen (tyrannische) Obrigkeiten zum Schutz der eigenen Untertanen verhandelt und stand in erster Linie „den Trägern von Herrschaftsrechten aufgrund dieser Herrschaftsrechte zu.“ 105 Damit bewegt sich die Argumentation Herzog Georgs ganz auf der altgläubigen Traditionslinie des Widerstandsrechts, um im Kondominat seine Position gegebenenfalls auch ohne die Zustimmung der Ernestiner durchzusetzen und die Klausel der Einmütigkeit der Entscheidungen aufzukündigen. 106 Hier zeigt sich nochmals in aller Deutlichkeit, dass die Ernestiner und die Albertiner nicht nur Stadtherren, sondern eben auch ebenbürtige Reichsfürsten waren. Dabei muss jedoch betont werden, dass es Georg bei der Androhung der Aufkündigung des Status quo beließ und der Konflikt nicht zu einer Totalblockade politischer Entscheidungen führte. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Argumentation der beiden Herrschaftsparteien keine detaillierte Auseinandersetzung mit Amandus’ Predigtinhalten oder Verhalten darstellte. Vielmehr bemühten die Stadtherren etablierte Gemeinplätze der politischen Sprache, um Konsens herzustellen. Zudem versuchten die Albertiner 1524 mehrmals, den Konflikt durch den Verweis auf bestehende reichsrechtliche Regelungen zur Reformation zu klären: ein Ver- 103 Der Verweis auf den Topos des Tyrannen, eingebettet in den Kontext von Widerstand und Gehorsam, wurde bereits im Mittelalter diskutiert, vgl. Eike Wolgast: Obrigkeit und Widerstand in der Frühzeit der Reformation, in: Günter Vogler (Hg.): Wegscheiden der Reformation: alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994, S. 235-258, hier S. 237. 104 Diese Argumentationsfigur der zweifachen Bindung gegenüber den Untertanen und gegenüber Gott ist typisch für das Widerstandsrecht, vgl. ebd., S. 235f. 105 Von Friedeburg: Widerstandsrecht (wie Anm. 34), S. 27, Zitat S. 31. 106 Es muss betont werden, dass dieser Verweis eher als Drohgebärde interpretiert werden sollte. Es finden sich in den weiteren Verhandlungen keine Belege für ein eigenmächtiges Handeln von Georg. <?page no="115"?> 116 Franziska Neumann such, auf den sich die Ernestiner nicht einlassen wollten. Amandus’ Position als Abweichung von der alten Kirche und ihn selbst als Anhänger der Reformation zu kriminalisieren, war also keine konsensstiftende Argumentation. Erfolg versprechender war es in der Folge für Georg, zu unspezifischeren Devianzkonstruktionen zu greifen und die Reformation als Abweichung von der alten Kirche nicht in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu rücken. Dementsprechend lässt sich ab 1525 in der zweiten Konfliktphase ein Umschwenken in der albertinischen Argumentation feststellen. Statt weiterhin auf die reichsrechtlichen Regelungen zur Reformation zu verweisen, etikettierte Herzog Georg den Prediger seit März 1525 in der Auseinandersetzung mit den Ernestinern mit dem Attribut ‚gotteslästerlich‘, um das abweichende Verhalten von Amandus zu markieren. Am 29. März 1525 schrieb Georg an Johann: „Dieweil denne die sache und genants predigers vornemen nicht alleyne zu ufrur, enporung und zu vortilligung Cristlicher ordenung und aussatzung, sonder auch (das gots erbarme) zu gotteslesterung gelangende ist, seyns wir zweyfels an, E[uer] L[iebden], als ein Cristlicher loblicher furste, werden doran nicht weniger, denn wir selbest ein treulich und groß herzlich mitleydnen haben.“ 107 In jeder der weiteren Auseinandersetzungen mit den Ernestinern verwendete Georg nun dieses Attribut und trug damit nicht unwesentlich zu einer Dramatisierung des Konflikts bei. Auf diese Argumentation, die nicht mehr die Reformation als Kern der religiösen Devianz des Predigers thematisierte, ließ sich vor allem Herzog Johann ein. So betonte dieser in einem Brief an Georg im März 1525, dass er durchaus bereit sei, Amandus verhören zu lassen: „So sult es uns nit weniger, dann E[uer] L[iebden], entkegen, auch herzlich laid sein, das an orten, do unser bruder und wir zu schaffen, ader solichs mit E[uer] L[iebden] zu tun heten, etwas, das got dem altmechtigen zu lesterung auch bey den volk zu ungehorsam ader aufrur geraichen sult, zu gestatten.“ 108 In den Argumentationen der Wettiner über Amandus wurde das Delikt des Aufruhrs also an den Vorwurf der Gotteslästerung gekoppelt. Dies war eine tradierte und konfessionell übergreifend angewandte rhetorische Strategie, um die Dringlichkeit und Legitimität politischen Handelns zu demonstrieren. 109 Die Umcodierung des Vorwurfs der ‚reformatorischen Devianz‘ in den des religiös abweichenden Verhaltens durch die Etikettierung als Unruhestifter und Aufrüh- 107 Vgl. ABKG 2: Nr. 846. 108 Ebd., Nr. 845. 109 Vgl. ebd., Nr. 828. Zur Verbindung von Blasphemie und Aufruhr, um rechtliche Sanktionen zu legitimieren, vgl. am Beispiel der Täufer in Kursachsen Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz 2005, S. 89-91. <?page no="116"?> 117 Reformation als religiöse Devianz? rer, verbunden mit dem Stigma der Gottlosigkeit, stellte unter den Bedingungen des Kondominats zugespitzt formuliert den kleinsten gemeinsamen polemischen Nenner dar. Entsprechend konnte sich Johann auf diese Argumentationslinie einlassen. Zupass kamen Georg zudem die aktuellen Geschehnisse. Zum Einen belastete der Bauernkrieg in den thüringischen Besitzungen die Ernestiner und Albertiner gleichermaßen. 110 Ein Übergreifen der Bewegung in den erzgebirgischen Raum war bereits zu Beginn des Jahres absehbar, was Georgs permanentem Verweis auf das Gefahrenpotenzial Amandus’ neuen Auftrieb verschaffte. 111 Zum Anderen lässt sich in Schneeberg ein Kurswechsel auf der ernestinischen Seite feststellen. Verfolgten die Ernestiner bis 1525 die bereits im Reich erfolgreich angewandte Hinhaltetaktik, schrieb Friedrich an Johann im Februar 1525, ob man nicht doch über eine Entfernung des Predigers nachdenken sollte. 112 Im März konkretisierte Friedrich seine Position. In Abgrenzung zu Georg solle Johann auf keinen Fall eine Gefangennahme und harte Bestrafung des Predigers erlauben. Er solle jedoch prüfen, ob man Amandus nicht doch aus Schneeberg entfernen könne, und zwar unter der Prämisse, dass dieser tatsächlich unschickliche Worte gebraucht habe. 113 Für Friedrich war also auch im März 1525 nicht eindeutig klar, auf welche Art und Weise Amandus als abweichend zu gelten habe. Somit lässt sich für 1525 herausstreichen, dass sich die Wettiner auf den Minimalkonsens der Wahrnehmung von Amandus als Gotteslästerer und Unruhestifter einigen konnten. Für die zeitgenössischen stadtherrlichen Auseinandersetzungen über Georg Amandus lässt sich jedoch festhalten, dass der Fall nicht als Form innerreformatorischer Abweichung verhandelt wurde. Obwohl sich Richter und Schöppen am 23. Februar 1525 in ihrem Hilfegesuch beklagten, der Prediger wäre „doctori Carolstadt zugetan gewest“, finden sich innerhalb des Konfliktgeschehens keine Belege, dass die Stadtherren diesen Vorwurf weiter verfolgten. 114 110 Allgemein zum Bauernkrieg in Thüringen vgl. Günter Vogler: Bauernkrieg in Thüringen und im Reich, in: Ders. (Hg.): Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008, S. 11-30; sowie zum Engagement der Wettiner in Thüringen Siegfried Hoyer: Herzog Georg und der Bauernkrieg in Thüringen, in: ebd., S. 275-282; Volker Graupner: Die ernestinischen Fürsten im Thüringer Bauernkrieg, in: ebd., S. 283-298. 111 Speziell zum Bauernkrieg im Erzgebirge vgl. Laube: Silberbergbau (wie Anm. 2), S. 214-260; Ingrid Mittenzwei: Der Joachimsthaler Aufstand 1525: seine Ursachen und Folgen, Berlin (Ost) 1968; George H. Waring: The Silver Miners of the Erzgebirge and the Peasants’ War of 1525 in the Light of Recent Research, in: The Sixteenth Century Journal 15 (1987) 2, S. 231-247. 112 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg N 35, fol. 72 r 113 ThStA Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. T 90, fol. 91 r -93 r . 114 ABKG 2: Nr. 816. <?page no="117"?> 118 Franziska Neumann IV. Am Fall Georg Amandus wurde vor allem die Spezifik und bis zu einem gewissen Grad die Problematik des Schneeberger Kondominats zur Reformationszeit sichtbar. Wie Christoph Volkmar herausgearbeitet hat, war Herzog Georgs Umgang mit der reformatorischen Lehre in jenen Städten, in denen er allein seine Interessen umsetzen konnte, durch eine rigide Sanktionspolitik gekennzeichnet. 115 In der Auseinandersetzung mit den Ernestinern musste er aber sowohl auf territorialer als auch auf lokaler Ebene Zugeständnisse machen. Bis 1522 versuchte Georg vor allem Herzog Johann in Briefwechseln mit einer zum Teil sehr komplexen Beweisführung von der Häresie Luthers und der reformatorischen Bewegung zu überzeugen: ein Versuch, der an dessen resoluter Hinhaltetaktik scheiterte. 116 Um das angespannte innerwettinische Verhältnis nicht weiter zu belasten, erfolgten seit 1522 keine weiteren Vorstöße Georgs, seine Vetter zu überzeugen. 117 Vielmehr drehten sich die Kontroversen im Folgenden um Probleme, die aus der direkten Nachbarschaft und Verzahnung der beiden sächsischen Landesteile resultierten. In dieses territoriale Spannungsgefüge bettet sich auch die Auseinandersetzung um Georg Amandus ein. War für den altgläubigen Herzog Georg eindeutig, dass entschieden gegen den Prediger vorzugehen sei, agierten die Ernestiner hingegen zögerlich und abwartend. Eine sofortige Intervention gegen Amandus hätte auch als Zugeständnis in dem Konfliktfeld Reformation gedeutet werden können. Entsprechend ist es plausibel anzunehmen, dass die Ursachen für den zögerlichen Umgang mit dem Prediger und vor allem die Zurückhaltung der Ernestiner trotz der drastischen Vorwürfe zum Ersten in der politischen Konstellation in Schneeberg begründet liegen. Zum Zweiten agierte Amandus innerhalb eines sehr spezifischen Zeitfensters 1524/ 25 am Vorabend und während des Bauernkrieges. Spätestens seit dem Brief Herzog Johanns 1525 wurde deutlich, wie tief die Angst vor einer übergreifenden Erhebung der Knappschaften unter den Ernestinern und Albertinern war: Um Aufruhr zu verhindern, solle man eher zurückhaltend agieren und abwarten, bis sich die aufgeheizte Stimmung im Erzgebirge beruhigt habe. 118 Gemeint ist in diesem Fall nicht der übliche Bezug auf eine abstrakte Wertvorstellung, sondern konkret auf das Unruhepotenzial in anderen Bergstädten und die Niederlegung von Arbeit durch die Knappschaften. 119 Der Umgang mit religiöser Devianz folg- 115 Volkmar: Reform (wie Anm. 6), bes. Zweiter Teil (Die Auseinandersetzung mit der frühen Reformation), Kap. VII. (Der Einsatz des Kirchenregiments gegen evangelische Laien), S. 528-542. 116 So bezog sich Georg neben dem Wormser Edikt auch auf historische, politische und theologische Argumente, vgl. ebd., S. 493. 117 Ebd., S. 494. 118 ABKG 2: Nr. 1076. 119 Eine Gefahr, die durchaus bestand. So kam es im Umfeld des Bauernkrieges im Juni und Juli 1525 in St. Joachimsthal zu Arbeitsniederlegungen durch die Bergknappen. Vgl. allgemein zu Arbeitsniederlegungen im 16. Jahrhundert als Mittel des Protests im Erzgebirge Uwe Schir- <?page no="118"?> 119 Reformation als religiöse Devianz? te hier ganz pragmatischen Überlegungen. Die Wettiner gingen auch deswegen nicht entschieden gegen Amandus vor, um innerstädtischen Aufruhr oder im schlimmsten Fall eine Erhebung der Bergarbeiter zu vermeiden. Für die Berücksichtigung des spezifischen Zeitfensters spricht nicht zuletzt der Punkt, dass Amandus im August 1525 sang- und klanglos und ohne größere Umstände aus der Stadt entfernt wurde, also zu dem Zeitpunkt, als sich die Lage in Thüringen und im Erzgebirge wieder entspannt hatte und der Bauernkrieg im Großen und Ganzen als befriedet galt. Zum Dritten war die Verhandlung über Amandus durch den Verzicht auf eine detaillierte Auseinandersetzung über theologische Detailfragen und die Verwendung von tradierten Topoi politischer Sprache geprägt. Selbst als Amandus im April 1525 die Zerstörung zweier Kruzifixe freimütig gestand, wurde dies unter den Wettinern nicht explizit thematisiert. Dies lässt sich aus der Logik von Stadtherrschaft und besonders von Stadtherrschaft in einem Kondominat begründen. In der Auseinandersetzung mit dem Prediger griffen beide stadtherrliche Parteien immer wieder auf Pauschalrubrizierungen zurück, um den komplexen Fall durch den Bezug auf tradierte Gemeinplätze zu vereindeutigen. Entsprechend zentral scheint der Faktor Zeit zu sein und die Frage, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit stadtherrliche Obrigkeiten - die zeitgleich auch in andere politische Entscheidungsprozesse involviert waren - für die Verhandlung von Konflikten wie jenem um Amandus aufwenden konnten und wollten. Stadtherren mussten schnell und in klaren Kategorien Konflikte verhandeln können. Dabei lieferten das Schöppengremium und die landesherrlichen Bergbeamten vor Ort durch ihre Berichte und Eingaben jenen Grundstock an Detailinformationen, die in der Auseinandersetzung der Stadtherren zu jenen pauschalen Rubrizierungen wie ‚Unruhe‘ oder ‚Gefährdung der christlichen Ordnung‘ vereinfacht wurden. Das Kondominat nun schuf die Notwendigkeit, die Kategorien auszuhandeln, unter denen man den Fall subsumierte, um eine gemeinsame Basis für herrschaftliche Interventionen zu schaffen. Dabei waren die Kategorien so pauschal, dass sie zwar ein negativ besetztes Assoziations- und Konnotationsfeld berührten, nicht jedoch zwangsläufig zeitaufwendige differenzierte Bewertungen einzelner Tätigkeiten und Handlungen des Predigers zur Folge haben mussten. Vielmehr konnte über die Verwendung etablierter Topoi relativ unspezifisch Abweichung markiert und somit Handlungsdruck erzeugt werden. Aus dieser Perspektive lag es in der Logik der stadtherrlichen Kommunikation über religiöse Devianz, dass keine der beiden Kondominatsparteien sich auf eine differenzierte Auseinandersetzung über die konkreten Inhalte von Amandus’ Predigten einließ. Die mer: Das Erzgebirge im Ausstand: Die Streiks in den Revieren zu Freiberg (1444-1469), Altenberg (1469), Schneeberg und Annaberg (1496-1498) sowie in Joachimsthal (1517-1525) im regionalen Vergleich, in: Angelika Westermann/ Ekkehard Westermann (Hg.): Streik im Revier. Unruhe, Protest und Ausstand vom 8. bis 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2007, S. 65-93; zum Joachimsthaler Aufstand vgl. Mittenzwei: Der Joachimsthaler Aufstand (wie Anm. 111). <?page no="119"?> 120 Franziska Neumann Verhandlungen zwischen den beiden Fürstenhäusern waren eben nicht der Ort, an dem komplexe theologische Probleme erörtert wurden. Dies galt selbst für Amandus’ bilderstürmerische Aktionen. Damit ist der Fall Amandus in erster Linie aussagekräftig für den stadtherrlichen Umgang mit reformatorischen Predigern in einer Herrschaftsgemeinschaft innerhalb eines einmaligen und kurzen Zeitfensters im Kontext des Bauernkrieges. Doch ist das alles oder lassen sich auf Grundlage des Falls auch systematische Aussagen auf einer allgemeineren Ebene treffen? V. In diesem Beitrag wurde versucht, am Beispiel des Predigers Georg Amandus eine Zuschreibungsperspektive auf die frühe Reformation und die sogenannte radikale Reformation einzunehmen. Eine der Grundannahmen dieses Bandes lautet, dass religiöse Abweichung nicht als aus sich selbst generierte Wirklichkeit, sondern als „Interaktions- und Zuschreibungsprozess“ 120 zu begreifen ist: Religiös deviant ist, wer durch entsprechende Kontrollinstanzen als solches wahrgenommen und etikettiert wird. 121 Dies lässt sich auch auf die Wahrnehmung von reformatorischen Predigern in der frühen Reformationszeit - einem Zeitfenster, in dem noch recht uneindeutig war, was die reformatorische Lehre eigentlich sei - übertragen. Am Beispiel der stadtherrlichen Verhandlungen über Amandus wurde aufgezeigt, dass die Beurteilungen des Predigers, trotz der bisweilen drastischen Vorwürfe gegen ihn, in erster Linie das Resultat eines permanenten Aushandlungs- und Interaktionsprozess war, der sowohl durch die lokalen und regionalen Interessenlagen der Wettiner als auch durch die zeitlichen Rahmenbedingungen im Kontext des Bauernkrieges sowie durch die Eigenlogik stadtherrlicher Kommunikation in einer Herrschaftsgemeinschaft geprägt war. Dabei wurde deutlich, wie innerhalb des Konfliktverlaufs unterschiedliche Konzeptionen von religiöser Devianz zum Tragen kamen. Der normative Bezugsrahmen, anhand dessen Herzog Georg den Prediger sanktionieren wollte, waren die reichsrechtlichen Bestimmungen zur Reformation und zu reformatorischen Predigern. Auf diese Weise versuchte der Albertiner, den Prediger als Anhänger der Reformation und damit die Reformation als solche als Problem religiöser Devianz zu verhandeln. Aufgrund der Herrschaftsgemeinschaft war diese Devianzkonzeption jedoch nicht konsensfähig. Vielmehr kristallisierten sich im Laufe der langwierigen Aushandlungen um Amandus Gemeinplätze der politischen Sprache der Vormoderne und die Grundlagen fürstlicher Herrschaft als Referenzpunkte heraus, anhand 120 Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a.M. 2011, S. 36. 121 Vgl. Die Einleitung von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff in diesem Band, besonders Abschnitt III. <?page no="120"?> 121 Reformation als religiöse Devianz? derer Amandus’ Abweichung auf einer reformationsunspezifischen Ebene identifiziert und markiert werden konnte und damit erst verhandelbar gemacht wurde. Dabei zeigte sich deutlich, dass die Auseinandersetzungen um den Umgang mit Amandus aufgrund der Herrschaftsgemeinschaft zugleich einen Aushandlungsprozess des normativen Rahmens darstellte, auf dessen Grundlage man den Fall verhandeln konnte. Wie ebenfalls aufgezeigt werden konnte, wurden sein Verhalten und die konkreten Predigtinhalte auf der stadtherrlichen Ebene nicht thematisiert. Vielmehr wurde der Fall ab 1525 in tradierten Topoi der politischen Sprache der Vormoderne verhandelt. Diese waren zwar religiös imprägniert, aber es waren nicht mehr die Reformation und auch nicht die Predigtinhalte und Handlungen, die als religiöse Devianz von der einen oder der anderen Seite instrumentalisiert wurden. Das heißt: Innerhalb der Verhandlungen um Amandus wurden jene Verhaltensweisen, die retrospektiv in der Geschichtswissenschaft als Ausdruck der ‚radikalen Reformation’ gedeutet werden, nicht als Form religiöser Devianz verhandelt. Selbst 1525 war für die reformationsfreundlichen Ernestiner noch nicht entschieden, ob Amandus als Fall innerreformatorischer religiöser Devianz zu gelten habe. Diese Unentschiedenheit der ernestinischen Position resultierte aus der politischen Konstellation des Kondominats. Ein Zurückweichen im Fall Amandus hätte als ein Zurückweichen in Reformationsfragen gegenüber Herzog Georg gedeutet werden können. Zudem lässt sich die These aufstellen, dass für die Ernestiner 1524/ 25 aufgrund der Heterogenität der frühen Reformation nicht eindeutig zu bestimmen war, was eigentlich die reformatorische Bewegung ausmache. Die Unentschiedenheit resultierte aus der Offenheit und Uneindeutigkeit der frühen Reformation und dem Fehlen eines klar ausgeprägten normierenden Referenzrahmens, anhand dessen man die religiöse Devianz von Amandus hätte bestimmen können. Eine klare retrospektive Zuordnung gerade solcher Akteure wie Amandus blendet bis zu einem gewissen Grad die innere Dynamik der frühen Reformation aus. Thomas Kaufmann betont, dass gerade in der frühen Phase der Reformation Vorsicht geboten ist, von einer „systemisch geschlossenen ‚Orthodoxie‘ “ auszugehen. 122 Hans-Jürgen Goertz versucht, durch den Begriff der ‚radikalen Reformation‘ jene heterogene und pluralistische Frühphase gleichberechtigter Reformationen zu fassen. So argumentiert Goertz, dass die Reformation idealtypisch als soziale Bewegung per se radikal gewesen sei. 123 Damit existiere im Umkehrschluss 122 Kaufmann: Nahe Fremde (wie Anm. 4), S. 181. 123 Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Die Radikalität reformatorischer Bewegungen. Plädoyer für ein kulturgeschichtliches Konzept, in: Ders. (Hg.): Radikalität der Reformation, Göttingen 2009, S. 11-22, hier S. 19, 21. Ob die durch Thomas Kaufmann jüngst eingeführte Begriffsneuschöpfung ‚kontextuelle Reformation‘ die Problematik auflöst, wird sich in zukünftigen Diskussionen zeigen, vgl. ders.: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, bes. S. 1-5. <?page no="121"?> 122 Franziska Neumann keine ‚radikale Reformation‘, sondern Abstufungen von Radikalität. 124 Dieser Idealtypus ‚radikale Reformation‘ ist in dem Sinne reizvoll, dass Goertz mit dem Begriff die Trennung zwischen gemäßigter und geordneter Wittenberger Reformation auf der einen und über das Ziel hinausschießenden Reformatoren wie Karlstadt, Schwenckfeld oder Müntzer auf der anderen Seite hinterfragt. Amandus ist in dieser Deutung ebenso radikal wie sein Vorgänger und Nachfolger, da alle auf ihre eigene Weise die reformatorische Idee aufnahmen und verbreiteten. In dieser Sicht wäre die Frage nach ‚Wildwuchs der Reformation’ versus ‚lutherische Engführung‘ durch die Goertzsche Version des Begriffs der ‚radikalen Reformation‘ aufgelöst, durch den die Vielschichtigkeit und Heterogenität der frühen Reformation verdeutlichen soll. So plausibel die Auflösung starrer Dichotomien für die Frühphase der Reformation ist, so problematisch scheint der Begriff dennoch zu sein, da ihm die analytische Trennschärfe fehlt. Und weiter gilt es zu fragen, ob dieses weite Verständnis von radikaler Reformation in der Forschung so umgesetzt wird und umgesetzt werden kann, oder ob nicht der Begriff doch als Kategorie de facto genutzt wird, um einen gewissen Typus von reformatorischer Bewegung in Abgrenzung zu Luther zu bezeichnen. 125 Für die Frage nach dem Umgang von Stadtgemeinschaften mit der frühen Reformation und Predigern wie Georg Amandus eignet sich die Labeling-Perspektive im besonderen Maße. Statt nach ‚realen’ Abstufungen von Radikalität zu fragen (und damit bereits einer Etikettierung zu folgen), stehen die Interaktions- und Zuschreibungsprozesse im Mittelpunkt, anhand derer sich prozesshaft ein Abweichungsprofil entwickelt. Dieser methodische Zugang stellt somit eine Möglichkeit dar, sich Akteuren wie Amandus zu nähern, ohne ihnen bereits in der Frühphase ihres Wirkens ein geschlossenes theologisches Konzept zu unterstellen oder aber den Argumentationen und Stigmatisierungsprozessen der Gegner Folge leisten zu müssen. Dies gilt auch für Prediger, deren theologisches Profil durch eigene Schriften deutlicher profiliert war, als dies bei Amandus der Fall war. Es wäre eine spannende Perspektive, den hier gewählten Ansatz auch auf die Untersuchung von Predigern wie Thomas Müntzer oder Andreas Bodenstein von Karlstadt zu übertragen. Für die Untersuchung des Prozesses des Deviantwerdens sind immer auch jene politischen und sozialen Kräftefelder mit einzubeziehen, unter deren Einfluss sich der Umgang mit Devianz flexibler gestaltete, als die eindeutige retrospektive Kategorisierung es vermuten lässt. 124 Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Eine ‚bewegte‘ Epoche. Zur Heterogenität reformatorischer Bewegungen, in: Heiko A. Obermann (Hg.): Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher zu seinem 80. Geburtstag, Zürich 1992, S. 103-125, hier S. 121. 125 Einen guten Einstieg in die verschiedenen angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Zugänge zur radikalen Reformation bietet der Band von Hans-Jürgen Goertz/ James M. Stayer (Hg.): Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert - Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century, Berlin 2002. <?page no="122"?> 123 Eric Piltz Reinheit oder Frieden? Religiöse Devianz und die Rhetorik der Gottlosigkeit in Antwerpen 1562-65 „Oh Antwerpen! Antwerpen! Euch ist Gottes Wort und Wille verkündigt worden; man hat zur Bußfertigkeit gerufen, aber ihr habt eure Ohren verschlossen; die euch ermahnten, habt ihr verfolgt, und wie euch der Herr auch kasteite, drohte und strafte, ihr habt es nicht gefühlt. Was glaubt ihr nun, was euch wiederfahren soll? “ 1 Angekündigt wird hier der Zorn Gottes gegen die städtischen Obrigkeiten einer Metropole des 16. Jahrhunderts: Antwerpen, das Fernand Braudel als ‚économie-monde‘ beschrieb und das eine Hauptstadt konfessioneller Pluralität war. 2 Während es laut dem katholischen Probst Maximilian Morillon kaum einen Schulmeister gab, der nicht eine „mauvaise doctrine“ lehre, 3 betonte der Ratspensionär von Antwerpen Jacob van Wesenbeke, später bekennender Protestant, die Vielfalt, die man an kaum einem vergleichbaren Ort fände. Die Stadt sei ein „Zusammenfluss aller Nationen, von Handel, Geschäften, Reichtümern, Überfluss, Macht und Festungsbauwerken“. Es seien die religiösen Verfolgungen, die letztlich den Niedergang der Stadt begründeten. 4 1 Adrianus Haemstedius [Adrian van Haemstede]: De Geschiedenisse ende den doodt der vromer Martelaren, die om het hetuyghenisse des Evangeliums heer bloedt ghestort hebben, van den tijden Christi af, tonen Jare M.D.L. IX toe, bij een vergadert op het kortste (1559). Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Adriaan Cornelisz van Haemstede: Geschiedenis der martelaren, hg. v. Dirk Molenaar/ J.W. Felix, Arnheim 1868. Das Zitat ebd. auf S. 681, eigene Übersetzung. Weiter dazu siehe unten im Abschnitt ‚Die Apologie des Fabricius‘. 2 Im Zeitraum von 1556-1567 wird für Antwerpen eine Einwohnerzahl von 88-90.000 berechnet. Jan van Roey: De Bevolking, in: Genootschap voor Anterwerpse Geschiedenis (Hg.): Antwerpen in de XVIde eeuw, Antwerpen 1975, S. 95-108, hier S. 96; René Boumans/ Jan Craeybeckx: Het bevolkingscijfer van Antwerpen in het derde kwart der XVIe eeuw, in: Tijdschrift voor geschiedenis 60 (1974), S. 394-405. Zum Überblick zur Antwerpener Geschichte siehe Jan van der Stock (Hg.): Antwerp, story of a metropolis: 16th-17th century, Gent 1993. Messbar wird der Stellenwert, den Antwerpen für die Habsburgermonarchie insgesamt hatte, wenn eine Steuer von 1% auf alle Überland- und Seeexport von 1542-45 erhoben wurde und die Stadt allein drei Viertel des Gesamtbetrages aufbrachte. M.-A. Arnould: L’impôt sur le capital en Belgique au XVIe siècle, in: Le Hainaut Economique 1 (1946), S. 17-45. 3 Morillon an Granvelle, 9. Dezember 1565, in: Eduard Poullet/ Charles Piot (Hg.): Correspondance du Cardinal de Granvelle, 1565-1586, 12 Bde, Brüssel 1877-1896, hier Bd. I, S. 50. 4 „[…] en confluence de toutes nations, traficques, négociations, richesses, abandance, puissance, fortifications et toutes affluences, dont ès années passées a esté singulièrement douée.“ [Van Wesembeke]: La Description de l’Estat Succes et Occurences, advenues au Pais bas au faict de la Religion. Le Premier Livre, [o.O.] 1569, S. 62f. Zur katholischen Geschichtsschreibung siehe <?page no="123"?> 124 Eric Piltz Zwei Geschichten ließen sich daraus folgend für Antwerpen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erzählen: Eine Geschichte der religiösen Pluralität und Praxis der Tolerierung, die erst die heterodoxe Gemengelage in der Stadt ermöglichte, und eine Geschichte der massenhaften Verfolgung und der Praxis öffentlich vollzogener Hinrichtungen vor allem von Täufern und Calvinisten. Gleichwohl dies zeitgenössisch und in der Geschichtsschreibung wirksame Interpretamente waren, erscheinen beide großen Erzählungen nicht als hilfreiche Folie für die Analyse des Umgangs mit bzw. der Produktion von religiöser Devianz. Die Einsicht, dass Devianz das Produkt von Zuschreibungsprozessen ist, 5 macht im Hinblick auf das konfessionelle Zeitalter besonders sensibel für die Wechselseitigkeit dieser Prozesse und damit Deutungskämpfe und „stigma contests“. 6 In diesen rangen die konfessionellen Parteien auf individueller und alltäglicher Ebene um Deutungshoheit über das normative Zentrum und Mittel zur Beurteilung des richtigen Glaubens. Wenn ‚Devianz‘ somit als erfolgreich angewendetes Vokabular erkannt wird, dann darf der darin enthaltene Relativismus 7 aber nicht verschleiern, dass es für die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts handfeste und glaubwürdige Begründungen und normative Zentren gab, von denen aus sich religiöse Abweichung beurteilen ließ. Entscheidend ist somit nicht die Frage, ob das deviante Label wahr ist, sondern vielmehr was passiert, wenn es erfolgreich angewendet wird. 8 „Die Definition von Devianz“, so Andreas Würgler, „ist nicht nur normabhängig, sondern auch innerhalb ein und desselben Normkontextes situationsabhängig. Die Kategorie Devianz gerät also aus dem rein juristischen in den politischen Bereich. Die Definitionsmacht ist abhängig von der politischen Macht.“ 9 Bernard A. Vermaseren: De katholieke Nederlandsche geschiedsschrijving in de XVIe en XVIIe eeuw over den opstand, Mastricht 1941, v.a. zu Antwerpen vor 1585 S.115-142. 5 Die kritische Kriminologie und der Labeling Approach haben den Devianz-Begriff entobjektiviert und entessentialisiert. Dazu ausführlich die Einleitung dieses Bandes von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff. 6 Edwin Schur: The Politics of Deviance. Stigma Contests and the Uses of Power, Englewood Cliffs 1980. 7 Zur Kritik siehe Michael Dellwing: Das Label und die Macht. Der Labeling Approach von Pragmatismus zur Gesellschaftskritik und zurück, in: Kriminologisches Journal 41 (2009) 3, S. 162-178. 8 Ders.: Truth in Labeling: Are Descriptions All We Have? , in: Deviant Behavior 32 (2011), S. 653-675, hier S. 660. Wobei m.E. mit „erfolgreich“ keine Wertung verbunden werden sollte, sondern lediglich eine erfolgende Anschlusskommunikation. Devianz selbst ist ein heuristischer und kein zeitgenössischer Begriff. 9 Andreas Würgler: Diffamierung und Kriminalisierung von „Devianz“ in frühneuzeitlichen Konflikten. Für einen Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 317-347, hier S. 327. Vgl. zu den politischen Implikationen von Diffamierung und Produktion von religiöser Devianz den Beitrag von Franziska Neumann in diesem Band. <?page no="124"?> 125 Reinheit oder Frieden? Wenn in diesem Sinne nach den Modi religiöser Devianz in Antwerpen gefragt wird, kann dies nur exemplarisch und unter Einbezug der politischen Akteure geschehen. Der hier gewählte Zeitpunkt kurz vor dem Bildersturm 1566 und der Ankunft Albas in den Niederlanden markiert dabei eine Wasserscheide, an der die Möglichkeiten und Grenzen städtischer Religionspolitik ermessen werden können. 10 Anhand zweier Einzelfälle soll analysiert werden, wie die Ansprüche von religiöser Reinheit und städtischem Frieden auf den verschiedenen Herrschafts- und Verwaltungsebenen (Landesherr, Statthalterin, Magistrat) in Antwerpen konkurrierten. Gefragt werden soll, inwiefern der Anspruch auf Durchsetzung der Häresieplakate und die Bewahrung städtischen Friedens aufeinander wirkten und möglicherweise miteinander kollidierten. Anhand eines akteursorientierten Ansatzes lassen sich eine Verschränkung und fallbezogene Wirksamkeit multipler Normen erkennen. Der Fall des Agostino Boazio dient dabei als Einführung in die Problematik, da hier der Spielraum des Magistrats und der Kampf um die rechtliche Deutungshoheit bei Religionsdelikten gegenüber dem spanischen Landesherrn deutlich wird. Der in der Antwerpener Religionsgeschichte prominente Fall des Prädikanten Christoffel Fabritius stellt vordergründig ein Gegenbeispiel dar, da hier die Stadt selbst in Sachen Verfolgung aktiv wurde. 11 Galt Fabritius sowohl von städtischer als auch landesherrlicher Seite als Häretiker und calvinistischer Anführer, wird zu fragen sein, wie zum Einen die Stadt mit seinen Anhängern und dem Tumult im Zuge seiner Hinrichtung umging. Zum Anderen, wie die Rolle der Stadt im Urteil reformierter Beobachter ausfiel. Für eine adäquate Verortung im normativen Gefüge und religiösen Profil der Stadt erscheint es aber sinnvoll, zunächst die relevanten Institutionen und Sanktionsmechanismen vorzustellen. I. Häresie und Recht Entgegen der lange wirksamen ‚leyenda negra‘ 12 und dem düsteren Bild einer gefräßigen Inquisition, war die Religionspolitik des Landesherrn keine reine Un- 10 Zu Albas Wirken in den südlichen Niederlanden Gustaaf Janssens: Brabant in het verweer. Loyale oppositie tegen Spanje's bewind in de Nederlanden van Alva tot Farnese, 1567-1578, Kortrijk-Heule 1989; Johan van de Wiele: De inquisitierechtbank van Pieter Titelmans in de zestiende eeuw in Vlaanderen, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden (künftig abgekürzt als: BMGN) 97 (1982), S. 19-63. 11 Die Popularität für die reformierte Tradition bis ins 20. Jahrhundert zeigt z.B. das Jugendbuch von H. Te Merwe: De thuisvaart van Christoffel Fabritius, Groningen [o.J.]. 12 Die Geschichte der „Inquisition“ ist nicht zu trennen von der öffentlichen Meinung und der protestantischen Propaganda gegen diese, die das Bild nachhaltig geprägt hat. Siehe dazu Alastair C. Duke: A Legend in the Making. News of the ‘Spanish Inquisition’ in the Low Countries in German Evangelical Pamphlets, 1546-1550, in: ders.: Dissident Identities in the Early Modern Low Countries, hg. v. Judith Pollmann/ Andrew Spicer, Farnham 2009, S. 119-135 und Werner Thomas: De mythe van de Spaanse Inquisitie in de Nederlanden <?page no="125"?> 126 Eric Piltz terdrückungs-, sondern ebenso eine Bekehrungspolitik. Diese Politik reagierte auf die Existenz religiös unentschiedener Mittelgruppen, 13 konfessionell Indifferenter und liefhebbers (Sympathisanten), und in deren Mittelpunkt stand die Rückgewinnung verlorener Seelen für die Katholische Kirche. 14 Gleichwohl kann man bereits unter der Herrschaft Karls V. von einer zunehmend rigideren Religionspolitik gegen „Häretiker“ sprechen, kulminierend im Ewigen Edikt von 1550, das die Todesstrafe für Religionsdelikte vorsah und dessen strikte Einhaltung die folgenden Edikte (= Plakate) Philipps II. zu forcieren suchten. 15 Die Einführung eines speziellen Gerichts für Glaubensfragen, das unabhängig von der Landes- oder Stadtobrigkeit operieren konnte, war in den Niederlanden bereits frühzeitig misslungen. 16 In der Folge musste die päpstlich-kaiserliche Inquisition mit der weltlichen (städtischen) Gerichtsbarkeit zusammenarbeiten. 17 In den habsburgivan de zestiende eeuw, in: BMGN 105 (1990), S. 325-353. Speziell im Rahmen des spanisch-niederländischen Krieges: Ingrid Schulze Schneider: La leyenda negra de España. Propaganda en la guerra de Flandes (1566-1584), Madrid 2008. 13 Guido Marnef: Protestant conversions in an age of catholic reformation: The case of sixteenth-century Antwerp, in: Arie-Jan Gelderblom u.a. (Hg.): The Low Countries as a crossroads of religious beliefs, Leiden/ Boston 2004, S. 33-47; ders.: Antwerp in the Age of Reformation. Underground Protestantism in a Commercial Metropolis 1550-1577, Baltimore 1996. 14 Die praktische Ausführung lag in Absprache mit den Bischöfen und Inquisitoren in den Händen der Statthalterin.Violet Soen: Geen pardon zonder paus! Studie over de complementariteit van het koninklijk en pauselijk generaal pardon (1570-1574) en over inquisiteur-generaal Michael Baius (1560-1576), Brussel 2007; Violet Soen: De reconciliatie van „ketters“ in de zestiende-eeuwse Nederlanden (1520-1590), in: Trajecta 14 (2005), S. 337-362. Zu protestantisierenden Katholiken: Guido Marnef: Tussen tolerantie en repressie: Protestanten en religieuze dissidenten te Antwerpen in de 16de eeuw, in: Hugo Soly/ Alfons K. L. Thijs (Hg.): Minderheden in Westeuropese steden (16de-20ste eeuw), Brüssel/ Rom 1995, S. 189-213, hier S. 191f. 15 Die Religionspolitik Karls V. und Philipps II. ist von normativer Seite für die Niederlande gut untersucht und kann an dieser Stelle in ihren Einzelheiten nicht dargestellt werden. Siehe dazu Jochen A. Fühner: Die Kirchen- und die antireformatorische Religionspolitik Kaiser Karls V. in den siebzehn Provinzen der Niederlande 1515-1555, Leiden 2004. Wechselhaft ist vor allem die Politik gegenüber Juden und Conversos (Marranen), die zwischen Ansiedlungs- und Handelsfreiheit und radikaler Ausweisung changierte. Hierzu Victoria Christman: Orthodoxy and Opposition. The creation of a secular inquisition in early modern Brabant, Diss. University of Arizona 2005, S. 142-227. 16 Der päpstlich anerkannte Generalinquisitor Frans van der Hulst, ein Mitglied des Rats von Brabant, wurde ob seiner Missachtung der regionalen Privilegien im September 1523 nach einem Jahr von Margarete von Österreich suspendiert. Alastair C. Duke: The ‚Inquisition‘ and the Repression of Religious Dissent in the Habsburg Netherlands 1521-1566, in: Ders.: Dissident Identities (wie Anm. 12), S. 99-118, hier S. 103f. 17 Aline Goosens: Les inquisitions modernes dans les Pays-Bas méridionaux (1520-1633), 2 Bde, Tome 2, Les victimes, Bruxelles 1998 und Fühner: Kirchen- und die antireformatorische Religionspolitik (wie Anm. 15) unterscheiden zwischen einer bischöflichen Inquisition, der weltlichen Rechtsprechung, die auf den Häresieplakaten beruht, und einer (von Kaiser Karl V. ins Leben gerufenen) päpstlichen Inquisition. Soen: Geen pardon zonder paus (wie Anm. 14) unterscheidet dagegen genauer zwischen der ‚reinen‘ päpstlichen Inquisition ohne <?page no="126"?> 127 Reinheit oder Frieden? schen Niederlanden setzte sich ein duales Prinzip durch. Gemäß diesem richtete die päpstlich-kaiserliche Inquisition ihre Aufmerksamkeit auf jene, die ‚falsche‘ Meinungen über Doktrin und Sakramente der Kirche hatten oder verbreiteten, während die weltlichen Gerichte diejenigen verfolgten, die gegen die erlassenen Edikte verstießen. Das heißt, bei Todesstrafe verboten war der Verkauf oder Besitz verbotener Bücher, die Aufführung unerlaubter Theaterstücke oder die Teilnahme an geheimen religiösen Versammlungen. 18 Was dabei stattfand war also eine zunächst arbeitspragmatische Trennung zwischen Institutionen, die aber letztlich bedeutete, dass ohne die weltlichen Gerichte in Antwerpen niemand verfolgt werden konnte. Häresie wurde nicht vor Inquisitionstribunalen verhandelt, sondern durch die weltliche Justiz, während die Inquisitoren lediglich eine beratende Rolle spielten. 19 Das System der ‚Inquisition‘ in den Niederlanden blieb von seiner Neuorganisation von 1546 bis 1576 weitgehend unverändert. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass das Label Häresie und die weltlichen Edikte zur Bewahrung der katholischen Religion in der zeitgenössischen Wahrnehmung ineinander verschwammen. 20 Der Plan zur Umstrukturierung der Bistümer ließ wachsenden Einfluss der spanischen Inquisition und eine Hispanisierung befürchten. 21 Eine Furcht, die sich auf die Person Antoine Perrenot de Granvelle richtete, enger Vertrauter Philipps II. und seit 1560 Erzbischof von Mechelen, der auch lange nach seiner Abberufung 1564 mit dem Bruch städtischer und provinzieller Privilegien identifiziert wurde. 22 Neben der Einrichtung neuer Bistümer trafen die Häresieplakate vornehmlich in Antwerpen und anderen Städten auf vehementen Widerstand. Die Anti-Häresie-Gesetze wurden nur zögerlich umgesetzt oder in zahlreichen königlichen Einfluss, die in den Niederlanden anders als die bischöfliche Inquisition wirksam blieb. Die Glaubensverfolgungen auf der rechtlichen Grundlage von Plakaten waren dagegen neu und bildeten eine Art „Staatsinquisition“. Darüber hinaus gab es noch durch Karl und Philipp ernannte „Inquisitoren“, die eine päpstliche Ermächtigung erhielten. 18 Duke: The ‚Inquisition‘ (wie Anm. 16), S. 107f. 19 Aline Goosens: Mourir pour sa foi au temps des réformes dans les Pays-Bas méridionaux, in: Wim Blockmans/ Nicolette Mout (Hg.): The World of Emperor Charles V., Amsterdam 2004, S. 227-247, hier S. 228. Insofern ist auch die Feststellung von Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa, Frankfurt a.M. 2003, S. 129, dass in den Niederlande „das dichte Verfolgungsnetz der Inquisition besonders hervorsteche […]“ allzu schematisch. 20 Duke: The ‚Inquisition‘ (wie Anm. 16), S. 102-109. 21 Joris J. Mulder: De uitvoering der Geloofsplakkaten en het Stedelijk Verzet tegen de Inquisitie te Antwerpen (1550-1566), Gent 1897, S. 45-53. 22 Beispielhaft in dem auf dem Reichstag zu Speyer im Oktober 1570 präsentierten und vermutlich von Marnix van Sint Aldegonde verfassten Libellus supplex Imperatoriae Maiestati. In englischer Übersetzung: A Defence and true declaration of the things lately done in the lowe Countrey whereby may easily be seen to whom all the beginning and cause of the late troubles and calamaties is to be imputed, London 1571, in: Martin van Gelderen (Hg.): The Dutch revolt, Cambridge 1993, S. 1-77, hier S. 25. Zu Publikation und Autorschaft ebd., S. XV-XVIII. <?page no="127"?> 128 Eric Piltz Fällen mildere Strafen verhängt als vom Landesherrn gefordert, 23 wie der Fall von Boazio zeigen wird. 24 Bereits 1550 konnte auf Drängen der Stadtherren bei Karl-V. eine Ausnahme von der strengen Umsetzung der Religionsedikte für Antwerpen und seine Kaufleute erwirkt werden. 25 Antwerpen war nichtsdestotrotz kein sicherer Hafen, zumal die Konflikte um die Umsetzung der Edikte nicht den Rückschluss zulassen, dass der Magistrat damit das Recht der Protestanten auf Ausübung ihres Glaubens verteidigte. Nach Berechnungen von Aline Goosens wurden in den Südlichen Niederlanden zwischen 1520 und 1555 1.473 Hinrichtungen aus Glaubensgründen durchgeführt. 26 Von 1540 bis 1566 wurden 2.690 Verurteilungen ausgesprochen, davon 470 Hinrichtungen. 27 In den Jahren 1561 bis 65 ist der prozentuale Anteil von Hinrichtungen in den Urteilen zurückgegangen, absolut ist aber eine Zunahme zu verzeichnen. Gerade im Vergleich mit Brüssel, wo im Zeitraum von 1555 bis 1567 ‚lediglich‘ drei Hinrichtungen wegen Häresie stattfanden, nehmen sich die Antwerpener Zahlen beachtlich aus. 28 Guido Marnef hat für Antwerpen für den Zeitraum von 1550 bis 1566 14 Hinrichtungen von Calvinisten gegenüber 117 von Täufern belegt - wobei klar sein muss, dass diese Einteilung den zeitgenössischen Zuschreibungen folgt 23 So die Conclusio von Christman: Orthodoxy and Opposition (wie Anm. 15), S. 318. Drei Gründe führt sie dafür an: Erstens widerstrebten der Stadtobrigkeit die Zentralisierungsbemühungen des Landesherrn, zweitens der wirtschaftliche-finanzielle Aspekt, drittens bestünde laut Christman die Frage, inwiefern eine bewusste Tolerierungspolitik am Werk war. Regelrechte Toleranz darin zu sehen, wäre allerdings verfehlt. Alfons K.L. Thijs: Minderheden te Antwerpen (16de/ 20ste eeuw), in: Soly/ ders.: Minderheden (wie Anm. 14), S. 17-42, hier S. 29f. widerspricht der Annahme einer prinzipiellen „verdraagzaamheid“ und spricht eher von einer selektiven „Toleranz“. Vgl. Benjamin J. Kaplan: Divided by faith. Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe, Cambridge, Mass./ London 2007, S. 143. 24 Einen vergleichbar abwägend-überlegten Umgang des Stadtrats mit einem ‚eigensinnigen Abweichler‘ zeigt das Basler Beispiel des Antoine Lescaille, wie es Tim H. Deubel in diesem Band untersucht. 25 Mulder: De uitvoering der Geloofsplakkaten (wie Anm. 21), S. 12f.; Guy Edward Wells: Antwerp and the government of Philip II: 1555-1567, Ann Arbor/ Mich. 1982, S. 41-44, S. 306-349. 26 Nach Schätzungen wurden zwischen 1523 und den 1560er Jahren in Europa ca. 3.000 Menschen wegen Häresie verurteilt, die meisten davon in den Grenzen des heutigen Deutschland, den habsburgischen Niederlanden, in Frankreich und in England unter Königin Mary Tudor. William Monter: Heresy Executions in Reformation Europe, 1520-1565, in: Ole Peter Grell/ Robert Scribner (Hg.): Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996, S. 48-64. Siehe dazu unter Hinzuziehung neuerer Literatur Duke: The ‚Inquisition‘ (wie Anm. 16). Die Zahlen sind, so hilfreich sie als grobe Dimensionierung sein mögen, höchst fragwürdig, zumal Monter nicht angibt, auf welcher Grundlage er sie generiert. 27 Goosens: Les inquisitions modernes (wie Anm. 17), S. 104. Der vom Herzog von Toledo Alba einberufene Rad van Beroerten oder Conseil des Troubles (auch Blutgericht genannt) sprach ab 1567 dann 1.100 Todesurteile aus. 28 Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 320. Zu Brüssel Verheyden: Le Martyrologe Protestant des Pays Bas du Sud au XVI ème siècle, Bruxelles 1960, S. 226-228. <?page no="128"?> 129 Reinheit oder Frieden? und sie etwaige Unterschiede in täuferischen Strömungen oder gegenüber spiritualistischen Einflüssen ignoriert. 48 Calvinisten wurden gegenüber 42 Täufern in diesem Zeitraum verbannt. 29 In den Jahren 1562 (27 Fälle), 1563 (8), 1564 (7) und 1565 (3) ist allerdings eine deutliche Abnahme von Verfolgungen in Religionsdelikten auszumachen. 30 Vor dem Hintergrund dieses Rückgangs fallen die beiden hier zu verhandelnden Einzelfälle in der ersten Hälfte der 1560er Jahre besonders ins Gewicht und machen es notwendig, verstärkt nach dem individuellen Handlungs- und Wahrnehmungskontext der Akteure zu fragen. 31 Bei der Umsetzung landesherrlicher Religionsedikte waren jeweils lokale Herrschaftsstrukturen, Rechtsgebräuche und Privilegien wirksam. 32 Der Status der Privilegien blieb mehrdeutig und „subject to the ability of the Antwerpers to maintain it in specific instances.“ 33 Antwerpens hoher Autonomiegrad wurde schriftlich verbürgt in der sogenannten Joyeuse Entrée oder Blijde Inkomst von 1356. Diese Art ‚Magna Charta‘ der städtischen und provinziellen Rechte wurde bei den gleichnamigen feierlichen Herrschereinzügen zeremoniell erneuert. 34 Ein Teil dieser Privilegien betraf auch die Gerichtshoheit, nach der sich alle innerhalb der Stadt verhafteten Personen zunächst vor dem höchsten städtischen Gericht, der Hooger Vierschar, zu verantworten hatten. 35 Der Gerichtsort war mit dem Ort der Festnahme definiert. 36 Kriminalprozesse konnten nur vom Schout (i.e. 29 In ähnlicher Häufigkeit (bei 45 Calvinisten und 40 Täufern) kommen Flucht, Entlassung, Pardons und ein unbekannter Verhandlungsausgang vor. Marnef: Antwerp in the Age of Reformation (wie Anm. 13), S. 84. 30 Dies trifft en Gros auch für andere urbane Zentren der südlichen Niederlande zu wie Gent, Tournai, Brügge und Brüssel. Vgl. Verheyden: Le Martyrologe (wie Anm. 28); Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 349 und Tijdordelijke tafel der namen van personen te Antwerpen in de XVI e eeuw voor het „feit van religie“ gerechterlijk vervolgd, in: Pierre Génard (Hg.): Antwerpsch Archievenblad, Bd. XIV, Antwerpen 1889, S. 1-103. In der Folge Zitation der Bde. I-IX, 1878-1884, mit Sigel AA. 31 Was die soziale Herkunft von Verfolgten angeht, so wiederholt sich generell auch hier das Muster Täufer = untere Schichten, Calvinisten = Mittelschicht. Zur Aufschlüsselung der Berufsstruktur vor 1585 detailliert Jan van Roey: De correlatie tussen het sociale-beroepsmilieu en de godsdienstkeuze te Antwerpen op het einde de XVI e eeuw, in: Bronnen voor de religieuze geschiedenis van België. Middeleeuwen en Moderne Tijden. Bibliothèque de la Revue d’Histoire Ecclésiastique 47 (1968), S. 239-257. 32 Für Brabant und Antwerpen zusammengestellt in: G. de Longé (Hg.): Coutumes du Pays et Duché de Brabant. Quartier Anvers, 6 Vol., Brüssel 1870-1876. Der Unterschied zwischen Privileg und Costumen war verwischt. Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 76. 33 Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 77f. 34 Siehe dazu Margit Thøfner: A common art: urban ceremonial in Antwerp and Brussels during and after the Dutch revolt, Zwolle 2007, S. 37-57. 35 Die nach wie vor klarste und beste Darstellung der Herrschaft über und in der Stadt bietet Wells: Antwerp (wie Anm. 25). Zum Antwerpener Gerichtswesen Wim Meewis: De vierschaar. De criminele rechtspraak in het oude Antwerpen van de veertiende tot het einde van de achttiende eeuw, Kapellen 1992. 36 Consuetudines Antiquissimae, in: Stadsarchief Antwerpen (SAA), V 4 Consuetudines antiquae, costuymen anno 1545 te hove overgesonden; Antiquissimae I, S. 49; Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 79. <?page no="129"?> 130 Eric Piltz Schultheiß) oder dem Onderschout angestrengt werden. Diese Funktion hatte der Markgraf des Land van Rijen inne, des die Stadt und die ‚Freiheit‘ umgebenden Gebietes. Er nahm damit eine Mittlerrolle ein zwischen der spanischen Landesherrschaft und seiner Brüsseler Vertretung und dem städtischen Magistrat, vor dessen Schöffen auch die Verhandlungen geführt wurden. 37 Von 1554 bis 1574 fungierte Jan van Immerseel als Schout, der auch die Prozesse gegen Boazio und Fabritius leitete. 1562 hatte der Antwerpener Magistrat mit Verweis auf die Tradition festgestellt, dass seit 1529 weder die Bischöfe von Cambrai oder Lüttich noch die kaiserlich-päpstlichen Inquisitoren jemals die Rechtsprechung über Häresiefälle im Herzogtum Brabant innegehabt hätten. 38 Die Verfolgung von Religionsdelikten bzw. ihre Kriminalisierung war in Antwerpen, wie oben bereits angedeutet, institutionell eine weltliche Angelegenheit. Klar ist allerdings, dass es sich ausgehend vom „Befund einer fundamentalen religiösen Imprägnierung des Rechts“ 39 in der Mehrzahl ohnehin um ‚delicta mixta‘ handelte, die sich einer klaren Zuordnung entzogen. 40 Wie stark die normative Seite vom Primat einer religiösen Reinheit geprägt war, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Prozessionen. 41 Die Mandate, die zu ihnen aufriefen, appellierten an die Reue der Menschen für ihre Sünden und die Gnade Gottes, der Herr möge seinen Zorn für ihre Sünden und Missetaten abwenden („Syne gramschap van ons wille keeren“). 42 Nach 1559 ist ein deutlicher Rückgang in der Häufigkeit von Prozessionsmandaten mit entsprechenden Verweisen auf die Reinheit der Stadt und den Zorn Gottes zu verzeichnen. 43 Hierin ließe sich auch eine vorsichtigere Haltung des Magistrats ablesen, um bei der wachsenden Präsenz protestantischer Bekenntnisse keine Störung des städtischen Friedens zu provozieren. 44 37 Dazu Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 80-101; Jan Vanroelen: Het Stadsbestuur, in: Antwerpen in de XVIde eeuw (wie Anm. 2), S. 37-54. Zum Markgraf/ Schout Meewis: De vierschaar (wie Anm. 35), S. 43-54. 38 Duke: The ‚Inquisition‘ (wie Anm. 16), S. 106. 39 Albrecht Burkardt/ Gerd Schwerhoff: Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit - eine Standortbestimmung, in: dies. (Hg.): Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit, Konstanz 2012, S. 9-55, hier S. 49. 40 Die Debatte knapp darstellend ebd., S. 42-51. 41 Vgl. auch die Einleitung in diesem Band. 42 Prozessionsmandat vom 15. Januar 1551, SAA, Gebodboeck, vol. B, fol. 140. AA II, S. 341f. Erneute Anordnung einer Prozession am 5. Februar 1551; SAA, Gebodboeck, vol. B. fol. 140v. Die Rechtsammlung der Coutumes ist zwar voller Verweise auf Gottes Beistand; Gottes Zorn oder die Figur des strafenden Gottes findet sich dagegen darin nicht. Longé: Coutumes (wie Anm. 32). Die Durchsicht erfolgte mit Hilfe der von der Universiteit Leuven besorgten Online-Edition: Katholieke Universiteit Leuven, Jos Monballyu: Recht uit de Lage Landen/ Brabants Recht, https: / / www.kuleuven-kulak.be/ facult/ rechten/ Monballyu/ Rechtlagelanden/ Brabantsrecht/ brabantsrechtindex.htm, zuletzt abgerufen am 03.10.2012. 43 Im Zeitraum von 1551-55: 8 Prozessionsmandate, 1556-1559: 13, von 1560-65: 4. Nach Index der Gebodboeken, in: AA I, S. 120-405. 44 „Primäres Ziel der Rechtsprechung war die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Stadtfriedens.“ Joachim Eibach: Institutionalisierte Gewalt im urbanen Raum: ‚Stadtfrieden‘ in Deutschland und der Schweiz zwischen bürgerlicher und obrigkeitlicher Regelung <?page no="130"?> 131 Reinheit oder Frieden? Zudem war das wirtschaftliche Wachstum Antwerpens abhängig von Immigranten. Von 1526 bis 1542 lässt sich ein jährliches Mittel von 2.000 Immigranten feststellen. Von 1541 bis 1550 trugen sich 3.000 Personen in die Neubürgerlisten ein. 45 Das Interesse des Magistrats lag folglich auch weniger auf rigoroser Verfolgung religiöser Abweichung als in der Erhaltung der wirtschaftlichen Srärke der Stadt, zu der maßgeblich fremde und auch nicht-katholische Kaufleute und Händler beitrugen. 46 Die Prosperität der Stadt war durch den spanisch-französischen Konflikt und zusätzlich durch die 1563/ 64 von der Regentin verordnete Blockade gegen englische Schiffe ohnehin gefährdet. 47 Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass sich die Ordnungssituation grundsätzlich beruhigte. Zwischen 1561 und 1565 ist in der Strafverfolgung Antwerpens ein radikaler Anstieg im Bereich der Delikte zu verzeichnen, die als Vergehen gegen die Sicherheit und die öffentliche Ordnung eingestuft wurden. Lag die Rate 1561 bei 75 verzeichneten ‚misdaden‘, so sind es 1565 320, um dann bis 1574 kontinuierlich auf 40 abzufallen. 48 Das Strafregister des Correctieboek im Zeitraum von 1550 bis 1564 zeigt zudem einen leichten Rückgang von Buß- und Schandstrafen (Wallfahrten, Besuch der Messe, Kerzentragen, Schandpfahl), von denen von 1550-1554 24 Strafen verhängt wurden, von 1555-1559 21, in (15.-18. Jahrhundert), in: Claudia Ulbrich u.a. (Hg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005, S. 189-205, hier S. 194. Dieser Befund trifft auch für Antwerpen zu. 45 An Kint: Becoming Civic Community: Citizenship in Sixteenth-Century Antwerp, in: Marc Boone/ Maarten Prak (Hg.): Statuts individuals, statuts corporatifs et statuts judiciaries dans les villes européennes (moyen âge et temps modernes), Leuven/ Apeldoorn 1996, S. 157-169. hier S. 160; Clé Lesger: Migrantenstromen en economische ontwikkeling in vroegmoderne steden. Nieuwe burgers in Antwerpen en Amsterdam, 1541-1655, in: Stadsgeschiedenis 1 (2006) 2, S. 97-121, hier S. 103. 46 Kint: Becoming Civic Community (wie Anm. 45), S. 160. Um 1560 gab es unter den Kaufleuten 450 Spanier und Portugiesen, 200 Italiener, 300 Deutsche, 100 Franzosen und 50 Engländer, die den Export und die Finanzwelt dominierten. Vgl. Lesger: Migrantenstromen (wie Anm. 45); Thijs: Minderheden (wie Anm. 23), S. 23. Nichtsdestotrotz, so wird am Beispiel von Christoffel Fabritius deutlich werden, nimmt die Stadt auch einen aktiven Part in der Verfolgung ein und wird v.a. von protestantischer Seite als deren Protagonist gesehen. 47 George D. Ramsay: The queen's merchants and the revolt of the Netherlands. The End of the Antwerp mart, Part II, Manchester 1986, S. 13. Es zeigte sich, dass sich England über Emden neue Absatzmärkte für Tuche und Wolle erschließen konnte, was Antwerpen empfindlich traf. 48 Hilde Brouwers: De Kriminaliteit te Antwerpen in de zestiende eeuw (unveröff. Licentiatsarbeit), Leuven 1965, siehe Anhang, o.S. Diese Zahlen sind jedoch im Zusammenhang mit dem zentralen Gericht des Rats von Brabant zu sehen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts haben die städtischen Gerichte die Verfolgung von Kriminalität monopolisieren können. Mitte des 16. Jahrhunderts verzeichneten die Antwerpener Strafregister 60% aller Fälle. Maarten van Dijck: Towards an economic interpretation of justice? Conflict settlement, social control and civil society in urban Brabant and Mechelen during the late Middle Ages and the early modern period, in: ders. u.a. (Hg.): Serving the urban community. The rise of public facilities in the Low Countries, Amsterdam 2009, S. 62-88, hier S. 75. Zur Organisation des Rates von Brabant Arthur Gaillard: Le conseil de Brabant. Histoire, Organisation, Procédure, 3 Bde, Brüssel 1898-1902. <?page no="131"?> 132 Eric Piltz den hier im Fokus stehenden Jahren 1560-64 nur noch 9. 49 Strafverschärfend wirkte dagegen die Galeerenstrafe. 1556, 1558 und 1559 ergingen von Philipp II. Verordnungen, die eine verstärkte Anwendung der Galeerenstrafe zum Ziel hatten. Diese erlebte in den 1560er Jahren einen deutlichen Anstieg 50 und stand in engem Zusammenhang mit dem spanisch-osmanischen Konflikt im Mittelmeer. 51 Diese fand für Bettler und Vagabunden Anwendung, ebenso an Stelle der Todesstrafe bei Majestätsbeleidigung, Ketzerei, Mord und Sodomie, während sich beim Stadtverweis ein Rückgang feststellen lässt. 52 Was an dieser Stelle angedeutet werden kann, ist ein paralleler Rückgang von religiöser Verfolgung bis 1566 in der Stadt bei einer partiellen Strafverschärfung in hochgerichtlichen Prozessen, die zugleich das Aufeinanderwirken von landesherrlicher und städtischer Politik aufzeigen. Lohnenswert wären daher weitere Studien, die einen Vergleich unternehmen von Delikten und deren Zuschreibungen im Strafverfahren, die Abweichungen in profanem Sinne als kriminell und/ oder als konfessionell deviant klassifizieren. 53 Die Modi solcher Zuschreibungen im Kräftefeld der Herrschaftsträger lassen sich dementsprechend vor allem anhand von Einzelfällen und den darin zu findenden Argumentationsmustern nachzeichnen, was im Folgenden geschehen soll. 49 SAA, V 235, Correctieboek 1513-1568. Clara Sterzinger sei für Hilfe bei der Auswertung herzlich gedankt.Vgl. Paul De Win: De schandstraffen in het wereldlijk strafrecht in de Zuidelijke Nederlande van de Middeleeuwen tot de Franse Tijd bestudeerd in Europees perspectief, Brüssel 1991. 50 Fernand Vanhemelryck: De galeistraf in enkele grote Brabantse steden, in: Eigen schoon en de Brabander 86 (2003), S. 149-185, hier S. 156; Tabelle S. 164. 51 Siehe Geoffrey Parker: The Dutch Revolt and the Polarization of International Politics, in: ders.: Spain and the Netherlands, 1559-1659. Ten Studies, London 1979, S. 65-81, hier S. 67: „foreign affairs in the 1560s were dominated by the Ottoman Turks.“ Bestätigt wird dies durch den zeitgleichen verstärkten Einsatz der Galeerenstrafe in Spanien, zumal Goosens schlussfolgert, „que les sentences étaient prononcées plus en raison de circonstances extérieures que de la gravité des opinions émises par l’accusé.“ Goosens, Les inquisitions, II (wie Anm. 17), S. 188. 52 1550-54: 364 Stadtverweise, 1555-59: 412, 1560-64: 253. SAA, V 235. 53 Den Brückenschlag von klassischer konfessioneller Devianz und der Etikettierung von Delikten wie Bettelei, Hurerei, Trunksucht etc. als gottlos will gerade das Dresdner Projekt „Gottlosigkeit und Eigensinn“ im Sonderforschungsbereich 804 leisten. Vgl. Gerd Schwerhoff: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit, in: Hans Vorländer (Hg.): Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2010, S. 58-63. Dazu auch die Tagung „Religiöse Devianz. Praktiken und Diskurse im konfessionellen Zeitalter“, Dresden 2012. Tagungsbericht: H- Soz-u-Kult, 12.04.2012, online: http: / / hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/ id=4193. Annette Scherer kann in ihrem Beitrag in diesem Band die deliktspezifischen Etikettierungen im Rechtsverfahren zeigen. Übergreifende Deliktvergleiche, wie sie Herman Roodenburg für die Kirchenzucht vorgenommen hat, sind für Antwerpen bislang nicht unternommen worden. Herman Roodenburg: Onder censuur: de kerkelijke tucht in de gereformeerde gemeente van Amsterdam, 1578-1700, Hilversum 1990. <?page no="132"?> 133 Reinheit oder Frieden? II. Entdramatisierung: Der Fall Agostino Boazio Als der Genueser Kaufmann Agostino Boazio 54 1563 in Antwerpen unter dem Verdacht der Häresie verhaftet wird, hat er bereits eine Odyssee hinter sich. 55 Von seiner Herkunft aus Genua, wo er 1530 geboren wurde, erfahren wir aus mexikanischen Inquisitionsakten. 56 1558 wird er vom Priester und Vikar der örtlichen Mine, Juan Bautista de Lomas, vor dem örtlichen Inquisitionstribunal angeklagt, häretische Ansichten zu verbreiten. 57 Er habe die Idee des Fegefeuers und die Erbsünde verworfen. Zudem habe er ständig ein Buch in Toskanisch mit sich herumgetragen, von dem der Zeuge Alonso de Ayala überzeugt war, dass es häretische Gedanken enthielte. 58 Ayala sagte weiter aus, dass Boazio meine, die Ausgaben der Kirche verstießen gegen das Gebot der Armut, Priester sollten heiraten und es reiche, seine Sünde direkt gegenüber Gott zu beichten. Das Papsttum sei sündig und korrupt und könne keinen Gehorsam verlangen wie auch der religiöse Wert der Messe nur gering sei. Ein anderer Zeuge hielt Boazio nicht für einen Christen sondern einen Lutheraner, was als Sammelbezeichnung und stereotype Zuschreibung für häretische Positionen und weniger eine klare konfessionelle Zuordnung gelten muss. 59 Boazio stritt dies ab und zieht sich auf 54 Andere zeitgenössische Schreibweisen sind Boasio, Boatio, Boacio oder Bohazio. 55 Arthur Gordon Kinder: Agostino Boazio: A Genoese Protestant’s Adventure with the Spanish Inquisition, in: Mediterranean Studies 5 (1995), S. 51-61. Kinder verwendet hauptsächlich die Bestände folgender Archive: Archivo General de Simancas; Archivo Histórico Nacional Madrid; Archivo General de La Nación Mexico City. 56 Richard A. Greenleaf: The Mexican Inquisition of the Sixteenth Century, Albuquerque 1969, S. 97-103. Von Cadiz hatte er 1557 mit seinem Bruder in die Neue Welt nach Neuspanien eingeschifft, wo er in Zacatecas in Neugalicien als Händler und Ladenbesitzer tätig war. Wenige Jahre zuvor war hier Silber gefunden worden. Zacatecas war eine der großen Silberstädte des 16. Jahrhunderts. 57 Die spanische Krone stattete den lokalen Klerus mit inquisitorischen Vollmachten aus, Bischöfe sollten das Tribunal des Heiligen Offiziums stellen, aufgrund des Klerikermangels wurde dies mit päpstlicher Erlaubnis Missionaren anvertraut. Erst 1569 ersetzte Philipp II. die apostolische Inquisition durch ein unabhängiges Tribunal, deren erster Inquisitor Pedro Moya de Contreras erst zwei Jahre später eintraf. Eingeschränkt war die Autorität der mexikanischen Inquisition dadurch, dass sie nicht über die indigene Bevölkerung richten durfte. Siehe dazu Javier Villa-Flores: Dangerous Speech: A Social History of Blasphemy in Colonial Mexico, Tucson 2006, hier S. 5f. 58 Tatsächlich war es eine Schrift von Savonarola, die Boazio von einem maurischen Seemann erhalten hatte und von der er angab, sie nur seines Heimatdialekts wegen zu besitzen und, sollte das Buch wider sein Wissen häretische Ansichten enthalten, sie wieder abgeben zu wollen. Jetzt zu Savonarola: Donald Weinstein: Savonarola. The Rise and Fall of a Renaissance Prophet, New Haven/ London 2011, zur posthumen Rezeption, in der der Florentiner Prophet auch für die Gegenreformation eine hagiographische Umdeutung erfuhr ebd., S. 298-310. 59 Die Gegenüberstellung Christ - Lutheraner war in Spanien auch noch üblich, als der Calvinismus in den spanischen Territorien Einfluss gewann und die religiöse Landschaft wesentlich komplexer geworden war. Clive Griffin: Journeymen-Printers, Heresy, and the Inquisition in Sixtheenth-Century Spain, Oxford 2005, S. 104. <?page no="133"?> 134 Eric Piltz praktische Argumente zurück. So halte er sein Geschäft an Sonn- und Feiertagen lediglich offen, um seiner Pflicht nachkommen zu können, seine Familie zu ernähren. 60 Nach schließlich zweimaliger Verhaftung, Zeugenverhören und mehrmonatiger Haft sollte Boazio abschwören und wird bei einer Geldstrafe von 60 Goldpesos aus Neuspanien ausgewiesen. 61 Nach weiteren fünf Monaten im Gefängnis 62 wird er nach einem abermaligen Verfahren zu lebenslanger Haft verurteilt und im April 1560 auf ein Schiff nach Sevilla gebracht. 63 Bei einem Sturm vor den Azoren gelingt ihm die Flucht an Land, worauf er einige Zeit in Portugal verbringt. Nach Stationen in Frankreich taucht er schließlich in Antwerpen auf. 64 In dem Netz an Informanten und Spionen, das in Antwerpen und den Niederlanden existierte und für die Informations- und Wissenspolitik des spanischen Hofes (in Brüssel wie in Madrid) von zentraler Bedeutung war, 65 verfing sich auch ein Brief Boazios, den der spanische Botschafter in England im September 1561 an Philipp schickte. 66 Dennoch dauerte es gut zwei Jahre, bis Boazio im September 1563 verhaftet und vor der Hooger Vierschar verhört wurde. 67 Konkret vorgeworfen wurde ihm in der weiteren Verhandlung am 6. Oktober der Besitz verbotener Bücher, die man bei seiner Festnahme gefunden hatte. 68 Die Anmerkung auf dem Blattrand 60 Kinder: Agostino Boazio (wie Anm. 55), S. 53. 61 Ebd., S. 54. 62 Eine Schilderung davon bei seinem Mithäftling [Robert Tomson]: The voyage of Robert Tomson, Marchant, into Nova Hispania in yeere 1555, ediert in: G.R.G. Conway (Hg.): An Englishman and the Mexican Inquisition, 1556-1560 being an account of the voyage of Robert Tomson to New Spain, his trial for heresy in the city of Mexico and other contemporary historical documents, Mexico City 1927, S. 11-13. 63 Grund dafür war u.a., dass er bei der Überprüfung seiner Katholizität weder die Glaubensformel noch das Salve Regina kannte. Seine Güter wurden konfisziert. Im März 1560 trug er beim ‚auto de fé‘ das Sünderhemd (sanbenito). Ebd. S. 12. 64 SAA, V 137. 65 Informelle Berichte und Spionagenetzwerke wurden für die Regentin wichtiger, um verlässliche Informationen über die religiösen Abweichungen in der Stadt zu erhalten. Beispielhaft zum Spion der Herzogin Philippe d’Auxy: Leon van der Essen: Les progrès du lutheranisme et du Calvinisme dans le monde commercial d’Anvers et l'espionnage politique du marchand Philippe Dauxy, agent secret du Marguerite de Parme, 1566-67, in: VSWG 12 (1914), S. 152-234; A.A. van Schelven: Verklikkers-Rapporten over Antwerpen in het laatste Kwartaal van 1566, in: Bijdragen en Mededelingen van het historisch genootschap 50 (1929), S. 238- 320. 66 Brief von Boazio an Melchior Vaez d’Azevedo, abgedruckt in engl. Übersetzung bei Kinder: Agostino Boazio (wie Anm. 55), S. 61; AA IX, S. 155. 67 SAA V 137, o.P.; AA 9, S. 153-160. 68 AA 9, S. 155. Die Bedeutung von Buchbesitz für die Inquisition ebenso wie von Buchläden als Orte der Delinquenz zeigen für Venedig im 17. Jahrhundert Federico Barbierato: The Inquisitor in the Hat Shop. Inquisition, Forbidden Books and Unbelief in Early Modern Venice, Farnham 2012, und für Spanien im 16. Jahrhundert Griffin: Journeyman-Printers (wie Anm. 59). Dass Besitz und Verbreitung verbotener Bücher gefährlich waren, zeigt die öffentliche Hinrichtung des Druckers Franz Fraet in Antwerpen im Januar 1558 wegen des Drucks und Verkaufs aufrührerischer Bücher. AA VIII, S. 442 und 445. <?page no="134"?> 135 Reinheit oder Frieden? des Verhörs von Boazio als „accusatus et relapsus in hæresim, habens vetitos libros“ 69 weist diesen als Wiederholungstäter aus. 70 Als Beweise fungierten mehrere indizierte Titel. 71 Ein Buch, Il sommario de la sacra Scrittura, 72 habe er vor vier Monaten zur Mittagszeit auf einem Friedhof der Frauenkirche bei einem Händler erstanden, der alte Bücher verkaufte. Da man es öffentlich anbot, habe er es nicht für ein schlechtes Buch gehalten. 73 Zunächst sah es nach einer klaren Verurteilung Boazios aus. Am 12. November 1563 schrieb Margarete von Parma an den König, dass der Markgraf ihr nunmehr mitgeteilt habe, dass ausreichend Gründe vorlägen, um Boazio zur Galeerenstrafe zu verurteilen. 74 Sie habe ihm eine schnelle Verurteilung aufgetragen, dabei die Ausführung der Strafe aber abzuwenden und Boazio stattdessen auf Wunsch des Königs in die Hände des königlichen Spions Alonso del Canto zu geben. 75 Der Magistrat der Stadt folgte jedoch nicht der Forderung aus Spanien, Boazio auszuliefern, obgleich seine Vorgeschichte bekannt war und er selbst im Verhör seine zweimalige Verhaftung durch die mexikanische Inquisition gestanden hatte. 76 Die Vorgeschichte Boazi- 69 AA IX, S. 156, 5. November 1563. 70 „relapsus“ heißt, er ist wiederholt vom Glauben abgefallen (lapsus). Zur kategorialen Einordnung der relapsi siehe Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit: Relevanz - Formen - Kontexte, in: Hartmut Laufhütte/ ders. (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, S. 5-118, S. 20f. 71 Es handelte sich um ein Neues Testament in Spanisch, gedruckt in Venedig, einen Katechismus in Spanisch ohne Autor oder Druckerangangabe, ein Buch mit dem Titel: ‚Prediche di Bernardini Ochino, Senense‘ (ohne Ort und Drucker), Psalmen Davids (aus Venedig), die ihm von einem Mailänder überlassen worden seien. Siehe Christiaan Sepp: Verboden Lectuur. Een Drietal Indices Librorum Prohibitorum, Leiden 1889, S. 18-20. Zu Bernardo von Ochino, dessen ‚Dreißig Dialoge‘ das Recht der Kirche bestritten, Ketzer zu bestrafen siehe Karl von Benrath: Bernardo von Ochino, Leipzig 2 1892, S. 252f. 72 Dabei handelt es sich um eine italienische Übersetzung der ‚Summa der godliken Schrifturen‘, die bereits 1524 durch ein kaiserliches Plakat verurteilt wurde. Sepp: Verboden lectuur (wie Anm. 71), S. 19. Siehe dazu auch Karl von Benrath: Die Summa der Heiligen Schrift. Ein Zeugniß aus dem Zeitalter der Reformation für die Rechtfertigung aus dem Glauben, Leipzig 1880. 73 AA IX, S. 155f. 74 Am 5. November 1563 vermerkte der Markgraf eine Verurteilung „ad triremes 12 annos“. AA IX, S. 156. 75 Margarate von Parma an Philip, in: Louis Prosper Gachard (Hg.): Correspondance de Philippe II sur les affaires des pays bas. Publ. d'après les originaux conservés dans les archives royales de Simancas et préc. d'une notice hist. et déscript. de ce célèbre depot, Bd. I [künftig abgekürzt als: CP], Brüssel 1848, S. 169, 273. Zu del Canto, der mit Lorenzo de Villavicencio seit den 1550er Jahren ein Spionagenetzwerk zwischen den Niederlanden, Frankreich und England aufgebaut hatte Gabrielle Dorren: Lorenzo de Villavicencio en Alonso del Canto. Twee Spaanse informanten over de Nederlandse elite (1564-1566), in: Tijdschrift voor geschiedenis 111 (1998), S. 352-376; Arthur Gordon Kinder/ R. W. Truman: The Pursuit of Spanish Heretics in the Low Countries: the activities of Alonso del Canto, 1561-1564, in: Journal of Ecclesiastical History 30 (1979), S. 65-93. 76 AA IX, S. 153. Am 5. November 1663 wird vermerkt, Boazio sei bereits früher „ob causam hereseos“ durch die spanische Inquisition verurteilt worden. AA IX, S. 156. <?page no="135"?> 136 Eric Piltz os und eine damit erwartbare Stigmatisierung als notorischer Ketzer spielten letztlich in der Bewertung des Falles in Antwerpen eine untergeordnete Rolle, wenn auch der Druck, der von Spanien und Brüssel auf den Markgrafen und den Magistrat zur Festnahme und Auslieferung Boazios ausgeübt wurde, den Stein erst ins Rollen gebracht hatte. Philipps abermaliger Versuch, die Auslieferung Boazios anzuordnen kam zu spät. 77 Gegenüber seiner Schwester äußerte er am 30. Juli 1564 deutlich seine Unzufriedenheit über die Untätigkeit des Markgrafen in dieser Angelegenheit, 78 während Kardinal Granvelle (in einem Brief an den König) Margarete bereits vorgeworfen hatte, diese habe nicht ausreichend für Boazios Festnahme gewirkt. 79 Die allseitige Frustration änderte jedoch nichts am Ergebnis. Boazio konnte, wenn man dem Bericht Alonso del Cantos Glauben schenkt, seine Güter in die nördlichen Provinzen verschiffen. Er selbst ging nach London, wo er als Mitglied der italienischen protestantischen Gemeinde wieder auftaucht. 80 An seiner abweichenden Haltung vom katholischen Glauben konnte somit kein Zweifel bestehen, die von außen herangetragenen Diffamierungen schlugen aber in den Mühlen des Prozesses nicht in eine Kriminalisierung um. Die ausgeprägte Sorge und das Bemühen Philipps’ Boazios habhaft zu werden, lässt sich auch vor dem Hintergrund der in Spanien um sich greifenden luterano-Hysterie näher verstehen. Vor allem die Aushebung der reformierten Zellen in Valladolid und Sevilla 1557 und 1558 und die anschließenden autos de fe dürften nicht unwesentlichen Einfluss auf die gefühlte Bedrohungslage von 77 CP, S. 286. Er bekräftigt darin, dass ihm keine Sache so am Herzen liegen wie die Sorge um die Religion. Abermals eine Anweisung am 19. Februar, ebd., S. 287. Ebenso wurde der von ihm verlangten Absetzung des Markgrafen nicht Folge geleistet. 78 „j’avois eu du maigre debvoir qu’il avoit monstré en la cause de Boazio“ … „en cas que vous ne trouviez émandation et milleur office en luy, vous ne délaissez de l’appeller par-devant vous et luy déclairer que j’entens qu’il le face, ou que autrement je seray tenu d’y pourveoir.“ Philipp an Margarete, in: Louis Prosper Gachard (Hg.): Correspondance de Marguerite d’Autriche duchesse de Parme avec Philippe II [künftig abgekürzt als: CM], Bd. 3, 6 Juillet 1563 - 3 Février 1565, Brüssel 1881, S. 399. Der Markgraf Jan van Immerseel nahm dabei eine Mittlerfunktion ein, dessen Zuverlässigkeit von Philipp und Margarete deutlich in Zweifel gezogen wurde. Philipp an Margarete vom 23.04. 1564, in: CP I, S. 299; Margareta an Philipp, 29.03.1563/ 4, in: CM III, S. 298. 79 Granvelle an Philipp II., in: ebd., 09. Mai 1563. 80 George D. Ramsay: The City of London in International Politics at the Accession of Elizabeth Tudor, Manchester 1984, S. 184f. Del Canto erwähnt Boazio in seiner Kostenaufstellung. Arthur Gordon Kinder: Un documento interesante sobre la persecución de herejes españoles en Flandes: los gastos del contador Alonso del Canto entre 1561 y 1564, in: Diálogo Ecuménico XXV, 81 (1990), S. 67-86, hier S. 71 und S. 82. <?page no="136"?> 137 Reinheit oder Frieden? spanisch-königlicher Seite gehabt haben, 81 die noch bestärkt wurde durch die zahlreichen Hugenotten, die 1562 in Antwerpen Zuflucht genommen hatten. 82 Von städtischer Seite ergeben sich mehrere Gründe für die besondere Behandlung Boazios: zum Ersten seine gute Beleumundung durch wichtige Kaufleute 83 und sogar durch den Bischof von Groningen, der ihm eine gute katholische Haltung bescheinigte. 84 Zum Zweiten spielt ihm seine enge Vernetzung mit den für das Banken- und Börsengeschäft wichtigen Genueser Kaufleuten 85 in einer politischen Großwetterlage in die Hände, in der im Konflikt mit dem elisabethanischen England und der drohenden Ausweisung der merchant adventurers die Stadt vor weiteren Schritten zurückschreckte, die diese zum Weggang aus der Stadt bewegen konnten. Allein schon die Tatsache, dass der Magistrat ein Verfahren gegen ihn anstrengt, anstatt der Forderung nach einer sofortigen Auslieferung nachzukommen, spiegelt die Kompetenzstreitigkeiten. Die Beschränkung auf Beweise und Zeugenaussagen, die das Verfahren selbst gezeitigt hatte, zeigt, dass die Stadtobrigkeit in der politischen Akteurskonstellation darum bemüht war, nicht nur in Religionsangelegenheiten weiterhin die Oberhand zu bewahren, sondern ihrer Gerichtshoheit im Generellen gerecht zu werden. 86 81 Vgl. Griffin: Journeymen-Printers (wie Anm. 59), S. 4f. und Henry Kamen: Philip of Spain, New Haven/ Conn. 1998, S. 80. In den Jahren 1562/ 63 schien sich mit der protestantischen Übernahme Lyons auch in von Frankreich her die Ausweitung des Protestantismus abzuzeichnen. Dazu Yves Krumenacker (Hg.): Lyon 1562, capitale protestante. Une histoire religieuse de Lyon à la Renaissance, Lyon 2009. 82 Mulder, De uitvoering der Geloofsplakkaten (wie Anm. 21), S. 55f 83 Wenn, wie Jan Albert Goris: Etude sur les colonies marchandes méridionales (Portugals, Espagnols, Italiens) à Anvers de 1488 à 1567. Contribution à l'histoire du capitalisme moderne, Louvain 1925, S. 586 erinnert, fast alle spanischen und italienischen Kaufleute katholisch waren, so war doch der Anteil von Nicht-Katholiken unter Händlern und Kaufleuten überproportional zur Gesamtbevölkerung. Jan van Roey: De correlatie tussen het socialeberoepsmilieu en de godsdienstkeuze, in: Bronnen voor de religieuze geschiedenis van België. Middeleeuwen en Moderne Tijden 47 (1968), S. 239-257 stellt für 1584/ 85 unter 1520 Kaufleuten, zu denen konfessionelle Aussagen vorliegen, fest, dass 41% Calvinisten, 36,6% Katholiken, 16,7% Lutheraner und 5,7% Protestanten ohne genaue Zuordnung sind. Dies lässt sich zwar in der allgemeinen Heterogenität, aber nicht in klaren Zahlen 20 Jahre auf 1564/ 65 vordatieren. 84 In SAA, V 137, o.P. sind 32 Aussagen von Kaufleuten und Geistlichen zugunsten Boazios aufgeführt. Im Brief des Markgrafen an Margarete von Parma, in: CP II, S. 503f. schreibt dieser, dass er zwar Beweise gegen Boazio vorgebracht habe, es seien aber zahlreiche Zeugnisse seines guten Lebenswandels vorgelegt worden: „bien ample et grand tesmoingnaige de sa bonne vie, conduicte et conversation, aussi d’avoir bien et catholicquement vescu depuis qu’il est en ce pays, et mesmes par attestation de monseigneur l’évesque de Grueningen“. Siehe weiterhin CP I, S. 273; AA IX, S. 158; Vgl. Jervis Wegg: The Decline of Antwerp of Antwerp under Philip of Spain, London 1924, S. 327. 85 Paola Subacchi: Italians in Antwerp in the Second Half of the Sixteenth Century, in: Soly/ Thijs: Minderheden (wie Anm. 23), S. 73-90, hier S. 77. 86 Die landesherrliche Argumentation zur Aussetzung städtischer Privilegien, die den Schutz vor Konfiskationen und die Verhandlung vor dem städtischen Gericht beinhaltet, lief über <?page no="137"?> 138 Eric Piltz Dies betraf ausdrücklich nicht nur Antwerpener Bürger. So verweigerte der Magistrat bereits 1557 die von Philipp angeordnete Auslieferung eines in der Stadt ansässigen Engländers, der des Schmuggels häretischer Bücher überführt wurde. Gerieten die Privilegien seit den wiederholten Häresieplakaten zunehmend unter Druck, setzte die Stadt durch die Nicht-Auslieferung Boazios das Prinzip des Friedens und der öffentlichen Ordnung vor die Anforderung der religiösen Reinheit. Nicht vergessen werden sollte, dass bei Boazio trotz der klaren Vorgaben der Edikte nicht die Todesstrafe zur Debatte stand. Die Entdramatisierung, die sich mit dem Entzug Boazios des landesherrlichen Zugriffs entwickelte, war somit in einem Ursachengeflecht begründet, in dem soziale Netzwerke, 87 Vorsicht vor Abschreckung wirtschaftlicher Akteure und die Selbstbehauptung des Magistrats zusammenwirkten. Dass die Stadt damit jedoch einem stark zielgruppenorientierten und individuellen Pragmatismus folgte, der durchaus nicht jeden einschloss, sollte der Prozess gegen Christoffel Fabritius zeigen, der hier ausführlicher behandelt werden soll. 88 III. Eskalation: Christoffel Fabritius Hinrichtung mit Hindernissen Am 4. Oktober des Jahres 1564 wurde der reformierte Prädikant Christoffel Fabritius in Antwerpen unter dem Vorwurf der Ketzerei auf den Scheiterhaufen geführt. 89 Ort war der Groote Markt vor dem kurz zuvor fertig gestellten Neueinen Kurzschluss von Häresie mit ‚lèse majesté‘ oder Verrat, mit der die tradierten Rechte für null und nichtig erklärt wurden. Alastair C. Duke: The Reformation and Revolt in the Low Countries, London/ New York 2003, S. 162; Judith Pollmann: Catholic identity and the Revolt of the Netherlands 1520-1635, Oxford 2011, S. 45f. 87 Subacchi: Italians (wie Anm. 85), S. 87f. 88 13. Februar 1565, Margarete von Parma an Philip, in: CP, S. 339f. Fabritius und Boazio werden beide in diesem Brief erwähnt. 89 Eine Aufarbeitung des Ablaufs und der anhängigen Korrespondenz Margaretes hat bereits Wells: Antwerp (wie Anm. 25), S. 340-349 geleistet. Gehen die Wertungen auch auseinander, stimmen protestantisch-hagiographische und katholische Überlieferung doch im Ereignisablauf überein. In den Akten selbst stimmen die grundlegenden Fakten mit den Schilderungen der Historie ende ghesciedenisse überein: SAA, V 139: „Zaak Christoffel Fabricius, van Brugge, van ketterij beschuldigd. Instructie nopens den gewapenden tegenstand van het volk tijdens de uitvoering van het vonnis (brandstapel), 1564. Stukken bijeengebonden in h. perk., in-folio“; Frederik Pijper (Hg.): Bibliotheca reformatoria neerlandica. Geschriften uit den tijd der hervorming in de Nederlanden VIII, Het martelaarschap van Hendrik Vos en Joannes van den Esschen, Willem van Zwolle, Hoster vande Katelyne, Christophorus Fabritius en Oliverius Bockius, Guido de Bres en Peregrin de La Grange, ‘s-Gravenhage 1911, S. 281-460. Ergänzungen zu Fabritius‘ Aufenthalt in London liefert A.A. van Schelven: Christophorus Fabritius, in: Nederlandsch archief voor kerkgeschiedenis 11,2 (1914), S. 155-160. Zur Schilderung des Ablaufs in der älteren katholischen Historiographie siehe F.H. Mertens/ K.L. Torfs: Geschiedenis van Antwerpen sedert de stichting tot onze tyden, Bd. 4, Antwerpen 1848, S. 293. <?page no="138"?> 139 Reinheit oder Frieden? en Rathaus. Im Fall von Fabritius, der um 1527 in Brügge geboren wurde und zunächst als Mönch im Karmeliterkloster gelebt und sich dann der Reformation zugewandt hatte, waren Markgraf und Magistrat wenig davon angetan, eine öffentliche Hinrichtung vorzunehmen. 90 Margarete von Parma drängte jedoch persönlich darauf, an ihm ein Exempel zu statuieren, zumal die Unzufriedenheit über die Freilassung Boazios noch nachwirkte. 91 Das Prozedere lief allerdings nicht in den vorgesehenen Bahnen ab. Bereits nach Fabritius‘ Festnahme und in der Nacht vor der Vollstreckung des Urteils rumorte es in der Stadt und es versammelten sich calvinistische Anhänger vor dem Gefängnis. Das tatsächliche Ausmaß der Unruhe lässt sich aus den Zeugenverhören der unmittelbaren Nachbarn des Gefängnisses rekonstruieren. 92 Die Zeugenaussagen legen nahe, dass es in der Nacht zu kleinen Aufläufen gekommen war und geistliche Lieder und Psalmen gesungen wurden. Die Anwohner des Gefängnisses äußerten aber, dass es nichts ungewöhnliches sei, dass sich „après la condempnation d’aulcun hérétique“ vor dem Gefängnis Personen einfänden, die singen und Gespräche führen würden, vielmehr sei es diesmal ein geringerer Auflauf als manche Male zuvor gewesen. 93 So wie der 60-jährige Stadtwächter Joos de Backere gaben die Zeugen zumeist wieder, einzelne oder mehrere Gruppen gesehen zu haben, die gegen Mitternacht geistliche Lieder und Psalmen gesungen hätten. 94 Die wiederholt gestellte Frage nach Waffen, was ein Indiz für einen geplanten Aufruhr gewesen wäre, ging aber weitgehend ins Leere. Einige, wie der Straßenarbeiter und Wächter Jacob Stragier, sagten aus, vor dem Steen Männer in Röcken und Mänteln, jedoch keine Waffen gesehen zu haben. 95 Der Zuckerbäcker Hans Wilckinchoff 90 AA IX, S. 185. 91 Brief von Margarete von Parma an Minister Perez, 21.Juli 1564, in: CP, S. 306: „A Anvers, on a pris un frère carme hérétique, nommé Grégoire Fabricius, qui s’était marié en Angleterre, et qui prêchait l’hérésie. On est occupé à instruire son procès.“ Margarete gibt Fabritius hier wohl eher unabsichtlich einen falschen Vornamen. Die Abberufung Kardinal Granvelles im März 1564 und die Konzentration Philipps auf die Mittelmeerpolitik verschafften zudem der Statthalterin einen größeren Spielraum. Friedrich Edelmayer: Philipp II. Biographie eines Weltherrschers, Stuttgart 2009, S. 209. 92 AA IX, S. 214-233. 93 „Recueil de ce que portent les trois diverses informations prinses juridicquement sur le faict advenu en Anvers le quatriesme d’Octobre 1564 el la nuyt précédente, à l’endroict l’exécution d’ung hérétique“, in: AA IX, S. 203-208, hier S. 205. 94 Informacie genomen by Meesteren Pauwelse Schuermans, Scepene…, 3.-10. Oktober 1564, in: AA IX, S. 213-223, hier 215f. Die Angaben schwanken dabei zwischen acht bis zehn und 40 Personen. Unter den Liedern wurde auch „Antwerpen Rijck, oh Keyserlicke Stede“ gesungen, welches Stadt und Markgraf als Akteure der Verfolgung ausmachte. Erneut abgedruckt und kommentiert in: E.T. Kuiper (Hg.): Het Geuzenliedboek, Zutphen 1924, S. 3-6. Zur Verbreitung der Psalmen Andrew Pettegree: Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005, S. 70. Dass Fabritius selbst Lieder verfasst hat, erwähnt Jan te Winkel: De ontwikkelingsgang der Nederlandsche Letterkunde II. Geschiedenis der Nederlandsche letterkunde van Middeleeuwen en Rederijkerstijd, Haarlem 2 1922, S. 442. 95 Stragier gibt aber vage an, zwei Personen mit Rapieren gesehen zu haben. AA IX, S. 216f. Jan du Boys und Niclaes Sneeuwater, die im „halff Mane“ auf dem Grote Markt logierten, <?page no="139"?> 140 Eric Piltz meinte, dass er nicht habe erkennen können, dass jemand mit Schweinespießen oder anderem bewaffnet gewesen sei. Sie seien dann mit Fackeln und Laternen vorbeigezogen, wobei er bemerkte, dass jedesmal, wenn jemand verstirbt oder nach einer Hinrichtung gewöhnlich mehr Volk als in dieser Nacht zu sehen ist. Erkannt habe er in der Dunkelheit niemanden. 96 Nichtsdestotrotz war die Stadtobrigkeit gewarnt. Bereits um sieben Uhr morgens, als sich der Markgraf mit seinen Bediensteten zum Gefängnis aufmachte, fanden sie vor dem Steen und in den Straßen, die sie passieren mussten, eine unüberschaubare Menschenmenge („une infinité de gens de toutes sortes“). 97 Fabritius wurde entsprechend nur unter einem Aufgebot von Hellebardieren auf den Marktplatz gebracht. Als er jedoch auf das Schafott geführt wurde, kam es zu einem Tumult unter den Zuschauern, bei dem der Markgraf und die Gerichtsdiener unter Rufen und einem Steinhagel schließlich das Weite suchen mussten. 