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Kriminalitätsgeschichte

Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne

0501
2000
978-3-8649-6366-7
978-3-8966-9934-3
UVK Verlag 
Andreas Blauert
Gerd Schwerhoff

Die Forschung in den Archiven der Justiz hat unser Wissen über den Zusammenhang von Herrschaft, Gesellschaft und Kultur im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit stark erweitert. Gerichtsakten dienen als Ausgangspunkt, um das breite Spektrum abweichenden Verhaltens oder die verschiedenen Formen sozialer Kontrolle und strafrechtlicher Sanktionen zu beleuchten. Der Band enthält zum einen Berichte zum Stand der internationalen historisch-kriminologischen Forschung. Zum anderen dokumentiert er Ansätze und Ergebnisse der deutschsprachigen Kriminalitätsforschung und bietet methodische und theoretische Beiträge zur Weiterentwicklung des Wissenschaftsfeldes, z.B. durch die konsequente Einbeziehung der geschlechterhistorischen Perspektive, oder indem der engere Bereich der Kriminalitätsforschung verlassen wurde, um der vormodernen Erinnerungskultur nachzuspüren.

<?page no="1"?> Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Andreas Blauert, Martin Dinges, Mark Häberlein, Doris Kaufmann, Ulinka Rublack, Gerd Schwerhoff Band 1 <?page no="2"?> Andreas Blauert Gerd Schwerhoff (Hg.) Kriminalitätsgeschichte Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH <?page no="3"?> Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kriminalitätsgeschichte : Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne / Hrsg.: Andreas Blauert; Gerd Schwerhoff - Konstanz : UVK, Univ.-Verl. Konstanz, 2000 (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven ; 1) ISBN 3-87940-688-X ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86496-366- © UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH, Konstanz 2000 Einbandentwurf: Riester & Sieber, Konstanz UVK Universitätsverlag Konstanz Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531- 9053- 98 www.uvk.de 7 <?page no="4"?> Dank Allen an der Entstehung des vorliegenden Bandes Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Zunächst Dieter Bauer von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der es ermöglicht hat, daß der Arbeitskreis »Historische Kriminalitätsforschung« seit zehn Jahren in Stuttgart-Hohenheim zusammenkommen kann. Dann den ebenso engagierten wie geduldigen Autorinnen und Autoren, von denen die meisten den Arbeitskreis über lange Jahre mitgetragen haben. Schließlich dem Verlag, namentlich Patricia Knoop und Britta Carlsson für ihre umfassende Betreuungs- und Lektoratsarbeit sowie vor allem Artur Göser als verantwortlichem Lektor, ohne dessen Hartnäckigkeit der Band niemals zustande gekommen wäre. Jena und Bielefeld, im Herbst 1999 Andreas Blauert Gerd Schwerhoff <?page no="6"?> 7 Inhalt Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Historische Kriminalitätsforschung in Europa Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines »verspäteten« Forschungszweiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Peter Wettmann-Jungblut Von Robin Hood zu Jack the Ripper. Kriminalität und Strafrecht in England vom 14. bis 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 69 Henrik Halbleib Kriminalitätsgeschichte in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Xavier Rousseaux Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg (14. bis 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Peter Blastenbrei Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 1500 - 1800: Tendenzen und Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jens Chr. V. Johansen Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern. . . . . . . . . . . . 175 Christoph Schmidt Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz (16. bis 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Theoretische Perspektiven Andrea Griesebner, Monika Mommertz Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte . . . . . . . 205 Michael Maset Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 <?page no="7"?> Inhalt 8 III. Kriminalquellen - Sprache und Wissen Klaus Graf Das leckt die Kuh nicht ab. »Zufällige Gedanken« zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Gabriela Signori Ein »ungleiches Paar«: Reflexionen zu den schwankhaften Zügen der spätmittelalterlichen »Gerichtsrealität«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Ralf-Peter Fuchs Gott läßt sich nicht verspotten. Zeugen im Parteienkampf vor frühneuzeitlichen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Heike Talkenberger Bürger oder Außenseiter? Normerfüllung und Normverletzung in der Autobiographie des Luer Meyer (1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 IV. Funktionsweisen der Justiz: Dorf, Stadt und frühmoderner Staat Peter Schuster Richter ihrer selbst? Delinquenz gesellschaftlicher Oberschichten in der spätmittelalterlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Steffen Wernicke Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit. Die Regensburger Urfehdebriefe im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Erika Münster-Schröer »Grave gegen Düren«. Zaubereianklage und Schöffenurteil, Feme und Reichskammergericht im frühen 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Gudrun Gersmann Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster. Kriminalgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen adeliger und landesherrlicher Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Jens Chr. V. Johansen Das nahe Gericht. Über Kriminalität und das Rechtsbewußtsein dänischer Bauern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Karl Härter Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 <?page no="8"?> Inhalt 9 Gerhard Sälter Polizeiliche Sanktion und Disziplinierung. Die Praxis der Inhaftierung durch die Polizei in Paris am Beispiel des Zaubereidelikts (1697-1715) . . . . . . . . . . 481 V. Formen der Aneignung und Umgehung von Justiz Martin Dinges Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Francisca Loetz L’infrajudiciaire. Facetten und Bedeutung eines Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Carl A. Hoffmann Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten als vertikale und horizontale soziale Kontrolle im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 VI. Geistliches Gericht und Kirchenzucht Heinrich Richard Schmidt Elsli Tragdenknaben. Niklaus Manuels Ansicht des geistlichen Gerichts . . . . . . . . . 583 Frank Konersmann Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im 16. und 17. Jahrhundert . 603 Harriet Rudolph Kirchenzucht im geistlichen Territorium. Das Fürstbistum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zu seiner Auflösung (1648 - 1802) . . . . . . . . . . . . . . . 627 VII. Delinquenz und Geschlecht Katharina Simon-Muscheid Täter, Opfer und Komplizinnen - geschlechtsspezifische Strategien und Loyalitäten im Basler Mortthandel von 1502. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Joachim Eibach Böse Weiber und grobe Kerle. Delinquenz, Geschlecht und soziokulturelle Räume in der frühneuzeitlichen Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Sylvie Steinberg Wenn das Romanhafte die Wahrscheinlichkeit verbürgt: Frauen in Männerkleidern vor der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 689 <?page no="9"?> Inhalt 10 VIII. »Social Crimes« - Imagination und Realität Winfried Freitag Das Netzwerk der Wilderei. Wildbretschützen, ihre Helfer und Abnehmer in den Landgerichten um München im späten 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Eva Wiebel Die ›Schleiferbärbel‹ und die ›Schwarze Lis‹. Leben und Lebensbeschreibungen zweier berüchtigter Gaunerinnen des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Otto Ulbricht Rätselhafte Komplexität: Jugendliche Brandstifterinnen und Brandstifter in Schleswig-Holstein ca. 1790 - 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Andreas Blauert Zwischen literarischer Imagination und historiographischer Konkretion. Abenteurer und Piraten auf Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . 831 Zusammenfassungen / Summaries / Résumés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 <?page no="10"?> 11 Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff Einleitung Im Juli 1991 trafen sich in Stuttgart-Hohenheim erstmals rund fünfundzwanzig Frauen und Männer, um über ›Historische Kriminalitätsforschung‹ zu diskutieren. Aus der Perspektive der etablierten Geschichtsforschung konnte das Treffen selbst, wie ein Teilnehmer bemerkte, wenn nicht als »kriminell«, dann doch zumindet als »abweichend« erscheinen: Handele es sich im Fall der Kriminalität doch um ein exotisches und bisher kaum eigenständiges Thema historischer Forschung. Offen sei nur, mit welcher kriminologischen Theorie die Zusammenkunft am besten analysiert werden könne. Naheliegend sei eine Adaption der Subkulturtheorie, die in den Vereinigten Staaten maßgeblich von Soziologen entwickelt wurde, die jugendliche Straßenbanden erforschten. Sie gingen davon aus, daß Subkulturen von gemeinsamen Normen und Werten zusammengehalten werden, die von denen der etablierten Gesellschaft abweichen. Die Mitglieder einer Subkultur verhalten sich also durchaus normkonform, wenn auch nicht konform mit den Werten der offiziellen Kultur. Eine andere Möglichkeit der Interpretation böte der Etikettierungsansatz (labeling-approach), der die Definition abweichenden Verhaltens durch die Instanzen sozialer Kontrolle herauskehrt; als deviant erscheinen demzufolge nur diejenigen Verhaltensweisen, die von der Umwelt dazu erklärt werden. In dieser Perspektive würde der »abweichende« Charakter der Kriminalitätsforschung allerdings auch klar als deutsche Eigenheit erkennbar; allein im deutschsprachigen Raum erscheine diese Forschungsrichtung noch exotisch und fremdartig; in Frankreich, in England und Amerika ebenso wie in Skandinavien oder den Benelux-Staaten sei sie schon längst in den anerkannten Fächerkanon aufgenommen. Von daher sei leicht zu prognostizieren, daß es mit der Devianz der Kriminalitätsforschung bald vorbei sein würde. Die ebenso kokette wie selbstironische Prognose, so läßt sich aus der Rückschau am Ende des Jahrzehnts konstatieren, hat sich weitgehend erfüllt. Eine Flut von Aufsätzen und Forschungsberichten und eine ganze Reihe von Monographien (vorwiegend Dissertationen und Habilitationen) zeugen ebenso wie die weitere Geschichte des Stuttgarter Arbeitskreises davon, daß die Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum zu den produktivsten Forschungsfeldern der neunziger Jahre gezählt werden darf. Der Arbeitskreis ›Historische Kriminalitätsforschung in der Vormoderne‹ trifft sich seit 1991 regelmäßig einmal im Jahr und erfreut sich weiterhin eines wachsenden Zuspruchs; der Kreis der Interessierten umfasst inzwischen weit über einhundert vorwiegend jüngere Wissenschaftler(innen). Aus der Rückschau läßt sich deutlich erkennen, warum ausgerechnet am Beginn der 90er Jahre ein wachsendes Bedürfnis nach Diskussionen und Austausch auf dem Feld der Kriminalitätsgeschichte bestand. Schaut man sich die Teilnehmer des »Gründungs«-Workshops an, so hatte fast die Hälfte von ihnen zuvor auf dem Gebiet der Hexenforschung gewirkt und zum Teil umfangreiche Arbeiten vorgelegt. Sönke Lorenz und Dieter Bauer hatten 1985 den ›Arbeitskreis für interdisziplinäre Hexenforschung‹ (AKIH) aus der Taufe gehoben, dessen Jahrestreffen seitdem unter der Ägide der Ka- <?page no="11"?> Einleitung 12 tholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Hohenheim stattfinden . 1 Der AKIH stellte denn auch eine Art Vorbild für den kriminalitätsgeschichtlichen Arbeitskreis dar, der ebenfalls bei der Akademie Gastrecht genießt. Die Verbindungen zwischen Hexenforschung und Kriminalitätsgeschichte in Deutschland sind jedoch nicht nur formal-organisatorischer Natur. Eine Besonderheit der neueren Hexenforschung gegenüber ihren traditionelleren Vorläufern war, daß sie anstelle der gelehrten Traktatliteratur die jeweilige Prozeßüberlieferung zu ihrer Quellengrundlage machte. Entgegen dem Verdikt von Joseph Hansen, der 1900 von der »schaurigen Einförmigkeit« der Hexenprozesse gesprochen hatte, entdeckte eine jüngere Historikergeneration im Spiegel der Gerichtsakten eine erstaunliche Vielfalt von historischen Phänomenen. Auf der Grundlage dieser Akten entstanden regionale Fallstudien, die unser Bild vom Hexenwesen und der Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit revolutioniert haben. 2 Es lag daher nur nahe, die Erfahrungen, die mit diesem speziellen Delikt gesammelt wurden, auf das gesamte Feld der Kriminalität zu übertragen. Auch hier waren ja bisher die Quellen der ›Justizpraxis‹ zugunsten der Rechtsnormen vernachlässigt worden. Neben den Hexenforscher(innen) hatten sich aber auch zeitgleich die Vertreter(innen) anderer Forschungsrichtungen - etwa der Kirchenzucht, der Volkskunde und der Rechtsgeschichte - für die Gerichtsakten zu interessieren begonnen. Im Juni 1991 lagen bereits die ersten Arbeiten von »Gründungsmitgliedern« gedruckt 3 oder als Manuskript 4 vor; andere hatten bereits Vorstudien zu größeren Projekten publiziert. 5 Die Zeit war erkennbar reif für eine Vernetzung. So einigte die »Faszination Kriminalquelle« alle am Forschungsfeld Interessierten - und eint sie bis heute, wie eine gleichnamige Sektion auf der letzten Tagung des Arbeitskreises im Mai 1999 beweist. Dennoch kann nur sehr bedingt von Kriminalhistorikern als einer einheitlichen »Subkultur« mit gemeinsamen Werten und Interessen gesprochen werden. Wie verschieden die Themen und Schwerpunksetzungen sind, erweist nicht zuletzt der Blick auf die bisherigen Arbeitskreistreffen. 6 Neben Studien, die sich mit bestimmten Delikten wie Raubkriminalität, Wilderei, Gewalt, Mord, Blasphemie etc. beschäftigen, existieren solche, die Justiz und Kriminalität in einer bestimmten 1 Vgl. »Hexenforschung«. Eine Einführung zur Reihe, in: Sönke Lorenz/ Dieter R. Bauer (Hg.): Das Ende der Hexenverfolgung, Stuttgart 1995, IX-XVI. 2 Andreas Blauert: Die Epoche der europäischen Hexenverfolgungen, in: Gisela Wilbertz u.a. (Hg.): Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, 27 - 43; Eva Labouvie: Hexenforschung als Regionalgeschichte. Probleme, Grenzen und neue Perspektiven, in: ebd., 45 - 60; Wolfgang Behringer: Zur Geschichte der Hexenforschung, in: Sönke Lorenz (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten, Ostfildern 1994, 93 - 146 (zweite, erweiterte Auflage in Vorbereitung! ); Gerd Schwerhoff: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: GWU 46 (1995), 359 - 380. 3 Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990; Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990. 4 Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991; Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln 1997. 5 Heinrich R. Schmidt: Die Christianisierung des Sozialverhaltens als permanente Reformation. Aus der Praxis der reformierten Sittengerichte in der Schweiz während der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle/ Johannes Kunisch (Hg.): Kommunalisierung und Christianisierung, Berlin 1989, 113- 163; Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle, Frankfurt/ M. 1990, 85- 132; Peter Wettmann-Jungblut: »Stelen in rechter hungersnodtt«. Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600 - 1850, in: ebd., 133- 177. <?page no="12"?> Einleitung 13 Region in ihrer ganzen Breite zu erfassen suchen. Methodische oder theoretische Beiträge stehen empirisch ausgerichteten Werkstattberichten über die Arbeit mit einen bestimmten Quellencorpus gegenüber. Vorträge, die langfristigen Entwicklungstrends nachspüren, finden sich ebenso wie Mikrostudien, die detailliert die Geschichte einer Gemeinde, einer Familie oder gar die Biographie einer Person rekonstruieren. Nur ein Teil der mit Gerichtsakten arbeitenden Forscher(innen) beschäftigt sich dabei ausschließlich mit Kriminalität; ein anderer nutzt Gerichtsakten in einem viel weiteren Sinn als Sonde zur Erforschung vergangener Lebenswelten. Trotz der angesprochenen Vielfalt läßt sich - mit aller Vorsicht - ein eigenständiges Profil der deutschen kriminalhistorischen Forschung erkennen. Die Kriminalitätsgeschichte zeigt sich stark von den methodischen und theoretischen Diskussionen um Historische Anthropologie und Mikrogeschichte beeinflußt, und sie hat ihrerseits versucht, an diesen Diskussionen zu partizipieren. Unlängst wurde die Kriminalitätsgeschichte an der Schnittstelle von (alter) Sozialgeschichte und (neuer) Kulturgeschichte verortet. 7 Der Untertitel des vorliegenden Bandes hat dies in programmatischer Absicht aufgenommen. Die inhaltlichen Konsequenzen eines solchen Profils können hier nur kurz angedeutet werden. 8 Eine gewisse Skepsis gegenüber quantifizierenden Verfahren gehört ebenso dazu wie die intensive Erforschung kleinerer Delikte (»petty crimes«) wie Beleidigungen oder Verstöße gegen die guten Sitten. Unter dem Einfluß der Geschlechtergeschichte hat sich zudem das Interesse für frauen- und männerspezifische Delikte ebenso wie für Ehe- und andere Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern verstärkt. Fragen nach den Funktionsweisen der Justiz wurden nicht ausgeblendet, aber doch in charakteristischer Weise aufgenommen und umgeformt; Justiz wird hier nicht mehr als ein anonymer Repressionsapparat begriffen, sondern als ein Angebot zur Konfliktregulierung, das mit anderen gesellschaftlichen Techniken (Stichwort: Infrajustiz) in Zusammenhang gesehen werden muß. Bei aller thematischen Breite blieb der Stuttgarter Arbeitskreis ein vergleichsweise unaufwendiges und bescheidenes Unternehmen. Seine Beschränkung auf die »alteuropäische« Phase der Geschichte, also die Zeit vom 13./ 14. Jahrhundert bis zum Ausgang des Ancien Régime - mit dem Begriff »Vormoderne« eher ungelenk umschrieben -, hat viel mit seinen Wurzeln in der Hexenforschung zu tun, aber auch damit, daß Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag selten geblieben sind. Einen dezidiert interdisziplinären Anspruch hat der Kreis trotz der selbstverständlichen Teilnahme von Volkskundler(inne)n oder Rechtshistoriker(inne)n ebensowenig erhoben 9 wie einen internationalen, obwohl auf fast jeder Tagung Kriminalhistoriker(innen) aus Frankreich oder dem angelsächsischen Bereich anwesend waren. Auf die Einwerbung 6 Vgl. Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Crime and History. The German Workshop »Historische Kriminalitätsforschung in der Vormoderne«, in: Crime, Histoire et Sociétés 2 (1998), 137 - 140 mit einer Übersicht über die ersten sieben Treffen des Arbeitskreises. Aktuelle Programme werden jetzt abrufbar sein auf der Webside der ›Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart‹, Fachreferat Geschichte (Dieter R. Bauer): http: / / www.kirchen.de/ akademie/ rs/ 34.htm. 7 Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263 (1996), 681- 715 8 Vgl. dazu eingehender den Forschungsbericht von Gerd Schwerhoff im vorliegenden Band. 9 Interdisziplinär ist dagegen der von Martin Dinges und Fritz Sack initiierte Arbeitskreis von Wissenschaftlern aus den Bereichen Kriminologie und Geschichte angelegt, der demnächst einen ersten gemeinsamen Band vorlegen wird: Martin Dinges/ Fritz Sack: Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000. <?page no="13"?> Einleitung 14 von Tagungsgeldern wurde bewußt ebenso verzichtet wie auf die Formulierung allzu einengender Tagungstitel - Maßnahmen, die einen höheren Grad an Formalisierung, Institutionalisierung und möglicherweise eine Selektion des Teilnehmerkreises erforderlich gemacht hätten. Auch wenn die letzten beiden Tagungen zum Teil thematisch gegliederte Sektionen enthielten, um Diskussionen zu bündeln, sollen die Stuttgarter Workshops auch in Zukunft als offene Foren des Austauschs dienen; weiterhin soll es möglich sein, laufende Arbeiten in Form von Werkstattberichten vorzustellen. Diese Konzeption beinhaltet auch den Verzicht auf jegliche Verpflichtung zur Publikation. Fast naturgemäß wuchs im Verlauf der gemeinsamen Diskussionen dann aber doch das Bedürfnis nach einer schriftlichen Zusammenführung und Bündelung der vielfältigen Forschungsergebnisse. Eine erste - eher indirekte - Frucht der Arbeit des Arbeitskreises erschien 1993. 10 In den vorliegenden Band nun wurden etliche der in Stuttgart- Hohenheim gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Form aufgenommen; viele andere Beiträge wurden eigens für ihn konzipiert und verfasst. So kann er durchaus als eine Art Zwischenbilanz der in den letzten fast zehn Jahren geleisteten kriminalitätshistorischen Arbeit im deutschsprachigen Bereich gelesen werden. Zugleich will er - wie im Untertitel angedeutet - Anstöße geben für eine innovative, sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung. Zu den Beiträgen Die 33 Beiträge des Bandes gruppieren sich zu acht Sektionen, die im folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Die Forschungsberichte der ersten Sektion bilden so etwas wie die Einleitung des Buches; sie zeichnen zugleich die Geschichte der Historischen Kriminalitätsforschung in Europa nach und stecken den Horizont künftiger Forschungen ab. Das besondere Profil der Historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland, wie es bereits oben angedeutet wurde, beleuchtet der Aufsatz von G ERD S CHWER - HOFF . Die anschließenden Überblicke über die englische und die französische Forschung von P ETER W ETTMANN -J UNGBLUT bzw. H ENRIK H ALBLEIB erschließen gleichsam das klassische Terrain der Kriminalitätsgeschichte und legen damit wichtige Quellen der Inspiration auch für die deutsche Forschung frei. Pioniercharakter darf auch die kriminalitätsgeschichtliche Forschung in den Benelux-Ländern, insbesondere in den Niederlanden, beanspruchen. Sie ist international freilich weniger bekannt und zum Teil auch bibliographisch schlecht erschlossen; um so erfreulicher ist es, daß mit dem Beitrag von X AVIER R OUSSEAUX jetzt erstmals ein Forschungsbericht vorgeliegt. Wie der deutschsprachige Raum so lag bis vor kurzem auch Italien eher an der Peripherie kriminalitätsgeschichtlicher Forschungen. Jedenfalls gilt das für die einschlägigen frühneuzeitlichen Forschungen, mit denen der Aufsatz von P ETER B LASTENBREI vertraut machen will, weniger für die Arbeiten über die spätmittelalterlichen Stadtstaaten, für die eine beneidenswert dichte Quellenüberlieferung und zahlreiche einschlägige Studien existieren. 11 Entsprechend den speziellen Überlieferungssituationen der jeweiligen Länder und ihrer historiographischen Traditionen haben sich auch im Norden und Osten Europas eigene Ausprägungen der Kriminalitätsgeschichte entwickelt, wie 10 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1993. <?page no="14"?> Einleitung 15 die Forschungsberichte von J ENS C HRISTIAN V. J OHANSEN über Skandinavien und von C HRISTOPH S CHMIDT über Polen deutlich machen. Die Beiträge der zweiten Gruppe diskutieren die besonderen Erkenntnismöglichkeiten und den Ertrag einer geschlechtergeschichtlich bzw. diskursanalytisch informierten Kriminalitätsgeschichte. A NDREA G RIESEBNER und M ONIKA M OMMERTZ warnen davor, die doppelte Konstruktion von Kriminalität und Geschlecht, die uns schon in den Quellen begegnet, zu reproduzieren. Aufgabe der Forschung muß es dagegen sein, die spezifischen Konstruktions- und Wirkungsbedingungen der betreffenden Konzepte zu entschlüsseln, was die beiden Autorinnen am Beispiel eigener Fallstudien exemplifizieren. M ICHAEL M ASET skizziert ausgehend vom Werk Michel Foucaults ein Instrumentarium zur Analyse von Macht, das die Historische Kriminalitätsforschung in die Lage versetzen soll, gleichermaßen struktur- und handlungstheoretische Perspektiven einzunehmen. Durchgängig einen methodischen Zug haben ebenfalls die Aufsätze der dritten Gruppe, die allesamt um Erkenntnismöglichkeiten und den Aussagewert kriminalhistorischer Quellen kreisen. Natürlich überwiegen dabei die Gerichtsakten als ›genuine‹ kriminalhistorische Quellen. Zugleich verweisen die Beiträge jedoch mehr oder minder eindringlich auf andere Quellengattungen, die alternativ oder ergänzend herangezogen werden können, um den zeitgenössischen Kriminalitätsdiskursen auf die Spur zu kommen. So befaßt sich K LAUS G RAF nicht nur mit den spätmittelalterlichen »schwarzen Büchern«, in denen die Namen und Taten der Delinquenten für die Nachwelt festgehalten wurden; zugleich bezieht er mit den Schanddenkmälern Relikte der materiellen Kultur mit in die Analyse ein, um seinem Ziel, einer interdisziplinären Erforschung der Erinnerungskultur der Strafjustiz, näher zu kommen. G ABRIELA S IGNORI dagegen geht mit ihrer Untersuchung über ein ›ungleiches Paar‹ in Basel am Ausgang des Mittelalters den Weg der mikrohistorischen Analyse. Dabei bezieht sie nicht nur Quellen ›zivil-‹ und ›strafrechtlicher‹ Provenienz ein und kommt damit einem häufig erhobenen, aber selten realisierten Postulat nach. Irritierend sind vor allem die fließenden Grenzen zwischen literarischen Imaginationen und aktenkundigen Wahrnehmungs- und Argumentationsweisen, eine Tatsache, die die oft selbstverständliche Annahme von Kriminalitätshistorikern, im Spiegel der Gerichtsakten gesellschaftliche ›Wirklichkeit‹ erfassen zu können, in Frage stellt. Einen anderen Zugang sucht R ALF -P ETER F UCHS mit seiner Untersuchung frühneuzeitlicher Zeugenverhöre. Er skizziert sehr genau den gerichtlichen Kontext, die strategischen Argumentationsweisen und die interessegeleiteten Blindstellen derartiger Verhöre; sein Hauptaugenmerk richtet er gleichwohl auf die Formen des »sozialen Wissens« über Gesellschaft, Herrschaft und Religion, die in den Zeugenverhören en passant artikuliert werden. Mit der Autobiographie eines Straftäters um 1850 wählt H EIKE T ALKENBERGER ebenfalls eine Quellengattung aus dem Feld der ›Ego-Dokumente‹ als Untersuchungsgegenstand. Der Text führt hinein in ein Spannungsfeld konkurrierender Normensysteme, die auf den Protagonisten einwirken und die keineswegs in die Ausprägung einer eindeutigen Identität münden. Im Selbstbild des Luer Meyer gehen vielmehr Bürgerlichkeit und abweichendes Verhalten eine komplexe Mischung ein. 11 Sie sind am besten über die zahlreichen Arbeiten von Andrea Zorzi zu erschließen, vgl. zuletzt Andrea Zorzi: La politique criminelle en Italie (XIIIe -XVIIe siècles), in: Crime, Histoire et Sociétés 2 (1998), 91 - 110, und die dort nachgewiesene Literatur. <?page no="15"?> Einleitung 16 Die Beiträge der vierten Gruppe wenden sich der Funktionsweise der Justiz in der vormodernen Gesellschaft zu, sei es in Dorf, Stadt oder Territorium. P ETER S CHUSTER untersucht die Rechtsprechung im spätmittelalterlichen Konstanz ausgehend von der Beobachtung, daß auch vermögende Bürger in überraschend großer Zahl vor Gericht erscheinen mußten. Deviantes Verhalten war eben ein Phänomen aller sozialen Schichten. Soziale Ausgrenzung war indessen nicht das Ziel der Rechtsprechung; harte Strafen hatten vor allem Stadtfremde zu gewärtigen. S TEFFEN W ERNICKE schildert auf der Grundlage von Regensburger Urfehden die zeittypischen Formen abweichenden Verhaltens in der spätmittelalterlichen Stadt und die Praxis städtischer Gerichte. Ihr Ziel, Ausgleich und Friedenswahrung in der Stadt, erreichten sie vor allem durch ein wohlabgewogenes System umfangreicher Gnadengewährung. E RIKA M ÜNSTER -S CHRÖER charakterisiert Johann Grave, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts in Düren zwei Frauen der Zauberei verdächtigte, als einen Rechtssucher in einer Zeit sich wandelnder Rechtsvorstellungen. Grave schöpfte alle ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten aus, scheiterte aber - für ihn unfaßbar - in seinem Bemühen, Gerechtigkeit zu erlangen. Eine Welle von Hexenprozessen im 17. Jahrhundert bildet den Fluchtpunkt des Beitrags von G UDRUN G ERSMANN über das Spannungsverhältnis von adeliger Patrimonialgerichtsbarkeit und Landesherrschaft im Fürstbistum Münster. Die exzessive Ausübung der Justiz kann nach der Interpretation der Autorin als eine machtpolitisch motivierte Verteidigungsmaßnahme der angestammten patrimonialen Gerichtsherrlichkeit gegen landesherrliche Zudringlichkeiten verstanden werden. Wiederum eher von den bäuerlichen ›Justiznutzern‹ her erklärt J ENS C HRISTIAN V. J OHANSEN seine empirischen Befunde über dänische Dörfer des 17. Jahrhunderts. Je weiter die Orte vom Sitz des jeweiligen Gerichts entfernt lagen, desto seltener wurden aus ihnen Klagen vor die Justiz gebracht. Offenbar fanden es die Akteure nicht lohnend, wegen kleinerer Diebstähle oder Schlägereien den weiten Weg zum Gericht auf sich zu nehmen. Das wiederum wirft die interessante Frage nach den alternativen Konfliktregelungsmechanismen dieser Dorfgemeinschaften auf. Wie sehr die neuere Forschung unser Bild vom frühneuzeitlichen Strafverfahren verändert hat, zeigt K ARL H ÄRTER in seiner idealtypischen Analyse dieses Feldes, das bislang als Stiefkind der kriminalhistorischen Forschung gelten mußte. Prägte die ältere rechtshistorische Literatur eher das Bild eines »Zweikampfes« zwischen Richtern und Angeklagten, so wird in diesem Beitrag die Vielzahl der beteiligten Personen und Institutionen und deren vielfältige Möglichkeiten zur Intervention - z.B. in Gestalt von Suppliken - deutlich. G ERHARD S ÄL - TER schließlich untersucht an französischen Quellen vom Anfang des 18. Jahrhunderts das neue polizeiliche Sanktionsmittel der Inhaftierung am Beispiel der Repression des Zaubereidelikts. Der damit einhergehende, teilweise Übergang von Repressionsfunktionen der Gerichte auf die Polizei wird mit der Schwächung informeller Kontrollmechanismen der zeitgenössischen Gesellschaft erklärt, die die Polizei zu kompensieren trachtete. Die fünfte Gruppe von Aufsätzen führt die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion um die neben und teilweise in Konkurrenz zu den klassischen juristischen Instanzen der Konfliktregulierung bestehenden Mechanismen der Konfliktaustragung fort. Aus der Perspektive der ›Justiznutzer‹, so macht M ARTIN D INGES in seinem grundlegenden Beitrag zum Thema ›soziale Kontrolle‹ klar, stellte die Inanspruchnahme der Gerichte nur eine Option neben anderen Handlungsmöglichkeiten dar, um die eigenen Interessen durchzusetzen; häufig stellte der Gang zum Gericht den letzten <?page no="16"?> Einleitung 17 Schritt im Konfliktszenarium oder eine Drohgebärde dar, um einen vorteilhafteren außergerichtlichen Vergleich zu schließen. Das Konzept der ›Justiznutzung‹ trägt so zur Abkehr von einer einseitig etatistischen Betrachtungsweise bei. Ähnliche Ziele verfolgt der Beitrag von F RANCISCA L OETZ , die das französische Konzept der infrajudiciaire vorstellt. Dabei schlägt die Autorin vor, verschiedene Formen außergerichtlicher Konfliktlösung auseinanderzuhalten, um das jeweilige Zusammenspiel von formellen Rechtsverfahren und informellen Praktiken schärfer fassen zu können. Außergerichtliche Einigungen stehen auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von C ARL A. H OFFMANN , der sich mit süddeutschen Städten des 16. Jahrhunderts befaßt. Sie stehen nach seiner Auffassung am Schnittpunkt zwischen horizontaler sozialer Kontrolle der Akteure untereinander und vertikaler sozialer Kontrolle, sprich Disziplinierung durch die Obrigkeiten. Daß sich das Verhältnis zwischen ›privater‹ Einigung und ›öffentlicher‹ Strafe im Verlauf des 16. Jahrhunderts verschieben konnte, zeigt Hoffmann z.B. am Delikt des Totschlags. Die Beiträge der sechsten Gruppe schlagen die Brücke zur in Deutschland intensiv geführten Konfessionalisierungsforschung. H EINRICH R. S CHMIDT beleuchtet ausgehend von einem Stück, daß der Berner Niklaus Manuel 1530 verfaßt hat, das grundlegende reformatorische Anliegen, daß wie die Kirche, so auch die Welt gereinigt werden müsse. Verbrechen stellen in dieser Perspektive immer auch Sünden wider Gott dar. Dieser sakralen Dimension von »crimen« müsse in der Forschung Rechnung getragen werden. F RANK K ONERSMANN analysiert den Anteil der Kirchengemeinden am konfessionellen Verkirchlichungsprozeß im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken des 16. und 17. Jahrhunderts. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, daß sich infolge von Kirchenvisitationen und Kirchenzucht vor Ort Formen von Öffentlichkeit ausbildeten, die sowohl von der Landeskirche als auch von den Presbyterien und Kirchengemeinden für ihre Zwecke genutzt wurden. H ARRIET R UDOLPH widmet sich in ihrem Beitrag dem konkurrierenden Verhältnis von weltlicher und geistlicher Zucht sowie deren Bedeutung für den Disziplinierungsprozeß im geistlichen Staat der Frühen Neuzeit am Beispiel des Hochstifts Osnabrück. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, daß die Kirchenzucht trotz bestimmter entgegenstehender Verfassungsstrukturen auch im geistlichen Territorium den säkularen Disziplinierungsprozeß unterstützt habe. Beiträge, die einen geschlechtergeschichtlichen Schwerpunkt setzen, führt die siebte Gruppe zusammen. 1502 fiel in Basel ein einflußreiches Mitglied der Metzgerzunft einem von langer Hand geplanten Mordanschlag zum Opfer. K ATHARINA S IMON - M USCHEID beschreibt ausgehend von Verhören, die im Umfeld der dem Gericht bekannten, aber flüchtigen Täter geführt wurden, die Strategien, die die Verhörten entwickelten, um ihre Mitwisserschaft an dem Verbrechen gleichsam zu verschleiern und sich in den Augen des Gerichts zu entlasten. Dafür griffen sie auf gesellschaftlich akzeptierte Rollenmuster und auf geschlechtsspezifische Stereotype zurück. J OACHIM E IBACH untersucht die geschlechtsspezifischen Dimensionen städtischer Kriminalität im 18. Jahrhundert und konzentriert sich dabei auf Eigentums- und Gewaltdelikte. Ähnlich wie Simon-Muscheid kommt er zu dem Ergebnis, daß sowohl Männer als auch Frauen vor Gericht in strategischer Absicht geschlechtsspezifische Rollenbilder einsetzen - eine Strategie, die jedoch von den Gerichten häufig durchkreuzt wurde. S YLVIE S TEINBERG geht in ihrem Beitrag den Spuren von etwa einhundert Frauen nach, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts wegen des Tragens von Männerkleidern vor Gericht kamen. Manche dieser Frauen suchten sich mit Hilfe erfundener Lebensgeschichten <?page no="17"?> Einleitung 18 aus der Affäre zu ziehen, die populäre literarische Motive aufgriffen und die so ihre Maskerade als sittlich motiviert erscheinen lassen sollte. Der Sammelband wird in der achten Gruppe mit einer Reihe von Beiträgen geschlossen, die in gewisser Weise zu den Anfängen kriminalitätsgeschichtlicher Forschung in Deutschland zurückkehren, indem sie kritisch an die Diskussion um das ›Sozialbanditentum‹ anknüpfen. Der Beitrag von W INFRIED F REITAG setzt sich mit dem Delikt der Wilderei im frühneuzeitlichen Bayern auseinander. Die Wilderer stammten, von Ausnahmen abgesehen, aus der Mitte der Gesellschaft, und sie konnten sich auf ein breites Netzwerk von Helfern und Abnehmern stützen, das bis in die Beamtenschaft, den Klerus und den Adel hineinreichte. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung und der Widerstand gegen die landesherrliche Jagdgesetzgebung; das unerlaubte Jagen wurde daher kaum als schweres Verbrechen angesehen. E VA W IEBEL setzt sich kritisch mit der Lebensgeschichte und dem Nachruhm zweier bekannter südwestdeutscher Gaunerinnen vom Ende des 18. Jahrhunderts auseinander. Zwei biographische Skizzen rekapitulieren zunächst den Lebensweg der beiden Frauen. Es folgen rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur späteren Legendenbildung um diese Frauen, die nach den spezifischen Auslassungen, Umdeutungen und Umdichtungen in diesem Prozeß fragen. O TTO U LBRICHT untersucht Fälle von Brandstiftungen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein in den Jahren 1790 - 1830, die einen hohen Anteil weiblicher Brandstifterinnen aufweisen, allesamt junge Dienstmägde. Es werden verschiedene Erklärungsansätze herausgearbeitet und kritisch diskutiert. So kann Brandstiftung als Ausdruck des Wunsches der Mädchen verstanden werden, in ihre Familien zurückkehren zu können. Brandstiftung kann aber auch Protest gegen die Verweigerung des Erwachsenenstatus im Diensthaushalt gewesen sein. Im 19. Jahrhundert veränderte sich die gerichtsmedizinische Beurteilung der jungen Brandstifterinnen, was mildere Strafen zur Folge hatte. A NDREAS B LAUERT rekonstruiert die Geschichte der Abenteurer und Piraten auf der Insel Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Rekonstruktionsarbeit verlangt immer wieder die textkritische Lektüre der einschlägigen, semi-fiktionalen Quellen und mündet in eine Auseinandersetzung mit dem nahezu zeitunabhängigen ›abenteuerlichen‹ Piraten unserer Imaginationen. <?page no="18"?> I. Historische Kriminalitätsforschung in Europa <?page no="20"?> 21 Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum Zum Profil eines »verspäteten« Forschungszweiges 1 Zu Beginn der 90er Jahre zogen die Kriminalitätshistoriker in Europa Zwischenbilanz. Das Centre d’études historiques sur la criminalité et les déviances (L’Université de Bourgogne, Dijon) rief im Oktober 1991 rund 50 francophone Historikerinnen und Historiker zusammen, um über die Kriminalität in der Geschichte zu diskutieren. Die behandelte Zeitspanne reichte von der Antike bis zur neuesten Zeit, jedoch lag ein deutlicher Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit und hier besonders auf dem 18. Jahrhundert »comme une époque charnière« (Garnot 1992: 26). Auch die International Association for the History of Crime and Criminal Justice blickte 1991 auf zwölf Jahre einer regen Forschungs- und Tagungsaktivität zurück. In ihrem regelmäßig erscheinenden Bulletin 2 wurden zu diesem Anlaß Artikel publiziert, die aus verschiedenen Perspektiven den Forschungsstand reflektieren sollten. Daß die angesprochenen Zwischenbilanzen weitestgehend ohne Beteiligung aus den deutschsprachigen Ländern gezogen wurden, ist kein Zufall. An der Wende zu den 1990er Jahren war die historische Kriminalitätsforschung in Deutschland, ungeachtet einiger Pionierstudien, erst im Begriff, sich zu konstituieren. Gegen Ende des Jahrzehnts hat sich die Szene grundlegend geändert, die Anregungen aus dem Ausland wurden inzwischen fruchtbar aufgegriffen: »Die 90er Jahre sind im Begriff, eine Hochzeit der Kriminalitätshistoriographie zu werden« (Eibach 1996: 683). Eine Vielzahl unterschiedlicher Aufsätze und eine Reihe von Monographien signalisieren, daß sich die historische Kriminalitätsforschung auch in Deutschland entfaltet hat - Grund genug für eine Zwischenbilanz, die das besondere Profil der neueren deutschen Forschung herauszuarbeiten versucht. 3 1. Später Aufbruch: Fragmentierte Quellen und rechtsgeschichtliche Traditionen Zunächst ist nach den Gründen für die späte Entwicklung der historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland zu fragen. Hier wäre zum einen die Quellenlage zu nen- 1 Der folgende Forschungsbericht konzentriert sich vornehmlich auf deutsche, österreichische und deutschschweizerische Beiträge zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit seit ca. 1980 und greift nur ausnahmsweise auf die ältere Literatur zurück; der Konzeption des Sammelbandes entsprechend werden die Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert ebenfalls nur am Rande berührt. - Für Rat und Hilfe danke ich den Kollegen Andreas Blauert, Martin Dinges und Peter Wettmann-Jungblut. 2 IAHCCJ Bulletin No.14, October 1991. - Inzwischen hat sich dieses informelle Bulletin übrigens zu einer internationalen Zeitschrift gemausert: Crime, Histoire & Sociétés, ed. René Levy (Paris), deren erster Jahrgang 1997 in Genf (Librairie Droz) erschienen ist. 3 Vgl. die - sehr unterschiedliche Akzente setzenden - Überblicks- und Forschungsberichte von Blasius (1988); Romer (1992); Thome (1992); Schwerhoff (1992); Eibach (1996); Lüdtke/ Reinke (1996); Schüßler (1996); für eine rechtshistorische Sicht Stolleis (1985); für eine kritisch-kriminologische Perspektive Sack (1987); als Einführung in die internationale Forschung können die Arbeiten von Rousseaux (1992, 1997) gelesen werden. - Vgl. für eine monographische Einführung in das Forschungsfeld jetzt Schwerhoff (1999). <?page no="21"?> Gerd Schwerhoff 22 nen, zum anderen die allgemeine »Verspätung« der deutschen Sozialgeschichte und die Beharrungskraft der alten Rechtsgeschichte. Die Quellenüberlieferung im Reich zeichnet sich im Vergleich zu anderen Ländern durch ihren hohen Fragmentierungsgrad aus. Weder gibt es in nennenswertem Umfang »zentralstaatliche« Gerichts- und Kriminalquellen wie in England oder Frankreich - zu erinnern ist hier nur an die von Natalie Davis oder Claude Gauvard ausgewerteten Gnadenbriefe -, noch ist die Überlieferung so reichhaltig wie offenbar in vielen italienischen Städten. Kriminalhistorisch auswertbare Quellen haben - seit Ende des 13. Jahrhunderts - zuerst die Städte hervorgebracht. Proskriptions- und Verfestungslisten geben Auskunft über flüchtige Delinquenten, die in die Acht gelegt wurden. Etwa gleichzeitig beginnen Aufzeichnungen über Stadtverweise und über sog. »Urfehden«, Racheverzichtserklärungen, die vor allem nach Verhaftungen geschworen werden mußten (vgl. als exemplarische Quelle Franke 1875; typologisch wichtig Boockmann 1980). Schon im 14., dann verstärkt im 15. Jahrhundert, kommen andere Quellentypen hinzu. Wichtig sind in dieser Zeit Bußlisten und Rechnungsbücher, die Geldstrafen dokumentieren; sie können sowohl aus dem Bereich der Niedergerichtsbarkeit, die etwa Messerzücken, Raufhändel und Verwundungen zu regeln hatte, als auch der hohen Gerichtsbarkeit, die sich z.B. mit Totschlag befaßte, entstammen (Mandl-Neumann 1985; Schuster 1997). Andere Informationsquellen sind Malefizbücher, die peinliche Strafen aufzeichnen, gerichtliche Urteilsbücher und Ratsprotokolle, die auch »gerichtliche« Entscheidungen des Rates enthalten. An der Wende zur Neuzeit werden die Quellen ausführlicher und farbiger; neben den knappen »Urgichten«, den öffentlich verlesenen Geständnissen der Gerichteten, sind nun auch immer häufiger Verhörprotokolle und Zeugenaussagen erhalten (vgl. exemplarisch Rippmann u.a. 1996; Schwerhoff 1990, 1993; Hoffmann 1995: 81ff.). Aber selbst die Praxis der Strafjustiz im frühmodernen Territorialstaat ist oft nur unzureichend dokumentiert. Als ein ausgesprochener Glücksfall für den Historiker darf schon gelten, wenn in einem vergleichsweise »modernen« Territorium wie dem Herzogtum Bayern ein Hofrat als zentrale Entscheidungsinstanz auch in Kriminalsachen installiert wurde, und somit die Hofratsprotokolle als umfangreiche kriminalhistorische Quelle genutzt werden können (Behringer 1995: 71f.). Auf ein verstärktes zeitgenössisches Interesse an Erscheinungsformen der Kriminalität im 18. Jahrhundert deuten die im Druck erschienenen »actenmäßigen Berichte« über die Justifizierung von Räuberbanden oder die »Gauner- und Diebslisten« hin (vgl. künftig den Beitrag von Eva Wiebel und Andreas Blauert in Häberlein 1999). 4 Im internationalen Vergleich mögen die Quellen zur Kriminalpraxis im Alten Reich also etwas spärlicher fließen. Dennoch sind sie dermaßen reichhaltig, daß man sich fragt, warum sie so lange kaum benutzt wurden. Zweifellos ist der Grund in der Dominanz älterer historiographischer Paradigmen zu suchen. Daß die Sozialgeschichte sich in Deutschland lange Zeit schwer getan hat und erst spät ihren Durchbruch erlebte, ist bekannt und muß hier nicht weiter beschrieben werden. Auch nach diesem Durchbruch wurde die Geschichte der Kriminalität indes nur zögernd aufgegriffen; andere, 4 Im Anschluß an den vorstehenden, knapp typisierenden Quellenüberblick soll der Hinweis auf zwei wegweisende Arbeiten nicht fehlen: Prosser (1991) thematisiert - allerdings am Beispiel der für unseren Fragezusammenhang nicht unmittelbar einschlägigen Weistümer - den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Rechtskultur; und Sabean (1996) beschäftigt sich mit bestimmten bürokratischen Formeln in frühneuzeitlichen Akten, die soziale Distanzen zwischen Schreibern und Sprechern markieren. <?page no="22"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 23 »klassischere« Themen und soziale Gruppen erhielten den Vorrang. Gewiß liegt eine Ursache dafür darin, daß das Forschungsfeld schon von einer Nachbardisziplin besetzt schien: der - von Professoren der Rechtswissenschaft neben ihren anderweitigen Verpflichtungen betriebenen - Rechtsgeschichte. So unerläßlich rechtshistorische Kompetenz bei der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung und so unverzichtbar etwa das gerade fertiggestellte HRG als Nachschlagewerk ist, so problematisch erscheinen die Prämissen der traditionellen Strafrechtsgeschichte: Sie stellte die Normen und nicht die Strafpraxis in den Mittelpunkt bzw. schloß von der ersten auf die zweite Ebene; sie orientierte sich fast ausschließlich am Staat und an der Vorstellung eines natürlichen Fortschritts der Gesetzgebung. Zu ihren stillschweigenden Grundannahmen gehörte überdies, daß es einen gesellschaftlichen Konsens über Normen und Werte gäbe, der sich dann in Rechtskodifikationen niederschlage. Natürlich gelten diese typologisierenden Bemerkungen nur cum grano salis. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein sind strafrechtsgeschichtliche Arbeiten erschienen, die auch der rechtlichen Praxis ihre Aufmerksamkeit schenken und wertvolle Befunde liefern. 5 Ansätze zu einer Akzentverlagerung weg von der Bestrafung hin zur Delinquenz blieben jedoch inhaltlich inkonsequent und wenig schulbildend (Radbruch/ Gwinner 1951; Bader 1956). 6 Außerdem ließ das rechtsgeschichtliche Engagement auf dem Feld der Strafrechtsgeschichte in jüngerer Zeit eher nach, so daß es bis vor kurzem zu den verödeten Gebieten der Rechtsgeschichte gezählt werden mußte (Stolleis 1985: 254). 7 So blieb die Kriminalität in der Vergangenheit einer oft materialreichen, aber anekdotisch und nicht analytisch orientierten Kulturgeschichtsschreibung überlassen (Frauenstädt 1890, 1897; Hampe 1927). Am ehesten interessierte sich noch die sog. ›rechtliche Volkskunde‹ für die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts; Arbeiten wie die von Karl Sigismund Kramer 8 oder Walter Hartinger (1974, 1976) stellten viele Fragen (etwa zum Ablauf dörflicher Konflikte und zur Rolle der Ehre), die heute eine historische Kriminalitätsforschung beschäftigen (vgl. zuletzt Helm 1993). 2. Ein erster Überblick über das Forschungsfeld Trotz vereinzelter früherer Ansätze (z.B. Schormann 1974; Verdenhalven 1974) etablierte sich erst in den 1980er und vor allem den 1990er Jahren im deutschsprachigen Bereich die historische Kriminalitätsforschung als ein relativ eigenständiges Arbeitsgebiet. 9 Dieses Gebiet soll vor seiner analytischen Durchdringung zunächst etwas näher 5 Vgl. nur die Arbeiten von Harster (1900); Knapp (1907); Schindler (1937); Meinhardt (1957); Ebel (1971); Reiß (1973); Marbach (1980); Hagemann (1981); Krause (1991). 6 Die Präsentation einer Quelle der Strafrechtspraxis, eines Halsgerichtsbuches des Hochstiftes Eichstätt, durch einen Rechtshistoriker wie Friedrich Merzbacher (1956: 379) ist ein bezeichnendes Beispiel für das selektive Interesse an derartigen Dokumenten; die Zumutung quantifizierender Analysemethoden wird selbstverständlich abgewiesen, stattdessen wird die Quelle als lebendige Anschauung darüber benutzt, was man eh schon aus den Gesetzestexten zu wissen glaubt. 7 Seit 1993 hat der - unter Federführung von Dietmar Willoweit (Würzburg) geschaffene - DFG-Forschungsschwerpunkt »Entstehung des öffentlichen Strafrechts« mit seinem interdisziplinären Ansatz das Feld neu belebt. Vgl. für den erweiterten Blick der neuen Rechtsgeschichte Willoweit (1996). Jedoch erscheinen immer noch solche Arbeiten wie Lott (1998). 8 Vgl. nur Kramer (1990: 41ff.) als letzte seiner zahlreichen Regionalstudien und den »Grundriß der rechtlichen Volkskunde« (1974). <?page no="23"?> Gerd Schwerhoff 24 in seinen Umrissen beschrieben werden, und zwar in Hinblick auf die vier Dimensionen Epochen, Räume, Instanzen und Delikte. Zunächst zur zeitlichen Dimension. Die Pionierstudien einer Kriminalitätsgeschichte in sozialgeschichtlicher Absicht stammen von Dirk Blasius (1976; 1978) und waren dem 19. Jahrhundert und damit der bürgerlich-kapitalistischen Welt gewidmet (vgl. auch die Beiträge in Reif 1984). Die Debatte um die ›Modernisierung des Verbrechens‹ im modernen Deutschland wurde und wird sodann meist von angloamerikanischen Beiträgern bestritten (Johnson 1988, 1996; Wegert 1991; Evans 1996, 1997). Ein florierendes Arbeitsfeld innerhalb der neuzeitlichen Geschichte bildet die Polizeigeschichte (vgl. Lüdtke 1992). Insgesamt aber bleiben die Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert bisher eher rar (z.B. Formella 1985; Weber 1985; Jessen 1992; Wettmann-Jungblut 1997). Der Schwerpunkt der Forschungen liegt im Spätmittelalter (14./ 15. Jahrhundert) und insbesondere in der Frühen Neuzeit (16. - 18. Jahrhundert). Im Jahr 1990 wurde von Andreas Blauert und Gerd Schwerhoff ein ›Arbeitskreis zur Historischen Kriminalitätsforschung in der Vormoderne‹ ins Leben gerufen, dessen Mitglieder jedes Jahr zu einem Workshop zusammenkommen; die Adressenkartei enthält inzwischen über 100 Interessierte (Blauert/ Schwerhoff 1998). Die politisch-rechtliche Zersplitterung des Alten Reiches macht schon aus Gründen der Quellenüberlieferung und der Forschungspragmatik eine regionale Begrenzung und Verortung der Forschungen unumgänglich, erschwert freilich die Vergleichbarkeit der Studien untereinander. 10 Insbesondere Helga Schnabel-Schüle (1993) hat in jüngster Zeit auf die von Territorium zu Territorium sehr verschiedenen institutionellen Rahmenbedingungen und »Entwicklungsgeschwindigkeiten« verwaltungstechnischer Erschließung hingewiesen, so daß etwa dem Institut der Aktenversendung an juristische Spruchkollegien oder dem landesherrlichen Begnadigungsrecht in der Frühen Neuzeit sehr unterschiedliche Bedeutung zukamen. Der politisch-rechtlichen Fragmentierung des Alten Reiches entspricht so eine sehr zerklüftete Forschungslandschaft. Für das Spätmittelalter überwiegen quellenbedingt Studien über Kriminalität in einzelnen Städten: Augsburg (Schneider-Ferber 1993), Erfurt (Schwerhoff 1994), Eschwege (Demandt 1972), Krems (Mandl-Neumann 1985, 1985a), Landshut (Kirmeier 1988: 183ff.), Nürnberg (Schüßler 1991; Schwerhoff 1995c; Martin 1996; Henselmeyer 1999), Olmütz (Schüßler 1994), Regensburg (Wernicke 1995; Kolmer 1997) und vor allem Zürich (Burghartz 1990; Pohl 1999). Nur vereinzelt ist bisher die Tätigkeit der Landgerichte in den Territorien (vgl. Gudian 1972; Toch 1993) oder der dörflichen Niedergerichte in den Blick genommen worden, wie es Schirmer (1996) aufgrund der Bußgelder in den Rechnungsbüchern für das kursächsische Amt Grimma 1477 - 1545 unternommen hat. 9 Eine für die wachsende Präsenz der deutschen Forschung bezeichnende Tatsache ist ihre zunehmende Beschäftigung mit außerdeutschen Fällen; zu nennen ist hier vor allem die methodisch anregende Arbeit von Dinges (1994) über Ehrenhändel im Paris des 18. Jahrhunderts; weiter die Arbeiten von Röhrkasten (1990) über die englischen Kronzeugen, von Blastenbrei (1995) über Rom und von Schmidt (1996) über Moskau sowie die transatlantisch vergleichende Dorfstudie von von Friedeburg (1993). 10 Nur am Rande kann hier auf die reichhaltigen Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich verwiesen werden, die strafrechtliche Materien allerdings nur am Rande berühren. Namentlich das Reichskammergericht bot - mehr als früher angenommen - nicht selten auch den Untertanen ein Forum für ihre Klagen. Zu verweisen ist hier z.B. auf die quantitativ angelegte Arbeit von Ranieri (1985), die ein Tätigkeitsprofil des RKG im historischen Längsschnitt zeichnet, oder auf die Untersuchungen von Ruthmann (1996) und Oestmann (1997), die sich mit dem Wirken dieses Gerichts für einzelne Rechtsgebiete beschäftigen; für einen knappen Überblick vgl. Duchhardt (1996), für einen anschaulichen Querschnitt Diestelkamp (1995). <?page no="24"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 25 Eine günstigere Quellenüberlieferung und wohl auch eine erhöhte Aufmerksamkeit der Forschung für die Territorien lassen das Verhältnis für die Epoche der Frühen Neuzeit ausgewogener erscheinen. Studien über Städte wie Augsburg (Roeck 1990; Hoffmann 1995), Köln (Schwerhoff 1991) oder Frankfurt (Boes 1992; Eibach 1997, 1998) stehen solche über landesherrliche Gerichtsbarkeit bzw. einzelne Teilbereiche gegenüber: Bayern (Behringer 1990, 1997), Brandenburg (Hahn 1989), Fürstentum Siegen (Plaum 1990), Württemberg (Wegert 1994; Schnabel-Schüle 1997; Rublack 1998) Baden (Wettmann-Jungblut 1997), Hochstift Mainz (Härter 1996). Komplementär dazu sind Mikrostudien zu sehen, die sich - z.T. nach dem Vorbild der englischen ›community studies‹ - intensiv mit einzelnen Dörfern oder Amtsbezirken beschäftigen: Heiden in der Grafschaft Lippe (Frank 1995), die dem Schulenburgischen Gesamtgericht unterstehenden Dörfer in der Altmark (Gleixner 1994), Osnabrück (Kottmann 1990, 1998), die beiden Kirchspiele Vechingen und Stettlen bei Bern (Schmidt 1995) oder die Obervogtei Triberg im Schwarzwald (Hokamp 1998); in diese Reihe gehört auch die Arbeit von Regina Schulte (1989), die sich zwar mit oberbayrischen Dörfern am Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt, jedoch in methodischer Hinsicht auch für die Vormoderne wichtig war. Auffällig ist die Zurückhaltung in der deutschsprachigen Forschung gegenüber der Untersuchung längerer Zeiträume. Gegenüber der diachronen wird die synchrone Perspektive klar favorisiert. Ausnahmen bilden die Arbeiten von Wettmann-Jungblut (1997) für die Stadt Freiburg i.Br. und Behringer (1990) für Entwicklungstendenzen der bayrischen Strafjustiz im Spiegel der Akten des Hofrates. Wettmann-Jungbluts Arbeit stellt überdies bislang einen der wenigen kriminalitätshistorischen Versuche dar, die ›magische‹ Epochenschwelle um 1800 zu überschreiten (unbefriedigend Wegert 1991; vgl. jetzt aber zur Patrimonialgerichtsbarkeit Wienfort 1998). Dabei dürften geistes- oder institutionengeschichtlich ausgerichtete Untersuchungen über die Wandlungsprozesse jener Zeit (vgl. jetzt Härter 1998) leichter zu bewerkstelligen sein als Forschungen zur Strafrechtspraxis, weil viele Quellenbestände leider um 1800 enden bzw. erst in dieser Zeit einsetzen (Eibach 1996: 715). Langfristuntersuchungen beschränken sich bisher nicht nur auf die Phase des Ancien Régime, sondern auch auf eine bestimmte Quellengruppe (Urfehden: Blauert 1996) oder auf den Horizont eines Dorfes wie Frank (1995) oder Schmidt (1995). Solche Mikrostudien bieten zusätzlich noch die Chance, die Angaben zur Kriminalität mit sozialstrukturellen Daten (z.B. Steuerlisten) zu verknüpfen und so zu »harten« Aussagen über die gesellschaftliche Verortung von Devianz zu gelangen. Das Etikett ›Historische Kriminalitätsforschung‹ legt die Vermutung nahe, als ginge es hier ausschließlich um strafrechtliche Tatbestände, vor allem um die klassischen Formen von ›Schwerkriminalität‹ wie Diebstahl, Raub oder Tötung sowie ihre Ahndung durch peinliche Strafen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Untersuchungen über die Tätigkeiten der Niedergerichte und über die im Kontext der streitigen Gerichtsbarkeit verhandelten Fälle sind längst gleichrangig neben die Analyse von Malefizakten getreten. Viele gesellschaftliche Konfliktbereiche lassen sich den verschiedenen Rechtsinstanzen nicht sauber zuordnen und sind nur gleichsam im Querschnitt zu studieren. Das gilt etwa für das Feld der Injurien oder für viele der Sittlichkeitsvergehen. Die Sanktionierung derartiger Delikte erfolgte zwar auch durch städtische bzw. staatliche Gerichte (Breit 1991; Beck 1983; Gleixner 1994; Rublack 1998). Ein besonderer Akzent jedoch ergibt sich daraus, daß Verstöße gegen Sitte und Moral auch in das Fadenkreuz <?page no="25"?> Gerd Schwerhoff 26 der kirchlichen Gerichtsbarkeit, insbesondere der lutherischen bzw. reformierten Kirchenzucht gerieten. Heinz Schilling (1986) hat engagiert die Unterschiede zwischen weltlicher Strafzucht und kirchlicher Sündenzucht vertreten. Doch sind die meisten Gerichte, wie die Chorgerichte im Berner Land (Schmidt 1995) oder das Ehegericht in Basel (Burghartz 1992a, 1995a) - obwohl Kinder der Reformation - entscheidend von der weltlichen Obrigkeit abhängig. So finden die Ergebnisse der Kirchenzuchtforschung durchaus auch im Kontext einer historischen Kriminalitätsforschung Beachtung (vgl. die Arbeiten von Dobras 1993; Holzem 1995; Konersmann 1996; Roper 1989; Schilling 1989). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auf die Sondergerichtsbarkeiten für einzelne Stände bzw. soziale Gruppen, etwa die Handwerker (Deter 1987), die Soldaten (Hartl 1981; speziell zur Strafverfolgung von Deserteuren Sikora (1996, 98ff.)) oder der Studenten (Woeste 1987; Brüdermann 1990). Terminologische und konzeptionelle Konsequenzen aus der Tatsache, daß die historische Kriminalitätsforschung so weit über das Feld der Kriminalität im engeren Sinn hinausweist, sind unausweichlich (vgl. die Kritik bei Romer 1995: 302ff.). Statt ›Kriminalität‹ sprechen einschlägige Studien lieber von ›Delinquenz‹ oder ›Devianz‹ (vgl. Blauert/ Schwerhoff 1993: 8), oder sie verstehen sich gleich als Beiträge zu einer Sozial- und Kulturgeschichte menschlicher ›Konflikte‹ und den Bemühungen um ›soziale Kontrolle‹ - auch wenn dieses Konzept in der sozialwissenschaftlichen Diskussion inzwischen selbst in der Kritik steht (Bergalli/ Sumner 1997). Der Vielfalt von untersuchten Instanzen entspricht ein breites Spektrum thematisierter Delikte, das an dieser Stelle nicht im einzelnen aufgeführt werden kann. 11 Gleichsam als Wegbereiter einer historischen Kriminalitätforschung im deutschen Sprachraum können die Hexenforschung und die Protestforschung gelten, zwei Felder, die einen derartigen Grad an Ausdifferenzierung erreicht haben, daß sie im Rahmen dieser Überblicksdarstellung nicht angemessen berücksichtigt werden können. Von der Sache her wäre eine stärkere Verknüpfung jedoch dringend geboten. Eine Situierung des Hexereideliktes im Gesamtfeld frühneuzeitlicher Delinquenz wäre um so naheliegender, als viele in der Kriminalitätsgeschichte engagierte Historikerinnen und Historiker sich zuvor mit Hexerei und Hexenverfolgung beschäftigt hatten (vgl. den Forschungsbericht bei Schwerhoff 1995a). Für den Bereich des sozialen und politischen Protestes hat Andreas Würgler (1999) jüngst gegenseitige Wahrnehmungsblockaden der Forschung beklagt, mögliche Schnittmengen bei der Untersuchung individueller und kollektiver Delinquenz skizziert und programmatisch für einen »Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte« plädiert. 12 Ähnliches dürfte übrigens für das weite Feld der religiösen Devianz gelten, das von der Ketzer- und Inquisitionsforschung bearbeitet wird. 13 11 Die Bereiche ›affektive Gewalt‹ und ›Raub- und Eigentumsdelinquenz‹ sowie die Vergehen gegen die Sittlichkeit werden im Folgenden gesondert zur Sprache kommen (vgl. unten Abschnitt 6 und 7). Auf die Vielzahl anderer Delikte, denen in den letzten Jahren eigene Studien gewidmet worden sind, kann hier lediglich summarisch verwiesen werden: auf Majestätsverbrechen (Schnabel-Schüle 1994); auf den Schmuggel (Finzsch 1990: 199ff.) und auf Wirtschaftvergehen (Kaiser 1989), auf verbotenes Spiel (Schröder-Kiel 1991; Schwerhoff 1995d) und übermäßiges Trinken (Tlusty 1992); schließlich auf den Bereich der Aufwands- und Luxusverbote (Bulst 1988, 1993) oder auf den Kampf der Obrigkeiten gegen Fluchen und Gotteslästern (Leutenbauer 1984; die Beiträge in Blickle 1993; van Dülmen 1994; Loetz 1998; Schwerhoff 1998b). <?page no="26"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 27 3. Das kulturgeschichtliche Profil der Kriminalitätsforschung »Die historische Kriminalitätsforschung als ein Teilbereich der allgemeinen Sozialgeschichte untersucht abweichendes Verhalten in der Vergangenheit im Spannungsfeld von Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle einerseits, von gesellschaftlichen Handlungsdeterminanten und sozialen Lagen andererseits. Umgekehrt wird Kriminalität auch als zentraler Indikator für die Erforschung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und von historischem Wandel eingesetzt« (Schwerhoff 1992: 387). Die Charakterisierung kriminalitätshistorischen Arbeitens als Seitentrieb einer Sozialgeschichte (im weiten Sinn) trifft sicher die Wurzeln des Forschungszweiges. Von Beginn an waren die einschlägigen Diskussionen und Kontroversen jedoch verknüpft mit der historiographischen Großwetterlage, die durch heftige Auseinandersetzungen um die traditionelle Sozialgeschichte strukturfunktionalistischer Prägung gekennzeichnet war. Unter verschiedenen Flaggen - Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte, historische Anthropologie, neue Kulturgeschichte - segelnd, wurden die Prämissen, Methoden und Darstellungsweisen der Sozialgeschichte unter Feuer genommen. Die Stichworte sind bekannt: Orientierung an den historischen Subjekten und ihren Erfahrungen statt der Erforschung von abstrakten Strukturen; Rekonstruktion sozialer Praktiken bzw. sozialer Logiken statt Konstruktion menschenleerer Systeme; dichte Beschreibung von Kultur als »selbstgesponnenem Bedeutungsgewebe« statt Analyse von Gesellschaft als Funktionszusammenhang interdependenter Subsysteme usw. Die nach wie vor andauernde historiographische Debatte im allgemeinen kann und muß hier nicht näher nachvollzogen werden (vgl. Habermas/ Minkmar 1992; Hardtwig/ Wehler 1996; Mergel/ Welskopp 1997; Daniel 1997). Hier soll einzig der Zusammenhang dieser allgemeinen Debatte mit der Entwicklung einer historischen Kriminalitätsforschung betont werden. Joachim Eibach hat jüngst programmatisch die Kriminalitätsgeschichte als wichtigen Beitrag zur »Synthese aus Sozialgeschichte und Kulturansatz« herausgestellt (Eibach 1996: 710) und dabei auf einige neuere Arbeiten, die auch im vorliegenden Beiträg Erwähnung finden werden, verwiesen. Trotz dieses zweifellos zutreffenden Befundes läßt sich im Vergleich zur internationalen Forschung ein kulturgeschichtlicher Schwerpunkt der deutschen Kriminalitätshistoriographie diagnostizieren. Aufgrund ihrer Verspätung konnte sie nicht einfach die Entwicklungen der romanischen oder angelsächsischen Forschung aus den 60er und 70er Jahren »nachholen«. Ein guter Indikator für das eigene Profil der deutschsprachigen Forschung ist die Gewichtung von quantitativen und qualitativen Ansätzen. International galt die Kriminalitätsgeschichte eher als Hochburg der zahlenbesessenen Kliometriker, obwohl hier zunehmend quellenkritische Anmerkungen zu hören sind (Schwerhoff 1991: 398). 12 Vgl. schon den Überblick bei P. Blickle (1988: 65ff. u. 78ff.) - Die enge Verflechtung von Protest- und Kriminalitätsforschung zeigt sich z.B. in den Fallstudien von R. Blickle (1990), die das zeitgenössische Ringen um die (Nicht-)Kriminalisierung einer Rebellion bayrischer Bauern rekonstruiert, oder von Rippmann (1998), in deren Analyse individuelle Gewaltkriminalität, kollektiver Protest und Stadt- Land-Konflikte eine gelungene Synthese eingehen; ebenso in den von Peters (1995, 1995a) gesammelten Beiträgen. 13 Vgl. als repräsentativen Einstieg in die neuere deutsche Forschung zur (mittelalterlichen) Inquisition die Beiträge in Segl (1993) sowie als neueste Monographien Müller (1996) und insbesondere Hanssler (1997), dessen kriminalitätsgeschichtliche Auswertung der Inquisitionsprotokolle wichtige neue Ergebnisse bringt. Ausgewählte Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht in Sachen Religion untersucht Ruthmann (1996). <?page no="27"?> Gerd Schwerhoff 28 Auch in der deutschsprachigen Forschung findet sich kaum eine größere Arbeit ohne Zahlenreihen, Statistiken und Graphiken. Trotzdem konnte hier eine neue kulturwissenschaftlich inspirierte Skepsis gegenüber statistischer Quellenanalyse fast nahtlos an die ältere Zurückhaltung gegenüber analytischen Verfahren anschließen (z.B. Schnabel- Schüle 1993: 150f., 1997: 20ff.); eine wirklich »euphorische« Phase der Quantifizierung existierte so gut wie gar nicht, sieht man von vereinzelten Stimmen ab (Schüßler 1996). Skepsis gegenüber dem Auszählen von Verhafteten, Delikten und Strafen speist sich nicht nur aus kulturgeschichtlichen Prinzipien; sie kann sich auch auf quellenkritische Einwände berufen. Die Problematik von historischen Kriminalstatistiken für das vorstatistische Zeitalter (vgl. Reinke 1990, 1991) kann am Beispiel zweier neuerer Studien verdeutlicht werden, die am Anfang und am Ende der besprochenen Zeitspanne angesiedelt sind. Martin Schüßler hat vor kurzem auf der Basis der edierten Nürnberger Achtbücher (Schultheiß 1960) die Kriminalität in der fränkischen Reichsstadt analysiert und in der rennomiertesten rechtshistorischen Zeitschrift deutscher Sprache publiziert (Schüßler 1991; vgl. ders. 1994; 1998). Seine »statistische Auswertung« krankt vor allem daran, daß er die normativen Grundlagen vernachlässigt und augenfällige Überlieferungslücken nicht berücksichtigt. Trotz der Tatsache, daß es sich bei den Quellen vornehmlich um Achterklärungen, Stadtverweise und Selbstverbannungen handelt, versucht er sie für die Berechnung von Hinrichtungszahlen, Tötungs- oder Körperverletzungsquoten heranzuziehen. Zudem stehen die vagen und impressionistischen Schlüsse, die er aus einem Vergleich der Nürnberger Werte mit europäischen Vergleichszahlen zieht, in scharfem Kontrast zur vorgeblichen Exaktheit der Quantifizierung. Nachdem Schüßler für Nürnberg eine Tötungsrate zwischen 20 und 65 Fällen pro 100.000 Einwohner ermittelt haben will, referiert er die europäischen Vergleichswerte, die zwischen 152 für Florenz in der Mitte und 8 für Paris am Ende des 14. Jahrhunderts liegen; seine Schlußfolgerung, Nürnberg erreiche in bezug auf die Tötungsrate einen für das 13. und 14. Jahrhundert typischen Mittelwert (Schüßler 1991: 124), spricht in ihrer Inhaltsleere für sich (vgl. für eine nähere Kritik Schwerhoff 1995c). Für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, lassen sich die Quantifizierungsprobleme beispielhaft an der Untersuchung von Bernd Plaum (1990) über die Kriminalität im Fürstentum Siegen aufzeigen. Auch er orientiert sich wie Schüssler an der englischen Forschung, für die in bezug auf das 18. Jahrhundert die Namen E.P. Thompson oder Douglas Hay stehen, und auch er setzt angesichts karger Quellenüberlieferung auf einen quantitativen Zugang. Die Grenzen seiner Untersuchung (aus der einzelne Ergebnisse sicher Bestand haben werden) liegen wie bei Schüssler im Umgang mit den Quellen; es wird ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dem ambitionierten sozialgeschichtlichen Exposé und den erhobenen Daten bzw. deren Aussagekraft deutlich. Plaum stützt sich auf ein sehr heterogenes Quellencorpus: die in den Dillenburger Intelligenzblättern veröffentlichten, allerdings nur lückenhaft überlieferten Justizkanzlei- Urteile (auch dort vorfindbare Nachrichten über »unaufgeklärte Diebstähle« zieht er heran); auf ein Verzeichnis der im Unterdirektorium gelagerten Akten, deren Reichweite unklar bleibt; Kriminalprotokolle und ergänzende Quellen für die Stadt Siegen; schließlich Konsistorialakten. Insgesamt ist die Quellenlage von einem Mangel an aussagekräftigen Daten für das gesamte Territorium gekennzeichnet, so daß sich der Schwerpunkt der Untersuchung auf die Stadt Siegen reduziert (Plaum 1990: 30). Jedoch wächst beim Lesen die Skepsis über die Validität der Tabellen: Das Dickicht der von verschiedenen Instanzen produzierten Quellengruppen erlaubt dem Leser keine <?page no="28"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 29 Überprüfung der oft ohnehin nicht besonders aussagekräftigen Zahlen. So wird die Zahl der Sittlichkeitsdelikte im Stadtgebiet Siegen im Zeitraum 1757 - 1809 einmal mit 397, ein anderes Mal für das Kirchspiel Siegen (nach Plaums Aussage mit dem Stadtgebiet weitgehend identisch) zwischen 1760 und 1809 mit 744 (Plaum 1990: 170, 224) angegeben. Deliktkategorien werden nicht immer konsistent gebildet; so ist der Hudefrevel mal unter die »sonstigen Delikte« gerechnet, mal unter die »Bereicherungskriminalität« (ebd. 170 u. 206). Diese Bereicherungskriminalität setzt sich vor allem aus kleineren Unterschlagungen oder Wirtschaftsvergehen zusammen; es finden sich gerade einmal sechs richtige Diebstähle. Ebenso skeptisch stimmt die Fehlanzeige bei den Totschlägen in den Tabellen, obwohl im Zusammenhang bei der Erörterung der Alkoholproblematik von einem solchen berichtet wird (ebd. 199f.). Derartig auffällige Lükken schreien geradezu nach einer Reflexion im Text, die nicht vorgenommen wird. Die Tabellen verkommen so zum Fetisch, zu einer gar nicht so glatten Oberfläche, unter der die interessanten Probleme verschwinden. Auf diese Weise lassen sich »quantifizierend« die Phänomene nachweisen, die man gerne finden möchte, etwa den - von zeitgenössischen Stimmen beschriebenen - Zusammenhang von Markttagen und Gewaltsamkeit, der allerdings erst nach längerem Herumbasteln am Zahlenmaterial einigermaßen plausibel gemacht wird. Aufgrund derart disparaten Materials wird sicherlich nicht die Zivilisationstheorie von Elias oder der »Wandel von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft« (ebd. 258) zu erhärten sein. Ebensowenig kann eine Effektivitätssteigerung der Justiz lediglich aufgrund institutioneller Reformen abgeleitet werden (ebd. 144). Quellenkritische Einwände wie die vorstehenden, sind nicht als Plädoyer für einen Verzicht auf Quantifizierung zu verstehen. Die Frage nach der Häufigkeit bestimmter Vergehen und Sanktionen bleibt eine zentrale Analysedimension und eine unabdingbare Voraussetzung für hermeneutische Interpretationen von Einzelfällen; immer ist es gut zu wissen, ob ein bestimmter Fall typisch ist oder eine Ausnahme darstellt. Außerdem sind Zahlen und Tabellen unabdingbare Voraussetzungen für den Vergleich über Zeit und Raum hinweg. Insofern birgt das eigene kulturgeschichtliche Profil der deutschsprachigen Kriminalitätsgeschichte durchaus die Gefahr eines Mangels an Vergleichbarkeit. Trotz lebhafter Produktion hat dieser Forschungszweig denn auch noch nicht viel Material zur internationalen Debatte über die Entwicklung der Totschlagsraten oder das Verhältnis zwischen Eigentums- und Gewaltkriminalität in der Langfristperspektive beizutragen. Viele der in diesem Kontext präsentierten Zahlenreihen haben sich inzwischen als »optische Täuschungen« herausgestellt. Die stärkste Gefährdung für den quantitativen Zugang bildet das leichtfertige Jonglieren mit Zahlen, deren Zustandekommen fragwürdig und nicht nachvollziehbar ist, und deren institutioneller Kontext nicht berücksichtigt wird. Es geht nicht an, die allfälligen Einleitungsbemerkungen über die Zuständigkeit und Kompetenz der jeweils aktenproduzierenden Instanz bei der Interpretation der Zahlen am Ende zu »vergessen«. Ein anderer Indikator für das kulturgeschichtliche Profil der historischen Kriminalitätsforschung ist die intensive Nutzung von Gerichtsakten als Zugang zu den Handlungsstrategien und zur Subjektivität der zeitgenössischen Akteure. 14 Idealtypisch 14 Erstaunlich konventionell und vom ›linguistic turn‹ unangekränkelt, so sei am Rande vermerkt, bleibt dagegen bisher die Auswertung spätmittelalterlicher Chroniken als Quellen zur Kriminalitätsgeschichte. Sie beschränkt sich weitgehend auf einen Extrakt des Faktischen und verzichtet auf eine genaue Analyse von Text und Darstellungsstrategie (vgl. Martin 1996; Heiduk 1997). <?page no="29"?> Gerd Schwerhoff 30 könnte man hier zwischen einem Modell »Davis« und einem Modell »Ginzburg« unterscheiden. Nathalie Davis ging bei ihren Untersuchungen zur spezifischen Darstellungslogik von Kriminalgeschichten in den französischen ›lettres de remission‹ von der Feststellung aus, daß derartige Quellen keine unmittelbaren Selbstzeugnisse der darin vorkommenden Menschen seien, sondern, wie der Titel ihres Buches von 1987 pointiert besagt, »Fiction in the archives«: Nur wer sein Gnadengesuch - natürlich mit professioneller Hilfe - »richtig« formulierte und seine eigene Rolle im vorausgegangenen Drama der Tat so stilisierte, wie die Obrigkeit es erwartete, durfte auf die königliche Gnade hoffen. Der Analyseansatz von Davis ist verallgemeinerungsfähig: Weil die vor Gericht stehenden Menschen oft allen Grund hatten, ihre genuinen Erfahrungen und Handlungen vor den Vertretern der Obrigkeit zu verbergen oder geschönt zu präsentieren, können historische Analysen über deren Darstellungsstrategien, die die Frage nach der historischen Wahrheit gleichsam einklammern, fruchtbar sein. Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen ist die Untersuchung der Verteidigungsstrategien von Kindsmörderinnen, wie sie Otto Ulbricht (1993) unternommen hat. Einen Schritt weiter geht Ulrike Gleixner (1994: 211), wenn sie die Konstruktion der Kategorie Geschlecht als einen Interaktionsprozeß zwischen dörflicher Lebenswelt und obrigkeitlichen Sittennormen beschreibt, der in den gerichtlichen Unzuchtsverfahren seinen konkreten Ort hatte. Das Gerichtsverfahren wird somit zur Produktionsstätte der Konstruktion sozialer Realität. Im Gegensatz dazu versuchen andere Arbeiten, gleichsam durch die Quellen hindurch, einen Zugang zur Lebens- und Alltagswelt der Menschen zu gewinnen, wie es Ginzburg mit seinem Müller Menocchio versucht hat. 15 So gewinnt Simon- Muscheid (1994) aus einer Kundschaft zu einem Basler Diebstahlsfall aus dem Jahr 1477 Erkenntnisse über verheiratete Dienstbotenpaare, die andernfalls nur schwer zu erlangen gewesen wären (vgl. auch Rippmann u.a. 1996). Für die Erschließung der Lebenswelt von Armen und Bettlern benutzen Ulbricht (1994) und Schindler (1992, 1994) ebenso wie Wettmann-Jungblut (1997b) zur Analyse der komplizierten Gefühlswelt einer Freiburger Familie Verhörprotokolle. Zu verweisen ist in diesem Kontext auch auf das Ziel von Rublacks großangelegter Studie (1998), im Medium der Gerichtsakten Erfahrungen und Handlungsoptionen von frühneuzeitlichen Frauen auszuleuchten. An den schwierigen Fragen nach Normalität oder Außergewöhnlichkeit, nach Täuschung oder Verschweigen muß sich die hermeneutische Kunst des jeweils Forschenden beweisen, sie lassen sich nicht generell diskutieren. Soweit aber scheint weitgehende Übereinstimmung zu herrschen: Trotz aller Vorbehalte stellen die Gerichtsakten und Kriminalquellen eine der reichhaltigsten Quellengruppen schlechthin für die Vormoderne dar, deren vielfältige Nutzungsmöglichkeit und Differenziertheit von wenigen anderen Überlieferungen übertroffen wird. Nicht ohne Grund spielen sie in der aktuellen Debatte um die »Ego-Dokumente« eine hervorragende Rolle. Das belegen die Beiträge von Wolfgang Behringer, Helga Schnabel-Schüle und Wilfried Schulze im einschlägigen Sammelband (Schulze 1996; vgl. ferner Schwerhoff 1993). Die Attraktivität von Kriminalquellen, so bleibt jedenfalls festzuhalten, erweitert den Kreis der potentiell interessierten Historiker enorm, und zwar durchaus über diejenigen hinaus, die ihr Arbeitsfeld mit der oben beschriebenen Definition hinreichend abgesteckt sehen. Der kleinste gemeinsame Nenner des angesprochenen kriminalitätsgeschichtlichen Arbeitskreises, 15 Pioniercharakter kommt hier den mikrohistorisch orientierten Aufsatzsammlungen von Sabean (1986) und Schindler (1992) zu. <?page no="30"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 31 so wurde schon früh formuliert, sei weniger die Beschäftigung mit Delinquenz und Sanktionierung, sondern die gemeinsame Quellenbasis. 4. Die Logik strafrechtlicher Sanktionen Startpunkt einer von älteren rechtsgeschichtlichen Pfaden abweichenden Kriminalitätsgeschichte war die Untersuchung der Strafpraxis und die Erkenntnis, daß diese Praxis nicht lediglich durch eine mechanische Anwendung von Gesetzesnormen gekennzeichnet war. Das ›Theater des Schreckens‹, das grausame Panoptikum vormoderner Leibes- und Lebensstrafen, von Richard van Dülmen 1985 (4. verbesserte Auflage 1995! ) noch einmal in Zusammenfassung der älteren Literatur im Überblick beschrieben, charakterisierte die Strafrechtspraxis nur unvollkommen und entpuppte sich bei näherem Hinsehen vielfach als Theaterdonner. Im Köln des 16. Jahrhunderts wurden von rund 2.000 vom Stadtrat inhaftierten Personen keine 13% vor das Hochgericht gestellt, von denen wiederum lediglich 25% mit dem Tode bestraft wurden. Allein die Zahl der Stadtverweise, mit der grob gerechnet jeder fünfte Verhaftete belegt wurde, übersteigt die der Leibes- und Lebensstrafen um ein Vielfaches (Schwerhoff 1991, Tab. A2). Trotz regional und zeitlich variierender Strafhärten kann dieser Befund einer äußerst selektiven Anwendung schwerer Strafen verallgemeinert werden. Die Kluft zwischen Norm und Praxis - prinzipiell sicherlich eine gesellschaftliche Universalie - war in der alteuropäischen Welt derartig tief, daß sich die Frage nach der Funktionslogik des Strafrechts stellt. Nach einer treffenden Formulierung der Soziologen Heinz Steinert und Hubert Treiber kann man diese Funktionslogik als »selektiven Sanktionsverzicht« kennzeichnen; dabei steht die überzogene Drohung mit der unnachgiebigen Anwendung härtester Strafen für eine Vielzahl von Delikten in einem komplementären Verhältnis zum weitgehenden tatsächlichen Verzicht auf ihre Umsetzung (Steinert/ Treiber 1978). Natürlich muß dabei in einigen exemplarischen Fällen die Drohung auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden, um sie nicht unglaubwürdig werden zu lassen. Prinzipiell hat die kriminalhistorische Diskussion zwei Zugänge zum Verständnis der Praxis des Sanktionsverzichtes entwickelt, die sich nicht widersprechen müssen. Einmal wird auf die strukturellen Defizite an »Staatlichkeit« hingewiesen, die eine auch nur halbwegs konsequente Umsetzung der Normen unmöglich gemacht hätten. Die Schwäche der Exekutivgewalt läßt sich an vielerlei Indikatoren ablesen. Schon die geringe Zahl und Professionalität der Polizeidiener, Büttel und Schergen machte eine Strafverfolgung im modernen Sinn unmöglich (Bendlage/ Schuster 1995). Auch die Staatsdiener in gehobenen Funktionen wie Richter, Schultheißen und Amtleute waren vielfältig in die informellen Strukturen der Gemeinde eingebunden. So sind diese »middle man« nicht einfach als disziplinierende Agenten der Obrigkeit zu verstehen, sondern vertraten vielfach andere Interessen (»klassisch« Sabean 1986: 23ff.; Frank 1995: 155ff.; Rublack 1997a; jetzt Hokamp 1998); auch bei der Strafverfolgung sahen sie oft ›durch die Finger‹ oder trafen ihre Entscheidungen mit Rücksicht auf die soziale Reputation der Angeklagten. Als Sand im Getriebe der Strafjustiz kann die mangelnde Koordination zwischen den Obrigkeiten eingeschätzt werden. Häufig brauchten Straftäter lediglich die Stadt- oder Territorialgrenze zu passieren, um sich dem Zugriff der öffentlichen Gewalten zu entziehen. Erst allmählich entwickelten sich Fahndungsmethoden und Formen überterritorialer Zusammenarbeit wie Steckbriefe oder gemeinsa- <?page no="31"?> Gerd Schwerhoff 32 me Streifen und Visitationen, die es Gesetzesbrechern schwerer machten, sich dem Netz der Repression zu entziehen (vgl. z.B. Nitschke 1988; Danker 1988; Nicklis 1992; Spicker-Beck 1995). Schließlich setzten auch die Finanzierung von Strafmaßnahmen sowie die Angst vor Unruhen unter dem Galgen aufwendigen Strafspektakeln enge Grenzen. Eine Erklärung allein aus den Defiziten an »Staatlichkeit« heraus wäre jedoch unzureichend, weil sie zu wenig die expliziten Intentionen und das Selbstverständnis der sanktionierenden Instanzen in Betracht zieht. 