98 Der Scharfrichter (beul), der unter diesen Umständen keine Möglichkeit mehr sah, die Hinrichtung ordnungsgemäß durchzuführen, rammte kurzerhand Fabritius einen Dolch ins Herz und zerschlug dessen Schädel. 99 Nicht allein aufgrund dieser unglücklichen Umstände ist die Hinrichtung des Christoffel Fabritius besonders bekannt geworden, sondern auch durch die Tatsache, dass es sich hier um den letzten Fall einer Hinrichtung in Glaubensfragen vor dem sogenannten „Wunderjahr“ von 1566 handelte. In dem es nicht nur zum Bildersturm, sondern auch zu einem massiven Anwachsen von Predigten kam und Zustrom von Anhängern der Glaubensrichtungen, die wie Fabritius von katholischer Perspektive aus betrachtet als Ketzer gelten mussten. 100 Die freie Ausübung des reformierten Gottesdienstes auch innerhalb der Stadtmauern und in den Kirchen, die 1566 kurzzeitig bis zur Wiedererrichtung der katholischen Ordnung erwirkt wurde, bemerken, dass beide gerade dabei waren schlafen zu gehen, als sie Gesänge, darunter ein deutscher Psalm, auf der Straße hörten, wobei Jan weder deutsch noch niederländisch verstand. Gewehre oder Spieße hätten sie nicht gesehen, jedoch mochten einige ein Rapier oder Ähnliches bei sich gehabt haben. AA IX, S. 215. 96 AA IX, S. 219. 97 Recueil, in: AA IX, S. 205 (wie Anm. 93). 98 Die 1562 abgehaltene erste calvinistische Synode in Antwerpen hatte zahlreich Anhänger in die Stadt gezogen. Der Tumult steht somit auch stellvertretend für die wachsende Organisation der reformierten Kirche in der Stadt. Es ist durchaus möglich, dass die Menge durch die große Präsenz bewaffneter städtischer Miliz und deren Auftreten provoziert wurde. Siehe dazu Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. 197. Eibach bewertet grundsätzlich das „Einschreiten der obrigkeitlichen Diener“ eher als „Widerspruch zum Stadtfrieden“, das er „vor dem Hintergrund normativer Selbstbeschreibungen der Stadt“ als dysfunktional bezeichnet. Eibach: Institutionalisierte Gewalt (wie Anm. 44), S. 195. 99 Recueil, in: AA IX, S. 206f. (wie Anm. 93). 100 Als Wunderjahr wird 1566, das Jahr des Bildersturms, aus calvinistischer Perspektive bezeichnet, da erstmals die freie Ausübung des reformierten Gottesdienstes möglich war. Dazu klassisch Robert van Roosbroeck: Het wonderjaar te Antwerpen (1566-1567). Inleiding tot de studie der godsdienstonlusten van den beeldenstorm af (1566) tot aan de inneming der stad door Alexander Farnees (1585), Antwerpen 1930. <?page no="140"?> 141 Reinheit oder Frieden? war aber zum Zeitpunkt der Hinrichtung Fabritius‘ noch nicht abzusehen. Nach der fast gescheiterten Hinrichtung wurde der Leichnam des Unglücklichen hastig mit Steinen beschwert und in die Schelde geworfen, um ihn nicht seinen bereitstehenden Anhängern zu überlassen. Denunziert worden war Fabritius von einer Hutmacherin, genannt die Lange Margriet, die sich als Anhängerin ausgegeben und die Predigten Fabritius’ besucht hatte. 101 Nachdem sie ausreichend Beweise für dessen häretischen Glauben gesammelt hatte, verriet sie ihn an einen katholischen Priester und erstattete dem Stadtrat Bericht, woraufhin Fabritius bei einem Treffen in ihrem Haus festgenommen wurde. An seiner Seite wurde Oliver de Bock abgeführt. Als Lateinprofessor an der Universität Heidelberg des Grafen von der Pfalz konnte er aber eine andere Karte ausspielen als der ehemalige Mönch Fabritius, und sich auf das Schutzrecht des Pfalzgrafen berufen. Dessen Argumentation bezog sich auf die Verletzung des Ewigen Landfriedens und des Augsburger Religionsfriedens durch die Verhaftung von de Bock. Dies mutet zunächst kurios an, da der burgundische Reichskreis seit 1548 nicht mehr dem Reichsrecht unterworfen war und das Augsburger Reglement nie auf die Niederlande angewendet wurde. 102 De Bock stammte zudem aus Alst, war also von seiner Herkunft her Untertan des spanischen Königs. Eine Tatsache, die Margarete in den diplomatischen Verhandlungen quasi ausblenden musste, 103 wie auch die vorgebrachten Argumente keiner rechtlichen Prüfung unterworfen wurden, sondern als gleichsam fait accomplis akzeptiert wurden, während im Verhör die marginale Rolle von de Bock (gegenüber der Anführerschaft Fabritius‘) betont wurde. 104 Im Ergebnis kam de Bock frei und wurde ‚lediglich‘ mit ewigem Landesverweis belegt. 105 Entgegen der eindeutigen Haltung der Statthalterin in dieser Sache und der durch die Religionsedikte gegebenen Möglichkeit auch die Anhänger weiter zu verfolgen 106 und trotz der in der Denunziation aufscheinenden Spannung zwischen Katholiken und der „nieuwe religie“ lag das Interesse des Magistrats zu- 101 Beispielhaft für die Popularität des Motivs des Verrats in der protestantischen Geschichtsschreibung P.F. van Kerckhoven: Fabricius en lange Margriet. Een historisch verhaal, in: De Noordstar 2 (1841) 2, S. 97-133. Mit dem Verratsmotiv verbindet sich auch eine stark antijesuitische Polemik. 102 Monique Weis: Olivier Bouck, un protestant des Pays-Bas ‚sauvé‘ par l’électeur palatin (1564). Entre raison d’État et diplomatie, in: Bulletin de la Société royale d’Histoire du Protestantisme belge 124 (2000), S. 1-24, hier S. 10f. 103 Weis: Olivier Bouck (wie Anm. 102), S. 12f. 104 AA IX, S. 202f. wird Fabritius als „apostat et héréticq dogmatizant“ bzw. als „apostat dogmatizateur“ bezeichnet. Dass Fabritius gut vernetzt war, zeigt auch seine Verbindung zu Cassiodorus des Reyna. A.A. Van Schelven: Cassiodorus de Reyna, Christophorus Fabricius en Gaspar Olevianus, in: Nederlandsch archief voor kerkgeschiedenis 8 (1911) 4, S. 322-332. 105 „que, relaxant le dit Olivier, l’on le banisse perpétuellement et pour à tousjours de tous les pays et seigneuries de Sa Majensté, sur payne de la vye.“, in: SAA, Correctieboeck, 1513-68, fol. 166 v . Siehe AA IX, S. 184f. Bisher nach meiner Kenntnis Näheres zur Person lediglich bei Weis: Olivier Bouck (wie Anm. 102). De Bock wurde 1565 Rektor der Universität in Heidelberg. 106 AA IX, S. 273. <?page no="141"?> 142 Eric Piltz nächst auf der Bewahrung des Stadtfriedens. 107 Im Fokus der städtischen Verfolgung standen daher vor allem jene, die eine Bedrohung der politischen Ordnung darstellten, während jene, deren heterodoxer Glauben sich nicht politisch ausdrückte, weitgehend - zumindest vorerst - unangetastet blieben. Im Anschluss erging daher eine Verordnung gegen die Aufrührer des Tumults, als deren handfestes Ergebnis am Wallonen Robrecht du Briel eine exemplarische Hinrichtung am 19. Dezember 1564 wegen Steinewerfens durchgeführt wurde. 108 Wie groß das Unruhepotential öffentlicher Hinrichtungen v.a. von Personen war, die des Verstoßes gegen die Häresiegesetze überführt wurden, war bereits bei einem ähnlichen Vorfall wenige Jahre zuvor deutlich geworden, als bei einer Hinrichtung ein Tumult entstanden war. 109 Die tumultuarische Praxis war dabei nicht ausschließlich der religiösen Spannungssituation geschuldet, sondern konnte dabei ebenso auf eine Tradition bürgerlichen Protestverhaltens zurückgreifen, 110 die sich mit dem schlechten Ruf des Scharfrichters verband. Mehrere Fälle sind im 16. Jahrhundert belegt, wo sich das öffentliche Urteil gegen diesen gewendet 107 Am 10. Oktober 1564 schreibt der Magistrat an den Antwerpener Deputierten in Brüssel, dass der Markgraf wiederum auf diesen Druck ausgeübt habe und ausdrücklich erklärt habe, dass sofern sie in dieser Sache etwas vortäuschen würden, er dies bei der Herzogin oder nötigenfalls beim König einklagen werde. AA IX, S. 223-225. 108 Gerard van Loon/ Frans van Mieris: Antwerpsch chronykje: in het welk zeer veele en elders te vergeefsch gezogte geschiedenissen, sedert den jare 1500. tot het jaar 1574, Leiden 1743, S. 61f.: „Op den 19. December wirt t’Antwerpen op de Meerct eenen Wale gerecht, die te voren geworpen hadde met steenen, alsmen de vuytgeloopen Monninck van Brugghe soude iusticeren, desen was den eersten die voor het nieu Stathuys onthooft wirt, ende hy wirt buyten op een raet geseet met veel steenen omhanghen.“ Vgl. Gebodboeck B, fol. 344, in: AA I, S. 279; AA II, S. 367; SAA, Gebodboeck, vol. B, fol. 343 v .; AA II, S. 366f. 109 Im Januar 1559 waren in Antwerpen Herman Janssens und Cornelis van Halewyck aus Amsterdam wegen täuferischer Gesinnung und des Abhaltens von Treffen verhaftet und mehrfach vor der Vierschaar verhört worden. Einzeleinträge in AA VIII, S. 448-472. Zur Hinrichtung die Rechnungen des Markgrafen, in: ebd., S. 472. Sie mussten ein hölzernes Kreuz tragen, begleitet von Mönchen, und ihnen wurde, sollten sie widerrufen, in Aussicht gestellt, vor dem Feuertod bewahrt zu werden, was sie jedoch verweigerten und Herman stattdessen einen Psalm sang. Daraufhin wurden sie gehängt und ihre Körper verbrannt. Daraufhin seien bei der aufkommenden Unruhe unter den Zuschauern die Wachen geflohen. Auch hier wurden in der Folge Hausdurchsuchungen angestellt und Festnahmen durchgeführt. Haemstede: Geschiedenis der martelaren (wie Anm. 1), S. 682-685. 110 Marc Boone/ Maarten Prak: Rulers, patricians and burghers: the Great and the Little traditions of urban revolt in the Low Countries, in: Karel Davids/ Jan Lucassen (Hg.): A Miracle Mirrored: The Dutch Republic in European Perspektive, Cambridge 1995, S. 99-134 haben die für die Niederlande lange Tradition urbaner Revolten mit einer kleinen Tradition des innerstädtischen Widerstands parallelisiert, die in dem aufkommenden „nationalen“ Konflikt der Niederlande mit der spanischen Herrschaft keine unwesentliche Rolle spielte. Ob dies aber auf so kurzlebige Tumulte wie diesen übertragbar ist, erscheint zweifelhaft. Vgl. in dieser makrologischen Perspektive zur Bedeutung popularen Widerstands in den Niederlanden Wayne Te Brake: Shaping History. Ordinary People in European Politics, 1500-1700, Berkeley/ Los Angeles 1998, S. 74-90. <?page no="142"?> 143 Reinheit oder Frieden? hatte. 111 Die Scharfrichter Antwerpens waren nach bisherigem Erkenntnisstand weniger gut in das städtische Leben integriert als es für Norddeutschland belegt wurde. 112 Hinzu kommt, dass die Scharfrichter selbst häufig die Seiten wechselten und im zeitgenössischen Urteil dem kriminellen Milieu zugeteilt wurden. So befand sich der vor den Ereignissen um Fabritius 31 Jahre lang als beul tätige Gillyn wegen schweren Raubüberfalls in Haft und wurde von seinem Brüsseler Kollegen hingerichtet. 113 Sein Nachfolger dürfte keinen besseren Leumund gehabt haben, so dass es sich hier um einen kalkulierbareren Eklat gehandelt haben dürfte, der sich zum Einen auf den prekären Status des Scharfrichters stützte, zum Anderen an eine tumultuarische Praxis anschloss, die im Zuge der Radikalisierung und des Ausbaus der calvinistischen Kirche auch auf neugläubiger Seite einen Rechtfertigungsbedarf erzeugte. 114 Wie der Kriminalisierung und der Verfolgung rhetorisch mit der Figur der Gottlosigkeit begegnet wurde, soll abschließend ausgeführt werden. Die Apologie des Fabritius oder: Wen trifft der Zorn Gottes? Stellt religiöse Devianz eine Zuschreibung dar, die mehrere Etikettierungsebenen kennt, 115 so ging der Feststellung religiöser Abweichung bei Fabritius eine eindeutige Diffamierung voraus, die in der Kriminalisierung auf Basis der Religionsedikte und städtischen Rechtsverordnungen fixiert wurde. Da in den städtischen Akten die Reziprozität dieses Zuschreibungsprozesses nicht erfasst werden kann, ist die posthume publizistische Reaktion von reformierter Seite von besonderer Bedeutung. Besonders markant ist dabei die nach Fabritius‘ Hinrichtung anonym herausgegebene und umfangreiche Schrift ‚Historie ende ghesciedenisse 111 Einige Konfliktfälle zwischen dem beul und der Bevölkerung bei Bert Verwerft: De beul in het Markizaat van Antwerpen tijdens de Bourgondische en Habsburgse periode (1405- 1550), unveröff. Licentiatsarbeit Gent 2007, S. 36-54; G. van Have (Hg.): Chronijck der stadt Antwerpen toegeschreuen aan den notaris Geeraard Bertrijn, Antwerpen 1879, S. 63; van Loon/ van Mieris: Antwerpsch chronykje (wie Anm. 108), S. 5. 112 Gisela Wilbertz: Familie, Nachbarschaft und Obrigkeit. Soziale Integration und Loyalitätskonflikte im Leben des Lemgoer Scharfrichters David Clauss d.Ä. (1628/ 29-1696), in: dies./ Jürgen Scheffler (Hg.): Biographieforschung und Stadtgeschichte. Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung, Bielefeld 2000, S. 247-307; Verena Granzow: „Al dieven, al schelmen? “ De scherprechters van Antwerpen (1550-1700), unveröffentlichte Masterthesis Louvain 2004, Exemplar im SAA. 113 Antwerpsch Chronykje (wie Anm. 108), S. 60, 62f. Gefangennahme am 14.März 1563. 114 Zur Problematik der Rechtfertigung aktiven Widerstands siehe Martin Van Gelderen: The Political Thought in the Dutch Revolt 1555-1590, Cambridge 1992, S. 81f. Eine unmittelbare Verbindung mit der Unzufriedenheit über die Pläne der Einrichtung neuer Bistümer und der Unzufriedenheit mit der spanischen Regierung erschließt sich nicht aus dem Verhalten und ist eher der späteren historiographischen Verdichtung der Ereignisse geschuldet. Dieser Kurzschluss entsteht z.B. in der Verdichtung der Darstellung bei Jos Andriessen: Het geestelijke en godsdienstige Klimaat, in: Antwerpen in de XVIde eeuw (wie Anm. 2), S. 203-232, hier 214. 115 Siehe dazu ausführlich die Einleitung von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff in diesem Band. <?page no="143"?> 144 Eric Piltz … Christophoris Fabritii‘. 116 Bereits das vorangestellte Gedicht verleiht den Geschehnissen um Fabritius und seiner Hinrichtung eine apologetische Form und macht von vornherein klar, dass „godloose Papen“ gemeint sind, wenn in der Folge von den Ketzern (ketters) die Rede ist als denjenigen, die dem wahren Glauben nicht folgen. 117 Die „Historie ende ghesciedenisse“ reiht sich damit in die protestantischen (und täuferischen) Märtyrerhistorien des 16. Jahrhunderts ein. 118 Am bedeutendsten für die Niederlande - 1559 erstmals erschienen und 116 ‚Historie ende van de verradclicke ghevangenisse der vromer en godsalicher mannen‘, Christophoris Fabritii dienaer des goddelicken woords binnen Antwerpen, ende Oliverii Bockii, professeur der latynsche Schole van Heydelberch, 1563. Überliefert ist lediglich die umfassendere zweite Auflage von 1565. Von der ersten hat sich kein Exemplar erhalten. Eine französische Übertragung der zweiten Ausgabe durch Guy de Brès hat v.a. dazu beigetragen, Fabritius‘ Fall eine prominente Rolle in der protestantischen Hagiographie einzuräumen. Histoire notable de la trahison et emprisonnement de deux bons & fideles personnages en la ville d’Anvers (1565). Bibliothèque royale Albert Ier, Bruxelles, Réserve précieuse, II. Dazu Weis: Olivier Bouck (wie Anm. 102), S. 4f. Interessant an der französischen Ausgabe, die wie Weis angibt, eine getreue Übersetzung des Originals ist, sind drei hinzugefügte Sonette, von denen das Erste an den ‚Tyrannen‘ gerichtet ist, der Fabritius und Bockius verhaftet hat. Der Herausgeber der Memoiren von Wesenbeke C. Rahlenbeck schreibt die Schrift Martin Klein, genannt Micron, dem Pastor der flandrischen Flüchtlingskirche in London zu, was aber bereits von Pijper: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica (wie Anm. 89), zurückgewiesen wurde, zumal Micron bereits 1559 verstorben ist. Wahrscheinlicher ist dagegen die Autorschaft von Joris Wybo. Während für Weis: Olivier Bouck (wie Anm. 102), dies feststeht, lässt dies Pijper, auf den sich Weis stützt, noch offen. Zur Figur des Tyrannen siehe weiter unten in diesem Beitrag. Die Zuschreibung der Autorschaft an Joris Wybo, der 1560-65 in der Stadt predigte, übernimmt Weis von Ferdinand Vander Haeghen: Bibliographie des martyrologes protestants néerlandais, Bd. I, La Haye 1890, S. 123. Zu weiteren martyriologischen Schriften, Psalmen etc., die auf Fabritius verweisen siehe ebd., S. 117-149. 117 ‚Van den warachtighen Martelaer Christoffel, ende van den versierden Papistighen‘, in: Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. A1 v . Unterschieden wird zwischen auch zwischen wahren Gläubigen, die verfolgt werden und gottlosen Menschen, aber auch den falschen Christen, die sich aus falschem Glauben ‚unters Kreuz‘ begeben. Ebd., A3 v . 118 Jean François Gilmont: Les martyrologes du XVI e siècle, in: Silvana Seidel Menchi (Hg.) Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1992, S. 175-192; Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit: Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004. Die in der Historie ende ghesciedenisse geschilderten Ereignisse decken sich dabei mit den Verhörakten der Hooger Vierschaar. Es steht hier jedoch nicht die Glaubwürdigkeit der Quelle zur Diskussion. Bedenken werden angemeldet bei Bibliographie des martyrologes protestants néerlandais, I, S. 120f., was von Pijper: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica (wie Anm. 89), S. 265 zurückgewiesen wird. Dazu auch H. T. Oberman: De betrouwbaarheid der martelaarsboeken van Crespin et Van Haemstede, in: Archief voor Nederlandse Kerkgeschiedenis 4 (1907), S. 73-110. Ein bisher noch unterbelichtetes Feld ist die Diskrepanz zwischen der auch in protestantischen Territorien bestehenden Konstanz der Ausgrenzung und negativen Bewertung der Täufer auf der einen Seite und der gleichzeitigen Vereinnahmung von Täufern für protestantische-reformierte Märtyrergeschichten. Von einer „Persistenz eines exemplarischen Interesses an Heiligen ohne forciert konfessionelles Sonderbewußtsein auch in einer Zeit beginnender Konfrontation“ ab den 1550er Jahren spricht Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-1617, Tübingen 2007, S. 347. <?page no="144"?> 145 Reinheit oder Frieden? später mehrfach aufgelegt und erweitert - ist Adrian Haemstedes „Historie der martelaeren“. 119 Haemstede kann neben Rabus, Crespin und Foxe zu den einflussreichsten Martyriologen des 16. Jahrhunderts gezählt werden, auch wenn er v.a. innerhalb der Niederlande wirkte, da die ‚Historie der martelaeren‘ bis dato nie in eine andere Sprache übersetzt worden ist. 120 Die „Historie ende ghesciedenisse“ ähnelt dem bei Haemstede vorgegebenen Muster in zwei markanten Punkten: Der Einordnung der niederländischen Verfolgten (hier Fabritius) in die lange Geschichte christlicher Märtyrer, die für die wahre Kirche gestanden haben, und dem damit verbundenen Appell an eine christliche Obrigkeit in Antwerpen. 121 Das Evangelium des Friedens wird hier der Verderbtheit der Welt und der weltlichen Herrschaft gegenüber gestellt und ist durchaus als apokalyptische Weltdeutung zu verstehen, die Heinz Schilling etwas zugespitzt als Konfessionsfundamentalismus bezeichnet hat. 122 Die wahren Christen haben seit Anbeginn gelitten und Gottes Strafe wende sich gegen diejenigen, in diesem Fall Antwerpen, die dem wahren Glauben nicht folgen. Grundlage der martyriologischen Haltung waren Gehorsam und Duldsamkeit, Leidensfähigkeit und Glaubensstärke, wie 119 Haemstede: Geschiedenis der martelaren (wie Anm. 1). Knapp zur Editionsgeschichte Gilmont: Les martyrologes (wie Anm. 18), S. 186-188. Zu Haemstede selbst siehe Andrew Pettegree: Adriaan van Haemstede: the Heretic as Historian, in: Bruce Gordon (Hg.): Protestant history and identity in sixteenth-century Europe, Aldershot 1996, S. 59-76; Auke J. Jelsma: Adriaan van Haemstede en zijn Martelaarsboek, Den Haag 1970. 120 Vor allem bei Crespin und Foxe bedient er sich reichlich bis in den Wortlaut hinein. Dazu Pettegree: Adriaan van Haemstede (wie Anm. 119), S. 63f. Wichtiger aber noch ist seine eigene Erfahrung der Situation in Antwerpen, wo er 1558 selbst gesucht wird und auf ihn 300 Karolusgulden ausgesetzt werden. SAA, Gebodboeck, vol. B., fol. 266 v ., in: AA II, S. 353-355. Zu Haemstedes Wirken in Antwerpen siehe auch Juliaan Woltjer: Public Opinion and the Persecution of Heretics in the Netherlands, 1550-1559, in: Judith Pollmann/ Andrew Spicer (Hg.): Public Opinion and Changing Identities in the Early Modern Netherlands. Essays in Honour of Alastair Duke, Leiden 2007, S. 87-106, v.a. S. 88-93. 121 Den Martyriologien haftete dabei geradezu eine subversive Note an, wenn z.B. Abel bei Ludwig Rabus zum ersten Märtyrer wird. Auch der Einbezug sektiererischer Gruppen (Lollarden, Täufer etc.) in die Kompilationen war ein konfessionelles Politikum. Haemstede selbst wurde zweimal aus der Londoner Gemeinde verbannt. In der Historie ende ghesciedenisse trifft man Haemstedes eigene Haltung individuellen Gewissens wieder, das nicht aufgrund von Dogmen verletzt werden dürfe. A.G. Dickens/ John Tonkin: Weapons of Propaganda: The Martyrologies, in: dies.: The Reformation in Historical Thought, Oxford 1985, S. 39-57, hier S. 50 erkennen hierin den libertinistischen intellektuellen Einfluss von Jocopo Aconzio. Sollte Wybo der Autor der Historie en ghesciedenisse gewesen sein, dann war er ein kundiger Leser Haemstedes. Beide argumentieren (im Anschluss an Augustinus), dass nicht harte Strafen und Leiden wahres Märtyrertum begründen. 122 Heinz Schilling: Gab es um 1600 in Europa einen Konfessionsfundamentalismus. Die Geburt des internationalen Systems in der Krise des konfessionellen Zeitalters, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2005 (2006), S. 69-93, hier v.a. S. 81f. Das Motiv vom Leben in einer gottlosen Welt („godloose werelt“) und zwischen gottlosen Menschen wird permanent wiederholt in der Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), als erstes in A4 r . <?page no="145"?> 146 Eric Piltz sie auch Fabritius in den Briefen an seine Gemeinde immer wieder einfordert. 123 Gleichwohl treten bei reformierten Autoren wie Micron die Ermahnungen der Obrigkeit deutlich hervor. 124 Das Jüngste Gericht ist die Drohkulisse mit der die unrechtmäßige Verfolgung und Unterdrückung angeklagt wird. 125 Die Strafe für Tyrannei obliegt jedoch Gott. 126 Beispielhaft dafür ist der bereits eingangs zitierte direkte Appell an die Stadt Antwerpen, der sich bei Haemstede findet: „Oh Antwerpen! Antwerpen! Euch ist Gottes Wort und Wille verkündigt worden; man hat zur Bußfertigkeit gerufen, aber ihr habt eure Ohren verschlossen; die euch ermahnten, habt ihr verfolgt, und wie euch der Herr auch kasteite, drohte und strafte, ihr habt es nicht gefühlt. Was glaubt ihr nun, was euch wiederfahren soll? Eure Bosheit ist bis zum Himmel gestiegen; Witwen und Weisen unterdrückt ihr; ihren Besitz habt ihr ihnen genommen, ihre Männer erschlagen und das Blut der Märtyrer fließt eure Straßen entlang. Soll der allerhöchste Gott dies mit ansehen und nicht rächen? Denkt dies nicht. Darum kehrt euch noch von eurer Bosheit ab und lasst ab davon, denn es ist noch nicht zu spät; denn sonst ist euer Verderben näher als ihr wisst: Gott wird euch strafen.“ 127 123 Positiv wird die Standhaftigkeit Fabritius’ in der remonstrantisch-arminianischen Geschichtsschreibung herausgehoben: Geeraerd Brandt: The History of the Reformation and other Ecclesiastical Transactions in and about the Low Countries, From the Beginning of the Eigth Century, Down to the famous Synod of Dort, inclusive. In which all the Revolutions that happen’d in Church and State […], Vol I, Book V, London 1720, S. 146-147. Zur Rezeption Brandts Christiane Berkvens-Stevelinck: La réception de l'Histoire der Reformatie de Gerard Brandt et son influence sur la conception de la tolérance hollandaise, in: dies. u.a. (Hg.): The emergence of tolerance in the Dutch Republic, Leiden/ New York 1997, S. 131-140. 124 Die ägyptische Gefangenschaft der Niederlande beklagte Marten Micron 1554 in: W.F. Dankbaar (Hg.): De Christlicke Ordonancien der Nederlantscher Ghemeinten te London, Den Haag 1956, S. 35-37, zit. nach Alastair Duke: The Elusive Netherlands: The Question of National Identity in the Early Modern Low Countries on the Eve of the Revolt, in: ders.: Dissident Identities (wie Anm. 12), S. 9-55, hier S. 50. 125 van Gelderen, Political Thought (wie Anm. 114), S. 68-74. 126 Ein erste Änderung in Richtung Widerstandsrecht deutete sich bei Peter Dathenus 1559 an. Peter Dathenus: Een christelijcke verantwoordinghe op die disputatie, gehouden binnen Oudenaerde, tusschen M. Adriaen Hamstadt, ende Jan Daelman beschreven met onwaerheyt, ende uutghegheven door Jan Daelman voorseyt, Antwerpen 2 1582, zit. nach van Gelderen: Political Thought (wie Anm. 114), S. 73. 127 Haemstede: Geschiedenis der martelaren (wie Anm. 1), S. 681, eigene Übersetzung. Vgl. Pettegree: Adriaan van Haemstede (wie Anm. 119), S. 73f. Ein ähnlicher Ton wird in einem Lied angeschlagen, das in der Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), S. 418-423 abgedruckt ist: Summa der Historien Fabritij in een liedeken begrepen, op de wijse vanden 44. Psalm. Die französische Übertragung „Cite d’Anvers riche & puissante“ von Guy de Brès auch in Vander Haeghen: Bibliographie (wie Anm. 117), S.135. Eine Sammlung dieser Lieder in H. J. van Lummel (Hg.): Nieuw geuzenlied-boek, waarin begrepen is den gantschen handel der Nederlanden, beginnende anno 1564, uit alle oude geuzenlied-boeken bijeenverzameld, versierd met schoone oude refereinen en liedekens te voren nooit in eenige liedboeken gedrukt, Utrecht 1872. <?page no="146"?> 147 Reinheit oder Frieden? Die Zuversicht in das Richten Gottes über die wahren Gläubigen und die Gottlosen ist ein zentrales Motiv auch in der Apologie Fabritius‘. Im martyriologischen Gewand wird in der „Historie ende ghesciedenisse“ rhetorisch der Zorn Gottes nicht zum Ausschluss einzelner aus der Gemeinschaft eingesetzt, sondern als Ermahnung der Obrigkeit und zugleich Rechtfertigung des (freiwilligen) Ausschlusses aus einer verderbten Gemeinschaft. Die gottlosen und hochmütigen Obrigkeiten und blutgierigen Tyrannen seien vielmehr noch Folge der sündigen Taten. 128 Nimmt man die alttestamentliche Vorlage von der Erzählhaltung her ernst, so ist es nicht die Perspektive der Stadt als Sakralgemeinschaft, die sich einzelner Sünder erwehren muss, um die religiöse Reinheit der Stadt zu wahren. Die Stadt Sodom und ihre Schwesterstadt Gomorrha sind die Sündenpfuhle, während Lot und seine Familie gerettet werden (Gen 19,1). 129 Die Anwendung des Zorn-Gottes-Motivs auf den Ausschluss einzelner zur Bewahrung der Reinheit der Stadtgemeinschaft, wie es in frühneuzeitlichen städtischen Policeyordnungen zu finden ist, stellt insofern eine Umkehrung des Motivs dar. Dies tut seiner Wirksamkeit und normativen Kraft keinen Abbruch, 130 erklärt aber, wie die biblizistisch argumentierenden Märtyrerschriften mit der Sodom-Erzählung die Spitze selbstverständlich gegen Stadt und Obrigkeit richten können. 131 In der „Historie ende ghesciedenisse“ dient der Verweis auf Sodom und Gomorrha der Feststellung, dass auch in Zeiten, in denen papistische Idolatrie zu obsiegen scheint, Gott immer einige wenige wahre Christen verschone. 132 Die Stadt Zoar, in die sich Lot und seine Töchter gerettet hatten, sparte Gott um seinetwillen aus. Darum, so rät der Verfasser allen Menschen, solle man das Evangelium Gottes anwenden, jedoch sei der Teufel überall und der Feinde seien viele. Das Evangelium sei für viele Menschen Honig im Mund, aber es werde bitter im Bauch, und viele verließen es, wenn um seinetwillen Verfolgung zu erdulden wäre. Die 128 Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. 213. 129 Die Motivik des göttlichen Zorns auch ebd., fol. 141, 235, 249, 282. 130 Siehe zur Differenzierung des Zorn-Gottes-Motivs den Beitrag von Sebastian Frenzel in diesem Band. Zur Straftheologie demnächst Harald Maihold: „das aus grosser barmhertzickeyt mus unbarmhertzig seyn“ - Legitimation und Grenzen der Gottesstrafe in der theokratischen Strafrechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, erscheint in: Eric Piltz/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Religiöse Devianz. Praktiken und Diskurse im konfessionellen Zeitalter, in Vorbereitung. Vgl. Jörg Jeremias: Gottes Zorn - eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments, in: Theologische Beiträge 40 (2009), S. 311-324. 131 Interessanterweise ist die Märtyrerlogik damit parallel zur altgläubigen Häresie-Logik, wo der Häretiker der Einzelne war, der aus der Gemeinschaft heraustrat. Zum Biblizismus Andreas Pečar/ Kai Trampedach (Hg.): Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne, München 2007. 132 „Insgelycx so lange als den rechtsinnigen Loth met syn huysghesin in Zodoma bleef, so waren haer inwoonders vanden toorne Gods bouden: maer (ey lacen) doen den goeden Loth by der band canden Enghele wtgeleyt was, siet God beest terstont sulpher ende peck vanden hemel late[n] regenen, en[de] den Sodomite[n] in den gront bedoruen, met allen haren landen ende steden.“ In: Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. B2 r ; Pettegree: Adriaan van Haemstede (wie Anm. 119), S. 71. <?page no="147"?> 148 Eric Piltz wahren Ketzer seien mit einem „guten Schein“ bekleidet und scheinen daher nur als wahrhaftige Christen. Zu erkennen sind dagegen die wahren Christen allein dadurch, dass sie in der Nachfolge Christi bereit seien, das Kreuz zu tragen. 133 Das Gedenken an Fabritius wird auch in den an ihn geschickten Trostbriefen mit der Gewissheit verbunden, dass die mächtige Hand Gottes („crachtighe hand Gods“) die Schuldigen richten werde. 134 Diejenigen, die als „grauenvolle Monster und schreckliche Riesen“ erscheinen, werden durch den Zorn Gottes in einem Augenblick verschlungen werden. 135 Dass der Zorn Gottes die Sünder und die Tyrannen straft, scheint unstrittig, offen ist aber, ob dies auf das Jüngste Gericht verschoben wird oder unmittelbare Drohung ist und welche (passive oder aktive) Rolle die Gläubigen dabei spielen. Die eindeutige Feststellung der Gottlosigkeit auf Seiten der Verfolger Fabritius‘ wird in der „Historie ende ghesciedenisse“ damit zur zentralen umkämpften (theologischen) Deutungsfigur. Die wechselseitige Stigmatisierung wird vorgeführt, wenn Fabritius im Gefängnis mehrfach Besuch erhält von, wie es heißt „Papisten, Mönchen [besonders seines ehemaligen Karmeliterordens, E.P.], und einem Haufen libertiner Geister“ 136 , die ihm unchristliches und gottloses Verhalten vorwarfen. All ihre Worte seien dabei Flüche und Ächtungen gewesen und sie hätten ihn „nach ihrer Fantasie“ als falschen Ketzer, Verführer und gottlosen Menschen gescholten, von Gott sei er verdammt und verbannt worden. 137 Der Pastor Sebastian, der ihm die Nachricht brachte, dass er das Ende der Woche nicht erleben werde, was Fabritius aber - in guter Märtyrertradition - als sein eigenes Verlangen darstellt, 138 warf ihm vor, er sei „gottlos und ohne Kenntnis von Gott“. Sebastian wird vom Leser als einer der zu Beginn der „Historie en ghesciedenisse“ erwähnten falschen Propheten erkannt, und als einer der Lehrer, die im Schein der Gottseeligkeit in Schafskleidern aufträten, in Wahrheit aber voller Unreinheit („vol onreynicheyts“) seien. 139 Den Vorwurf der Gottlosigkeit kehrt Fabritius um: Sebastian selbst hätte keinen Gott, sondern nehme den Papst und ein Stück gebackenes Brot für seinen Gott. 140 Gottlosigkeit fungiert in der Märtyrerschrift als ultimative Exklusionsformel und Letztreferenz, die durch ihre wechselseitige Zuweisung den jeweiligen Gegner diffamieren konnte. Wo immer von Rom und der katholischen Kirche die Rede ist, wird die 133 Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), A2 v . 134 Ebd., fol. 293. 135 Ebd. 136 Ebd., fol. 87. 137 Ebd., fol. 88. 138 Ebd., fol. 89. 139 Ebd., A6 v , A6 r . 140 Ebd. „Die alten Formen der Gotteslästerung werden so verbunden mit einem erweiterten Begriff der Blasphemie, der potentiell alle gegnerischen Positionen als blasphemisch zu denunzieren erlaubte.“ Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz 2005, S. 162. <?page no="148"?> 149 Reinheit oder Frieden? Semantik der Gottlosigkeit bedient. 141 In seiner diskursiven Funktion ist Gottlosigkeit zugleich Ausgrenzungs- und Identitätsformel der Gläubigen unter dem Kreuz, indem damit ein klares Feindbild aufgebaut und der Zusammenhalt und die Standhaftigkeit der wahren Gläubigen bestärkt wird. 142 Die Ereignisse in Antwerpen und um Fabritius werden auf diesem Weg mit der biblischen Sodomgeschichte parallelisiert. Gott habe Propheten und Lehrer geschickt, um Seligkeit, Frieden und Gerechtigkeit zu verkündigen, die Stadt aber bleibe „widerspenstig, rebellisch und hartneckisch“. 143 Geradezu klassische Argumentationsfiguren werden in Anschlag gebracht, die sonst ex officio der Klassifizierung von Häretikern dienen, die hier aber gegen die städtische Obrigkeit gewendet werden. Die Stadt wird geradezu zu einem neuen Sodom umgedeutet, wenn „Unrecht und Gewalt, Lügen und Betrügen, Verrat und Falschheit die Oberhand in ihr gewonnen haben.“ Noch mehr, Antwerpen sei eine Stadt der Unreinheit („een stadt aller onreynicheyts“) geworden, ja geradezu eine „Spelunke von Straßenschändern, Dieben und Mördern“, in Summa seien in ihr alle Laster und Bosheiten in ihr zu finden. 144 Die „godlose werelt“ verdichtet sich damit geradezu in Antwerpen selbst und wenn sie sich nicht bekehrt, so soll es ihr schlimmer ergehen als den Städten Sodom und Gomorrha. 145 Die Inaussichtstellung der Strafe Gottes steht ideengeschichtlich noch vor einer theologischen Rechtfertigung des Tyrannenmords. 146 Aber der protestantische Diskurs hatte in den frühen 1560er Jahren eine Wende hin zur Rechtfertigung von Widerstand gegen diejenige Obrigkeit genommen, die Gewalt aus Glaubensgründen ausübte. 147 141 Vgl. z.B. Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. 46f. Ebenso werden die Bezeichnungen Ketzer und Sekte gegen die katholische Kirche eingesetzt: So lehnt Fabritius die papistische Verirrung und Ketzerei ab, die eine Pluralität und Vielheit von Göttern hervorgebracht habe und als papistische böse und lästerliche Sekte wirke. Ebd., fol. 27f. 142 Vgl. für den zeitgleichen französischen Kontext, der eng mit den südlichen Niederlanden verbunden war, das Kapitel „Psalms and Salvation“ in: Barbara B. Diefendorf: Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in Sixteenth-Century Paris, Oxford 1991, S. 136-144. 143 Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. 193. 144 Ebd., fol. 193f. 145 Ebd. Vgl. Matt. 10,15. Auch die verdammten Städte Tyrus und Sydon (Jes 23) würden auf Antwerpen herabblicken und es verdammen. 146 Siehe dazu zuletzt Volker Leppin: Die Vindiciae contra tyrannos. Calvinistische Relecture mittelalterlicher Politiktheorie, in: Irene Dingel/ Herman J. Selderhuis (Hg.): Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven. Göttingen 2011, S. 367-378 sowie Christoph Strohm: Art. Widerstand. II: Reformation und Neuzeit, in: TRE 35 (2003), S. 750-767. 147 Eine Haltung, die auch die Befreiung von Glaubensgenossen aus dem Gefängnis erlaubte. Den Wandel beschreibt deutlich Van Gelderen: Political Thought (wie Anm. 114), S. 75; ein Vertreter dieser auf der Antwerpener Synode von 1562 akklamierten Haltung war Joris Wybo, der mutmaßliche Autor der Historie ende ghesciedenisse. Vgl. E.M. Braekman: Anvers - 1562: le premier synode des Eglises réformées, in: Bulletin de la Societé de l’Histoire du Protestantisme Belge 102 (1981), S. 25-37. Das Thema der Verfolgung stand zunehmend im Fokus der reformierten Autoren. Van Gelderen: Political Thought (wie Anm. 114), S. 82. <?page no="149"?> 150 Eric Piltz Am 7. November 1564 richtete die reformierte Gemeinde an Margarete von Parma eine Requeste (i.e. Supplikation) mit direktem Bezug auf die Hinrichtung Fabritius und der Bitte, die Häresieplakate zu mildern. 148 Es wird betont, dass nicht die unterdrückten Gläubigen, die zu Unrecht diffamiert und verfolgt würden, die Verursacher des Aufruhrs seien. Das Werfen der Steine sei vielmehr einesteils durch die „ungeheuerliche Hinrichtung“ verursacht worden, andernteils durch das provozierende Verhalten der städtischen Soldaten. 149 Der Aufruhr wird so zu einem unglücklichen Vorfall heruntergerechnet, bei dem die Bittsteller weit entfernt seien „van alle heresie, oproer ende seditie“. 150 Entscheidend ist, dass der Ruch der Häresie rundweg bestritten wird, auch wenn „Inquisiteure, Mönche und königliche Beamte“ in Prozessen gegen sie als „angebliche Häretiker, Schismatiker und aufrührerische Personen“ vorgehen. 151 Die Stigmatisierung als Häretiker, so muss der heutige Leser schlussfolgern, ist letztlich eine Folge falscher Zuschreibungen, die durch die Gesetzeslage hervorgerufen wird. So sei auch die Ausübung ihres reformierten Glaubens nur in geheimen Versammlungen möglich aus Angst vor Verfolgung, was sie wiederum erst als „Schismatiker“ erscheinen lasse. 152 Einen Widerstand gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit durch „seditie, muyterie ofte rebellicheyt“ sei dagegen nicht in ihrem Sinn. 153 Zudem werde der König durch die Verfolgung treuer und dienstbarer Untertanen beraubt. Argumentiert wird ökonomistisch mit der Prosperität der Stadt und des Landes. Vor allem Kaufleute, Gelehrte und künstlerische Handwerke, die die Niederlande in Wissenschaft, Handel und Handwerk florieren ließen, seien davon betroffen und würden ins Ausland getrieben. 154 Und dies, so die Schlussfolgerung, geschähe schließlich zur Unehre Gottes und zum Nachteil des Königs und der Wohlfahrt des Landes. 155 Während in den anderen Teilen der „Historie ende ghesciedenisse“ auf sehr vielfältige Weise mit dem Label der Gottlosigkeit operiert wird, kann die Requeste dies nicht in Anschlag bringen, da sie Anliegen an die Landesobrigkeit formuliert. Was aber in der Supplikation begegnet, ist ein durchaus reflektierter Umgang und ein dezidiertes Offenlegen der Labelingprozesse als Diffamierung, 148 ‚Requeste aen myn vrouwe d’Hertoghinne van Parma, Plaisance, etc. Regente, ende andere Gouuerneurs ende Regeerders deser Nederlanden…‘, in: Historie ende ghesciedenisse (wie Anm. 116), fol. 199-210. Gleichzeitig wird von papistischem Aberglauben gesprochen. Ebd., fol. 202. 149 Ebd., fol. 206. 150 Ebd., fol. 201. Dass der ‚seditio‘-Vorwurf Teil konfessioneller Zuschreibung und Ausgrenzung ist, zeigt auch Franziska Neumann in diesem Band. 151 Ebd., fol. 408. So argumentierte auch van Haemstede bei seiner Verhaftung auf die Frage, warum er heimliche Versammlungen abhalte, wenn sein Glaube doch wahrhaft orthodox und apostolisch sei, dass ihm und seinen Anhängern keine Kirche zu Verfügung stünde. Woltjer: Public Opinion (wie Anm. 120), S. 91. 152 Ebd., fol. 203f. 153 Ebd., fol. 204f. 154 „in vreemde omligghende landen, ende Prouincien“, ebd., fol. 208. 155 Ebd. <?page no="150"?> 151 Reinheit oder Frieden? den man als Teil eines (rhetorischen) Wettbewerbs um Stigmatisierung und Entstigmatisierung begreifen kann. IV. Fazit Es ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Die Forschung hat die Bedeutung der Sakralgemeinschaft und der religiösen Identität und Reinheit auch für das konfessionelle Zeitalter betont, 156 eine Vorstellung, die zunächst auch in Prozessionsmandaten und den Häresieplakaten ihre Entsprechung findet. Sowohl bei Boazio als auch bei Fabritius wird in den Verhörprotokollen jedoch nicht auf diesen Topos rekurriert. Die Argumentation ist vielmehr legalistisch auf den Nachweis des Verstoßes gegen die entsprechenden Mandate abgestellt. Der Umgang mit religiöser Devianz wurde erst im politischen Kräftefeld der in die Stadt hineinwirkenden Akteure bestimmt. Entdramatisierung und Eskalation scheinen dabei zwei Modi zu sein, in denen sich der Umgang mit Personen abspielte, denen Abweichung vom Glauben und dezidiert die Verletzung der Religionsedikte vorgeworfen wurden. Eine Entdramatisierung des Falles Boazios konnte dabei vor allem deshalb greifen, weil die Sprengkraft religiöser Devianz im Verfahren abgemildert wurde und der Magistrat an Boazio exemplarisch seine genuine Verfahrenshoheit demonstrieren konnte. Fabritius dagegen, zumal mit dem Ruch des Anführers einer häretischen Sekte, stellte für die Stadt selbst und das Friedensprimat ausreichend Bedrohungspotential dar. So prototypisch die beiden dargelegten Fälle auch erscheinen, so lassen die komplexen Entscheidungsprozesse keine Verallgemeinerung zu, dass hier Muster zu erkennen wären, die beliebig wiederholt werden konnten. Vielmehr zeigen sie, wie das städtische Gerechtigkeitsverständnis, das zwischen Abschreckung, Billigkeit (aequitas) und Gnade oszillierte, und die flexible und umstandsbezogene Normanwendung 157 im Häresiediskurs an ihre Grenzen geriet, welcher die Handlungsoptionen städtischer Justiz gegenüber dem Landesherrn einem erhöhten Rechtfertigungsbedarf aussetzte. Mithin wurde eine potentielle Reintegrationsfähigkeit eines Delinquenten als Maßgabe 156 Heinz Schilling: Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen ‚Republikanismus‘? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in: Helmut Koenigsberger (Hg.): Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 101-143. 157 Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft; Wien u.a., S. 511; André Holenstein: Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 1-46. <?page no="151"?> 152 Eric Piltz zu dessen Beurteilung problematisch, wenn religiös-konfessionelle Devianz einen Exklusionsmechanismus nach sich zog. 158 Die Kriminalisierung von Fabritius auf Basis der Religionsedikte und die damit einhergehende Klassifizierung als Häretiker, zeitigte zudem Folgeprobleme, die die Stadtherren in der religiösen Spannungssituation durchaus vorhergesehen hatten und nicht weiter verschärfen wollten. Die angestellte Untersuchung galt nach der unglücklichen Hinrichtung dann auch nicht weiteren Anhängern des calvinistischen Prädikanten als solchen, sondern der demonstrativen Wiederherstellung öffentlicher Ordnung. Der Zugriff auf Häretiker erfolgte nach wie vor im individuellen Kriminalverfahren, welches bei Fabritius nicht zuletzt in Gang gesetzt wurde, weil eine nicht zu ignorierende Denunziation vorlag. 159 Während die katholische Seite mit dem Häresie-Label operierte und auf eine klare Gesetzeslage zurückgreifen konnte, tritt das Label der Gottlosigkeit vor allem in der protestantischen Überlieferung, hier exemplarisch an der Märtyrerschrift Fabritius‘, zutage. 