16 Regelmäßig gewährte die gnädige Obrigkeit - entweder bei der Festsetzung oder bei der nachträglichen Umwandlung eines Urteils - großzügige Strafnachlässe, die als integraler Bestandteil der zeitgenössischen Strafphilosophie nicht hoch genug veranschlagt werden können. Zum einen gehörte das Gnadegewähren zu den hervorragensten Rechten des Herrschers und dokumentierte so die Souveränität des Königs, Fürsten oder auch Stadtrates, mit seinen Entscheidungen im Einzelfall über die geschriebenen Normen hinwegzugehen; Gnade galt überdies als göttliche Tugend und christliches Grundprinzip. Zum anderen konnten ganz praktische Gründe für eine milde Behandlung von Gesetzesbrechern sprechen. Bis weit in die Frühe Neuzeit hinein war die Bewahrung des sozialen Friedens und möglichst die Reintegration von Gemeinschaftsmitgliedern das Ziel der Obrigkeiten, insbesondere der städtischen Räte (z.B. Plaum 1990: 157). Wo immer möglich sollten Gesetzesbrecher zwar mit massiver Drohung zur Unterwerfung unter den obrigkeitlichen Strafanspruch und zur Sühne ihrer Vergehen gezwungen werden, aber an weitergehender Ausgrenzung bestand kein Interesse. Interessant ist die soziale Logik, der die Gnadenerweise folgten. Meist waren ihnen Fürbitten von hochgestellten Persönlichkeiten, Ehepartnern, Verwandten, Berufskollegen oder Nachbarn vorausgegangen, die um Gnade baten und folglich für die Obrigkeit einen Indikator für die soziale Integration der Delinquenten darstellten. Je mehr derartiges soziales Kapital ein Angeklagter oder Verurteilter aufbieten konnte, desto größer waren seine Gnaden-Chancen. Rechtliche Sanktionierung in vormoderner Zeit war also keineswegs ein mechanisch vollzogener Akt, sondern das Ergebnis eines Interaktionsprozesses zwischen Gericht, Prozeßparteien und sozialer Umwelt, mehr ›aushandeln‹ als ›verhängen‹ (Rublack 1998: 87ff.). Nur auf den ersten Blick stehen die neuesten Forschungsergebnisse über die Konstanzer Justiz im 15. Jahrhundert zu den bisherigen Ausführungen im Widerspruch. In der Bodenseestadt kamen lediglich ca. 5% der Delinquenten in den Genuß einer Begnadigung (Schuster 1995: 137). Nicht nur, daß sich der Konstanzer Rat als Niedergerichtsinstanz in denjenigen Fällen, in denen eine geschriebene Norm existierte, bei der Strafzumessung fast sklavisch an diese Vorschriften hielt; überdies schaffte er es, mit einer Erfolgsquote von über 75% die verhängten Bußen auch einzutreiben (Schuster 1997: Kap. IV, Tab.1). Das System der Geldbußen, dessen Dominanz im Kanon aller Sanktionsmaßnahmen noch dadurch gesteigert wurde, daß regelmäßig auch kleinere Haft- und Verweisungsstrafen in Bußen umgewandelt wurden, erweist sich also in diesem Fall als erstaunlich effektiv. Diese Effektivität wurzelt ebenso in der äußerst sorgfältig gepflegten Schriftlichkeit wie in der Bereitschaft des Rates zum flexiblen Umgang mit 16 Vgl. für das Folgende aus rechtsgeschichtlicher Sicht Bauer (1996); Schuster (1995: 119ff.) bzw. Schuster (1997); zugespitzt für das spätmittelalterliche Köln die Kritik von Groten (1996: 308) am »Defizit-Ansatz«, die allerdings die Ausführungen von Schwerhoff (1991: 167ff.) nicht berücksichtigt. <?page no="32"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 33 den Bußzahlungen. Das »Abstottern« der Strafgelder auf Ratenbasis war ebenso üblich wie das Abarbeiten an der Stadtbefestigung oder im Wachdienst. Hatte ein Delinquent seine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllt, trat er in Nachverhandlungen mit dem Rat ein und erreichte in der Regel Aufschub oder günstigere Zahlungsmodalitäten. Der Rat ließ die Bußfälligen gewöhnlich »an der langen Leine laufen« (Schuster), ohne die Leine gänzlich aus der Hand zu legen. Das Aushandeln der Strafe verschob sich damit vor dem Konstanzer Niedergericht von der Ebene des Strafmaßes auf die Ebene der konkreten Strafmodalitäten; an den - gemessen an der Norm - entscheidenden Milderungen für den Delinquenten ändert dieser Befund prinzipiell nichts. Zwangsläufig muß eine Analyse der Sanktionslogik nach geahndeten Delikten und nach bestraften Delinquenten differenzieren. Anzuknüpfen ist hier an die inzwischen klassische Arbeit des Rechtshistorikers Gunter Gudian, der für das Spätmittelalter aufgrund von mittelrheinischen Quellen die Existenz eines »zweigleisigen« Strafrechts postuliert hat (1976: 282). Selbst Landgerichte wie das der Obergrafschaft Katzenelnbogen, die durchaus peinliche Strafen hätten verhängen können, hätten sich überwiegend mit mäßigen Geldbußen in einer zwischen den Akteuren ausgehandelten Höhe zufriedengegeben, und zwar durchaus auch bei Diebstählen und durchaus auch gegenüber Mehrfachtätern. Das betraf aber vornehmlich »eingesessene« Täter, während »Gewohnheitsverbrecher« mit besonders gefährlicher Gesinnung und fremde Vaganten mit der vollen Härte der Gesetze abgestraft worden seien. Gudians Erklärung, man habe die Einheimischen in Zeiten der Bevölkerungsknappheit schonen wollen, überzeugt ebensowenig wie sein Ausblick auf die Frühe Neuzeit, der ein Verschwinden der angesprochenen Zweigleisigkeit an der Wende zur Neuzeit aufgrund von demographischem Aufschwung und Rezeption des römischen Rechts postuliert. Sein grundlegender Befund scheint indessen verallgemeinerbarer zu sein, als er selbst angenommen hat. Wie ein Echo auf Gudian wirken zwei zentrale, wenige Jahre später erschienene Beiträge aus der angelsächsischen Welt, die ebenfalls die angesprochene Zweigleisigkeit konstatieren. In der von Durkheim beeinflußten Terminologie von Lenman und Parker (1980) liest sich das als Gegensatz zwischen einem punitiven, auf Abschreckung und Vergeltung ausgerichteten Strafziel, das dem »state law« des römischen Rechts zugrunde gelegen hätte, und einem restituiven, auf Entschädigung, Ausgleich und Befriedung orientierten Ziel, das sie im »community law« des germanischen Rechts zum Tragen kommen sehen. Die Ablösung des zweiteren durch das erstere sei ein säkularer, bis in die Neuzeit hineinreichender Prozeß gewesen, der lange von einer faktischen, sich wandelnden Koexistenz beider Systeme gekennzeichnet gewesen sei. Mehr noch als die beiden Engländer betont Soman (1980: 16f.), wie groß das Aushandlungspotential der Akteure unter dem repressiven Mantel des neuzeitlichen Inquisitionsprozesses gewesen sei; mit den französischen Notariatsakten vor Augen charakterisiert er das 16. und 17. Jahrhundert geradezu als ein goldenes Zeitalter der Komposition. Im wesentlichen können die neueren deutschsprachigen Forschungen den Befund eines doppelgesichtigen Strafrechts bestätigen, bei dem martialische Repression und pragmatischer Ausgleich sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen verbinden. Peinlich gestraft wurde in der Regel ein Kern von »harten« Kriminaldelikten wie Mord, Kindsmord, Raub oder Diebstahl; dreiviertel aller Todesurteile in Köln zwischen 1568 und 1617 wurden gegen Diebe und Räuber ausgesprochen (Schwerhoff 1991, 324f.). Die Ausübung von Gewalt dagegen war - wir werden noch darauf zurückkommen - nicht zwangsläufig ausgrenzend und sozial stigmatisierend. Mindestens ebenso wichtig wie <?page no="33"?> Gerd Schwerhoff 34 das Delikt war die Person des Delinquenten. Nicht selten konnten einheimische Diebe und Räuber auf relative Milde hoffen. Gelang es ihnen, genügend ›soziales Kapital‹ zu mobilisieren, z.B. in Form von Fürsprechern, dann konnte eine schwere Strafe nach den Buchstaben des Gesetzes abgewendet werden. Nur vor dem Hintergrund der relativ »milden« Sanktionspraxis vieler Gerichte sind im übrigen Befunde über die soziale Rekrutierung der Delinquenten richtig einzuordnen. Übereinstimmend konstatieren etliche Studien, daß sich keineswegs nur Angehörige von Unterschichten und Randgruppen vor den Schranken der Gerichte rechtfertigen mußten. Für das Spätmittelalter haben eine Reihe von Untersuchungen sogar eine gewisse Überrepresentanz der Oberschichten nachgewiesen. In Zürich waren, nimmt man lediglich die als Steuerzahler greifbaren Delinquenten, die »vermögenderen Gruppen vor Gericht übervertreten« (Burghartz 1990: 103). Und für Konstanz hat Peter Schuster ausgerechnet die Richter - allerdings nicht während ihrer Amtszeit - als eine Gruppe mit hoher Delinquenz dingfest gemacht (vgl. seinen Beitrag für den vorliegenden Band; ferner Demandt 1972: 32). Derlei Beobachtungen beschränken sich nicht auf spätmittelalterliche Städte; auch auf dem Land, sei es in Bern, sei es in Lippe, dominierte keineswegs die Unterschicht, sondern eher die dörfliche Elite unter den Delinquenten (Frank 1995: 237; Schmidt 1995: 335). Ihr hohes Sozialkapital schützte diese Gruppen bis zu einem gewissen Grad vor Ausgrenzung und harten Strafen. Je nach Provenienz der Quellen wird in ihnen die angesprochene Zweigleisigkeit natürlich nur unvollkommen sichtbar - eine Tatsache, die nicht immer angemessen berücksichtigt wird. Die Ergebnisse von Burghartz (1989) zur Konfliktregelung qua Bußzahlung vor dem Zürcher Ratsgericht im 14. Jahrhundert sind insofern zu relativieren, als daneben noch die - quellenmäßig nicht dokumentierte - Blutgerichtsbarkeit des Reichsvogtes existierte. Umgekehrt reflektiert Monika Spicker-Beck (1995) bei ihrer Untersuchung über Kriminalität im 16. Jahrhundert zuwenig die Selektivität ihres Samples von ausgewählten »Mordbrenner-Akten«, so daß sie die Grausamkeit der damaligen Strafjustiz einseitig dramatisiert. Es trifft sich gut, wenn in einer Quelle die beiden Stränge des Strafrechts nebeneinander sichtbar werden, wie es beim Augsburger Achtbuch aus dem 14. Jahrhundert der Fall ist (Schneider-Ferber 1993). Scharf tritt hier nicht nur der prozessuale Unterschied zwischen den auf Betreiben eines Klägers vom Vogtgericht ausgesprochenen Ächtungen und den arbiträren (aus obrigkeitlicher Machtvollkommenheit ausgesprochenen) Stadtverweisen des Rates zutage. Auch das Profil von Delikten und Beteiligten unterscheidet sich in diesen beiden Sphären klar voneinander: hier die fast völlige Dominanz von Gewaltvergehen wie Tötungen oder Verwundungen, Delikte, bei denen die Männer als Täter wie als Opfer fast ganz unter sich sind; dort die Vorherrschaft von Diebstählen, Widersetzlichkeiten und nicht näher bezeichneten »Bosheiten«, wobei sich unter den Verwiesenen ein nennenswerter Anteil von Frauen befindet. Wo die Ächtungen tatsächlich vorwiegend auf eine bestimmte Form von Konfliktverhalten verweisen, spiegelt sich in den Stadtverweisen eher das strafende und disziplinierende Bemühen des Rates. 5. Delinquenz, soziale Kontrolle und Justiznutzung Schon die bisherige Diskussion hat die Fragwürdigkeit einer eher etatistischen Sichtweise deutlich gemacht. Überlegungen zur Mittlerfunktion von Richtern und Amtsträ- <?page no="34"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 35 gern oder zur Bedeutung des Sozialkapitals der Angeklagten verweisen auf die vielfältige gesellschaftliche Determinierung obrigkeitlichen Strafhandelns. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit führen die Forschungen und Debatten einer historischen Kriminalitätsforschung, zumal einer solchen mit stark kulturgeschichtlichem Profil, zu der Erkenntnis, daß eine Analyse des Strafrechts in die Betrachtung der gesamten Bandbreite der Mechanismen sozialer Kontrolle eingebettet werden muß. Die Bedeutung der Gerichte wird durch eine solche Sichtweise stark relativiert. Die starre Frontstellung zwischen sanktionierender Obrigkeit einerseits, den Untertanen als Objekten dieser Bestrafung andererseits, scheint tendenziell aufgelöst. »Macht« ist nicht mehr absolut auf Seiten des entstehenden Staates, sondern etwas, was alle Akteure, Richter ebensogut wie Kläger und Beklagte - freilich in sehr ungleichem Maße! - nutzen können (Dinges 1992). Anders gesagt: Soziale Kontrolle wird nicht allein als ein hierarchisch von »oben« nach »unten« verlaufender Vorgang verstanden, sondern als wechselseitiger, vielfach verschränkter Versuch der Durchsetzung eigener Werthaltungen und Interessen. 17 In mehrfacher Hinsicht führte diese Perspektivenänderung zu einer Verschiebung von Interessenschwerpunkten. Zunächst kam es zu einer relativen Aufwertung der Kleinkriminalität und der leichteren Formen gesellschaftlicher Devianz gegenüber den klassischen Formen von Schwerkriminalität. Das Feld der petite délinquence (petty crimes) spiegelt in hohem Maß Alltagssituationen und -auseinandersetzungen wider und stellt eine hervorragende Arena für das gesellschaftliche Konfliktmanagement dar. In der Tat: »Kleine Delikte bieten große Möglichkeiten« (Ulbricht 1995: 139). Zwangsläufig rücken damit die Quellen der Niedergerichte in den Vordergrund, die »näher« am gesellschaftlichen Geschehen angesiedelt und für die Beeinflussung durch die städtischen und insbesondere ländlichen Untertanen offener waren, die z.T. noch aktiv an diesen Gerichten partizipierten. So wurden die Berner Chorrichter zwar von der Obrigkeit eingesetzt, ihre Auswahl erfolgte aber »aus der Gemeinde und durch die Gemeinde« (Schmidt 1995: 50). Im Medium der patrimonialen Niedergerichte hat z.B. auch das Image der »ostelbischen Gutsherrschaft« als monolithisches System der Repression einige gehörige Kratzer bekommen. 18 Mit der Zuwendung zur niederen Gerichtsbarkeit hat sich weiterhin der Beobachtungsraum kriminalhistorischer Studien sehr ausgeweitet. Vor- und außergerichtlichen Formen der Konfliktregulierung und ihrer Verknüpfung mit dem gerichtlichen Austrag von Streitigkeiten werden sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als zuvor (Helm 1987; Winkelbauer 1992; Krug-Richter 1997; Schedensack 1997; von rechtsgeschichtlicher Seite jetzt Lück 1997). Gütliche Regelungen konnten die Parteien zunächst selbst ohne die Intervention von Unbeteiligten anstreben. Meist bedienten sie sich jedoch der Beratung, Vermittlung oder Schlichtung von dritten Personen. Diese konnten sich wiederum aus der gemeinsamen Nachbarschaft oder Zunft rekrutieren oder als Amtsper- 17 Das Konzept der »sozialen Kontrolle« (Bergalli/ Summner 1997) erscheint mir deshalb angemessener als der Vorschlag von Helga Schnabel-Schüle (1993: 168, 1997: 167), die hier diskutierten Phänomene als »horizontale Disziplinierung« zu fassen. 18 Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Jan Peters, die einige Ergebnisse seiner Potsdamer Arbeitsgruppe dokumentieren, etwa die Aufsätze von Ulrike Gleixner und Monika Mommertz; ferner Schattkowsky (1993) und Peters (1995b). - Lediglich angemerkt sei an dieser Stelle, daß die angesprochene Erweiterung und Umorientierung einer Kriminalitätsgeschichte in Richtung einer Konfliktgeschichte zu einer bisher noch kaum praktizierten Einbeziehung zivilgerichtlicher Quellen führen müßte; vgl. für eine quantitative Längsschnittuntersuchung in diese Richtung Kottmann (1990, 1998). <?page no="35"?> Gerd Schwerhoff 36 son eine gleichsam institutionalisierte Autorität besitzen. Die formelle Gerichtsklage war in der Mehrzahl der Fälle lediglich der vorläufig letzte Akt in einem Konfliktszenarium mit längerer Vorgeschichte. Auch die Gerichte orientierten sich ja meist, wie bereits angedeutet, am Ideal der Streitschlichtung und Wiederherstellung des Friedens. Wenn österreichische Weistümer im 16. und 17. Jahrhundert ›heimliche Vergleiche‹ der Untertanen verbieten und die Mitwirkung der herrschaftlichen Gerichte zur Pflicht machen, so wird damit - gravierend genug - die autonome Kompetenz der Dorfgemeinschaften zur Regulierung von Konflikten angegriffen, nicht jedoch die Praxis des gütlichen Vertragens (Winkelbauer 1992: 134ff.); der Erfolg dieser Bestimmungen ist fraglich. Auch den Chorgerichten in der Berner Landschaft ist es zentral um die Versöhnung und die Wiederherstellung guter Freundschaft zwischen den Kontrahenten zu tun (Schmidt 1995: 327f.). Überhaupt ist die Unterscheidung zwischen außergerichtlichen, vorgerichtlichen und gerichtlichen Konfliktregelungen lediglich idealtypisch zu verstehen. In Bewußtsein und Handeln der Akteure handelt es sich dabei nicht um klar hierarchisierte und zeitlich hintereinander geschaltete Phänomene, sondern um ein Ensemble von Optionen, deren man sich je nach situativem Kontext abwechselnd bediente. Wenn ein Geschädigter, so z.B. ein Befund aus der sauerländischen Gerichtsherrschaft Canstein in Westfalen am Anfang des 18. Jahrhunderts, Zeugen zur Besichtigung eines Schadens suchte, so konnten diese Personen zwar potentiell vor Gericht eine Klage stützen helfen; ebensogut konnten sie aber zunächst als informelle Vermittler dienen. »Informell« bedeutet in diesem Fall, daß die Vermittlung nicht über obrigkeitliche Institutionen lief, nicht aber, daß es keine formalisierten Handlungsabläufe der Konfliktregulierung gegeben hätte. Im Gegenteil: Zentral war dabei die sog. »Beschickung«, die »Inszenierung eines ritualisierten Frage- und Antwortspiels über Mittelspersonen« (Krug-Richter 1997: 221). Es wäre ein Mißverständnis, der Nahtstelle zwischen dem Reden und Handeln in der sozialen Gemeinschaft und dem Gericht lediglich bei Niedergerichten eine zentrale Bedeutung zuzumessen. 19 Ulinka Rublacks Studie über Frauen vor württembergischen Gerichten stützt sich vor allem auf Strafakten, Urfehde- und Urgichtbücher und nimmt somit durchaus auch die gängigen Formen von Kriminalität in den Blick. Sie zeigt die zentrale Rolle des »Geredes« auf, das gleichsam den öffentlichen Diskurs über abweichendes Verhaltens konstituiert. Argwohn und Verdacht gegenüber vermutetem Diebstahl, Ehebruch oder Kindsmord wurden in diesem Gerede deutlich, aber doch lange auch vorsichtig und indirekt formuliert; es folgte somit strengen Regeln und war weit von unkontrolliertem »Geschwätz« entfernt. Erst wenn deutliche Beweise für eine Tat vorlagen, die von der Gemeinschaft eindeutig moralisch verurteilt wurde, »wandelte sich das Gerede zum »Geschrei«, das die Obrigkeit nun nicht überhören konnte oder sollte.« »Anzeige und Verurteilung stellten also nicht den Horizont des Geredes dar. Überhaupt war der Gang vor Gericht in bezug auf die meisten Delikte nicht der erste, sondern der letzte Gedanke von Opfern und Zeugen« (Rublack 1998: 33f.). Schließlich gab es etliche alternative Handlungsoptionen. Dieben nahm man das Diebesgut ab und prügelte sie kräftig durch, Ehebrecher wurden durch Schandlieder und Katzenmusiken an den unsichtbaren Pranger der Gemeindeöffentlichkeit gestellt. Gegen das Einschal- 19 Eine detaillierte Studie über die Interaktion zwischen dörflicher Öffentlichkeit und Justiz findet sich auch bei Gleixner (1994: 176ff.) <?page no="36"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 37 ten der Gerichte sprachen eine Reihe von Gründen: Eine Klage war riskant, unter Umständen teuer und versprach oft wenig Erfolg, weil die Beweislage schwierig und der Täter vielleicht schon über alle Berge war. Die Denunziation von Ordnungsdelikten wie Spielen, Tanzen, Fluchen oder Unsittlichkeit konnte leicht zu dem Vorwurf führen, ein »Verräter« zu sein (ebd. 44). Der hier in verschiedenen Facetten beschriebene Perspektivenwechsel kristallisiert sich wohl am treffendsten im Begriff der »Justiznutzung«, den Martin Dinges in die Debatte eingebracht hat (Dinges 1992, 1993; Rappe 1996). Die Gerichte erscheinen in dieser Perspektive als institutionelle Angebote, die den Untertanen zum Austrag von Streitigkeiten zur Verfügung stehen; von diesen Angeboten machen die Akteure mehr oder weniger Gebrauch; die Nutzung geschieht in Kombination oder im Wechsel mit anderen, nicht-institutionellen Angeboten des Konfliktaustrages. Auch hier existiert keine saubere Hierarchie von Nutzungen, wie Dinges aufgrund seines Pariser Materials beobachtete. In den Wortgefechten auf der Straße konnte der Polizeikommissar als Drohpotential zur Einschüchterung des Gegners benutzt werden, aber ebensogut als Medium zur demonstrativen Zurschaustellung von Furchtlosigkeit vor den Vertretern der Obrigkeit. Insgesamt relativiert dieser Ansatz deutlich das traditionelle Bild der Gerichte als repressiver Disziplinierungsagenturen, ohne einen deutlichen Vorsprung der Obrigkeit vor ihren Untertanen bei der Appropriation von Macht-Chancen leugnen zu wollen. Nur aus den Chancen und Handlungsoptionen, die die Justiz bereitstellte, erklärt sich der langfristige Erfolg des säkularen Verrechtlichungsprozesses ebenso wie die häufiger konstatierte generelle Akzeptanz der Justiz bei der Bevölkerung (Behringer 1990: 122; überzogen Wegert 1994, 83ff.). Im übrigen läßt sich trotz dieser Akzeptanz auf einzelnen Feldern - natürlich beim sozialen Protest, beim Totschlag oder beim Kindsmord (Rublack 1998: 269f.) - durchaus ein gravierender Normendissenz zwischen Obrigkeit und Untertanen feststellen. 6. Die Gewalt der Etablierten und die Subkultur der Außenseiter Nähert man sich dem Phänomen der Kriminalität von der Seite des rechtlich sanktionierten Verhaltens her, so sind es vor allem zwei große Deliktfelder, die die Aufmerksamkeit der kriminalhistorischen Forschung auf sich ziehen: einmal die affektive Gewalt, zum anderen die z.T. »professionell« betriebene Raub- und Diebstahlsdelinquenz. Die beiden Felder repräsentieren grosso modo die angesprochenen zwei »Gleise« des Strafrechts, insofern die Gewaltdelikte vornehmlich als zeitgenössische Form des Konfliktaustrages zu verstehen sind, die keineswegs konsequente Kriminalisierung durch die Gerichte zur Folge hatte, während bei der Bekämpfung von Raub- und Diebstahlsdelinquenz eher die repressive Seite des Strafrechtes sichtbar wird. Der Terminus ›Gewaltdelikte‹ bedarf dabei einer näheren Qualifizierung, denn physische Gewalt war selbstverständlich auch bei Mord, Raub oder Brandschatzung, bei sexueller Vergewaltigung oder bei Kindestötung im Spiel. 20 Analog zur Kategorisierung der internationalen Forschung werden unter dem Etikett ›Gewaltdelinquenz‹ die affektiv motivierten, nicht instrumentellen Formen der Gewaltausübung diskutiert. Das Spektrum reicht da- 20 Eine vormoderne »Sonderform« kriminalisierter Gewalt war überdies der Selbstmord (Signori 1994; Lind 1998). <?page no="37"?> Gerd Schwerhoff 38 bei vom Totschlag über die mehr oder minder schweren Formen der Körperverletzung mit oder ohne ›Blutrunst‹ (vgl. Boockmann 1987) bis hin zur »Vergewaltigung« durch Worte, die von den Zeitgenossen durchaus als gleichgewichtig zur physischen Verletzung verstanden wurde. Je nach Untersuchungsgebiet und -zeit steht das so definierte Feld der Gewaltdelinquenz zahlenmäßig an der Spitze der meisten spätmittelalterlichen und vieler frühneuzeitlicher Kriminalstatistiken. 21 Die Forschungen zur Gewaltkriminalität sind inzwischen außerordentlich reichhaltig; sie betonen den ritualisierten Charakter der Gewalt und ihre Verwurzelung im Motiv der Verteidigung der eigenen Ehre. 22 Von daher schließt auch der Bereich der verbalen Gewalt, der Injurien, phänomenologisch eng an dieses Deliktfeld an. Hier hatte die ›rechtliche Volkskunde‹ bereits früh einige Spezialstudien vorgelegt (Kramer 1984; vgl. aber schon Lorenzen-Schmidt 1978). Historiker haben danach - angefangen mit den wegweisenden Arbeiten von Martin Dinges (1991, 1994) - unser Verständnis von der Kunst der Beleidigung und der Bedeutung bestimmter Schimpfwörter vertieft (vgl. Toch 1993; Walz 1996; Fuchs 1997, 1998; Neumann 1997). Injurien konnten eine verhängnisvolle Spirale in Gang setzen, eine Eskalation der Gewalt, deren einzelne Etappen unterschiedlich intensiv untersucht sind. Drohung mit Gewalt beinhalten z.B. das stereotype Herausfordern aus dem Haus (Müller-Wirthmann 1983) oder das Messerzücken, in der spätmittelalterlichen Stadt ein oft gestrafter Bruch des Friedens sui generis (Schuster 1995). Am Ende dieser Spirale stand nicht selten die Tötung des Kontrahenten. Sozial und topographisch hatten derlei Delikte ihren Platz im Herzen der Gesellschaft des Ancien Régime. Die Beteiligten waren sicher überdurchschnittlich oft junge Männer, gerade Studenten oder Gesellen; die Beteiligung auch höchster Repräsentanten städtischer Politik zeigt aber, daß die Gewalt hier keineswegs als exklusives Verhaltensmodell der Armen und Deklassierten verstanden werden darf (Häberlein 1998). Die Orte der Gewalt waren zugleich Zentren des gesellschaftlichen Lebens: Plätze und Märkte, Wirtshäuser und Zunftstuben (Schwerhoff 1991: 247ff.). Aber hat nicht die Verfassungsgeschichte die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt als ein Gemeinwesen beschrieben, zu dessen Grundwerten der innerstädtische Friede gehörte und das diesen Frieden durch Sanktionsandrohungen schützte? Susanna Burghartz hat am Beispiel der Stadt Zürich den satzungsmäßigen Anspruch des Stadtfriedens und die Realität alltäglicher Gewaltausübung gleichsam zu versöhnen gesucht (Burghartz 1989: 398ff.). Der gesatzten städtischen Friedensordnung habe eine zwar informelle, aber ebenso anerkannte Norm gegenübergestanden, nach der christliche Männer befugt waren, ihre Ehre im Bedarfsfall auch mit Gewalt zu verteidigen. Das Stadtgericht fungierte in diesem Fall als mögliche Schlichtungs- und Versöhnungsinstanz zwischen den Parteien, die Bußzahlung an die Stadt erscheint als Ausgleichshand- 21 Natürlich überdecken derartige Generalisierungen das sehr große Zahlenspektrum, das etwa von 55% (Gewalt und Beleidigung) im Zürich des 14. Jahrhunderts (Burghartz 1989: 395), über 28% (Vergehen gegen die Person) im Köln des 16. Jahrhunderts (Schwerhoff 1991: 447) und 22,2% (Gewalt und Ehre) im lippischen Dorf Heiden im 18. Jahrhundert (Frank 1995: 241), bis zu 18% (Gewaltdelikte) im Kurbayern des 18. Jahrhunderts (Behringer 1990: 110) reichen konnte; vgl. für den europäischen Kontext die nützliche Übersicht von Blastenbrei (1995: 283). 22 Neben den entsprechenden Kapiteln in den einschlägigen Fallstudien sind als Spezialuntersuchungen zu nennen Müller-Wirthmann (1983); Simon-Muscheid (1991); Walz (1992); Rummel (1993); Schuster (1995); Frank (1995); Groebner (1995, 1995a); de Waardt (1995); Rath (1996); Kolmer (1997); Ulbricht (1997); Eibach (1997, 1998); Häberlein (1998). <?page no="38"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 39 lung, mit der eine Balance zwischen individuellem Ehrcodex und öffentlicher Ordnung wiederhergestellt wurde (Burghartz 1990: 200). Gerichtliches Handeln zielte hier also nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Reintegration der Täter in die städtische Gemeinschaft, ein Ergebnis, daß sich cum grano salis auf viele andere Untersuchungsorte übertragen läßt. Das deutlichste und zugleich extremste Beispiel für die Geltung dieses Modells ist die Hartnäckigkeit, mit der viele Menschen bis weit in die Frühe Neuzeit hinein an der Totschlagsühne festhielten, obwohl diese nach dem gemeinen Strafrecht längst durch peinliche Strafen abgelöst worden war (z.B. Lück 1997: 248f.). Natürlich verweist die letzte Bemerkung darauf, daß auch die Gewalt eine Geschichte hat, und sich die rechtliche und soziale Einstellung ihr gegenüber verändert. Der langfristig erfolgreiche Versuch, die Komposition des Totschlages (dazu jetzt mit neuer Interpretation Battenberg 1998) durch härtere Strafen zu ersetzen, ist Teil einer verstärkten rechtlichen Ächtung der Gewalt im Verlauf der Frühen Neuzeit. 23 Vor allem Arbeiten aus dem englischen und niederländischen Raum haben ein Sinken der Totschlagzahlen im Verlauf der Frühen Neuzeit nachweisen wollen. Insbesondere Pieter Spierenburg sieht hierin einen starken Beleg für die Wirksamkeit eines Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias; der Rückgang der Gewaltkriminalität erkläre sich, so der niederländische Historiker, durch eine Zunahme der Affektkontrolle des modernen Menschen. Die internationale Forschung scheint ihm darin zu folgen. 24 Die deutsche Forschung ist hier zurückhaltender, teilweise aufgrund der Tatsache, daß sie mit ihrem fragmentierten Quellenmaterial weniger lange Reihen von Totschlagraten rekonstruieren kann, teilweise aufgrund ihres kulturwissenschaftlichen Profils. Wer »Gewalt« nicht als einen Mangel an Triebkontrolle versteht, sondern als Ausdruck eines alternativen sozialen Codes der Ehre (Burghartz 1989: 406), wird auch einen möglichen Rückgang an Gewaltdelikten nicht einfach als Dämpfung der Affekte deuten können. Darüber hinaus wächst die Skepsis gegenüber der historischen Aussagekraft der Zivilisationstheorie (vgl. Schwerhoff 1998: vor allem 581ff.; Dinges 1998a). Hinter den bisher diskutierten Problemen ist die Beschäftigung der Forschung mit dem ›klassischen‹ Kernbereich der Kriminalität, der Raub- und Eigentumsdelinquenz zwar ein wenig zurückgetreten; eine Reihe neuerer Arbeiten zeugen aber von lebendiger wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit einem Thema, das die Phantasie von Zeitgenossen wie Nachgeborenen ausgiebig beschäftigt hat. 25 Einen hervorragenden Einstieg in das Thema vermittelt ein Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums (Siebenmorgen 1995); neben wichtigen systematischen Analysen des historischen Phänomens ›Räuberbande‹ und seiner Rezeptionsgeschichte finden sich hier Regionalstudien über einzelne süddeutsche Banditen und Banden. Jenseits von Romantisierung und Verteufelung entsteht so ein farbiges Bild vom Leben eines Hannikel (†1787) oder eines Johannes Bückler, gen. Schinderhannes (†1803), der schon von den Zeitgenossen als Prototyp des gewalttätigen, aber von sozialem Engagement nicht freien Räuberhauptmanns imaginiert wurde, und der dieses Bild zeitweilig zu instrumentalisieren 23 Zur Veränderung der Balance zwischen männlichem Ehrcode und städtischem Frieden in Zürich im 15. und 16. Jahrhundert jetzt Pohl (1999). 24 Einer der letzten Aufsätze von Spierenburg (1996) befindet sich in einem Sammelband mit dem programmatischen Titel »The Civilization of Crime«, dessen Herausgeber in der Einleitung emphatisch die Elias-Perspektive akzentuieren (Johnson/ Monkhonen 1996: 4). 25 Neben den im Text genannten Arbeiten ist hier vor allem zu verweisen auf Schubert (1983); Kappl (1984); Finzsch (1990); sowie die Aufsätze von Esch (1987) und Mandl-Neumann (1988). <?page no="39"?> Gerd Schwerhoff 40 verstand; umgekehrt wurde Georg Philipp Lang, gen. Hölzerlips (†1812), von der Obrigkeit aus dem Bedürfnis heraus, einen Rädelsführer vorweisen zu wollen, zum Hauptmann der sog. Odenwaldbande stilisiert. Die neuere Räuberforschung in Deutschland setzte mit der Monographie von Carsten Küther 1976 ein, deren Fluchtpunkt letztlich auch eine romantische Fiktion war: Er suchte im Anschluß an Eric Hobsbawms These von den »Sozialrebellen« das Tun der deutschen Räuberbanden als primitive Form des sozialen Protestes zu deuten (Küther 1976: 145f.). Uwe Danker hat diese These einer eingehenden Kritik unterworfen und sie als unhaltbar erwiesen, mochten auch Hannikel oder Schinderhannes durch Überfälle auf Landjuden bisweilen populäre antijüdische Ressentiments für sich mobilisieren können. Mit den angeblichen Sympathien der Bevölkerung war es nicht weit her, ebensowenig nahmen die Räuber auf ärmere Leute erkennbar mehr Rücksicht als auf Reiche (Danker 1988: 331ff.). Insofern erscheint Küthers These von einer ›Gegengesellschaft der Landstraße‹ problematisch und überzogen. Schon der Terminus ›Bande‹ suggeriert eine festgefügte Organisationsstruktur, die dem Räuberwesen des Ancien Régime nach übereinstimmender Auskunft aller neuerer Studien abgeht; vielmehr handelte es sich um locker gewebte soziale Beziehungsnetze, die einen harten Kern von allenfalls wenigen Männern aufwiesen; diese fanden sich situativ jeweils neu und in anderer Zusammensetzung zu bestimmten Vorhaben zusammen (vgl. zuletzt Spicker-Beck 1995: 165ff.). Meist war der Aktionsradius regional begrenzt (Blauert 1995: 60). Wenn schon nicht von einer regelrechten Gegengesellschaft, so wird man doch von einer ›kriminellen Subkultur‹ sprechen können, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter im Spiegel von Kriminalakten und verwandten Quellen nachweisen läßt. 26 Auf Professionalität deuten die Tricks der Gauner hin, von denen der bekannte Liber Vagatorum (um 1510) berichtet (Jütte 1988) und die sich auch in Geständnissen gefaßter Betrüger finden: präparierte Würfel und gezinkte Karten, falsche Reliquien und vorgetäuschte Krankheiten oder Jenseitsvisionen. Den Umgang mit derlei Hilfsmitteln und die glaubwürdige Präsentation von Lügengeschichten wurde als eine eigene »Kunst« durch Sozialisation im subkulturellen Mileu weitergegeben (Schwerhoff 1994: 18). Robert Jütte (1987; 1988a) hat nicht nur die Tricks der Falschspieler als Anfänge des professionellen Gaunertums an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit beschrieben; darüber hinaus hat er sich mit dem »Rotwelsch«, der Sondersprache des »kochemen« Milieus, beschäftigt, die die Welt in gruppenspezifischer Weise erfasse (Jütte 1988: 125). Davon zu unterscheiden sind untereinander verabredete symbolische Erkennungszeichen von Gruppenmitgliedern oder auch an Objekten angebrachte Kommunikationszeichen (»Zinken«), mit denen Informationen z.B. über bestimmte Häuser und ihre Bewohner ausgetauscht wurden (Spicker-Beck 1995: 100ff.). Individuelle Eigenheiten, jedoch keine eindeutige Gruppenbindung, läßt das - aus Steckbriefen und Gaunerlisten rekonstruierbare - Kleidungsverhalten von Räubern und Vaganten erkennen, (Seidenspinner 1995b) - schließlich versuchten sie sich häufig unauffällig in der Welt der Etablierten zu bewegen und zu behaupten. 26 Natürlich treffen diese Bemerkungen nicht auf alle Täter der Sparte »Eigentums- und Raubkriminalität« zu (zur Typologisierung Wettmann-Jungblut 1990: 154ff.). Ausdrücklich beiseite bleiben müssen hier Diebstähle von Gemeinschaftsmitgliedern (etwa der für das 19. Jahrhundert vieldiskutierte Holzdiebstahl) oder der neuerdings besser untersuchte Gesindediebstahl (Ulbricht 1995a; Rublack 1998: 144ff.); zur generellen Einordnung Dürr (1995). <?page no="40"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 41 Ein hier nur kurz anzusprechendes Sonderproblem im Zusammenhang mit der Raubkriminalität stellen die sog. ›Raubritter‹ - der Terminus ist nicht zeitgenössisch - an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit dar (vgl. U. Andermann 1991; K. Andermann 1997). In den Bestimmungen des ewigen Landfriedens von 1495 fand die von Kirche, Städten und Reich vorangetriebene Kriminalisierung ritterlicher Selbsthilfe und Fehdeführung ihren normativen Abschluß: War vormals unter bestimmten Bedingungen Raub, Mord und Brand als legitimer Fehdebestandteil gesehen worden, so galten diese Dinge nun als üble Verbrechen. In der Praxis beharrten viele Edle allerdings noch mehrere Generationen auf der Legitimität adliger Selbstgewalt, und auch die Sanktionierung durch die Justiz erscheint höchst selektiv. Gewissermaßen als Kümmerform oder Perversion ritterlicher Fehdeführung erscheinen die Aktivitäten der Mordbrenner-Rotten, die im 16. Jahrhundert Deutschland unsicher machten und Angstphantasien nährten. Nach dem Befund südwestdeutscher Kriminalakten waren es vor allem Angehörige nichtseßhafter Unterschichten, insbesondere »gartende«, also herumziehende Landsknechte, die oft im politischen Auftrag mordeten, raubten und brandstifteten, und die dafür grausam gefoltert und gerädert wurden (Spicker-Beck 1995: 114ff.). Der Umgang von Justiz und Obrigkeit mit dem harten Kern von Delinquenz war von dem Bestreben nachhaltiger und konsequenter Repression getragen; es wurde bereits erwähnt, daß es sich beim Löwenanteil der peinlich Gestraften um Räuber und Diebe handelte. Das bedeutet freilich nicht, daß die Mehrzahl aller Räuber und Diebe auf dem Schaffott endete, denn die »Effektivität« der vormodernen Justiz wird auch und gerade auf diesem Gebiet eher skeptisch eingeschätzt (Küther 1984; vgl. Danker 1988 u. Spicker-Beck 1995). Unbestritten kann die gerichtliche Verfolgung von Dieben und Räubern jedoch als die Speerspitze eines allgemeinen Kriminalisierungs- und Marginalisierungsprozesses angesehen werden, der vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime einen immer größeren und heterogeneren Kreis von Menschen erfaßte. 27 Zum einen zeigen sich hier die Auswirkungen sozioökonomischer Krisenphänomene (Bevölkerungsanstieg, Teuerung, Hungerkrisen), die am Ausgang des 16. und vor allem im 18. Jahrhundert viele Menschen sozial entwurzelte. Zum anderen wurde die soziale Ausgrenzung von den Obrigkeiten, nicht zuletzt mit den Mitteln von Kriminalpolitik und Justiz, aktiv betrieben; zur »Formierung einer frühmodernen Gesellschaft« (van Dülmen) gehörte damit gleichsam als negatives Pedant die Ausgrenzung. Pauperisierung und obrigkeitliche Repression konnten so eine unheilvolle Dynamik in Gang setzen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Bettelei, letztlich sogar die fahrende Lebensweise insgesamt, das Vagantentum, unter Kriminalitätsverdacht gestellt (vgl. Jütte 1993, 1995, 1995a sowie die Arbeiten von Seidenspinner); eine extreme Spielart dieser Kriminalisierung war die Stigmatisierung der Salzburger Bettler als Mitglieder der »Zauberjackl«-Bande zwischen 1675 und 1690 (Schindler 1992: 258ff.). Als eine ethnisch unterscheidbare Gruppe wurden die umherziehenden Sinti seit ihrem Auftauchen im 15. Jahrhundert besonders argwöhnisch betrachtet, als ›Zigeuner‹ und ›Tartaren‹ diskriminiert und zunehmend mit drakonischen Strafandrohungen belegt (Bott-Bodenhausen 1988; Rheinheimer 1996). Aber auch bei diesen grundsätzlich von einem Grundkonsens der Etablierten getragenen, obrigkeitlichen Repressionsmaßnah- 27 Vgl. als Spezialstudien z.B. Schott (1978); Schubert (1983); Nagel (1986). Einführend Roeck (1993); Hergemöller (1994); von Hippel (1995); Schubert (1995). Vgl. ferner den Forschungsbericht von Rexroth (1995). <?page no="41"?> Gerd Schwerhoff 42 men gegen Randgruppen, wurden die repressiven Normen nur sehr selektiv umgesetzt. Dagegen standen zahlreiche Kontakte zwischen Landbevölkerung und fahrenden Sinti, und dagegen stand die Schwerfälligkeit des vormoderen Justizapparates, der die schweren Strafen flächendeckend weder vollstrecken konnte noch wollte. So kommentierte ein anonymer Lippischer Schreiber 1771, es sei bekannt, daß die Edikte gegen die ›Zigeuner‹ mehr zum schrekken, als im ernst, und in der Absicht sie also buchstäblich zu vollziehen, gegeben worden; nirgendwo in Deutschland kämen derartige Bestimmungen zur würklichen ausübung (zit. n. Frank 1988: 116). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Diener der Obrigkeit und Träger der strafrechtlichen Verfolgung gewöhnlich ebenfalls unter die Randgruppen gezählt werden. Geradezu sprichwörtlich ist die ›Unehrlichkeit‹ der Scharfrichter. Ihre Sozialgeschichte ist durch neuere Arbeiten erschlossen worden (Wilbertz 1976; Stuart 1990; Nowosadtko 1994; Scheffknecht 1995). Die Untersuchungen von Wilbertz und Nowosadtko haben das alte Klischee vom verachteten Henker stark in Frage gestellt und z.B. Berufsvererbung weniger als Zeichen gesellschaftlicher Stigmatisierung denn als erfolgreiche Monopolisierung einer lukrativen Tätigkeit gedeutet. Dringender Untersuchung bedürfen die frühmodernen ›Polizeikräfte‹, die Gerichtsdiener und Büttel, die ebenfalls zu den sozial deklassierten Gruppen der Gesellschaft zählten (Nowosadtko 1995; Bendlage/ Schuster 1995). 7. Kriminalität und Geschlecht Mit Blick auf die Geschlechtergeschichte und die Sozialgeschichte der Kriminalität diagnostizierte Otto Ulbricht (Einleitung zu 1995: 4) vor kurzem, hier würden »zwei dynamische Richtungen in der Geschichtswissenschaft« konvergieren. In der Tat: Eine moderne Kriminalitätsforschung kommt ohne die Einbeziehung der Kategorie »Geschlecht« nicht aus, wie u.a. wichtige Monographien (Gleixner 1994; Rublack 1998) 28 , ein Handbuch über ›Frauen in der Geschichte des Rechts‹ mit mehreren Beiträgen über ›Frauen im Strafrecht und -prozeß der frühen Neuzeit‹ (Gerhard 1997), ein einschlägiger Sammelband (Ulbricht 1995) sowie Aufsätze über »Frauen vor Gericht« in spätmittelalterlichen Städten (Burghartz 1991 und Malamud 1995; Wernicke 1995) belegen. Umgekehrt hat die Geschlechtergeschichte Gerichtsakten schon seit geraumer Zeit als zentrale Quellengruppe entdeckt (vgl. z.B. Alfing/ Schedensack 1994) und kriminalhistorische Themenfelder für die eigenen Fragestellungen adaptiert. Aber auch Vorbehalte gegen den unkritischen Umgang mit Kriminalstatistiken und gegen simplifizierende Erklärungsansätze der »weiblichen Kriminalität« sind von der »gender history« formuliert worden (vg. vor allem Wunder 1995; Ulbrich 1995, 1995a; Burghartz 1995). Fragwürdig erscheinen sowohl der Befund einer anscheinend durchgängig niedrigen Frauenkriminalität (vgl. den Überblick bei Jütte 1991a) als auch Erklärungen, die vorschnell die »weibliche Natur« ins Spiel bringen, gleich, ob es sich dabei um die angebliche »Schwäche« oder »Friedfertigkeit« der Frau handelt. Gewarnt wird vor einem »Umschlag von Quantitäten in Qualitäten« (Wunder 1995: 41), gefordert die intensive Erforschungen der institutionellen Selektionsmechanismen, die für die geringere Präsenz 28 Zu nennen sind hier auch die bisher ungedrucken Dissertationen von Andrea Griesebner und Monika Mommertz, vgl. dazu ihren Beitrag im vorliegenden Band. <?page no="42"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 43 von Frauen vor den Gerichten verantwortlich zeichneten, und die Berücksichtigung der zugrundeliegenden Geschlechtsstereotype. Von daher wird verständlich, daß gerade geschlechtergeschichtlich interessierte Forscherinnen für eine Ausweitung der Deliktperspektive über den Bereich der klassischen Schwerkriminalität hinaus auf die petty crimes, für eine Einbeziehung der vor- und niedergerichtlichen Ebene und damit für den »mikrohistorischen Blick« auf die dörfliche Delinquenz plädieren (Ulbrich 1995a: 301; vgl. auch Peters 1995b; ferner Dettlaff 1989). Die Untersuchung von Joy Wiltenburg (1995) über das in frühneuzeitlichen Flugschriften gezeichnete Bild »mörderischer« Frauen, das vom Aktenbefund signifikant abweicht, weitet den Blick sogar über die Kriminalquellen im engeren Sinn hinaus. Eine quantitative Analyse der »Schwerkriminalität« vermag jedoch durchaus einen Ansatzpunkt zur Erhellung von Geschlechterstereotypen, weiblichen Handlungsräumen und Lebenswelten zu bieten. So fand Wolfgang Behringer in Kurbayern im 17. Jahrhundert einen überraschend hohen Frauenanteil von ca. 30% unter den Delinquenten, den er vor allem im Bereich der Sitten- und Religionsdelikte (Unzucht, Konkubinat, Hexerei etc.) verortet. Ein Rückgang des Frauenanteils in der Folgezeit sei zunächst durch die »Herabstufung« der Leichtfertigkeitsdelikte auf die Landgerichtsebene zu erklären, d.h., sie wurden nicht mehr zentral vom überlasteten Hofrat bearbeitet und fließen so nicht mehr in die retrospektive Kriminalstatistik ein. Im 18. Jahrhundert kam es dann aufgrund intensiver Debatten für die Delikte Hexerei, Kindsmord und Leichtfertigkeit zu einer Entkriminalisierungstendenz, hinter der sich ein grundlegender Wandel des Frauenstereotyps verbirgt: Von den durch den Sündenfall biologisch zum Verbrechen prädestinierten Täterinnen zu »reinen« Opfern gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch die Rechtsprechung in besonderem Maße in Schutz genommen werden sollten (Behringer 1995: 79). Wollte man diesen Diskurs über weibliche Kriminalität - grob typisierend - bis in die Gegenwart verlängern, so könnte man sagen, daß bis vor wenigen Jahren, auch in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die ›Opferthese‹ dominant blieb. Erst eine Geschlechter- und Kriminalitätsgeschichte, die im Zuge der ›new cultural history‹ mit ihrer Hinwendung zu den historischen Subjekten deren Handlungsspielräume auslotet, bringt die Frau dann auch wieder als Täterin in den Blick, wie ein verstärktes auch historisches Interesse an »Frauen, die töten« (so ein Buchtitel von Ann Jones 1985) belegen kann. So wurde der Gattenmord in der Frühen Neuzeit verstärkt zum Forschungsgegenstand (Göttsch 1995; Rublack 1998: 315ff.; auch Nolde 1996). Seit jeher auf großes öffentliches Interesse durfte ›das‹ - neben der Hexerei - klassische Frauendelikt, der Kindsmord stoßen; die Forschungsaktivitäten der letzten Jahre brachten auch hier reiche Erträge. Wir wissen inzwischen mehr über die eigenartige Hochkonjunktur dieses Verbrechens zwischen dem späten 16. und der ersten Hälfe des 18. Jahrhunderts, als die Kindsmörderinnen relativ gesehen die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Hingerichteten ausmachten. Aber auch die sozialen Umstände und die individuellen Tatmotive wurden intensiv ausgeleuchtet. 