160 Dabei befindet sich die „Historie ende ghesciedenisse“ in einer Übergangsphase von duldsamen Verweisen auf die gerechte Strafe Gottes für die gottlosen Obrigkeiten und einer aggressiven Rhetorik, die argumentativ an Begründungen zum Widerstandsrecht heranreicht. Ein Widerspruch, der letztlich im deutlichen Appell der Anhänger Fabritius‘ an Margarete von Parma, keine tätlichen Angriffe auf die Obrigkeit unternommen zu haben, zugunsten Ersterem aufgeschoben wird. Um das Label Gottlosigkeit lagert sich ein semantisches Feld an, das von gottloser Welt, gottlosen Menschen, und konkreter den „Papisten“ als „Ketzern“ reicht. Diesen werden die wahren Gläubigen gegenüber gestellt, die sich letztlich als Märtyrer erweisen. In der prototypischen Gegenüberstellung der Gottlosen gegenüber den Gläubigen wird die rechtliche Kriminalisierung durch die Religionsedikte gleichsam unterlaufen, um die Frage religiöser Devianz auf viel grundsätzlicher Ebene gegen die Verfolger zu richten. 158 Vgl. Ernst Riegg: Eigenwille und Pragmatismus: Der Konflikt um die Norma Doctrinae in der Reichsstadt Nürnberg, in: Rudolf Schlögl (Hg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 237-267. 159 Damit ist auch ein Unterschied zur Massenverfolgung unter dem Sondergericht des Conseil des troubles des Herzog Alba markiert. 160 Die katholische Publizistik stand deutlich hinter den rhetorischen Offensiven der konfessionellen Gegner zurück, wie zuletzt Judith Pollmann betont hat. Die bloße Existenz verschiedener Religionen, Konfessionen und Glaubensrichtungen wurde von katholischer Seite zunächst als Ursache oder Ausdruck von Unordnung und Verlust von Sicherheit von einem subjektiven Blickwinkel gesehen. In den Versen der berühmten, streng katholischen Schullehrerin und Dichterin Anna Bijns wurde Häresie als eine Form göttlicher Vergeltung wahrgenommen: Pollmann: Catholic identity (wie Anm. 86), S. 58. Ihre Polemiken „were thus conducted almost entirely in terms of morality”, in: ebd., S. 63. <?page no="152"?> 153 Reinheit oder Frieden? Wenn es also so etwas wie „ein städtisches Bewußtsein, eine städtische Mentalität und ein ideelles städtisches Wertedenken gegeben hat“, 161 wie es Berndt Hamm formuliert, dann drückte sich dies spiegelverkehrt nicht zuletzt in Gemeinsinnsanmutungen, Ansprüchen und dem Aufzeigen von Defiziten dieser Einheit aus, wenn in den Märtyrerschriften eine Rhetorik der Reinheit respektive Unreinheit aufgeboten wird und die Frage von Gottgefälligkeit oder Gottlosigkeit zur Leitunterscheidung und Messlatte wird. Gerade eine weitergehende systematische Überprüfung der letztlich auch zeitgenössischen historiographischen Konstruktion der städtischen Sakralgemeinschaft wäre eine vielsprechende Forschungsaufgabe. Hinter der Frage von Reinheit oder Frieden, die dem Aufsatz seinen Titel gibt, ist somit ein doppeltes Fragezeichen zu lesen: Die Wahrung der Privilegien und des städtischen Friedens wie der ökonomischen Prosperität, stand zunächst der Anforderung nach Umsetzung der Häresieplakate und der Wahrung der religiösen Reinheit gegenüber. 162 Für die Antwerpener Stadtherren war in der Auseinandersetzung mit den Landesobrigkeiten weniger die Tatsache religiöser Heterogenität (d.h. verschiedener konfessioneller Glaubensformen und privater Praktiken), sondern die aktive und ostentative Produktion von religiöser Devianz und ihrer performativen Austreibung ein Ordnungsproblem und eine Bedrohung eines prekären religiösen Friedens, der keine emanzipatorische Toleranz, aber eine Inkaufnahme aller Elemente beinhaltete, die nicht die städtische Ordnung, Sicherheit und Prosperität bedrohten. 163 Diese städtischen Grundwerte 164 bildeten aber keinen fixen Kanon, sondern eher ein amorphes Amalgam von Geltungsansprüchen, die nicht nur von der niederländischen Republik nach 1600 von einer „hochgradig partikularisierten politischen Ordnung“ sprechen lassen. 165 Die Aufschlüsselung der beiden Einzelfälle, bei denen die enge Verschränkung von Religion, Politik und Ökonomie über den innerstädtischen Rahmen hinausgeht, machen auch darauf aufmerksam, dass diese Ordnung stets neu verhan- 161 Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, S. 57. Er ist sich aber durchaus bewusst, dass die „Vorstellung von Stadtgemeinde als Sozialkörper auch irreführend [ist], wenn sie von einem romantischen Organismusdenken aufgeladen wird“. Ebd., S. 51. 162 Vgl. Guy Edward Wells: Emergence and Evanescence: Republicanism and the Res Publica at Antwerp before the Revolt of the Netherlands, in: Helmut G. Koenigsberger (Hg.): Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 155-168. 163 Vgl. dazu Franziska Neumann und Tim H. Deubel in diesem Band. 164 Eberhard Isenmann: Norms and Values in the European City, 1300-1800, in: Peter Blickle (Hg.): Resistance, Representation, and Community, Oxford 1997, S. 185-215; Hans-Christoph Rublack: Political and Social Norms in Urban Communities in the Holy Roman Empire, in: Kaspar von Greyerz (Hg.): Religion, Politics and Social Protest. Three Studies on Early Modern Germany, London 1980, S. 24-60. 165 Olaf Mörke: Anmerkungen zu einer vergleichenden Geschichte politischer Normen im Europa der Frühen Neuzeit, in: Hein Hoebink (Hg.): Europäische Geschichtsschreibung und europäische Regionen. Historiographische Konzepte diesseits und jenseits der niederländischdeutschen/ nordrhein-westfälischen Grenze, Münster 2008, S. 125-137, hier S. 131. <?page no="153"?> 154 Eric Piltz delt werden musste. 166 Nach Andreas Würgler zeigt sich im Konflikt zwischen Bürgern und Rat auch „die Geltendmachung einer bestimmten Norm in der Situation eines gegebenen Normenpluralismus“, 167 eine Feststellung, die für die Einwandererstadt Antwerpen auch über das klassische Bürgerrecht hinaus zutrifft. Das historiographisch weite Spannungsfeld von Tolerierung und Duldung auf der einen und Kriminalisierung und Verfolgung auf der anderen Seite war - in der zeitgenössischen Publizistik wie bei der Herstellung von Entscheidungen in Verfahren - von einem dichten Netz aus wechselseitigen Zuschreibungen und Etikettierungen durchzogen, deren Fäden den normativen Rahmen nicht absteckten, sondern erst definierten. 166 Dies wird im Beitrag von Franziska Neumann in diesem Band noch deutlicher herausgearbeitet. 167 Würgler: Diffamierung (wie Anm. 9), S. 345 (Herv. i. Orig.). Für Hillard von Thiessen: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: Historische Zeitschrift 294 (2012), S. 625- 659 „war die Frühe Neuzeit durch eine Zuspitzung normativer Konflikte gekennzeichnet, aber ebenso durch eine besondere Fähigkeit der Individuen, mit diesen umzugehen“. Ebd., S. 627. <?page no="154"?> 155 Tim H. Deubel „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ Zum Umgang mit religiöser Abweichung im Basel des 16. Jahrhunderts am Beispiel von Antoine Lescaille Im Folgenden soll am Beispiel von Antoine Lescaille (†1610) 1 der Frage nachgegangen werden, ob in Basel am Ende des 16. Jahrhunderts nach der Durchsetzung der calvinistischen Orthodoxie strenger mit religiöser Abweichung umgegangen wurde, als in den Jahren zuvor. 2 Für die Untersuchung dieser Frage bietet sich der Fall von Lescaille an, da dieser mit seinem unnachgiebigen Beharren auf der Bedeutung der guten Werke für das individuelle Heil und seinen polemisch-publizistischen Offensiven die Obrigkeit wie kein anderer in dieser Zeit herausforderte. Zunächst ist es allerdings notwendig, auf einige Seiten des Basler Lebens in den Jahren vor der Durchsetzung der Orthodoxie hinzuweisen - eine Zeit, die in der Forschung üblicherweise als ‚tolerant‘ beschrieben wird. Insofern wird es in diesem Abschnitt um unterschiedliche Phänomene gehen, die dem zeitgenössischen Anspruch einer purifizierten Gesellschaft entgegenstanden (in Basel führte man den Namen der Stadt auf Jesus Christus zurück und gab der Reformation auf diese Weise ihr Leitmotiv 3 ). Vor dem Hintergrund des ‚toleranten‘ 1 Es finden sich in der Überlieferung unterschiedliche Schreibweisen des Namens; vgl. Traugott Geering: Handel und Industrie der Stadt Basel. Zunftwesen und Wirtschaftsgeschichte bis zum Ende des XVII. Jahrhunderts aus den Archiven dargestellt, Basel 1886, S. 483. 2 Werner Kaegi war sich sicher, dass man mit Lescaille einige Jahrzehnte zuvor weniger streng umgegangen wäre: Jacob Burckhardt: Eine Biographie, Bd. 1, Basel 1947, S. 167: „Die Basler Kirche selbst, die eine Generation früher anders reagiert hätte, war inzwischen calvinistisch geworden.“ Zum Begriff ‚Religiöse Devianz‘ siehe die Einleitung zu diesem Band. 3 In der Widmung seines für die Basler Reformation so wichtigen Jesajakommentars von 1525 leitete Johannes Oekolampad gegenüber dem Basler Rat den Namen der Stadt von Jesus Christus her: „So soll die Stadt Basel, Basileia, ihren Namen haben von keinem irdischen König (Basileus); denn keinem solchen ist sie untertan, sondern von Jesus Christus soll sie wahrhaftig heissen, die Stadt des grossen Königs, dem alle Ehre sei.“ Zit. nach Ernst Staehelin: Die Verkündigung des Reiches Gottes, Bd. IV, Basel 1957, S. 162f. Jan Milič Lochman (Zum Vermächtnis der Basler Reformation. Das Reich Gottes und die Sachzwänge der Zeit, in: Hans R. Guggisberg/ Peter Rotach (Hg.): Ecclesia semper reformanda. Vorträge zum Basler Reformationsjubiläum 1529-1979, Basel 1980, S. 157-168, hier S. 157) erinnerte daran, dass diese Sätze „das Wesentliche vom Programm der Basler Reformation vorweggenommen, ihr den Weg gewiesen und markiert“ haben: „Diese Stadt soll beim Wort genommen werden, der schlichte Klang ihres Namens, Basel, Basileia, soll die Christen darin an die ‚basilei tu theu‘, an die Herrschaft Christi, erinnern. Das Reich Gottes wird von Anfang an zum Leitmotiv, zum Leitbild, der Basler Reformation.“ Alfred Ehrensperger (Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Basel im 16. und 17. Jahrhundert, Zürich 2010, S. 114) stellte zudem über die 1529 erlassene Basler Reformationsordnung fest: „Die Vorstellung, so etwas wie einen irdischen, möglichst reinen Gottesstaat errichten zu können, ist in diesem Dokument und überhaupt in den Anfängen der Basler Reformationsbewegung unverkennbar.“ <?page no="155"?> 156 Tim H. Deubel Basels lässt sich dann der Umgang mit Lescaille im ‚orthodoxen‘ Basel genauer darstellen. Zunächst werden die wichtigsten Etappen der Auseinandersetzungen beschrieben, um dann im Anschluss ausführlicher auf die Argumentationen von Lescaille und den entscheidenden Akteuren einzugehen wodurch sowohl die Vehemenz noch einmal deutlicher hervortritt, mit der Lescaille den Konflikt führte als auch sein Versuch, ein über die Stadt hinausgehendes Publikum für seine Sache zu gewinnen. Die Darstellung endet mit einer kritischen Einordnung der Ergebnisse in die Basler Geschichte des 16. Jahrhunderts und der Infragestellung ihrer Teilung in einen ‚toleranten‘ und einen ‚orthodoxen‘ Abschnitt. I. ‚Tolerantes‘ und ‚orthodoxes‘ Basel In der Forschung zur Geschichte von Basel geht man für das 16. Jahrhundert von einem Bruch aus, der weniger durch die Reformation als durch das Antistitium von Johann Jakob Grynaeus (†1617) verursacht wurde. 4 Während in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und vielleicht noch einige Jahrzehnte darüber hinaus in Basel eine ‚tolerante‘ Atmosphäre herrschte, 5 setzte spätestens 1586 mit dem Amtsantritt von Grynaeus als Vorsteher der Basler Kirche ein „weitgreifende[r] Kurswechsel“ ein, der für die Kirche „eine Neuorientierung ihrer Lehre, eine Festigung ihrer Ordnung, eine straffere Gestaltung des ganzen evangelischen Gemeinwesens“ zur Folge hatte - „kurz, den Schritt aus der weithin unbestimmten und offenen Situation der bisherigen Verhältnisse in die festergefügte Kirche der orthodoxen Zeit.“ 6 4 Helmut Meyer: Art. Antistes, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online: http: / / www. hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D11731.php, zuletzt abgerufen am 08.01.2013. 5 Die Beschreibung als ‚tolerant‘ fehlt, in kaum einer Darstellung der Geschichte von Basel im 16. Jahrhundert: Patrick Heenan: Art. Basel, in: Trudy Ring u.a. (Hg.), International Dictionary of historic places, Chicago/ London 1995, Bd. 2, S. 75-79, hier S. 77; Bruce Gordon: The Swiss Reformation, Manchester/ New York 2002, S. 223; die Datierung dieser immer wieder als ‚goldenes Zeitalter‘ bezeichneten ‚toleranten‘ Periode reicht in manchen Darstellungen bis zur Mitte des Jahrhunderts, so z.B. bei Lionel Gossman: Basel, in: Nicolas Bouvier/ Gordon A. Craig/ Lionel Gossman: Geneva - Zurich - Basel. History. Culture & National Identity, Princeton 1994, S. 63-98, hier S. 66; dagegen lassen Hans Berner/ Claudius Sieber-Lehmann/ Hermann Wichers mit dem Antistitium von Johann Jakob Grynaeus die Periode enden: Kleine Geschichte der Stadt Basel, Leinfelden-Echterdingen 2008, S. 94f.; in gleicher Weise datiert Kaspar von Greyerz: Reformation, Humanismus und offene Konfessionspolitik, in: Georg Kreis/ Beat von Wartenburg (Hg.): Basel - Geschichte einer städtischen Gesellschaft, Basel 2000, S. 80-110, hier S. 100f. Ehrensperger: Gottesdienst (wie Anm. 3), S. 78 dehnt die Periode bis zum Ende des 16. Jahrhunderts aus. Eine Diskussion dieser Deutung oder des Begriffsverständnisses ist mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt, wenngleich sie ausweislich der Diskussion von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff in der Einleitung zu diesem Band mehr als fragwürdig erscheint. 6 Max Geiger: Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, Zollikon- Zürich 1952, S. 40, 28: „Von den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts an hört die Basilea reformata in weitem Maße auf, zugleich die Heimstatt humanistisch-häretischer Strömun- <?page no="156"?> 157 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ In den vorangegangenen Jahren war es weder Oswald Myconius (†1552) noch Simon Sulzer (†1585) als Antistes der Basler Kirche gelungen, ein straffes Regiment in der Stadt aufzubauen, weshalb sich - wie es Hans Rudolf Guggisberg beschrieb - „jener nie klar definierte, niemals unbegrenzte, aber doch verhältnismäßig breite Spielraum der Toleranz [ergab], der die spezifische geistige Atmosphäre Basels bis kurz vor dem Ende des 16. Jahrhunderts prägte“ Als Ursache für das ‚tolerante Klima‘ wurden in der Forschung neben der unentschiedenen religiösen Situation zur Zeit des Antistitiums von Myconius und Sulzer noch andere Gründe angegeben. Am häufigsten wurden wohl der bis in die achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts lebendige Humanismus und der florierende Buchdruck genannt. 8 Außerdem hat man dem Rat der Stadt „Mass und Zurückhaltung“ in der Handhabung der „kirchlichen Gesetze“ zugesprochen. 9 Dass dieser für das humanistische ‚Erbe‘ in der Stadt empfänglich war, zeigt der Umgang mit Erasmus, auf den weiter unten näher eingegangen wird. In der Forschung wies man auch darauf hin, dass Konflikte um abweichende Glaubensbekenntnisse in den ‚toleranten‘ Jahren von Basel immer dann entstanden, „wenn die radikalen Denker und Publizisten (ob sie den Täufern nahestanden gen zu sein.“ Eine Formulierung, die sich in der Forschung verbreitet hat, vgl. z.B. Erich Wenneker: Art. Sozini, Fausto, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon X, Sp. 849-857; Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter - Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563-1675), Leipzig 2000, bes. S. 118, zu der (theologischen) „Sonderrolle Basels“, S. 129f. siehe auch S. 117-119. 7 Hans R. Guggisberg: Das reformierte Basel als geistiger Brennpunkt Europas im 16. Jahrhundert, in: ders./ Rotach (Hg.): Ecclesia semper reformanda (wie Anm. 3), S. 50-75, hier S. 52. 8 Vgl. Peter G. Bietenholz: Der Basler Buchdruck und die Reformation, Szeged 1998; Geiger: Kirche (wie Anm. 6), S. 14 definiert den Humanismus wie folgt: „Man kann in den geistigen Kosmos der Civitas und Universitas Basiliensis des 16. Jahrhunderts nicht eintreten, ohne immer wieder darauf zu stoßen, daß das reformatorisch-theologische Denken ihn nicht vollständig und ausschließlich erfüllt hat, daß neben der offiziell kirchlich gültigen Linie kontrapunktisch oder jedenfalls als unüberhörbarer Orgelpunkt stets noch eine andere Stimme zu hören war. Man kann diese andere Art des Denkens und Theologisierens mit einem allgemeinen Sammelnamen ‚humanistisch‘ nennen, obgleich damit der falschen Meinung Vorschub geleistet wird, als wäre die reformatorische Theologie von dieser Kennzeichnung auszunehmen […]. Richtig an dieser Bezeichnung, wie sie allgemein üblich geworden ist, erscheint aber das, daß unter ‚Humanismus‘ nicht nur jene auch von den Reformatoren geübte Methode, das heißt ein formales Zurückgehen zu heidnischen und altkirchlichen Quellen, ein Bestreben um Einfachheit und Reinheit der klassischen Sprache, um Prägnanz des Ausdrucks und Feinheit des Stils, um Aufrichtigkeit, Wahrheit und Natürlichkeit alles menschlichen Austausches, nicht nur eine Abwendung von Metaphysik, Spekulation und Scholastik und statt dessen die praktische Zweckbetonung von Dialektik, Logik und Rhetorik zu verstehen ist, daß mit dem Ausdruck ‚Humanismus‘ viel mehr jene wesentlich anthropologisch orientierte, rationalethische, dem kirchlich reformatorischen Glauben an entscheidenden Punkten widersprechende Weltanschauung gekennzeichnet ist, wie sie im Basel des 16. Jahrhunderts ihre sehr verschiedenartigen, aber jedenfalls bedeutsamen Vertreter hatte.“ Etwas enger definiert Greyerz: Reformation (wie Anm. 5), S. 85f. 9 Guggisberg: Brennpunkt (wie Anm. 7), bes. S. 52f. <?page no="157"?> 158 Tim H. Deubel oder nicht, spielte keine Rolle) aus ihrem nikodemitischen Wohlverhalten heraustraten und ihre Ideen so vortrugen, dass sich die Vertreter des religiösen und politischen Establishments getroffen fühlen mussten“. 10 Diese Einschätzung wird unter anderem durch das fragmentarisch überlieferte Tagebuch von Johannes Gast (†1552), Diakon an St. Martin, gestützt. Obwohl Gast in seinen Aufzeichnungen z.B. den ‚Altgläubigen‘ gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt war, konnte er einzelnen von ihnen doch auch Anerkennung entgegen bringen, wie z.B. die Äußerungen über den Notar Adalbert Salzmann zeigen, den Gast als einen klugen Mann beschrieb, der die Predigten in der reformierten Kirche immer gerne besucht habe. 11 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Antwort, die der Buchbinder und Buchhändler Peter von Mecheln in den 1540er Jahren auf die Frage nach den religiösen Verhältnissen in Basel gab. So hätte derjenige, der sich ruhig verhielt und den Anforderungen der reformierten Kirche nachkam (z.B. Besuch des Gottesdienstes und des Abendmahls), in Basel nichts zu befürchten gehabt. 12 Aufgrund dieser und anderer Aussagen hatte Paul Burckhardt in seiner ausführlichen Darstellung der Ereignisse um den zwischen 1544 und 1556 trotz zahlreicher Mitwisser in Basel lebenden Täuferführer David Joris festgestellt, dass von einer „Inquisition der Gewissen“ in diesen Jahren keine Rede sein kann. 13 In der Eidgenossenschaft geriet Basel dagegen in den Ruf, der Reformation gegenüber „untreu“ und zu einer Freistatt von Ketzern geworden zu sein. 14 Besonders belastend für das Verhältnis zu den eidgenössischen Städten wurde die Debatte über die Hinrichtung von Michael Servet in Genf (1553), in der humanistische Gelehrte aus Basel eine Führungsposition einnahmen, 15 während nicht nur der als mild geltende Melanchthon, sondern auch andere einflussreiche Vertreter der Reformation die Hinrichtung begrüßten. Richteten sich die Angriffe immer wieder gegen protestantische ‚Radikale‘ wie Sebastian Castellio (†1563), die aus den unterschiedlichsten Teilen von Europa 10 Ebd., S. 53. 11 [Johannes Gast]: Das Tagebuch des Johannes Gast. Ein Beitrag zur Schweizerischen Reformationsgeschichte, bearb. v. Paul Burckhardt, Basel 1945, S. 335-337. 12 Hanspeter Jecker hält dies für eine treffende Einschätzung des Basler Umgangs mit den Täufern in diesen Jahren: Ketzer, Rebellen, Heilige. Das Basler Täufertum von 1580-1700, Liestal 1998, S. 46. 13 Paul Burckhardt: David Joris und seine Gemeinde in Basel, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 48 (1949), S. 5-106, hier S. 9 und 65. 14 Friedrich Heer: Die dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, Frankfurt a.M. 1960, S. 279f.; Gordon: Reformation (wie Anm. 5), S. 223; Hans R. Guggisberg: Sebastian Castellio 1515-1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997, S. 230f.: Als Sebastian Castellio, der Wortführer der Gegner von Calvin in der Debatte um die Hinrichtung von Servet 1563 in Basel starb, reagierte man in Genf und Zürich mit „unverhohlene[r] Genugtuung“, wo man Castellio mit einem „Geist unversöhnlichen Hasses“ entgegen getreten war. Zum Aspekt der vergleichsweise großen Verhaltensfreiheit in vormodernen Städten siehe die Einleitung zu diesem Band. 15 Gordon: Reformation (wie Anm. 5), S. 223. <?page no="158"?> 159 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ nach Basel gekommen waren und das geistige Klima in der Stadt prägten, so lebten über die Mitte des 16. Jahrhunderts hinaus auch zahlreiche Angehörige des katholischen Glaubens in Basel. 16 Wie unter anderem aus dem bereits erwähnten Tagebuch von Johannes Gast hervorgeht, stellte das Kartäuserkloster in Kleinbasel, das am Vorabend der Reformation 16 Zellen zählte, einen der Anlaufpunkte für die in der Stadt lebenden Katholiken dar. 17 Zu denen, die das Kloster nach der Reformation regelmäßig aufsuchten, gehörte auch der angesehene Stadtkonsulent Bonifacius Amerbach (†1562), der außerdem - wie andere Anhänger des katholischen Glaubens auch - über Jahre dem Abendmahl ferngeblieben war Der berühmteste unter den in der Stadt lebenden Katholiken war Erasmus von Rotterdam (†1536). 19 Die ihm entgegengebrachte Wertschätzung war nicht an Konfessionsgrenzen gebunden und gilt in der Forschung zu Basel als eines der wichtigsten Charakteristika für die offene Atmosphäre dieser Jahre. 20 Johannes Oekolampad (†1531), ‚der Reformator Basels‘, bemühte sich nach der Durchsetzung der Reformation Erasmus zum Bleiben zu bewegen Aufgrund der Unruhen in der Stadt zog es Erasmus aber vor Basel zu verlassen. 1535 kehrte 16 Vgl. Burckhardt: Joris (wie Anm. 13), S. 9. 17 Vgl. Gast: Tagebuch (wie Anm. 11). 18 Vgl. Samuel Schüpbach-Guggenbühl: Schlüssel zur Macht. Verflechtungen und informelles Verhalten im Kleinen Rat zu Basel, 1570-1600, Basel 2002, Bd. 1, S. 201-216; Ehrensperger: Gottesdienst (wie Anm. 3), S. 21f.: „Die Altgläubigen waren durch die Reformationsbewegung in Basel keineswegs verschwunden, obwohl sie den Messgottesdienst anderswo besuchen mussten. Sie waren sogar häufig Exponenten einer alteingesessenen gesellschaftlichen Elite. Es gab bestimmte Familien und Sippschaften, die am alten Glauben festhielten und die gelegentlich auch offen zeigten. Ihre Abneigung gegen den reformierten Glauben beruhte teilweise auf Verflechtungen mit dem bischöflich-habsburgischen Umfeld. Durch eine Ratserhebung wurden sie als permanente Nichtkommunikanten festgestellt; sie verweigerten konsequent ihre Teilnahme am reformierten Abendmahl. Als Verweigerungsgrund wurde von einigen erklärt, bei ihnen sei ‚Gottes Gnade noch nicht eingetroffen‘ Sie warfen dem neuen Glauben Ziellosigkeit vor, wahrten aber der Obrigkeit gegenüber ihren Gehorsam. Sie wollten erst einmal die Autorität eines Konzils abwarten und holten sich oft Rat bei erreichbaren katholischen Priestern, die gelehrter seien als die neuen Prädikanten.“ Vgl. ebenso Michel de Montaigne: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581, übers., hg. und mit einem Essay versehen von Hans Stilett, Frankfurt a.M. 2002, S. 39: „Selbst der Schmuck und die Einrichtung sind geblieben. Hierauf weisen die Basler als Zeugnis ihrer treuen Befolgung der Verpflichtungen eigens hin, die sie im Abkommen mit der katholischen Kirche auf sich genommen haben. Und dabei ist der örtliche Bischof ihr geschworener Feind! “ 19 Eine kurze Zusammenfassung von Erasmus’ Verhältnis zu Basel findet sich bei René Teuteberg: Basler Geschichte, Basel 1986, S. 186-192, hier S. 188: „von der Beschäftigung mit den Sorgen und Problemen der Basler hat er sich, mit Absicht, ferngehalten.“ 20 Gordon: Reformation (wie Anm. 5), S. 223; Werner Kaegi: Humanistische Kontinuität im konfessionellen Zeitalter, in: ders.: Historische Meditationen, eingel. u. hg. von René Teuteberg, Basel 1994, S. 140-153, hier S. 147. 21 Paul Roth bezeichnete Erasmus als „die stärkste geistige Stütze des alten Lagers“ in Basel: Durchbruch und Festsetzung der Reformation in Basel. Eine Darstellung der Politik der Stadt Basel im Jahre 1529 auf Grund der öffentlichen Akten, Basel 1942, S. 8. <?page no="159"?> 160 Tim H. Deubel er dann zurück und wurde von Studenten und Dozenten begeistert empfangen. 22 Sein letztes Lebensjahr konnte er in Ruhe verbringen, ohne dass er zu einem Bekenntnis des reformierten Glaubens gedrängt wurde. 23 Seine Gebeine begrub man im Münster und ließ ihm zu Ehren und trotz der Verpönung von Bildern in der reformierten Theologie einen Epitaph errichten Von dem Begräbnis, bei dem Oswald Myconius als Antistes der Basler Kirche die Totenrede hielt, berichtete Beatus Rheanus: „Wie allgemein man sein Hinscheiden bedauerte, zeigte die große Zahl der Leute, die den Verstorbenen noch ein letztes Mal sehen wollten, Studenten trugen ihn auf den Schultern zum Grabe im Münster; dort wurde er neben der Treppe, auf der man zum Chor hinaufsteigt, auf der linken Seite des Gotteshauses, in der einstigen Kapelle der heiligen Jungfrau, ehrenvoll beigesetzt. Im Leichenzug sah man ausser dem Bürgermeister auch die allermeisten Ratsherren; von den Studenten und Professoren fehlte keiner“. 25 Während wenige Jahre später (1540) Hieronymus Froben und Nicolaus Episcopius die ‚Opera omnia‘ von Erasmus herausgaben, wurden sie von den Fakultäten in Löwen und Paris verboten. Nach dem Abschluss des Konzils von Trient (1563) wurden sie schließlich von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt. 26 Unter den aus Frankreich, den Niederlanden und Italien nach Basel kommenden Glaubensflüchtlingen fanden dagegen die Werke von Erasmus weitere Verbreitung und spielten in der Debatte um die Verbrennung von Michael Servet eine wichtige Rolle. Noch in den 1580er Jahren war es in Basel unter den Gebildeten eine Schande, Erasmus nicht zu kennen, weshalb Christian Wurstisen schrieb: „Wer von dises Manns fürbündigkeit nichts weißt, khan nicht anders dann ein idiot unnd ungelehrter ley sein.“ 27 22 Geiger: Kirche (wie Anm. 6), S. 15: „Jubel der Studenten und Dozenten“; Hans R. Guggisberg, Erasmus und Basel, in: ders.: Zusammenhänge in historischer Vielfalt: Humanismus, Spanien, Nordamerika. Eine Aufsatzsammlung herausgegeben unter Mitarbeit von Christian Windler, Basel/ Frankfurt a.M. 1994, S. 39-52, hier S. 46. 23 Vgl. Teuteberg: Geschichte (wie Anm. 19), S. 186-192, hier S. 193. 24 Womit es trotzt der Abstellung jeglichen Totenkults nach der Reformation zu dem „ersten Grabmonument in Basel nach der Reformation“ wurde: Historisches Museum Basel. Führer durch die Sammlungen, Basel 1994, S. 111; auch die Stadt Freiburg i.Br. hatte, allerdings bereits 1537, ein Epitaph für Erasmus anfertigen lassen. Die „zwei einzigen, Ende des 16. Jahrhunderts entstandenen Basler Bildnisepitaphe“ waren für zwei „bedeutende, und wie Erasmus nicht aus Basel stammenden Gelehrten“ gefertigt worden. 25 Zit. nach Guggisberg: Erasmus (wie Anm. 22), S. 47f.; vgl. Rudolf Pfister: Kirchengeschichte der Schweiz, Bd. 2, Zürich 1974, S. 105f. 26 Vgl. Silvana Seidel Menchi: Erasmus als Ketzer. Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts, Leiden/ New York/ Köln 1993. 27 Guggisberg: Erasmus (wie Anm. 22), S. 49, zuerst diese Ausführungen bei Kaegi: Kontinuität (wie Anm. 20). <?page no="160"?> 161 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ II. Der Konflikt um Antoine Lescaille Zu diesem Zeitpunkt lebte Lescaille schon seit einigen Jahren in Basel und hatte, nachdem er 1573 ohne großen Besitz in die Stadt gekommen war, als Bandweber ein gut gehendes Geschäft aufgebaut, zu dem Gesellen und ein Haus am Kornmarkt gehörten. 28 Im Oktober 1590 suchte er dann - nachdem er 17 Jahre in Basel als angesehenes Mitglied der Stadtgemeinschaft gelebt hatte 29 - den Vorsteher der französischen Gemeinde, Léonard Constant (†1609/ 10), auf und teilte ihm mit, dass er sich darüber wundere, wie in der französischen Gemeinde über die guten Werke gepredigt wurde. In der Überlieferung wirken die Worte von Lescaille nicht unbedingt wie ein Angriff auf die protestantische Lehre. Dennoch zeigt die Entwicklung der Ereignisse, dass mit diesem Gespräch ein Konflikt ausgebrochen war Gemäß den üblichen Maßgaben der Kirchenzucht, die mehrere Aussprachen mit dem in ‚Irrtum‘ geratenen forderten, stellten ihn die Vertreter der französischen Gemeinde wenige Tage später zur Rede. 31 Ohne Umschweife gab ihnen Lescaille zur Antwort: „ja / ich hab gesagt / ich glaube gantz das widerspiel dessen / daß ir gepredigt habt“. 32 Quellenlage Über die Auseinandersetzungen berichtet unter anderem eine im Herbst des Jahres 1591 in deutscher und französischer Sprache veröffentlichte Schrift. Sie wurde in der dritten Person abgefasst und trägt als Namen des Autors nur eine 28 Heute der Marktplatz, das Haus zum „Salmen“; außerdem befand sich ein Verlag im Besitz von Lescaille; vgl. die von Paul Koelner verfasste Chronik, online: http: / / www.safranzunft. ch/ koelner_chronik/ Teil_2/ Passementer/ Passementer.htm, zuletzt abgerufen am 08.01.2013; Geering: Handel (wie Anm. 1), S. 483f. 29 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS) Abscheidbuch D 4, S. 171, v. 10. Mai 1592: „etlich Jar in seiner Handtierung und gwerb ehrlich wol und wiesich gepürt verhalten und getragen“. Des Herren Burgermeisters und Rhat der Statt kurtzer Glaubwirdiger Bericht von unruhigen handlungen in Religionssachen ihres ausgewichenen gewesenen Burgers Anthonij Lescallaei, s.l. [Basel? ] 1595, o.P.: „daß er / viel jar hero / sampt seinem Weib und kindern […] da er geringstes vermögens alhier ankommen […] unnd ein gute Nahrung / Häuser / Hab und zimlich Gutes erworben“. Das Bürgerrecht wurde Lescaille 1577 gewährt, zwei Jahre später wurde er Mitglied in die Zunft zum Schlüssel, noch einmal zwei Jahre später, 1581, Mitglied in der Zunft der Weber, vgl. die Chronik von Koelner (wie Anm. 28); in Lescailles Geschäft waren nach 1587 18 Gesellen tätig; zu den Anstellungen genauer Geering: Handel (wie Anm. 1), S. 483. 30 Emil Thommen datierte den Ausbruch des Streits auf den August 1591: Antoine Lescaille, in: Zeitschrift für schweizerische Geschichte 24 (1944) 2, S. 220-236, hier S. 230. 31 Vgl. Ulrich Pfister: Art. Kirchenzucht. 3. Soziale und gemeindlich Praxis, in: EdN 6, Sp. 697-701, hier 698. 32 Die alte Lehr von der ersten / andern / unnd dritten / oder letsten Gericht / fast nuetzlich und noetig allen Christen / dieweil sie dadurch bewegt koen[n]en werden gutes zuthun / so lang sie zeit dazu haben / und zu bitten / daß sie wuerdig gemacht werden zu fliehen den zukuenfftigen zorn / und zubestehen für dem Richterstul unseres HERREN Jhesu Christi, s. l. [Basel? ] 1591, S. 34: Auf dem Treffen ging es eigentlich um die Organisation des anstehenden Nachtmahls. <?page no="161"?> 162 Tim H. Deubel Abkürzung aus acht Buchstaben. 33 Dennoch steht die Autorschaft von Lescaille kaum infrage Obwohl es sich bei dieser Schrift um keine ‚neutrale‘ Darstellung der Ereignisse handelt und ihr Zweck in der Rechtfertigung des eigenen Glaubens lag, gibt die Schrift von Lescaille doch einen guten Einblick in die Dynamik der Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. In den Quellen des Staatsarchives von Basel (v.a. in den von Seiten der Kirchenvertreter verfassten Supplikationen), die erst im August 1591 einsetzen, 35 wiederholen sich die Argumentationen, und die Auseinandersetzungen nehmen keine grundsätzlich neue Form an. Genaueren Aufschluss über die Haltung des Rats gibt vor allem eine Flugschrift, die 1595 vom Rat veröffentlicht wurde und auf die unten näher eingegangen wird. Aufgrund dieser Eigenheiten der Überlieferung wurde der Schwerpunkt der folgenden Darstellung auf die Überlieferungen von Lescaille gelegt. Der Konflikt, auf den hier eingegangen wird, zog sich von Oktober 1590 bis Mai 1592 hin. Auf die Vorgänge nach 1592 wird hier nicht eingegangen, da dies für die hier verfolgte Fragestellung nicht von Bedeutung ist. Gegenstand des Konflikts Im Mittelpunkt des Konflikts stand das Verständnis der guten Werke, über die Lescaille zu den Vertretern der französischen Gemeinde sagte: „Ich aber glaube / daß am jüngsten Tage die guten Wercke / den Glaubigen folgen werden vor den Richterstul Christ / und werden gut / heilig / gerecht und GOTT wolgefällig gefunden werden / unnd werden dermassen in die rechnung auffgenommen werden / daß auch ein Bächer voll kaltes wassers / in diser Welt / in dem Namen Christi gegeben / seine Belohnung nicht verlieren werde.“ 36 Mit diesen Worten stellte Lescaille ein Grundprinzip (sola fide) der Reformation in Frage, welches in Basel durch das vom Rat 1534 erlassene und einmal im Jahr durch die Pfarrer von den Kanzeln verlesene Bekenntnis geregelt wurde. Dessen Wortlaut bezeichnete Lescaille als klar und verständlich. 37 In der am 1. April 1529 erlassenen Reformationsordnung hatte man für einen Verstoß gegen den in 33 Nach dem 4. Oktober 1591, in der dritten Person abgefasst unter der anonymisierenden Abkürzung A. L. P. D. D. G. G. H.: Die alte Lehr (wie Anm. 32). 34 Vgl. Peter G. Bietenholz: Basle and France in the sixteenth century. The Basle humanists and printers in their contacts with Francophone culture, Genf 1971, S. 100f. Hier findet sich auch eine, wenn auch lückenhafte Aufstellung von Lescailles Schriften. Bibliographisch noch überhaupt nicht erfasst sind die gegen Lescaille publizierten Schriften. 35 Die Überlieferungen im Basler Staatsarchiv setzten mit einer Supplikation der Vertreter der französischen Gemeinde am 12. August 1591 ein. Die wesentlichen Basler Bestände sind überliefert in den Beständen Criminalia, Kirchen M 5, A 7, Kirchenarchiv 3.1; die Protokolle des Kleinen Rats verzeichnen den ersten Eintrag zu Lescaille am 16. August 1591. 36 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 34f.: 26. Oktober 1590. 37 Ehrensperger: Gottesdienst (wie Anm. 3), S. 130-140: Erst 1826 gab man die öffentliche Verlesung auf, Mandate der Obrigkeit stützten sich immer wieder auf das Bekenntnis. Noch <?page no="162"?> 163 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ Basel gehaltenen Glauben festgelegt, dass jemand, der trotz mehrmaliger Belehrung an seinem Glauben festhielt, an Leib, Leben oder Gut zu bestrafen ist Die für die Auseinandersetzungen entscheidenden Passagen des Bekenntnisses sollen aus diesem Grund hier wiedergegeben werden: „Wir bekennen die Vergebung der Sünden durch den Glauben an Jesum, den Gekreuzigten, und obwohl dieser Glaube sich ohne Unterlass durch die Werke der Liebe […] bewiesen wird, so rechnen wir die Gerechtigkeit und Genugtuung für unsere Sünde nicht den Werken zu, die des Glaubens Früchte sind, sondern allein dem wahren Vertrauen und Glauben an das vergossene Blut des Lammes Gottes. Denn wir bekennen frei, dass uns in Christo […] alle Dinge geschenkt seien. Deshalb geschehen die Werke der Gläubigen nicht zur Genugtuung ihrer Sünden, sondern allein dazu, daß sie dadurch Gott dem Herrn sich für seine große, uns in Christo bewiesene Guttat einigermaßen dankbar erweisen.“ 39 1741 wurden Untertanen als Separatisten angezeigt, wenn sie sich gegen das Bekenntnis auflehnten. 38 „Wölcher oder wölche etwas glauben, leren oder predigen, das den zwölff artickelen unsers heyligen, ungezwyfelten, christenlichen glaubens widerig, oder wölche die gottheit oder menschheit Christi Jesu, unsers einigen heylands, verlöugnend, schmähend, oder das hohe verdienst sines heyligen bittern sterbens und lydens vernichtend oder schmälerend unnd sich mit dem göttlichen wort von irer irthum nit abwysn lassen, die wöllend wir an irem lyb, leben und gut straffen.“ Paul Roth (Hg.): Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd. III, Basel 1937, S. 383-409, hier S. 401. Ehrensperger: Gottesdienst (wie Anm. 3), S. 114: Der umfangreiche Text der Basler Reformationsordnung ist in zwei Teile gegliedert. Der erste enthält Bestimmungen zur Neuordnung der Kirche und des Eherechtes, Weisungen für Prediger, Ordnungen für die Sakramente Taufe und Abendmahl. Der zweite Teil ist ein Sittenmandat, eine obrigkeitliche Zuchtordnung. Nach dem Wegzug des Bischofs übernahm der Rat die Verantwortung der vorherigen kirchlichen Hierarchie. Nach zürcherischem Vorbild wurde eine Synode geschaffen, der nur Leutpriester und Diakone in Stadt und Land angehörten. Examinatoren waren zur Überwachung der Reformationsordnung zuständig. In den an Bedeutung zunehmenden Bestimmungen über den Kirchenbann richtete sich die Reformationsordnung nach den Vorstellungen Oekolampads. Die praktische Ausübung der Bannordnung lag zunächst in den Händen der Pfarrerschaft, galt also als eine rein kirchliche Strafe. Vgl. Olaf Kuhr: ‚Die Macht des Bannes und der Buße‘. Kirchenzucht und Erneuerung der Kirche bei Johannes Oekolampad (1482-1531), Bern 1999, S. 174-176. 39 Zitat nach Ernst Staehelin: Das Buch der Reformation, Basel 1929, S. 247f.; vgl. Paul Roth (Hg.): Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, Bd. VI, Basel 1950, S. 403-410, hier S. 408; Vom jüngsten Tag heißt es direkt anschließend: „wir glauben, daß ein jüngstes Gericht sei, an welchem die Auferstehung des Fleisches sein wird; da wird auch ein Jeder von Christo, dem Richter empfangen nach dem, wie er sich hier im Leben verhalten hat, nämlich das ewige Leben, wenn er aus wahrem Glauben mit ungefärbter Liebe die Früchte des Glaubens […] gewirkt hat, und das ewige Feuer, wenn er ohne Glauben oder mit erdichtetem Glauben ohne Liebe Gutes oder Böses begangen hat.“ <?page no="163"?> 164 Tim H. Deubel Austragung des Konflikts Zunächst beschränkte sich der Konflikt nur auf die französische Gemeinde, in der Lescaille selbst das Amt eines Ältesten inne hatte. 40 Nachdem Lescaille gegenüber Constant seinen Unmut über die Predigten geäußert hatte, versuchten die Vertreter der Gemeinde in mehreren Gesprächen den Konflikt mit Lescaille beizulegen. In der Regel waren im Rahmen der Kirchenzucht drei Gespräche für die Beilegung eines Konflikts dieser Art vorgesehen. 41 Lescaille gab in den Gesprächen aber seine Kritik an den Predigten nicht auf, sondern beharrte auf seinem Verständnis der guten Werke, das er mit dem Wort Gottes, dem „Symbolum der Apostel“ und dem Basler Bekenntnis legitimierte. Als am 3. November 1590 auch die dritte Aussprache scheiterte, 42 eskalierte der Streit und Lescaille erklärte seinen Austritt aus der französischen Gemeinde. 43 Daraufhin wandten sich die Gemeindevertreter an Johann Jacob Grynaeus, den Vorsteher der Basler Kirche, der in den darauffolgenden Monaten als eine Art Mediator in den Auseinandersetzungen fungierte. 44 Grynaeus sah zunächst in der Sache keinen dringenden 40 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 31. Die Gemeinde war nach der Bartholomäusnacht als ein Zugeständnis an die nach Basel geflüchteten Hugenotten entstanden und besaß nicht nur eine eigene Organisation, sondern auch eigene Räumlichkeiten. Allerdings hatte sie keine Freiheiten in der Auslegung des Glaubens, sondern war hierin ganz abhängig von der Basler Kirche. 41 Eine genauere Untersuchung der Kirchenzucht in Basel steht weiterhin aus. 42 Das übliche Verfahren in den Basler Bannbehörden sah vor, dass nach dreimaliger vergeblicher Mahnung der Schuldige den Standeshäuptern angezeigt wird: Formular des Kirchenbanns von 1530 in: Emidio Campi/ Philipp Wälchli (Hg.): Basler Kirchenordnungen 1528-1675, Zürich 2012, S. 46f. 43 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 46-48; zwar versuchten Constant und die Ältesten den Bruch rückgängig zu machen indem sie nochmals Lescaille aufsuchten. Doch führte dieses Gespräch zu keiner Versöhnung. Unklar bleibt in der Beschreibung wie der Austritt von Lescaille zu den daraufhin erwähnten Versuchen von Couet und anderen Angehörigen der Gemeinde passte, Lescaille aus seinen Ämtern in der Gemeinde zu entlassen. Dazu scheint es nicht gekommen zu sein: Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 50: Lescaille sagt, dass Constant und „un[d] eliche andere / deren der grössest hauff ware[n] / wolten darein nit bewilligen“. In der Darstellung von Lescaille war er es selbst, der sein Amt als Ältester aufgab: S. 51 u. 32, 52: Constant soll „von hertz[n] betrübt“ gewesen sein. 44 Nach dem Durchbruch der Reformation war die reformierte Kirche in Basel vom ‚Staat‘ abhängig; es kam aber nicht zu einer vollkommenen Trennung beider Seiten, sondern beide waren eng miteinander verbunden, weshalb es bei einer Vermischung von ‚staatlichem‘ und christlich-kirchlichem Belangen blieb; zum Verhältnis von ‚Staat‘ und Kirche genauer: Karl Goetz: Die Verbindung von Kirche und Staat in der alten reformierten Kirche Basels, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 40-41 (1941/ 42), S. 5-22, zum Amt des Antistes bes. S. 10f. Die Reformationsordnung von 1529 legte fest, dass drei oder vier aus der Bürgerschaft bestimmte Herren auf die Verkündung des ‚göttlichen Worts’ durch die Prädikanten achten sollten, ebenso darauf, dass Übeltäter bestraft oder beim Kleinen und Großen Rats angezeigt wurden; einer oder zwei von ihnen waren Mitglieder des Rats (sogenannte deputati ad ecclesiam), zwei oder drei waren Bibelgelehrte. Zu Grynaeus vgl. Thomas K. Kuhn: Art. Grynaeus, Johann Jakob, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online: http: / / www. hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D10645.php, zuletzt abgerufen am 08.01.2013; Geiger: Kirche (wie <?page no="164"?