29 Diskutiert wurden auch verstärkt die »Alternativen« zur Kindestötung (Meumann 1995; speziell zur Abtreibung vgl. Stukenbrock 1993 bzw. die einschlägigen Kapitel bei Jütte 1993a). Gut läßt sich am Beispiel des Kindsmordes für das 18. Jahrhundert die zeitgenössische Debatte 29 Vgl. Valentinitsch (1988); Ulbricht (1990, 1992, 1993); van Dülmen (1991); Zimmermann (1991); Lesemann (1994: 127ff.); Meumann 1995; Hammer (1997); Maisch 1997; Rublack (1998: 238ff.) <?page no="43"?> Gerd Schwerhoff 44 um angemessene Strafen und Verbrechensprävention exemplarisch nachvollziehen (Ulbricht 1990: 217ff.). Dabei kamen die stärksten Impulse zur Milderung des Strafsystems jedoch nicht von den Zentralbehörden und Obergerichten, sondern von den unteren Kriminalgerichten und den Amtmännern, die mit den Lebensumständen der Betroffenen vertraut waren (ebd. 403) - eine Aufklärung ›von unten‹ also! Was die vielen anderen, hier einschlägigen Themen der Forschung angeht, so müssen summarische Hinweise an dieser Stelle genügen. 30 Auf dem weitläufigen Feld der Sittendelinquenz prosperierten vor allem die Forschungen zur vorehelichen Sexualität und Illegitimität, sicher auch deshalb, weil sich hier zwanglos Anschlüsse zur historischen Demographie und zur Familienforschung ergeben (vgl. Becker 1990; Maisch 1992: 294ff.). Zu nennen ist hier vor allem die an Rainer Beck (1983) anschließende Studie von Stefan Breit (1991) über das Delikt der »Leichtfertigkeit« in der frühneuzeitlichen Gesellschaft Bayerns. Er konnte einerseits zeigen, wie sehr diese Leichtfertigkeit im Kontext der dörflichen Eheanbahnung stand; die öffentliche Meinung im Dorf teilte demzufolge die radikale Stigmatisierung durch die obrigkeitlichen und kirchlichen Normen keineswegs. Andererseits erfolgte die Wahl des »Leichtfertigkeitspartners« nicht zufällig, sondern hielt sich meist an die ökonomisch determinierten Regeln des ländlichen Erb- und Heiratssystems. Während also hier die gesellschaftliche Bewertung illegitimer Schwangerschaften vor allem von der ökonomischen Situation abhängig war, und die Dorfgemeinde ansonsten eher als monolithischer Block den Obrigkeiten gegenüberzustehen scheint, entwirft Ulrike Gleixner (1994) für die Unzuchtsverfahren in altmärkischen Dörfern, wo die Eheanbahnung eher die Ausnahme als die Regel war, ein anderes Bild. Je unterschiedliche Interessen und Darstellungsstrategien von Frauen und Männern vor Gericht ensprechen der geschlechtsspezifischen Beurteilung der »Unzucht« durch die Richter. Die entsprechenden Verfahren gewinnen so den Charakter einer Arena zum Konfliktaustrag zwischen den Geschlechtern. Von einer Waffengleichheit zwischen Männern und Frauen vor der Justiz konnte dabei allerdings keine Rede sein, im Gegenteil: Aufgrund einer »Asymetrie der Verhaltensnormen« (ebd. 116) wurde fast ausschließlich über den Körper der Frau und über ihre Geschlechtsehre verhandelt, was ihre Handlungschancen deutlich einschränkte. Nicht nur das Feld der vorehelichen Sexualität bzw. Konzeption, auch andere Bereiche der Sittendelinquenz hat die Forschung als Konfliktfelder zwischen den Geschlechtern herausgestellt. 31 Gerichtsprotokolle geben z. B. Einblicke in Motive und Austragsformen von innerehelichen Konflikten (vgl. mit knappem Forschungsbericht und Quellenbeispielen Ulbricht 1996), die nicht selten in brutaler Gewaltanwendung von Männern gegenüber ihren Ehefrauen gipfelten. Die Bewertung des rechtlichen Konfliktaustrags in der Forschung ist trotzdem uneinheitlich. Außer Frage steht, daß dem Mann als Hausvater ein legitimes Züchtigungsrecht zugestanden wurde, und daß die obrigkeitlichen Normen eher auf eine Einschränkung weiblicher Handlungsoptionen zielten. Während die einen jedoch diese Ziele akzentuieren, den Charakter der Ehe als unauflösliches Gewaltverhältnis betonen (z.B. Hohkamp 1995: 302; Rublack 1998: 277; vgl. dies. 1997) und für die Frauen nur in Ausnahmefällen Chancen der Gegenwehr qua 30 Vgl. neben den genannten kritischen Forschungsüberblicken Ulbricht (1994a) und die Einleitung zu Ulbricht (1995: 1 - 37); speziell zum Komplex Geschlecht und Ehre zuletzt Dinges (1998b). 31 Vgl. die Forschungen von Roper (1989: 164ff.); Beck (1992); Habermas (1992); Hohkamp (1995); Schmidt (1995: 246ff.); Konersmann (1996: 309 ff.); Rublack (1998: 273ff.) <?page no="44"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 45 Recht sehen, vertreten die anderen eine optimistischere Sicht. So konnten die Frankfurterinnen im 18. Jahrhundert - durchaus als »objektiv Unterlegene im Kampf der Geschlechter« - nach den Worten von Rebekka Habermas die Gerichte benutzen, »um sich just gegen diese geschlechtsspezifische Unterlegenheit zur Wehr zu setzen« (Habermas 1992: 135; vgl. für das Spätmittelalter Plaß 1990). Und Heinrich Richard Schmidt spricht explizit von einem »Bündnis« zwischen Frau und Gericht zur »Domestizierung« des Mannes: Zwar hätten die Berner Chorrichter eigentlich die Hausherrschaft des Mannes sichern und stabilisieren wollen. Die Ehekonflikte hätten aber die Brüchigkeit dieser Herrschaft an den Tag gebracht und das Gericht zur Intervention in den »Immunitätsbezirk« des Hauses veranlaßt, um männliches Fehlverhalten wie Trunkenheit, schlechte Haushaltung und ›übertriebene‹ Gewaltanwendung zu sanktionieren (Schmidt 1995: 284; vgl. ders. in Dinges 1998). Als ein spezieller Aspekt der Sittendelinquenz läßt sich auch die Geschichte der Prostitution verstehen, die durch die - unabhängig voneinander entstandenen - Arbeiten von Peter Schuster (1992; 1993) und Beate Schuster (1995; 1996) erschlossen wurde. Wie die Existenz städtischer Frauenhäuser im späten Mittelalter zeigt, war die Prostitution nicht von vornherein Objekt strafrechtlicher Ausgrenzung. Doch deuten zahlreiche Marginalisierungstendenzen am Ausgang des Mittelalters (etwa Ghettoisierung und Kleiderordnungen) auf eine Verschärfung der obrigkeitlichen »Moralpolitik« (Simon) hin und bereiten den Boden für rigidere Verbote gegen Prostitution und für die Schließung der Frauenhäuser im Zeitalter der Reformation; neuerdings hat Beate Schuster (1998) die allmähliche Kriminalisierung des Dirnenwesens als komplexes Zusammenspiel zwischen den informellen Normen der städtischen Bevölkerung und der Politik der städtischen Räte beschrieben. Das Verbot der Prostitution ging mit einer verschärften Ausgrenzung aller Formen weiblichen Nonkonformismus einher; in bewußter Unschärfe traf das Hurereiverdikt alle nicht exakt den sexuellen Verhaltenserwartungen entsprechenden Frauen. Neben den »klassischen« Frauendelikten Hexerei und Kindsmord und neben dem Feld der Sittendelikte haben sich die Forschungen zur weiblichen Kriminalität inzwischen mehr und mehr auch Delikten zugewandt, bei denen Frauen eher unterrepräsentiert sind. Thematisiert wird etwa die Rolle von Frauen unter den Vaganten (Kienitz 1989; Scheffknecht 1991) oder in Räuberbanden; dort reproduzierten sich z.T. allgemeine gesellschaftliche Wert- und Moralvorstellungen, z.T. eröffneten sich eigene geschlechtsspezifische Handlungsräume (Machnicki 1995). Daß eine Frau im 18. Jahrhundert als »Kopf und Herz« einer Diebesbande fungieren konnte, hat Andreas Blauert (1993a) am Beispiel der im Bodenseeraum agierenden Gruppe um die ›Alte Lisel‹ Elsabetha Frommerin anschaulich dargelegt. Wichtiger noch als diese Erweiterung unseres Wissens über die weibliche Kriminalität ist der grundlegende Perspektivenwandel, den die »gender-history« einfordert: Die Kategorie »Geschlecht« ernstzunehmen bedeutet eben auch, die Männerspezifik bestimmter Formen von Delinquenz herauszuarbeiten. 32 Damit sind nicht nur offensichtliche Männerdelikte wie z.B. abweichende sexuelle Orientierungen und Praktiken - als »Sodomiterei« wurde in der Vormoderne sowohl gleichgeschlechtliches Verhalten (vgl. Schneider-Lastin/ Puff 1993; Hergemöller 1998; Puff 1998) wie »Bestialität« (Wegert 1994: 187ff.) bestraft - 32 Aussagekräftig sind natürlich auch jene Grenzfälle von ›Frauen in Männerkleidern‹, die von der neueren Forschung besonders beachtet worden sind (vgl. z.B. Simon-Muscheid 1995). <?page no="45"?> Gerd Schwerhoff 46 gemeint 33 , sondern auch jene massenhaft auftretenden Formen der Kriminalität, die bisher nicht in erster Linie unter dem Geschlechteraspekt analysiert wurden; ein Beispiel wäre hier etwa die Geschichte der Gewaltdelinquenz, wo zunehmend deutlicher der Zusammenhang zwischen physischer Gewalt und männlichem Habitus (Rath 1996: 69; vgl. oben Abschnitt 6) herausgearbeitet wird. 8. Kriminalität und gesellschaftliche Entwicklung Das genuine Metier des Historikers ist der historische Wandel. Die Frage nach der Veränderung der Delinquenz durch die Jahrhunderte und nach dem Zusammenhang dieser Veränderung mit Wandlungsprozessen in anderen Teilbereichen der Gesellschaft ist deshalb ebenso virulent wie schwierig zu beantworten. Daß ihre Bearbeitung durch das kulturgeschichtliche Profil der neueren Kriminalitätsgeschichte und durch die wachsende Skepsis gegenüber statistischen Längsschnitten nicht einfacher geworden ist, wurde bereits angedeutet. Außerdem, und diese paradoxe Erfahrung teilt die Kriminalitätsgeschichte mit anderen Forschungsfeldern, wächst mit der Zahl der Forschungen die Komplexität der empirischen Befunde ebenso wie die der möglichen Erklärungen. Als französische Forscher in den 60er Jahren auf schmaler Quellengrundlage das sog. »violence-au-vol-Paradigma« aus der Taufe hoben, das einen säkularen Trend von der Gewaltzur Eigentumskriminalität behauptete, ordnete sich dieses Ergebnis gleichsam von selbst in den Wandel vom Feudalismus zum Kapitalismus ein. Inzwischen werden jedoch einige dicke Fragezeichen hinter diese These gesetzt (Schwerhoff 1991: 344ff.). Sie beziehen sich z.B. auf die impliziten Prämissen dieser These, die von einer Höherbewertung des Eigentums im Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. Tatsächlich war jedoch das Gegenteil der Fall, gerade in der stets unter knappen Ressourcen leidenden vormodernen Gesellschaft war der Schutz des Eigentums ein hohes Gut. Auch die verfügbaren statistischen Daten sprechen keineswegs eine einheitliche Sprache. Wettmann-Jungbluts Langzeitstudie über Freiburg i. Br. (1997: Kap. II.1) läßt die Variabilität der Zahlen z.T. als Ergebnis institutioneller Selektionen erscheinen. Eine Proskriptionsliste aus dem 14. Jahrhundert enthält überhaupt keinen Diebstahl, weil dieser vor einer anderen Gerichtsinstanz verhandelt wurde. Im 16. und 17. Jahrhundert dominiert vor dem Hochgericht die Eigentumskriminalität mit fast 50%; eine stichprobenartige Einbeziehung des städtischen Frevelgerichtes für die Jahre 1568 - 70 dagegen verkehrt das Verhältnis zwischen Vergehen gegen Personen (56%) und gegen Eigentum (5,3%) wieder in sein Gegenteil. In der Folge, nach dem Dreißigjährigen Krieg, scheinen sich die Kriminalitätsanteile in der Stadt tatsächlich verändert zu haben. Dabei ist zunächst die rasante Zunahme der Unzuchtsdelikte zu erwähnen, die sich nicht nur hier (vgl. Behringer 1990) für lange Zeit als drittes großes Segment der Delinquenz etablierte. Daneben wurde dann tatsächlich das späte 18. Jahrhundert zur klassischen Epoche des (vornehmlich geringfügigen) Diebstahls, Ergebnis der allgemeinen wirtschaftlichen Misere und der wachsenden Armut breiter Bevölkerungsschichten. Die »moderne« badische Kriminalstatistik weist jedoch dann wieder bis zur 33 Ein anderes Beispiel wären etwa jene inzestuösen Vergewaltiger im frühneuzeitlichen Württemberg, denen Rublack (1995) eine eigene Studie widmet; vgl. weiter einige der Beiträge in Dinges (1998) und Schmale (1998). <?page no="46"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 47 Mitte des 19. Jahrhunderts eine ungefähre Balance zwischen Vergehen gegen das Eigentum und solchen gegen Personen aus, die die Nachhaltigkeit dieses Befundes zweifelhaft erscheinen lassen. Insgesamt ist die »violence-au-vol-These« für den deutschen Südwesten nicht zu verifizieren (Wettmann-Jungblut 1997: 581; vgl. ders. 1996, 1997a). Aus einem anderen Blickwinkel erscheint der Umgang mit Eigentumskriminalität durch die Jahrhunderte wiederum erstaunlich konstant. Für Bayern, so diagnostiziert Wolfgang Behringer (1990, 126), nehmen Eigentumsdelikte sowohl im 16., 17. wie im 18. Jahrhundert unter den mit Todesstrafen sanktionierten Vergehen einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln ein. 34 Die Suche nach langfristigen Entwicklungstrends bei Kriminalitätsraten und Deliktfrequenzen gestaltet sich also schwierig. Vielleicht lassen sich Wandlungsprozesse für den Bereich der obrigkeitlichen Sanktionierung besser erfassen. Hier kämen zunächst die Veränderungen des Strafverfahrens selbst in Betracht: Themen wie die Herausbildung des Inquisitionsverfahrens im Spätmittelalter oder Wandlungen in Theorie und Praxis des Foltereinsatzes gehören zu den klassischen Arbeitsfeldern der Rechtsgeschichte. Sie sollen hier nicht weiter vertieft werden, obwohl neuere Arbeiten scheinbar gesichertes Wissen in Frage gestellt und zukünftige Forschungen angemahnt haben (z. B. Langbein 1977; Roeck 1993a; Jerouschek 1994; Regge 1997). Noch wenig erforscht sind darüber hinaus die dem eigentlichen Strafverfahren vorgelagerten Praktiken der Kriminalitätsverfolgung, die ebenfalls auf mögliche Effektivierungstendenzen zu befragen wären. Wie gestaltete sich z.B. der Informationsaustausch über Straftaten und -täter zwischen den Obrigkeiten des Ancien Régimes? Steckbriefartige Beschreibungen von Räubern und Dieben finden sich schon in spätmittelalterlichen Quellen (vgl. Nicklis 1992); im 18. Jahrundert dann wurden in Gestalt der sog. Gauner- und Diebeslisten regelrechte Steckbriefsammlungen erstellt (Blauert 1995). Aber wurden sie auch systematisch genutzt? Ein weiteres Instrument zur obrigkeitlichen Kontrolle und zur Verbrechensverfolgung waren jene Straßenreiter und Streifen, mit denen der frühmoderne Territorialstaat Jagd auf Vagierende und Kriminelle zu machen versuchte; auch der Erfolg dieser Maßnahmen ist in der modernen Forschung umstritten (vgl. Nitschke 1988; Danker 1988: 405ff.; Seidenspinner 1995a/ b, 1998). Die weitläufigen und im ganzen erfolgreichen Ermittlungsverfahren gegen drei von Uwe Danker exemplarisch analysierte Räuber- und Einbrecherbanden an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert scheinen jedenfalls auf eine gewisse neue Qualität der Kriminalitätsbekämpfung hinzuweisen. Bezeichnend erscheint etwa, daß der Hauptermittler gegen eine Bande zumeist jüdischer Räuber in Sachsen-Coburg, der »Cammer-Consulent« Paul Nicol Einert, nicht nur verbissen die Aufklärung eines spektakulären Einbruchs in Coburg betrieb, sondern Berichte über die Fahndungsaktionen zusammen mit den entsprechenden Kriminalakten mehrfach in Druck gab (Danker 1988: 43ff.); derlei ›aktenmäßige Berichte‹ entwickeln sich im 18. Jahrhundert geradezu zu einem eigenen Quellengenre. Hauptindikator für veränderte obrigkeitliche Strafkonzeptionen bleiben natürlich die tatsächlich verhängten Sanktionen. Als Ausgangshypothese könnte die von Lenman und Parker entwickelte These der allmählichen Ablösung einer eher restituiv orientierten durch eine punitive und repressive Justiz dienen. Anzeichen für eine »Aus- 34 Dabei kann die Kriminalstatistik je nach Strafinstanz, Zeit und Raum ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen; so konstatiert Frank (1995: 346) für Lippe im 18. Jahrhundert einen parallelen Rückgang von Gewalt- und Eigentumsdelikten zugunsten von Ordnungsdelikten. <?page no="47"?> Gerd Schwerhoff 48 weitung des öffentlichen Strafanspruches« fand Peter Schuster für das Konstanzer Niedergericht schon im 15. Jahrhundert. Begrifflich mutiert die »Buße« immer mehr zur »Strafe«; sachlich ging die Zahl der Kläger zurück, komplementär dazu stieg diejenige der Offizialdelikte. Erklärungen findet Schuster in einer Intensivierung des Selbstverständnisses des Rates als »Herrschaft« ebenso wie in einem möglichen Versagen »privater Regulierungstechniken« (Schuster 1997: Kap. III.2). Die Ergebnisse von Andreas Blauerts Studie zu den südwestdeutschen Urfehden zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert, die quantifizierende und typologische Zugriffe verbindet, erlauben eine langfristigere Betrachtung. In der Entwicklung der Urfehde spiegele sich, so Blauert, der Weg vom ›mittelalterlichen Rechtspflegestaat‹ zum ›souverän gewordenen Obrigkeitsstaat‹ (Ernst Schubert). Einem formalen Wandel der Quelle vom Urfehdebrief hin zum - nicht mehr als Einzelurkunde ausgefertigten und nurmehr in Amtsbüchern registrierten - Urfehdeprotokoll habe ein inhaltlicher Entwicklungsprozeß von der Aussöhnung zur Ausgrenzung entsprochen. Die Ursprünge der Urfehde liegen im Fehde- und Sühnevertragswesen spätmittelalterlicher Städte; sie dienen der beschworenen Beendigung der Feindschaft, in der Regel zwischen einer Stadt und ihren adligen Gegnern. Schnell gewann die Urfehde aber auch im Inneren der Stadt eine wichtige Funktion, nämlich als Hafturfehde von Gesetzesübertretern, die wegen aller möglicher Spielarten von innerstädtischer Gewalt und Friedensbruch verhaftet wurden, und die vor ihrer Entlassung Racheverzicht beschwören mußten. Die entstehende öffentliche Strafgewalt der Städte glaubte sich immerhin noch auf die eidliche Selbstbindung der Untertanen angewiesen. Nachdem der entstehende Territorialstaat dieses Sicherungsmittel zunächst übernommen hatte, glaubte er im Verlauf der Frühen Neuzeit mit wachsender Souveränität zunehmend darauf verzichten zu können. Wo die Urfehde beibehalten wurde, ging sie eine organische Verbindung mit dem Stadt- oder Landesverweis ein und mutierte zum »Aufenthaltsverbotsschwur«, wurde also selbst zum Strafmittel. Natürlich liegt der Einwand nahe, daß sich hinter der Veränderung von Gestalt und Inhalt des Urfehdewesens nicht unbedingt ein fundamentaler Wandel der obrigkeitlichen Kontrolle verbergen muß. Daß die späteren Urfehden andere, strafende Zwecke verfolgten und andere Personen trafen, muß nicht bedeuten, daß die durch Ausgleich geregelten Konflikte ganz verschwunden wären; vielleicht wurden sie einfach anders institutionell »bearbeitet«. Dennoch fügt sich Blauerts Untersuchung in das Bild von der Zunahme ausgrenzender Strafen, die vornehmlich die Unterschichten trafen, im Verlauf der Frühen Neuzeit ein. Die Ausgrenzungsstrategien waren dabei so vielfältig wie die möglichen Sanktionen (vgl. für einen neueren Überblick Schnabel-Schüle 1997: 124ff.). Mit Ausgrenzung kann die physische Entfernung des Delinquenten aus dem betreffenden Territorium gemeint sein (Schnabel-Schüle 1995), im Extremfall sogar seine Verschickung zum Galeerendienst (Schlosser 1986), ebenso wie seine Stigmatisierung durch Prügel (Sievers 1976) oder durch »bloße« Ehrenstrafen, denen gegenüber im Verlauf der Frühen Neuzeit eine wachsende Sensibilität zu konstatieren ist (Schwerhoff 1993). Langfristig wurde diese Ausgrenzung natürlich auch im Reich durch Einsperrung zunächst ergänzt und dann abgelöst. Im Gefolge der bekannten Thesen von Foucault sind Gefängnisse, präziser: Zucht- und Arbeitshäuser, auch in der deutschsprachigen Forschung behandelt worden (vgl. Steckl 1978; Stier 1988; Fuhl 1988; Finzsch 1990a; Eisenbach 1994). Dennoch gibt es keineswegs ein Überangebot an sorgfältig gearbeiteten <?page no="48"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 49 Mikrostudien, wie sie Michael Frank für das Detmolder Zuchthaus im 18. Jahrhundert vorgelegt hat. Wichtig sind hier z.B. quantitative Angaben zur Insassenstruktur (Frank 1992: 288ff.; vgl. Stier 1988: 78ff.; Steckl 1978: 181ff.). Unter den Züchtlingen in Detmold machten Diebe, die vornehmlich der Unterschicht entstammten, alleine über 40% aus. Daß ihre Zahl während der Teuerungskrise zu Beginn der 1770er Jahre besonders hoch war, zeugt davon, daß Diebstahl oftmals als letztes Mittel zur alltäglichen Subsistenzsicherung diente; die Obrigkeit reagierte auf den Anstieg der Kriminalität in dieser Phase mit schärferen Sanktionen, d.h. mit längeren Freiheitsstrafen. An den Delikten gegen die Moral, die insgesamt immerhin einen Anteil von knapp 30% ausmachten, partizipierten auch die Mittel- und Oberschichten; die Obrigkeit scheute sich also nicht, auch den vermögenden Vollmeier wegen Alkoholismus oder Ehebruchs in die Zuchtanstalt einzuweisen. In gewisser Weise können diese »totalen« Institutionen (Erving Goffmann) als das Mittel der Sozialdisziplinierung par excellence beschrieben werden: Es wurde angestrebt, die Zöglinge in einen rigiden Zeitplan einzupassen, sie räumlich zu isolieren und zu überwachen, sie schließlich durch knapp bemessene Nahrung und harte körperliche Arbeit, flankiert von religiöser Unterweisung, zu disziplinieren und zu »bessern« (Steckl 1986). In der Praxis aber wurde dieses Programm durch vielerlei Probleme und Mängel in Frage gestellt. Ebenso wie die Lippische Anstalt litten die meisten anderen im 18. Jahrhundert unter ihrer Multifunktionalität und ihrer Rolle als »sozialpolitisches Allheilmittel« (Frank 1992: 277); sie dienten nicht nur als Gefängnis, sondern auch als Arbeitshaus, Altenheim, Erziehungsanstalt für unbotmäßige Kinder sowie als Kranken- und Irrenhaus. Ein innerer Widerspruch bestand auch zwischen dem Anspruch auf planmäßige Disziplinierung, Erziehung und Besserung einerseits und dem Zwang zur Wirtschaftlichkeit, der zur rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft der Insassen andererseits führte (ebd. 284). Schließlich wurde der Besserungsgedanke schon damals durch die Stigmatisierung der Zuchthausinsassen ad absurdum geführt; der Aufenthalt in der Anstalt führte zu einem nachhaltigen gesellschaftlichen Ehrverlust. Die Schwierigkeit, das Gefängnis in ein dichotomisches Modell einzufügen, das zwischen ›punitiven‹ und ›restituiven‹ Sanktionen unterscheidet, verweist auf das übergeordnete Problem, eindeutige qualitative Entwicklungstendenzen des Strafsystems zu rekonstruieren. Natürlich löst sich das alte Kompositionensystem germanischer Prägung, in dessen Mittelpunkt Bußzahlung bzw. -leistung stand, im Verlauf der Frühen Neuzeit auf, ein Prozeß, der nirgendwo so deutlich abgelesen werden kann wie am - allerdings sehr allmählichen! - Verschwinden der Totschlagsbuße. Und umgekehrt erreichte die Zahl der Hinrichtungen im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert wohl ihren absoluten Höhepunkt, wenngleich die Todesstrafen im Spektrum der Sanktionierung insgesamt einen geringen Prozentsatz einnahmen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verringerten sich aber überall im Reich auch die Hinrichtungszahlen, nachdem man zuvor schon immer mehr auf die grausamsten Exekutionsformen wie Rädern oder Lebendigbegraben verzichtet hatte, und auch nachhaltige Körperstrafen immer mehr obsolet wurden (z.B. Plaum 1990; zusammenfassend Evans 1996: 41ff.). Dabei handelte es sich nicht um eine vorweggenommene prinzipielle Delegitimierung der Todesstrafe, wie allein die nun um so sorgfältiger zelebrierten Hinrichtungsrituale des späten Ancien Régime zeigen. 35 Offenbar kam es aber in der Praxis zu einer gewissen Beschneidung bei den extremsten punitiven Sanktionsformen. <?page no="49"?> Gerd Schwerhoff 50 Wandlungsphänomene werden zumeist nicht einfach aus den Quellen deduziert, sondern beziehen sich in der Regel auf einschlägige Modelle historischer Entwicklung. In der deutschsprachigen Forschung wird - neben dem Prozeß der Rationalisierung (Max Weber) und dem der Zivilisierung (Norbert Elias) - an das von Gerhard Oestreich geprägte Stichwort von der »Sozialdisziplinierung« angeknüpft (zuletzt Reinhard 1997). Der Verfassungshistoriker wollte diesen Fundamentalprozeß nicht lediglich auf einen politisch-administrativen Wandel beschränkt sehen, der nur einen begrenzten Rahmen von Institutionen und gesellschaftlichen Eliten prägte, sondern postulierte eine alle Gruppen, Schichten und Stände umfassende Mentalitätsveränderung. Diese Veränderung stand freilich, so Oestreich, in engem Zusammenhang mit der Ausbildung des werdenden Staates, der mit seinen Organen und seinen Normen, etwa den Polizeiordnungen, das entscheidende Vehikel zur Durchsetzung einer sozialdisziplinatorischen Programmatik darstellte. Mit Hilfe einer breiten Palette von Sanktionen sei eine Verhaltensänderung der Untertanen erreicht worden. Der Umgang mit dem Oestereichschen Modell in der Forschung ist zwiespältig. Forschungen zur Devianz eröffnet es ein bequemes Angebot, um ihre empirischen Befunde in einen größeren Rahmen einzuordnen, ihnen gleichsam höhere Weihen zu verleihen, damit zugleich aber das Modell seinerseits zu »verifizieren. Es besteht die Gefahr, widersprüchliche Fakten auszublenden und damit einen »mainstream« in die Moderne zu konstruieren, den es so nie gegeben hat. Momentan überwiegt in der kriminalhistorischen Forschung eher Skepsis gegenüber dem Modell der Sozialdisziplinierung. 36 Sie speist sich ebenso aus empirisch begründeten Vorbehalten wie aus den skizzierten kulturgeschichtlichen Prämissen. Neben Martin Dinges ist vor allem Heinrich Richard Schmidt als Protagonist einer modernisierungskritischen Position hervorgetreten. Seine Skepsis gegenüber der Durchschlagskraft obrigkeitlicher Disziplinierung qua Gericht stützt sich auf eigene Langzeituntersuchungen über die Tätigkeit zweier Bernischer Chorgerichte vom späten 16. Jahrhundert bis zum beginnenden 19. Jahrhundert (Schmidt 1995: 354ff). Unter dem Strich konstatiert er auf den zwei zentralen Feldern der Religions- und der Sittenzucht ein letztendliches »Scheitern« bei der Aufstellung von neuen Verhaltensnormen. Partielle Erfolge beim Kampf gegen das Fluchen und bei der Durchsetzung der Sonntagsheiligung im 17. Jahrhundert wurden durch einen generellen Trend zur Säkularisierung im 18. Jahrhundert zunichte gemacht; es kam zu einem »Zusammenbruch der Religionszucht«, indem sich die Chorrichter den Aufgaben der Religionszucht weitgehend entzogen. Statt dessen stand jetzt das Vorgehen gegen voreheliche Sexualität im Vordergrund, ein Unterfangen, das jedoch ebenso erfolglos blieb. Sozioökonomische Faktoren, das Anwachsen der Armut und die Entwicklung einer Protoindustrie, die vielfach zur Lockerung von Bindungen an die Normen der Gemeinde führten, erwiesen sich gegenüber den Disziplinierungsbestrebungen als stärker. Nach 1700 stiegen die Zahl der ledigen Schwangeren und der illegitimen Kinder dramatisch an; zudem war voreheliche Sexualität immer weniger an ein vorgängiges Heirats- 35 Übrigens auch nicht um eine irreversible Entwicklung, wie eine neuerliche Verhärtung der Strafjustiz in Bayern im Jahrhundert der Aufklärung belegt (Behringer 1990: 112). Zur aufklärerischen Debatte um die Todesstrafe zuletzt Ulbricht (1998). 36 Gleichwohl bildete nicht unmittelbar das Feld der Kriminalität die Arena, in der über den Wert der Sozialdisziplinierung gestritten wird. In einer ersten, bereits einige Jahre zurückliegenden Runde, stand die Geschichte der Armenfürsorge im Mittelpunkt (Dinges u. Jütte 1991). Neueren Datums ist der Schlagabtausch auf dem Gebiet der Kirchenzuchtforschung (Schilling u. Schmidt 1997). <?page no="50"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 51 versprechen gebunden - Befunde, die Schmidt mit dem Terminus »sexuelle Revolution« belegt. Erfolgreich erwiesen sich die Gerichte bei Sittenzucht und Konfliktregulierung vor allem dann, wenn lokale und obrigkeitliche Normen und Interessen zur Dekkung kamen, etwa bei der Versöhnung streitender Nachbarn. Momentan ist noch nicht abzusehen, ob sich alternative Konzepte zur Einordnung der neueren empirischen Befunde - etwa das von Dinges ins Spiel gebrachte »Lebensstil«-Konzept (Dinges 1997a) oder das von Schmidt selbst in Anschluß an Giddens vorgeschlagene Modell der lokal »eingebetteten« Gesellschaft (Schmidt 1997: 680ff.) - durchsetzen werden oder ob die Entwicklung eher auf eine Erweiterung des strukturgeschichtlichen »mainstream« durch die Mikrohistorie hinausläuft, wie sie Heinz Schilling (1997) mit seiner »Doppelperspektive von Mikro- und Makrohistorie« anstrebt. Jenseits solcher sehr ernster Meinungsverschiedenheiten scheint jedenfalls der Abschied von einer Vorstellung der obrigkeitlichen Disziplinierung als einlinigem, evolutionärem Prozesses allgemein akzeptiert zu sein. Den bisher ernsthaftesten Modifikationsvorschlag für das Feld der historischen Kriminalitätsforschung hat vor einiger Zeit Michael Frank vorgelegt. In seiner Mikrostudie über die Kriminalität im lippischen Dorf Heiden erweitert der Autor das Sozialdisziplinierungsmodell um zwei entscheidende Faktoren: Einmal nimmt er, orientiert an der Arbeit von Keith Wrightson über »two concepts of order«, neben dem obrigkeitlichen zusätzlich ein lokales Ordnungsmodell in den Blick; dieses konstituiere sich nicht über geschriebene Normen, sondern über informelle, jedoch ebenso wirksame Regeln der Dorfgemeinde. Die beiden Ordnungskonzepte konnten in vielen Fragen übereinstimmen, etwa in Fragen der Eigentumsnormen und des Ehrkodex, während es in der Bewertung von Gewalt als Konfliktlösungsmittel oder beim Alkoholkonsum deutliche Unterschiede gab (Frank 1995: 347f.). Die Bemühungen der Lippischen Obrigkeit zur Umsetzung ihrer zahlreichen Verordnungen und damit zur Durchsetzung ihrer Normen waren nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönt; während des gesamten Untersuchungszeitraums blieben die Selbstregulierungskräfte des Dorfes prinzipiell erhalten. Aber dieses Dorf wird, und hier liegt die zweite wichtige Innovation, weder als eine homogene noch als eine unwandelbare soziale Einheit gedacht. Indem die Sozialstruktur des Dorfes beschrieben und die sozioökonomischen Wandlungsfaktoren aufgezeigt werden, gewinnt die Sozialgeschichte die Funktion eines dritten Standbeines der Untersuchung. Im 18. Jahrhundert, so der Befund, kam es zu einer zunehmenden sozialen Differenzierung im Dorf, zu einem Anwachsen der Unterschichten und zu einer Verschärfung der inneren Konfliktpotentiale. Das lokale Ordnungssystem erwies sich partiell als überfordert. Insbesondere die grundbesitzlosen »Straßenkötter« waren mit den herkömmlichen Mitteln der sozialen Kontrolle nicht mehr zu beherrschen. Das schuf ein Einfallstor für formalisierte Formen der Kontrolle und damit für die Gerichte. Die dörfliche Oberschicht sah eine Gefahr im Anwachsen der landlosen, hochmobilen Unterschichten und suchte gleichsam ihr Heil beim staatlichen Ordnungssystem. Erst diese »Krise der bäuerlichen Welt« habe einen »Markstein im Prozeß der inneren Staatswerdung« gesetzt (ebd. 352). 37 37 Aus anderer Perspektive zeichnet nun Hokamp (1998) für die Obervogtei Triberg im Schwarzwald nach, wie das herrschaftliche Amtshaus seit den 1750er Jahren zunehmend zur zentralen Schaltstelle des gesellschaftlichen Ehrdiskurses wurde. <?page no="51"?> Gerd Schwerhoff 52 9. Zurück in die Zukunft - ein Blick von der Rechtspraxis auf die Normen Es kann nicht die Aufgabe dieses Forschungsberichtes sein, das breite und z.T. auch heterogene Feld der Erscheinungen, das im Lauf der Darstellung abgeschritten wurde, knapp zusammenzufassen. Die Dynamik eines Forschungsbereiches, der in Deutschland innerhalb weniger Jahre breiten Zuspruch erfahren hat, sollte deutlich geworden sein. Nichts kann diese Dynamik besser veranschaulichen als die Fähigkeit, sich »altmodische« Themen neu anzueignen. »Weg von der Norm, hin zur Strafrechtspraxis! « - so lautete einer der populären Kampfrufe der Kriminalitätsgeschichte. Nach der profilierenden Abgrenzung von der normzentrierten Rechtshistorie geht aber auch der Blick der Kriminalitätshistoriker wieder verstärkt zurück zu den Normen, deren Existenz erst abweichendes Verhalten konstituieren. Wenn heute am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte die Erforschung und Erschließung der Polizeiordnungen betrieben wird, die seit dem späten 15. Jahrhundert ein hervorragendes Feld von innovativer Normsetzung konstituieren, und die die Kriminalisierung vieler Ordnungsdelikte (Bettelei, Unzucht, Gotteslästerung etc.) voranzutreiben versuchten (vgl. Härter 1993; Härter/ Stolleis 1996; Stolleis 1996; Weber 1996), dann geschieht dies in konstruktiver Zusammenarbeit mit der Kriminalitätsgeschichte. Aber auch die genuin historischen Projekte nehmen neuerdings die Normen wieder verstärkt in den Blick. Daß neben den gesetzlichen Normen auch ungeschriebene Gesetze die Strafpraxis bestimmen und daß neben der Obrigkeit auch das soziale Milieu entscheidend als Normengeber fungierte, daß es schließlich zwischen diesen verschiedenen Ebenen auch Normkonflikte geben kann - all das gehört mittlerweile zu den gängigen Interpretamenten der Kriminalitätshistorie. Selbst die Grenze zwischen »Strafpraxis« und Norm ist nicht immer klar bestimmt: Wenn der Kölner Rat wiederholt das Berufsverbot eines Zolleinnehmers beschließt, der Entscheid aber offenbar nie umgesetzt wird, dann handelt es sich dabei eben um einen »normativen Text«, dessen Umsetzung einem daran anschließenden Aushandlungsprozeß überlassen bleibt (Groten 1996: 316). Über die Funktion derartiger wie auch der traditionellen Gesetzesnormen wird in Zukunft stärker reflektiert werden müssen. Auch nicht »vollzogene«, »angewandte« oder »umgesetzte« Normen sind »als obrigkeitlicher Diskurs ein ganz wesentlicher Teil der Wirklichkeit, weil sie Vorstellungen über das Wichtige und Richtige prägen«; vielleicht liegt sogar ihr eigentlicher Wert eher in der »Diskursivierung von Normabweichungen«; als in deren Beendigung (Dinges 1997: 41, 52). Jürgen Schlumbohm (1997) hat in den »Gesetzen, die nicht durchgesetzt wurden«, sogar ein Strukturmerkmal des frühmodernen Staates erblickt. Andere Forscher setzen unterdessen noch einmal zur genaueren Analyse des Verhältnisses zwischen Norm und Strafpraxis an und fragen nach der Kasuistik obrigkeitlicher Entscheidungsfindung, die zu einer flexiblen Anwendung von Normen führte, und nach dem Zusammenspiel sozialer und rechtlicher Mechanismen, wie es sich im Gnadenbitten und in den Suppliken der Untertanen manifestierte. 38 Auch profiliert kulturgeschichtliche Forschungsansätze, so zeigt sich am Schluß, nehmen von durchaus traditionellen Forschungsgegenständen wie »Gesetzen« oder »Staat« nicht vorschnell Abschied - nur wird sich, so steht zu hoffen, unser Bild von Gesetzen und Staaten in der Vormoderne nachhaltig verändern. 38 Zu diesen Themenkomplexen sind wichtige Ergebnisse von André Holenstein (Habilitationsprojekt zur Markgrafschaft Baden) vgl. Holenstein 1998 und Harriet Rudolph (Dissertationsprojekt zum Fürstbistum Osnabrück) zu erwarten.Vgl. zu den Suppliken jetzt die Beiträge in Blickle (1998). <?page no="52"?> Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum 53 Auswahlbibliographie neuerer Veröffentlichungen, die sich mit dem deutschen Sprachraum im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit beschäftigen; aufgeführt sind außerdem die im Text genannten, älteren und internationalen Forschungsbeiträge. Ausgespart bleiben in der Regel Studien zu Hexerei und Hexenverfolgung, Inquisition und Ketzerei sowie zum politischsozialen Protest. Sabine Alfing/ Christine Schedensack: Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1994. Kurt Andermann (Hg.): »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter, Sigmaringen 1997. Ulrich Andermann: Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbehauptung. 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Großbritannien kann neben Frankreich fraglos als Mutterland der modernen historischen Kriminalitätsforschung betrachtet werden; die methodischen Ansätze und Fragestellungen britischer, amerikanischer oder kanadischer (Rechts-)Historiker/ innen auf diesem Feld besaßen für die europäische Devianzforschung oft eine Initial- und Vorbildfunktion und ihre häufig zu ›Forschungskontroversen‹ führenden differierenden Schlußfolgerungen und Interpretationen haben unser Gespür für viele der - nach wie vor ungelösten - Probleme, aber auch für das noch nicht ausgeschöpfte Potential dieser historischen Subdisziplin geschärft. Der Versuch eines Forschungsüberblickes zur englischen Kriminalitätsgeschichte, der die Zeit vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts behandeln will, muß aufgrund der Masse der bisher erschienen Monographien, Sammelbände und Zeitschriftenartikel äußerst kursorisch im Sinne einer annotierten Bibliographie bleiben und kann unmöglich alle einzelnen Untersuchungsbereiche und -ergebnisse angemessen würdigen. 2 In der Folge will ich daher zunächst versuchen, die Ursachen des gestiegenen historischen Interesses an Straftätern und Strafinstitutionen anhand innerdisziplinärer wie gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen nachzuzeichnen und deren Auswirkungen auf Forschungsmethoden und -schwerpunkte darzustellen (I). Daran schließt sich ein Überblick über die wichtigsten dieser Schwerpunkte an, die jedoch in den meisten Arbeiten aufgrund ihrer komplexen Verbindungen selten isoliert betrachtet werden. Zu ihnen gehört zum einen die Geschichte der staatlichen Strafgesetzgebung, des Strafverfahrens und der Strafmittel, die auch die Bedeutung von Prozessen der Staatsbildung und der Entstehung einesVerwaltungsapparates sowie die Besonderheiten des englischen Strafrechtssystems erkennen läßt (II). Zum anderen die Analyse von Kriminalität oder abweichendem Verhalten allgemein, die Verbrechen als soziales Phänomen erfaßt, dessen von je zeitspezifischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen bedingtes Ausmaß oder Muster auch die Frage nach dem Wandel mentaler Prädispositionen und der Reichweite von Modernisierungs- und Zivilisierungstheorien aufwirft (III). Und schließlich bildet die Diskussion um die Rolle des Strafrechts und der es durchsetzenden Zwangsapparate als Mittel der sozialen Kon- 1 Innes/ Styles (1980: 380). 2 Vgl. dazu auch die Forschungsberichte von Bailey (1980), Curtis (1980), Council of Europe (1985), Emsley/ Knafla (1994), Hufton (1981), Ignatieff (1981), Jenkins (1987), McMullan (1987), O’Brian (1978), Pearson (1978), Philips (1983), Sharpe (1982, 1988), Soman (1980). <?page no="69"?> Peter Wettmann-Jungblut 70 trolle und folglich der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung einen weiteren Schwerpunkt der englischen Forschung (IV). I. Die moderne englische Kriminalitätsgeschichte ist sicher ein genuines Kind jener ›neuen‹ Sozialgeschichte, die sich in Großbritannien seit den späten 1950er Jahren als Alternative zu der damals dominierenden ›klassischen‹ Politik- und Wirtschaftsgeschichte zu entwickeln begann und von drei neuartigen Perspektiven und Tendenzen gekennzeichnet war. 3 Man suchte erstens nach einer »history from below«, die den stummen Akteuren der Masse, den vergessenen Verlierern und Randfiguren der Geschichte ihre Stimme und Würde zurückgeben sollte, indem man ihre historischen Erfahrungen zu rekonstruieren suchte. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten E.P. Thompson, Eric Hobsbawm und George Rudé, die sich mit den Problemen von Gewalt und Unordnung sowie der Rolle von Recht und Gesetz in den politischen Kämpfen des 18. und 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hatten. 4 Kollektive Gewalt und Normbrüche im Sinne eines vorpolitischen Widerstands gegen die ›unmoralische‹ Ökonomie der sich entwikkelnden Marktgesellschaft oder gar einer bewußten Ablehnung ihrer Postulate blieben zwar bis heute ein Untersuchungsgegenstand der Kriminalitätsforschung, 5 doch die nachfolgenden Studien wandten sich in weitaus stärkerem Maße dem Phänomen des individuell abweichenden Verhaltens zu. Zweitens wurden nun vielfach die Ansätze der positivistischen Sozialwissenschaften adaptiert, da man glaubte, menschliches (Fehl-)Verhalten mittels statistischer Methoden quantitativ erfassen und mit aggregierten Statistiken seine historische Konstanz oder Veränderung messen zu können. 6 Und drittens propagierten viele Autoren eine Sichtweise, die in den gesellschaftlichen und strafrechtlichen Reformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts den krönenden Abschluß einer langen Evolution sah und kaum Zweifel an der steten Aufwärtsbewegung historischer Veränderungen hegte. Für Leon Radzinowicz etwa trugen zu dieser »history of progress« im Sinne einer schrittweisen Zähmung zwischenmenschlicher wie staatlicher Gewalt »the forces of morality, of philosophical thought and social consciousness« gleichermaßen bei. 7 Jede dieser drei Tendenzen rief in gewissem Maße auch konträre Meinungen ins Leben. Die Idee eines linearen Fortschritts in der Strafrechtsgeschichte, die dem traditionellen Recht zwangsläufig einen ›primitiven‹, inhumanen Charakter zuwies, wird spätestens seit Foucault als mehr oder weniger revisionsbedürftig betrachtet; ebenso haben die seit langem anhaltende Krise des Strafvollzugs und steigende Kriminalitätsraten in den westlichen Industrienationen vielleicht dazu beigetragen, die Vergangenheit zwar mit vermehrtem Interesse, aber ohne die zivilisatorische Überlegensheitsbrille zu be- 3 Vgl. dazu Innes/ Styles (1986: 382 ff.). 4 Thompson (1963), Rudé (1962, 1964), Hobsbawm (1959), Hobsbawm/ Rudé (1968). 5 Vgl. Bushaway (1982: 207 - 237), Malcolmson (1980), Palmer (1988), Rudé (1978), Brewer (1980a, 1980b). 6 Besonders ausgeprägt ist dieses Vertrauen in die überlegene ›Wahrheit‹ der Statistik etwa bei Samaha (1974), der auf 176 Seiten 56 Tabellen präsentiert, aber auch in den Arbeiten von Hanawalt, Beattie, Gurr, Gurr/ Grabosky. 7 Radzinowicz (1948 - 68: Bd. 1, IX). <?page no="70"?> Von Robin Hood zu Jack the Ripper 71 trachten. 8 Die Rezeption moderner kriminalsoziologischer Theorien - insbesondere des ›labeling approach‹ - erhöhte das Verständnis für das selektive Vorgehen des staatlichen Justizapparates und legte die Einsicht nahe, daß Gerichts- und Polizeiakten und die aus ihnen gewonnenen Statistiken mindestens ebenso stark die Aktivitäten von Kontrollinstanzen wie die von ›Kriminellen‹ belegen und nicht notwendigerweise in direktem Bezug zum Aufkommen der tatsächlichen ›Kriminalität‹ stehen müssen. 9 Der Erlaß von Gesetzen und ihre selektive Anwendung und Durchsetzung wiederum, die eine eher marxistische Interpretation als von den Interessen der herrschenden Klasse gelenkt sieht, 10 bedürfen für andere Forscher einer vorsichtigen Deutung und der Berücksichtigung der Tatsache, daß sie auf der Mitarbeit breiter Bevölkerungsschichten beruhten. 11 II. Kriminalitätsgeschichte ist eng mit der Geschichte des staatlichen Verwaltungs- und Repressionsapparates verbunden, und gerade für das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Europa ist der Zusammenhang zwischen Staat und Recht, d.h. zwischen der Formation stabiler staatlicher Gebilde und der Entstehung staatlicher Rechtsinstitutionen, konstitutiv. Die Monopolisierung der Sanktionsgewalt vollzog sich in einem im 11./ 12. Jahrhundert einsetzenden Prozeß, in dem jede Institutionalisierung von Normensystemen mit der Institutionalisierung politischer Ordnung verschränkt war und für den die knappe Formel: ›kein Strafrecht ohne Staat, kein Staat ohne Strafrecht‹ 12 gelten kann. Daß England im Unterschied zu den anderen westeuropäischen Nationen das Jury- System und den Akkusationsprozeß annahm und behielt, liegt sicher primär in der Chronologie der Entwicklung und Verbreitung der königlichen Jurisdiktion begründet. Die letztendlich entscheidenden Weichenstellungen wurden von Heinrich II. zwischen 1166 und 1179 vorgenommen, der lokale Anklagejuries einsetzte, die reisenden Richtern (»justices on eyre«) während den Assizes alle Beschuldigungen wegen Mord, schwerem Diebstahl, Fälschung, Brandstiftung etc. vortrugen, wobei bis zur Entstehung der Geschworenengerichte (»trial juries«) im frühen 13. Jahrhundert durch das Ordal über Schuld und Unschuld entschieden wurde. Diese Reformen fanden statt, bevor die Rezeption des Römischen Rechts die Monarchen Kontinentaleuropas zur Einführung des Inquisitionsprozesses bewog, so daß in England auch die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung fast niemals zur Anwendung gelangte und der Vollzug der Todesstrafe auf die ›einfachen‹ Formen des Hängens und Enthauptens beschränkt blieb. Als rechtliche Entscheidungsgrundlage diente das englische »common law«, ein auf Einzelstatuten und Präzedenzfällen beruhendes Rechtssystem (bis vor wenigen Jahren existierte in England kein Strafgesetzbuch), das seine dominierende Stellung gegenüber al- 8 Vgl. Wiener (1990: 1 - 13), Macfarlane (1981: 1 - 26), Sharpe (1996). 9 Vgl. Gatrell (1980), Gatrell/ Hadden (1972), Sharpe (1990a), Johnson (1990). 10 Hay (1975), Hay/ Linebaugh (1975), Johnson (1993), Linebaugh (1981, 1985, 1993), Rule (1979, 1982a), Snyder/ Hay (1987), Thompson (1975). 11 King (1984, 1989), Herrup (1985, 1987), Langbein (1983a), Sharpe (1983a: 144 - 149, 1984: 147ff.). 12 René Levy/ Xavier Rousseaux: Etats, justice pénale et histoire: bilan et perspectives, in: Droit & Société 20/ 21 (1992), 251. <?page no="71"?> Peter Wettmann-Jungblut 72 len anderen Rechtssystemen (Kanonisches, Römisches, oder lokales Gewohnheitsrecht) behaupten konnte. Im 14. und 15. Jahrhundert entwickelten sich in London die drei großen königlichen common law-Gerichtshöfe »Common Pleas«, »Exchequer of Pleas« und »King’s Bench«. Sie entschieden fast ausschließlich in zivilrechtlichen Fällen, doch »King’s Bench« besaß auch eine strafrechtliche Kammer und hatte bis zum 16. Jahrhundert beachtliche Kontrollbefugnisse über andere lokale Kriminalgerichte erworben. Die im Spätmittelalter überall stetig wachsende Zahl von anhängigen Klagen reflektiert zum einen den Wunsch der Bevölkerung nach Ordnung und Frieden, nach einer Entscheidungsinstanz für die endlosen reziproken Familienfehden sowie das Bestreben der Krone, ihrem allgemeinen gesellschaftlichen Führungsanspruch Ausdruck zu verleihen. Zum anderen gingen mit der königlichen Verantwortung für Recht und Ordnung ein bedeutender Machtzuwachs und nicht unbeträchtlicher Profit einher. Die königliche Macht suchte und fand ihre Verkörperung in der Rechtssprechung und wurde mit ihr zugleich vom Zentrum in die Peripherie transportiert. In der Kriminaljustiz verhieß Rechtsprechung auch Gewinn, denn sie bot in Abwesenheit eines effizienten Besteuerungssystems eine willkommene Möglichkeit, durch Geldstrafen oder die Beschlagnahmung des Vermögens verurteilter Missetäter die leeren Kassen der englischen Könige zu füllen. Das System der Assizes und das gegen Ende des 13. Jahrhunderts voll ausgebildete System der »gaol delivery« kamen der königlichen Machtausdehnung in den Grafschaften entgegen. Fortan wurden professionelle und von der Zentralgewalt dirigierte Richter zweimal jährlich in jede Grafschaft entsandt und hielten über die bis zu ihrer Ankunft in den County-Gefängissen verwahrten Delinquenten Gericht. Um 1600 war England in sechs »assize-circuits« aufgeteilt, für die je zwei Richter zuständig waren. Sie urteilten über die meisten »felonies« (Vergehen, die im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe nach sich ziehen konnten), zu denen neben den obengenannten nun auch Totschlag, Vergewaltigung, Einbruchs-, Pferde- und Taschendiebstahl, Zauberei und Hexerei zählten, entschieden aber auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten; zudem dienten die Assizes als Verbindungsglied zwischen Zentral- und Lokalregierung, indem die Zentralregierung die Assizes als Artikulationsforum ihrer Forderungen an die lokalen Eliten nutzte und letzteren erlaubte, lokale Mißstände anzuprangern und ihre Interessen vorzubringen. 13 Im Spätmittelalter sind auch die Ursprünge des Amtes des »justice of the peace« zu finden, der vorrangig dafür verantwortlich war, Recht und Ordnung während der langen Abwesenheit der königlichen Richter aufrechtzuerhalten. Diese unbezahlten ›Amateurrichter‹, die sich fast ausschließlich aus den Reihen der lokalen »landed gentry« rekrutierten, übernahmen auch die Leitung der lokalen Administration; aus den Treffen, die die Friedensrichter einer Grafschaft ursprünglich viermal im Jahr zur Beilegung von Arbeitskonflikten zusammengeführt hatten, entwickelten sich die sogenannten »quarter sessions«, die schließlich die Jurisdiktion über viele geringfügige Vergehen (»misdemeanours« und »public nuisances«) übernahmen. In den ebenfalls unbezahlten Ämtern des »constable«, »churchwarden« oder »overseer of the poor« standen wohlhabende Dorfbewohner den Friedensrichtern bei der Durchsetzung des Rechts zur Seite; dieser relativ schmalen Schicht aus Gentry und dörflicher Elite (reiche Bauern und 13 Vgl. Kaeuper (1979, 1988), Sharpe (1997), Bellamy (1973), Cockburn/ Green (1988), Cockburn (1972), Baker (1977, 1981), Green (1985), Langbein (1974), Post (1983, 1986), Tropea (1991). <?page no="72"?> Von Robin Hood zu Jack the Ripper 73 Handwerker), die auch die Geschworenen bei den Assizes stellten, gelang es daher mehr oder weniger erfolgreich, die breite Masse der landlosen oder landarmen Tagelöhner, Arbeiter, Pächter und Handwerker zu kontrollieren und in die Bahnen ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu lenken. 14 Der englischen Gentry kam nicht nur eine Schlüsselposition in der Strafrechtspflege, sondern auch in der Strafgesetzgebung zu. Neben Mitgliedern des städtischen Bürgertums saßen viele »justices of the peace« im House of Commons, dem in Zusammenarbeit mit dem House of Lords (Großadel, Großgrundbesitzer, Bischöfe) der Erlaß von Gesetzen oblag. Die Zahl der Statuten, die Vergehen zu Kapitalverbrechen erklärten, wurde im Laufe der Frühen Neuzeit kontinuierlich erhöht; während zur Zeit der »Glorious Revolution« etwa 50 Kapitalverbrechen existierten, war ihre Zahl bis 1820 auf weit über 200 angewachsen. Die Deutung dieses »Bloody Code«, der überwiegend Eigentumsvergehen mit der Todesstrafe bedrohte und für dessen stark partikularistisch geprägte Statuten der berühmt berüchtigte »Waltham Black Act« von 1723 als exemplarisch gelten kann, hat die englische Historikerzunft in zwei Lager gespalten. Für die einen sind diese Statuten »legal instruments which enforced the division of property by terror« und dokumentieren die langsame Kriminalisierung vormals gewohnheitsrechtlich legitimierter Erwerbspraktiken der Unterschichten. Vor allem mit der abschreckenden symbolischen und konkreten Wirkung des »Bloody Code« gelang es der herrschenden Klasse, ihre Eigentumsinteressen zu verteidigen und zugleich den neugeschaffenen Formen bürgerlich-kapitalistischen Eigentums den Weg zu ebnen. 15 Für die anderen bringt die Flut von Gesetzen eher die mangelnde Fähigkeit des englischen Rechts zur definitorischen Generalisierung zum Ausdruck; während die Todesstrafe fast ausschließlich aufgrund einer Handvoll Statuten aus dem 16. Jahrhundert verhängt wurde, besaßen viele Einzelbestimmungen wie etwa jene aus dem Jahre 1736, die die Zerstörung der Westminster Bridge zum Kapitalverbrechen machte, in der strafrechtlichen Alltagspraxis kaum Relevanz. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß auch die Mittelschicht bei der Strafverfolgung und Strafanwendung (als Geschworene bei den Assizes) eine wichtige Rolle spielte und ihre Interessen mit denen des Großadels oder des Handelskapitals nicht identisch waren. 16 Kontrovers diskutiert werden teilweise auch die Entwicklung des Strafvollzugs 17 und die Bedeutung der öffentlichen Strafrituale. Letztere werden sowohl als Zeremonien par excellence zur Demonstration von staatlicher Macht und als pompöse, höchst wirkungsvolle Inszenierungen zur Legitimation der »rule of law«, als didaktische Lehrstücke und öffentliche Opferrituale zur sakralen Reinigung des beschmutzten Gesellschaftskörpers als auch als eher schäbige karnevaleske Grotesken interpretiert, die kaum geeignet waren, die Autorität und Erhabenheit des Rechts herauszustellen. 18 Die 14 Vgl. Moir (1969), Landau (1984), Emsley (1992), Marshall (1974), Kent (1986), Wrightson/ Levine (1979). 15 Hay (1975: 21), Thompson (1975, 1991), Chapman (1980), Delaney (1988), Sugarman (1983), Hall (1952), Fletcher (1975/ 76), Gatrell (1990), Snyder/ Hay (1987). 16 Broad (1988), Cockburn/ Green (1988), Green (1985, 1987), Innes/ Styles (1986), King (1984), Langbein (1983a, 1983b, 1978), Styles (1983a). 17 Vgl. allgemein Sharpe (1990a). 18 Hay (1975), Sharpe (1985a), Lake (1996), McGowen (1986), Laqueur (1989). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die durchaus ambivalente Darstellung von Kriminalität, Kriminellen und Strafjustiz in der zeitgenössischen Literatur, in den unzähligen Flublättern und Billigdrucken; vgl. dazu Dolan (1994), Sharpe (1986a), Punter (1982), Lake (1994), Lamoine (1977). <?page no="73"?> Peter Wettmann-Jungblut 74 Zahl der Hinrichtungen dürfte im 14. und 15. Jahrhundert vermutlich noch relativ gering gewesen sein. Sie erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1530 und 1630, als im Zug des harschen staatlichen Vorgehens gegen Vaganten schätzungsweise 75.000 Personen in England hingerichtet wurden, und ging danach langsam zurück. 19 Allerdings läßt sich die Foucaultsche Chronologie der Geburt des Gefängnisses für England nur bedingt nachvollziehen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein existierte ein pönaler ›Pluralismus‹, der sich problemlos verschiedener Strafformen (Hinrichtung, Gefängnis, Deportation, Körper-, Ehren- und Geldstrafen) bediente und keinen gradlinigen Entwicklungstrend erkennen läßt. Vor allem die Deportation in die amerikanischen Kolonien und später nach Australien und Tasmanien, aber auch die Zwangsrekrutierung zur Armee, rettete Zehntausende von Todeskandidaten durch einen königlichen Gnadenerlaß vor dem Galgen und führte sie als billige Arbeitskräfte oder dringend benötigte Soldaten nach Übersee, wo sie zum Wohle der Handelsnation England eingesetzt wurden. 20 Erstaunlich ist auch der Umstand, daß die Hinrichtungsmaschinerie kurz vor Ende des alten Strafsystems noch einmal auf Hochtouren lief: Zwischen 1770 und 1830 wurden etwa 35.000 Personen zum Tode verurteilt und etwa 7.000 tatsächlich exekutiert, so daß die Zahl der Exekutionen zu Anfang des 19. Jahrhunderts wesentlich höher als zu Anfang des 18. Jahrhunderts lag. Erst der Reform Act von 1832, die wohl größte ›Revolution‹ in der englischen Strafrechtsgeschichte, beendete die Herrschaft von »Albion’s fatal tree«; parallel zur Zahl der todeswürdigen Delikte sank die Zahl der Hinrichtungen rapide, und 1861 galten schließlich nur noch Hochverrat und Mord als gesetzliche Kapitalverbrechen, deren Bestrafung nach 1868 nicht länger öffentlich vorgenommen wurde. 21 Das Ende des alten Strafsystems und der im 19. Jahrhundert einsetzende Siegeszug des Gefängisses wurden in England lange als Ergebnis von primär auf Humanisierung zielenden Reformen verstanden, wobei oft vergessen wurde, daß die letzte Hinrichtung in England 1964 stattfand und dieTodesstrafe erst 1973 endgültig abgeschafft wurde. 22 Mittlerweile hat sich eine differenziertere Sicht durchgesetzt, die anerkennt, daß der reformerische Humanismus Hand in Hand mit einem strengen Disziplinarmodell ging und eine säkularisierte gesellschaftliche Moral propagierte, die menschliche Leidenschaften - die bei öffentlichen Hinrichtungen allzu oft ungezügelt zum Ausbruch gelangten - zu regulieren und die Persönlichkeit umzugestalten suchte, die das Strafrecht nicht nur als praktisches Instrument der Verbrechenskontrolle, sondern auch als Ausdruck und Verstärker eines verbindlichen gesellschaftlichen Glaubenssystems betrachtete. Dieses Modell mag ein zivilisierendes, aber kaum ein humanes historisches Moment markieren; es konnte Gewaltformen verschleiern, ohne daß deren Ausmaß notwendigerweise reduziert wurde, und unterwarf mehr und mehr Menschen, die vorher nicht die Todesstrafe zu gewärtigen hatten, dem harten Zwangssystem der Gefängnisdisziplin. 23 In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, als die Kriminalitätsrate in England einen historischen Tiefstand erreichte, mußten dennoch jährlich 0,6% der engli- 19 Radzinowicz (1948 - 68: Bd. 1), Jenkins (1986); vgl. zum Vagantenproblem Beier (1974, 1985). 20 Vgl. Atkinson (1994), Ekirch (1985, 1987), Conway (1985), Hughes (1987), Jenkins (1986), Radzinowicz (1968), Rudé (1978), Shaw (1966), A.E. Smith (1934, 1947). 21 Vgl. Gatrell (1994), Linebaugh (1993). 22 Radzinowicz (1948 - 68), Radzinowicz/ Hood (1986). <?page no="74"?> Von Robin Hood zu Jack the Ripper 75 schen und 1,5% der schottischen Bevölkerung eine Gefängnisstrafe antreten - die Hälfte davon, weil sie nicht in der Lage war, eine Geldbuße zu zahlen, und ein Drittel wegen Trunkenheit. 24 III. Fast alle Monographien zur englischen Kriminalitätsgeschichte, seien sie auf einzelne Grafschaften beschränkt oder als nationale Übersichtsdarstellung angelegt, konzentrieren sich zur Erstellung von Kriminalitätsmustern oder zur Diskussion von kurz- und langfristigen Entwicklungstrends abweichenden Verhaltens auf die Indictment-Serien der Assizes, die allein die heute als Schwerkriminalität zu bezeichnenden »felonies« dokumentieren. 25 Die weitgehende Vernachlässigung der Tätigkeit anderer Gerichte birgt gewisse historiographische Begrenzungen und läßt manche der entdeckten Makroveränderungen von Kriminalitätsmustern fragwürdig erscheinen. 26 Dies gilt vor allem für die Vorstellung des sich zwischen Spätmittelalter und 19. Jahrhundert vollziehenden Übergangs von einer »feudalen«, auf Gewaltanwendung beruhenden Kriminalität zu einer »modernen«, von Eigentumsdelikten dominierten Kriminalität. Mit der Ausnahme von Maddern (1992) und Hanawalt (1979) konstatieren viele Arbeiten zum Spätmittelalter sehr hohe Quoten von Tötungsdelikten (die je nach Ort und Zeit zwischen 5 und 110 pro 100.000 Einwohner variieren) und allgemein ein Übergewicht der Gewaltvergehen. Die seit dieser Zeit rückläufigen Zahlen der Tötungsdelikte sind sicherlich unumstritten; 27 ihre Interpretation - etwa die angebliche Verlagerung der Gewalt vom öffentlichen Bereich der Straße und des Wirtshauses in die private Sphäre der Familie - führte jedoch zu einer Forschungskontroverse, in deren Verlauf vor allem ein behutsamerer Umgang mit aggregiertem Datenmaterial eingefordert wurde. 28 Die vordergründig offensichtliche Beweiskraft der statistischen Analyse verliert an Stringenz, wenn ihre begrenzten Möglichkeiten berücksichtigt werden, die James Cockburn exemplarisch aufgelistet hat: Erstens enthalten alle errechneten Tötungsraten unausweichliche Verzerrungen, die durch die demographischen Unsicherheiten des vorstatistischen Zeitalters bedingt werden. Zweitens bleiben die unübersehbaren Auswirkungen der verbesserten medizinischen Versorgung auf die Todesrate bei gewalttätigen Angriffen stets unberücksichtigt, obwohl die meisten Opfer von Gewalttaten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit an Verletzungen starben, die heute keineswegs zum Tode führen würden. Drittens läßt sich parallel zum Rückgang der Tötungsdelikte die gesellschaftliche Ächtung des Waffentragens beobachten - die höchsten Tötungsraten wiesen und weisen immer 23 Vgl. Gatrell (1994), Wiener (1984, 1990), Bender (1987), Cooper (1974), DeLacy (1986), Evans (1982), Ignatieff (1978, 1981), Philips (1980), Innes (1980, 1987), McGowen (1986), Morris/ Rothman (1995), Rustigan (1980), Graff (1977). 24 Lenman/ Parker (1980: 44). 25 So Archer (1990), Beattie (1986), Bellamy (1973, 1984), Emsley (1987), McLynn (1989), Philips (1977), Samaha (1974), Sharpe (1983a, 1984); vgl. zu einem anderen Ansatz Shoemaker (1991), Oberwittler (1990), Sharpe (1977, 1980b, 1983b, 1992) und zur Bedeutung der Kirchenzucht Poos (1995), Sharpe (1980a). 26 Vgl. Post (1987), Sharpe (1990a), Knafla (1983). 27 Vgl. Cockburn (1977b), Beattie (1986). 28 Vgl. Gurr (1981), Stone (1983, 1985), Sharpe (1981, 1985b), Cockburn (1991). <?page no="75"?> Peter Wettmann-Jungblut 76 noch (siehe das Beispiel der Vereinigten Staaten) jene Gesellschaften auf, in denen Waffen fast ubiquitär verfügbar sind und ihr Gebrauch als notwendig und als ein Beweis männlicher Stärke gilt. Viertens sind die englischen Statistiken für das 18. und 19. Jahrhundert einigermaßen irreführend, da sie die hohe Zahl von Tötungen durch Armeeangehörige, die vor Kriegsgerichten verhandelt wurden, nicht miteinschließen. 29 Und schließlich haben gesetzgeberische Maßnahmen die offiziellen Mordstatistiken dramatisch verändert, besonders hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortbarkeit für gewisse Handlungen. Während heute etwa die durch rücksichtsloses Fahren im Straßenverkehr verursachten Todesfälle nicht mehr in den Statistiken auftauchen, wurden vergleichbare Vergehen in der Frühen Neuzeit durchaus als Mord oder Totschlag vor Gericht gebracht. 30 Es ist folglich zum einen fragwürdig, ob Tötungsraten einen verläßlichen Indikator für das Ausmaß von Gewalt in einer Gesellschaft liefern. Zum andern lassen sich auch im 16. und 17. Jahrhundert Formen ›moderner‹ Kriminalität finden, die nicht den Schluß erlauben, daß England zur Modernisierung seiner Kriminalität des kapitalistischen Warenverkehrs, der Industrialisierung oder Verstädterung bedurfte. 31 Der tatsächliche oder nur vermutete Rückgang tödlicher interpersonaler Gewaltvergehen wurde ferner nicht von einem linearen Anstieg der Eigentumsdelikte begleitet; vielmehr zeichnet sich hier eher eine zyklische Wellenbewegung mit fallenden Zahlen im 17. und steigenden im 18. Jahrhundert ab, die wiederum von einem Rückgang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelöst und zudem von Hochs und Tiefs in gesellschaftlichen Krisen-, Kriegs- und Friedenszeiten bestimmt wurden. 32 Die Verbindung von Erscheinungsformen der Kriminalität mit sozioökonomischen Veränderungen und ihren Auswirkungen liegt auch dem umstrittenen Konzept des »social crime« zugrunde. Eric Hobsbawm zählt alle Handlungen, die einen »conflict of laws, e.g. between an official and an unofficial system« widerspiegeln, die »a distinct element of social protest« beinhalten oder aber »closely linked with the development of social and political unrest« sind, zum Phänomen der ›sozialen Kriminalität‹. 33 Das Konzept kann daher in abgeschwächter Form dahingehend verstanden werden, daß es eine große Anzahl von gesetzlich definierten Gesetzesbrüchen gab, die von der Masse der Bevölkerung nicht als kriminelle Handlungen betrachtet wurden. Eine radikalere, marxistisch angehauchte Version legt hingegen den Schluß nahe, daß die meisten dieser Handlungen eine explizite oder implizite proto-politische Form des Protestes oder Widerstands darstellten, die den Unterschichten die (einzige) Möglichkeit zum Ausdruck ihrer Ablehnung von Ausbeutung und Unterdrückung durch die Reichen bot. Die ›klassischen‹ Formen dieser Gesetzesverstöße sind vor allem für das 18. Jahrhundert eingehend untersucht worden: Wilderei, Brandstiftung, Schmuggel, Viehdiebstahl, Strandraub, Unterschlagung in Manufakturen und Fabriken, Holzsammeln und das Nachlesen auf den Feldern. 34 Problematisch bleibt der Begriff insofern, als man kei- 29 Vgl. dazu auch Burroughs (1985), Gilbert (1978). 30 Vgl. Cockburn (1991: bes. 101 - 106). 31 Vgl. Macfarlane (1981). 32 Sharpe (1983a, 1984, 1996), Gatrell (1980), McDonald (1982), Hay (1982); auf uneingeschränkter Modernisierung beharrt hingegen Shelley (1981). 33 Hobsbawn (1972: 5). 34 Archer (1990), Munsche (1977, 1981), Bushaway (1982), King (1989), Carson (1979), Becker (1983), Styles (1983a), Rule (1975, 1982b), Wells (1984), Winslow (1975). <?page no="76"?> Von Robin Hood zu Jack the Ripper 77 ne automatische und allgemein gültige Verbindung zwischen Armut und illegaler Aneignung ziehen kann und keine harte Frontstellung der Unterschichten zum Recht voraussetzen sollte. Obwohl das Bild des ›edlen‹ Wilderers à la Robin Hood, der den Hasen des hartherzigen Grundbesitzers stiehlt, um seine hungernde Familie zu ernähren, und als ›Sozialbandit‹ für ein klein wenig Gerechtigkeit sorgt, immer noch eine starke Faszination ausübt, darf nicht übersehen werden, daß gerade die Wilderei auf dem Lande im 18. Jahrhundert zu einem zunehmend kommerzialisierten und organisierten Nebenerwerb wurde, der auf die steigende Nachfrage des wohlhabenden Stadtbürgertums nach Wild und gleich dem Schmuggel auf dessen Bedarf an Luxusgütern reagierte. 35 Eine zunehmende Zahl von Publikationen beschäftigt sich mit dem Phänomen der Frauenkriminalität, d.h. mit der spezifischen Beziehung zwischen Geschlecht und Kriminalität und der historischen Wandlungen unterworfenen Rolle von Frauen als Opfer und Täterinnen. Noch im 17. und 18. Jahrhundert stellten Frauen zwischen 30 und 50% der Angeklagten in Kriminalprozessen, während ihr Anteil im 19. und 20. Jahrhundert auf etwa 5 bis 15% sank. Für den hohen vormodernen Prozentsatz waren dabei weniger die ›typischen‹ Frauendelikte Hexerei - die in England im übrigen in weitaus geringerem Maße verfolgt wurde als auf dem Kontinent - und Kindsmord 36 verantwortlich, sondern diejenigen Vergehen, die heute als männliche Domäne gelten. 37 Als historisch einigermaßen konstant kann man wohl den Umstand betrachten, daß Frauen als Täterinnen bei Delikten mit physischer Gewaltanwendung stets unterrepräsentiert waren und auch generell ›milder‹ - oder zumindest anders - als Männer bestraft wurden; unter den 1.232 bzw. 59 Personen, die 1703 - 72 bzw. 1827 - 30 zur Londoner Hinrichtungsstätte Tyburn geführt wurden, fanden sich nur 92 respektive 4 Frauen. 38 In der Forschung herrscht relativer Konsens darüber, daß die Ursachen dieses starken Rückgangs primär in der Umgestaltung der Institutionen der sozialen Kontrolle und der veränderten gesellschaftlichen Konstruktion von Weiblichkeit, die im späten 18. Jahrhundert einsetzten und in der Viktorianischen Ära zum Durchbruch gelangten, zu finden sind. Die reformierte formalstaatliche Strafjustiz und ihre Kerninstitution Gefängnis zielten vornehmlich auf Männer; Frauen hingegen wurden zunehmend aus der Öffentlichkeit verbannt und der häuslichen Kontrolle ihrer Ehemänner unterworfen, während ihr abweichendes Verhalten gleichzeitig stärker als »mad not bad« definiert und als ein Problem psychiatrischer Behandlung erachtet wurde. IV. Die latenten und manifesten Funktionen sowie der Stellenwert des Strafrechts sind auch in historischer Perspektive durchaus umstritten. Die englische Forschung hat sich wiederholt mit der strittigen Frage beschäftigt, ob es primär dazu diente, die Macht der herrschenden Klasse(n) zu legitimieren und zu erhalten - womit auch divergierende Einstellungen zu »law and order« (etwa zwischen Eliten- und Volkskultur) oder die Be- 35 Vgl. zur ›organisierten‹ Kriminalität Hobsbawm (1986), Sharpe (1986b), MacIntosh (1973). 36 Vgl. dazu Malcolmson (1977), Wrightson (1982), Hoffer/ Hull (1981), Gowing (1997). 37 Vgl. Feeley (1994), Feeley/ Little (1991), Clark (1989), Beattie (1975), Gowing (1993, 1994), Greenberg (1995), Zedner (1991a, 1991b), Walkowitz (1980, 1992), Wiener (1975), Tomes (1978), Kermode/ Walker (1994). 38 Gatrell (1994: 8). <?page no="77"?> Peter Wettmann-Jungblut 78 rechtigung des oben angeführten Begriffes »social crime« angedeutet würden - , oder ob es ein allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen zugängliches und dienliches Mittel der Konfliktlösung war. Zu klären bleibt ferner, ob das staatliche Strafrecht überhaupt die ihm oft zugesprochene überragende Bedeutung im Ensemble sozialer Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen besaß, oder ob - zumal in der Frühen Neuzeit - das staatliche Monopol auf Sanktionsprozesse erst im Werden begriffen und somit die Bedeutung lokaler, informaler oder semi-legaler Ordnungssysteme entsprechend hoch war. Für das Spätmittelalter haben viele Autoren darauf hingewiesen, daß England auch vor dem Siegeszug der königlichen Strafjustiz keine rechtlose Gesellschaft war. Selbst die Fehde war ein ›rechtliches‹ Unterfangen in dem Sinne, als sie einem komplexen Netz von Regeln folgte; Gewalt als allgemein verständliche Sprache der sozialen Ordnung wurde keineswegs als unversöhnlicher Gegenspieler von Recht und Gesetz verstanden und nur dann bekämpft, wenn sie als ungerechtfertigt oder gefährlich für die Grundprinzipien der gesellschaftlichen Hierarchie erachtet wurde. Die königliche Jurisdiktion wurde einem ausgeklügelten System der lokalen, kollektiven Konfliktlösung ›aufgepfropft‹, dessen Eckpfeiler die friedliche Schlichtung oder der rechtliche Kompromiß zwischen den Streitparteien waren, die neutrale Schiedsrichter herbeizuführen suchten. Frieden mußte keiner per se rechtlosen und gewalttätigen Bevölkerung via Recht von oben auferlegt werden, denn die mittelalterliche Gesellschaft kannte friedensstiftende Verhaltensweisen ebenso wie Rache und Fehde, die im Zusammenspiel jenes ›hybride System‹ entstehen ließen, in dem der Racheakt schließlich in der oft nicht weniger nachtragenden Kunst des Rechtsstreites aufgehen sollte. 39 Obwohl die Schlichtung sich grundlegend vom rechtlichen Verfahren unterschied, indem sie darauf abzielte, eine für alle Parteien tolerable und alle Parteien pazifizierende Lösung zu finden, und nicht nur eine Partei als schuldige zu strafen suchte, wirkte sie lange Zeit harmonisch mit dem formalen Recht zusammen, da viele Kläger die Vorteile der simultanen Nutzung beider Systeme erkannten. Das infrajudizielle, informale System der Konfliktlösung, das Kosten und Zeit sparte, blieb auch in der Frühen Neuzeit erhalten; in Anlehnung an Durkheims Klassifizierung sind die beiden nur scheinbar konträren Rechtstraditionen als »community law« und »state law« bezeichnet worden. 40 Selbst obrigkeitliche Bestrafung leitete nicht zwangsläufig einen Kriminalisierungsprozeß mit dem Ziel des gesellschaftlichen Ausschlusses des Delinquenten ein, und viele offiziellen Klagen wurden in einer frühen Prozeßphase abgebrochen, wenn sich die Parteien außergerichtlich geeinigt hatten. Doch das »community law« arbeitete effizient nur in einer relativ statischen Face-toface-Gesellschaft, in der die Reputation der Missetäter bekannt und das Netz der informalen sozialen Kontrolle dicht war. Die Härte des staatlichen Rechts traf vorwiegend gesellschaftliche Außenseiter, denen es an Unterstützung mangelte und die nicht auf die Patronage einflußreicher Persönlichkeiten bauen konnten: Vaganten, Fremde, Zugewanderte und junge Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden hatten und als potentiell gefährlich galten - mehr als 90% der Männer, die in den 1780er Jahren in London gehängt wurden, waren unter 21 Jahren alt und und zum gro- 39 Maddern (1992), Kaeuper (1988), Bossy (1983), Clayton (1985), McRee (1994), Powell (1983, 1984), Rawcliffe (1984), L.B. Smith (1991). 40 Lenman/ Parker (1980). Vgl. auch Wrightson (1980). <?page no="78"?> Von Robin Hood zu Jack the Ripper 79 ßen Teil erst kurze Zeit in London ansässig. 41 Ebensowenig war das staatliche Recht, das auf die Mitarbeit unbezahlter Laien und die Eigeninitiative der Bürger angewiesen war, in der Lage, die Konflikte zu lösen, die die wachsende Polarisierung der englischen Gesellschaft heraufbeschwor, in der eine reiche Minderheit das Justizsystem beherrschte und die macht- und vermögenslose Mehrheit kontrollierte. 42 So geriet das englische Strafrechtssystem im Laufe des 18. Jahrhunderts in die Kritik des Bürgertums, das um seine Sicherheit und seinen Besitz fürchtete. Es forderte vor allem zentralstaatliche Polizeikräfte, die eine wirksamere Verbrechensbekämpfung und -prävention ermöglichen sollten, zugleich aber weiten Bevölkerungskreisen als Zeichen eines despotischen Staates oder absolutistischer Willkür und als unvereinbar mit den Rechten eines »free-born Englishman« galten. Gegen den Widerstand der Gentry, die den Verlust ihrer lokalen Machtbefugnisse befürchtete, und vieler Gemeinden, die ihre Angelegenheiten weiterhin intern regeln wollten, wurden die Forderungen des Bürgertums im Laufe eines Jahrhunderts schrittweise erfüllt: In London wurde 1750 das Bow Street Police Office, 1800 die Thames River Police und 1829 die Metropolitan Police - Robert Peels berühmte »Bobbies«- eingerichtet; 1835 - 42 zogen verschiedene Counties und Städte (Manchester, Birmingham, Bolton) nach, bevor schließlich 1856 landesweit zentrale Polizeikräfte stationiert wurden. 43 Der Umstand, daß diese Reformen in London ihren Anfang nahmen und den Londoner Verhältnissen entgegenwirken sollten, ist sicher kein Zufall. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert galten die Städte den Besitzenden als Inkarnation des Bösen, als Brutstätte und Refugium von Kriminellen und Gestalten der übelsten Sorte - Stadt als sozialer, anonymer Raum und Verbrechen als Tätigkeitsform waren und sind auch heute noch untrennbar miteinander verbunden, und die Arbeit der Polizei ist ein Synonym all dessen, für das die Stadt steht. Daß Verbrechen eine bedrohliche Bedeutung im Bewußtsein der Menschen gewann, gründet dabei weniger in seinen realen Kosten für die Gesellschaft oder gar für das wohlhabende Bürgertum, sondern vielmehr in seiner engen, sinnbildlichen Verknüpfung mit anderen tiefliegenden Ängsten, die mit den Termini ›Veränderung‹ und ›Ordnung‹ gekennzeichnet werden können. ›Verbrechen‹ wurde zum übergreifenden Begriff, der sich problemlos mit Metaphern von Krankeit, Ansteckung und Verunreinigung assoziieren ließ, der ›Verbrecher‹ pathologisiert. Die Gleichsetzung von Kriminalität und armer Unterschicht wurde zum Axiom erhoben, während der Kriminelle aus der Arbeiterklasse gleichzeitig eine privilegierte Stellung unter den bürgerlichen Schreckgespenstern erhielt. Auf ihn übertrug man alle Furcht vor gesellschaftlichen Veränderungen, die sich ohne seine Hilfe nur schwer hätten ausdrücken lassen, und es dürfte wiederum kein Zufall sein, daß die entscheidenen Reformen des Polizeiwesen in England in jene Zeit fielen, in der Luddismus und Chartismus einen gewaltsamen politischen Umsturz befürchten ließen. 44 So erhellt die Behauptung, daß die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossenen Reformen des Strafsystems und die Institutionalisierung neuer staatlicher Ordnungskräf- 41 Gatrell (1994: 8). Vgl. auch Ingram (1977) und King/ Noel (1994). 42 Vgl. zum Armenproblem Rogers (1991) und zu privaten Assoziationen zur Strafverfolgung im 18. Jahrhundert Shubert (1981). 43 Vgl. 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Für das Bürgertum besaß ein System, das mildere Strafen und zugleich höhere Strafsicherheit durch eine effiziente Polizei und leichtere, billigere Strafverfolgung versprach, fraglos große Attraktivität; mit ihm entstanden aber erst jene anderen charakteristischen Elemente der modernen Strafjustiz: Ein höheres Maß der Überwachung und Disziplinierung der Arbeiterklasse, stetig steigende Kriminalitätsstatistiken und eine sich selbst permanent reproduzierende Gefängnispopulation. Da das Bürgertum das kollektive Gut ›Recht und Ordnung‹ nur kollektiv geschaffen sehen wollte, wurde die Aufgabe der Strafverfolgung und sozialen Kontrolle von einer privaten zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht. 45 Für diese Entwicklung waren mehrere Faktoren verantwortlich: Der Niedergang der paternalistischen Gesellschaftsordnung und die Verschärfung der Klassengegensätze, die das alte System irrational und ineffizient erschienen ließen, da es die Ziele der Strafsicherheit, Prävention und Besserung nicht erfüllte, aber auch die Entstehung eines rationalen Managements der öffentlichen Verwaltung, die die Macht und Autorität lokaler Instanzen brach und zentralstaatlichen Institutionen übertrug. Aus der Sicht des 20. Jahrhunderts mag all dies vernünftig und geboten erscheinen; man sollte aber auch nicht übersehen, daß mit der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das Recht und seine Anwendung den historischen Subjekten, die es unmittelbar betraf, enteignet und in immer stärkerem Maße von Experten und Beamten verwaltet wurde, daß es aufhörte, »eine Funktion von Menschen zu sein, die ihr eigenes Gemeinwesen regieren«. 46 45 Vgl. Spitzer/ Scull (1977), Bailey (1981), Cohen/ Scull (1983), Donajgrodzki (1977). 46 E.P. Thompson: »Rough music« oder englische Katzenmusik, in: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. 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So wie die Kriminalitätsgeschichte allgemein von einem ausgeprägten Pluralismus der Erkenntnisinteressen und Fragestellungen geprägt ist, die oftmals nur über das gemeinsame justitielle Quellenkorpus integrierbar sind, so weist auch die französische Forschungslandschaft eine große Vielfalt auf, die freilich von markanten methodischen und inhaltlichen Konturen durchzogen wird. Den einzelnen Strängen, den nicht ausbleibenden Verästelungen, Querbezügen und manchmal radikalen Schnitten soll ebenso nachgegangen werden wie den jedem Wissenschaftsbetrieb immanenten und über den engen Bereich der Kriminalitätsgeschichte hinausweisenden Konjunkturen der Forschung. Dementsprechend bietet sich eine zugleich thematische wie methodische Gliederung an, die zur gleichen Zeit die Chronologien der Wissenschaftsgeschichte widerspiegelt. Beginnen wird der Überblick mit der Eigentumskriminalität unter dem Blickwinkel quantifizierender Methoden, sozialgeschichtlicher Interpretationen und des Marginalitätskonzepts. Gewalt und Ehre bilden als Angelpunkte einer stärker mentalitätsgeschichtlich und historisch-anthropologisch orientierten Kriminalitätsgeschichte das umfangreichste der hier zu behandelnden Themen. Nach einem Exkurs zu den lange Zeit wenig berücksichtigten Themen Sittenzucht und weibliche Kriminalität soll die Rückbindung der Disziplin an die Geschichte der Strafjustiz und darüber an die politische Geschichte dokumentiert werden. Schließlich sollen Möglichkeiten einer Integration verschiedener Ansätze aufgezeigt werden. 1 Die ausländische, insbesondere die angelsächsische Forschung über Frankreich wurde prinzipiell nicht berücksichtigt. Vgl. aber Esther Cohen: The Crossroads of Justice. Law and Culture in Late Medieval France, Leiden u.a. 1993; Malcolm Greenshields: An Economy of Violence in Early Modern France. Crime and Justice in the Haute-Auvergne, 1587 - 1664, University Park, Pa. 1994. Aus deutscher Perspektive Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 2 Diese Zurückhaltung fällt besonders im Vergleich mit der Rezeption der angloamerikanischen Forschung auf. Vgl. Dirk Blasius: Kriminalität und Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), 615 - 626; ders.: Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136 - 149; Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414; Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681 - 715. <?page no="89"?> Henrik Halbleib 90 Die Orientierung an der konkreten historischen Forschung erscheint auch deshalb geboten, da theoretische Debatten und Reflexionen in der französischen Kriminalitätsgeschichte relativ selten expliziert werden. So lieferten fachfremde Autoren lange Zeit die anregendsten Überlegungen hinsichtlich Gegenstand, Methode und Interpretationsmodellen. 3 Die provokativen Anstöße Benoît Garnots 4 führten bezeichnenderweise zwar zu inzwischen drei von ihm organisierten Kolloquien in Dijon, auf denen die von ihm angesprochenen Probleme durchaus kontrovers diskutiert wurden, 5 eine Antwort auf diese steht bis heute jedoch aus. »Violence auVol« Den ersten Anstoß zu einer gleichermaßen sozialwie mentalitätsgeschichtlichen Erforschung der Kriminalität gab zu Beginn der 1960er Jahre Pierre Chaunu, als er seine Schüler dazu anregte, die Archive einzelner Gerichtsbezirke der Normandie auszuwerten. Diese Untersuchungen sollten einen Beitrag zu einer regionalgeschichtlichen »histoire totale« der ländlichen Gesellschaft des Ancien Régime leisten und zugleich die Geschichte der Armut von einem neuen Standpunkt aus in den Blick nehmen. 6 Die Masse der archivalischen Quellen erschien zudem geradezu ideal für die Erprobung der bereits in Wirtschaftsgeschichte und historischer Demographie bewährten seriellen Methode an neuen Fragestellungen. Unter dem von Chaunu geprägten Begriff des »quantitatif au troisième niveau« sollte vor allem langfristigen sozialen und mentalen Veränderungen nachgespürt werden. 7 Einen solchen Ansatzpunkt boten bereits die ersten bescheidenen Stichproben Bernadette Boutelets, deren Ergebnisse Chaunu mit der berühmten Formulierung »de la violence au vol« zusammenfaßte. 8 Der als Forschungshypothese angenommene Wandel von einer überwiegend von Gewalt geprägten archaischen zu einer modernen Kriminalität im Zeichen von Betrug und Diebstahl hat bekanntlich viele Historiker zur Auseinandersetzung angeregt: an Bemühungen, die These empirisch zu bestätigen oder zu falsifizieren fehlte es ebensowenig wie an methodisch-theoretischer Kritik. 9 Abgesehen 3 Roth: Histoire pénal; Lévy/ Robert: Histoire et question pénal; dies.: Le sociologue et l’histoire pénale. 4 Garnot: Une illusion; ders.: Pour une histoire nouvelle. 5 Garnot (Hg.): Histoire et criminalité; ders. (Hg.): Ordre moral et délinquance; ders. (Hg.): L’infrajudiciaire. 6 Pierre Chaunu: Déviance et intégration sociale - La longue durée, in: Marginalité, déviance, pauvreté, 5-16. 7 Pierre Chaunu: Un nouveau champ pour l’histoire sérielle: le quantitatif au troisième niveau, in: ders.: Histoire quantitative, histoire sérielle, Paris 1978, 216-230. Vgl. dazu auch allgemein Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991, 77-82; Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. ›Annales‹-Geschichtsschreibung und ›nouvelle histoire‹ in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994, 345f. 8 Pierre Chaunu: Préface, in: Boutelet: Etude par sondage, 235 - 237. 