> 165 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ Handlungsbedarf und antwortete den Vertretern der Gemeinde, dass man in der Zeit der Messe die Kaufleute nicht ‚irre‘ machen sollte. Auch im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen gab man Lescaille immer wieder die Möglichkeit seinen Geschäften nachgehen zu können, weshalb sich die Befragungen mehrmals um einige Wochen verzögerten. Ab einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt nutzte Lescaille zudem seine Reisen, die ihn sowohl in unterschiedliche Teile der Schweiz als auch ins Alte Reich und nach Frankreich führten, um für seine Position in den Auseinandersetzungen Unterstützung zu suchen, so z.B. bei Theodor Beza in Genf. In der Überlieferung der Ereignisse durch Lescaille wird deutlich, dass Grynaeus nach seiner Hinzuziehung die maßgebliche Person in den Auseinandersetzungen war. Er bestimmte das Vorgehen, was sich auf einen von Olaf Kuhr beschriebenen Trend zurückführen lässt, demzufolge sich Kirchenzucht und obrigkeitliche Sittenzucht nach dem Tod von Oekolampad immer enger miteinander verbanden Diese Entwicklung führte dazu, dass der Rat die Bannherren autorisierte, Delinquenten nicht nur zu exkommunizieren, sondern gemäß der Sittenmandate mit weiteren Strafen zu belegen, weil er selbst mit vielen Angelegenheiten beschäftigt sei und nicht durch Dinge, die die Geistlichkeit berühren, zu sehr an seinen Regierungsgeschäften gehindert werden wolle. 45 Die französische Gemeinde war aber nach der Einschaltung von Grynaeus von den weiteren Ereignissen nicht ausgeschlossen. Ihre Vertreter nahmen weiterhin an den Gesprächen teil und übten auf sie Einfluss aus. In welchem Maße, ist allerdings schwer zu sagen. Jedoch zeigt der weitere Verlauf des Konflikts, dass Grynaeus die Auseinandersetzungen, nachdem er sich ihrer schließlich angenommen hatte, in keine neuen Bahnen lenkte. Stattdessen folgte er dem Ziel, das schon von den Vertretern der französischen Gemeinde verfolgt worden war und versuchte den Konflikt durch die Aussöhnung von Lescaille mit der französischen Gemeinde beizulegen. An den Gesprächen, die Grynaeus mit Lescaille führte, nahmen neben den Vertretern der Basler Kirche auch die der französischen Gemeinde und einzelner Zünfte teil, in denen Lescaille Mitglied war (Schlüssel, Weber). Als sich die Fronten gegen ihn verhärteten, hatte sich Lescaille an diese gewendet und um Unterstützung gebeten. Der Ort der Befragungen war zumeist das Konsistorium. Es konnte aber auch zu Vieraugengesprächen kommen, wie am 1. Dezember 1590, als Grynaeus mit Lescaille in seinem Studierzimmer sprach oder als später der Bürgermeister Lescaille zu einem Zwiegespräch kommen ließ. Neben den Anm. 6), S. 40-45; zum Antistitium von Simon Sulzer (1553-1585): Hans R. Guggisberg: Das lutheranisierende Basel. Ein Diskussionsbeitrag, in: Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Gütersloh 1992, S. 199-201: das Antistitium Sulzers war für die „radikal gesinnten Glaubensflüchtlinge und ihre humanistisch gebildeten Balser Protektoren“ ein „Glück“. Zu den Geschehnissen am 4. November 1590: Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 52. 45 Vgl. Kuhr: Macht (wie Anm. 38), S. 246. <?page no="165"?> 166 Tim H. Deubel unter der Leitung von Grynaeus durchgeführten Befragungen kam es darüber hinaus zu weiteren Initiativen der französischen Gemeindevertreter. Jedoch riefen sie Lescaille nicht mehr in ihre Gemeinde, sondern besuchten ihn in seinem Haus. Auch Lescaille gab die Versuche zu einer Beilegung des Konflikts nicht auf und suchte mit einzelnen Vertretern der französischen Gemeinde ebenso wie mit nicht immer namentlich genannten Vertretern der Zünfte oder Mitgliedern der Gemeinde das Gespräch. Neben Grynaeus waren es besonders der bereits erwähnte Léonard Constant und Jacques Couet 46 (†1608), die das Geschehen bestimmten. Dazu kamen die Ältesten der Gemeinde. Sie nehmen allerdings in der Überlieferung keine herausragenden Rollen ein und werden oft nicht einmal bei ihrem Namen genannt. Glaubt man der Darstellung von Lescaille, zeigte sich Grynaeus in den Befragungen weniger streng als die Vertreter der französischen Gemeinde. Er war demnach nicht nur der Meinung, dass der Streit bald beigelegt sein werde, 47 sondern er zeigte für Lescailles Verhalten auch Nachsicht und entgegnete auf einen der Einwürfe der französischen Gemeinde, dass nicht alle dazu fähig seien, an den Tag zu geben, was sie im Herzen tragen. 48 Allerdings gab Grynaeus Lescaille auch den Rat, dass es für ihn sicherer sei, zu lernen und nicht zu lehren. 49 Tatsächlich hoffte Lescaille auf die Möglichkeit, sein Verständnis der guten Werke in einer Disputation vor den Vertretern der Kirche darlegen zu dürfen - ein Wunsch auf den sich Grynaeus auch später unter keinen Umständen einlassen wollte. Freundschaftsbekundungen Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die gegenüber Lescaille offenbar zum Ausdruck gebrachten Freundschaftsbekundungen. 50 Diese konnten ohne genauer erkennbaren Anlass zustande kommen oder aber sie gingen auf die konkrete Initiative von Lescaille zurück. Besonders eindrucksvoll fiel die Unterstützung am 18. August 1591 aus, als Lescaille die Hausväter der französischen Gemeinde aufsuchte und sie auf den Konflikt ansprach. In der Beschreibung von Lescaille gaben ihm dreißig der etwas mehr als vierzig Hausväter als Zeichen der Freundschaft die Hand und sagten, „sie hetten zu keiner zeit gesehen oder gehört / daß er etwas / so einem Christen vbel anstünde / gesagt oder gethan“. 51 Dass die Unterstützung in der Stadt nicht nur eine von Lescaille verzerrte Darstellung der Wirklichkeit war, mit der er seine soziale Integrität einem öffentlichen Publikum 46 Es gibt in der Forschung unterschiedliche Schreibweisen des Namens: Bietenholz: Basle (wie Anm. 34) spricht von Couet, dagegen findet man auch Covet. 47 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 58. 48 Ähnlich ebd., S. 54f. und 59. 49 Ebd., S. 61. 50 Ebd., S. 76f.: So suchte ihn Castilion, einer der Ältesten der französischen Gemeinde, auf und wunderte sich, warum man sich uneinig wäre. Seinem Verständnis nach, würden alle an ein „Ding“ glauben. 51 Ebd., S. 141. <?page no="166"?> 167 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ belegen und damit die Schuld an dem seit Monaten andauernden Konflikt von sich weisen wollte, bestätigen etwa eine Handvoll von Hinweisen in den überlieferten Supplikationen der Kirchenvertreter. 52 Obwohl Lescaille versuchte, mit der ihm von Seiten der französischen Gemeinde gezeigten Unterstützung seine Position vor dem Rat zu stärken, hat dies zu keinem Erfolg geführt, der sich nachhaltig auf den Konflikt ausgewirkt hat. Nicht nur aus diesem Grund muss man wohl eher annehmen, dass Lescaille in der Stadt nach und nach weitgehend isoliert war. Verschärfung Eine Verschärfung der Auseinandersetzungen trat dann gegen Ende des Jahres 1590 ein, als Lescaille von Grynaeus der Vorwurf gemacht wurde, er sei ein Alberist. 53 Claude Albery 54 hatte 1587 ein Buch über die Rechtfertigung des Menschen veröffentlicht, das auf der Synode von Bern 1588 verdammt wurde. Albery war auf einer seiner Reisen nach Basel gekommen und hatte offenbar mit Lescaille Bekanntschaft gemacht. Auf den Vorwurf von Grynaeus, den ‚Irrtümern‘ von Albery anzuhängen, antwortete Lescaille, dass er sich schon vor Alberys Aufenthalt in Basel über die Predigten in der französischen Gemeinde beklagt hätte. 55 Es sei nicht Albery und auch kein anderer gewesen, der ihn zu der Klage gebracht hätte, sondern er habe dies aufgrund seines Amtes als Ältester der Gemeinde getan. 56 Nachdem sich Lescaille verteidigt hatte, wies er auf die bisherigen drei Befragungen hin, die alle ohne den Nachweis eines Irrtums verlaufen seien und erklärte, dass er aus diesem Grund nicht von seinem Standpunkt abweichen wolle. Er habe achtzehn Jahre der Obrigkeit gegenüber Gehorsam gezeigt und würde es 52 In ihnen wird immer wieder von Anhängern Lescailles gesprochen, ohne diese allerdings genauer zu benennen (es kann sich bei diesen Erwähnungen aber auch nur um die Familie von Lescaille handeln). Erst nachdem der Konflikt in Basel entschieden war, berichtet Grynaeus von etlichen „fremden“ Anhängern. Insgesamt ist es wenig wahrscheinlich, dass die Lescaille beschriebenen Freundschaftsbekundungen ein reines Phantasieprodukt waren, denn auch andere tendenziöse Beschreibungen aus dem 16. Jahrhundert stilisieren selten die Ereignisse als vielmehr ihre Deutung, vgl. auch den Beitrag von Eric Piltz in diesem Band. StABS Kirchen M 5, 30. Juli: Grynäus spricht hier nur von „Anhang“ und meint vielleicht nur die Familie; vgl. StABS Kirchen M 5, 1. Februar; Kirchen M 5, 27. November 1593: Grynaeus spricht von etlichen fremden Anhängern. 53 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 67: nach Grynaeus Worten dauerte der Konflikt schon jetzt unerwartet lange; später sagte Grynaeus selbst Lescaille nur noch eine gewisse Nähe zu Albery nach; allerdings hat sich in der älteren Geschichtsschreibung dennoch die Meinung verfestigt, dass Albery für Lescaille der entscheidende Meinungsbildner war, so Thommen: Lescaille (wie Anm. 30), S. 220. 54 Verbreitet ist auch die Schreibweise Aubery. 55 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 68. 56 Vgl. Thommen: Lescaille (wie Anm. 30), S. 221f.: „Das Verhängnis wurde herbeigeführt durch Lescailles Freundschaft mit seinem Landsmann und Glaubensgenossen Claude Albery in Lausanne.“ <?page no="167"?> 168 Tim H. Deubel auch weiterhin so halten, er schloss mit den Worten: „Darumb bleib ich steiff und fest auff dem / was ich zuuor gesagt / vnd will gar nichts anders mehr antworten.“ 57 Mit dieser Weigerung von Lescaille gab Grynaeus seine Nachsicht auf und bestimmte, dass Lescaille vor der französischen Gemeinde zu erscheinen habe, damit er dort nach dem Gesetz, mit dem er als einer der Ältesten der französischen Gemeinde Leute gerichtet hatte, selbst gerichtet werde. 58 Dieses Urteil blieb für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen bindend. Über die Beratungen in der Versammlung, von denen Lescaille nach seiner Stellungnahme (und zu einem späteren Zeitpunkt auch die Vertreter der französischen Gemeinde) ausgeschlossen wurde, haben sich keine Überlieferungen erhalten. Was mit dem ‚Gesetz‘ der französischen Gemeinde gemeint ist, wird nicht genauer gesagt. Die folgenden Ereignisse zeigen aber, dass im Mittelpunkt dieser Forderung weiterhin die Beilegung des Konflikts mit der französischen Gemeinde stand. Wie diese ausfallen sollte, war allerdings nicht klar festgelegt. Zumindest unternahmen die Vertreter der französischen Gemeinde weitere Versuche, bei denen sie Lescaille unterschiedliche Auswege aus dem Konflikt anboten. Einige dieser Versuche scheinen auch Erfolg gehabt zu haben. Es gehört jedoch zu den aus den Überlieferungen kaum genauer nachvollziehbaren Eigenheiten der Auseinandersetzungen, dass diese Einigungen immer wieder zerbrachen. Die Überlieferung der Ereignisse erweckt den Eindruck, dass es Lescaille war, der die Vereinbarungen schließlich immer wieder durch sein Verhalten unterlief. Allerdings sind die Überlieferungen zu wenig genau, weshalb sich die Ursachen für das Scheitern einer dauerhaften Beilegung in der Überlieferung nicht deutlich erkennen lassen. In der Beschreibung von Lescaille erscheinen die erzielten Verständigungen über die Glaubensfragen fast wie Missverständnisse. Durch Lescailles Auftreten als Rechtgläubiger und sein dadurch bedingtes, vollkommen unnachgiebiges Verhalten kam es jedenfalls dazu, dass die Vertreter der französischen Gemeinde am 25. Januar 1591 mit ihm brachen. An diesem Tag hätte Lescaille den Konflikt durch eine einfache Erklärung vor der versammelten französischen Gemeinde beenden können, dass das Bekenntnis der Franzosen und das Bekenntnis der Basler übereinstimme. Damit wäre der Streit von den Gemeindevertretern als beigelegt betrachtet worden und man hätte nicht mehr weiter darüber gesprochen. Aber Lescaille wollte das Angebot nicht annehmen und forderte stattdessen, man müsse ihm zuerst beweisen, dass er schlecht über das Bekenntnis der Franzosen geredet habe. Solange man dies nicht tue, würde er nur sehen, wie man ihn um seine „Burgerliche vnnd Christliche Freyheit“ bringen wolle. 59 Anschließend machte er ein Gegenangebot und sagte, er wäre zufrieden, wenn man gemeinsam vor der Gemeinde das Basler 57 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 70. 58 Ebd., S. 71: „Dieweil er [Lescaille] nicht allein ein Glied der Frantzösischen Kirchen / sondern auch einer von den Vorsteheren derselben were / verordneten sie [Grynaeus und die Vertreter der deutschen Kirche] / er solle sich zu derselben Kirchen widerumb finden / daß er nach dem Gesetz / nach welchem er andere Leut gerichtet hette / auch selbst gerichtet würde.“ 59 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 79f. <?page no="168"?> 169 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ Bekenntnis vorlesen würde. Aber Constant und die Ältesten wollten darauf nicht eingehen und erklärten, wenn Lescaille einem „so billichs ding“, wie sie es von ihm erbaten, nicht nachkommen wolle, würde man ihn nicht mehr für einen Bruder halten. 60 Hinzuziehung des Rats Drei Monate später, im April 1591, war es dann Lescaille selbst, der sich an den Bürgermeister wandte und erklärte, er wäre mit den Prädikanten der französischen Gemeinde „uneinig“. In den folgenden Wochen versuchte Lescaille mehrmals seine Sache vor dem Rat darstellen zu dürfen, doch war dieser mit anderen Aufgaben beschäftigt und schlug seine Bitte mehrmals ab. 61 Als Lescaille dann endlich vorgelassen wurde, veränderte sich die Situation nicht grundsätzlich. Stattdessen folgte der Rat der von Grynaeus ausgegebenen Route, indem der Bürgermeister am 18. Mai 1591 Lescaille im Beisein des Zunftmeisters Huber, des Kanzlers und Grynaeus erklärte, dass die Bekenntnisse der französischen Gemeinde und der Basler gleich wären und Lescaille sich ohne zu disputieren an diese halten solle. Er brauche zwar die französische Gemeinde nicht weiter zu besuchen, müsse sich aber mit ihr versöhnen. Am 17. August 1591 wiederholte der Bürgermeister in einem Vieraugengespräch mit Lescaille den gefassten Entschluss über die seit nunmehr zehn Monaten anhaltenden Auseinandersetzungen und forderte, dass Lescaille seinen Irrtum vor der französischen Gemeinde eingestand. Entscheidung des Konflikts Im Staatsarchiv findet sich dann auch ein mit den Worten „Widerruf Anthoni Lescaille wegen irriger Lehr“ bezeichnetes Dokument, das eine kurze Rede überliefert, die Lescaille vor der französischen Gemeinde am 29. August 1591 gehalten hat. 62 Allerdings handelt es sich dabei um keinen Widerruf, sondern um eine Stellungnahme, in der Lescaille den Konflikt auf ein Missverständnis zurückführt. Einen Irrtum im Verständnis der guten Werke gestand Lescaille nicht 60 Ebd., S. 80f., 32 und 51 (Abdruck des entsprechenden Briefs von Lescaille an die französische Gemeinde), S. 88-90 (Brief der Vertreter der französischen Gemeinde an Lescaille): Lescaille berichtet, dass er am 4. November 1590 von sich aus sein Amt als Ältester in der französischen Gemeinde aufgrund der „uneinigkeit“ zwischen ihm und den Prädikanten der Gemeinde, Constans und Couet, aufgegeben habe. In den weiteren Auseinandersetzungen sprachen die Vertreter der französischen Gemeinde Lescaille weiterhin als „unseren Bruder“ an, so z.B. in einem Brief vom 11. März 1591, den Lescaille im genauen Wortlaut überliefert. Dennoch heißt es in diesem Brief auch, dass man Lescaille nach getaner Buße wieder aufnehmen würde. 61 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 121: 18. und 20. Juni 1591. 62 StABS Kirchen A 7 Religionssachen, 29. August 1591: Widerruf Anthoni Lescaille wegen irriger Lehr; es handelt sich bei dem Dokument um eine Kopie, der Begriff ‚Widerruf‘ findet sich in dem inhaltlich identischen Original nicht: StABS Kirchen M 5, 29. August 1591; vgl. Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 133-135: hier findet sich ein weiteres Schreiben der Vertreter der französischen Gemeinde an Lescaille; es kann in diesem Rahmen nicht auf alle Vorgänge eingegangen werden. <?page no="169"?> 170 Tim H. Deubel ein. Stattdessen erklärte er, er habe zu jedem Zeitpunkt geglaubt, was in dem Apostolischen Symbolum und den kanonischen Büchern des Alten und Neuen Testaments geschrieben steht, so wie es die Basler Konfession zusammenfasse. Nachdem er die Rechtmäßigkeit seines Glaubens betont und den gegen ihn vorgebrachten Verdacht zurückgewiesen hatte, kam er auf den großen Nachteil und Schaden zu sprechen, der ihm aus den Auseinandersetzungen entstanden sei. Schließlich zeigte er sich versöhnlich, bat um Verzeihung, wenn er jemanden mit seinen Worten und ‚Werken‘ verletzt haben sollte und versprach gegen diejenigen, die ihn angegriffen hatten, Gleiches zu tun. Seltsamerweise schien es nun offenbar einen Moment lang so, als hätte sich Lescaille durchgesetzt und als sollten die gegen ihn erhobenen Vorwürfe fallen gelassen werden. Als er am 30. August vor dem Rat erschien, wo das Schreiben, das Lescaille in der französischen Gemeinde vorgetragen hatte, verlesen wurde, soll ihn der Bürgermeister gefragt haben: „Was wöllen dann die Französischen Predicanten mehr? “ 63 Peter Seguin soll sogar gesagt haben, dass das Schreiben von Lescaille den Rat in seinem Beschluss zu „Lügnern“ machen würde. Und Lescaille ergänzte: „Sie haben mich fälschlich angeklagt und verdam[m]et / vnd haben mir zu gemessen / daß mir niemals in sinn kommen. Wann man mir schon den Kopff abschlagen wollte lassen / so wollte ich doch nicht sagen ich hette etwas gethan / darauff ich nicht gedacht hette.“ 64 Doch nur wenig später wendete sich das Blatt. Huber nahm die Prädikanten und Seguin beiseite und sprach auf sie ein, dann ging er zu Lescaille und drängte ihn, seinen Irrtum zu bekennen. Er begründete sein Vorgehen mit dem Hinweis auf das Urteil von Grynaeus, nach dem Lescaille über die guten Werke irrte. Doch gab sich dieser wie in den Gesprächen zuvor ahnungslos und entgegnete, er wisse nichts von einem Irrtum, außerdem berief er sich auf sein Gewissen und erklärte: „ich aber kann wider mein Gewissen nichts thun.“ 65 Der Bürgermeister schloss sich nun Huber an und forderte nochmals den Widerruf vor der französischen Gemeinde. 66 Aber Lescaille lehnte diese Forderung mit den Worten ab, er wolle kein Lügner gegen sein Gewissen sein, 67 woraufhin dann der Bürgermeister mit der Verhängung einer Strafe drohte. Lescaille antwortete daraufhin, dass er nicht anders könne und verließ den Rat. Publizistische Offensiven Lescailles Über die folgenden Monate haben sich keine Überlieferungen erhalten, dennoch verschärften sich die Auseinandersetzungen noch einmal deutlich. Im Herbst 1591 veröffentlichte Lescaille (ohne Genehmigung der Zensurbehörde) eine um- 63 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 152. 64 Ebd., S. 152f. 65 Ebd., S. 154. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 155. <?page no="170"?> 171 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ fangreiche Schrift, 68 in der er seinen Glauben von den guten Werken mit langen Zitaten aus den Werken von Theodoret und Augustinus rechtfertigte. Als Motto wählte Lescaille zwei Sätze 69 aus den Briefen an die Hebräer: „Jhesus Christus / gestern vnd heut / vnnd derselb auch in Ewigkeit. Lasset euch nicht mit mancherley vnd Lehren vmbtreiben.“ Die Adressaten seiner Schrift sah Lescaille schließlich in all jenen, die „begern in das Himmelreich zu kommen durch Jhesum Christum / Gott geb welcher Religion / Stands oder Condition sie seyen“. Die Brisanz dieses Buches milderte Lescaille, indem er seinen Namen mit Hilfe einer aus acht Buchstaben bestehenden Abkürzung anonymisierte. Jedoch muss man in Basel die Identität des Autors ohne große Schwierigkeiten festgestellt haben können, gab es doch außer Lescaille kaum jemanden, der ein solches Werk mit all dem ausführlichen Detailwissen über die Auseinandersetzungen hätte verfassen können. Im November des Jahres 1591 veröffentlichte Lescaille dann unter seinem Namen in deutscher und französischer Sprache eine weitere, diesmal wesentlich kürzere aber in ihren Angriffen vielfach heftigere Schrift. 70 Als Motto wählte Lescaille den 85. und 86. Vers des 119. Psalms: „Die Hoffertigen haben mir ein Gruben gegraben, das nicht nach deim Gesetz ist. Alle deine Gebott seynd wahr, ohn vrsach verfolgen sie mich, hilff mir.“ Im Mittelpunkt standen die Vertreter der französischen Gemeinde, denen Lescaille vorwarf, ihn mit einer „falschen anklage“ in Ungnade seiner „allerehrwürdigsten vnd allerobersten Herren vnd Vättern“ gebracht zu haben. Die heftigsten Angriffe richteten sich gegen Couet, den er als einen ‚spanischen Inquisitor‘ bezeichnete und dem er die Schuld an den Ereignissen gab. 71 In den Protokollen des Rats zeigt sich für das folgende Jahr 1592 ein sprunghafter Anstieg der Einträge zu Lescaille. Finden sich 1590, in dem ersten Jahr der Auseinandersetzungen, keine und 1591 nicht mehr als vier Einträge, waren es 1592 ganze neunzehn, was mit Abstand den Höhepunkt in der Beschäftigung des Rats mit dem Fall Lescaille darstellt. Allerdings geben diese Zahlen nicht nur Aufschluss über die Intensität der Auseinandersetzungen, sie zeigen darüber hinaus auch, wie lückenhaft die Überlieferungen in den Ratsprotokollen sind. Da andere Überlieferungen von den beteiligten Parteien aus diesen Monaten fehlen, ist man jedoch auf die Protokolle des Rats angewiesen, die oft wenig aufschlussreich und manchmal sogar widersprüchlich für eine Analyse der Vorgänge um Lescaille sind. Wie die Einträge zeigen, hat der Rat nach den Veröffentlichungen von Lescaille zunächst keine neuen Maßnahmen ergriffen, sondern seine Forderungen an Lescaille in unveränderter Weise aufrecht erhalten. Am 31. Januar 1592 warf der Bürgermeister Lescaille vor, er wäre dem Urteil („erkhantnus“) des 68 Vgl. Alban Norbert Lüber: Die Basler Zensurpolitik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 97 (1997), S. 77-141. 69 Kapitel 13, Vers 8 und 9. 70 Vgl. Bietenholz: Basle (wie Anm. 34), S. 100. 71 Antoine Lescaille: Protestatio Anthonii Lescaillen, wider die newen Kuetischen Inquisition, s.l. [Basel? ] s.a. [1591]. <?page no="171"?> 172 Tim H. Deubel Rats, seinen „fäler“ zu bekennen, nicht nachgekommen, woraufhin ihm wieder aufgetragen wurde, vor den Prädikanten zu erscheinen. 72 Im Februar häufen sich dann die Einträge, das erste Mal wird nun in den Protokollen die Androhung einer Strafe erwähnt (wie bereits oben festgestellt wurde, soll nach der Überlieferung von Lescaille allerdings schon am 30. August 1591 eine Strafandrohung erfolgt sein). Der Rat teilte Lescaille mit, dass man im Falle einer erneuten Nichtbefolgung des ergangenen Urteils über das weitere Vorgehen nachzudenken habe. Wie der Schlusssatz des Eintrags dann deutlich macht, wurde zu diesem Zeitpunkt im Rat über eine Strafe für die Veröffentlichung eines nicht näher bezeichneten Buches beratschlagt. 73 Man beließ es aber in den folgenden Wochen bei weiteren Verwarnungen. Erst am 24. April 1592 verhängte der Rat schließlich gegen Lescaille eine Geldstrafe von 200 Kronen, nachdem dieser den Aufforderungen nicht nachgekommen war. Doch auch nun gab man ihm die Möglichkeit, der Strafe mit einem Widerruf seines ‚Irrtums‘ vor der französischen Gemeinde zu entgehen. Aber Lescaille widerrief sein Verständnis der guten Werke nicht, sondern rechtfertigte noch einmal in einer Rede vor der französischen Gemeinde seinen Glauben und stellte den Konflikt wieder als ein bloßes Missverständnis dar. Nachdem die Gemeindevertreter dies nicht als einen Widerruf annahmen, 74 entschied sich Lescaille den Rat um „Abscheid“ zu bitten, 75 weil er, wie er schrieb, ohne Grund „verfolgt“ werde. 76 Am 10. Mai 1592, über eineinhalb Jahre nachdem der Konflikt ausgebrochen war, schwor Lescaille dann den ihm vorgelegten Eid und gab sein Bürgerrecht auf. Ein genauerer Blick auf die Argumentationen von Lescaille zeigt im Folgenden nicht nur, mit welcher Heftigkeit dieser den Konflikt führte, sondern auch wie er versuchte, ein großes und über die Stadt hinausgehendes Publikum für seine Sache zu gewinnen. III. Argumente und Aktionen der Streitparteien Lescailles polemische Argumentation In Lescailles Stellungnahmen waren es die Vertreter der französischen Gemeinde, die über sich die schwersten Anschuldigungen ergehen lassen mussten. Auf die Polemik gegen sie wurde oben bereits hingewiesen. Stand im Mittelpunkt dieses Angriffs vor allem die Person von Couet, so bezeichnete Lescaille ihn schon in 72 StABS Protokolle: Kleiner Rat 3, 31. Januar 1592; Lescaille bat den Rat um Verzeihung und antwortete, er habe sein Bestes getan. 73 Ebd., 5. Februar 1592; das für die Zeit typische (patriarchische) Verständnis der Obrigkeit von der Zensur bestand darin, dass die Ratsherren für den Inhalt der in ‚ihrer‘ Stadt gedruckten Bücher verantwortlich gemacht wurden; was in den Büchern stand, erschien Auswärtigen als ‚persönliche Meinung‘ der Obrigkeit in Basler; vgl. für Basel besonders Lüber: Zensurpolitik (wie Anm. 68), S. 125f. 74 StABS Kirchen M 5, 13. Februar 1592 o.P. 75 Ebd., Supplikation Antoine Lescailles um Abscheid, 13. Februar 1592 o.P. 76 Ebd., Supplikation Antoine Lescailles um Abscheid, 13. Februar 1592 o.P. <?page no="172"?> 173 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ seiner theologischen Rechtfertigungsschrift als „boshaftige Natur“, Tyrann und neuen Papst. 77 Darüber hinaus führte Lescaille die nicht enden wollenden Auseinandersetzungen auf das aggressive Verhalten von Couet zurück und bezeichnete den Konflikt mit der französischen Gemeinde als „Historien deß Kuets wider den Lescaille“ oder als „History deß alles / so sich in der uneinigkeit deß Kuets mit dem Lescaillen in verlauffener zeit zugetragen hat“. 78 Vor allem aber warf er seinem ‚Widersacher‘ vor, dass dieser gegen ihn wie ein ‚spanischer Inquisitor‘ Gewalt ausüben würde. Besonders deutlich wird diese Absicht am Ende der polemischen Schrift. Nachdem er die Auseinandersetzung mit der französischen Gemeinde in den für ihn wichtigsten Aspekten beschrieben hatte, wandte sich Lescaille mit folgenden Worten an den Leser: „Hierauf sehet ihr nun wol welcher gestalt Kuet ein frembder sich unterstehet / in einer fast Herlichen und freyen Statt / der Schweizer / seine Tyrannischen Inquisition uber einem Bürger hereyn zu führen / welche Inquisition / dannoch biß auff heutigen tag auch nicht auf der allergerinsten ecke / deß allerherlichsten un[d] allerfreyeste[n] Schweizerischen Landes einer hereyn geführet / ist worden / Gott geb man sehe die Catholischen oder Evangelischen Stätte an.“ 79 Neben dem Schlagwort der tyrannischen Inquisition, mit dem Lescaille aus dem Konflikt mit der französischen Gemeinde einen Konflikt um die Freiheit der Eidgenossen machen wollte, 80 nutzte Lescaille das Schlagwort der Gewissensfreiheit, um seinen Glauben zu verteidigen. 81 Beide Argumente gehörten mehr oder weniger zum Standardrepertoire polemischer (interkonfessioneller) Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. 82 Eine genauere Abgrenzung der Begriffe oder eine präzise inhaltliche Bestimmung lässt sich anhand der Äußerungen von Lescaille kaum durchführen, da in seinen Argumentationen die Begriffe nie genauer bestimmt werden und immer wieder ineinander übergehen, ohne dass eine klare Unterscheidung deutlich wird. Während Lescaille sich selbst im ersten Teil seiner Schrift als unschuldig, die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen als falsch und seine Gegner als unversöhnlich beschrieb, griff er im zweiten Teil auf die Erzählung von Wilhelm Tell 77 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 99, 121, 145, 119, 131. 78 Ebd., S. 31, 232, vgl. auch S. 65 und 75. 79 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o. P. 80 Ebd., o.P. 81 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 96: Johannes Brandtmüller bestätigte ihm, auch Luther habe so geredet; Lescaille gab dagegen an, im Einklang mit Grynaeus zu sein. 82 Am Ende des 16. Jahrhunderts galt die Inquisition als das allgemein anerkannte Symbol der katholischen Verfolgung und der spanischen Vorherrschaft: Edward Peters: Inquisition, Berkeley u.a. 1989, S. 155; Gerd Schwerhoff: Montanus als Paradigma. Zur Anatomie der antiinquisitorischen Publizistik in der Frühen Neuzeit, in: Albrecht Burkardt/ Gerd Schwerhoff/ unter Mitwirkung v. Dieter R. Bauer (Hg.): Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit, Konstanz 2012, S. 113-133. <?page no="173"?> 174 Tim H. Deubel zurück, um seiner Argumentation weitere Überzeugungskraft zu verleihen. Sechs Punkte listete er auf, mit denen er die Gleichheit von Couets Tyrannei und der Tyrannei des Landvogts belegen wollte. 83 Wie der Landvogt seinen Hut auf eine Stange steckte, damit jeder, der ihm keine Ehrerbietung erwies, als „Auffrührer und Meutmacher“ bestraft werde, habe Couet seine „Glosen“ aufgestellt, damit Lescaille sich ihnen unterwerfe und nicht für einen Ketzer und Aufrührer gehalten werde. Und wie der Landvogt wollte, dass Tell seinen Sohn umbrächte, indem er seinem Sohn den Apfel auf den Kopf setzte, so wollte Couet, dass Lescaille seine Seele umbringe, indem er gegen sein Gewissen die „Glosen“ von Couet unterzeichnete. 84 Auch das Schlagwort der Gewissensfreiheit hatte Lescaille schon früher benutzt, z.B. gegenüber dem Zunftherrn Huber. Neben dem Schlagwort der eidgenössischen Freiheit (das in seinen Suppliken an den Rat von Basel und dem theologischen Rechtfertigungswerk zum Schlagwort der bürgerlichen Freiheit wurde) stellte es das zentrale Schlagwort seiner Polemik dar. Die Vertreter der deutschen Kirche zählte Lescaille zunächst nicht zu seinen Gegnern, sondern wies auf seinen ihnen gegenüber seit 17 Jahren gehaltenen Gehorsam hin. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen veränderte Lescaille aber seine Haltung und griff Grynaeus als neuen Papst an. 85 Ausgenommen von jedem Angriff war schließlich der Rat der Stadt, den Lescaille mit höchstem Respekt ansprach und seine Autorität zu keinem Zeitpunkt in Frage stellte. Darüber hinaus fällt ein weiterer Aspekt seiner Argumentation auf, er gehört zu den am wenigsten verständlichen Seiten an Lescaille. Wenn er auch mit seinem Verständnis der guten Werke das Basler Bekenntnis infrage stellte, so gab er dies zu keinem Zeitpunkt offen zu. Stattdessen beschrieb er sich als einen „fromme[n] Politische[n] Mann und Christenmensch“ 86 und legitimierte seinen Glauben bei jeder sich bietenden Gelegenheit, indem er sich auf das Basler Bekenntnis berief, auf welches er, wie er betonte, jedes Jahr seinen Eid geleistet habe Typisch für seine Rechtfertigung ist die Antwort, die er Grynaues auf den Vorwurf ein Alberist zu sein gab. Empört protestierte er mit den Worten, dass er weder „Alberisch / noch Calvinisch / noch Lutherisch / noch Arianisch / noch widertäufferisch / noch 83 Tell galt bereits in diesen Jahren als „der erst Eidgenoß“, Zwingli schrieb 1525: „Wilhelm Tell der gotskrefftig held und erster anheber eidgenossischer fryheit […], ursprung und stiffter einer loblichen Eydgenossenschaft.“ Zit. nach Jean Rudolf von Salis: Ursprung, Gestalt und Wirkung des schweizerischen Mythos von Tell, in: Tell. Werden und Wandern eines Mythos, Idee und Aufnahmen Lilly Stunzi, Bern/ Stuttgart 1973, S. 9-29, hier S. 26f. 84 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P. 85 StABS Criminalia 1 A, L 2, o.P.: Schrift an den Basler Bürgermeister und Rat über sein Gespräch mit Antoine Lescaille in Waldshut; Bekhantnus Niclausen Lescailles. 86 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P. 87 StABS Kirchen M 5, 29. August 1591 o.P.; StABS Kirchen M 5, Antwort Anthoni Lescailles des Paßmentswebers des an ihme der Religion halb beschuldigten Irrthumbs, 16. August 1592 o.P. <?page no="174"?> 175 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ einiger andern Secten / sondern allein ein Christ sey / der ich mich an das wort Gottes / das Symbolum der Apostel / und bekantnuß der Basler halte“ Gegenüber seinen Lesern beschrieb sich Lescaille zudem als jemanden, der zu jedem Zeitpunkt bereit war, seinen Irrtum einzugestehen, insofern man ihn durch Gottes Wort von diesem überzeuge. So sagt er in seiner theologischen Rechtfertigungsschrift, dass er den „mängeln / wan[n] sie mir gezeigt werden seyn / mit demütiger dancksagung an alle die / so mich derselben werden erinnert haben / abhelffen wölle“ Auf der anderen Seite gab er sich entschlossen, seinen Glauben bis zum Äußersten zu verteidigen. Als ihn Vertreter der französischen Gemeinde aufforderten, sich der Kirchenzucht zu unterwerfen und ihm drohten, bei einer Weigerung den Bürgermeister zu benachrichtigen, wofür sie, wie sie sagten, die Genehmigung von Grynaeus bekommen hätten, 90 antwortete Lescaille: „ich weiß wol was mir der Herr Grynaeus gesagt. Ferner wisset / daß ir des dräwens zu vil machen. Ihr solten vil mehr sagen / das / so ich etwas in meinem Gewissen hette / welches mich truckte / ich das künlich entdeckte vnd offenbarte / vnd das zuthun mich nit förchte / darum daß mir auß dem kein vnglück entstehe[n] solte. So ich eine ketzerey in mir hette / würde ewer vilfältiges dräuwen vielleicht verursachen / daß ich diese nicht dörffte offenbaren / vnnd wurde also die Geistliche kranckheit allzeit bey mir bleiben. Aber Gott sey lob vnnd danck gesagt / daß ich mit keiner ketzerey schwanger gehe / ich weiß daß ich rein sey / vnd ich bin des inn Gott gewiß / daß ich mit besserer ruhe inn meinem gewissen leben werde für Gott / inn dem ich von euch verfolget werde / als ihr / die mich verfolgen. So ich meine Eltern / mein gute Gelegenheit / mein Vatterlandt / von wegen der Freyheit meines Gewissens verlassen / wie vil weniger meinet ihr es mir beschwerlich sein werde auß Basel durch euch verjagt zu werden? “ 91 Die von ihm behauptete Bereitschaft, sein Leben für den Glauben einzusetzen, zeigt sich nicht nur in den öffentlichen Schreiben von Lescaille, sondern auch in verschiedenen nichtöffentlichen Schriften, die Lescaille im Verlauf der Auseinandersetzungen an den Rat der Stadt gerichtet hat. 92 So schreibt Lescaille in seiner „Protestatio“ aus dem November 1591 mit dem Hinweis auf den Prediger Salomon: Streite bis in den Tod für die Wahrheit, und verteidige die Gerechtigkeit 88 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 69; die Wahrnehmung der Lutheraner als ‚Sekte‘ findet sich in Basel bereits in der Zeit der Reformation, vgl. Roth (Hg.): Aktensammlung Bd. III (wie Anm. 38), S. 163: Der Küfermeister Heinrich Zeller musste bei seiner Freilassung schwören, dass er sich nicht „der Luthrischen oder anderer Sekten, deren es jetzt viele gäbe“ anzuschließen. 89 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 233, 62: in einem Gespräch, das Grynaeus mit Lescaille am 1. Dezember 1590 in seiner Studierstube führte, beteuerte Lescaille, er wolle den Streit mit freundlichen Mitteln beilegen. 90 Ebd., S. 62f. 91 Ebd., S. 63. 92 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P.; StABS Criminalia 1 A L 2 o.P.: „baslerisch, zürichisch, bernischen und gemeinen Eidgenossenschaft Glaubens bekhandtnus gestrags zur-wider sein nit beweisen und darthüe, so wölle er darüber sein Leben verwirkt haben“. <?page no="175"?> 176 Tim H. Deubel auch mit Gefahr dein Leben zu verlieren und Gott der Herr wird deine Feinde für dich „bestreiten“. 93 Das Wort Märtyrer gebrauchte Lescaille allerdings in den ersten Jahren der Auseinandersetzungen noch nicht, 94 wenn er auch glaubte, dass sein Handeln in den Auseinandersetzungen zu seinem Heil beitragen werde. 95 Erst nachdem Lescaille sein Bürgerrecht aufgegeben und sich in Hegenheim niedergelassen hatte, unterschrieb er ein Schreiben an den Rat von Basel vom 1. August 1595 mit den Worten „martyr de Christ“. 96 Die Argumentation der Gegenseite Über das Selbstbild und die Argumentation der französischen Gemeindevertreter lassen sich in den ersten Monaten der Auseinandersetzungen nur anhand der Schriften von Lescaille Aussagen treffen. Wie gezeigt wurde, stand im Mittelpunkt ihrer Bemühungen die Versöhnung mit Lescaille. Die erste erhaltene Äußerung der Vertreter der französischen Gemeinde ist datiert auf den 12. August 1591, also fast ein Jahr nach dem Ausbruch der Auseinandersetzungen. Die Vertreter bestritten, dass sie gegen Lescaille aus „sonderbarer Anfechtung oder frächheit“ vorgingen, 97 vielmehr würde man aus „christlicher Bescheidenheit“ handeln, um den Irrtum, in den Lescaille gefallen war und der sich sowohl gegen die Konfession der französischen Gemeinde als auch gegen die Konfession der Stadt Basel richtete, aus der Welt zu schaffen. Wenn sich aber Lescaille weiterhin weigere, dem Beschluss zu folgen und seinen Irrtum einzugestehen, dann würde man ihn vor der Gemeinde der französischen Kirche zu einem ‚ungläubigen Sünder‘ erklären. So kompromisslos die Argumentation auf den ersten Blick ausfiel, so gaben die Gemeindevertreter die Möglichkeit einer Versöhnung mit Lescaille auch dann nicht auf, als Lescaille die Stadt verlassen hatte. Stattdessen boten sie an, das Vorgefallene zu vergessen und ihn wieder als ‚Bruder‘ in der Gemeinde aufzunehmen. Eine Bestrafung von Lescaille forderten sie nicht. Die Argumentation der Basler Kirche unterschied sich davon kaum. Zumindest setzte Grynaeus nach dem Scheitern der mehrmaligen Ermahnungen keine Bestrafung von Lescaille durch, sondern forderte weiterhin den Widerruf von Lescaille vor der französischen Gemeinde. Nach der Hinzuziehung des Rats übernahm dieser die Route der Basler Kirche. Aufschlussreich für die Haltung der Obrigkeit in den Auseinandersetzungen ist eine Schrift, die der Rat im Spätsom- 93 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P.; aber schon in: Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 79f. sagt Lescaille, dass er nach dem „Exempel des heiligen Pauli“ für seine Freiheit, wenn es notwendig sei, sein „Blut biß auff den letzten tropffen vergiessen“ wolle. 94 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 63f.: In den Augen seines Umfelds allerdings verstand man das Auftreten von Lescaille schon früh als den Versuch, sich zu einem Märtyrers zu stilisieren. So wiesen die Vertreter der französischen Gemeinde am 2. Dezember 1590 Lescaille in einem Gespräch, das in seinem Haus stattfand, darauf hin, dass nicht das Leiden, sondern die Sache den Märtyrer ausmache. 95 Ebd., S. 67. 96 StABS Kirchen M 5, 1. August 1595, o.P. 97 Wie es die Reformationsordnung in solchen Fragen erwartete. <?page no="176"?> 177 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ mer 1595 veröffentlichen ließ In dieser Schrift finden sich Beschreibungen, die mit einzelnen Passagen aus den Supplikationen der Vertreter der Basler Kirche (v.a. Grynaeus) übereinstimmen, weshalb man zumindest von einer Übernahme der Argumente ausgehen kann. Ausführlichere Beschreibungen haben sich zu den Auseinandersetzungen von Seiten des Rats nicht erhalten. Der Grund für die Abfassung der Schrift (gut drei Jahre nachdem Lescaille die Stadt verlassen hatte) lag in der Fortführung des Konflikts durch Lescaille, indem er weitere Supplikationen an den Rat richtete, durch die er offenbar hoffte, den Konflikt doch noch zu seinen Gunsten zu wenden. Allerdings schrieb Lescaille nicht nur an den Basler Rat, sondern auch an andere Obrigkeiten (z.B. Genf, Zürich und Pfalz), so dass die Angelegenheit „schier Reichskundig“ wurde, wie es in der Schrift heißt. 99 Aus diesem Grund sah sich der Rat gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, 100 obwohl er es eigentlich nicht als seine Aufgabe ansah, sich auf eine schriftliche Auseinandersetzung („libellieren“) mit „vnruhigen Personen“ einzulassen. Der Wunsch, bei anderen Obrigkeiten wegen Lescailles Schreiben und Klagen „entschuldiget“ zu bleiben und der Wahrheit „semel pro semper“ Ausdruck zu geben, überwog aber letztlich, so dass es zu der Veröffentlichung kam. Den Gegenstand der Schrift beschreibt der Titel als „Glaubwirdiger Bericht / von unruhigen Handlungen in Religions sachen ihres außgewichenen / gewesenen Burgers Antonij Lescallaei“. Der Stil der Darstellung ist beschreibend gehalten, von Angriffen auf Lescaille wird weitgehend abgesehen (man vergaß aber auch nicht, darauf hinzuweisen, dass Lescaille mit seinem Anliegen bei allen Obrigkeiten als „ein wahnsinniger / doch unruhiger Mensch“ abgewiesen wurde 101 ). Stattdessen rückte man die Rechtmäßigkeit des Vorgehens gegen Lescaille in den Mittelpunkt der Darstellung und warf ihm vor trotz vieler Ermahnungen, „vns / vnnd die vnsern / mit seiner Opinion / mercklich beunruhiget / vnnd spaltungen anzurichten / ad partem, heimlich vnd offentlich sich vnderstanden“. 102 Wenn auch das Wort nicht fällt, so stand hinter der Anschuldigung ‚Spaltungen anzurichten’ letztlich der Vorwurf der Ketzerei. Bemerkenswert ist an dem Vorgehen des Rats (bzw. der Kirche) aber, dass es nicht zu entschieden ausgrenzenden Stigmatisierung und Kriminalisierung von Lescaille kam, sondern man sich darauf beschränkte, Lescaille als einen ‚irrigen‘, ‚unruhigen‘, ‚sonderbaren‘, oder ‚eigenwilligen‘ Menschen zu beschreiben. Sein Verständnis der guten Werke delegitimierte man in der Schrift, indem man von Lescaille sagte dass er sich als „Handelsman[n]“ 98 Des Herren Burgermeisters unnd Rhats der Statt Basel, kurtzer, Glaubwirdiger Bericht, von unruhigen handlungen in Religions sachen jhres aussgewichenen, gewesenen Burgers Antonii Lescallaei: Jn Truck verfertiget, Damit J.S.E.W. bey andern loblichen Oberkeiten, ermelts Lescallaei, Schreibens und Klagens halben, fuer entschuldiget bleiben, Basel 1595. 99 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P. 100 Glaubwirdiger Bericht (wie Anm. 99), o.P. 101 Lescaille: Protestatio (wie Anm. 71), o.P. 102 Ebd., o.P. <?page no="177"?> 178 Tim H. Deubel Sachen angenommen habe, von denen er nichts verstehe. 103 Darüber hinaus wies der Rat auf den über Jahre ihm und seiner Familie gewährten Schutz hin und verband damit die Pflicht, sich besser in Religionssachen zu bedenken und den Frieden der Stadt zu wahren. Schließlich warf man ihm Undankbarkeit vor, indem er keiner der vielen Ermahnungen zur Beilegung des Streits nachgekommen sei. Insofern könne es niemand einer „christlichen Oberkeit“ übel nehmen, Lescaille für die Wahrheit und den Frieden in Religionssachen „mit etwas Geld buß“ bestraft zu haben. 104 Die Schrift ließ man dann mit dem „Wunsch“ der Kirchendiener enden, „daß Antonius Lescalleus / die warheit lehre erkennen / den friden suche / vnd sich mit der Gemeine Gottes demütiglich versöne vnnd vereinbare: damit er nicht sich selbs in das verderben stürtze“ IV. ‚Tolerantes‘ und ‚orthodoxes‘ Basel? Angesichts der Argumentationen und des Umgangs mit Lescaille im ‚orthodoxen‘ Basel soll nun die oben gestellte Ausgangsfrage wieder aufgegriffen werden. Wie gezeigt wurde, kam es erst relativ spät zu einer (‚weltlichen‘) Bestrafung von Lescaille. 