9 Abweichende Ergebnisse seiner eigenen Schüler wie die von Gégot: Etude par sondage, der in der baillage von Falaise keinen absoluten Rückgang der Gewalt feststellen konnte oder von Margot: Criminalité, der in Mamers im 18. Jahrhundert die selben Deliktstrukturen feststellte, die der These zufolge dem 17. Jahrhundert anzugehören hatten, ignorierte er entweder in ihrer Tragweite (Gégot) oder erklärte sie zu Ausnahmen, die allein auf die Rückständigkeit des betreffenden Gebietes zurückzuführen seien (Margot). Zum Verlauf der Diskussion vgl. Le Roy Ladurie: La décroissance; Jens Chr. V. Johansen/ Henrik Stevnsborg: Hasard ou myopie? Réflexions autour de deux théories de l’histoire du droit, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 601 - 624; Xavier Rousseaux: Existe-t-il une criminalité d’Ancien Régime (XIII- XVIIIe s.)? Réflexions sur l’histoire de la criminalité en Europe, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 123 - 166; ders.: Une illusion historiographique. <?page no="90"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 91 von der unterschiedlich beantworteten Frage, ob die These für die historische Forschung überhaupt brauchbar oder ob nicht grundsätzlich der Zusammenhang der anhand von wenig problematisierten Quellen beobachteten Phänomene zu leugnen sei, waren in dieser These ebenso wie in der Durchführung der Arbeit bereits wichtige Forschungsparadigmen sowie die beiden wesentlichen Forschungsrichtungen der kommenden Jahre vorgezeichnet: Die Methode war quantifizierend, indem man versuchte, langfristig sich wandelnde Deliktstrukturen durch Statistiken der Prozesse oder der Urteile zu rekonstruieren, die man zuvor selbst aus den Archiven erstellt hatte. Nicht allein durch die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten bessere Quellenlage, sondern als Epoche des Wandels und Scharnier zur Moderne rückte das 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Eine Perspektive, die sich nicht zuletzt dem Zäsurcharakter der Revolution von 1789 in der französischen Historiographie verdankt. 10 Das Interesse richtete sich ganz unmittelbar auf die Täter, ihre mentalen und sozialen Motivationen, die man, wenngleich methodisch verfeinert, auf den Traditionspfaden der älteren historischen Kriminologie durch eine überwiegend phänomenologische, die Wirkungsweisen sozialer Kontrolle und der Justiz außer Acht lassende Betrachtung von Delinquenz erkennen zu können glaubte. 11 Die mentalitätsgeschichtlichen Ansprüche der »histoire au troisième niveau« schien die Frage nach den Ursachen der vermeintlichen Abnahme der Gewalt zu befriedigen, lag doch der Schluß auf eine geglückte Zivilisierung durch die Internalisierung der Affektkontrolle nahe. Demgegenüber schien der Anstieg der Eigentumsdelikte weniger auf eine Raffinesse der Sitten als auf Veränderungen des Lebensstandards und der Sozialstruktur an der Schwelle zur Moderne hinzudeuten, womit zwangsläufig eine stärker sozialgeschichtliche Orientierung einherging. Die Zeitläufte der Wissenschaftskonjunktur führten dazu, daß das Interesse an den Unterschichten, an der Kleinkriminalität der Vaganten und Marginalisierten in den Vordergrund trat. Obgleich durch die Vorgaben des akademischen Betriebes (es handelt sich meistenteils um Zusammenfassungen von »mémoires de maîtrise«) in Umfang und Fragestellung begrenzt, stehen die Arbeiten der Schüler Chaunus exemplarisch für diesen Trend. Die Gewaltdelikte der »criminels par accident« erschienen Chaunu unter dem Primat einer ›Geschichte von unten‹ bald weniger relevant als die »classe dangereuse« der Marginalisierten. 12 An den von Chaunu propagierten Forschungsparadigmen orientierten sich jedoch nicht allein seine eigenen Schüler, sondern auch Historiker aus anderen Forschungszusammenhängen, wie etwa aus der seit Ende der 1960er Jahre in Paris um François Billacois gescharten Gruppe oder aus dem Kreis der Schüler Pierre Deyons in Lille. 13 An weitgehend anspruchslos quantifizierenden Studien, die regionale Deliktstrukturen und soziale Täterprofile beschrieben, fehlte es auch in der Folge- 10 Vor allem die Interpretationen der Pariser Kriminalität im 18. Jahrhundert als Ausdruck sozialer Spannungen zwischen Obrigkeit/ Eliten und Volk verweisen immer wieder auf die Französische Revolution. So stellten etwa Farge/ Zysberg: Les théâtres, 1012, deutliche Bezüge zwischen alltäglicher und revolutionärer Gewalt heraus. Vgl. auch Farge: Le vol d’aliments; Lecuir: Montyon, 489 - 493. 11 Zur Kritik vgl. Roth: Histoire pénale, 195, der zudem den Forschungsstand um 1980 zusammenfaßt. 12 Pierre Chaunu: Préface, in: Gégot: Etude par sondage, 103 - 108, hier : 106f. Anschauliche Beispiele für diese Forschungsrichtung bieten Crepillon: Mendiants; Boucheron: Flot des errants; vgl. auch die Beiträge in Marginalité, déviance, pauvreté. 13 Billacois: Enquête, mit expliziter Bezugnahme auf Chaunu. Die ersten Ergebnisse wurden in einem Sammelband in der Reihe der Cahiers des Annales publiziert: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité.; Deyon: Le temps des prisons. <?page no="91"?> Henrik Halbleib 92 zeit nicht. 14 Explizit vergleichende Untersuchungen blieben dagegen aus, und wo man die eigenen Ergebnisse in den Kontext der Forschung einordnete, da zeigte man sich von der »Violence-au-vol-These« häufig so geblendet, daß Fragen der Quellenauswahl und -auswertung außer Sicht gerieten. Nachdem so die konzeptionellen Grundlagen geschaffen worden waren, erlebten die mittleren bis späten 1970er Jahre eine Hochkonjunktur sozialgeschichtlicher Forschung zur Eigentumskriminalität und Marginalität. Die als Quellen entdeckten und allmählich erschlossenen Justizarchive boten die Gelegenheit, die Geschichte der Ausgrenzung von Randgruppen - »ces muets d’histoire« 15 - in den europäischen Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu schreiben: »Les archives de la répression sont le reflet le plus important de l’existence et des activités des groupes marginaux.« 16 Die Zusammenhänge von Armut, Delinquenz, Marginalisierung und Kriminalisierung wurden intensiv diskutiert und aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln erforscht. 17 Daß die Ausgrenzung von Randgruppen im Gegensatz zu den ersten Annahmen Chaunus oder Le Roy Laduries kein Phänomen primär des 18. Jahrhunderts und somit der Krise des Ancien Régime im Vorfeld der Französischen Revolution war, zeigten die vielbeachteten Studien des lange Jahre in Paris tätigen polnischen Historikers Bronislaw Geremek über die Entstehung und Kriminalisierung von Randgruppen im späten Mittelalter. 18 Wenngleich Geremek der Bedeutung sozialer und ›ideologischer‹ Diskurse für die zunehmende Kriminalisierung der Fahrenden am Ausgang des Mittelalters Rechung trug, so verstand er doch den Wandel der kollektiven Einstellungen nur als Überbau der sozioökonomischen Basis von Unterbeschäftigung, Entwurzelung und Pauperisierung. 19 Einigkeit herrschte in der Forschung über die Zusammenhänge von Marginalisierung und professioneller Kriminalität, wenngleich erst relativ spät die Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen um die Beobachtung ergänzt wurde, daß die insbesondere im späten Mittelalter häufige Strafe der Verbannung eine entscheidende Etappe auf dem Weg einer gelegentlichen Alltagsdelinquenz in die dann erzwungene Professionalität darstellte. 20 Ein aufschlußreiches mikrohistorisches Beispiel bieten in diesem Zusammenhang die von Françoise Gasparri entdeckten und sorgfältig edierten Akten eines Prozesses des 15. Jahrhunderts in der Provence. 21 Der einer ganzen Deliktpalette von 14 Die folgende Aufzählung muß angesichts der Fülle der Aufsätze und der erschwerten Zugänglichkeit regionalgeschichtlicher Publikationen notwendigerweise unvollständig bleiben. Weitere Hinweise enthält die umfassende Bibliographie bei Rousseaux: Existe-t-il (wie Anm. 9), 149 - 166 ; Leclercq: Délits et répression; Surrault: Les »errants« en Touraine; Bourin/ Chevalier: Le comportement criminel; Muracciole: Quelques aperçus; Garnot: Délits et châtiments; ders.: La délinquance en Anjou; Dufresne: La délinquance; Desfontaines: La délinquance dijonnaise; Couillard: La criminalité à Vendôme. 15 Geremek: Criminalité, 337. 16 Ebd., 338. 17 Die ausufernde Literatur zu diesem weiten Themenkomplex gerade in den 1970er Jahren kann hier nicht dokumentiert werden, verwiesen sei nur auf die vielschichtigen Beiträge des dem Thema gewidmeten Heftes der Revue d’histoire moderne et contemporaine 21 (1974), sowie die Sammelbände Les marginaux et les exclus dans l’histoire und Marginalité, déviance, pauvreté en France. Wichtige Impulse gingen auch von den Arbeiten Michel Mollats zur Geschichte der Armut aus: vgl. etwa Misraki: Criminalité et pauvreté. 18 Geremek: Criminalité; ders.: Les marginaux. 19 »Les controverses idéologiques du XVIe siècle, les transformations des attitudes sociales (...) est un phénomène secondaire aux expériences sociales du siècle«, Geremek: Criminalité, 365. 20 Muchembled: La violence au village, 78 - 82. 21 Gasparri: Crimes et châtiments. Einleitung und Analyse bleiben leider weit unter dem editorischen Niveau. Bloß eine literarische Nacherzählung derselben Angelegenheit bietet dies.: Un crime en Provence. <?page no="92"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 93 Diebstahl und Zuhälterei bis Raub und Mord angeklagte Haupttäter erfüllte zwar zentrale Kategorien der Marginalität (Armut und Landstreicherei verschärften die Anklage noch zusätzlich), jedoch verfügte er offenbar über gute Kontakte zu lokalen Adeligen, in deren Diensten er einst gestanden hatte. Die Beteiligung von Adeligen an Räuberbanden ist sogar noch für das 18. Jahrhundert belegt. 22 Daß diese Banden nicht nur Reisende und Händler auf den »grands chemins« ausraubten, sondern sehr wohl eine reale Bedrohung der seßhaften Landbevölkerung darstellten, die durch das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein sicherlich zu Übersteigerungen und entsprechend heftigen Gegenreaktionen führte, zeigte eine Reihe von regionalen Untersuchungen. 23 Ob das Räuberwesen einer spezifisch mediterranen Tradition entsprungen oder die zumindest an der geographischen Verteilung der Untersuchungen ablesbare Dominanz Süd- und Zentralfrankreichs nicht eher auf die günstigeren topographischen Gegebenheiten zurückzuführen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. 24 Weniger spektakuläre und stärker in der seßhaften Bevölkerung verwurzelte Formen organisierter Kriminalität, die man gleichwohl überzeugend als »social crimes« interpretieren konnte, waren wie der Handel mit illegal in den königlichen Wäldern geschlagenem Holz, der Tabakschmuggel oder der Schwarzhandel mit Salz dagegen nur vereinzelt Gegenstand kleinerer Aufsätze. 25 Ein unzweifelhaftes Verdienst des Marginalitätskonzeptes war es, die Abhängigkeit der Delinquenz von gesellschaftlichen und normativen Etikettierungen sowie die damit verbundenen Mechanismen der Kriminalisierung ins Bewußtsein gerückt und somit die ursprünglich naive Auffassung von Kriminalität als einem unmittelbar in den Archiven reflektierten faktischen Ausdruck sozialer Verhältnisse entscheidend weiterentwickelt zu haben. Marginalität konnte nicht losgelöst von gesellschaftlichen Diskursen und obrigkeitlichen Unterstützungs- oder Verfolgungspraktiken betrachtet werden, wenngleich die Konzentration auf das soziale Umfeld der Delinquenz die Bedeutung dieses Perspektivenwechsels teilweise relativierte. Insbesondere die Rolle der Justiz blieb weitgehend aus den Betrachtungen ausgeklammert. Indessen fand die Darstellung der marginalisierten ›Gegenkultur‹ in gelehrten Traktaten und im pikaresken Roman interdisziplinäre Aufmerksamkeit. 26 Nicht als Wiedergabe historischer Realitäten, sondern als wichtigen Hinweis auf die seit dem späten Mittelalter veränderte Einstellung gegenüber Armen und Bettlern sowie als Transformationsriemen von Stereotypen, die als »outillage mental« die Wahrnehmung der Richter und damit das uns in den Justizarchiven überlieferte Bild der Kriminalität prägten, betrachtete Roger Chartier diese Repräsentationen. 27 22 Catherine Goyer: La délinquance en bandes en Lyonnais, Forez et Beaujolais (1743 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 1 8 9 -198. 23 Dominique: Les brigands; Dyonet: L’écho du brigandage. Nur zu einzelnen legendären Räubergestalten die Beiträge des Sammelbandes Brigands en Rouergue. 24 Garnot: La perception des délinquants, 360. 25 Corvol: Les délinquances forestières; dies. (Hg.): Forêt, villageois et marginaux; Jehanne Roche: Pouvoir et délinquances aux limites du Maine et de l’Anjou (1680 à 1789), in: Justice et répression, 155 - 168; Michel Vernus: Faux-sauniers et faux-saunage dans le Jura (XVIIIe siècle), ebd., 207 - 225; Huvet-Martinet: La répression du faux-saunage; Lachiver: La fraude. 26 Vgl. die Sammelbände Culture et marginalités au XVIe siècle, Paris 1973; Exclus et systèmes d’exclusion dans la littérature et la civilisation médiévales, Aix-en-Provence/ Paris 1978; Juan Antonio Martinez Comeche (Hg.): Le bandit et son image au siècle d’or, Paris/ Madrid 1991. 27 Roger Chartier: Les élites et les gueux. Quelques représentations, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 21 (1974), 376 - 388; ders.: La »Monarchie d’argot« entre le mythe et l’histoire, in: Les exclus dans l’histoire, 275 - 311. Anhand von Beispielen aus dem 18. Jahrhundert zeigte auch Peveri: Les pickpockets, die Diskrepanz zwischen literarischer Fiktion und krimineller Realität auf. <?page no="93"?> Henrik Halbleib 94 Mit diesem Hinweis legte Chartier auch den Finger auf das grundsätzliche Problem des Marginalitätskonzeptes, das in der Gefahr besteht, unbewußt die stereotype Identifizierung von Marginalisierten und Kriminellen in den politischen, gesellschaftlichen und juristischen Diskursen der Zeit zu übernehmen. Zudem versperrte diese auf Randgruppen verengte Betrachtungsweise den Blick auf die Delinquenz der Mehrheit, die aufgrund der unterschiedlichen Einstellungen der Justiz und der Bevölkerung gegenüber Einheimischen und Fremden in den Quellen vor allem bei Diebstählen unterrepräsentiert ist. Das Interesse am Thema Marginalität nahm in der Folgezeit in dem Maße ab, in dem gleichzeitig die Normalität der Delinquenz und ihr Verhältnis zu den allgemein geteilten gesellschaftlichen Werten und Normen in den Vordergrund rückte, was nicht heißen soll, daß das Konzept in neueren global angelegten Arbeiten in veränderter Perspektive keine Rolle mehr spielen würde. 28 Weniger theoretische Reflexionen als die faktische Macht des Empirischen erwiesen die nur geringe Brauchbarkeit des Marginalitätskonzeptes für das weiterhin bevorzugt untersuchte 18. Jahrhundert. Die Unschärfe des Begriffes, die häufige Identifizierung der Randgruppen mit den Unterschichten per se, mußte in dem Moment problematisch werden, in dem eine explizit sozial verstandene Delinquenz wie Diebstahl Ausmaße annahm, die man schwerlich noch einem Randgruppen-Phänomen zurechnen konnte. Das Anwachsen städtischer Unterschichten gegen Ende des Ancien Régime ließ den Begriff der Marginalität in diesem Kontext obsolet erscheinen. An dessen Stelle setzte Arlette Farge in ihrem 1974 erschienenen Buch über den Mundraub im Paris des 18. Jahrhunderts die kleinen Leute, die alltägliche Kleinkriminalität: »Le fait criminel est aussi un fait quotidien, celui avec lequel le peuple doit vivre (...) et qui fait partie du paysage social habituel«. 29 Eine scheinbar nuancenhafte begriffliche Verschiebung, deren Tragweite sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Einer umfassend quantifizierenden Aufarbeitung der Täterstrukturen korrespondierte eine Interpretation, die die ökonomischen Ursachen und das an der obrigkeitlichen Repression ablesbare soziale Spannungspotential der Delikte hervorhob. 30 Soweit kann man das Buch als Kronzeugen der an Strukturen interessierten Sozialgeschichte der 1970er Jahre verstehen. Der Versuch, die Lebensweisen der Täter, ihre sozialen Beziehungen und Einstellungen gegenüber der Justiz nicht unter der Prämisse einer kriminellen Randständigkeit nachzuzeichnen, sondern sie als Teil des alltäglichen Lebens der Mehrheit der Pariser Bevölkerung ernst zu nehmen, wies jedoch bereits über diesen engen Rahmen hinaus. In ihren späteren, in Deutschland durch Übersetzungen weit verbreiteten Arbeiten über familiäre und Geschlechterkonflikte verfolgte Farge diesen hier nur angedeuteten Weg noch wesentlich konsequenter weiter. 31 28 Vgl. allgemein Claude Gauvard: Le concept de marginalité au Moyen Âge: criminels et marginaux en France (XIVe -XVe siècles), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 363 - 368; Gauvard: »De grace especial«, 400 - 410, 457 - 474. Eine intensive Bezugnahme auf Geremek noch bei Chiffoleau: Les justices; vgl. auch Gonthier: Cris de haine, 65 - 86; dies.: Délinquance, justice et société, 147 - 152; Muchembled: Le temps des supplices, 82-97; ders.: La violence au village, 70 - 85. 29 Farge: Le vol d’aliments, 11. 30 An dieses Interpretationsmodell lehnte sich auch Peveri: Les pickpockets, für den nichtprofessionellen Teil der Pariser Taschendiebe an. 31 Farge/ Foucault: Familiäre Konflikte; Farge: Das brüchige Leben. Vgl. auch El Ghoul: La police parisienne. <?page no="94"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 95 Ehre und Gewalt Gemessen an den theoretischen Aussagen Chaunus oder Billacois’, denen gerade der behauptete Rückgang der Gewaltdelikte im 18. Jahrhundert als Anknüpfungspunkt an die serielle Mentalitätsgeschichte diente, könnte das anfänglich geringe Interesse der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung an entsprechenden Fragestellungen überraschen. Dies erklärt sich allerdings damit, daß man zwar langfristige mentale Veränderungen an den Entwicklungen der Deliktstrukturen ablesen zu können glaubte, sich aber schwer damit tat, diese Wandlungsprozesse allein durch das Zählen und Ordnen von Tätern und Delikten genauer zu beschreiben, geschweige denn anspruchsvoll zu interpretieren. Der einfache Schluß vom Verhalten, den Delikten, auf dahinter vermutete Mentalitäten konnte nur zu sehr vagen und betont vorsichtig gehaltenen Aussagen führen. Um sich dagegen mittels der Justizarchive den diffusen kollektiven Einstellungen und Werten einzelner Gruppen oder ganzer Gesellschaften anzunähern, war eine methodische Neuorientierung dringend notwendig. Den ambitioniertesten frühen Versuch, das Spektrum der Kriminalitätsgeschichte über die unmittelbaren Deliktzusammenhänge hinaus zu erweitern, stellten sicherlich die Arbeiten Yves Castans über das Languedoc des 18. Jahrhunderts dar. Bereits sein Beitrag über ländliche und städtische Mentalitäten in dem Sammelband der Pariser Forschungsgruppe um Billacois fiel aus dem von den übrigen Aufsätzen vorgezeichneten Rahmen. 32 Und mit der 1974 publizierten Studie »Honnêteté et relations sociales en Languedoc« 33 eröffnete Castan der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung in Frankreich nicht nur ein neues, bis auf den heutigen Tag fruchtbares Arbeitsfeld, sondern auch einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma der Quantifizierung. Nicht die vermeintlich harten Fakten der Kriminalstatistiken, die doch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Konflikte und Verbrechen widerspiegeln, sollten von nun an analysiert werden, sondern die in den symbolischen Verhandlungen und Repräsentationen der Wirklichkeit in den Aussagen der Akteure (Zeugen, Kläger, Angeklagte) faßbaren »comportements globales«, verstanden als Gesellschaften oder Gruppen strukturierende Komplexe von wert- und verhaltensbestimmenden Einstellungen. 34 Damit einher ging eine Auflösung der Täterfixierung zugunsten des gesamten sozialen Umfeldes, im konkreten Fall der sozialen Beziehungen und Normen. Mit der Hinwendung zur Sprache, der Wahrnehmung der Quellentexte als freilich recht einfach zu dekodierender Fiktion 35 , bewegte sich Castan in einer massiven historiographischen Strömung. Wie viele seiner Zeitgenossen ließ auch er sich von Ethnologie und Anthropologie (Levi-Strauss, Mauss, 32 Yves Castan: Mentalités rurale et urbaine à la fin de l’Ancien Régime dans le ressort du Parlement de Toulouse d’après les sacs à procès criminels (1730 - 1790), in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 109 - 185. 33 Y. Castan: Honnêteté. 34 Ebd., 35 - 44. 35 Den Vorwurf eines zu unkritischen Umgangs mit einem ebenfalls gerichtlichen Quellenkorpus (Inquisitionsprozesse) zog vor allem auf sich Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou, Paris 1975; deutsch: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 - 1324, Frankfurt a. Main/ Wien/ Berlin 1983; zur Kritik vgl. Burke : Offene Geschichte (wie Anm. 7), 86; Y. Castan: Honnêteté, 501 - 517, behauptete ebenfalls, gerade in den Zeugenaussagen »l’essentiel du témoignage social« auffinden zu können. Später variierte er diese Auffassung dahingehend, daß gerade der Rekurs auf Ehrvorstellungen einen Anpassungsprozess an gerichtliche Gegebenheiten durchlaufen hätte: ders.: Parole et honneur dans les pièces des procès (Tournelle de Toulouse au XVIIIe siècle), in: Bercé/ Y. Castan: Les archives, 21 - 27. <?page no="95"?> Henrik Halbleib 96 Bourdieu) inspirieren. 36 Einen völligen Bruch mit den Forderungen der seriellen Methode vollzog Castan noch nicht, 37 allerdings verbannte er die statistischen Angaben etwa über die »attitudes de psychologie sociale« aus dem eigentlichen Text in den Anhang. Um die genaue, mit dezidiert ethnologischem Blick erfolgende Beschreibung seines Untersuchungsgegenstandes mit einer angemessenen Interpretation zu verbinden, wählte Castan das Konzept der »honnêteté«, ein vom höfischen Paris ausstrahlendes, zivilisierte Umgangsformen und tugendhaftes Leben einforderndes Verhaltensmodell, dessen Einfluß sich im Languedoc des 18. Jahrhunderts nur ganz allmählich bei bestimmten sozialen Gruppen (überwiegend in den Städten) ausweitete. 38 Den eigentlichen Reiz der Darstellung übte jedoch die Negativfolie der laut Castan gegen einen solchen Kulturimport unter anderem aus Gründen der sprachlichen Differenz weitgehend resistenten traditionellen Lebensformen aus. Als entscheidendes Moment dieser okzitanischen Geselligkeit (»sociabilité«) erschien Castan ein allgemeines und prinzipiell egalitäres, auf der Enge und Vertrautheit (»familiarité«) der Gemeinschaften beruhendes Verständnis von Ehre, das nicht nur die Grenzen des Verhaltens bestimmte, sondern zugleich die Konflikte in Realität und justitieller Repräsentation strukturierte. 39 Daß das Motiv der Ehre und der Ehrverletzung in gewalttätigen Auseinandersetzungen eine gewisse Rolle spielt, hatten bereits vereinzelte empirische Befunde in früheren Arbeiten ergeben, 40 doch erst einige Jahre nach den Anregungen Y. Castans sollte mit der breiten Durchsetzung historisch-anthropologischer Erkenntnisinteressen, der eine Wendung hin zu tieferen, vermeintlich traditionell-stabileren Verhaltensmuster aufweisenden historischen Zeitschichten korrespondierte, ein grundsätzlicher Wandel in der Forschungslandschaft stattfinden. Nicht der deterministische Rückgang der Gewaltdelikte im 18. Jahrhundert als Vorbote der Moderne, sondern Gewalt als konstitutives Element sozialer Beziehungen und Alltagswirklichkeiten in der Vormoderne stand unter diesen Gesichtspunkten im Mittelpunkt. Daß das Gewaltniveau - ablesbar an den Raten der Tötungsdelikte - in den alteuropäischen Gesellschaften höher gewesen sei als in unserer Gegenwart, galt und gilt, allen Bedenken gegenüber zweifelhaften Datenkonstruktionen zum Trotz, als eine Grundgewißheit kriminalitätsgeschichtlichen Forschens, 41 die bereits per se ein erhöhtes Interesse daran, wie es mit jener gewalttätigen »Welt, die wir verloren haben« eigentlich gewesen sei, zu rechtfertigen vermocht hätte. Hinzu gesellte sich jedoch in den späten 1980er Jahren eine spürbare gesellschaftliche 36 Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß der französische Sprachgebrauch mit »ethnologie« häufig das bezeichnet, was im Deutschen unter den Begriffen Sozial- und Kulturanthropologie verstanden wird. Zur »anthropologischen Wende« in der französischen Geschichtswissenschaft vgl. auch allgemein Burke: Offene Geschichte, 83 - 88; Raphael: Erben (wie Anm. 7), 364 - 382 ; ebd., 361f., auch eine kritische Einordnung Y. Castans in den Kontext der ›Annales‹-Schule. 37 Vgl. auch die Reflexionen über die Notwendigkeit der seriellen Methode für die Analyse von Zeugenaussagen und Verhören bei Y. Castan: Exemplarité. 38 Y. Castan: Honnêteté, 22 - 35, 493. 39 Ebd., 48 - 56, 520 - 526. Zur Ehre als einem Konzept der Frühneuzeitforschung vgl. Martin Dinges: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), 409 - 440. 40 Bercé: Aspects; Champin: Criminalité. 41 Der Forschungsstand ist zusammengefaßt bei Xavier Rousseaux: Ordre moral, justice et violence: l’homicide dans les sociétés européennes. XIIIe -XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 65 - 82; ders.: Civilisation des mœurs. <?page no="96"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 97 und intellektuelle Desillusionierung angesichts des Scheiterns emanzipatorischer Kriminalitätsverhinderungsstrategien und vermeintlichen oder tatsächlichen Ausbrüchen von Gewalt, die verstärkt nach deren kulturanthropologischen Bedingungen in der Geschichte fragen ließ. 42 Die bekannteste und bei weitem spektakulärste Form, mit Gewalt verletzte Ehre wiederherzustellen, stellte sicherlich das vor allem von Adeligen genutzte Duell dar, das in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte, bis es unter dem Druck kirchlicher Moralisierung und absolutistischer Repression im Zeitalter Ludwigs des XIV. als reales Phänomen nahezu bedeutungslos wurde. Den Wandel von einer öffentlichen, sogar königlich sanktionierten Institution mit Wurzeln in gerichtlichen (Gottesurteil, gerichtlicher Zweikampf) sowie ritterlich-militärischen Traditionen des Mittelalters zu einem von Strafverfolgung bedrohten Delikt, das im Geheimen dafür um so tödlichere Formen annahm, zeichnete François Billacois in einer materialreichen Studie, dem Ergebnis beinahe zweier Forschungsjahrzehnte, nach. 43 Geradezu symptomatisch für den Wandel der Forschungslandschaft in diesem Zeitraum steht die Tatsache, daß Billacois seinen anfänglich quantifizierenden Ansatz in Einsicht der Unmöglichkeit, aus fragwürdigen Datenreihen mehr als nur eindimensionale Schlüsse zu ziehen, aufgab und sich statt dessen darauf beschränkte, für die drei von ihm konstatierten Phasen der Entwicklung je ein einziges typisches Beispiel zu analysieren. Angereichert mit ideengeschichtlichem Material, gelang es in der Studie gleichwohl nicht, den vagen Anspruch des Untertitels einer »psychosociologie historique« mit mehr zu füllen als der ebenso vagen Folgerung, im Duell habe sich die Krise der Epoche in den barocken Protagonisten Bahn gebrochen. 44 Das Problem der Ehre interessierte Billacois offenkundig weniger. Als notwendige Voraussetzung des Duells erschien ihm die Ehre weitgehend statisch, weshalb er darauf verzichtete, sie zu historisieren und auf dieser Ebene nach Veränderungen zu fragen. Zu der Erkenntnis, daß die Verteidigung der Ehre im Frankreich der Vormoderne keine Angelegenheit primär des Adels oder einzelner anderer etwa berufständischer Gruppen (Ehrbarkeit des Handwerks) war, sondern die Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen der gesamten Gesellschaft prägte, trugen ethnologische Feldstudien im Mittelmeerraum erheblich bei. Die von Pierre Bourdieu anhand des empirischen Materials seiner Untersuchungen in Algerien entwickelten Konzepte 45 versuchten die Sozialanthropologen Elisabeth Claverie und Pierre Lamaison auf die abgelegene und deshalb für eine Fallstudie über eine traditionelle Gesellschaft besonders geeignete Bergregion des Gévaudan zu übertragen. 46 Der lange Betrachtungszeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ließ die mentalen Kontinuitäten ins Blickfeld rücken, die ansonsten infolge der oftmals historiographisch unüberwindlichen Epo- 42 Sein diesbezügliches Interesse begründete mit dezidiertem Gegenwartsbezug Muchembled: Anthropologie de la violence, 31; ders.: La violence au village, 5. 43 Billacois: Le duel; vgl. auch ders.: Le parlement de Paris et les duels au XVIIe siècle, in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 33 - 47. Zu den mittelalterlichen Wurzeln des Duells vgl. auch Ludwig Vones: Un mode de résolution des conflits au bas Moyen Âge: le duel des princes, in: Contamine/ Guyotjeannin (Hg.): La guerre, 321 - 332. 44 Billacois: Le duel, 396ff. 45 Pierre Bourdieu: Sociologie de l’Algérie, Paris 1961; ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1976. 46 Claverie/ Lamaison: L’impossible mariage. <?page no="97"?> Henrik Halbleib 98 chengrenze der Französischen Revolution unterbewertet blieben. Doch mit dem Verzicht der Autoren auf jegliche chronologische Ordnung geriet die ›dichte Beschreibung‹ einer engen Welt, in der die vom ›symbolischen Kapital‹ der Ehre bestimmten Auseinandersetzungen der einzelnen ›Häuser‹ (»l’ousta«) um die knappen Ressourcen (etwa des Heiratsmarktes) häufig in Gewalt endeten, zu statisch. An diesem Defizit hatte auch die vollständige Herauslösung der Gewaltakte aus dem justitiellen Kontext, der bei Y. Castan zumindest noch die Einordnung des Quellenmaterials erlaubte, einen erheblichen Anteil. Die enge Verzahnung von Ehrverletzungen und Gewalttätigkeiten, zumindest was den Niederschlag in Strafprozessen angeht, bestätigte Hugues Lecharny in einer Studie über Beleidigungen im Paris des 18. Jahrhunderts. 47 Im Hintergrund dieser Ehrenhändel wirkten laut Lecharny soziale Spannungen aufgrund von bedrängten Lebensverhältnissen und Klassengegensätzen, eine schon bekannte Interpretation, mit der Arlette Farge und André Zysberg auch die alltäglichen ›Theater der Gewalt‹ zu erklären suchten. 48 Entgegen dem Titel unterließen es die beiden Autoren, das Theatralische an der Art des Austragens der Konflikte genauer zu beleuchten. Statt dessen begnügten sie sich damit, jedem georteten Konflikttypus die entsprechende soziale Ursache zuzuordnen: Streitigkeiten zwischen Gläubigern und Schuldnern oder zwischen Meistern und Gesellen ließen sich sozioökonomisch begründen, während öffentliche Gewalttätigkeiten unter Männern auf die Frustrationen der Lebensbedingungen der Unterschichten zurückgeführt wurden. Das Beispiel verweist auch auf die kontrovers diskutierte Frage, ob es spezifisch städtische Formen und Ursachen der Gewalt gegeben habe, wie sie Farge und Zysberg mit Hinweis auf die besonderen sozialen Verhältnisse in Paris konstatierten. Für das späte Mittelalter vertrat Jacques Chiffoleau anhand der Akten der päpstlichen Gerichtsbarkeit in Avignon die Auffassung, daß vor allem die Entwurzelung (»déracinement«), das Abreißen der vertrauten sozialen Bande in den nach den Bevölkerungskrisen des 14. Jahrhunderts von Zuwanderern geprägten Städten (wobei Avignon durch die Anwesenheit der Kurie natürlich eine Sonderstellung einnahm) für eine besonders große Gewaltbereitschaft sorgte. 49 Daß enge soziale Bindungen ihrerseits Gewalt zu produzieren pflegen, war dem Autor indessen entgangen. Dementgegen wies Nicole Gonthier auf die konfliktverschärfende Rolle von spezifisch städtischen Solidargemeinschaften wie Zünften, Familienverbänden oder studentischen ›Nationen‹ hin, 50 zu denen aber nicht nur ländliche Entsprechungen existierten, sondern denen wiederum konfliktmindernde Funktionen zugemessen werden können, wie Claude Gauvard zeigen konnte. 51 Aufgrund vielfältiger Hinweise auf die engen Verflechtungen der Städte mit ihrem Umland und der oft unklaren Reichweite städtischer Gerichtsbarkeit plädierte Gauvard dafür, die scharfe Gegenüberstellung von Stadt und Land auf der Deliktseite weitestgehend aufzugeben. 52 Besonderheiten wollte sie nur noch in der stärkeren Institutionalisierung der städtischen Pazifizierungs- und Versöhnungsbemühungen sowie den An- 47 Lecharny: L’injure. Für eine wesentlich differenziertere Aufarbeitung der Ehrenhändel vor den Pariser Polizeikommissaren vgl. Dinges: Der Maurermeister (wie Anm. 1). 48 Farge/ Zysberg: Les théâtres. 49 Chiffoleau: La violence. Der Nachweis eines höheren städtischen Gewaltniveaus gelang Chiffoleau nicht. Der Vergleich mit einem ländlichen Gebiet entbehrte jeglicher Grundlage, ebd., 370. 50 Gonthier: Cris de haine, 33 - 46, 116ff. Die angeführten Beispiele stammen überwiegend aus Italien. 51 Gauvard: Violence citadine. 52 Ebd.; dies.: La criminalité parisienne. <?page no="98"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 99 sätzen einer sich professionalisierenden Kriminalität von Delinquenten am Rande der Marginalität sehen. Im 18. Jahrhundert galt dann die Stadt mit ihren komplexeren sozialen und ökonomischen Beziehungen je nach Perspektive entweder als Pflanzstätte ›zivilisierteren‹, d.h. weniger gewalttätigen Verhaltens (Y. Castan), oder als Bühne gewaltsam ausgetragener Klassenkonflikte (Farge und Zysberg). 53 Ein Widerspruch, der über konzeptionelle Differenzen hinaus aus der sehr unterschiedlichen Verfaßtheit der untersuchten Städte zu erklären ist: Während die Städte des Languedoc bei Castan gegenüber dem Land für ein Mehr an Mobilität, französischen Sprachkenntnissen und Präsenz der das Verhaltensmodell der »honnêteté« vorlebenden Oberschichten standen, so prägten im Paris von Farge und Zysberg sozial vielfach noch kaum verankerte (ländliche) Zuwanderer die konfliktträchtigen Unterschichten. Leider wird auch bezüglich dieser Fragestellung der Mangel an wirklich vergleichenden Ansätzen deutlich. Der Aufgabe, die Geschichte der Gewalt über die Jahrhunderte hinweg in Synthesen umfassend darzustellen, stellt sich eine von Robert Muchembled betreute, für ein breites Publikum konzipierte Publikationsreihe. 54 Da die Konzeption der beiden Bände zur dörflichen (Muchembled) und städtischen Gewalt (Gonthier) alles andere als einheitlich ist, fällt auch hier ein Vergleich schwer. Dem Anspruch einer Synthese entspricht vor allem der von Nicole Gonthier verfaßte Band »Cris de haine et rites d’unité«, der die maßgebliche Literatur zu den westeuropäischen, infolge der Forschungslage vor allem italienischen Städten vom 13. bis 16. Jahrhundert zusammenfaßt, ergänzt um die Befunde ihrer eigenen Forschungen zu Lyon und Dijon. Gewalt wird dabei unabhängig von strafrechtlicher Sanktionierung und Repression gesehen, womit ständische Konflikte und urbane Revolten gleichermaßen Beachtung finden. 55 Diese Offenheit gegenüber anderen Formen der Gewalt ist einerseits wegen der sozialen Enge der mittelalterlichen Städte, die persönliche und politische Feindschaften ineinander übergehen läßt (man denke etwa an die Fehden verfeindeter Patrizierfamilien), zu begrüßen, rührt andererseits aber an ein grundsätzliches Abgrenzungsproblem. Eine Geschichte der Gewalt kann sich wohl kaum auf diejenigen Formen beschränken, die von den Zeitgenossen als abweichendes Verhalten wahrgenommen werden, denn so geraten Aussagen wie etwa über die vermeintliche Zivilisierung und das geringere Gewaltniveau der Moderne in eine Schieflage, wenn man die gegensätzliche Entwicklung der Kriegsführung in den letzten zwei Jahrhunderten ausblendet. Daß Kriegserfahrungen als mentalitätsprägende Faktoren indirekte Auswirkungen auf die Delinquenz einer Epoche haben können, haben einzelne Forscher wiederholt betont. 56 Eine umfassende Aufarbeitung dieser Zu- 53 Y. Castan: Honnêteté, 493; im gleichen Sinne N. Castan: Les criminels, 241 - 275; Farge/ Zysberg: Les theâtres. 54 Gonthier: Cris de haine; Muchembled: La violence au village. Für das 19. Jahrhundert liegt vor: Frédéric Chauvaud: De Pierre Rivière à Landru. La violence apprivoisée au XIXe siècle, Paris 1991. 55 Gonthier: Cris de haine, 14 - 45, 137 - 141. Zur »Kriminalisierung« der Revolten in zeitgenössischen Quellen vgl. André Leguai: Actes criminels au cours des révoltes rurales et urbaines aux XIVe et XVe siècles, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 265 - 272. Vgl. auch die allerdings inkohärenten Beiträge des Sammelbandes Violence et contestation au Moyen-Age. 56 So Muchembled: La violence au village, 86ff., zur Xenophobie der Bevölkerung der jahrhundertelang umkämpften Grenzregion des Artois gegenüber den Franzosen. Chiffoleau: Les justices, 116 - 123, betont den Beitrag der omnipräsenten feudalen Konflikte und der häufigen Truppendurchzüge im Rhonetal zu einem allgemeinen Klima der Gewalt und Unsicherheit. Eine Ideengeschichte der Gewalt in den Religionskriegen ohne Bezug auf die Kriminalität bietet Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (Vers 1525 -Vers 1610), 2 Bde., Champ Vallon 1990. <?page no="99"?> Henrik Halbleib 100 sammenhänge bleibt jedoch ein Desiderat der Forschung. Die kriminalitätsgeschichtliche Forschung sollte sich deshalb im klaren darüber sein, daß sie nur einen Beitrag zu einer Geschichte der Gewalt zu leisten imstande ist, der aber gerade wegen der definitorischen Begrenzung durch obrigkeitliche und soziale Normen wertvoll sein kann. 57 Im städtischen Rahmen sind solche Probleme aus oben genannten Gründen allerdings weniger akut. Entsprechend sinnfällig konnte es Gonthier deshalb gelingen, die Verwobenheit der unterschiedlichsten Konfliktfelder im Kontext zunehmender sozialer Differenzierung und Hierarchisierung deutlich werden zu lassen. 58 Neben politischen und wirtschaftlichen Antagonismen, verschärft durch zünftige Organisation und Klientelbildung, war es vor allem die (männliche) Jugend, die für gewalttätige Auseinandersetzungen sorgte. Daß deren Gewaltbereitschaft und Delinquenz in allen Phasen der Geschichte genauso wie in der Gegenwart größer gewesen sei als in der Gesamtbevölkerung, gehört zu den Binsenweisheiten jeglicher empirisch untermauerten Beschäftigung mit Kriminalität. Dementsprechend stellte auch Gonthier die Beziehung zwischen dem Bevölkerungsanteil junger Männer und dem korrespondierenden Gewaltniveau her, das insbesondere in Universitätsstädten höher gewesen sein soll als in ›normalen‹ Städten. 59 Diese scheinbar biologisch bestimmte Gesetzmäßigkeit enthebt jedoch nicht der Frage nach deren kulturellen und sozialen Ursachen und Ausformungen. So unterlag beispielsweise die Verwendung des Begriffs der ›Jugend‹ einem äußerst variablen Gebrauch, der weniger auf das tatsächliche biologische Alter als auf physische und geistige Vitalität rekurrierte. 60 In ihren Ausführungen bezog sich Gonthier insbesondere auf die Ergebnisse der Untersuchungen Jacques Rossiauds über die Zusammenhänge von ›Jugendkultur‹ und Prostitution in den Städten des Rhonetals. 61 Auf der Suche nach den Ursachen, die Frauen in die Prostitution trieben, stieß er immer wieder auf den Verlust der für Frauen sexuell bestimmten Ehre durch kollektive Vergewaltigungen. 62 Aus den wenigen Vergewaltigungsprozessen rekonstru- 57 Dies gilt im übrigen gleichermaßen für die fließenden Übergänge zwischen privat organisierter Kriegsführung im Dienste des Königs und Banditentum im Hundertjährigen Krieg: Solange die Truppen gebraucht werden, erhalten sie immer wieder Gnadenerlasse für ihre Verbrechen, vgl. François July: Jean de la Roche, routier et chevalier sans reproche, in: La faute, 299 - 311. Kennzeichnend für diese Abgrenzungsproblematik sind desweiteren jetzt die Beiträge in Contamine/ Guyotjeannin (Hg.): La guerre. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, das Thema der Gewalt unreflektiert in die Kriminalitätsgeschichte zu inkorporieren bieten die Untersuchungen von Raynaud: La violence, zur Ikonographie der Gewalt in spätmittelalterlichen Romanen. Der entsprechende Beitrag auf einem Dijoner Kolloquium, das sich explizit mit neuen Ansätzen beschäftigte, blieb ohne praktisches Echo; dies.: Une criminalité d’exception: les meurtres royaux dans le Roman de toute chevalerie, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 47 - 60. 58 Gonthier: Cris de haine, 9 - 64. 59 Ebd., 46. Zur studentischen Delinquenz vgl. auch Françoise Verdier-Castagné: La délinquance universitaire dans les lettres de rémission, in: La faute, 283 - 298, die als ein Spezifikum derselben die von den eifersüchtig gehegten Privilegien der Universitäten (sie unterstanden prinzipiell nur der geistlichen Gerichtsbarkeit) verursachten Konflikte mit öffentlichen Amtsträgern beschreibt. Quantifizierende und rechtsgeschichtliche Ansätze kombinierte Yvonne Bongert: Délinquance juvenile et responsabilité penale de mineur au XVIIIe siècle, in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité, 49 - 90. Einen allerdings unbefriedigenden Versuch der Gesamtdarstellung des Phänomens der ›Jugendkriminalität‹ unternahm der Kriminologe Roumajon: Enfants perdus. 60 Gauvard: De grace especial, 3 5 4 -360. 61 Rossiaud: Prostitution; ders.: Dame Venus, 19 - 45. 62 Den kollektiven Charakter der Vergewaltigungen bestätigt jetzt auch Otis-Cour: Lo pecat de la carn, 341; vgl. auch Jean-Pierre Leguay: Ein Fall von Notzucht im Mittelalter: Die Vergewaltigung der Margot Simmonet, in: Alain Corbin: Sexuelle Gewalt, Frankfurt a. Main 1997 (franz. 