106 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand vielmehr seine Wiedereingliederung in die städtische Glaubensgemeinschaft. 107 Aus diesem Grund lässt sich von einem gewissen Vorrang der Kirchenzucht gegenüber der Strafzucht sprechen Die Ausgrenzungen von Lescaille durch die französische Gemeinde und später durch die Basler Kirche sind über einzelne verbale Äußerungen hinaus (man wolle ihn nicht mehr als ‚Bruder‘ halten) kaum genau zu fassen. 109 Wie lange der Rat (bzw. die Basler Kirche) den auf Wiedereingliederung setzenden Kurs durchgehalten hätte, lässt sich nicht aus den Überlieferungen erschließen. 110 Dass der Umgang mit Lescaille auch Widerspruch herausforderte, zeigt die Äußerung 103 Ebd., o.P. 104 Ebd., o.P. 105 Ebd., o.P. 106 Zum Problem der Abgrenzung von Strafen der ‚weltlichen‘ Kriminal- und jenen der Kirchenzucht siehe die Einleitung in diesem Band. 107 Was im Vergleich zum Basler Ehegericht nicht uninteressant ist, da dieses - nachdem es in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts dem Prinzip der Integration gefolgt war - in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend dem Prinzip der Ausgrenzung folgte, wie Susanna Burghartz gezeigt hat: Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn 1999; Kuhr: Macht (wie Anm. 38), S. 245f. Eine Erforschung der Kirchenzucht steht, wie erwähnt, für Basel im 16. Jahrhundert noch aus. 108 Insofern man auch dann, als die in der Bannordnung vorgesehenen drei belehrenden Gespräche ausgeschöpft waren, an einer Wiedereingliederung festhielt und keine Verweisung o.ä. durchsetzte; vgl. Kuhr: Macht (wie Anm. 38), S. 245f. 109 Siehe zu den vorgesehenen Bereichen der Ausgrenzung das Formular des Kirchenbanns von 1530 in: Campi/ Wälchli: Kirchenordnungen (wie Anm. 42), S. 46f. 110 Lescaille behauptete, er würde mit der Aufgabe seines Bürgerrechts weiteren (ungerechtfertigten) Strafen gegen ihn zuvor kommen. <?page no="178"?> 179 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ eines Pfarrers an St. Leonhard, der im Verlauf der Auseinandersetzungen an den Rat schrieb, man wäre mit Lescaille niemals so verfahren, wie man dies mit den ‚Wiedertäufern‘ getan habe, obwohl dieser sich so halsstarrig der Obrigkeit widersetzt habe, wie kein ‚Wiedertäufer‘ Solche Beschwerden scheinen aber die Ausnahme geblieben zu sein, weshalb sich der Wunsch nach einer Bestrafung (im Sinne der Reformationsordnung oder älterer Ketzereigesetze) auch dann nicht durchsetzte, als die Beteiligten anfingen, sich über die Dauer des Konflikts zu beklagen Warum aber blieben solche Beschwerden im Fall von Lescaille die Ausnahme? Geht man von dem Wortlaut der Quellen aus, zeigt sich auf Seiten des Basler Rats und der Kirche ein scheinbar unnachgiebiger Wille zur Wiederherstellung der Glaubenseinheit zwischen Lescaille und der französischen Gemeinde (und damit zwischen ihm und der Stadtgemeinschaft). 113 Andere Motive lassen sich in den Quellen nicht genauer fassen, wenn sie auch nicht ausgeschlossen werden dürfen, da kaum von einem monokausalen Ereigniszusammenhang auszugehen ist. Vor allem die soziale Stellung Lescailles, die durch seinen wirtschaftlichen Wohlstand begründet wurde und sein über Jahre unauffälliges Verhalten könnten den Umgang mit Lescaille beeinflusst haben. Ein Vergleich zu dem Vorgehen gegen den Maler Hans Herbst (oder Herbster, †1552) macht das deutlicher. 114 Dieser protestierte gegen den Abendmahlszwang und wollte gegenüber dem Rat - wie auch Lescaille - seinen Glauben mit einer Schrift verteidigen. Aber man weigerte sich, die Schrift anzunehmen, sperrte Herbster in den Turm und zwang ihn (1530) unter Androhung des Schwertes zum öffentlichen Widerruf Auch wenn sich die Motive nicht genauer beschreiben lassen, muss im Fall von Lescaille davon ausgegangen werden, dass sein sozialer Stand auf den Umgang mit ihm Einfluss genommen hat. Demnach wäre er im Gegensatz zu Herbst nicht eingesperrt und mit dem Tod bedroht worden, weil er mit seinen Unternehmungen Geld in die Stadt brachte, eine Reihe von Mitarbeitern beschäftigte und ein führendes Mitglied der französischen Gemeinde war, das über viele Jahre unauffällig in Basel lebte. Auf der anderen Seite zeigt ein Blick auf den größten Skandal in der Basler Geschichte des 16. Jahrhunderts, dass die von Seiten des Rats und der Kirche regelmäßig zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft, Lescaille wieder in die Stadtgemeinschaft einzugliedern, nicht beispiellos ist, sondern auch vor der Durchsetzung der Orthodoxie im Umgang mit harten Formen religiöser Abweichung von Bedeutung war. 1544 kam der bereits kurz erwähnte David Joris in die Stadt, 111 StABS Kirchenarchiv T 3.1, Schreiben vom 26. September 1592, o.P. 112 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 67 u.ö. 113 Die alte Lehr (wie Anm. 32), S. 122: Sogar der von Lescaille so schlecht dargestellte Couet unternahm einen Versuch zu Aussöhnung mit Lescaille: Am 22. Juni 1591 suchte er Lescaille in seinem Haus auf und fragte ihn: „Wöllen wir vns dann nimmer widerumb vnter einander lieben wie Brüder? “, worauf Lescaille antwortete: „Ich weiß es nicht.“ 114 Lucas Heinrich Wüthrich: Art. Herbst(er), Hans, in: NDB 8, S. 509. <?page no="179"?> 180 Tim H. Deubel der zu diesem Zeitpunkt einer der wichtigsten Täuferführer in den Niederlanden war und dort per Steckbrief verfolgt wurde. In Basel lebte er mit seiner Familie und einigen Anhängern bis zu seinem Tod im August 1556 unbehelligt, trotz mehrerer Hinweise auf seine Identität. 115 1559 kam es dann zu einem aufsehenerregenden, posthumen Ketzerprozess, dessen genaueren Ursachen sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen lassen. 116 Nach der Begutachtung seiner Schriften erklärte man den toten Joris zum ‚Erzketzer‘ und verbrannte seinen exhumierten Leichnam öffentlich auf dem Richtplatz vor dem Steinentor. Gegen seine Anhänger verhängte der Rat keine Strafen, sondern bestimmte, dass sie öffentlich im Münster ihrem ‚Irrglauben‘ abschwören sollten. Aus diesem Grund sprach man in der Forschung immer wieder von einem erstaunlich milden Vorgehen des Rats. 117 Dass sich hinter dem Vorgehen des Rats ein etablierter Weg im Umgang mit harten Formen von religiöser Abweichung verbirgt, zeigt eine Flugschrift, die der Basler Rat noch 1559 zu den Ereignissen um Joris in deutscher und lateinischer Sprache veröffentlichte und die in kurzer Zeit in unterschiedlichen Städten mehrmals wiederaufgelegt wurde (so auch in niederländischer, englischer und französischer Sprache). 118 In dieser, in unterschiedlicher Hinsicht außergewöhnlichen Schrift wurden die Anhänger von Joris trotz der jahrelangen Deckung eines stark verfolgten Täuferführers in keiner Weise mit stigmatisierenden Begriffen belegt. Vor allem aber räumte man der Beschreibung ihres öffentlichen Widerrufs und ihrer damit einhergehenden Wiederaufnahme in die Stadtgemeinschaft gut die Hälfte der sechzig Seiten langen Schrift ein. Schon die Ausführlichkeit dieser Darstellung weist auf die Bedeutung hin, die der Rat der Wiederaufnahme der Anhänger zumaß. Darüber hinaus lässt sich die (paritätische) Darstellung des Vorgehens gegen Joris und seine Anhänger gegenüber einer breiten Öffentlichkeit wohl nur aus dem Vertrauen des Rats in die weitgehende öffentliche 115 Burckhardt sprach von einer „großen Zahl von Mitwissern“: Joris (wie Anm. 13), S. 65. 116 Burckhardt glaubt an die ausschlaggebende Rolle von Bonifacius Amerbach: Joris (wie Anm. 13), S. 63f. Es haben sich Äußerungen von Bonifacius Amerbach erhalten, die genaueren Einblick in die Motive für die schließlich begonnene Durchführung der Ermittlungen geben. Amerbach, der in Basel das Amt eines Stadtkonsulenten inne hatte, machte gegenüber dem Deputaten und Ratsherrn Petri deutlich, dass er in diesem Fall handeln müsse, weil die Pfarrer versagt und einige sogar Joris in Schutz genommen hätten. Da es in dieser Sache aber um nichts Geringeres ginge als darum, die Ehre Gottes, die Wohlfahrt und den guten Namen der Vaterstadt zu retten, habe man gegen Joris und seine Anhänger vorzugehen. 117 Z.B. Burckhardt: Joris (wie Anm. 13), S. 95. 118 Dauid Georgen auß Holand dess Ertzkaetzers warhafftige histori, seines Lebens, vnnd verfürischen leer: vo[n] der zyt an alss er gon Basel ist kumen, doselbss geläbt, vnd wass sich nach seinem absterben mitt im, vnd seinem verwandten alda verloffen hat. Durch ein Eerwirdige vniuersitet der lobliche[n] statt Basel zů ehren eines Fürsichtigen Ersam[m]en Rathß daselbß beschriben, Basel 1559; Burckhardt: Joris (wie Anm. 13), S. 95: „trotz der schauerlichen Totenverbrennung, die den Rechtsatzungen des christlichen Mittelalters entsprach, war der Verlauf des Ketzerprozesses, verglichen mit dem Verfahren zeitgenössischer Glaubensgerichte, erstaunlich mild.“ <?page no="180"?> 181 „Ich aber kan wider mein Gewissen nichts thun“ Zustimmung zu seinem Handeln erklären. 119 Insofern kann man zumindest davon ausgehen, dass die Wiedereingliederung in die Glaubensgemeinschaft ein grundsätzlich anerkannter Weg im Umgang mit harten Formen von religiöser Abweichung war. 120 Sieht man von einem Spottspruch aus den katholischen Teilen der Schweiz ab („Basel verbrennt die toten Ketzer und die lebenden nicht! “), kam es auch zu keinen polemischen Angriffen gegen den Basler Rat Stattdessen stimmte man dem Vorgehen weitgehend zu und nahm an dem Umgang mit den Anhängern keinen Anstoß. 121 So unterschiedlich diese Ereignisse zu jenen um Lescaille auch waren, so könnte man doch vor diesem Hintergrund meinen, dass in der Flugschrift des Rats aus dem Jahr 1595 nicht von ungefähr die vielen Versuche hervorgehoben wurden, mit denen man Lescaille von seinem ‚Irrtum‘ abbringen wollte - und das zu einem Zeitpunkt, als der Konflikt weit über die Stadt hinaus bekannt war und durch Lescaille mit immer neuen Schriften fortgesetzt wurde. In anderen Fällen war man in Basel weniger geduldig. So wurde am 6. August 1530 Konrad in der Gassen für seine Winkelpredigten (die Evangelien hielt er für unsicher, 119 Die Flugschrift war aber nur ein, wenn auch wichtiger, Teil eines umfassenderen Vorgehens, mit dem der Rat für einen etwaigen (aber nicht genauer beschriebenen) Fall gerüstet sein wollte, wie er es ausdrücklich in einem Eintrag im sogenannten ‚Kleinen Weissen Buch‘ festhielt. Aus diesem Grund hatte sich der Rat auch dazu entschlossen, die bei den Anhängern beschlagnahmten Bücher und Dokumente in einem geheimen Zimmer aufzubewahren. Zu diesen aufbewahrten Dokumenten gehörte auch ein Porträtbild von Joris, das man in seinem Besitz bei den Hausdurchsuchungen aufgefunden hatte. Auf die Rückseite dieses Bildes, das sich heute im Besitz des Basler Kunstmuseums befindet, ließ man eine Inschrift in lateinischer und deutscher Sprache anbringen, die in aller Kürze das für den Rat Wesentliche an den Ereignissen für die Nachwelt festhielt. 120 Das Motiv der Versöhnung und Wiederaufnahme ist selbstverständlich kein auf Basel und das 16. Jahrhundert beschränktes Phänomen, sondern findet sich als ein mehr oder weniger durchlaufendes Motiv in allen Konfessionen (für den Katholizismus und die Inquisition siehe Schwerhoff: Montanus (wie Anm. 82), bes. S. 132); ebenso war es dem Mittelalter nicht fremd, wo es unter dem Stichwort der ‚persuasio‘ (im Gegensatz zur ‚coercio‘, der gewaltsamen Repression) stand; man denke z.B. an die nicht nur von Jörg Oberste erwähnte Episode der in Arras unter der Führung von Bischof Gerhard I. durchgeführten Synode (1013-1048): Ketzerei und Inquisition im Mittelalter, Darmstadt 2007, S. 33: „Die Synode erkannte schließlich auf eine Verurteilung wegen Ketzerei und exkommunizierte die Anhänger dieser Lehre. Da diese sich jedoch bereit fanden, von ihrer Irrlehre abzuschwören, nahm sie der Bischof feierlich wieder in die kirchliche Gemeinschaft auf ‚und jeder ging froh und in Gemeinschaft mit Gott wieder nach Hause‘.“ 121 Die meisten Äußerungen dieser Zeit beziehen sich vor allem auf das Vorgehen gegen Joris; die Anhänger von ihm werden dagegen kaum beachtet; in dieser Hinsicht mag der von Peter Ochs: Geschichte der Stadt und Landschaft Basels, Berlin/ Leipzig 1786, Bd. 6, S. 222 aus den katholischen Teilen der Schweiz überlieferte Spottspruch, der in dieser Zeit umgegangen ist, eine Ausnahme sein. Dagegen schrieb der Kartäusermönch Laurentius Surius in seiner 1576 erschienenen Chronik, dass man in Basel recht getan habe, Joris zu verbrennen. In anderen Chroniken kann man lesen, dass die Lehre von Joris allgemein ‚verhasst‘ war. So heißt es in der 1569 erschienenen gereimten Weltchronik von Hans Johann Hasentöter z.B., dass Joris „Ketzerey […] Die billich jeder Christ verhaßt“ war. <?page no="181"?> 182 Tim H. Deubel Jesu Opfertod bezweifelte er) hingerichtet, obwohl er im Kerker seine Ansichten widerrufen hatte. Bezeichnend dagegen für die Freiräume, die Lescaille gewährt wurden, ist auch die schließlich gegen ihn erlassene Geldbuße - eine Strafe, mit der kein Ehrverlust einherging und die ebenso wenig den Betroffenen sozial ausgrenzte, da es sich um eine Strafe ohne öffentliche Inszenierung handelte. 122 Führt man sich nicht nur die Vehemenz vor Augen, mit der Lescaille den Konflikt führte, sondern auch die vom Rat immer wieder eingeräumten Möglichkeiten, der Geldstrafe zu entgehen, kann also kaum von einem strengen Vorgehen gegen Lescaille gesprochen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Teilung der Basler Geschichte des 16. Jahrhunderts in eine ‚tolerante‘ und ‚orthodoxe‘ Zeit in Bezug auf den Umgang mit religiös abweichendem Verhalten wenig plausibel. 123 Stattdessen lässt sich vielmehr eine gewisse Kontinuität von Freiräumen beobachten. Da diese Freiräume zu keinem Zeitpunkt einen institutionellen Status hatten, 124 sondern vielmehr einer nicht immer genau berechenbaren Dynamik unterlagen, scheint die Bezeichnung ‚tolerant‘ allerdings nicht als angemessen, um diese Freiräume zu beschreiben. Angemessener wäre es, von heterodoxen Kräften zu sprechen, die auf den Umgang mit religiöser Abweichung im 16. Jahrhundert Einfluss nehmen konnten. Dass dieser Umgang selbst in einem Härtefall von einer überraschenden Langmütigkeit gekennzeichnet sein konnte, zeigt der Fall von Lescaille. 122 Auf diesen nicht ausgrenzenden Charakter der Geldbuße hat u.a. Joachim Eibach hingewiesen: Rezension von: Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn: Schöningh 1999, in: sehepunkte 1,1 (2001), online: http: / / www.sehepunkte.de/ 2001/ 01/ 2369.html, zuletzt abgerufen am 08.01.2013. 123 Es ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich zu berücksichtigen, dass in Basel im November 2011 der ‚Verein Basler Geschichte‘ gegründet wurde, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Grundlinien für eine Gesamtdarstellung der Basler Geschichte auszuarbeiten, die auf dem Stand der gegenwärtigen Forschung ist und die gesellschaftlichen Diskussionen der Gegenwart berücksichtigt; eine solche Darstellung existiert bisher nicht: http: / / www.basler geschichte.ch/ , zuletzt abgerufen am 08.01.2013. 124 In den Jahren der Durchsetzung der Reformation erlaubte allerdings der Rat den Bürgern offiziell viermal die freie Ausübung der Religion: Frühjahr 1523; 23. September und 21. Oktober 1527; 29. Februar 1528: diese Vorschrift sprach vom ‚dulden‘ eines jeden anderen; jedermann sollte frei sein zu glauben, was ihm Erlösung bringe. <?page no="182"?> 183 Alexander Kästner Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Nachbarschaft, Konflikte und religiöse Devianz in Leipzig (1640) I. Gibt es Himmel und Hölle? Oder ist die Auferstehung der Toten eine Mär? Und die Obrigkeit bestraft vermeintliche Sünden - wie etwa den Ehebruch - nur, damit sie nicht allgemeine Praxis würden, nicht aber um des Verhaltens selbst willen, welches gar keine Sünde sei? Sind Pfarrer Schelme? Betrügen die Prediger gar die Menschen, um die Herrschaft Weniger abzusichern, wie klandestine Schriften und Kritiker tradierter christlicher Dogmen in der Frühen Neuzeit behaupteten? 1 Wie viele Menschen sich diese und ähnliche Fragen im 17. Jahrhundert gestellt haben, werden wir nie genau wissen. Aber die Fragen waren in der Welt. Einmal ausgesprochen, drohten sie die ideelle Gemeinschaft der Gläubigen aufzusprengen, weshalb sie aus Sicht vieler Zeitgenossen und vor allem aus Sicht der Obrigkeiten freilich nichts anderes waren als ein Ausdruck gefährlicher Zweifel an der Religion und an den konfessionell institutionalisierten christlichen Heilsgemeinschaften. Damit bedrohten solche Zweifel Gültigkeit und Autorität sowohl von theologischen Dogmen als auch von weltlicher Herrschaft und also die gegebene 1 Das prominenteste Beispiel hierfür ist sicherlich die alte Erzählung von den drei Betrügern, die allerdings erst 1688 von Johann Joachim Müller in Hamburg als spöttisch-spielerische Stilübung und Experiment für den lutherischen Pastor von St. Jacobi und Professor in Kiel, Johann Friedrich Mayer, handschriftlich niedergelegt wurde und dann im 18. Jahrhundert ohne Intention des Verfassers weiter verbreitet und gedruckt sowie mit dem fiktiven Datum 1598 versehen wurde. Hierzu zuletzt und mit Hinweisen auf die Forschung Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Hamburg 2002, S. 115-159, zur Forschung insbesondere S. 119 Anm. 13 und 14. Der Text ist kritisch ediert und kommentiert worden von Winfried Schröder: Anonym [Johann Joachim Müller]: De imposturius religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen, hg. und krit. komm. von Winfried Schröder, Stuttgart 1999. Grundsätzlich war die Vorstellung, alle Religion sei Priesterbetrug durchaus verbreitet; Dorotha Weltecke, ‚Der Narr spricht: Es ist kein Gott‘. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt a.M./ New York 2010, S. 39. Über die dort gegebenen Hinweise hinaus exemplarisch Anonym: Idolum Principum, Das ist: Der Regenten Abgott […], s.l. 1678 [VD17 14: 008255Y], fol. Aiv v . In einer Bußpredigt des Wittenberger Predigers George Schimmer findet sich diese Vorstellung auch in dem mit abgedruckten Abschiedsbrief des Studenten Joachim Gerhard Ram: Das Von einem Mord=Kind erschreckte Wittenberg […], Wittenberg/ [Frankfurt an der Oder] 1688 [VD17 14: 015315T], fol. B3 v . <?page no="183"?> 184 Alexander Kästner gute Ordnung und Legitimität der politischen wie kirchlichen Funktionseliten, mit anderen Worten der Herrschaftsträger. 2 1639/ 40 fragte ein einfacher Essigkramer in Leipzig, ob denn die Menschen nicht stürben wie das Vieh und also vielleicht keine Auferstehung zu erhoffen sei. Ein Nachbar denunzierte ihn, er hätte die Pfarrer als Schelme bezeichnet und die Idee verbreitet, der Ehebruch sei keine Sünde und werde von der Obrigkeit lediglich deswegen gestraft, damit er nicht überhandnehme. Der Essigkramer hatte eigentlich regelmäßig den Gottesdienst besucht und in seiner Bibel gelesen. Und doch schienen für ihn so manche Fragen noch nicht beantwortet - Fragen auf die er auch im Gespräch mit seinen Nachbarn Antworten suchte. Wie die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die in diesem Beitrag näher untersucht werden, zeigen, konnten die gestellten Fragen und geäußerten ‚Zweifel‘ zwar zunächst unproblematisch erscheinen, im Fall eines Konflikts jedoch umstandslos auch als grundsätzliches In-Zweifel-Ziehen ordnungsstiftender Normen und Institutionen interpretiert werden. Aus einem, modern gesprochen, doxastischen Zweifel wurde so in der Anschuldigung alsbald Häresie. Unbestreitbar waren das 16. und 17. Jahrhundert geprägt durch das gleichzeitige Einschärfen und Infragestellen kirchenreligiöser Heilsgewissheiten. Der Versuch auch im Luthertum strenge Orthodoxien auszuprägen, rief Abweichungen oder sogar Abspaltungen auf den Plan 3 - das meint hier aber zunächst immer Phänomene der Zuschreibung, denn Konstruktionen eigener Identität bedürfen der Markierung des je Anderen. 4 Aufbauend auf dominanten Dogmen und Kriterien 2 Das galt grundsätzlich für jede von den obrigkeitlich dekretierten und geschützten Doktrinen abweichende Äußerung, was besonders in Zeiten von Konfessionswechseln der Herrscher virulent wurde. Illustrative Beispiele wären das England der Tudorzeit oder das hier im Blick stehende Kurfürstentum Sachsen nach dem gescheiterten Versuch einer ‚zweiten Reformation‘ unter Kurfürst Christian I. In beiden Ländern machte die Verfolgungswelle auch vor hochrangigen Vertretern der Herrschaftseliten nicht halt. Uwe Baumann: Der Kampf um den rechten Glauben, die Verfolgung von Ketzern und Hochverrätern und die tödlichen Grenzen der Streitkultur im England der (frühen) Tudorzeit, in: ders./ Arnold Becker/ Astrid Steiner-Weber (Hg.): Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst, Göttingen/ Bonn 2008, S. 233-263; aus der Perspektive von Katholiken in England, die nach 1559 u.a. aus den Kirchen ausgeschlossen waren, siehe Lisa McClain: Without Church, Cathedral, or Shrine. The Search for Religious Space among Catholics in England, 1559-1625, in: The Sixteenth Century Journal 33, 2 (2002), S. 381-399; ferner die Sammelbesprechung von Gabriel Glickman: Early Modern England. Persecution, Martyrdom - and Toleration? , in: The Historical Journal 51, 1 (2008), S. 251-267; zu Kursachsen Karl Czok: Der sogenannte Calvinistensturm in Leipzig 1593, in: Dresdner Hefte 10 (1992), S. 33-42; Hartmut Krell: Das Verfahren gegen den 1601 hingerichteten Kanzler Dr. Nicolaus Krell, Frankfurt a.M. 2006; Hennig Steinführer: Der Leipziger Calvinistensturm von 1593, in: NASG 68 (1998), S. 335-349. 3 Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit. Relevanz - Formen - Kontexte, in: Hartmut Laufhütte/ Michael Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, S. 5-118, hier S. 13. 4 Eine konzise Zusammenfassung der Konstruktions- und Analysebedingungen ‚kollektiver Identitäten‘ im konfessionellen Zeitalter gibt Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit <?page no="184"?> 185 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? zur Benennung von Heterodoxie 5 existierten in allen christlichen Konfessionen Instanzen, religiöse Abweichungen festzustellen, zu benennen und zu sanktionieren. Heterodoxien wurden zeitgenössisch als Symptome einer Glaubenskrise gedeutet, die wiederum für viele andere ‚Krisen‘ 6 verantwortlich gemacht werden konnten. Glaubensabweichungen spiegelten das von Johannes Wallmann in Anlehnung an Udo Sträter beschriebene „Bewußtsein der kirchlichen Theologen und allenfalls kirchlich engagierter Laien [… von einer] ‚Frömmigkeitskrise‘, die inhaltlich bestehen soll in der als krisenhaft empfundenen Wirkungslosigkeit der kirchlichen Verkündigung.“ 7 Zu den vielen als bedenklich und gefährlich geltenden Splitterformen des Glaubens zählten deviante Überzeugungen in den jeweils eigenen Reihen, die - im deutschen Luthertum im 17. Jahrhundert geradezu exzessiv - als ‚Schwärmereien‘ diffamiert wurden. 8 Diese Ausgrenzungsdiskurse fungierten stets auch als ‚identitätsstiftende Integrationsinstrumente‘ von Glaubenseliten, die den autoritativen Anspruch erhoben, Gott wohlgefällige und rechtgläubige Mehrheitsfraktion zu sein bzw. für eine solche zu sprechen. 9 Diese Diskurse benannten und konfessioneller Identitätsstiftung, Tübingen 2007, S. 35-42. 5 Dieses Themenfeld wird demnächst ausführlich entfaltet in Eric Piltz/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Religiöse Devianz. Praktiken und Diskurse im konfessionellen Zeitalter, i.V. für 2013. Auf die Nennung weiterer Literatur wird daher an dieser Stelle weitgehend verzichtet. Vgl. neben den Beiträgen von Franziska Neumann, Tim H. Deubel und Eric Piltz in diesem Band exemplarisch für eine Einzelfallstudie im städtischen Kontext Bernd Roeck: Ketzer, Künstler und Dämonen. Die Welten des Goldschmieds David Altenstetter, eine Reise in die Renaissance, München 2009. Mit Fokus auf Bildungs- und Funktionseliten die Beiträge in Laufhütte/ Titzmann (Hg.): Heterodoxie (wie Anm. 3). 6 Siehe als Einstieg in die thematische Vielfalt dieser ‚Krisenepoche‘ und jeweils mit weiterführender Literatur und Hinweisen auf die wegweisenden, älteren englischsprachigen Forschungen zur ‚Krise des 17. Jahrhunderts‘ die Beiträge in Hartmut Lehmann/ Ann-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999; Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Krisen des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999. Jetzt auch hinsichtlich einer Verknüpfung von Klima- und Mentalitätsgeschichte der sogenannten ‚Kleinen Eiszeit‘ die Beiträge in Wolfgang Behringer/ Hartmut Lehmann/ Christian Pfister (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der ‚Kleinen Eiszeit‘ / Cultural Consequences of the ‚Little Ice Age‘, Göttingen 2005. 7 Johannes Wallmann: Reflexionen und Bemerkungen zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts, in: Jakubowski-Tiessen: Krisen (wie Anm. 6), S. 25-42, Zitat S. 27. 8 Thomas Kaufmann: Nahe Fremde - Aspekte der Wahrnehmung der ‚Schwärmer‘ im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.): Interkonfessionalität - Transkonfessionalität - binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2003, S. 179-241. Michael Heyd: The Reaction to Enthusiasm in the Seventeenth Century. Towards an Integrative Approach, in: The Journal of Modern History 53, 2 (1981), S. 258-280, hier S. 279 der Hinweis, dass in England ähnlich wie im Alten Reich auch Katholiken und gleichermaßen Atheisten als ‚Enthusiasten/ Schwärmer‘ etikettiert und stigmatisiert werden konnten. 9 Und dies insbesondere in einer Zeit sich ausformender Selbstzuschreibungen als ‚orthodox‘; Jörg Baur: Lutherische Gestalten - heterodoxe Orthodoxien. Historisch-systematische Studien, hg. v. Thomas Kaufmann, Tübingen 2010, S. 263-269 (Kap.: ‚Orthodox‘ im <?page no="185"?> 186 Alexander Kästner konkrete Gegenüber in der eigenen Mitte: die Glaubensabweichler oder eben auch die Häretiker als - religionssoziologisch - klassische ‚deviante Insider‘, die sich bei aller Abweichung auf das normative Zentrum der christlichen Religion bezogen. 10 Der Umgang mit solchen ‚nahen Fremden‘ (Thomas Kaufmann) wurde zumindest in den meisten Territorien des Alten Reiches als grundsätzlich gefährlich eingestuft, galt als unerwünscht und als gegebenenfalls zu sanktionieren. Interkonfessionelle Beziehungen waren aus Sicht hegemonialer Glaubenshüter und ‚Zeloten‘ wenn überhaupt, dann lediglich auf Basis einer Ambiguisierung denkbar, die diesen Zustand als Interim interpretierte. 11 Reinheit des Glaubens und Herrschaftsabsicherung hingen in dieser Perspektive ebenso untrennbar zusammen wie Glaube und individuelle Lebensführung; „kleinsten Details des Religiösen“, so resümiert Bernd Roeck für die Zeit um 1600, wurde von allen Beteiligten enorme Bedeutung beigemessen. 12 Anhand der erwähnten Anschuldigungen und gerichtlichen Untersuchungen gegen einen Leipziger Essighändler in den Jahren 1639/ 40 sollen nun im Folgenden die Fragen beantwortet werden, durch welche Akteure und Institutionen, mit welchen Strategien und mit welchen Konsequenzen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts konkurrierende Zuschreibungen und Deutungen abweichenden Glaubens verhandelt werden konnten. II. Unser Beispiel führt in die bedeutende kursächsische Land- und Reichsmessestadt Leipzig. Genauer gesagt spielten sich die zu untersuchenden Ereignisse in der organisierten Nachbarschaft des Nauendörfchens in der sogenannten Rannischen Vorstadt ab. Das Nauendörfchen unterstand seit 1503 dem Leipziger Rat. Die Nachbarschaft, deren Mitglieder das Bürgerrecht besaßen, hatte aber auf Sprachgebrauch der ‚altprotestantischen Orthodoxie‘).Vgl. auch Kaufmann: Nahe Fremde (wie Anm. 8), der ausdrücklich darauf hinweist, dass ‚die lutherische Orthodoxie selbst keine homogene Institution, „kein systematisches-geschlossenes Phänomen darstellt[e], sondern einer beträchtlichen, von personellen, publizistischen, kirchenverfassungsrechtlichen und politischen Faktoren maßgeblich mitbestimmten Dynamik unterl[ag]“; ebd., 218f. 10 Wolfgang Beinert: Häresie III (Systematisch-theologisch), in: LThK 4, Sp. 1191f.: „Die Abweichung [Häresie; A.K. …] besteht also aus einem ausdrückl. u. beharrlich geäußerten Widerspruch z. herrschenden Lehre bei gleichzeitigem Willen z. Kirchenmitgliedschaft des Häretikers.“ Zur soziologischen Figur dieses devianten Insiders siehe Lester R. Kurtz: The Politics of Heresy, in: American Journal of Sociology 88, 6 (1983), S. 1085-1115. 11 Thomas Kaufmann: Religious, Confessional and Cultural Conflicts among Neighbors. Observations on the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Randolph C. Head/ David Christensen (Hg.): Orthodoxies and Heterodoxies in Early Modern German Culture. Order and Creativity 1000-1750, Leiden/ Boston 2007, S. 91-115, hier v.a. S. 104-111. 12 Roeck: Ketzer (wie Anm. 5), S. 144. <?page no="186"?> 187 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Versprechen des Rats „ihre alte Gerechtigkeit behalten“. 13 Sie war innerhalb der Rannischen Vorstadt von mehreren Gräben und Flüssen umgrenzt. Ihr Kreis war also räumlich und sozial überschaubar, wie auch rechtlich abgegrenzt. 14 Bis 1550 stand dem Nauendörfchen ein Richter vor, dessen Amt vierteljährlich unter den Nachbarn wechselte. 15 Vermutlich im Zuge der neuen Ordnung für die Vorstädte wurde dieses Richteramt dann 1550 durch einen Gassenmeister nebst Beisitzer ersetzt, denen noch ein Bornmeister für die Aufsicht über die Brunnen zur Seite gestellt wurde. Diese Ämter wurden von den Nachbarn gewählt und mussten vom Rat bestätigt werden. Die Gassenmeister, welche während der regelmäßigen Quartalstreffen neben der Nachbarschaftordnung auch neue Erlasse des Rats zu verlesen hatten, 16 sowie die Versammlung der Nachbarn übten eine Form niederer Gerichtsbarkeit über die Nachbarschaft aus. 13 StAL, Titelakten (F.) XXXIX, Nr. 58 „Alte Nachrichten über das Naundörfchen und Erbzinsregister von dort“, fol. 3 v seq. 14 Die archivalische Überlieferung legt nahe, dass die Nachbarn des Nauendörfchens Wert auf Eigenständigkeit legten, denn nachdem sie 1519 mit der Nachbarschaft des Steinwegs vor dem Rannstädter Tor unter eine gemeinsame Ordnung gefasst wurden, löste der Rat diese Verbindung bereits ein Jahr später mit der vielsagenden Begründung wieder auf, die Separierung würde zur Wahrung des Friedens beitragen; StAL, Titelakten (F.) XXXIX, Nr. 58, fol. 5 r . Vgl. zum Nauendörfchen Karl Czok: Zur Entwicklung der Leipziger Vorstädte bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt Leipzig 1978, S. 37-77, hier S. 51-53; Walther Rachel: Verwaltungsorganisation und Ämterwesen der Stadt Leipzig bis 1627, Leipzig 1902, S. 11-13 und 154f. Zu den Leipziger Nachbarschaften ferner Verena Kriese: Die Vorstädte Leipzigs im 18. Jahrhundert. Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Untersuchung, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, 16 (1989), S. 110-125. Zur neueren Nachbarschaftsforschung siehe die reichhaltigen Verweise bei Eric Piltz: Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld, in: Christine Roll/ Frank Pohle/ Matthias Myrczek (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln/ Weimar/ Wien 2010, S. 385-398, sowie ders.: Nachbarschaft, Gemeinschaft und sozialer Raum. Vorschläge für eine frühneuzeitliche Stadtgeschichte aus nachbarschaftlicher Perspektive, in: discussions 5 (2010), online: http: / / www.perspectivia.net/ content/ publikationen/ discussions/ 5-2010/ piltz_nachbarschaft, zuletzt abgerufen am 22.11.2012. 15 StAL, Titelakten (F) XXXIX Nr. 58, fol. 4 v seq. 16 Das regelmäßige Verlesen der Nachbarschaftsordnung war in Art. 21 der Ordnung für die Vorstädte von 1550 geregelt; StAL, Titelakten (F) XXXIX Nr. 1, fol. 5 r . Karl Czok: Die Nachbarschaftsartikel für die Leipziger Vorstädte vom Jahre 1550, in: Helmut Bräuer/ Gerhard Jaritz/ Käthe Sonnleitner (Hg.): Viatori per urbes castraque. Festschrift für Herwig Ebner zum 75. Geburtstag, Graz 2003, S. 131-142, hier S. 141. Vgl. auch Rachel: Verwaltungsorganisation (wie Anm. 14), S. 154f. zu den weiteren Aufgaben, hierunter exemplarisch Folgendes: „Als Vorsteher der Nachbarschaft haben die Gassenmeister die Versammlungen derselben zu leiten; nach der Vorstadtordnung sollen sie alle Vierteljahre oder aber kurz vor den Messen die Nachbarn zusammenrufen und sie befragen, ob ein Artikel der Ordnung von jemandem übertreten worden sei, ohne dass dieser bisher bestraft sei; sie haben dies dem Rate anzuzeigen. Anordnungen, die der Rat erlässt, haben sie der Nachbarschaft bekannt zu geben. […] Sie haben darüber zu wachen, dass vor den Thoren kein Bier verschenkt werde, dass die den Hausbesitzern und Mietern gestattete Anzahl Schweine nicht überschritten werde. Ferne liegt ihnen die Feuerpolizei ob, so die Besichtigung der Feuerstätten im 17. Jahrh. neben den <?page no="187"?> 188 Alexander Kästner Während des Dreißigjährigen Krieges wurde das soziale Gefüge dieser Nachbarschaft, die sich übergreifend eher aus unteren Strata der Gesellschaft rekrutierte, erheblich erschüttert. Legen die überlieferten Erbzinsregister eine gewisse Kontinuität der Mitglieder noch bis ins späte 16. Jahrhundert nahe, so verschiebt sich das Bild mit dem Krieg, d.h. mit den Zerstörungen 1631 sowie der verheerenden Pestwelle 1637 mit ihren über 4.000 Toten. Seit 1633 wurde kein Schutzgeld von sogenannten Zettelleuten (zeitweilig sich in Leipzig aufhaltenden Hausgenossen ohne Bürgerrecht) mehr erhoben, weil aufgrund der Verheerungen schlichtweg Niemand in den kaum bewohnbaren Behausungen aufgenommen werden konnte. 17 1636 zählte das Nauendörfchen nur noch neun Nachbarn und 15 Mieter, die nicht Mitglieder der organisierten Nachbarschaft waren. 18 Gerade erst 1639 hatten die verbliebenen und neuen Nachbarn neben dem Brunnen auch einige der 1631 abgebrannten Häuser wieder aufgebaut, während andere zerstört blieben. 19 Die Nachbarschaft befand sich also im Umbruch, was unter anderem durch die Tatsache unterstrichen wird, dass der in unserem Fall agierende Gassenmeister Christoff Hauschild ein erst im Sommer 1638 aus Frankenstein (nahe Öderan im Erzgebirge) zugewanderter Weißgerbermeister und damit ein Neubürger war. 20 Im Februar 1640 war in dieser durch verdichtete Krisenerfahrungen, räumliche Enge und persönliche Nähe geprägten Lebenswelt der Nachbar Andreas Meister, ein Essighändler, nach einer schriftlichen Anzeige in den Verdacht geraten, er wäre „ein ertzketzer vndt gottesvergeßner mann“. 21 Überliefert sind zu Viertelsmeistern, ebenso der Brunnen, die Bestellung von Leuten, die in Feuersnöten sich ans Hällische und Petersthor begeben sollen, um eventuell in der Stadt zu helfen. Vor allem aber üben sie die Wohnungs- und Fremdenpolizei aus“; ebd., S. 155. 17 StAL, Tit. XXXIV Nr. 13d „Rechnungen über die Einnahme des Schutzgeldes von den Zettelleuten in den Nachbarschaften 1633-1718“, fol. 6 v seq. Lediglich an Michaelis 1643 wurde Schutzgeld von einer Person namens Pritz Herkelt eingenommen, danach wurden die Vorstädte aus militärstrategischen Gründen erneut abgetragen. Zu den Hausgenossen siehe Helmut Bräuer: Hausgenossen in Städten Obersachsens während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: ders./ Jaritz/ Sonnleitner (Hg.): Viatori (wie Anm. 16), S. 73-95. 18 So zumindest die Zusammenstellung in StAL, Titelakten (F) XXXIX Nr. 58, fol. 7 r . 19 StAL, Titelakten (F) XXXIX Nr. 58, fol. 7 v , 12 v seq., 17 r seq. 20 StAL, Titelakten XXXIV Nr. 5 „Bürgerbuch 1612-1666“, fol. 179 v . Vgl. auch den Eintrag in StAL, Schossstube, Schossbuch 1636-1655 (zwei Bände), hier Bd. 2, fol. 269 v . Das Schoss war eine Art Grundsteuer, die jeder Bürger zu entrichten hatte. In StAL, Titelakten (F) XXXIX, Nr. 58, fol. 12 v ist zwar davon die Rede, dass 1632/ 3 Christoff Hauschilds Haus wieder aufgebaut worden war. Allerdings ist diese Notiz wesentlich später entstanden und meint vermutlich nur dasjenige Haus, das zum Zeitpunkt der Abschrift einer denkbaren Vorlage, im Besitz von Christoff Hauschild gewesen war. 21 StAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474 „Inquisitio Contra Andreas Meistern Anno M.DC. XL.“, fol. 1 r . Der Fall ist bereits kurz erwähnt bei Bernd Rüdiger: Kriminalität während des Dreißigjährigen Krieges in Leipzig. Ein Sonderfall innerstädtischer Kommunikation, in: Helmut Bräuer/ Elke Schlenkrich (Hg.): Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 609-632, hier S. 630. <?page no="188"?> 189 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? diesem Fall neben Bürger- und Schossregistern, die einigen Aufschluss über die Beteiligten geben, ein Denunziationsschreiben, Verhörprotokolle, Protokolle der Konfrontationen, eine selbst verfasste Rechtfertigung des beklagten Andreas Meister sowie das Urteil des Schöffenstuhls. Andreas Meister, gebürtig aus Glaucha, hatte zusammen mit Christoff Hauschild am 26. Juli 1638 das Bürgerrecht erworben, wenngleich er hierfür zunächst nur zehn anstatt der geforderten zwanzig Taler hinterlegen konnte. 22 Nach einer kurzen Übergangsphase vor dem Grimmischen Tor wurde er Mitglied der Nachbarschaft des Nauendörfchens. Dieser Andreas Meister soll der schriftlichen Anzeige eines Nachbarn zufolge nicht nur Gott und zentrale Glaubensartikel, sondern überdies auch Pfarrer und Sittengebote, z.B. die kurfürstliche Eheordnung, gelästert haben. Vor allem die Bezeichnung als ‚Erzketzer‘ hob ihn von vielen anderen gerichtsbekannten Personen ab, die häufig als gewohnheitsmäßige Gotteslästerer bezeichnet wurden, was bereits anzeigt, dass es in seinem Fall um weit mehr ging als notorisches Fluchen. 23 III. Der Vorfall wurde für den Essigkramer bedrohlich, insofern ihm nach den kursächsischen Konstitutionen von 1572 für seine mutmaßlichen Lästereien nicht nur Geld- oder Ehrensondern auch Verweisungs- oder gar Verstümmelungsstrafen (etwa das Abschneiden der Zunge) drohten. 24 Es lässt sich nicht mit endgültiger Sicherheit abschätzen, ob ihm für die unterstellten Äußerungen auch der Tod gedroht hätte. Das liegt zum Einen daran, dass, sieht man von teufelsbündnerischen Zauberern ab, in den kursächsischen Konstitutionen die Verfolgung und Bestrafung von Häretikern bzw. Ketzern, und als solcher galt er zumindest ausweislich der Denunziation, nicht geregelt war. Zum Anderen zeigt die für die Rechtspraxis in Kursachsen nicht zu unterschätzende Diskussion in der ‚Practica nova‘ (1635) des späteren Vorsitzenden des Leipziger Schöffenstuhls Benedict Carpzov (1595-1666), dass das Vergehen der Häresie/ Ketzerei zwar als schweres 22 StAL, Titelakten XXXIV Nr. 5, fol. 179 v und StAL, Schossstube, Schossbuch 1636-1655 (zwei Bände), hier Bd. 2, fol. 268 v . Meister musste sich allerdings dazu verpflichten, bis Michaelis die restlichen zehn Taler zu zahlen, sonst würde er das Bürgerrecht automatisch wieder verlieren - was er wohl auch getan hat, denn im Prozess 1640 wurde er als Bürger bezeichnet und behandelt. 23 Zu Leipziger Gotteslästerern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ausführlicher Alexander Kästner/ Annette Scherer: „die heiliege dreyfaltigkeit, salva reverentia, angeschießenn“. Wahrnehmung und Deutung gotteslästerlicher Worte in Leipzig im 17. Jahrhundert, in: Stephan Dreischer u.a. (Hg.): Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013, S. 85-102, i.E. 24 Vgl. die Zusammenstellung in Ulrike Ludwig: Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548-1648, Konstanz 2008, S. 84. <?page no="189"?> 190 Alexander Kästner und abscheuliches, zugleich doppeltes Majestätsverbrechen (gegen die weltliche Obrigkeit und gegen Gott) aufgefasst wurde und prinzipiell mit dem (Feuer-) Tod zu strafen war. 25 Gleichwohl diskutierte Carpzov das Phänomen komplexer. Die von ihm zitierten Urteile des Leipziger Schöffenstuhls, der wichtigsten landesherrlichen Spruchbehörde Kursachsens in peinlichen Strafsachen, 26 in Fällen eindeutig hartnäckiger und öffentlicher-(! ) Bestreitung des Taufsakraments, antitrinitarischer Einstellungen oder Apostasie zeigen, dass selbst in schwerwiegenden Fällen zunächst geistliche Unterweisungen angeordnet und mitunter Bedenkzeit und Widerrufsmöglichkeit eingeräumt wurden, bevor überhaupt peinlich gestraft wurde. 27 Und auch wenn „turbatores divinorum & sacrorum interpellatores“, gemeint waren hier vor allem Störer und Lästerer im sakralen Raum der Kirche, mit dem Schwert gerichtet werden könnten, so Baldus de Ubaldis, könne doch aber, so dagegen Carpzov, in Ansehung der Umstände auch eine arbiträre Strafe zuerkannt werden, etwa das Stäupen und/ oder der Landesverweis. 28 Das Thema Gotteslästerung nimmt in der kriminalitätshistorischen Forschung zu Kursachsen nur einen marginalen Platz ein. 29 In einer Studie zu Leipziger Gotteslästerern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte festgestellt werden, dass lediglich in einem Fall des Samples auch wirklich die Todesstrafe durch das Schwert vollzogen wurde. 30 In diesem Fall hatte allerdings der Beschuldigte damit gedroht, Gott persönlich vom Himmel herunter zu holen und ihm einen Stecken auf den Rumpf zu schlagen - nach dieser unmittelbaren Verbalattacke gegen Gott, die der Beschuldigte noch nicht einmal bestritt (er meinte lediglich angeben zu müssen, es wäre so wohl nicht gemeint gewesen), half auch die Intervention eines Pfarrers nicht. Ebenfalls als direkter Angriff gegen Gott wurden in einem vergleichbaren Fall im Jahr 1697 die blasphemischen Äußerungen eines Festungsgefangenen in Dresden aufgefasst, der vom Leipziger Schöffenstuhl zunächst zum Tode verurteilt, nach (im Wortsinn) längerer Tortur allerdings zu Staupenschlägen und Landesverweis begnadigt wurde. 31 Bernd Rüdiger, dem wir eine erste systematische Erschließung der Geschichte der frühneuzeitlichen Leipziger Strafjustiz und Kriminalität verdanken, hat eine 25 Benedict Carpzov: Practica Nova Imperialis Saxonica Rerum Criminalium […], Wittenberg 1635, P. I, Qu. XLIV. 26 Mit weiterer Literatur Ludwig: Herz (wie Anm. 24), S. 45-49. 27 Carpzov: Practica nova (wie Anm. 25), P. I, Qu. XLIV, n. 48 (Torgau 1574), n. 49 (Treffurt 1583). 28 Ebd., P. I, Qu. XLIV, n. 51 und n. 52. 29 Ludwig: Herz der Justitia (wie Anm. 24), S. 81f., 84, 90, 106. 30 Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23), S. 87 Anm. 8. Dieser Fall in StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 496 „INQVISITION Acta: Contra Georg Pretzschen in puncto Blasphemiae. Vor den Stadtgerichten zu Leipzigk ergangen Mense Januarii Anno M.DC.XLII.“ 31 Gerd Schwerhoff: ‚Du Donnerschelm! ‘ Soll der Gotteslästerer Christoph Harnitzsch sterben? , in: Dresdner Hefte 107 (2011) [Themenheft Hexen, Mörder, Duellanten. Dresdner Kriminalfälle der Frühen Neuzeit], S. 41-51. <?page no="190"?> 191 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Übersicht der im Archiv des Leipziger Stadtgerichts überlieferten Kriminalfälle der Jahre 1631 bis 1634 vorgelegt. Diese weist bei (nur! ) 30 Fällen zwei Hinrichtungen auf, davon eine wegen Mordes und eine wegen Kindsmords. 32 Allerdings waren hierbei auch mehrere wegen Mordes Angeklagte flüchtig, für die ein Todesurteil nicht unwahrscheinlich gewesen wäre. Wie sowohl die zeitgenössische Chronistik Leipzigs als auch die fragmentarisch überlieferten Strafakten des Stadtgerichts nahelegen, war die Justiz in Leipzig durch den Dreißigjährigen Krieg nicht so stark beeinträchtigt, dass sie nicht mehr handlungsfähig gewesen wäre. Nicht nur in der Gerichtspraxis zeigt sich, dass trotz aller Nöte und Beschwerungen während der Kriegszeiten in der Stadt die Annahme fehl geht, „ein normales Alltagsleben [sei] kaum mehr möglich“ gewesen. 33 Bekannt sind eine Reihe sowohl von Untersuchungsverfahren als auch weitere Hinrichtungen, die vor allem an Militärangehörigen vollzogen wurden, die wegen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung verurteilt worden waren. 34 Dieser allgemeine Eindruck bestätigt sich sogar für die Jahre 1633/ 34, in denen ein Großteil der Mitglieder des Schöffenstuhls geflohen und ein prominentes Mitglied, der Bürgermeister Adam Herr, von kaiserlichen Truppen als Geisel verschleppt worden waren. 35 32 Rüdiger: Kriminalität während des Dreißigjährigen Krieges (wie Anm. 21), S. 621-623. 33 So aber stellvertretend für die gesamte ältere Literatur Elke Schlenkrich: „Tränen des Vaterlandes“. Leipzig in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, in: Dresdner Hefte 56 (1998), S. 37-44, hier S. 43. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Detlef Döring: Das Leben in Leipzig in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Dargestellt anhand der Annalen des Zacharias Schneider, in: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart, Beiträge zur Stadtgeschichte 3 (1984), S. 151-175. Gegen diese ältere zu stark lokalhistorisch auf Leipzig allein fokussierte Sicht nun aber wohlbegründet Barbara Hoffmann: ‚Krieges noth und grosse theuerung‘. Strategien von Frauen in Leipzig 1631-1650, in: Klaus Garber u.a. (Hg.): Der Frieden - Rekonstruktion einer europäischen Vision, Bd. 1, Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion - Geschlechter - Natur und Kultur, München 2001, S. 369- 392, hier S. 388 und passim; überdies für die stabilste Phase Leipzigs während des Krieges, die Besatzungszeit unter schwedischer Kuratel 1642-1650, Alexander Zirr: Die Schweden in Leipzig 1642-1650. Ein stadtgeschichtlicher Überblick zur Spätphase des Dreißigjährigen Krieges, in: Stadtgeschichte. Jahrbuch des Leipziger Geschichtsvereins (2009), S. 65-85. Schwerer als die unmittelbaren Kriegseinwirkungen wogen wohl die Pest und in politischer Hinsicht der Umstand, dass die Stadt aufgrund von Fehlspekulationen im Kupferbergbau und im Zuge des finanziellen Zusammenbruchs während der Kipper- und Wipperzeit bis 1688 unter kurfürstliche Kuratel gestellt wurde; Hoffmann: Krieges noth (in dieser Anm.), S. 370 mit weiterer Literatur. 34 Überblick bei Rüdiger: Kriminalität während des Dreißigjährigen Krieges (wie Anm. 21), S. 618 und 621-623. Für die unmittelbar zeitgenössische Chronistik exemplarisch die vielen Beispiele in Tobias Heidenreich: Leipzigische Cronicke Vnd zum Theil Historische Beschreibung der fürnehmen vnd weitberühmbten Stadt Leipzig […], Leipzig 1635 [VD17- 23: 236136T], passim. 35 Ulrike Ludwig: Strafverfolgung und Gnadenpraxis in Kursachsen unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 10, 2 (2006), S. 200-219, hier S. 202f. Dort auch die Einschätzung, dass deviante Soldaten tendenziell von Strafen verschont wurden, wenngleich dagegen die Eindrücke aus der Überlieferung der Leipziger Richterstube sowie die Chronistik Leipzigs aus dieser Zeit sprechen. Zu den <?page no="191"?> 192 Alexander Kästner Stadtgericht und landesherrlicher Schöffenstuhl ahndeten vehement Verstöße gegen die Sittenzucht und Sexualmoral. Allein im Jahr 1634 wurden umfangreiche Untersuchungen in puncto ‚Hurerey‘ und ‚Kupplerey‘, also wegen massiven Verstößen gegen Sittenzucht und Eheordnung, durchgeführt. 36 Da die Eheordnung in den Vorwürfen gegen Andreas Meister eine wichtige Rolle spielte, ist dies bedeutsam. Die Strafzumessung lässt, so die Einschätzung von Bernd Rüdiger, keine geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennen, wenngleich die Anzeigebereitschaft gegen Männer deutlich geringer war. 37 Auf einem der „Gipfel der Verfolgung“ von Sexualdelikten wurde 1624 Maria Zimmer wegen Hurerei, vor allem aber wegen Meineids und gebrochener Urfrieden enthauptet, nachdem sie trotz mehrerer Landesverweise und Urfrieden wiederholt in die Stadt zurückgekehrt war. 38 Wenngleich davon auszugehen ist, dass belastbare und deliktübergreifende Aussagen zur Zahl der Hinrichtungen in Leipzig nicht möglich sind, ist gleichwohl unverkennbar, dass die Stadt auch rigide gegen mutmaßliche Kapitalverbrecher vorging. 39 Gleiches gilt für Eigentumsdelikte, die, so zumindest der Eindruck aus den noch vorhandenen Quellen, im Zeitraum 1618 bis 1648 deutlich andere Vergehen überwogen. 40 Bei den Glaubensdelikten ist der Befund schwieriger einzuschätzen. Die uneindeutige Rechtslage wurde oben bereits skizziert. Überdies tauchen in den Akten zum Beispiel Gotteslästerungen meist nur als Teil eines Verschleppungen auch Heidenreich: Leipzigische Chronike (wie Anm. 34), S. 600f. sowie Schlenkrich: Tränen (wie Anm. 33), S. 40. 36 Heidenreich: Leipzigische Chronike (wie Anm. 34), S. 610; Fallbeispiele sind aufgelistet in Rüdiger: Kriminalität während des Dreißigjährigen Krieges (wie Anm. 21), S. 622f. 37 Bernd Rüdiger, Zu Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Leipzig, in: ders./ Karsten Hommel (Hg.): Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Leipzig in der Frühen Neuzeit. Der Bestand ‚Richterstube‘ im Stadtarchiv Leipzig, Leipzig 2008, S. 325-358, hier S. 337. Schon seit 1547 existierte in Leipzig kein Frauenhaus mehr, nachdem es zusammen mit den Vorstädten im Schmalkaldischen Krieg abgebrannt war. Dadurch hatte sich die Situation der ‚Dirnen‘ dramatisch verschlechtert. Deren Kindsaussetzungen wegen ungewollter Schwangerschaften waren aus Sicht des Stadtgerichts ein weiteres und „besonders ernstes Problem“; Bernd Rüdiger: Außenseiter, Randgruppenangehörige und Fremde in der frühneuzeitlichen Gesellschaft Leipzigs, in: ebd., S. 201-323, hier S. 231. 38 Rüdiger: Außenseiter (wie Anm. 37), S. 232. Vgl. dagegen den Kontrast zum Vorgehen des Nürnberger Rats im Fall der Barbara Zainerin 1607 im Beitrag von Annette Scherer in diesem Band. Überdies gingen das Leipziger Stadtgericht und der Schöffenstuhl hart gegen Kindsmörderinnen vor. Zwischen 1590 und 1671 wurden nach 45 Untersuchungsverfahren und Prozessen wegen Kindsmords 10 Verweisungsstrafen und 19 Todesurteile gefällt, signifikant mehr als in den Zeiträumen davor oder danach, wenngleich noch im späten 18. Jahrhundert Frauen wegen Kindsmords hingerichtet wurden. Vgl. die Daten bei Bernd Rüdiger, Kindermordprozesse in der Frühen Neuzeit - nur ein Gretchenproblem? Zur gerichtlichen Aufarbeitung der Kindermorde in Leipzig 1561-1810, in: ders./ Hommel (Hg.): Kriminalität (wie Anm. 37), S. 117-199, hier S. 154-157 39 Rüdiger: Kriminalität (wie Anm. 37), S. 335 und 354. 40 Hier waren auch auffällig häufig Auswärtige beteiligt. Rüdiger: Außenseiter (wie Anm. 37), S. 291. <?page no="192"?> 193 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? ganzen Bündels an Vorwürfen auf. 41 Schließlich muss wohl auch die Anzeigebereitschaft der Leipziger Bevölkerung als sehr gering eingeschätzt werden 42 - das wird trotz der Denunziation im Fall Meister gleichermaßen an den Aussagen der weiteren Beteiligten deutlich und auch in anderen Fällen von Gotteslästerung in Leipzig konnte festgestellt werden, dass ein gottloser Lebenswandel durchaus über einen längeren Zeitraum toleriert werden konnte, bevor es überhaupt zu einer Anzeige kam. 43 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Stadtgericht und Schöffenstuhl im betrachteten Zeitraum unnachgiebig Vergehen ahndeten, welche entweder die Sitten- und Sexualmoral infrage stellten oder welche die Ordnung grundsätzlich bedrohten - das galt vor allem dann, wenn sie sich direkt gegen die Obrigkeiten richteten. 44 Zudem ist zu bedenken, dass der Krieg „Konflikte und Konfliktbereitschaft unter der Stadtbevölkerung deutlicher zutage“ treten ließ. 45 Verschiedene Konfliktszenarien könnten so das Denunziationsverhalten und die Bereitschaft, den Justizapparat zur Regulierung sonstiger Konflikte zu nutzen, stärker beeinflusst haben als zuvor - wenngleich derartige Kausalzusammenhänge im Einzelfall schwer zu belegen sind. IV. Die schriftliche Meldung der angeblichen Ketzereien Andreas Meisters wurde von einem Nachbarn, dem Fischersmann Zacharias Fischer, verfasst. Fischer zählte zu den alteingesessenen Nachbarn im Nauendörfchen und war von März 1638 bis Juni 1639 Beisitzer des Gassenmeisters Thomas Kallwitz gewesen. Kallwitz war zugleich Schwiegervater Zacharias Fischers und seit Juni 1639 Beisitzer des neuen, oben bereits erwähnten Gassenmeisters Christoff Hauschild. 46 Fischer hatte angegeben, im Namen etlicher Nachbarn zu denunzieren, darunter auch des Gassenmeisters Hauschild, den er gleichwohl der Untätigkeit gegenüber den Ketzereien des Essighändlers bezichtigte. Von den genannten Nachbarn und Zeugen wusste aber bis auf Thomas Kallwitz Keiner etwas davon. Dieser Umstand und die Tatsache, dass der erste Adressat der Denunziation nicht das Stadtgericht sondern der Leipziger Superintendent gewesen war, geben Hinweise auf mögliche Gründe für die gewählte Form und den Inhalt. Auffällig ist, dass Andreas Meister im Denunziationsschreiben gleich zehnmal als (Erz-)Ketzer, zweimal als Bösewicht und einmal als Erzlügner bezeichnet wird, 41 Vgl. die Befunde in Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23). 42 So zumindest die Einschätzung bei Rüdiger: Kriminalität (wie Anm. 37), S. 347. 43 Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23), S. 91f. 44 Ungehorsam gegen den Rat wurde bisweilen mit dem Entzug des Bürgerrechts geahndet; Rüdiger: Außenseiter (wie Anm. 37), S. 282-284. 45 Rüdiger: Kriminalität (wie Anm. 37), S. 332. 46 StAL, Titelakten (F) XXXIX, Nr. 58, fol. 7 v seq. <?page no="193"?> 194 Alexander Kästner der teuflische Lehren verbreite. 47 Die wiederholte Verwendung dieser Devianzstereotypen markiert eine rhetorische Dramatisierung, welcher, so ist noch zu zeigen, ein nur auf den ersten Blick unscheinbares soziales Drama vorausging. Die Denunziationsschrift perhorreszierte den mutmaßlichen Delinquenten und signalisierte so dem ursprünglich adressierten Superintendenten, dass er unmöglich untätig bleiben könne. Da davon auszugehen ist, dass Fischer klar gewesen sein muss, dass die Vorwürfe aufgrund ihrer Schwere gerichtsnotorisch würden, ist auch plausibel anzunehmen, dass der rhetorische Überschuss mithin auf eine Indienstnahme des Superintendenten für die Zwecke des Denunzianten zielte. Das ist auch insofernnach vollziehbar, als ja der sonst für die Kontaktaufnahme zum Stadtgericht zuständige Gassenmeister in der späteren Befragung vor Gericht eine der Denunziation gegenüber ablehnende Position einnahm bzw. über den Vorwurf, er bliebe untätig und nachsichtig gegenüber den Ketzereien Andreas Meisters, gleich mit belastet worden war. Die Diffamierung, vor allem aber die Kriminalisierung des neuen Nachbarn Andreas Meister als herausragender Erzketzer schrieb dem Beschuldigten eindeutig abstrakte negative und schuldhafte Persönlichkeitseigenschaften zu: 48 Als Erzketzer, Erzlügner und verteufelter Bösewicht erschien er geradezu als ein Mensch gewordener Teufel, der Nachbarschaft und Stadt, Glauben und Kirche bedrohte. 49 Das wurde auch ganz deutlich in der Sorge formuliert, „es mögte der liebe gott vmb eines solchen verteuffelten bösewichts willen eine gantze nachbarschafft 47 StAL, Richerstube, Strafakten Nr. 474, fol. 1. 48 Der Begriff der ‚Diffamierung‘ zielt auf „die negative Thematisierung abweichenden Verhaltens von im weitesten Sinne sozialen Normen […], mit Kriminalisierung [wird] die die negative Thematisierung abweichenden Verhaltens von rechtlichen Normen“ bezeichnet; Andreas Würgler, Diffamierung und Kriminalisierung von ‚Devianz‘ in frühneuzeitlichen Konflikten. Für einen Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 317-347, Zitat S. 320 (kursiv i.O.). Der Unterschied zwischen Diffamierung und Kriminalisierung wird deutlich, wenn man sich bspw. Reaktionen auf Lärm und Getöse während des Gottesdienstes im frühneuzeitlichen England vor Augen hält, welches abgestellt werden sollte und als papistisches Verhalten bezüglich liturgischer Praktiken zwar diffamiert aber eben nicht kriminalisiert wurde; hierzu Laura Feitzinger Brown: Brawling in the Church. Noise and the Rhetoric of Lay Behavior in Early Modern England, in: Sixteenth Century Journal 34, 4 (2003), S. 955-972. 49 Auch wenn - um nur ein Beispiel zu nennen, bereits Sebastian Franck gezeigt hatte, dass der Status von Ketzerei/ Häresie und Orthodoxie keineswegs so eindeutig war, wie es traditionale Lehren verkündeten, verliert erst seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert (zumindest im Protestantismus) der Häresiebegriff, der dogmatisch und moralisch verurteilte, an Boden, wird die Krise des Häresiebegriffs in der Neuzeit offenkundig. Vgl. hierzu Alfred Schindler: Häresie II (Kirchengeschichtlich), in: TRE 14, Sp. 318-341, hier v.a. Sp. 328-335; Wolfgang Huber, Häresie III (Systematisch-theologisch), in: TRE 14, Sp. 341-348, hier v.a. Sp. 342f. Zur Verwendung der Begriffe Ketzer und Häretiker in der Frühen Neuzeit siehe auch Titzmann: Religiöse Abweichung (wie Anm. 3), S. 17-19. <?page no="194"?> 195 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? straffen.“ 50 Die Denunziationsschrift belegte in dieser Form nicht nur die Normkonformität des Denunzianten und dessen Normkenntnisse, sondern suchte darüber hinaus Anschluss an handlungsleitende Maximen der Adressaten - keine Obrigkeit hätte den Vorwurf gottloser Ketzerei ungeprüft übergehen können. Mithin entrückten die Devianzstereotypen in ihrer Abstraktheit den Denunzierten der Sphäre der Nachbarschaft, was insofern bemerkenswert ist, weil es sonst in Nachbarschaftskonflikten nicht unüblich war, intime Kenntnisse von Person, Lebensumständen usw. gegen die Kontrahenten zu nutzen. 51 Von solch einem Wissen findet sich dagegen im Fall Meister keine Spur. Der Denunziant Fischer hatte darum gebeten, die Anzeige anonym zu behandeln, aus Furcht der denunzierte Essigkramer könnte den Nachbarn „einen rodten han vfss dach setzen“, 52 d.h. deren Häuser in Brand stecken. Damit spielte Fischer auf die 1640 noch sehr gegenwärtigen und realen Kriegsbedrohungen und Schicksale der Leipziger Vorstädte im Dreißigjährigen Krieg an, die aus strategischen Gründen mehrfach abgebrannt bzw. abgetragen worden waren. 53 Das galt für das Nauendörfchen in besonderem Maße, denn von den involvierten Personen waren auch die Häuser von Zacharias Fischer und Christoff Hauschild betroffen gewesen. Insofern erschien diese imaginierte Bedrohung des nachbarschaftlichen Friedens, einem Grundwert nachbarschaftlicher Beziehungen, durchaus als real. Allerdings wurde die Angelegenheit, anders als Fischer gehofft hatte, nicht anonym behandelt. Vielmehr nahm sich das Stadtgericht des Falls an und verhörte umgehend alle mit Namen genannten Beteiligten. Das der Fall vor Gericht landete, war wiederum von Fischer vermutlich intendiert gewesen, denn um eine Rüge durch den Superintendenten oder einen denkbaren zeitweiligen Ausschluss vom Abendmahl zu erwirken, waren die Vorwürfe viel zu erheblich. Das Insistieren Fischers im Verhör deutet auch darauf hin, dass ihm die Tragweite seiner Vorwürfe durchaus bewusst war. Diese gingen deutlich über eine Störung sakraler Räume hinaus, die Meister zwar nicht begangen hatte, zu deren disziplinarischer 50 StAL, Richterstube, Strafakten 474, fol. 1 v . Vergleichbares findet sich auch in anderen Fällen Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23), S. 92. 51 Inken Schmidt-Voges: Nachbarn im Haus. Grenzüberschreitungen und Friedewahrung in der ‚guten Nachbarschaft‘, in: Roll/ Pohle/ Myrczek: Grenzen und Grenzüberschreitungen (wie Anm. 14), S. 413-427, hier S. 423. Auf die Hellhörigkeit und daraus folgende geteilte Intimität nachbarschaftlicher Beziehungen deuten auch andere Fälle Leipziger Gotteslästerer hin, in denen Zeugen sehr genaue Angaben über blasphemische Reden machen konnten, die sie durch Wände hindurch präzise vernommen haben wollten; vgl. Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23), S. 93. 52 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 1 v (Punkt 9). 53 Die Leipziger Bürgerschaft war sich hierüber allerdings uneins. Die Bewohner der Vorstädte mitunter auch zum Abtragen bzw. zum Abriss von Gebäuden verpflichtet, um anrückenden Feinden taktische und strategische Angriffsmöglichkeiten zu nehmen. Zu den Diskussionen innerhalb der Bürgerschaft und zu gerichtlichen Nachforschungen wegen Brandstiftung nach dem Niederbrennen großer Teile der Vorstädte 1631 siehe Rüdiger: Kriminalität während des Dreißigjährigen Krieges (wie Anm. 21), S. 617. <?page no="195"?> 196 Alexander Kästner Ahndung der Superintendent für sich kirchenrechtlich aber noch befugt gewesen wäre. 54 Was wurde Andreas Meister vorgeworfen? Der Beschuldigte wusste es eigentlich zunächst selbst nicht so genau, als er im Februar 1640 zuerst vor den Superintendenten und später vor das Stadtgericht geladen wurde. Daher ging er zu einem Nachbarn, um diesen um Rat zu fragen. In diesem Fall handelte es sich um den Kramer Thomas Kallwitz, den Schwiegervater des Denunzianten Zacharias Fischer. Kallwitz gab später vor Gericht an, geantwortet zu haben, „vielleicht were es kundt worden, dz er [scil. Andreas Meister] auff die geistlichen also gescholten“. 55 Fischers Anzeige gliedert sich in zwölf Punkte, wobei der erste Punkt die Vorwürfe grundlegend zusammenfasste: Der beschuldigte Essigkramer hätte nicht nur bei den regelmäßigen Zusammenkünften der Nachbarn, sondern bei Gelegenheit auch gegenüber einigen einquartierten kurfürstlichen Reitern Gott und die Bibel gelästert und geschändet, sowie die Leipziger Geistlichkeit geschmäht. 56 Die Vorwürfe formulierte Fischer dergestalt, dass der Eindruck entstehen musste, Meister hätte nicht nur das Ministerium, sondern das „hiesige löbliche Consistorium ohne scheu gelestert“. 57 Das wäre ein direkter Angriff auf die vor Ort höchste Instanz der Landeskirche und damit auf den Landesherrn selbst gewesen. Allerdings konnte diese Aussage in den späteren Verhören nicht bestätigt werden. Umstritten blieb ebenfalls der Vorwurf, Meister hätte die Pfarrer als Schelme, also mindestens als unredliche und ehrlose wenn nicht gar unehrliche Menschen, bezeichnet. 58 Dieser Vorwurf führt erstens, wie noch zu zeigen ist, an einen möglichen Beginn der Auseinandersetzungen zurück und markiert zweitens den Teil der Vorwürfe, auf den sich das Stadtgericht nach und nach konzentrierte. Darüber hinaus soll Andreas Meister gegenüber verschiedenen Personen die Auferstehung der Toten geleugnet haben. Dabei hätte er auch behauptet und dies seit Monaten unablässig wiederholt, da wo das Vieh hinkomme, kämen auch die Menschen hin. Einer der Nachbarn sei nun hierüber ganz melancholisch geworden, wäre demzufolge latent suizidgefährdet. Wenngleich auch dies im späteren Verhör nicht bestätigt werden konnte, war der Hinweis doch ein kaum zu ignorierender Appell an die Obrigkeit einzugreifen, da der Essigkramer 54 Hierzu Beispiele in Benedict Carpzov: Jurisprudentia ecclesiastica seu consistoriali rerum et quaestionum […], Leipzig 1695 [zuerst 1649], Lib. III, Tit. IIX. 55 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 10 v . 56 Ebd., fol. 1 r . 57 Ebd., Nr. 474, fol. 1 v . 58 Zum Begriff siehe Art. Schelm, in: Jacob Grimm/ Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. (in 32 Teilbänden), Leipzig 1854-1960, Bd. 14, Sp. 2506-2511 [hier nach der Online Ausgabe: http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB/ ? lemma=schelm, zuletzt abgerufen am 22. November 2012]; Art. Schelm, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal=Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], 64 Bde. und 4 Supplementbände, Halle/ Leipzig 1732-1754 [hier nach der Online-Ausgabe der Bayrischen Staatsbibliothek München: http: / / www.zedler-lexikon.de/ , zuletzt abgerufen am 22. November 2012], Bd. 34, Sp. 1198. <?page no="196"?> 197 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? in dieser Darstellung mit seinen Umtrieben eine konkrete Gefahr für das Seelenheil Dritter darstellte und so unmittelbar die Heilsgemeinschaft gefährdete. Dazu passte dann auch ein letzter Vorwurf, wonach dieser „verteuffelt bösewicht“ die Realität der Hölle geleugnet und die Gültigkeit verschiedener Sittengebote negiert habe. Weder Totschlag noch Ehebruch, so soll Andreas Meister gesagt haben, seien wirklich Sünde: „Die obrigkeit straffe solches nur darumb, daß es nicht zu allgemein werde.“ 59 Hier wie auch im späteren Verhör diffamierte Zacharias Fischer Andreas Meister ganz im Rahmen zeitgenössischer Rollenmodelle für Abweichung in Glaubensfragen auch über den Vorwurf der Überschreitung bzw. Bestreitung von Sexualnormen. 60 Die Vorwürfe umfassten also mehrere Deliktbereiche. Sprachliche Markierungen wie Ketzer, Bösewicht, verteufelt oder lästerlich usw. wiesen durch ihre breite Semantik sinnfällig darauf hin, dass Meister ein ganz und gar gottloser Mensch sei, also ein Leben ohne oder gar gegen Gott bzw. gegen den christlichen Glauben führe. 61 Unterstrichen wurde dies, indem die bereits längere Dauer seiner Umtriebe betont wurde. Das andauernde Beharren auf lästerlichen Irrlehren galt gemeinhin als untrügliches Kennzeichen von Häresie/ Ketzerei. Klar war, dass lästerliche Reden, wie sie in der Denunziation angeprangert wurden, sowohl als Beleidigung Gottes, als auch - insofern sie tatsächlich als Ketzerei oder Häresie aufgefasst wurden - als Beleidigung der weltlichen Obrigkeit gelten konnten. 62 Die Vorwürfe gingen also über den enger gefassten Tatbestand blasphemischer Reden hinaus 63 und verwiesen gleichsam, ohne dass der Vorwurf explizit fiel, auf das Unruhe- und Aufruhrpotenzial, das von Meister ausging. 64 Vom Leipziger Stadtgericht wurde als ebenso gravierend eingeschätzt, dass Meister unzulässig wie unangemessen im Beisein Anderer die Bibel ausgelegt und die Geistlichkeit geschmäht haben soll. Schmähungen der Geistlichkeit, wie sie Andreas Meister vorgeworfen wurden, kamen durchaus häufiger vor - allein die Anwesenheit dieser exemten Gruppe in den Städten provozierte Konflikte. Die obrigkeitlichen Bemühungen um Diszi- 59 Beide Zitate StAL, Richterstube, Strafakten, Nr. 474, fol. 1 v . 60 Hierzu Titzmann: Religiöse Abweichung (wie Anm. 3), S. 25. 61 Schon das Etikett gotteslästerlich konnte sowohl ein Attribut kollektiver Verhaltensweisen als auch ein Hinweis auf ein ganzes Bündel negativer Eigenschaften sein; hierzu Francisca Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002, S. 183; Gerd Schwerhoff: Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.-17. Jahrhundert), in: Ius Commune 25 (1998), S. 39-120, hier S. 112. 62 Carpzov: Practica nova (wie Anm. 25), P. I, Qu. XLIV. n. 1. 63 Ebd., P. I, Qu. XLV, n. 26: „Blasphemia sit omne id, qvod in contumeliam creatoris profertur.“ Eine Übersicht über die Reichsgesetze sowie über die insbesondere in Kursachsen zur Geltung kommenden Normen finden sich ebd., P. I, Qu. XLV, insbesondere n. 5-10. Zu den Normen umfassend auch Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650, Konstanz 2005, S. 115-180. 64 Zur Verknüpfung von Blasphemie und Aufruhr siehe auch den Beitrag von Franziska Neumann in diesem Band. <?page no="197"?> 198 Alexander Kästner plinierung der Bevölkerung und Ausformung homogener Konfessionskulturen setzten zudem häufig bei der ‚Stabsdisziplinierung‘ der geistlichen Amtsträger an, wodurch die Spannungen zwischen Geistlichkeit und Laien verstärkt werden konnten - und dies, so ist anzunehmen, nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten. 65 Diese Spannungen drückten sich in scharfen Verbalattacken oder gar Scheltworten von der Kanzel aus, die aus Sicht der Betroffenen unberechtigt waren, ferner auch in Injurien von Seiten der Pfarrer. Aber auch Lästerungen gegen Pfarrer waren nicht selten und wurden mitunter sehr beiläufig geäußert. 66 1622 soll in Leipzig ein Mann im Streit mit seiner kranken Frau den Gemeindepfarrer als „teuffelsgespenst“ bezeichnet haben und den Gassenmeister angegangen sein, „welcher teuffel hatt dich den pfarhern heißen holen“. 67 V. Die Lebenswirklichkeit mit all ihren alltäglichen Sünden und Verstößen gegen Gottes Gesetz wurde in theologischen Traktaten, Bußpredigten und Policeyordnungen als Bedrohung der Ordnung wahrgenommen - ein Zusammenhang, der in den Sinnstiftungsversuchen schriftlicher Erinnerungen an den Dreißigjährigen Krieg wiederkehrte. 68 Zunächst individuell erscheinende Verstöße gegen und Abweichungen von geltenden Normen markierten dieser Wahrnehmung zufolge eine Gottesverlassenheit von Gemeinschaften, die den Zorn Gottes und dessen Strafen heraufbeschwörte. 69 Zeittypisch verflocht daher die Ordnungspolitik der Städte Sündenzucht und Strafjustiz eng miteinander. 70 Dies war in erster Linie 65 Dieses Argument mit Fokus auf die ländlichen Gebiete des ernestinischen Sachsen Susan C. Karant-Nunn: Neoclericalism and Anticlericalism in Saxony, 1555-1675, in: The Journal of Interdisciplinary History 24, 4 (1994), S. 615-637. Es mag darüber hinaus aber zutreffend sein, dass der Status der Pfarrer in den ländlichen Gemeinden noch einmal stärker von einer Außenseiterrolle geprägt war, die vor allem ökonomisch bedingt war. Hierzu mit weiterer Literatur Robert W. Scribner: Wie wird man Außenseiter? Ein- und Ausgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Norbert Fischer/ Marion Kobelt-Groch (Hg.): Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit: Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden/ New York 1997, S. 21-46, hier S. 33. 66 Zu Ersterem siehe die Beispiele und kirchenrechtlichen Regelungen in Carpzov: Jurisprudentia (wie Anm. 54), Lib. III Tit. IX. 67 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 334, fol. 2 r . 68 Vgl. dazu eindrücklich die Ausführungen von Regina Schulte: Das Unerhörte einordnen. Textgeschichte in Zeugnissen des Dreißigjährigen Krieges, in: dies.: Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod, Frankfurt a.M./ New York 1998, S. 59-93. 69 Hierzu und zur Forschung Sebastian Frenzel in diesem Band. 70 Zur Verknüpfung von Sünden- und Kriminalzucht Heinz Schilling: ‚Geschichte der Sünde‘ oder ‚Geschichte des Verbrechens‘ ? Überlegungen zur Gesellschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Kirchenzucht, in: Annali dell’Istituto Italo-Germanico da Trento 12 (1986), S. 169-192; Helga Schnabel-Schüle: Kirchenzucht als Verbrechensprävention, in: Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, S. 49-64. Vgl. überdies zu diesem Konnex anhand des Juristen Benedict Carpzov <?page no="198"?> 199 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? „in der Vorstellung [begründet], allein ein christliches Gemeinwesen mit hohen moralischen Ansprüchen könne den Strafen des Himmels entgehen oder wenigstens ihre Härte mildern.“ 71 Dieser Kerngedanke städtischer Ordnungspolitik fand in Leipzig zum Beispiel in vom Rat wiederkehrend angeordneten Bußpredigten Ausdruck, in denen ein direkter Zusammenhang zwischen den Sünden der Einwohner und der drohenden Kriegsgefahr - der Dreißigjährige Krieg galt gemeinhin als Strafgericht Gottes - hergestellt wurde. 72 Der gerechte Zorn Gottes über die Sünden der Menschen konnte einzelnen Gemeinwesen oder ganzen Landschaften in Form kollektiver Strafen vergelten, dass Obrigkeiten die Sünden Einzelner nicht hinreichend sanktionierten. Er spielte überdies in verschiedenen Policeygesetzen eine wichtige Rolle. In der 1634 erlassenen und 1640 erneuerten Kleiderordnung wurde jeweils in der Corroboratio ermahnt, sich nach der Ordnung zu richten, damit Gott „Landplagen vnd Straffen gnädiglich von vns abzuwenden desto mehr bewogen werde.“ 73 In der Pestordnung von 1637 erschien die Pest als logische Folge des sündhaften Lebens der Stadteinwohner. 74 Ähnlich argumentierte auch die kursächsische Eheordnung von 1624, die in ihrer Arenga/ Narratio sehr konkret auf die göttlichen Strafen der Sintflut und des Himmelsfeuers hinwies und die Gottgemäßheit irdischer Strafen für die Sünde des Ehebruchs und der „Laster der vnzüchtigen vnordentlichen vermischungen vnd verachtung des Heiligen Ehestandes, [die] nicht allein nicht abe [sic! ], sondern von Tage zu Tage zu vnd vberhand nahm“, herausstrich. 75 Schließlich findet sich der Verweis auf den drohenden Zorn Gottes auch und natürlich in den Policey- und Malefizregelungen zur Gotteslästerung, dem Leitdelikt frühneuzeitlicher Sünden- und Verbrechenskataloge, so bspw. in Karl Härter: Zum Verhältnis von Policey und Strafrecht bei Carpzov, in: Günter Jerouschek u.a. (Hg.): Benedict Carpzov. Neue Perspektiven zu einem umstrittenen sächsischen Juristen, Tübingen 2000, S. 181-225. 71 Bernd Roeck: Die Krise des späten 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihren kulturellen Auswirkungen und zu Formen ihrer Bewältigung, in: Heinz Schilling (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München 2007, S. 3-21, hier S. 12; vgl. auch Roeck: Ketzer (wie Anm. 5), S. 138-142. 72 Diese finden sich etwa abgedruckt in Heidenreich: Leipzigische Cronicke (wie Anm. 34), fol. Ffff r ; Tobias Heidenreich: Continuatio Der Leipzigischen Chronicke […], Leipzig 1637, fol. C r . 73 E. E. Raths der Stadt Leipzig Renovirtes Mandat, Wegen Der Kleider Ordnung […], Leipzig 1634 [VD17 3: 635362X], fol. Biv v ; E. E. Raths der Stadt Leipzig Nochmalige Nothwendige Erinnerung die Kleider-Ordnung betreffend, Leipzig 1640 [VD17 3: 635376K], S. 12. 74 Für Leipzig Vgl. StAL Ratsstube, Titelakten, LX, B, Nr. 12, fol. 258-265, hier fol. 259 r sowie die erneuerte Pestordnung von 1680 mit gleicher Rhetorik: Der Stadt Leipzig Verneuerte und verbesserte Pest-Ordnung […], s.l. 1680 [VD17 7: 703559P], fol. A r . Gleiches findet sich bereits in der Wittenberger Pestordnung von 1632: Wittenbergische Pest-Ordnung […], Wittenberg 1632 [VD17 3: 611701Y], fol. Aii r . 75 Deß Dürchlaüchtigsten Hochgebornen Fürsten und Herrn, Herrn Johann Georgen[…] Ehe- Ordnung […], Dreßden 1624 [VD17 3: 630214C], fol. Aii r . <?page no="199"?> 200 Alexander Kästner der erneuerten kursächsischen Policey- und Gerichtsordnung von 1555 oder den kursächsischen Konstitutionen von 1572. 76 Normansprüche und Projektionen eines gottgefälligen Lebens wurden aber nicht nur in Gesetzen, sondern auch in positiv formulierten Exempla vermittelt. Hinsichtlich ihrer Rezeption nah an der Lebenswelt der Einwohner Leipzigs waren ungedruckte und gedruckte Funeralreden bzw. Leichenpredigten. Diese entwarfen zum Zweck der Consolatio insbesondere in den Personalia meist vorbildliche Lebensläufe. Nicht nur in Funeralschriften auf Herrscherinnen und Herrscher wurden so Normen und Leitbegriffe vermittelt und verfestigt, sondern, wenn man so will, auch in Funeralschriften auf Untertanen - Leichenpredigten waren im 17. Jahrhundert zentrale Multiplikatoren christlicher Tugend- und Moralvorstellungen. 77 In der Leichenpredigt auf den Leipziger Händler Thomas Haistein aus dem Jahr 1640 lesen wir bspw.: „Er ist sonst ein auffrichtiger, ehrlicher, diensthafftiger Mann und männlichen beliebt gewesen. In seinem Christentthumb hat er sich eyferig erzeiget, die Predigten mit Fleiß besuchet, das H[eilige] Abendmahl zum öfftern 76 Codex Augusteus, oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […] ans Licht gegeben und in richtige Ordnung gebracht von Johann Christian Lünig, 3 Teile, Leipzig 1724, T. 1, Sp. 47 (erneuerte Policey- und Gerichtsordnung 1555), Sp. 117 (Konstitutionen 1572), Sp. 182 (Policeyordnung 1612). 77 Die Literatur über Leichenpredigten ist in den vergangenen Jahren massiv angewachsen; vgl. die Bibliographie zur Leichenpredigtenliteratur, die die Forschungsstelle für Personalschriften an der Universität Marburg (eine Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz) online (unter: http: / / www.personalschriften.de/ datenbanken/ bibliographie. html, zuletzt abgerufen am 22.11.2012) bereitstellt. Als Einstieg nach wie vor unverzichtbar Rudolf Lenz (Hg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 1, Köln/ Wien 1975; Bd. 2, Marburg 1979; Bd. 3, Marburg 1984; Bd. 4, Stuttgart 2004; ders.: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte, Marburg 1990. Jetzt umfassend Cornelia Niekus Moore: Patterned Lives. The Lutheran Funeral Biography in Early Modern Germany, Wiesbaden 2006. Zur Implementierung politischer Normen in Funeralschriften hat das DFG-Projekt „Herrschermemoria und politische Norm in der Frühen Neuzeit“ an der Philipps-Universität Marburg zentrale Beiträge geliefert; vgl. etwa Christoph Kampmann: Herrschermemoria und politische Norm. Geschichtliche Persönlichkeiten als Leitbilder vom Mittelalter bis zur Moderne, in: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 3-17, sowie die Beiträge in Christoph Kampmann/ Martin Papenheim (Hg.): Der Tod des Herrschers. Aspekte der zeremoniellen und literarischen Verarbeitung des Todes politischer Führungsfiguren, Marburg 2009, online unter: http: / / archiv.ub.uni-marburg.de/ es/ 2009/ 0009/ pdf/ kpht.pdf, zuletzt abgerufen am 10.11.2012. Am Beispiel Leipzigs knapp Manfred Unger: Zur stadtbürgerlichen Funktionselite um 1600 in ausgewählten Leipziger Personalschriften, in: Katrin Keller/ Gabriele Viertel/ Gerald Diesener (Hg.): Stadt, Handwerk, Armut. Eine kommentierte Quellensammlung zur Geschichte der Frühen Neuzeit, Helmut Bräuer zum 70. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2008, S. 643-653. Zur Darstellung positiver weiblicher Exempla in den weitaus weniger überlieferten englischen Leichenpredigten siehe Eric Josef Carlson: English Funeral Sermons as Sources. The Example of Female Piety in Pre-1640 Sermons, in: Albion: A Quarterly Journal Concerned with British Studies 32, 4 (2000), S. 567-597. <?page no="200"?> 201 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? gebrauchet, seinem Nechsten die Werke der Liebe gerne erwiesen, vnd dem lieben Armuth [sic! ] nach seinem Vermögen guthes gethan, auch die Schüler auff der Schulen zu Sanct Thomas speisen helffen.“ 78 Die für Haistein geschilderte Sterbeszene und ebenso einige der Epicedien künden sodann von der berechtigten Hoffnung auf Auferstehung dieses selig verstorbenen frommen Christen. Was sich hier nur indirekt andeutete, benannten andere Leichen- und insbesondere Bußpredigten umso eindringlicher: im Kontrast drohte gottlosen Sakramentsverächtern, notorischen Fluchern und anderen in Sünde Verstorbenen die ewige Verdammnis. VI. Die gerichtlichen Untersuchungen der mutmaßlichen ‚Ketzereien‘ des Essigkramers Andreas Meister beleuchteten alltägliche Dinge des Lebens, die an sich zunächst kaum bemerkenswerte Begebenheiten waren, wie bspw. Predigtbesuche und die üblicherweise verpflichtenden Quartalstreffen der Nachbarschaft. Die Verhörprotokolle geben so Einblicke in alltägliche Gesprächssituationen und halten Ereignisse fest, die dem gerichtlichen Untersuchungsverfahren vorgelagert und für das spätere Verhalten der ‚Zeugen‘ vor Gericht entscheidend waren. 79 Profane Anlässe zur Kommunikation boten Raum für mitunter missverständliche Äußerungen, die als injuriös bzw. deviant aufgefasst werden konnten und überhaupt erst im Kontext der Öffentlichkeit des gemeinsamen Gesprächs eine brisante Faktizität erlangten. Die derbe Wortwahl viriler Sprachgesten mag das Ihrige dazu beigetragen haben, wie unter anderem aus Forschungen zu blasphemischen Reden im Kontext geselligen Beisammenseins und zu Konflikten in Wirtshäusern bekannt ist. 80 Wiederholten sich Vorfälle ‚öffentlich‘ oder kamen 78 Johann Höpner: Leich-Predigt über das Trostsprüchlein Christi Joh. am 10. Cap. Meine Schaffe hören meine Stim[m]e […], [Leipzig] 1640 [VD17 VD17 7: 714246A], fol. Ciii v seq. 79 Dies ist ein Punkt, auf den neben anderen nachdrücklich Malcolm Gaskill hingewiesen hat: Reporting Murder. Fiction in the Archives in Early Modern England, in: Social History 23, 1 (1998), S. 1-30. 80 Schwerhoff: Zungen wie Schwerter (wie Anm. 63), S. 266-278; ders.: Starke Worte. Blasphemie als theatralische Inszenierung von Männlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 237-263. Zu Trunkenheit und Kartenspielen als Kontexten blasphemischer Reden auch Loetz: Mit Gott handeln (wie Anm. 61), S. 329-334. Zum Zusammenhang von Soziabilität und Entstehung von Hexereiverdächtigungen Gudrun Gersmann: Orte der Kommunikation, Orte der Auseinandersetzung. Konfliktursachen und Konfliktverläufe in der frühneuzeitlichen Dorfgesellschaft, in: Magnus Eriksson/ Barbara Krug-Richter (Hg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert), Köln 2003, S. 249-268. Zu Konflikten im Wirtshaus grundsätzlich und mit weiterer Literatur Susanne Rau: Public Order in Public Space. Tavern Conflict in Early Modern Lyon, in: Urban History 34, 1 (2007), S. 102-113. <?page no="201"?> 202 Alexander Kästner persönliche Animositäten hinzu, konnten Verdächtigungen bzw. nonkonforme Äußerungen in Glaubensfragen eine bedrohliche Eigendynamik entwickeln. Was im Leipziger Nauendörfchen am dritten Weihnachtsfeiertag 1639 wirklich geschah, ist in der Rückschau nicht endgültig zu entscheiden. Klar ist, dass an diesem Tag die Nachbarschaft zum Quartal zusammen gekommen war, um über die Verteilung der Kriegskontributionen und Einquartierungslasten zu beraten. Diese Quartalstreffen waren in mehrfacher Hinsicht Ereignisse, die Ordnung symbolisierten und herstellten. Ordnungsstörungen während dieser Treffen fielen daher umso mehr ins Gewicht. Ausweislich aller Zeugenaussagen im Fall Andreas Meister, steht fest, dass es während dieses Treffens zu einem Streit zwischen dem Essighändler auf der einen und dem Kramer Thomas Kallwitz und dessen Schwiegersohn Zacharias Fischer auf der anderen Seite gekommen war. Jener Zacharias Fischer sollte Andreas Meister dann ungefähr einen Monat später denunzieren. Auf einen persönlichen Konflikt ging Fischer aber gar nicht ein. Vielmehr soll einem zentralen Punkt der Denunziation zufolge Andreas Meister während des Quartalstreffens im Dezember 1639 alle Pfarrer als Schelme gescholten und gegen das Konsistorium gelästert haben. Darüber waren sich die verhörten Zeugen allerdings uneins; die gerichtlichen Verhöre zeichneten ein sehr widersprüchliches Bild. Drei von acht ‚Zeugen‘ konnten hierzu keine Angaben machen, weil sie nicht der organisierten Nachbarschaft angehörten und erst gar nicht zum Quartalstreff geladen gewesen waren. Thomas Kallwitz und Zacharias Fischer bestätigten - wenig verwunderlich - die Vorwürfe; ihre Aussagen geben jedoch zugleich Hinweise auf Sprechkontext und Anlass dieser Reden. Kallwitz sagte vor Gericht aus: „Ja, Andreas Meister hette zu ihm gesagt, ihr seyd ein vornehmer mann, ihr könnet die pfaffen wohl zu gaste haben, die pfaffen seind doch alle schelme, das hetten die andern so darbey geseßen alle angehört, alß Christoff Hauschilde, Hanß Bergkman, Hanß Nerling, v[nd] Zacharias Fischer“. 81 Die Aussagen Christoff Hauschilds und Hanß Nerlings, das wird gleich noch zu sehen sein, widersprachen dem in einem wichtigen Punkt und der noch vor Thomas Kallwitz verhörte Hanß Bergkmann gab schlicht an, er wäre zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Vorfalls schon gar nicht mehr zugegen gewesen, hätte davon also nichts mitbekommen. 82 Bergkmanns grundsätzliches Schweigen in dieser Frage und überhaupt zu allen Frageartikeln ist spannend, weil er von verschiedenen Personen als anwesender Zeuge benannt wurde. Bergkmann war 1636 vor Thomas Kallwitz Gassenmeister 83 gewesen und vermittelt durch sein Schweigen 81 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 10 r . 82 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 8 v . 83 StAL, Tit. (F) XXXIX, Nr. 58, fol. 7 r . <?page no="202"?> 203 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? deutlich den Eindruck, dass er entweder mit der Denunziation Fischers nichts zu tun haben wollte oder es aber missbilligte, dass die Vorfälle (was auch immer genau vorgefallen war) vor Gericht verhandelt wurden. 84 Der Denunziant Fischer hingegen, der ebenfalls vor Thomas Kallwitz verhört worden war, hatte geantwortet: „Ja, der Eßigman habe sich mit Thomas Kalwizen gezancket, dz derselbe den Spittelpfarr zu gast gehabt vndt gesagt, die Pfarrherren seind alle schelme“. 