1989), 11 - 28. <?page no="100"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 101 ierte Rossiaud das Profil der Täter: Gruppen junger, unverheirateter und aufgrund des relativ hohen Heiratsalters auf dem Heiratsmarkt noch chancenloser Männer übten wie auch in den öffentlichen Dirnenhäusern ihre sexuellen Rollen ein und bestätigten sich ihrer Männlichkeit. Diese gewaltsamen Entladungen sexueller Frustrationen erfüllten auch die Funktion einer gleichsam kanalisierten Ablenkung, die die als ungerecht empfundene Ordnung der Welt letztlich unangetastet ließ und die deshalb auch nur selten sanktioniert wurde. Der bekannte Brauch der Charivari, der stark ritualisiert die Wiederverheiratung von Witwern ›bekämpfte‹, die damit junge Mädchen dem Heiratsmarkt entzogen, wurde in Südfrankreich von den sogenannten »abbayes de jeunesse« (auch unter der Bezeichnung »bachelleries« geläufig) kontrolliert, Bruderschaften, die einen festen Platz im sozialen Leben der Städte, bei der Organisation von Festen und im Karneval einnahmen und von den städtischen Obrigkeiten, die ihren Einfluß auf die Wahl der vorstehenden »rois« oder »princes-abbés« immer mehr auszudehnen verstanden, gezielt zur Eindämmung der Gewalt benutzt wurden und der Integration der Jugend in die herrschende Sozialordnung dienten. 63 Allerdings konnten diese Versuche, Gewaltpotentiale durch Ritualisierung zu entschärfen, wie sie auch in den sportlichen Wettkämpfen zwischen verschiedenen Stadtteilen angelegt waren, genauso gut in physische Gewalt umschlagen. 64 Diese Bemühungen waren ein Teil dessen, was Gonthier zusammenfassend »la ville pacificatrice« nennt. 65 Zur ›Befriedung‹ der Stadt trugen demnach die noch schwachen Polizeikräfte ebenso bei wie schiedsgerichtliche Institutionen, nachbarschaftliche Kontrolle oder der Ausschluß aus der Stadt durch die Strafe der Verbannung. Unter dem Blickwinkel einer Geschichte der Gewalt fällt die exemplarische Justiz der körperlichen Strafen, der öffentlichen Martern und Hinrichtungen konsequenterweise aus dem Rahmen der friedensstiftenden Maßnahmen heraus. 66 Das Fest als ein bevorzugter Ort der Gewalt, sei es in der Stadt, sei es auf dem Land, ist durch eine Reihe von Untersuchungen belegt, wenngleich häufig nur aufgrund der Korrelation der jahreszeitlichen Verteilung mit dem Festkalender: die Monate Mai bis Juli scheinen zu dominieren. 67 Weitere häufig gemachte, mit quantifizierenden Methoden mehr oder weniger gut belegte Beobachtungen betreffen die vorherrschenden Tatzeiten und Orte. Die Konzentration der Gewaltdelikte auf die Abendstunden scheint ebenso ausgemacht zu sein, wie die Bedeutung der Kneipe oder der davon wegführenden Straßen als bevorzugten Austragungsorten der Streitigkeiten. Die Verbindung zwischen diesen empirischen Befunden wird gewöhnlich über die Hemmschwellen senkende Wirkung des Alkoholkonsums, die Erregungen des Glücksspiels und mit einem Hinweis auf die nur vage bestimmte, gewalttätigere »sociabilité« der vormodernen Gesellschaft gezogen. 68 Interpretationen, die in gleicher Weise auch für das Fest 63 Die über Rossiaud hinausgehende, inzwischen umfangreiche Literatur zum Phänomen der Charivari kann in diesem Rahmen nicht dokumentiert werden. 64 Gonthier: Cris de haine, 102 - 110. 65 Ebd., 151 - 182. 66 Ebd., 183 - 196. 67 Muchembled: La violence au village, 29f.; Fouret: Douai, 10. 68 Einige Hinweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Gonthier: Cris de haine, 97 - 102; Fouret: Douai; Muchembled: La violence au village, 30 - 32; Bourin/ Chevalier: Le comportement, 255; Gonon: Violences, 230; Jean-Pierre Leguay: La criminalité en Bretagne au XVe siècle. Délits et répression, in: La faute, 53 - 79. Für das 17. und 18. Jahrhundert: Françoise Bayard: Les crimes de sang en Lyonnais et Beaujolais aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 273 - 282; N. Castan: Les criminels, 193ff. <?page no="101"?> Henrik Halbleib 102 als der Kneipe vergleichbarem Ort des sozialen Kontaktes geltend gemacht werden können. Über diese wiederum bloß quantifizierenden Befunde hinaus, die meist nichts als bereits Bekanntes bestätigen, versuchte Robert Muchembled einen dezidiert kulturanthropologischen Ansatz in die Debatte einzubringen. 69 Sein Beitrag zu der bereits erwähnten Publikationsreihe war denn auch keine Forschungssynthese, sondern eine für ein breiteres Publikum kondensierte Version der ersten beiden Teile seiner ungedruckten »thèse d’État«. 70 Dem neuen methodischen Ansatz korrespondierte ein anderer Quellentypus, der es zudem überhaupt erst ermöglichte, für den Untersuchungszeitraum (15. bis 17. Jahrhundert) den städtischen Raum mit seiner früher einsetzenden gerichtlichen Durchdringung und Überlieferung zu verlassen. Die Erkenntnismöglichkeiten, die eine Analyse von Gnadenbriefen (»lettres de rémission«) erschließen können, hatte bereits N. Z. Davis hervorgehoben. 71 Zunächst folgten quantifizierende Untersuchungen nach den Vorgaben der seriellen Rekonstruktion von Deliktstrukturen, 72 später kleinere, eher deskriptive Arbeiten zu einzelnen Deliktarten oder gar Rekonstruktionen einzelner Fälle. 73 Muchembled war es jedoch nicht daran gelegen, auf der Basis dieser Quellen eine Geschichte der Kriminalität im eigentlichen Sinne zu schreiben. Da die Gnadenbriefe fast ausschließlich für Tötungen ausgestellt wurden, verbot sich von vornherein jegliche Reflexion über die ›reale‹ Kriminalität der untersuchten Epoche. An den von ihm ausgewerteten ca. 3.500 den Artois betreffenden »lettres de rémission« der Herzöge von Burgund und ihrer Nachfolger interessierten Muchembled weniger die üblichen Kategorien quantifizierender Auswertung als die Erzählung der Konfliktgeschichte vor der Tat durch den Beschuldigten. 74 In diesen Texten hoffte er, analog dem Ethnologen bei der Feldforschung, genügend ›Stoff‹ sammeln zu können für eine historische Anthropologie der Gewalt. Kollektive Verhaltensweisen zu rekonstruieren und sie auf ihren Sinn hin zu befragen, dies, so schien es Muchembled, sollte den Weg zu einem besseren Verständnis jenes vielfach nur verschwommen wahrgenommenen Phänomens der »sociabilité« eröffnen, 75 das seinerseits als ein zentrales Element jener Volkskultur zu gelten hatte, der er in seinen Forschungen seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Spur war. Einer Volkskultur vor und während der Zeit ihrer vorgeblichen Akkulturation durch eine ihr dichotomisch entgegengesetzte Kultur der Eliten. 76 Den methodischen Folgerungen seines eigenen Konzeptes trug Muchembled im Zusammenhang der »lettres de rémission« nur ungenügend Rechnung. Zwar räumte er mögliche 69 Muchembled: Anthropologie, 33 - 37, enthält eine Auseinandersetzung mit den Theorieangeboten anderer Disziplinen (Psychoanalyse, Religionssoziologie, Biologie und Verhaltensforschung). 70 Muchembled: La violence au village. Die spärlichen Fußnoten geben leider überwiegend Hinweise auf die »Thèse«, deren dritter und letzter Teil erschien, völlig überarbeitet, drei Jahre später; ders.: Le temps des supplices, siehe dazu unten Anm. 126. 71 Natalie Zemon Davis: Der Hals in der Schlinge: Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt a. Main 1991. Zur justizgeschichtlichen Bedeutung der Gandenbriefe siehe unten Anm. 105. 72 Pineau: Les lettres; Bourin/ Chevalier: Le comportement. Zu Möglichkeiten und Grenzen einer quantifizierenden Auswertung der Gnadenbriefe Gauvard: Les sources judiciaires. 73 Verdon: La femme; Verdier-Castagné: La délinquance universitaire (wie Anm. 59); Pierre Ribière: Délits sexuels dans les lettres de rémission du comte Jean IV d’Armagnac, in: La faute, 369 - 381; Pierre Braun: Maître Pierre Mignon, sorcier et falsificateur du grand sceau de France, in: ebd., 241 - 260; July: Jean de la Roche (wie Anm. 57); Feller: Faux-monnayeurs. 74 Muchembled: La violence au village, 17. 75 Um den ganzen Komplex wieder zusammenzubinden und auf einen unverfänglichen Nenner zu bringen griff Muchembled auf den Begriff der Mentalität zurück, ebd., 6. <?page no="102"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 103 Transferverluste dadurch, daß Erzähler und Schreiber wohl meist nicht identisch waren, ein, und er war sich auch der zielgerichteten Konstruktion der Gnadengesuche bewußt, die in der Zuschreibung sozialer Normen auf Täter und Opfer zum Ausdruck kam. 77 Den im eigenen Sinne konsequenten Schluß, daß eine solche funktionalistische Adaption ›von oben‹ vorgegebener Werte die für die Rekonstruktion einer autonomen Volkskultur notwendige Authentizität der Texte aufheben würde, verbot sich Muchembled allerdings, immerhin waren unter den Tätern alle sozialen Schichten vertreten. 78 Dem noch quantitativ untermauerten Exposé einer mehr von Ehrenkonflikten, Solidarität und Rache als von Interessenkonflikten geprägten »société violente« ließ Muchembled ein Bündel ineinander verschränkter Beobachtungen und Interpretationen folgen. Die Enge des vertrauten, aber als gefährdet wahrgenommenen »espace vital« führte laut Muchembled in einem Klima der Unsicherheit zu einer regelrechten Xenophobie, die vor allem junge Männer frühzeitig in der symbolischen oder physischen Verteidigung der Grenzen der eigenen Gemeinschaft einübten. Dabei habe sich der unmittelbare Haß häufig gerade auf diejenigen gerichtet, mit denen man relativ häufig Kontakt pflegte. 79 Ein Beispiel hierfür bietet die auf den Festen übliche Anwesenheit von Gruppen auswärtiger Jugendlicher, die allein schon aufgrund der sexuellen Konkurrenz, für die wiederum die Ehre eine konstitutive und Gewalt provozierende Rolle spielte, Konflikte auslöste. 80 Entsprechend der Verteidigung dieser kollektiven räumlichen und sozialen Grenzen, versuchte Muchembled in Anlehnung an die Arbeiten Erving Goffmans 81 den Körper des einzelnen als Markierung eines individuellen Territoriums zu verstehen, dessen symbolische Verletzung als Angriff auf die eigene Ehre und somit Herausforderung zu einer aggressiven Antwort verstanden worden sei. 82 Eine geringe Anzahl von Ritualen und Regeln genügte demnach, um im alltäglichen Kontakt mit anderen, Freundschaft oder Konfliktbereitschaft zu signalisieren, da die Gesten und Worte Teil eines allgemein bekannten Codes waren. 83 Die Schwierigkeiten für den 76 Robert Muchembled: Kultur des Volkes, Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982 (franz. 1978); ders.: Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus, Reinbek bei Hamburg 1990 (franz. 1988). Trotz der breiten Kritik, die die provokanten Thesen Muchembleds anregten, blieb die Entgegensetzung von Volks- und Elitenkultur in der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung weiterhin ein erkenntnisleitendes Paradigma, wenngleich sich die Akzentuierung wie auch bei Muchembled selbst wandelte. Bei Garnot: Une illusion, 373 - 379 und ders.: Le Peuple au siècle des Lumières. Echec d’une dressage culturel, Paris 1990, dient die Delinquenz als Kronzeuge für das Scheitern des Akkulturationsversuches der von den Richtern repräsentierten Eliten. Die internationale Debatte um das Volkskulturkonzept füllt mittlerweile ganze Bibliographien: stellvertretend der profilierteste französische Kritiker Roger Chartier: Cultural History, Cambridge 1988. 77 Muchembled: La violence au village, 17, 82 - 85. 78 Die bislang umfassendste Erörterung der spezifischen Quellenproblematik der »lettres de rémission« bei Gauvard: De grace especial, 59 - 110. Die Autorin interpretiert das Verfahren von Gnadengesuchen und -briefen als einen wechselseitigen Diskurs über Verbrechen, Gewalt und soziale Normen, ebd., 11. 79 Muchembled: La violence au village, 49 - 142. Zur Bedeutung der Nacht als Auslöser von Ängsten; vgl. ders.: La violence et la nuit. 80 Muchembled: La violence au village, 54 - 60. Zur Bedeutung des sozialen Kapitals der Ehre auf dem Heiratsmarkt vgl. Claverie/ Lamaison: L’impossible mariage. 81 Erving Goffman: La mise en scène de la vie quotidienne, 2 Bde., Paris 1973. 82 Muchembled: La violence au village, 143 - 182. 83 Ebd., 247 - 270. Zu vergleichbaren Ergebnissen, ebenfalls inspiriert von Goffman, gelangte Nicole Dyonet: Gestes et paroles de la vie quotidienne au XVIIIe siècle. Les ressources des archives judiciaires, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 29 - 45. Grundlegend in dieser Beziehung Gregory Hanlon: Les rituels de l’aggression en Aquitaine au XVIIe siècle, in: Annales E.S.C 40 (1985), 244 - 268. <?page no="103"?> Henrik Halbleib 104 Historiker liegen nun darin, daß die Zeichen für letztere den Quellen natürlich ungleich besser zu entnehmen sind und deshalb womöglich eine Gewaltüberfrachtung des Alltags suggerieren, die es so nicht gegeben hat. So läßt sich etwa die versöhnende und freundschaftsstiftende Funktion des gemeinsamen Trinkens nur aus der konfliktträchtigen Verweigerung folgern. 84 Muchembled betonte zwar selbst immer wieder die Grenzen seiner Quellen, war dann aber im konkreten Fall damit zufrieden, wenn ein einzelnes Beispiel seine Vorannahmen bestätigen konnte. Die Frage nach historischem Wandel beantwortete Muchembled äußerst vorsichtig. Zwar zeuge die Delinquenz von einer relativ großen Beständigkeit der Lebensweisen, doch hätte mit der Gegenreformation eine pessimistischere, angsterfülltere Weltsicht in die ländliche Mentalität Einzug gehalten, die zudem unter den allmählichen Einfluß der von den Städten ausgehenden »civilisation des mœurs« geraten sei, 85 was ihm mit den gegebenen Quellen nicht überzeugend nachzuweisen gelang. An das von Muchembled vorgegebene Muster lehnte sich auch Jean Quéniarts für eine breites Publikum konzipierte Studie über die ländliche Gewalt in der Bretagne des 18. Jahrhunderts an. 86 Diese Zusammenfassung von rund zwei Dutzend »memoires de maîtrise« mag manche an anderem Ort aufgestellte These stützen, neue Erkenntnisse vermittelt sie nicht. Sittenzucht und weibliche Kriminalität Zunächst unter der quantitativen Übermacht der Gewalt- und Eigentumsdelikte, dann im theoretischen Schatten sowohl der »Violence-au-vol-These« als auch des Marginalitätskonzepts und schließlich außerhalb des Blickfeldes historisch-anthropologischer Gewaltanalysen, fristeten andere Deliktarten lange Zeit ein karges Dasein in knappen Aufsätzen und kleinräumigen Studien. 87 So bleibt eine umfassende Geschichte der Sittenzucht, die der vielbeschworenen »civilisation des mœurs« ein solideres Fundament verleihen könnte, ein Desiderat der Forschung. Das Desinteresse der Historiker manifestiert sich auch darin, daß zu einem wichtigen und facettenreichen Delikt wie dem Kindsmord nur ältere rechtsgeschichtliche Arbeiten existieren. 88 Verstöße gegen sexuelle Normen und die moralisch-religiöse Ordnung waren der weitverbreiteten phänomenologischen Betrachtung der Kriminalität nur schwer zugänglich. Aus dem Zählen von Unzuchts- oder Blasphemiefällen auf Mentalitätsveränderungen bezüglich des Sexualverhaltens oder der Religiösität zu schließen, das war offenbar selbst den überzeugtesten Vertretern quantifizierender Methoden zu gewagt. Zu offensichtlich war hier die ansonsten häufig ignorierte Abhängigkeit der Delikte von obrigkeitlicher Repression 84 Muchembled: La violence au village, 210 - 220. 85 Ebd., 321 - 405. 86 Quéniart: Le grand Chapelletout. 87 Otis-Cour: Lo pecat de la carn; dies.: La répression; Lavoie: Justice, morale et sexualité; Ribière: Les délits sexuels (wie Anm. 73); Courier: Mariage et délinquance. 88 Vgl. Françoise Fortunet: Variations dans la définition de l’infanticide (XVIIIe -XIXe siècles), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 465 - 470. Das verzögerte Anzeigeverhalten in diesen Fällen unter dem Blickwinkel des infrajudiciaire untersuchte Alfred Soman: Le témoignage maquillé: encore une aspect de l’infra-justice à l’époque moderne, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 99 - 109. Ein von Soman konzipierter Sammelband zum Thema kam nicht zustande. <?page no="104"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 105 und dem von sozialen Normen abhängigen Anzeigeverhalten der Bevölkerung. So wies Leah Otis-Cour auf die Zusammenhänge zwischen der Verbreitung des Inquisitionsprozesses und der Verfolgung der Blasphemie als einer kollektiven Bedrohung und Infragestellung jeglicher Autorität hin. 89 Der geringen Neigung der Bevölkerung, Blasphemien und Sakrilegien anzuzeigen, entsprach eine ebenso große Duldsamkeit der lokalen Kleriker, solange sie selbst nicht zu Zielscheiben wurden. 90 Die Disziplinierung der Geistlichkeit selbst, durch die sich vor allem die nachtridentinische Kirche bekanntlich positive Auswirkungen auf die Sitten der Bevölkerung versprach, ist in der jüngsten Vergangenheit zu einem veritablen Untersuchungsgegenstand geworden. 91 Eine zu starke Einmischung in die Privatsphäre der Gemeindemitglieder konnte jedoch wiederum mit Denunziationen, Sakrilegien und gewalttätigen Übergriffen diejenigen Äußerungen des Antiklerikalismus provozieren, denen die »Moralisierung« des Klerus eigentlich entgegenwirken sollte. 92 Das in Deutschland ausgiebig diskutierte Problem der protestantischen Kirchenzucht spielt in der französischen Forschung allein schon aus materiellen Gründen nur eine untergeordnete Rolle. 93 Von der Thematik der Sittenzucht ausgehend, bieten sich auch Anknüpfungspunkte an die Frauengeschichte. 94 Zum einen litt die Erforschung weiblicher Delinquenz aufgrund ihres geringen Anteils an der Summe aller Straftaten lange unter einer ähnlichen Mißachtung und Verspätung, obwohl in der französischen Forschung Frauen in herausragenden Positionen stark vertreten waren und sind (N. Castan, N. Gonthier, Cl. Gauvard). Zum anderen erwiesen sich Sexualdelikte wie Ehebruch und Unzucht als spezifisch weibliche Delikte, für die Männern seltener gestraft wurden. 95 Soziale Kontrolle wurde somit über die sexuelle Definition der weiblichen Ehre ausgeübt. Zu der von Nicole Castan auf Grundlage der allgemeinen kriminalitätsgeschichtlichen Literatur vor- 89 Otis-Cour: La répression. 90 Für das 18. Jahrhundert Dyonet: Impiétés provinciales; Hildesheimer: La répression du blasphème; Renaud Ferrand: Sacrilèges commis à l’égard des répresentants de Dieu en Lyonnais et Beaujolais (1679 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 3 8 1 -390. 91 Vgl. jetzt Garnot (Hg.): Le clergé délinquant; insbesondere Gilles Deregnaucourt: Les déviances ecclésiastiques dans les anciens diocèses des Pays-bas méridionaux aux XVIe, XVIIe et XVIIIe siècles, ebd., 65 - 95. Den bescheidenen Erfolg dieser Disziplinierungsbemühungen konstatieren an einem mikrohistorischen Beispiel Benoît Garnot: Un curé bressan à la fin du XVIIe siècle, ebd., 173 - 186; mit quantitativer Fundierung Eric Wenzel: Persistance des déviances dans le clergé paroissial bourguignon au XVIIIe siècle, ebd., 97 - 115; vgl. auch ders.: Les prêtres »criminels«; Rémy Bompard: Les ecclésiastiques indignes jugés devant les officialités de Lyon (1660 - 1789), in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 373 - 380. Für die vortridentinische Kirche vgl. bereits Hugues Neveux: Les marginaux et le clergé dans la ville et le diocèse de Bayeux au XIVe et XVe siècles, in: Marginalité, déviance, pauvreté, 18 - 41; Vincent Tabbagh: Croyances et comportements du clergé paroissial en France du Nord à la fin du Moyen Âge, in: Garnot (Hg.): Le clergé delinquant, 1 1 -64. 92 Dyonet: Impiétés provinciales; Eric Wenzel: Les prêtres victimes de leurs paroissiens dans la Bourgogne du XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 169 - 176. 93 Vgl. jetzt aber die Beiträge eines ausgewiesenen Kenners der Geschichte des französischen Protestantismus Didier Poton: Les déliberations consistoriales, une source pour l’histoire de la violence, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 67 - 74; ders.: Le consistoire protestant au XVIIe siècle: un tribunal des mœurs, in: Garnot (Hg.): Ordre moral et délinquance, 411 - 418. Grundlegend noch immer Vogler/ Estèbe: La genèse d’une société protestante. Protestantische Konsistorien als eine Form der Infrajustiz untersuchte Soman: Le Registre consistorial, vgl. dazu auch Anm. 113. 94 Grundlegend für die Frauenbzw. Geschlechtergeschichte in Frankreich: Cécil Dauphin/ Arlette Farge u.a.: Culture et pouvoir des femmes: essay d’historiographie, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 2 7 1 -283. 95 N. Castan: Straffällige Frauen; vgl. Otis-Cour: Lo pecat de la carn. Nur zum juristischen Diskurs Beauthier: La répression de l’adultère. <?page no="105"?> Henrik Halbleib 106 gelegten Zusammenfassung des Forschungsstandes gesellten sich einige kleinere Arbeiten, die die Perspektive bis ins späte Mittelalter ausweiteten und weitgehend die bekannten weiblichen Deliktstrukturen bestätigten. 96 Ein angrenzendes Untersuchungsfeld, in dem Frauen eine größere Rolle spielten, bildeten familiäre Konflikte um elterliche Autorität oder die Aufteilung des Erbes. 97 Dem tödlichen Ausgang eines solchen familiären Konflikts widmet sich Benoît Garnot in der Fallstudie eines besonders umfassend dokumentierten Gattenmordprozesses im Burgund des 18. Jahrhunderts. 98 In der noch immer vom Primat der seriellen Methode geprägten kriminalitätsgeschichtlichen Forschungslandschaft Frankreichs propagiert Garnot als bislang einziger theoretisch wie forschungspraktisch mikrohistorische Ansätze mit Vehemenz, aber ohne Dogmatismus. 99 Garnot weist hier darauf hin, wie die Vorannahmen der Justiz über die »typische« Gattenmörderin (die Monstrosität des ›Parrizids‹ verlangt nach einer ebensolchen Täterin) und die »typische« Vorgeschichte des Mordes (Morddrohung, Vergiftungsversuch, Komplizenschaft, Ehebruch) die Zeugenaussagen, die fast ausschließlich auf Gerüchten und Hörensagen beruhten, im Sinne der Anklage beeinflußten. Besonders deutlich wird dies bei dem angeblichen Vergiftungsversuch, da der Giftmord aufgrund der geringeren physischen Stärke der Frau und ihrer Aufsicht über die Küche als weibliches Delikt par excellence galt. Bereits relativ früh durfte sich mit der Prostitution eine weitaus alltäglichere, wenngleich in der Geschichte nicht immer kriminalisierte Form weiblicher Devianz größerer Aufmerksamkeit erfreuen. So stellte Jacques Rossiaud die im späten Mittelalter im Wandel begriffenen Einstellungen gegenüber der Prostitution in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. 100 Die Konjunktur der von städtischen Obrigkeiten eröffneten und kontrollierten Dirnenhäuser mußte ihm dabei als hauptsächlicher Gradmesser dienen, da die Überlieferung der Justiz erst mit der allmählichen Kriminalisierung der Prostitution im 16. Jahrhundert einsetzte. Dieser Quellenproblematik eingedenk konzentrierte sich Rossiaud auf die theologischen Diskurse über Sexualität, Ehe und Sünde, in denen er genügend Belege für dem materiellen Wandel der Prostitution entsprechende Akzentverschiebungen ausmachte. Diesen Weg wieder aus den Justizarchiven heraus schlug auch Erica-Marie Benabou in ihrem posthum erschienenen Buch über Prostitution und Sittenpolizei im Paris des 18. Jahrhunderts ein. 101 Aus dem Archiv des Hospitals »Salpetrière« ließ sich noch ein Sozialprofil der dort eingesperrten Frauen zeichnen, das den Schluß auf eine vom Reiz des luxuriösen Lebens der Oberschichten angeregte 96 Gonthier: Délinquantes ou victimes; Vernon: La femme et la violence. Zum benachbarten Katalonien: Flocel Sabaté: Femmes et violence dans la Catalogne du XIVe siècle, in: Annales du Midi 106 (1994), 277 - 316. 97 N. Castan: La criminalité familiale dans le ressort du parlement de Toulouse (1690 - 1730), in: Abbiateci u.a.: Crimes et criminalité; Die Übergänge zu familiären Konfliktgeschichten mit wenig oder gar keinem direkten Bezug zur Kriminalitätsgeschichte im engeren Sinne sind fließend: vgl. Farge/ Foucault: Familiäre Konflikte; Daumas: L’affaire d’Esclans. 98 Garnot: Un crime conjugal; vgl. auch Juratic: Meurtrière de son mari. 99 Garnot: Pour une histoire nouvelle; ders.: Quantitatif ou qualitatif? Les incendiaires au XVIIIe siècle; ders.: Vivre en prison. Zum hier unberücksichtigten Aspekt Hexerei: ders.: Le diable au couvent. Les possedées d’Auxonne (1558 - 1663), Paris 1994. Als Herausgeber initiierte Garnot beispielsweise eine Sektion Fallstudien in ders. (Hg.): Le clergé délinquant. 100 Rossiaud: Dame Venus. Die Aussagen über die Entwicklung des Sexualverhalten blieben aufgrund der Quellenlage eher vage, ebd., 136 - 147. 101 Benabou: La prostitution, vgl. auch Christine Chapalain-Nougaret: Les filles-mères du diocèse de Rennes au XVIIIe siècle et la prostitution, in: La faute, 1 0 1 -116. <?page no="106"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 107 Nebenerwerbsprostitution nahelegte. Genaueres erfährt man in teilweise anekdotischer Form nur über die tolerierte Luxusprostitution, die sich nicht nur der Aufmerksamkeit zeitgenössischer Schriftsteller, sondern auch des durch sie wirkenden Spitzelsystems erfreute. Mit ihren Spitzeln, die als »agents provocateurs« auftraten, kontrollierte die Pariser Polizei auch die männliche Prostitution. Wenn überhaupt, dann wurden die Delinquenten ähnlich den weiblichen Prostituierten in ein Hospital eingewiesen. 102 Laut Michel Rey hatte dabei im 18. Jahrhundert die Wahrung der sozialen Ordnung des absolutistischen Staates, die man durch die Verbreitung der einst als »beau vice« der Eliten betrachteten Homosexualität gefährdet sah, eindeutig Vorrang vor religiösen Motiven, denen man sich aber weiterhin bediente. Justiz und Infrajustiz Wie bereits angedeutet, ging die kriminalitätsgeschichtliche Forschung lange Zeit von der Annahme aus, in den Justizarchiven seien weitgehend unverfälschte Zeugnisse historischer Wirklichkeit aufzufinden. Dies entsprach dem Erkenntnisinteresse, das die unterschiedlichen historisch-anthropologischen, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätze verband: der Delinquent, das Delikt und die einmal soziale, einmal mentale Umwelt standen im Mittelpunkt des Interesses. Um dieses Paradigma aufzubrechen, waren Anregung und Kritik in zweierlei Hinsicht nötig: zum einen bezüglich der spezifischen Probleme und Limitationen der gerichtlichen Quellen, zum anderen - vom intellektuellen Erfolg Michel Foucaults angeregt - hinsichtlich der disziplinierenden Wirkung von Justiz und Strafsystem sowie deren machtpolitischer Aufladung, die das Verhältnis von Justiz und Staatlichkeit zu einem Kernproblem neuerer kriminalitätsgeschichtlicher Forschung werden ließ. Die fundamentalste Kritik richtete sich gegen die naive quantifizierende Auswertung der gerichtlichen Quellen. Deliktstrukturen zu rekonstruieren und ihre Veränderungen zu interpretieren, ohne den bestimmenden Einfluß des Apparates zur Kenntnis zu nehmen, der die Daten hervorgebracht hat, die man zählt, führe in die Irre, so der Einwand von soziologischer Seite. Da man gezwungenermaßen eine Geschichte der Repression schreibe, sei es unabdinglich, die Geschichte der Strafjustiz - Organisationsstrukturen, Verfahren und Normen - stärker zu berücksichtigen. 103 Wie wenig repräsentativ oft die für einzelne Gerichtsinstanzen ermittelten Zahlen für das ganze Justizsystem sind, haben kritische Blicke inzwischen mehrfach erwiesen. 104 Eingedenk 102 Rey: Police et sodomie; ders.: Justice et sodomie. Noch ein Jahrhundert zuvor waren die Urteile in Sodomieprozessen ungleich härter: Alfred Soman: Pathologie historique: le témoignage des procès de bestialité aux XVIe -XVIIe siècles, in: La faute, 149 - 161. 103 Lévy/ Robert: Le sociologue et l’histoire pénale, 407f.; Roth: Histoire pénale, 196. Zum Konzept vgl. auch Lévy/ Robert: Histoire et question pénale. Zur Aufnahme dieser Anregung durch die Historiker vgl. N. Castan: Bilan. 104 Für das häufig untersuchte Parlement de Paris zeigte Garnot: Une illusion historiographique, 369ff., daß der vermeintliche Anstieg der Kriminalität im 18. Jahrhundert nur auf einem verhältnismäßigen Anstieg der Appellationen beruhte, während sich die »Kriminalität« in der ersten Instanz nicht veränderte. Zu der methodischen Bedenklichkeit eines Vergleichs der Daten - eigentlich der Sinn und Zweck quantifizierender Ansätze -, der dem unterschiedlichen Charakter der Gerichtsinstanzen nicht Rechnung trägt Rousseaux: Existe-t-il (wie Anm. 9), 148: »chaque instance de contrôle réfracte une image personelle de la criminalité.« Dies unterstreicht auch Guilleminot: La justice, eine ansonsten unglaublich zahlenüberladene späte Frucht der Chaunu-Schule. <?page no="107"?> Henrik Halbleib 108 dieser Tatsache bemühte man sich in der jüngeren Vergangenheit verstärkt darum, die Funktionsweise etwa der Appellationsgerichte (»parlements«) oder der Gnadenjustiz (»lettres de rémission«) besser zu verstehen. 105 Im Gegensatz zu Deutschland kann sich die kriminalitätsgeschichtliche Forschung in Frankreich dabei auf eine Reihe neuerer rechtshistorischer Arbeiten zum Strafrecht, zur Justizorganisation oder zur Verfahrenspraxis stützen. 106 Zudem ist auf Seiten der Rechtshistoriker wie der Historiker eine zunehmende Bereitschaft zu erkennen, die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplin wahrzunehmen und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu pflegen. 107 In der im eigentlichen Sinne kriminalitätsgeschichtlichen Forschungspraxis machte sich zunächst Nicole Castan darum verdient, die gegenseitige Bedingtheit von Delinquenz und Repression am Beispiel der zur Kontrolle der entwurzelten Vaganten eingerichteten Prevotalgerichte aufzuarbeiten. 108 In der Breite beschränkten sich die meisten Historiker allerdings auf formale Reaktionen: die Beschreibung der Gerichtsinstanz, die man untersuchte, wurde genauer und die Strafen wurden konsequenter in die quantitativen Darstellungen einbezogen. So nimmt es auch nicht wunder, daß den bis dahin anspruchsvollsten Versuch, Justizorganisation, Delinquenz und Repression als gleichwertige Untersuchungsgegenstände ernstzunehmen, mit Jacques Chiffoleau ein Mediävist unternahm, den sein ausgewiesenes Interesse an der päpstlichen Verwaltung in Avignon über den eher zufälligen Fund fiskalischer Quellen im Vatikanischen Archiv zur Kriminalitätsgeschichte geführt hatte. 109 Chiffoleau konstatierte eine recht große und mit dem Bevölkerungsrückgang im Gefolge der demographischen Krisen des 14. Jahrhunderts noch zunehmende Aktivität der »justices du pape«, die in Gestalt von Geldstrafen einen beträchtlichen Beitrag zu den gesamten Einkünften leisteten. Dies wertete er als Zeichen sich entwickelnder zentralisier- 105 Symptomatisch dafür die Beiträge in La faute, la répression et le pardon (u.a. mit einer Sektion »Les lettres de rémission, source de l’histoire de la justice criminelle«) und Bercé/ Soman: La justice royale, jeweils mit Beteiligung Alfred Somans und Claude Gauvards. Zu den »lettres de rémission« vgl. desweiteren Gauvard: De grace especial; dies.: Les sources judiciaires. Zur fürstlichen Gnadenjustiz Pierre Flandin-Blety: Lettres de rémission des Vicomtes de Turenne aux XIVe et XVe siècles, in: Mémoires de la Société pour l’Histoire du Droit et des Institutions des anciens pays bourguignons, comtois et romands 45 (1988), 125 - 143; Gonthier: La rémission. 106 Vgl. Lothar Schilling: Im Schatten von ›Annales‹, Bourdieu und Foucault. Zur Rezeption französischer Rechtshistoriographie in Deutschland, in: Olivier Beaud/ Erk Volkmar Heyen (Hg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft: Erträge und Herausforderungen eines unterentwickelten Kulturaustausches, Baden-Baden 1999. Die häufigsten Referenzen gelten verständlicherweise den Gesamtdarstellungen: André Laingui/ Arlette Lebigre: Histoire du droit pénal, 2 Bde., Paris 1980; Jean-Marie Carbasse: Introduction historique au droit pénal, Paris 1990; Jean-Pierre Royer: Histoire de la justice en France de la monarchie absolue à la République, Paris 1995. Starke Beachtung finden auch die Arbeiten von Bernard Schnapper: Voies nouvelles en histoire du droit. La justice, la famille, la répression pénale (XVIème- XXème siècles), Paris 1991. Als ein weiterer Beleg für das steigende Interesse der Rechtshistoriker an der Geschichte der Justiz die Zeitschrift Histoire de la Justice. Eine knappe Einführung in die Thematik bei Benoît Garnot: La justice en France de l’an mil à 1914, Paris 1993; vgl. auch ders.: La législation et la répression. Ein wichtiger Beitrag zur Justizgeschichte aus historischer Sicht Michel Porret: Le crime et ses circonstances. De l’esprit de l’arbitraire au siècle des Lumières selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève, Genf 1995. 107 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß an der frühen Pariser Forschungsgruppe um Billacois bereits Strafrechtshistoriker wie Yvonne Bongert beteiligt waren. 108 N. Castan: La justice expéditive. 109 Chiffoleau: Les justices. Auf die Ergebnisse bezüglich der Delinquenz wurde bereits oben hingewiesen. Die von Chiffoleau selbst auch immer wieder angesprochenen Beschränkungen des Quellenmaterials mußten zwangsläufig zu mutmaßenden Interpretationen führen. <?page no="108"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 109 ter Staatlichkeit und des obrigkeitlichen Willens, die Untertanen durch das Herrschaftsinstrument Justiz im Sinne der Normen einer neuen moralischen Ordnung zu disziplinieren. Ob dieser Wille tatsächlich dazu führte, daß sich mit verinnerlichten Normen das Verhalten änderte, konnte Chiffoleau anhand seiner Quellen verständlicherweise nicht nachweisen. Auf ein weiteres grundsätzliches Problem der Quantifizierung machte N. Castan aufmerksam, als sie in ihrem international stark beachteten Buch »Justice et répression en Languedoc« auf die geringe Reichweite der Strafjustiz gegenüber Formen außergerichtlicher Konfliktregelungen (»se faire justice soi-même«) hinwies. 110 Schon Y. Castan hatte beobachtet, daß viele Konflikte und Verbrechen nicht den Weg in die Mühlen der Justiz fanden, sondern schiedsgerichtlich innerhalb der Gemeinschaft geregelt wurden. 111 Der Friedensschluß zwischen verfeindeten Familien, der Schiedsspruch in zivilrechtlichen Streitigkeiten oder die Vermittlung einer finanziellen Entschädigung nach einem Verbrechen, unter dem Begriff »l’infrajudiciaire« zusammengefaßt, wurden zu einem zentralen Thema der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung, erhoffte man sich doch darüber direktere Aufschlüsse über die Normen des Zusammenlebens und der sozialen Kontrolle. 112 Die Fragen nach den Modalitäten der Infrajustiz, den Anlässen, den Autoritäten, an die man sich wandte, den sich bildenden und wieder verschwindenden Institutionen führten über das Quellenproblem zur Diversifizierung der Forschungsansätze: die Tätigkeiten von Notaren 113 und kirchlichen Gremien 114 erwiesen sich hierbei als besonders leicht zugänglich. Daneben warf das Konzept die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Justiz und Bevölkerung (der französische Begriff »justiciables« ist im Deutschen nicht wiederzugeben) auf. Die Entscheidung, ob man sich an die Justiz wandte oder nicht, hing nämlich keinesfalls nur von den Kosten der Verfahren, der Angst vor als überzogen betrachteten Strafen und der Notwendigkeit, verletzte Ehre wiederherzustellen, ab. Auch handelte es sich nicht um einander ausschließende Entscheidungen: vielmehr kamen außergerichtliche Einigungen häufig erst nach der - später zurückgezogenen - Klage eines Betroffenen zustande. Statt als passive Opfer eines staatlichen Ordnungs- und Disziplinierungswillens erschienen die »justiciables« so als Akteure, die die Justiz für die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele und Wertvorstellung nutzten. 115 110 N. Castan: Justice et répression. Zur deutschen Rezeption vgl. Blasius: Kriminalität und Geschichtswissenschaft, 620; ders.: Kriminologie und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2), 144f. Gleichzeitig erschien N. Castan: Les criminels de Languedoc, worin auf gewohnte Weise den Deliktstrukturen soziale Konflikte als Ursachen zugeordnet wurden. 111 Y. Castan: Honnêteté, 505f. 112 Grundlegend Soman: L’infra-justice; N. Castan/ Y. Castan: Une économie de justice. Zum Forschungsstand vgl. Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire; darin insbesondere Nicole Gonthier: Faire la paix: un devoir ou un délit? Quelques réflexions sur les actions de pacification à la fin du Moyen Age, ebd. 37 - 54; Benoît Garnot: L’ampleur et les limites de l’infrajudiciaire dans la France d’Ancien Régime (XVI-XVIIe - XVIIIe siècle), ebd., 69 - 76; Xavier Rousseaux: Entre accommodement local et contrôle étatique. Pratiques judiciaires et non-judiciaires dans le réglement des conflits en Europe médiévale et moderne, ebd., 87 - 107. Vgl. auch in diesem Band den Beitrag von Francisca Loetz: L’infrajudiciaire: Facetten und Bedeutungen eines Konzepts. 113 Soman: L’infra-justice; Jean-L. Laffont: Eléments pour une approche historique de la sentence arbitrale: une source méconnue pour l’étude des procédés d’accommodement à l’époque moderne, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 75 - 91. 114 Soman: Le Registre consistorial; Clemens-Denys : Les apaiseurs de Lille; die Beiträge von Gilles Deregnaucourt, Jean Quéniart, Eric Wenzel, Nicolas Delasselle in: Garnot (Hg.): L’infrajudiciaire. <?page no="109"?> Henrik Halbleib 110 Entscheidenden Anteil daran, daß gegen Ende der 1970er Jahre die Geschichte der Justiz vermehrt auf die Tagesordnung kriminalitätsgeschichtlicher Forschung gesetzt wurde, hatten die Arbeiten Michel Foucaults. 116 Darin versuchte er, die Genese der modernen Disziplinargesellschaft aus der ›Geburt des Gefängnisses‹ als dem Beginn einer neuen Herrschaftstechnik zu entwickeln, die im Gegensatz zu dem ›Fest der Martern‹, der exemplarischen Demonstration herrschaftlicher Macht bei den Hinrichtungen des Ancien Régime, weniger auf den Körper als auf die Beherrschung der Seele des Verurteilten angelegt gewesen sei. Die rein passive Rolle, die bei Foucault dem Angeklagten gegenüber einer furchteinflößenden Justiz und den Zuschauern beim Spektakel der Hinrichtungen zukam, gab ebenso Anlaß zu Kritik wie die Tatsache, daß Foucault aus dem aufgeklärten Diskurs des 18. Jahrhunderts ein negativ vorbelastetes Bild der Justiz des Ancien Régime übernommen hatte, das mit der historischen Wirklichkeit nicht viel gemeinsam hatte. Daß der Angeklagte sich nicht darauf beschränkte »à figurer dans le rituel de la vérité pour y prendre en compte son propre crime«, 117 davon legen die Briefe Pantaléon Gougis’, eines Mitte des 18. Jahrhunderts der Brandstiftung beschuldigten Winzers, eindrucksvoll Zeugnis ab. 118 Diese Korrespondenz eines Angeklagten mit dem ihn beratenden Notar ist zwar hinsichtlich der Überlieferung bislang zumindest eine Ausnahme, rechtlicher Beistand jedoch, obwohl dem Gesetz nach verboten, war den meisten Beschuldigten ebenso zugänglich wie praktisches juristisches Wissen. 119 Das Ritual der Hinrichtungen ließ sich ebenfalls leicht in einem anderen Sinn als bei Foucault interpretieren. Nicht nur sorgten die Zuschauer dafür, daß das Herkommen gewahrt blieb oder die Martern sogar scheinbar verschärft wurden (Verstümmelungen nach dem Tod des Verurteilten). Es habe auch sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit ein »accord profond entre l’opinion et l’action de la justice légale«, 120 ein Bedürfnis nach dem ›Opfer‹ eines Sündenbocks gegeben. 121 Die ›Geburt des Gefängnisses‹ selbst wurde naturgemäß zu einem privilegierten Studienobjekt der Historiker der Französischen Revolution und des 19. Jahrhunderts, doch machte sich von hier aus auch ein Interesse an der »archéologie de la privation de 115 Vgl. Billacois/ Neveux (Hg.): Porter plainte; darin insbesondere Catherine Ditte: La mise en scène dans la plainte: sa stratégie sociale. L’exemple de l’honneur populaire, ebd., 23 - 48; Luc Ferrand: Villageois entre eux, 49 - 72; Olivier Jouneaux: Villageois et autorités, ebd., 101 - 118. Diese Aufsatzsammlung erschien nicht ohne Grund in der rechtsanthropologischen Zeitschrift Droit et Cultures. Zur Bedeutung rechtsanthropologischer Konzepte (Konfliktlösungspraktiken, Pluralität juristischer Sphären) Rousseaux: Entre accommodement local (wie Anm. 112); vgl. auch Bruno Isbled: Le recours à la justice à Saint- Germain-des-Prés au milieu du XVIIe siècle, in: Bercé/ Y. Castan (Hg.): Les archives, 65 - 74. 116 Michel Foucault: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975; deutsch: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. Main 1977, 11. Aufl. 1995; ders.: La poussière et le nuage, in: Perrot (Hg.): L’impossible prison, 29 - 39. 117 Foucault: Surveiller et punir (wie Anm. 116), 42. 118 Garnot: Vivre en prison. Die Anpassung der Texte an die heutige Orthographie erleichtert auch dem ausländischen Benutzer die Lektüre. 119 Vgl. auch den Versuch einer Rehabilitierung der Justiz des Ancien Régime bei Mer: La procédure criminelle. Zum aufgeklärten Diskurs N. Castan: La justice en question. 120 Gauvard: Pendre et dépendre, 19. Überhaupt sei für die rechtliche Autorität des Königs im späten Mittelater die Barmherzigkeit der Gnadenbriefe wichtiger gewesen, da damit die private Rache umgangen worden sei: Claude Gauvard: Grâce et exécution capitale: les deux visages de la justice royal française à la fin du Moyen Âge, in: Bercé/ Soman (Hg.): La justice royale, 275 - 290. 