85 Der Anlass der Aussage war also eine verbale Auseinandersetzung zwischen Kallwitz und Meister gewesen, das gaben sowohl Kallwitz selbst als auch Fischer an. Kallwitz hatte wohl auch darauf angespielt, als er dem fragenden Andreas Meister vor dessen Vorladung entgegnet hatte, es wäre wohl bekannt geworden, dass er die Pfarrer gescholten habe. Der Gassenmeister Hauschild und Hanß Nerling bestätigten die Aussage und beleuchteten in ihren Aussagen auch den Hintergrund des Streits. Der vor allen Anderen verhörte Gassenmeister gab dabei an, der Zeuge Hanß Nerling könne alle seine Aussagen bestätigen. Und in der Tat stimmte nur Nerling vollständig mit den Aussagen des Gassenmeisters überein. Hierbei ist zu bedenken, dass er als Weißgerber dem Weißgerbermeister Hauschild zünftig verbunden war und sich am Tag des Verhörs zunächst als krank entschuldigt hatte, weshalb Absprachen nicht auszuschließen sind. Nerling bestätigte nicht lediglich die Aussagen des Gassenmeisters, Andreas Meister hätte eigentlich Jesuiten und Mönche gemeint und keinesfalls lutherische Pfarrer. Es ist notwendig, das Protokoll von Nerlings Aussage an dieser Stelle ausführlich zu zitieren: „Nein also hette er nicht gesagt von den hiesigen pfarrherren, sondern Andreas Meister hette der catholischen pfaffen erwehnet, wie ihn dieselben hetten verführen wollen, vndt darzu gesagt, die pfaffen sein wohl schelme, vndt das were aus dieser gelegenheit geschehen, dz Zacharias Fischer erstlich kommen zur nachbarschafft vndt gesagt, was macht ihr, habt ihr keine kartte[n] zu kurdzweile. Ich bin bey meinen stieffvater gewesen, der hett den pfaffen zu gaste, die zeit ist mir recht lang worden. Vndt hernach were Thomas Kalwiz auch kommen, vndt gesagt, in hab ich doch des pfaffen nicht wieder loß werden können“. 86 Die zwei alteingesessenen Nachbarn Thomas Kallwitz und Zacharias Fischer waren demnach zu spät zum Treff der Nachbarschaft gekommen, weil der Spitalpfarrer zu Gast gewesen war. Auch hätten sie selbst die verbale Auseinandersetzung mit ungebührlichen Reden eröffnet, 87 denn weder sollte der Quartalstreff ein Ort 84 Zu möglichen Bedeutungen von Schweigen vor Gericht siehe Katharina Simon-Muscheid: Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozeßverlauf, in: Häberlein: Devianz (wie Anm. 48), S. 35-52. 85 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 9 r . 86 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 13 r seq. 87 So auch Andreas Meister während der gerichtlichen Konfrontation mit Zacharias Fischer; StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 14 v . <?page no="203"?> 204 Alexander Kästner des Kartenspiels noch tendenziell abfälliger Äußerungen über ‚Pfaffen‘ sein. Der ‚neue‘ Nachbar Andreas Meister hätte sogleich Fischers und Kallwitz‘ Bemerkungen aufgegriffen und insbesondere Kallwitz als ‚vornehmen Herrn‘ aufgezogen. Wie die Aussagen aller Beteiligten nahelegen, fühlte sich Kallwitz durch diese Häme in seiner Ehre angegriffen. Nach übereinstimmenden Aussagen des Gassenmeisters, Hanß Nerlings und Andreas Meisters kam der Spruch, alle Pfaffen seien Schelme nun aber daher, dass im Gespräch zuvor, Meister von einer Episode aus seinem früheren Leben berichtet haben soll. Er hätte sich in seiner Jugend in Prag verdingt und wäre dort von Jesuiten oder Mönchen zur Konversion aufgefordert worden. Nicht nur, aber besonders während des Dreißigjährigen Krieges war es, die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung einmal dahingestellt, eine durchaus nachvollziehbare Strategie, sich dadurch zu entlasten, dass man ja eigentlich den konfessionellen Gegner geschmäht hatte. Aussagen standen also gegen Aussagen. In ihren Umrissen deutlich bildete die Frontlinie der Auseinandersetzung zwischen alteingesessenen und neuen Nachbarn eine der Bruchlinien im Hintergrund ab. Fischer zufolge soll Andreas Meister schon seit Pfingsten 1639, als Hauschild zum Gassenmeister gewählt worden war, 88 die Nachbarn mit losem Gerede verunsichert haben, wonach der Ehebruch keine Sünde wäre und die Obrigkeit den Ehebruch ohnehin nicht strafen würde, weil er Sünde oder Vergehen sei, sondern damit er nicht überhandnehme. Vom Ehestand sei nichts zu halten, weil ohnehin nur Laster und Schande dabei getrieben würden. Daher wolle er die Ehe auch brechen, so oft er Gelegenheit dazu habe. Das konnte in der Summe allerdings nur Zacharias Fischer bestätigen, Thomas Kallwitz hingegen keine einzige dieser Aussagen. Die Aussagen der Zeugen Michael Paußner und Michael Fuchß fußten auf Hörensagen von Zacharias Fischer. Andreas Meister bezeichnete Paußner später in der gerichtlichen Konfrontation als seinen „feinde, hette sich offter mit ihme gezanckt“. 89 Und möglicherweise stimmte der Schneider Fuchß hier in den Kanon der Ankläger ein, weil er bei Michael Paußner zur Untermiete wohnte. Am Tag des eigentlichen Verhörs konnte er zumindest wegen kalten Wetters und Gebrechlichkeit nicht im Gericht erscheinen und wurde nach den anderen Zeugen zu einem späteren Zeitpunkt verhört. Der unmittelbare Anlass zur Denunziation war jedoch nicht der Vorfall während des Quartalstreffs am 27. Dezember 1639 gewesen, sondern angebliche ‚Ketzereien‘ Meisters im Beisein einiger einquartierter Reiter am 26. Januar 1640. Interessant ist, dass Fischer - obwohl ihm Meisters gottlose Reden angeblich seit Monaten bekannt waren 90 - angab, er wäre im Hause Meisters zugegen gewesen, 88 Es bleibt zwar Spekulation, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Fischer Hoffnung auf dieses Amt gemacht haben mag, nachdem er zuvor Beisitzer gewesen war. 89 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 16 r . 90 Die Vorwürfe, die sich auf zurückliegende Ereignisse beziehen, datieren auf Pfingsten 1639 sowie, und dies nur sehr allgemein gehalten, auf Andreas Meisters vorgebliche Ketzereien, die zwei Jahre zurückliegen würden, als Meister noch in der Grimmaischen Vorstadt gewohnt <?page no="204"?> 205 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? als dieser mit den Soldaten gesellig zu Tische gesessen habe. Bei diesem Anlass soll der Essighändler wiederholt die Existenz von Himmel und Hölle geleugnet haben. Gegenüber den Reitern „vndt in beysein seiner Zacharias Fischer hette Andreas Meister sich verlauten laßen, es seye keine aufferstehung der todten zu hoffen, sondern wo die kühe hinfahren da fahren wir auch hin, es were auch keine helle, dorauff der eine reüter geantwortet, wo denn der reich mann hinkommen sey, wann keine helle were, hette Meister drauff gesagt, dieß were nur ein gleichnüß, es were keine warhafftige geschichte, er wolte es alles aus der biebel beweisen.“ 91 Vor Gericht gab Fischer an, dass er dann auch am nächsten Tag im Hause des Essigkramers zugegen gewesen war, als Meister seiner Ankündigung Taten folgen ließ, „darzu auch der Gaßenmeister Christoff der Weißgerber kommen, hette der Eßigman die biebell auff den tisch gelegt, vnd gesagt, do habt ihr den spruch“. 92 Zwei gewichtige Zeugen widersprachen nun aber Zacharias Fischers Vorwürfen, indem sie ergänzten, dass Andreas Meister den Spruch zwar vorgelesen, aber eben auch hinzugefügt hätte: „er aber blicke in seinen herzen darbey vndt glaubete, dz gewiß eine aufferstehung were“. 93 Diese Relativierung des Vorwurfs durch den Gassenmeister ist indes ebenso wie der Vorwurf selbst zumindest skeptisch zu beurteilen, denn Hauschilds Reputation und policeyliche Zuverlässigkeit standen beim Verhör mit infrage, weil ihn die Denunziation Fischers als untätig im Angesicht offenkundiger gottloser Reden eines Nachbarn belastet hatte. 94 Ähnlich wie der Gassenmeister Hauschild äußerte sich Hanß Nerling. Es lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären, wer die angegebene Bibelstelle eigentlich vorgelesen hatte, einige Zeugen benannten Andreas Meister, andere den Gassenmeister. Hanß Nerling sagte dagegen aus, alle Anwesenden hätten den Spruch selbst gelesen, während wiederum Andere gar nichts davon wussten; weitere Beteiligte sagten aus, einige der als Zeugen befragten Personen wären dabei gewesen, wohingegen einige der so Involvierten glatt das Gegenteil behaupteten. Dieses Gewirr unterschiedlichster Aussagen vermochte auch der Schöffenstuhl nicht zu entwirren. hätte. Hier ist die Zeitangabe Fischers aber nicht wörtlich zu nehmen, sondern bezieht sich wohl allgemein auf das Jahr 1638, in dem Meister am 26. Juli das Bürgerrecht erworben hatte. 91 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 3 r . 92 Ebd., fol. 9 v . 93 Ebd., fol. 8 r (Christoff Hauschild). Vgl. zu den Aussagen der übrigen Zeugen ebd. fol. 8 v (Hanß Bergkmann), 9 v (Zacharias Fischer), 10 r (Thomas Kallwitz), 11 r (Michael Paußner), 11 v (Walter Ritter), 12 v (Michel Fuchß), 13 v (Hanß Nerling). 94 Die Denunziation Fischers endete mit den Worten: „Wie denn auch gestriges Mittwochens [gemeint ist vermutlich der 8. Februar 1640] zu abend die nachbarn sich mit dem Gaßen Meister gezankt haben, daß er des ketzers gotteslesterung dem löbl[ichen] Ministerio nicht anzeiget“ - wovon aber wiederum kein anderer Zeuge etwas wusste; ebd., fol. 1 v (Punkt 12). <?page no="205"?> 206 Alexander Kästner Damit lässt sich eigentlich nur festhalten, dass Andreas Meister nach seiner Lektüre der angegebenen Stelle im Prediger Salomo (3.18-22) 95 irritiert gewesen war, sich Fragen gestellt und nach Antworten gesucht haben mag. Im Übrigen bezweifelten auch andernorts lesende Menschen aufgrund dieser Passage im Alten Testament, die für Christen schwer nachvollziehbar, 96 aber vielleicht gerade deswegen so häufig als Referenzrahmen diente, christliche Heilstatsachen. Mitunter regte dieser Text zu polemischem Spott und ‚virtuosen blasphemischen Höchstleistungen’ an. 97 Die Zeugenaussagen im Fall Meister legen nahe, dass man den Beschuldigten im Beisein der einquartierten Reiter dazu aufgefordert hatte, seine ‚Behauptungen’ - Meister selbst spricht indes stets nur von Fragen - 98 mithilfe der Bibel zu belegen. Überdies waren Zacharias Fischer sowie der Gassenmeister Hauschild eigens dazu in Meisters Haus gekommen. Das ist insofern von Belang, als der Gassenmeister ordnungswahrende Funktionen innerhalb der Nachbarschaft ausübte. Das legt nahe, dass man darum bemüht war, den Konflikt im Rahmen nachbarschaftlicher Sozialkontrolle grundsätzlich selbst zu regeln und nicht eskalieren zu lassen. Denkbar ist allerdings auch, dass Zacharias Fischer auf diese Weise versucht haben könnte, dem Gassenmeister die Umtriebe Meisters vor Augen zu führen und diesen zu einer gerichtlichen Anzeige zu bewegen. Der zweite Teil der Szenerie in Andreas Meisters Haus betrifft die Frage, wie die Reiter und Zacharias Fischer auf Meisters Aussagen reagierten. Wie oben zitiert, hatten die beiden Soldaten geantwortet, wo dann aber der reiche Mann hingekommen wäre, wenn es keine Hölle gäbe. Wie ist diese Anspielung auf die Geschichte des Lukasevangeliums (Luk. 16.19-23) 99 vom reichen Mann, 95 Der Prediger Salomo 3.18-22: „Jch sprach in meinem hertzen von dem wesen der Menschen / darin Gott an zeigt / vnd lessts ansehen als weren sie vnter sie selbs wie das Vihe. [19] Denn es gehet dem Menschen wie dem Vihe / Wie dis stirbt / so stirbt das auch / vnd haben all einerley odem / vnd der Mensch hat nichts mehr denn das Vihe / Denn es ist alles eitel. [20] Es feret alles an einen ort / Es ist alles von staub gemacht / vnd wird wider zu staub. [21] Wer weis / ob der odem der Menschen auffwerts fare / vnd der odem des Vihes vnterwerts vnter die Erden fare? [22] Darumb sage ich / das nichts bessers ist / Denn das ein Mensch frölich sey in seiner erbeit / Denn das ist sein Teil. Denn wer wil jn da hin bringen / das er sehe / was nach jm geschehen wird.“ Randglosse: „Das ist / Sorge nicht fur morgen / Denn du weissest nicht was werden wird. Las dir benügen heute / Morgen kompt auch tag vnd rat.“ Das Alte und das Neue Testament werden hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke (Hg.): Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, (Textredaktion Friedrich Kur), 2 Bde., Königswinter 2008. 96 Christoph Markschies: Der Tod im Jenseits. Wie bereiten uns Religion und Theologie auf den Tod vor, in: Cornelia Klinger (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien/ Berlin 2009, S. 233-240, hier S. 234-236. 97 Hierzu Hinweise bei Gerd Schwerhoff: Die alltägliche Auferstehung des Fleisches. Religiöser Spott und radikaler Unglaube um 1500, in: HA 12, 3 (2004), S. 309-337. Zusammenfassend auch Schwerhoff: Zungen wie Schwerter (wie Anm. 63), S. 297-299. 98 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 14 v : „es were nur fragens weise vorbracht worden“ 99 Luk. 16.19-26: „Es war aber ein reicher Man / der kleidet sich mit Purpur vnd köstlichem Linwand / vnd lebet alle tage herrlich vnd in freuden. [20] Es war aber ein Armer / mit namen <?page no="206"?> 207 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? der in die Hölle kam, und vom armen Lazarus, der von Engeln in Abrahams Schoß getragen wurde, zu interpretieren? Man könnte versucht sein, hierin eine spöttische Replik im Kontext geselligen Beisammenseins unter Männern zu sehen, ein im biblischen Referenzrahmen verhaftetes, gewitztes Sprachspiel. Aus Sicht des einzigen weiteren und für das Gericht auch einzig greifbaren Zeugen dieses Abends stellte sich die Situation jedoch anders dar: Zacharias Fischer, der von sich übrigens in keiner Form berichtete, jemals gegen Meisters angebliche Lästerungen aufbegehrt und explizit widersprochen zu haben, erzählte vor dem Stadtgericht, die einquartierten Reiter wären gottesfürchtige Soldaten und erschrocken über den Essigkramer gewesen. In einem späteren Verhör weiß Fischer dann noch zu berichten - und diese Drohung passte eigentlich schon eher zu den zeitgenössischen Vorstellungen einer gewalttätigen Soldateska -, dass einer der beiden Reiter damit gedroht hätte, Meister an den Schwanz seines Pferdes zu binden und übers Feld zu schleifen, wenn er nicht an die Auferstehung glaube. 100 Fischer berichtet zwar von einer heftigen Auseinandersetzung. Jedoch spricht die gemeinsame Lektüre und Laien-Exegese der infrage stehenden Bibelstelle am darauffolgenden Tag dagegen, zumal keiner der Beteiligten tatsächliche Übergriffe seitens der Soldaten benennt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die gegen Andreas Meister erhobenen Vorwürfe gemäß Fischers Denunziation eine längere Vorgeschichte hatten. Der Essigkramer bestritt an sich auch nicht, dass er über den Prediger Salomo und die Frage, ob es nun eine Auferstehung der Toten gebe oder nicht, bereits öfter laut nachgedacht hätte. Bis auf Hanß Bergkman, der als Einziger von nichts gewusst haben wollte, bestätigten alle verhörten Zeugen, dass Meister über diese Stelle gegrübelt hatte. Sie unterschieden sich allerdings in ihren Interpretationen des Geschehens. Interessant ist die Aussage des Fischerknechts Walter Ritter, von dem der Denunziant Fischer behauptet hatte, er wäre darüber ganz melancholisch geworden. Ritter antwortete nämlich auf die Frage, ob Meister habe verlauten lassen, es gäbe keine Auferstehung: Lazarus / der lag fur seiner Thür voller Schweren / [21] vnd begeret sich zu settigen von den Brosamen / die von des Reichen tische fielen. Doch kamen die Hunde / vnd lecketen jm seine Schweren. [22] Es begab sich aber / das der Arme starb / vnd ward getragen von den Engeln in Abrahams schos. Der Reiche aber starb auch / vnd ward begraben. [23] ALs[sic! ] er nu in der Helle vnd in der qual war / hub er seine Augen auff / vnd sahe Abraham von fernen / vnd Lazarum in seinem Schos / [24] rieff vnd sprach / Vater Abraham / Erbarme dich mein / vnd sende Lazarum / das er das eusserste seines Fingers ins wasser tauche / vnd kühle meine zungen / Denn ich leide pein in dieser flammen. [25] Abraham aber sprach / Gedencke Son / das du dein gutes ampfangen hast in deinem Leben / vnd Lazarus da gegen hat böses empfangen. / Nu aber wird er getröstet / Vnd du wirst gepeiniget. [26] Vnd vber das alles / ist zwischen vns vnd euch eine grosse Klufft befestiget / das die da wollten von hinnenhin ab faren zu euch / könden nicht / vnd auch nicht von dannen zu vns herüber faren.“ 100 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 10 r . Zu den durchaus ambivalenten zeitgenössischen Außensichten auf Söldner ausführlich Jan Willem Huntebrinker: ‚Fromme Knechte‘ und ‚Garteteufel‘. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert, Konstanz 2010, S. 55-99 (positive Außensichten), S. 100-172 (negative Außensichten). <?page no="207"?> 208 Alexander Kästner „Er [scil. Ritter] habe es zwar nicht so von dem Eßigmanne gehört, alß wann er es vor gewiß nur geben dz keine aufferstehung sein solte“. Und auf die Frage, ob Meister aus dem Prediger Salomo vorgelesen habe, gab Ritter an: „Ja der Eßigman habe zeugen einen spruch gewiesen, vndt gesagt er [scil. Meister] wüste nicht wie derselbe spruch zu verstehen were, wenn der mensch solte fahren wie dz viehe, er könte es in seinem kopfe nicht ausgründen“. 101 Anstelle von Behauptungen hatte der Beschuldigte den Fischerknecht demzufolge mit Grübeleien und Fragen konfrontiert und zumindest von sich aus konnte der Fischerknecht auch nicht bestätigen, darüber melancholisch geworden zu sein. Die angeblich längere Vorgeschichte von Andreas Meisters Reden ist bedeutsam, weil sie darauf hinweist, dass man entgegen der eindeutigen und unmittelbaren Denunziations- und Interventionspflicht für Nachbarn und Gassenmeister in Fällen grober Lästereien 102 den Essigkramer zunächst in Ruhe gelassen hatte. Klar ist auch, dass man ihn wegen seiner Reden weder gerügt noch finanziell belangt noch - und das gilt gerade auch für Zacharias Fischer - überhaupt gemieden hatte. Ganz im Gegenteil erscheint Andreas Meister bis zum Schluss, indirekt selbst in der Denunziationsschrift, als ein integriertes Mitglied der Nachbarschaft. Erst die rückblickenden Aussagen einiger Zeugen vor Gericht fügten ein halbfertiges Puzzle einer ‚Ketzerbiografie’ zusammen. Es ist daher nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass Meisters Fragen über einen längeren Zeitraum hinweg auch tatsächlich entweder als Fragen oder lediglich als seltsame aber nicht bedrohliche Äußerungen und schon gar nicht als Infragestellung zentraler Glaubenssätze aufgefasst worden waren. Dem entspricht auch, dass die Leipziger Schöffen urteilten, „daß er in seinen reden eben weit gangen, vnbesonnen vnnd leichtfertige wortt vom ministerio vnnd den articuln des glaubens außgegoßen“ 103 - mit der Feststellung der Unbesonnenheit 104 aber war der Vorwurf vorsätzlicher und hartnäckiger Ketzerei ausgeräumt und damit auch die Zuschreibungen Zacharias Fischers. VII. Andreas Meister nutzte im Verhör, in der Konfrontation mit den Belastungszeugen und in einer eigenhändig verfassten Verteidigungsschrift die Möglichkeit, 101 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 11 v . 102 StAL, Tit. (F) XXXIX, Nr. 1, fol. 3r (Art. 10); Czok: Nachbarschaftsartikel (wie Anm. 16), S. 138f. 103 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 22 r . 104 Schon im Spätmittelalter erschien nicht jede Äußerung von Glaubenszweifeln als strafwürdig, war zwar Sünde aber eben nicht unmittelbar auch zugleich Verbrechen. Der boshafte Vorsatz, Glaubensnormen öffentlich in Zweifel zu ziehen, war zentrales Kriterium für die (kirchen-) rechtliche Beurteilung entsprechender Aussagen; Weltecke: Atheismus (wie Anm. 1), S. 323-330. <?page no="208"?> 209 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? seinen Standpunkt darzulegen. Insbesondere während der Konfrontationen mit Zacharias Fischer und Michael Paußner versuchte er herauszustellen, dass diese ihm persönliche Feinde wären und die Vorwürfe einzig dazu dienten, ihn fälschlich zu diffamieren und loszuwerden. Das Verhältnis zu Thomas Kallwitz erscheint dagegen in einem etwas anderen Licht. Natürlich widersprach Meister auch dessen Vorwurf, er hätte alle Pfarrer als Schelme bezeichnet. Darüber hinaus konnte Kallwitz aber schon in seinem eigenen Verhör keinen der weiteren von seinem Schwiegersohn Fischer formulierten Vorwürfe bezeugen. Nachvollziehbar ist daher, dass Kallwitz dann in der Konfrontation auch ganz explizit keine treibende Kraft hinter der Denunziation gewesen sein wollte; vielmehr, so sagte er entgegen Hauschilds Angaben aus, sei „der Gaßenmeister […] zu ihme kommen, vndt gesagt wie machen wirs mit dem Eßigman.“ 105 In der gerichtlichen Konfrontation mit Zacharias Fischer ergänzte Andreas Meister noch einen weiteren Teil des Gesprächs mit den Soldaten in seinem Hause, der weiteres Licht auf sein Verhältnis zu Kallwitz wirft: „Die historia von dem reichen manne were eine parabell, die der herr Christus seinen jüngern vorgeschwatzt. Er vor seine person glaube, dz der herr Christus nieder gefahren zu der hellen, auch habe er den soldaten gesagt, von den büchern die die helle heiß genug beschrieben, welche er Thomas Kalbizen geliehen[! ], gestehet also nicht, dz er geleugnet, das eine helle were, es würde ihm alles aus neid nachgesagt.“ 106 Anders als zu den Belastungszeugen Fischer und Paußner hatte Meister also, zumindest bis zur Auseinandersetzung auf dem Quartalstreff, ein offenkundig gutes Verhältnis zu Thomas Kallwitz gepflegt. Er hatte ihm sogar einige Bücher geliehen - wir erinnern uns: Es war auch Kallwitz gewesen, zu dem Meister nach der Vorladung vor den Superintendenten im Vertrauen gegangen war, um ihn zu fragen, was wohl der Grund hierfür sein könnte. Meisters Apologie 107 ist nun noch kurz zusammenzufassen, um abschließend ein Fazit aus diesem Fall zu ziehen. Andreas Meister machte in seinem am 14. Februar 1640 offenkundig in der Haft selbst verfassten Verteidigungsschreiben deutlich, dass er in keiner Weise an den Grundlagen des christlichen Glaubens zweifelte und ebenso wenig Ehestand und Geistlichkeit geschmäht habe. Ohne hier die Details referieren zu müssen, ist sein Verteidigungsschreiben das genaue Gegenstück zur Denunziation Zacharias Fischers. Dessen Devianzstereotypen hielt Meister ein durch und durch positives Selbstbildnis entgegen. Die Vorwürfe waren Meister durch Verhör und Konfrontation bekannt, er nahm sie auf und entkräftete sie systematisch. Er stellte sehr deutlich heraus, dass er ein gottesfürchtiger und frommer Mann sei, der die christlichen Glaubensartikel kannte 105 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 15 v . 106 Ebd., fol. 15 r . 107 Ebd., fol. 17 r -20 r . <?page no="209"?> 210 Alexander Kästner und auch tatsächlich diese sowie die Regeln eines christlichen Lebens befolgte. Als er einmal über die Passagen im Prediger Salomo, nach denen der Mensch dahinfahre wie das Vieh, gegrübelt und Nachbarn um Rat gefragt habe, hätte er sich sogleich mit deren Aussage zufrieden gegeben, „diese sachen weren vor vns schlechte leut zu hoch“. 108 Unabhängig davon, dass er an anderer Stelle betonte, dass die Vorwürfe gegen ihn aus Neid und Missgunst erhoben worden waren, wird hier deutlich, dass er keine weiteren Nachbarn belasten wollte. Abschließend bot Meister an, sein Verhältnis zur Pfarrerschaft öffentlich zu klären und Abbitte leisten zu wollen - er wiederholte auch noch einmal, dass er lediglich jene katholischen Priester als Schelme tituliert habe, die ihn in seiner Jugend, als er in Prag gearbeitet hätte, zur Konversion hatten überreden wollen. Das Urteil des Leipziger Schöffenstuhls, dem die hier referierten Dokumente zur Einschätzung vorlagen, folgte im Wesentlichen Meisters Vorschlag, selbstverständlich ohne das so zu formulieren. Die meisten Vorwürfe konnten auf der Grundlage der Zeugenverhöre nicht bestätigt werden bzw. es blieben erhebliche Zweifel an deren Richtigkeit. Nach Aktenlage konnte lediglich der Verdacht nicht ganz ausgeräumt werden, Meister hätte vielleicht doch die lutherischen Pfarrer gemeint, als er Pfarrer als Schelme bezeichnet hatte. Klar bestätigt werden konnte der Verdacht jedoch auch nicht, so dass der Schöffenstuhl in seinem Urteil darauf abhob, dass Meister in seinen Reden über die Gebühr weit gegangen sei und unbesonnen geredet hatte. 109 Die mutmaßliche Schmähung der Geistlichkeit blieb, nachdem die anderen Vorwürfe in der gerichtlichen Untersuchung entkräftet worden waren, als offene Frage übrig. Die bislang ausgestandene Haft wurde um acht weitere Tage verlängert. Dies zeigt, dass der Schöffenstuhl den Entschuldigungen Meisters und Hauschilds wohl nicht wirklich glaubte, aber ebenso wenig die Vorwürfe belegt fand. Überdies, so die Schöffen, sollte Meister seine schriftliche Erklärung mündlich und öffentlich vor dem Ministerium wiederholen. Dann könnte er nach gewöhnlicher Urfehde entlassen werden. VIII. Eine knappe Notiz in der Untersuchungsakte vermerkte, dass Andreas Meister, nachdem er die eben beschriebenen Auflagen erfüllt hatte, tatsächlich am 29. Februar 1640 „wieder auff freyhen fueß gelaßen word[en]“. 110 Danach verliert sich seine Spur. Die Schossbücher verzeichnen keinerlei Abgaben von ihm. Wir wissen nicht, ob er bald darauf verstarb (er soll der Denunziation zufolge bereits ‚sehr alt‘ gewesen sein), oder wieder fortzog. Spätestens die erneute Zerstörung und Abtragung der Vorstädte 1642/ 4 aber hätte Meisters Lebensgrundlage ohne- 108 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 19 v . 109 Ebd., fol. 22 r . 110 Ebd., fol. 22 v . <?page no="210"?> 211 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? hin vernichtet, so wie diese eine erneute Katastrophe und Zäsur für die gesamte Nachbarschaft darstellten. Festzuhalten bleibt, dass es lediglich diese kurze Erholungsphase zwischen den wiederholten Zerstörungen der Vorstädte 1631-1642/ 4 gewesen war, die die soziale und zwischenmenschliche Konstellation des Falls überhaupt ermöglicht hatte. Neubürger konnten sich ansiedeln, das Nauendörfchen wurde zum Teil wieder aufgebaut. Ausweislich der hier zugrundegelegten Akten, findet sich von allen Beteiligten nach dem Krieg lediglich noch Christoff Hauschild als Weißgerbermeister und Hausbesitzer im Nauendörfchen wieder. 111 Warum Andreas Meister ursprünglich nach Leipzig gekommen war, beantworten die Quellen nicht. Sie verdeutlichen aber, dass er ein integriertes Mitglied der Nachbarschaft im Nauendörfchen gewesen war. Nicht nur traf man sich in geselliger Runde bei ihm zu Hause, Meister war auch als Verleiher von Schriften über die Hölle gefragt. Allerdings wird auch deutlich, dass zumindest zwischen ihm auf der einen Seite und Zacharias Fischer sowie Michal Paußner auf der anderen Seite über einen längeren Zeitraum hinweg und vermutlich bereits seit seinem Zuzug ins Nauendörfchen Konflikte schwelten. Warum Zacharias Fischer aber ausgerechnet im Februar 1640 zur Tat schritt und Andreas Meister in umfassender schriftlicher Form als ‚Erzketzer‘ denunzierte, diffamierte und kriminalisierte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es ist aber immerhin plausibel anzunehmen, dass der Vorwurf religiöser Abweichung genutzt wurde, um den vor sich hin brodelnden Streit auf einer offiziellen Ebene ‚zu bewältigen‘. Damit ist noch einmal angesprochen, worin die Anziehungskraft dieses ‚außergewöhnlichen Normalfalls‘ besteht: Erstens in den Bezügen zum Alltag und zweitens in der Pragmatik des Gerichtsverfahrens, weil beide Aspekte den Fall gewissermaßen ‚erden‘ und ihn seiner religiösen Vereindeutigung entkleiden. Drittens in dem Umstand, dass der als ‚Erzketzer‘ (Dis-)Qualifizierte kein bekannter Gelehrter war, der systematische Äußerungen über seinen Glauben hinterlassen hätte. Viertens ist der besondere Reiz in den gegen den Essighändler erhobenen Vorwürfen begründet, die für sich genommen vor allem das Ausmaß vorstellbarer(! ), alltäglicher religiöser Devianz in Leipzig im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts umreißen. Die ‚Geschichte‘ der Anzeige musste so erzählt werden, dass sie sowohl für den Superintendenten als auch für das Gericht nachvollziehbar und überzeugend sein konnte. Das Denunziationsschreiben offenbart somit die Möglichkeiten eines einfachen Denunzianten, Häresie/ Ketzerei nicht nur zu denken, sondern auch zu beschreiben und in eine chronologisch und biografisch ausgerichtete Geschichte einzubetten. 112 Weniger wird hier die Geschichte einer ‚realen‘ Ketzerei erzählt. Und dennoch ist festzuhalten, dass das angebliche Leugnen der Wirklichkeit von 111 StAL, Tit. (F) XXXIX, Nr. 58, fol. 59 v -60 r . 112 Nichts anderes meint im Übrigen die ‚fiktionale Qualität‘ kriminalitätshistorischer Quellen, die seit Natalie Zemon Davis‘ ‚Fiction in the Archives‘ kanonisch betont wird. Hier nach der deutschen Übersetzung: Natalie Zemon Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988 (engl. zuerst 1987), v.a. S. 15-18. <?page no="211"?> 212 Alexander Kästner Hölle und Auferstehung, das vermeintliche Bestreiten der christlich-theologischen Fundierung der Sexualmoral und die behauptete Schmähung der lutherischen Geistlichkeit für alle Beteiligten eine überaus vorstellbare ‚Wirklichkeit‘ religiöser Devianz waren, die sich in der Qualifizierung ‚Erzketzer‘ verdichteten und verstärkten. Unter den Vorwürfen rüttelte insbesondere das vorgebliche Leugnen von Hölle und Auferstehung an den Grundfesten des christlichen Glaubens. Diese Anschuldigung verweist auf eine in Europa lange Zeit nur hin und wieder spürbare, 113 sonst aber weitgehend unter der Oberfläche textlicher Zeugnisse brodelnde Entwicklung, die dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts virulent wurde und die traditionelle Zorn-Gottes-Rhetorik der Sünden- und Kriminalzucht infrage stellte: das Bestreiten der Hölle als Instanz und Ort ewiger Strafe und die Infragestellung des Bildes von einem „ambivalente[n] Gott des Zornes und der Gnade“. 114 Noch aber galt die Doktrin ewiger Höllenqualen nahezu unumschränkt und Andreas Meister wusste anscheinend, auf welche Glaubensnorm er in seiner Apologie zu rekurrieren hatte - die Confessio Augustana lehrte in Artikel 17, dass nach der Wiederkunft Christi zum Gericht die Gläubigen und Auserwählten ewiges Leben und ewige Freude bekämen, die Gottlosen und die Teufel hingegen zur ewigen Strafe und Verdammnis in die Hölle verworfen würden; Andreas Meister bekannte: „Ferner das eine helle vnd auch ein ewiges leben sey, vnd daß eine aufferstehung der toden gewißlichen erfolgen werde, nach welcher die frommen ins ewige leben hingegen die gottloßen in die helle versetzet werden: gleube vnd bekenne ich von gantzen hertzen, hab auch bißhero anders nit gegen andern leuten geredet, wil es auch hinfüro nit thun, vnd gewißlichen die aufferstehung der toden vnd das ewige leben ist mein höchster trost bey dieser schweren vnd betrübten zeitt.“ 115 Damit war die normative „Dialektik von Höllenangst und Trostgewißheit“ 116 in der Selbstdarstellung Andreas Meisters bestätigt. Er beschrieb alles in allem den positiven Charakter eines frommen Christen - gleichsam das eindeutige wie ideale Normalitätsstereotyp gegenüber der teuflischen Fratze des Devianzstereotyps eines ‚Erzketzers‘. Sowohl Denunziation als auch Apologie sind damit - gerade weil sie jeweils von Fischer und Meister selbst verfasst wurden - auch Ausdruck kreativen Anverwandelns geltender Normen. Zugleich verdeutlichen sie die Grenzsituation der Debatten über religiöse Abweichung, in der doxastische 113 Vgl. auch das Beispiel des Agostino Boazio im Beitrag von Eric Piltz. 114 Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M./ Leipzig 1991, S. 141. Vgl. grundsätzlich ebd., S. 101-156 sowie ders.: Die Stabilisierungsmoderne. Erster Halbband: Deutschland und Europa 1618-1715, München 2010, S. 221- 278. 115 StAL, Richterstube, Strafakten Nr. 474, fol. 19 r . 116 Kittsteiner: Entstehung (wie Anm. 114), S. 122. <?page no="212"?> 213 Welcher Pfaffe ist ein Schelm? Zweifel rasch verketzert und als Häresie/ Ketzerei interpretiert werden konnten. Dabei musste und muss aber weder für die Zeitgenossen (d.h. hier vor allem das Gericht) noch in der historischen Retrospektive unzweideutig sichtbar werden, ob diese Häresie/ Ketzerei überhaupt eigensinnig vertreten wurde. Abschließend ist noch einmal kurz auf das Gerichtsverfahren und auf die Ereignisse vor der Denunziation zurückzublenden, die aus den Verhörprotokollen schemenhaft sichtbar werden. Das Verfahren selbst war die an sich gewöhnliche Reaktion auf eine durch das Denunziationsschreiben hergestellte Öffentlichkeit mutmaßlicher Ketzereien sowie auf die Öffentlichkeit des nachbarschaftlichen Gesprächs, auf die wiederum die Denunziation rekurrierte. Es ist deutlich geworden, dass die eine oder andere Aussage Meisters im Hinblick auf Glaubensfragen mehreren Nachbarn durchaus länger bekannt gewesen, aber anscheinend nicht als ernsthaftes Problem wahrgenommen worden war. Aus dieser Faktizität von Aussagen, die in veränderten Situationen neu interpretiert und bewertet werden konnten, speiste sich zugleich das Vermögen, religiöse Abweichung zur Denunziation zu nutzen, denn fortgesetzte, freimütige Äußerungen in Glaubensfragen konnten zumindest im Prinzip jederzeit auch als Häresie/ Ketzerei, zumindest aber als Gottlosigkeit qualifiziert werden. In anderen Verhandlungen mutmaßlicher Gotteslästerei vor dem Leipziger Stadtgericht zeigt sich ein ähnliches Muster: Retrospektiv konnten Personen als durch und durch gottlose Menschen beschrieben werden, die angeblich über einen längeren Zeitraum und zum Teil öffentlich gotteslästerliche Reden geführt hatten, ohne dass dies zu einer Anzeige geführt hätte. 117 Das Gerichtsverfahren selbst verdeutlicht die Grenzen der Überzeugungskraft einer Denunziation, welche ihre Wucht wie im vorliegenden Fall in erster Linie aus dramatisierenden Devianzstereotypen zog, insofern diese wiederum mutmaßliche Verstöße gegen Normen und Moral christlichen Glaubens wie auch eine Gefährdung der Gemeinschaft der Nachbarschaft betonten. Die Argumente von Zacharias Fischer überzeugten aus Sicht des Schöffenstuhls gegenüber den im Verhör geäußerten Variationen und Alternativen - Konkurrenzerzählungen die ihrerseits auf das unübersichtliche Gefüge unterschiedlicher Konfliktlinien zurückverwiesen - jedoch nicht. Die Diffamierungen wurden zumindest infrage gestellt, weil andere Zeugen geradezu beiläufig schilderten, wie Andreas Meister religiösen und sozialen Verhaltensanforderungen (Kirchgang, Quartalstreff und Verpflichtungen der Nachbarschaft) nachgekommen war. Die Kriminalisierung scheiterte nach meinem Dafürhalten trotz der arbiträren Haftverlängerung unter anderem daran, dass sich die Mitglieder der Nachbarschaft in der Bewertung der Äußerungen Andreas Meisters uneins waren, auch wenn wir nicht wissen, wie sich das Verfahren auf die Stellung Meisters in der Nachbarschaft ausgewirkt hat. 117 Hierzu kam es erst nach besonders heftigen Ausbrüchen oder aufgrund von veränderten Sprechkontexten; Kästner/ Scherer: Wahrnehmung und Deutung (wie Anm. 23), S. 89- 99. <?page no="213"?> 214 Alexander Kästner Zudem stand mit dem Gassenmeister der für das Gericht wohl entscheidende und mit Autorität versehene Akteur auf Meisters Seite. Vor diesem Hintergrund erscheint das abschließende Urteil des Schöffenstuhls als geradezu nüchternes Eingeständnis, dass die von Zacharias Fischer imaginierte moralische Panik in der Nachbarschaft wohl weniger auf ein reales Problem der Gefährdung der sozialen Ordnung durch einen ‚verteufelten Bösewicht‘ hindeutete, als vielmehr auf eine gleichwohl nicht zu tolerierende Unbesonnenheit in Fragen des Glaubens. <?page no="214"?> 215 Personenregister A Ackermann, Wolfgang (Prediger, Schneeberg): 98, 107, 113 Albery, Claude (Prof. d. Philosophie, Lausanne): 167 Amandus, Georg (Prediger, Schneeberg): 93-122 Amerbach, Bonifacius (Stadtkonsulent, Basel): 159, 180 B Becker, Howard S.: 28f., 34 Behringer, Wolfgang: 185 Blickle, Peter: 13f., 16, 48f., 105, 153 Boazio, Agostino (Genueser Kaufmann, Antwerpen): 125, 128, 130, 133-139, 151, 212 Bodenstein, Andreas, genannt Karlstadt (Theologe): 93, 104-106, 108, 122 Boockmann, Hartmut: 73f. Brakensiek, Stefan: 12 Bräuer, Helmut: 187f., 200 Bräuer, Siegfried: 93, 96, 98-100, 104-106, 108 Burkardt, Albrecht: 130, 173 C Burkhard, Georg Adelbrecht (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Busereuth, Johann (Ratskonsulent, Nürnberg): 78, 86 Calvin, Jean (Theologe): 41, 149, 158 Camerarius, Philipp (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Carpzov, Benedict (Jurist): 21, 84, 189f., 196, 197-199 Castellio, Sebastian (Humanist, Philosoph): 41, 158 Celtis, Konrad (Humanist, Dichter): 37 Clarus, Julius (Jurist): 82 Constant, Leonard (Vorsteher d. frz. Gemeinde in Basel): 161, 164, 166, 169 Couet, Jacques (du Vivier (Couët/ Covet), hugenottischer Pastor, Basel): 164, 166, 169, 171-174, 179 Czok, Karl: 184, 187, 188, 208 D Damhouder, Joost de (Jurist): 82 Dellwing, Michael: 27, 29, 124 Diefenbacher, Michael: 38, 74, 76 Dinges, Martin: 28, 80, 201 Dirlmeier, Ulf: 10 Drentz, Hans (Nürnberg): 86, 88f. Duke, Alastair C.: 125-128, 130, 138, 145f. E Ellinger, Wolfgang: 73, 75-78 Endtner, Jobst Friedrich (Nürnberg): 85 Erasmus von Rotterdam (Humanist, Theologe): 157, 159f. F Fabritius, Christoffel (Karmeliter, Prädikant, Antwerpen: 31, 125, 130f., 138-152 Fetzer, Hieronymus (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Fleischmann, Peter: 38, 75, 77 Alle Angaben des Registers beziehen sich sowohl auf den Text als auch auf den Anmerkungsapperat. <?page no="215"?> 216 Personenregister Friedrich, (d. Weise) Kurfürst von Sachsen: 94, 97, 101-103, 112- 115, 117 G Gast, Johannes (Diakon, Basel): 158f. Georg, (d. Bärtige) Herzog von Sachsen: 94f., 97-99, 101-103, 111- 118, 120f. Georgssohn, David, s. Joris, David Goertz, Hans-Jürgen: 121f., 198 Grendi, Edoardo: 35f. Griffiths, Paul: 28 Grynaeus, Johann Jakob (Theologe, Antistes am Basler Münster): 156, 164-177 Gugel, Christoph Andreas (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Guggisberg, Hans R.: 41, 155, 157- 160, 165 Gülchen, Nikolaus von (Ratskonsulent, Nürnberg): 38, 78 Gülich, Michael (Nürnberg): 85 H Haemstede, Adrian van (Theologe): 123, 142, 144-147, 150 Hagendorn, Johann (Diakon, Nürnberg): 74, 88, 92 Hamm, Berndt: 110, 153 Härter, Karl: 10f., 19, 45f., 51, 53, 55f., 59, 61, 84, 151, 199 Hausmann, Nikolaus (Prediger in Schneeberg, Reformator in Anhalt- Dessau): 98 Heher, Georg (Ratskonsulent, Nürnberg): 78, 86 Held, Christoph (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Herr, Adam (Bürgermeister, Leipzig): 191 Hoffman, Albrecht (Nürnberg): 85 Hoffmann, Barbara: 191 Hoffmann-Rehnitz (ehemals Hoffmann), Philip: 12, 69 Hübner, Matthias (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 I Isaiasz, Vera: 12, 15-17 Isenmann, Eberhard: 10, 13, 15, 74, 151, 153 J Jakubowski-Tiessen, Manfred: 64, 67, 185 Jendorff, Alexander: 94-96, 110f., 113 Johann d.Ä., Herzog von Sachsen: 94, 97, 101-104, 113, 116-118 Joris, David (Täufer, Brügge/ Basel): 29f., 158f., 179f., 181 K Karant-Nunn, Susan: 93, 104-108, 198 Karl V., Kaiser des Heil. Röm. Reichs dt. Nation: 51, 112f., 126, 128 Karlstadt, s. Bodenstein, Andreas Kaufmann, Thomas: 15, 22, 64, 94, 104, 121, 185f. Kittsteiner, Heinz Dieter: 22f., 25, 212 Körmerin, Anna (Nürnberg): 85 Kornmair, Michel (Nürnberg): 87 Krauß, Wolfgang (Stadtpfarrer, Schneeberg): 98, 100, 102 Krell, Nicolaus (kursächsischer Kanzler): 184 Krüger, Kersten: 10 L Landwehr, Achim: 11, 54f., 61f. Lau, Franz: 98, 107 Lehmann, Hartmut: 67, 185 Lengenfeld, Jörg (Nürnberg): 85f. Leppin, Volker: 63f., 68, 149 <?page no="216"?> 217 Personenregister Loetz, Francisca: 26, 197, 201 Löw, Martina: 35 Lüder, Wolfgang (Nürnberg): 88 Ludwig, Ulrike (Dresden): 54, 189- 191 Ludwig, Ulrike (Leipzig): 17 Luther, Martin (Augustinermönch, Reformator): 14, 19, 24, 98, 103- 107, 112-14, 118, 121f., 173, 206 M Margarete von Parma, Regentin: 135, 137, 18f., 150, 152. Marnef, Guido: 126, 128f. Mayer, Johann Friedrich (Theologe, Wittenberg/ Hamburg/ Stettin): 183 Mecheln, Peter von (Basel): 41, 158 Meier, Ulrich: 12 Meister, Andreas (Essighändler, Leipzig): 183-214 Meltzer, Christian (Pfarrer, Chronist, Schneeberg/ Buchholz): 93, 105f. Miggelbrink, Ralf: 16 Minois, George: 22 Moeller, Bernd: 15, 104, 107 Muffel, Nikolaus (erster Losunger/ Bürgermeister, Nürnberg): 38 Müller, Johann Joachim (Jurist, Hamburg): 183 Müller, Jürgen: 25 Müntzer, Thomas (Theologe): 93, 99, 104f., 107, 114f., 122 Myconius, Oswald (Reformator, Antistes am Basler Münster): 157, 160 Mykonius, Friedrich (Theologe, Reformator, Gotha): 107 O Oekolampad, Johannes (Humanist, Theologe, Reformator von Basel): 155, 159, 163, 165 Oelhafen, Johann Christoph (Ratskonsulent, Nürnberg): 78, 86f. Oestreich, Gerhard: 10 Ozment, Steven E.: 15 P Pfeiffer, Gerhard: 75 Philipp II., König v. Spanien: 132f., 136, 139 Po-Chia Hsia, Ronnie: 24 Pohlig, Matthias: 12, 15-17, 64, 144, 184 Puff, Helmut: 18f., 42 R Ram, Joachim Gerhard (Student, Glückstadt/ Wittenberg): 31, 183 Raybeck, Douglas: 28, 30, 32 Reck, Michel (Nürnberg): 89 Rem, Georg (Ratskonsulent, Nürnberg): 78, 86 Roeck, Bernd: 11, 21, 185f., 199 Rublack, Hans-Christoph: 13, 15, 111, 153, 165 Rublack, Ulinka: 18, 127 Rüdiger, Bernd: 188, 190-193, 195 S Sack, Fritz: 28 Schechner, Jörg (Nürnberg): 39 Scheurl, Jacob (Ratskonsulent, Nürnberg): 78 Schilling, Heinz: 11, 13, 47, 145, 151, 198 Schimmer, Georg (Pastor, Wittenberg): 183 Schmidt, Franz (Scharfrichter, Nürnberg): 76, 88-90 Schmidt, Heinrich R.: 16, 47-50, 112 Schmidt-Voges, Inken: 195 Schnabel-Schüle, Helga: 47-49, 61f., 71, 198 <?page no="217"?> 218 Personenregister Schreiner, Klaus: 12, 53 Schrencker, Hans (Nürnberg): 88f. Schröder, Winfried: 183 Schulze, Winfried: 10, 14 Schweinsbein, Caspar (Nürnberg): 88 Schwerhoff, Gerd: 9, 11, 13, 15, 16, 18-21, 24-28, 35, 37f., 40-42, 46, 52f., 58, 60-63, 80, 95, 116, 120, 124, 130, 132, 143, 147f., 156, 173, 181, 185, 190, 197, 201, 206 Scribner, Robert W.: 20, 22, 25, 105- 107, 128, 198 Segall, Josef: 61 Servet, Michael (Miguel Serveto y Reves, Humanist, Arzt, antitrinitar. Theologe): 41, 158, 160 Stokes, Laura: 37, 42f. Strasburger, Abel (Ratskonsulent, Nürnberg): 78, Sulzer, Simon (Theologe, Antistes am Basler Münster): 157, 165 T Thiessen, Hillard von: 16, 30, 154 Titzmann, Michael: 19, 135, 184f., 194, 197 Troeltsch, Ernst: 22 Trotha, Trutz von: 29 U Ubaldis, Baldus de (Jurist): 190 Ulbricht, Otto: 18, 36 V Viterbo, Jacob von (Theologe, Erzbischof von Neapel): 9 Vogel, Wolfgang (Pfarrer in Eltersdorf, Nürnberg): 39 Volkmar, Christoph: 94, 98, 111, 114, 118 Vovelle, Michelle: 36 W Wagnerin, Barbara (Nürnberg): 87 Waite, Gary K.: 30, 43 Wallmann, Johannes: 185 Weber, Max: 22 Wesenbeke, Jakob van (Ratspensionär, Antwerpen): 123, 144 Will, Georg Andreas (Philosoph, Historiker, Altdorf ): 78 Willoweit, Dietmar: 18 Wolgast, Eike: 50, 104, 115 Würgler, Andreas: 26, 124, 154, 194 Z Zainerin, Barbara (Nürnberg): 85, 89-92, 192 Zwickelsberger, Conrad (Nürnberg): 87