121 Bée: Le spectacle de l’exécution. Zur quantitativen Entwicklung körperlicher Strafen im 18. Jahrhundert Garnot: Les peines corporelles. Die ›Gewaltsamkeit‹ der Justiz betonten Gonthier: La violence judiciaire; Y. Castan: Violence ordinaire. <?page no="110"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 111 liberté« bemerkbar. 122 Die ganz andere Funktion mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gefängnisse - kurzfristige Sicherstellung bis zum Prozeß statt Haft - erschwerten allerdings die Anbindung an die Debatte um Foucault. 123 Wie sehr die Ökonomie des Strafens von praktischen Notwendigkeiten abhing, zeigt die Entwicklung der ersten Freiheitsstrafe in der französischen Geschichte. André Zysberg zeichnete eindrucksvoll nach, wie die Galeerenstrafe im 16. Jahrhundert aus dem militärischen Bedarf an Ruderern entstand, in der Folge den militärischen Konjunkturen entsprechend verhängt wurde, um schließlich im 18. Jahrhundert das Weiterexistieren einer militärisch längst überflüssig gewordenen Flotte bis 1748 zu rechtfertigen. 124 Konsequent weitergeführt wurde danach das Prinzip der Galeerenstrafe durch die Zwangsarbeit im »bagne« der französischen Hafenstädte. 125 Über faktische Kritik und thematische Inspiration hinaus ging Robert Muchembled in seiner Auseinandersetzung mit Foucault. Schon in seiner Akkulturationsthese spielte die disziplinierende Wirkung strafrechtlicher Repression für die vertikale Durchsetzung der Kultur der Eliten eine wichtige Rolle. In »Le temps des supplices« 126 interessierten Muchembled Justiz und Strafsystem als Herrschaftstechnik hinsichtlich der Frage, wie es zu dem Gehorsam der Untertanen im Frankreich des Absolutismus gekommen sei. In einem chronologischen Rahmen verfolgte Muchembled die Entwicklung von der eher schiedsgerichtlichen und pazifizierenden städtischen Gerichtsbarkeit des späten Mittelalters über deren Krise und das Eingreifen des frühmodernen Staates bis hin zur Justiz des konsolidierten Absolutismus. Das »théâtre des supplices« galt Muchembled dabei als der im Sinne einer ›politischen Anthropologie‹ zu analysierende Ausdruck der symbolischen Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Den Siegeszug der königlichen Gerichtsbarkeit im 16. Jahrhundert habe denn auch ein »éclat des supplices« mit der Zuspitzung auf Hinrichtungen und Gnadenerlasse begleitet. 127 Die Milderung der Strafpraxis seit Ludwig XIV. zeuge so zum einen von der weitgehenden Durchsetzung des staatlichen Machtmonopols, zum anderen aber auch da- 122 Von diesem übergreifenden Interesse zeugen die Sammelbände Petit u.a.: Histoire des galères; Petit (Hg.): La prison; Perrot (Hg.): L’impossible prison. 123 Als Überblick der Beitrag von Nicole Castan, in: Petit u.a.: Histoire des galères, 19 - 77. Zum 18. Jahrhundert dies.: Le régime des prisons au XVIIIe siècle, in: Petit (Hg.): La prison, 31 - 42; dies.: Délinquance traditionelle et répression critique à la fin de l’Ancien Régime dans les pays de langue d’oc, in: Perrot (Hg.): L’impossible prison, 147 - 164; Quétel: De par la Roy; Martin: Le milieu carcéral; Pierre Bodineau: La gestion des prisons bourguignonnes à la fin du XVIIIe siècle, in: Garnot (Hg.): Histoire et criminalité, 477 - 485; Jean-Michel Tournois: Dans l’antichambre des peines: les prisons dijonaises à la fin du XVIIIe siècle (1774 - 1789), ebd., 487 - 493; Seltene Innenansichten des Gefängnisses gewährt Garnot: Vivre en prison. Zum späten Mittelalter Gonthier: Prisons et prisonniers; dies.: Délinquance, justice et société, 2 1 2 -220. 124 Zysberg: Les galériens. Für die Zeit vor der Reorganisation der Galeeren unter Ludwig XIV. ders.: Le temps des galères (1481 - 1748), in: Petit u.a.: Histoire des galères, 79 - 106. Vgl. auch ders. (Hg.): Jean Martheilhe. Mémoires d’un galérien du Roi-Soleil, Paris 1982. Ein regionaler Ansatz bei Ferrer: Des galériens. 125 Ders.: Au Siècle des lumières, naissance du bagne, in: Petit (Hg.): 169 - 197. 126 Muchembled: Le temps des supplices. 127 Ebd., 81 - 125. Nach der so erfolgten Eroberung der Städte bildete die Hexenverfolgung für Muchembled den zweiten Schritt, mit dem der Absolutismus sich der Peripherie (des Landes) bemächtigt habe, ebd., 154 - 184. Vgl. auch die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen Muchembleds zum Thema Hexenverfolgung; ders.: Le roi et la sorcière. L’Europe des bûchers. XVe -XVIIIe siècle, Paris 1993; ders.: La sorcière au village (XVe -XVIIIe siècle), Paris 1979; ders.: Sorcières, justice et société aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 1987. <?page no="111"?> Henrik Halbleib 112 von, daß sich der Absolutismus mit den traditionellen Formen der Konfliktregelung eingerichtet habe, womit Muchembled seine frühere Thesen bezüglich des Erfolges der obrigkeitlichen Akkulturation erheblich revidierte. 128 Die langfristige Perspektive gibt zwar wie häufig Anlaß zur Kritik am Detail, wie groß aber nicht nur in der französischen Forschung das Defizit an Arbeiten ist, die sich auf die großen säkularen Wandlungsprozesse der Geschichte und das reichhaltige diesbezügliche Theorieangebot einlassen, zeigen die Forschungssynthesen Xavier Rousseauxs. 129 Verbanden sich schon in der nur durch die Unbilden des wissenschaftlichen Buchmarktes in publizierter Form getrennten »Thèse« Muchembleds mit historischer und ›politischer‹ Anthropologie zwei völlig unterschiedliche Zugänge zur Geschichte der Kriminalität, so gab es in der jüngeren Vergangenheit mehrere ehrgeizige Versuche, die Pluralität der Methoden und Gegenstände wieder zu integrieren. Initiiert von Benoît Garnot, zeugen die inzwischen drei Kolloquien am »Centre d’études historiques sur la criminalité et les déviances« der Université de Bourgogne in Dijon 130 nicht nur von dem anhaltend breiten Interesse an der Kriminalitätsgeschichte, sondern auch von der Bereitschaft zum Dialog über die engen zeitlichen Abgrenzungen der historischen Disziplin hinweg. In Anbetracht der für das 18. Jahrhundert zu verarbeitenden Quellen- und Stoffmengen, nimmt es nicht Wunder, daß es zu dieser ursprünglich favorisierten Epoche eines vermuteten entscheidenden Kriminalitätswandels keine neueren umfassenden Arbeiten gibt. So splittert sich auch das facettenreiche Werk Benoît Garnots in einzelne Veröffentlichungen zwischen mikrohistorischen Ansätzen und breit angelegten Überblicken auf. 131 Ob die Anziehungskraft der Kriminalitätsgeschichte für eine neue Generation von Historikern noch ausreicht, um hier mit zukünftigen »Thèses« die Lücke zu schließen, wird sich erweisen. Dagegen profitierte die Forschung zum lange Zeit vernachlässigten Spätmittelalter davon, daß ihr aufgrund der Verspätung die Erfahrungen von knapp zwei Jahrzehnten Kriminalitätsgeschichte als Ausgangsbasis zur Verfügung standen. Einer Erwähnung bedürfen hier die »Thèses de Doctorat d’Etat« Claude Gauvards und Nicole Gonthiers. Leider erschien die Studie Gonthiers über Delinquenz und Justiz im Lyonnais 132 erst 1993 - fünf Jahre nach Einreichung der »Thèse«. Auf einer wesentlich breiteren Quellenbasis knüpfte Gonthier an die Pionierarbeit Jacques Chiffoleaus über die päpstliche Gerichtsbarkeit in Avignon an. Die genaue Beschreibung der konkurrierenden Gerichtsbarkeiten und der quantifizierbaren Angaben über die Delikte (Zeiten, Orte und städtische wie ländliche Deliktstrukturen) eröffnet den Blick in zwei Richtungen: Der zweite Teil des Buches »Les délinquants« fragt in gewohnter Weise nach den Tätern, nach Frauen und Jugendlichen, Fremden und Klerikern, Reichen und Mächtigen, Arbeitenden und Armen, nach ihren Motivationen, ihrer sozialen und kulturellen Verortung. Im dritten und umfangreichsten Teil »La justice et les délinquants« geht es nur 128 Muchembled griff hier auf das oben bereits erwähnte Konzept der Justiznutzung zurück. 129 Rousseaux: Ordre moral (wie Anm. 41); ders.: Civilisation des mœurs; ders.: Entre accommodement local (wie Anm. 112). 130 Garnot (Hg.): Histoire et criminalité; ders. (Hg.): Ordre moral et délinquance; ders. (Hg.): L’infrajudiciaire. 131 Garnot: Un crime conjugal; ders.: Vivre en prison; ders.: La législation et la répression; ders.: La perception des délinquants. 132 Gonthier: Délinquance, justice et société. <?page no="112"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 113 zum einen um die Delinquenten vor Gericht und das unter dieser geistlichen Gerichtsbarkeit schon früh durchgesetzte Inquisitionsverfahren, bei dem die Richter weniger auf die Folter als auf die Angst der Angeklagten vor einer längeren Inhaftierung setzten, um die so wichtigen Geständnisse zu erlangen. Die Justiz erscheint hier in einem der zeitgenössischen literarischen Kritik gegenüber vergleichsweise günstigen Licht, was Effektivität und Verhältnismäßigkeit der Strafen angeht. Zum anderen interessierte Gonthier die Justiz als ein Kernbereich politischer Autorität. Die umfangreichen Aktivitäten der Gerichte waren nur zu einem geringen Teil von den finanziellen Möglichkeiten der Geldstrafen motiviert. Streitigkeiten darum, welchem Gerichtsherren ein Angeklagter zustand, die erfolgreiche Verdrängung außergerichtlicher Konfliktlösungsmechanismen und die in Hinrichtungen und Verbannungsritualen festgeschriebene »géographie judiciaire« gelten Gonthier ebenso als Belege für die zentrale Rolle der Justiz für die Einschärfung und Ausübung von Herrschaft wie der Bezug auf ein religiöses Modell moralischer und politischer Ordnung. 133 Die politischen Implikationen der Repression - beziehungsweise in diesem Fall der ›Remission‹ - von Kriminalität sind auch Claude Gauvard nicht fremd. 134 Die ca. 7.500 ausgewerteten »lettres de rémission« gelten Gauvard zum einen als Indikatoren des Diskurses zwischen Herrscher und Untertanen über Verbrechen und Gewalt (die Mehrzahl der Gnadenbriefe wurde für Tötungen ausgestellt). Die Bedeutung theoretischer Debatten, aber auch der »opinion« für das Selbstverständnis und die Praxis der königlichen Gnadenjustiz wird dabei ebenso herausgestellt wie das aus Ängsten und Unsicherheit entstehende Bedürfnis der Gesellschaft nach Justiz und Staat: »L’histoire du crime raconte comment la société traditionelle (...) s’est adaptée et a souhaité la constitution de l’Etat.« 135 Mit den Gnadenbriefen habe so eine Offizialisierung traditioneller Konfliktlösungen begonnen, allmählich sei im Kontext der religiösen Gottesfriedensbewegung der Totschlag zu einem Majestätsverbrechen (»lèse-majesté«) geworden, das die Todesstrafe verdiente. Zum anderen dienen Gauvard die Texte der Gnadenbriefe und -gesuche als Basis für eine umfassende historisch-anthropologische Analyse von Lebensformen und Verhaltensweisen, die sowohl thematisch als auch methodisch über den vergleichbaren Ansatz Muchembleds hinausführt. So zeigt sich bei Gauvard, daß serielle Methode und sorgfältige ›qualitative‹ Quellenlektüre einander nicht ausschließen müssen, sondern vielmehr erst im Zusammenhang erkenntnisfördernd wirken. Ob künftige Arbeiten die hoch gesetzten Standards dieser Publikationen wieder erreichen werden oder ob das Feld der ›großen‹ Kriminalitätsgeschichte als bereits gründlich abgeerntet links liegen gelassen wird, muß offen bleiben. Die kontinuierliche Entwicklung und die zunehmende Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung in den letzten drei Jahrzehnten durch alle Umbrüche und »Zeiten des Zweifels« 136 hindurch sprechen gegen ein kurzfristiges Abflauen des Interesses. Zumindest bietet die 133 Ebd., 284 - 334. 134 Gauvard: De grace especial. Anscheinend haben selbst sozial- und mentalitätsgeschichtlich orientierte Mediävisten weniger Schwellenängste gegenüber den Phänomenen Staat und Politk als ihre frühneuzeitlichen Kollegen. 135 Ebd., 939. 136 Roger Chartier: Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung, in: Christoph Conrad/ Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 83 - 97. <?page no="113"?> Henrik Halbleib 114 schon von Y. Castan angestoßene Öffnung gegenüber einer nicht im eigentlichen Sinne kriminalitätsgeschichtlichen Nutzung der Justizarchive - die schon früher zu entlegenen Themen wie dem ländlichen Geschmack und Bedarf an Luxusartikeln anhand gestohlener Gebrauchsgegenstände führte - 137 noch genügend neue Perspektiven, wie etwa die in letzter Zeit häufiger gezogenen Verbindungen zur Medizingeschichte zeigen. 138 Allerdings muß man sich dann mit Benoît Garnot fragen, ob man hier überhaupt noch von einer »histoire de la criminalité« sprechen kann. 139 Zusammenfassung Aus den Traditionen serieller Geschichtsschreibung hervorgehend, lag das Interesse der französischen Kriminalitätsgeschichte zunächst auf den Zusammenhängen von langfristigen Veränderungen der Deliktstrukturen, sozialen Ursachen der Delinquenz und Marginalisierung von Randgruppen. Ein zunehmend anthropologischer Blick führte dann zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber den Funktionen der Gewalt in sozialen Beziehungen und Ehrkonflikten. Zugleich nahm mit wachsender Skepsis gegenüber den quantifizierenden Methoden und angeregt von Foucault die Bereitschaft zu, sich mit der Justiz und deren Wahrnehmung und Nutzung durch die Bevölkerung zu beschäftigen. 137 Dyonet: Le goût des voleurs. 138 Gonthier: Les médecins et la justice; Fraysse/ Fraysse: Entre psychatrie et histoire des mentalités; Françoise Fery-Hue: Une expertise pour viol au XVIe siècle: pratique médico-légale et vocabulaire gynecologique, in: Violence et contestation au Moyen-Age, Paris 1990, 321 - 343; Annie Saunier: »Hors de sens et mémoire«: une approche de la folie au travers de quelques actes judiciaires de la fin du XIIIe à la fin du XIVe siècle, in: Philippe Contamine/ Thierry Dutour/ Bertrand Schnerb (Hg.): Commerce, finances et société (XIe -XVIe siècles). Recueil de travaux d’Histoire médiévale offert à M. le Professeur Henri Dubois, Paris 1993, 489 - 499. 139 Garnot: Pour une histoire nouvelle, 298. <?page no="114"?> Kriminalitätsgeschichte in Frankreich 115 Bibliographie André Abbiateci/ François Billacois/ Yvonne Bongert/ Nicole Castan/ Yves Castan/ Porphyre Petrovitch: Crimes et criminalité en France sous l’Ancien Régime 1 7 e -18e siècles, Paris 1971. Régine Beauthier: La répression de l’adultère en France du XVIème au XVIIIème siècle. De quelques lectures de l’histoire, Brüssel 1990. Michel Beé: Le spectacle de l’exécution dans la France d’Ancien Régime, in: Annales E.S.C. 38 (1983), 843 - 862. Erica-Marie Benabou: La prostitution et la police des mœurs au XVIIIe siècle, Paris 1987. Yves-Marie Bercé: Aspects de la criminalité au XVIIe siècle, in: Revue historique 239 (1968), 33 - 42. Yves-Marie Bercé/ Yves Castan (Hg.): Les archives du délit: empreintes de société, Toulouse 1990. 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Was den Benelux-Raum betrifft, fehlt ein Gesamtüberblick. Es liegen lediglich Einzelübersichten vor (Moorman van Kappen, 1984b; Spierenburg, 1986b; Caenegem, 1991; Nève, 1991; Wijffels, 1993). 2 Ungefähr zwanzig Jahre nach den Pionierartikeln über die Niederlande (Diederiks, 1975a und b, 1980; Huussen, 1976b; Spierenburg, 1981) oder Belgien (Vanhemelryck, 1973, 1978; Dupont-Bouchat, 1976, 1977c), bietet es sich nunmehr an, ein vorläufiges Fazit zu ziehen. In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Forschungsgegenstände, die Quellenauswertung sowie die Untersuchungsmethoden entsprechend den Veränderungen der Gesellschaften, in denen die Forschungsarbeiten konzipiert und umgesetzt worden sind, gewandelt (Rousseaux, 1997b). Unser Beitrag will einen kurzen Überblick über die Forschung zur Kriminalitätsgeschichte im Benelux-Raum in der Zeit vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ancien Régime geben. Der zeitliche Ausgangspunkt ist das 14. Jahrhundert, eine Zeit, in der die fürstlichen Territorialstaaten entstehen. Den terminus ad quem bestimmt die allmähliche Angliederung der Beneluxterritorien an Frankreich zwischen 1795 und 1814. Dieser geographische Raum entspricht einem traditionellen Verständnis der Niederlande in ihrer größten Ausdehnung (Schepper, 1987). Sie umfassen die siebzehn Provinzen des 16. Jahrhunderts, zu denen die Fürstentümer zwischen Mosel und Rhein hinzuzufügen sind. Unter ihnen ist das Fürstbistum von Lüttich das wichtigste (Diederiks, Egmond, 2000; Rousseaux, Dupont-Bouchat, 2000). Man kann in diesem bibliographischen Essay nicht umhin zu bemerken, wie verstreut die Arbeiten sind. Selbst wenn die einschlägigen Untersuchungen gedruckt vorliegen (was oft nicht der Fall ist), gestaltet sich der Zugriff auf sie oft schwierig. Wenige Bücher oder Artikel sind in nationalen oder internationalen Zeitschriften erschienen. Die meisten Arbeiten sind über Zeitschriften für Lokalgeschichte oder über Sammelbände verstreut. 1 Herzlichen Dank für seine Hilfe bei der Überprüfung der deutschen Übersetzung an Helmut Gabel. 2 Ein solcher Überblick ist in Vorbereitung und stellt zumeist ungedruckte Arbeiten vor. <?page no="121"?> Xavier Rousseaux 122 Die Entstehung der Kriminalitätsgeschichte In den nördlichen Niederlanden wurde die Kriminalitätsgeschichte grundlegend von einigen Gründungsvätern inspiriert. Prägend waren vor allem Johann Huizingas »Herbst des Mittelalters« (Huizinga, 1997; Lem, 1997) und Norbert Elias »Zivilisierung der Sitten« (Elias, 1939; Fletcher, 1997; Diederiks, 1995). In Belgien hingegen gewannen vor allem die »Schule der Annales« (Billacois, 1967, 1969) und die Person Michel Foucaults an Einfluß; insbesondere dessen Buch »Überwachen und Strafen« (Foucault, 1975, 1981) wurde zu einem wahrhaften Standardwerk für Kriminalitätshistoriker. Das Wort »Kriminalität« taucht in Belgien 1926 in einem Artikel über die Sitten und die Kriminalität in Anvers zum Ende des 14. Jahrhunderts auf (Goris, 1926). Das Thema entspricht dem damaligen Forschungstrend. Die Mediävistik interessierte sich vor allem für die Geschichte der Stadt und die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der großen Fürstentümer, aus denen später Belgien hervorging. Herausragendster Vertreter dieser Geschichte ist Henri Pirenne (Lyons, 1974). Andererseits interessierten sich die Rechts- und Verfassungshistoriker (Godding, 1977) für die Entwicklung der Institutionen der Fürstentümer und der Städte seit dem Mittelalter und hier insbesondere für die Entwicklung des Strafrechts (Maes, 1947; Caenegem, 1954, 1956; Hemersdorf, 1980). Einen dritten Strang begründeten die Experten für das 16. Jahrhundert, denen daran lag, die Zentralisierung unter den Habsburgern und die politisch-religiösen Konflikte zu verstehen, die zur Teilung der Niederlande und zur Konfessionalisierung der Gesellschaft führten. Ihr Beitrag besteht darin, unsere Kenntnisse über die Kriminalität zu vertiefen, indem sie die Untersuchung rechtshistorischer Quellen mit der Strafpraxis und den ideologischen und religiösen Diskursen zu verknüpfen suchen (Goosens, 1997, 1998). So wurzelt die Beschäftigung mit Kriminalität in der Vergangenheit zugleich in der Wirtschafts-, Sozial-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte, in der politischen Geschichte wie auch der Geschichte der Religion. Doch faßte das Konzept »Kriminalitätsgeschichte« in der Geschichtswissenschaft erst in den 60er Jahren Fuß. Unseren Raum erreichte die Kriminalitätsgeschichte insbesondere unter dem Einfluß der Schule der »Annales«. 3 In Belgien stellt die Doktorarbeit von F. Vanhemelryck die erste Untersuchung über Kriminalität dar. Sie steht unter dem Einfluß der Pionierstudie Malines über das Strafrecht (Maes, 1947). Obwohl Vanhemelryck seine Arbeit schon 1968 in seiner Disputation verteidigte, publizierte er sie erst dreizehn Jahre später (Vanhemelryck, 1981). Der Autor ist ein Mediävist, der die reichen Auswertungsmöglichkeiten der Rechnungsbücher von Justizbeamten, die bislang allein literarisch genutzt worden waren, erahnte. Zum ersten Mal wertete er in seiner Untersuchung der Kriminalität in der Ammanie von Brüssel die Daten für den Zeitraum vom 15. bis 18. Jahrhundert quantitativ aus. Methodologische Überlegungen vervollständigten sein Unternehmen (Vanhemelryck, 3 Diesen Einfluß übten unter anderem die Arbeiten von Pierre Chaunu, Emmanuel Le Roy Ladurie, Yves und Nicole Castan aus. Die Bewegung der angelsächsischen »New Left History« hingegen beeinflußte Belgien nur indirekt. Diese beschäftigt sich mehr mit dem 19. Jahrhundert und den sozialen Beziehungen zwischen den untereinander konfligierenden Klassen unter den Bedingungen einer Gesetzgebung, die flexibler als die des Common Law ist. <?page no="122"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 123 1973, 1978). Zur gleichen Zeit schrieb ein amerikanischer Historiker, der wie Vanhemelryck seine Ausbildung in Gent erhielt, einen langen Artikel über die Strafpraxis der Schöffen von Gent. Dieser Artikel sollte Geschichte machen (Nicholas, 1970). Beide Arbeiten repräsentieren die Forschungsrichtung der Jahre 1960-1970, nämlich quantitative Sozialgeschichte, qualitative politische Rechtsgeschichte, mittelalterliche Geschichte und Stadtgeschichte. Auf der frankophonen Seite wurden in den 60er Jahren an der katholischen Universität Louvain für die Frühe Neuzeit ähnliche Untersuchungen durchgeführt. Im folgenden Jahrzehnt erschien ein erster Sammelband unter dem Titel La criminalité en Wallonie sous l’Ancien Régime (d’Arras d’Haudrecy u.a., 1976). Auch die darin enthaltenen Untersuchungen beziehen sich auf die Frühe Neuzeit, z.B. auf das 16. Jahrhundert anhand der Rechnungsbücher der luxemburgischen Justizbeamten (Dorban, 1976), vor allem aber auf das 18. Jahrhundert auf der Grundlage der Justizakten der städtischen Gerichte: dem obersten Gerichtshof von Namur (d’Arras, 1976) und dem Schöffengericht von Nivelles (Dupont-Bouchat, 1976). Bereits 1973 gründete in den Niederlanden eine Gruppe von Forschern, die Juristen, Historiker, Anthropologen und Archivare umfaßte, unter Leitung von Herman Diederiks die »Nederlandse Strafrechtshistoricigroep«. Ihr Programm besteht darin, Kriminalität als Facette des Lebens in der Gesellschaft (samenleving) zu untersuchen. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Provinz Holland im 18. Jahrhundert. Die regionalgeschichtliche Zeitschrift Holland spiegelt das Programm wie auch die Wahl eines bestimmten Forschungsansatzes wider (Diederiks u.a., 1976). Ein Ziel verbindet die Gruppe: Den gewöhnlichen Menschen in seinen sozialen Beziehungen zu untersuchen. Die Gruppe vereint auch eine gemeinsame Methode: die Gegenüberstellung der normativen Daten mit den Akten der Justizpraxis. Dies jedoch verhindert nicht eine große Vielfalt der Untersuchungsebenen und Fragestellungen. Bestimmte Ansätze sind quantitativ, andere eher qualitativ (Diederiks, 1976; Boon, 1976). Die einen untersuchen eine bestimmte Verfolgungswelle (Boon, 1976), andere die Tätigkeiten eines städtischen Gerichts, etwa in Amsterdam (Faber, 1976), oder die Urteilssprechung einer höheren Gerichtsbarkeit wie die des Gerichts von Holland (Huussen, 1976a). Seit dem Zeitraum von 1968-1976 ist in Belgien wie in den Niederlanden die Zahl der Arbeiten gewachsen. Um nur die Bücher zu erwähnen, so erschienen in den Niederlanden Werke über Kriminalität und Justiz in den Städten Utrecht (Berents, 1976) und Amsterdam (Boomgaard, 1992; Faber, 1983a; Spierenburg, 1984b), sowie in der Republik im 18. Jahrhundert (Diederiks, 1993a). Vielfältige Einzelthemen wurden aufgegriffen: die Strafwallfahrt (Herwaarden, 1978a), das Banditentum (Blok, 1991; Egmond, 1986, 1993), die öffentlichen Hinrichtungen oder das Gefängnis (Spierenburg, 1984a und b, 1991), das mittelalterliche Strafrecht (Diederiks, Roodenburg, 1991), die höheren Gerichtshöfe (Huussen, 1994). Der Untersuchungsgegenstand erweitert sich in dem Maße, in dem die ersten Arbeiten Forschungsprojekte und neue Dissertationen anregen: über das Hexenwesen (Blécourt, Gijswijt-Hofstra, 1986), die kirchliche soziale Kontrolle (Roodenburg, 1990), die Prostitution (Pol, 1998), die Ehre (Keunen, Roodenburg, 1992), Volksrituale (Rooijakkers, 1994) und die Gesten (Bremmer, Roodenburg, 1992). In Belgien hingegen bleiben Doktorarbeiten relativ selten, wenn auch die Zahl der Publikationen zunimmt. Außer der Arbeit von Fernand Vanhemelryck kann man die Doktorarbeit von Marie-Sylvie Dupont-Bouchat über die Hexenverfolgung in Luxemburg nennen (Dupont-Bouchat, 1977b, 1978b). Aus der Geschichtswissenschaft be- <?page no="123"?> Xavier Rousseaux 124 schäftigen sich allein Anne-Marie Roets am Beispiel Gents im 17. und 18. Jahrhundert (Roets, 1987) und Xavier Rousseaux am Beispiel Nivelles vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Rousseaux, 1990a) mit Kriminalität oder Strafjustiz. Die Zahl der gedruckten Werke ist sehr gering, sieht man von zwei Essays ab, die sich an das breite Publikum wenden (Vanhemelryck, 1984, 1985). Thematisch nimmt das Hexenwesen den breitesten Raum ein (Dupont-Bouchat, Frijhoff, Muchembled, 1978; Muchembled, Desmons, 1981; Vanhemelryck, 1982; Dupont-Bouchat, 1987; Vanysacker, 1988). Andere Untersuchungen widmen sich dem Gefängnis (Lis, Soly, 1990), der Prostitution (Dupont, 1996), den städtischen Aufständen in Brabant (Honacker, 1994) und der Ausbürgerung (Macours, 1996). Vor kurzem hat Aline Goosens in ihrer Doktorarbeit das Problem der Häresieverfolgungen für die südlichen Niederlanden wieder aufgegriffen (Goosens, 1997, 1998). Schließlich vervollständigen die historischen Arbeiten über Nordfrankreich das Bild über die alten niederländischen Provinzen. Die umfangreiche Thèse d’Etat 4 von Robert Muchembled über Violence et société en Artois und die Publikationen, die aus ihr abgeleitet sind (Muchembled, 1988, 1992), gehören größtenteils in diesen Rahmen, ebenfalls eine unveröffentlichte Doktorarbeit über die Justiz in Douai im 16. Jahrhundert (Fouret, 1984). In den Niederlanden ebenso wie in Belgien, in Frankreich oder in Luxemburg gelangen viele Monographien nicht zum Druck oder werden in Lokalzeitschriften publiziert. 5 In Jahre 1977 wurde während der Edinburgh Economic History Conference auf Initiative der holländischen Gruppe und mit Unterstützung der Maison des Sciences de L’Homme von Paris eine Vereinigung gegründet: die International Association for the History of Crime and Criminal Justice. Ihre erste Tagung organisiert die IAHCCJ 1978. Im selben Jahr stellten zwei Zeitschriftennummern dem niederländischsprachigen Publikum eine Beitragssammlung über den Benelux-Raum (Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden) und Europa (Tijdschrift voor Criminologie, 1978) vor. Seitdem hat die IAHCCJ vier internationale Konferenzen und mehr als 25 workshops organisiert. 6 Hier sind Historiker insbesondere des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aus dem Benelux-Raum aktiv. Themen und Aufgabenstellungen Obwohl die Zahl der Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte insgesamt nicht sehr hoch ist, haben viele Artikel und Sammelbeiträge das Konzept, die Quellen und die Methoden der historischen Kriminalitätsforschung aufgegriffen (Diederiks, Faber, Huussen, 1988; Vanhemelryck, 1978). Für diesen begrenzten Überblick haben wir drei Leitthemen ausgewählt, die einander ergänzen. Das erste Thema ist das der Kriminalität und 4 Es handelt sich um eine im französischen Universitätssystem vor der letzten Hochschulreform informell grande thèse genannte Arbeit, die von ihrem wissenschaftlichen Anspruch her mit demjenigen der deutschen Habilitationsschrift vergleichbar ist (Anm. der Übersetzerin). 5 Für ein detaillierteres Verzeichnis der belgischen Arbeiten siehe Rousseaux, in Dupont-Bouchat, Rousseaux, 1999. 6 Ein Verzeichnis ist 1991 zu Ehren Yves Castans in einer Nummer des Bulletins der IAHCCJ erstellt worden. 1997 wird das Bulletin zur internationalen Zeitschrift Crime, Histoire et Sociétés/ Crime, History and Societies. <?page no="124"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 125 ihrer Verfolgung. In einem zweiten Teil geht es um die soziopolitischen Konstruktionen des Verbrechens und seiner Bestrafung. Der dritte Teil betrachtet Verbrechen und Strafen als einen Zugang zu den Ritualen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kriminalität und ihre Verfolgung Das Hauptziel vieler Monographien bestand darin, Kriminalität, ihre Verfolgung sowie die involvierten Bevölkerungsgruppen statistisch zu erfassen (Soman, 1980). Unter dem Einfluß der Sozialwissenschaften haben sich daher die meisten Autoren dem Zählen von Kriminaldelikten, Tätern und Sanktionen innerhalb bestimmter Zeiträume gewidmet. Anschließend sollte die Untersuchung von Delikt und Straftypologien erlauben, den strukturellen Wandel von Verbrechen und Strafe seit dem Mittelalter einzuschätzen. Das Gesamtprofil der Kriminalität Die von den ersten Autoren erstellten Kriminalitätsstatistiken (Maes, 1947; Berents, 1976; Vanhemelryck, 1981) beziehen sich im wesentlichen auf die Stadt. Zweierlei charakterisiert das skizzenartige Bild. Seit dem Mittelalter dominiert überall Gewalt die Kriminalität (Berents, 1988); der Diebstahl nimmt in den prosperierenden Städten und Landschaften am Ende des 18. Jahrhunderts zu (Diederiks, 1980b, 1989a; Vanhemelryck, 1973, 1978). Hier stößt man auf die bekannte, von Pierre Chaunu und seinen Schülern entwickelte violence-au-vol These (Chaunu, 1981). Dieses lineare Modell ist jedoch angesichts der methodologischen Probleme schnell aufgegeben worden. Die Frage nach der Repräsentativität der Quellen und die Bedeutung außergerichtlicher Konfliktlösungen haben Zweifel an den Vorstellungen aufkommen lassen, die man von der »Dunkelziffer« und den Diebstahls- und Gewaltquoten hatte (Spierenburg, 1984b). Freilich haben neuere Studien drei Grundzüge der Kriminalitätsentwicklung bestätigt. Im gesamten Ancien Régime herrscht erstens die Gewalt gegen Personen vor (Rousseaux, 1990a). Zweitens bilden die Jahre 1500-1650 eine eigene Epoche: im Kontext der religiösen Auseinandersetzungen, des Zivilisationsprozesses und der Staatsbildung entstehen neue Vergehen gegen die Religion, die Moral und die Obrigkeit (Rousseaux, 1989; Goosens, 1997 1998). Drittens schließlich ist zu konstatieren, daß sich die Kriminalität zwischen 1750 und dem ausgehenden 18. Jahrhundert nur langsam wandelt (Diederiks, Huussen, 1989; Rousseaux, 1997b). Alle neueren Studien schließlich betonen, wie begrenzt der Quellenwert von Strafprozeßakten für die Erforschung der Kriminalität ist. Zur Typologie der Kriminalität Vor dem Hintergrund des Gesamtprofils der Kriminalität haben die Formen abweichenden Verhaltens die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Man kann zum einen überzeitlich-strukturelle Phänomene wie etwa Gewalt, voneinander unterscheiden, zum anderen aber auch epochenspezifische Verhaltensweisen. Die unterschiedlichen Formen von Gewalt sind insbesondere als ein Phänomen hervorgehoben worden, das die städtischen Obrigkeiten im Mittelalter beschäftigte (Nicholas, 1970; Berents, 1976; Vanhemelryck, 1981). In den ländlichen Gesellschaften ist die von Ehr- <?page no="125"?> Xavier Rousseaux 126 händeln, Schlägereien und Verletzungen geprägte Alltagsgewalt für die südlichen Niederlande mit Hilfe von Prozeßrechnungen untersucht worden (Vanhemelryck, 1975a; Dorban, 1976; Dupont-Bouchat, 1978; Bastien, 1988-1989). Auf Grundlage der Begnadigungsbriefe der Herzöge von Burgund und der Habsburger betonen die Arbeiten über das Artois (Muchembled, 1989), Brabant (Rousseaux, Mertens, 1999), über Holland und Seeland (Schepper, 1995; Schepper, Vrolijk, 1998) oder die Herrschaft Namur (Dupont-Bouchat, Noël, 1999), wie verbreitet der Totschlag bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in dörflichen Gesellschaften ist. Die Haltung zur Sexualität trägt in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten ambivalente Züge. Systematische Studien zur städtischen Prostitution stehen für den Norden (Altinck, 1983; Wurf-Bodt, 1988; Pol, 1992, 1996) wie für den Süden (Devolder, 1995; Dupont, 1996) am Anfang; gleiches gilt für die Studien über die sexuelle Gewalt an Kindern (Dupont-Bouchat, 1998). Langfristig betrachtet geht die Entwicklung in Richtung einer zunehmenden Kontrolle und Moralisierung (Dupont-Bouchat, 1987a, 1998). Andere als deviant eingeschätze Verhaltensweisen kennt man von den kurzen und brutalen Verfolgungswellen wie denjenigen gegen die Homosexuellen in Flandern im 15. Jahrhundert (Boone, 1993) oder in denVereinigten Provinzen 1730-31 (Huussen, 1980; Meer, 1984, 1995; Beeck, 1987). Die politischen Vergehen nehmen sehr unterschiedliche Gestalt an. Im Mittelalter stellt der Mord in Anlehnung an das Modell der Vendetta in den Kämpfen zwischen den städtischen Parteien ein Mittel des Machtwechsels dar. Die sehr urbanisierten Gebiete zwischen Seine und Rhein werden von dieser Form der Gewalt überzogen, getragen entweder von politischen Parteiungen wie den Hoeken und den Kabeljauwen in Haarlem, Amsterdam oder Leiden oder von sozialen Gruppen wie in Gent, Haarlem (Glaudemans, 1991), Leiden (Boone, Brant, 1993) oder Lüttich (Xhayet, 1997). Auf dem Land, aber vor allem in den Städten Brügge und Gent im 13. Jahrhundert (Bardoel, 1994; Blockmans, 1987) und in den flämischen oder brabantischen Städten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Holsters 1983, Nicholas, 1988, Dumolyn, 1997) finden bedeutende Aufstände statt (Te Brake, 1993a). Hinzu kommen Korruptionspraktiken, die man für die burgundische Zeit zu erhellen beginnt (Blockmans, 1985; Boone, 1988). Mit dem Ende der großen städtischen Revolten des 16. Jahrhunderts weichen die politischen Aufstände dem Majestätsverbrechen, insbesondere anläßlich der Adelsaufstände (Verheyden, 1961, 1981; Duke, 1990). Im südlichen, monarchischen Flandern wie auch in der Republik zur Zeit der soziopolitischen Konflikte zwischen Bürgern und Adligen oder zwischen Zünften und Zentralregierung wird erneut die Todesstrafe gegen die Anführer der Opposition verhängt (Honacker, 1994). Im ausgehenden Ancien Régime flammen die politischen Prozesse insbesondere nach dem Scheitern der brabantischen Revolution in den südlichen Niederlanden (Dupont-Bouchat, 1974) oder der patriotischen Revolution in der Republik der Vereinigten Provinzen (Te Brake, 1989, Schama, 1992) auf. Die Religionskriege hatten eine Kriminalisierung religiöser Meinungen zur Folge. Das Verbrechen der Häresie ist insbesondere im Kontext der Verfolgung der unterschiedlichen reformatorischen Gruppierungen (Lutheraner, Calvinisten und Täufer) für die katholischen Niederlande Karls V. und Philipps II. erforscht worden (Mellink, 1953; Decavele, 1975; Marnef, 1996; Goosens, 1997, 1998). Einige Arbeiten beschäftigen sich mit den Anfängen der Verfolgung in den Bistümern des ausgehenden Mittelalters (Mingroot, 1981). Die meisten Untersuchungen aber widmen sich der Rolle der In- <?page no="126"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 127 quisitoren (Wiele, 1982, 1987), der Verfolgung vor den ordentlichen Gerichten wie zum Beispiel dem Rat der Provinz von Namur (Dupont-Bouchat, 1972) oder derjenigen vor den außerordentlichen Gerichten, etwa dem Bloedraad, dem Blutgericht (Verheyden, 1981). Die Prozesse gegen die religiösen Minderheiten des 16. und 17. Jahrhunderts hingegen sind, abgesehen von den Arbeiten über die Stellung der Juden in der Republik der Vereinigten Provinzen (Diederiks, 1987; Huussen, 1989; Egmond, 1990; Stigmatisering, 1990), wenig untersucht. Die Kriminalisierung der Hexerei ist sowohl für die Städte wie Brügge im 16. bis 17. Jahrhundert (Vanysacker, 1988) als auch für ländliche Gebiete, zum Beispiel die wallonischen und deutschen Viertel des Herzogtums Luxemburg (Dupont-Bouchat, 1977b, 1978; Dupont-Bouchat, Frijhoff, Muchembled, 1978b) untersucht. Langzeitstudien liegen für Holland, Seeland, Geldern und den Osten der Vereinigten Provinzen vor (Blécourt, Gijswijt-Hofstra, 1976; Blécourt, 1990; Waardt, 1991; Schlüter, 1991). Dank dieser aufeinander abgestimmten Arbeiten, konnten Gesamtinterpretationen formuliert werden (Dupont-Bouchat, 1987b, Gijswijt-Hofstra, 1989; Gijswit-Hofstra, Frijhoff, 1991). Zahlreiche Monographien konzentrieren sich auf die Kriminalisierung des Vagantentums. Die Verbreitung von fahrenden Leuten (»Zigeuner«, Sinti, »Ägypter«) im 15. Jahrhundert (Moorman van Kappen, 1965; Lucassen, 1990), die Krise der Arbeitswelt und die Kriege des 16. Jahrhunderts führten dazu, daß die Bedrohung durch das Vagantentum in Gestalt des Vagabunden (Rousseaux, 1989), revoltierender Räuberbanden (Backhouse, 1983; Jansma, 1987) sowie in Eindämmungsmaßnahmen gegen das fahrende Volk manifest wurde. Im Gebiet von Vives (Strosetski, 1995) bis Coornhert (Fijnaut, Spierenburg, 1990) entfachte der Aspekt Prävention eine Debatte über die Notwendigkeit der Armenhilfe. Wie für die deutschen Fürstentümer oder Frankreich stellt im 18. Jahrhundert die zunehmende Pauperisierung und das Wiederauftauchen organisierter Banden ein gewichtiges Problem für die Obrigkeit der österreichischen Niederlande, der Vereinigten Provinzen oder des Fürstenbistums Lüttich (Eerenbeemt, 1968, 1977; Haesenne-Peremans, 1983) dar. In den politisch zersplitterten Gebieten wüten die großen Banden im Raum der Niederlanden, der Mosel und des Rheins (Deroisy 1959-60, 1965, 1985; Blok, 1978, 1979, 1991; Engelen, 1979; Egmond, 1986, 1990, 1992, 1993b). Die bekannteste von ihnen sind die »Bokkerijders« (Blok, 1991). Je nach Eigenschaft des Geländes, nehmen in den Vereinigten Provinzen die organisierten Banden eine unterschiedliche Form an; während sie in den holländischen Städten zwischenstädtische Netzwerke bilden, dominieren in den ländlichen Zonen Brabants und Limburgs lokale Bauerngruppen oder spezialisierte »internationale« Banden von »Zigeunern« oder Juden, wie in den östlichen Fürstentümern (Egmond, 1990, 1992). Im Gegensatz zu den anderen Verstößen ist über Eigentumsdelikte weiterhin nur wenig bekannt. Diebstahl sowie Vergehen im Dorf haben die Forschung kaum angezogen, wohingegen Feld- und Waldfrevel verhältnismäßig besser untersucht sind (Rousseaux, 1994b). Die typologisierenden Analysen haben zu zwei generellen Unterscheidungen geführt. Einerseits stehen sich, folgt man Untersuchungen über das 18. Jahrhundert (Diederiks, 1985, 1996), ein städtisches und ein ländliches Profil der Delinquenz gegenüber. Andererseits sind strukturelle und für weite Bevölkerungskreise charakteristische Verhaltensweisen wie z.B. die Gewalt von plötzlichen Schüben bestimmter Verbrechensformen (crime waves) zu unterscheiden (Rousseaux, 1990a). Unter den letzteren sind die »Jagden« auf Hexen, auf Vagabunden, auf sexuell Abweichende und auf Räuber; sie haben die Aufmerksamkeit der Forschung auf den wechselseitigen Einfluß der <?page no="127"?> Xavier Rousseaux 128 Aggressions- und Repressionswellen auf das Gesamtprofil der registrierten Kriminalität gelenkt. Formen der Strafverfolgung Das Interesse an der Kriminalität hat zu einer erneuten Analyse der Strafen geführt (Diederiks, Huussen, 1989; Dupont-Bouchat, 1989; Caenegem, 1991), wobei diese entweder als Element eines Systems der Soziabilität (Heerwaarden, 1978a und b; Spierenburg, 1984a und b, 1991) oder - in Kombination mit den Delikten - als Bestandteil des Justizsystems (Faber, 1983; Diederiks, Huussen, 1989) untersucht wurden. In vielen Städten hat sich in den Untersuchungen, die auf den Rechnungsbüchern der Amtsleute oder Städte beruhen, herausgestellt, daß in den mittelalterlichen Städten die Geldbuße die häufigste Sanktion ist. Man hat daher von einer Zeit der Geldbuße gesprochen, um die Justiz des Zeitalters der städtischen Autonomie (14. bis 15. Jahrhundert) zu kennzeichnen (Rousseaux, 1990a; Muchembled, 1992). In diesem städtischen System erscheint die Strafwallfahrt, von der man sich freikaufen kann, als ein Spezifikum der niederländischen Städte (Heerwaarden, 1978a und b; Rousseaux, 1995b). Die Beschlagnahmung wurde als eine andere Form der Geldbuße genutzt. Diese stand allein dem Herrscher zu und wurde im 16. Jahrhundert von ihm im Fall eines crimen laesae majestatis angewandt (Iterson, 1957). Während Lokal- und Rechtshistoriker anekdotische oder folkloristische Perspektiven verfolgen, werden die Körperstrafen derzeit eher aus soziologischer Perspektive untersucht. Die Rechtshistoriker hatten bereits auf das Bild von der blutigen mittelalterlichen und vormodernen Strafjustiz reagiert (Maes, 1950; Caenegem, 1954). Was die Todesstrafe betrifft, so haben neuere Arbeiten diese in das Spektrum der Sanktionen eingeordnet und sie in den Kontext der insgesamt verfolgten Verbrechen gesetzt. Auch haben diese Arbeiten gezeigt, welchem Zickzackkurs die Anwendung der Todesstrafe seit dem Mittelalter folgt. Die gewohnheitsrechtlichen Texte beschreiben nicht so sehr ein verrechtlichtes Justizsystem als vielmehr einen Katalog von Gewaltmaßnahmen, in dem Tötung zu den Privilegien des Herrschers gehört, ohne deswegen im Recht wirklich verankert zu sein. In der Regel schrecken die Städte davor zurück, Bürger zum Tode zu verurteilen, wenn auch die städtischen Amtleute Ausländern gegenüber weniger empfindlich sind. Der Aufstieg der Fürstenherrschaft wie auch die großen religiösen Umbrüche der Reformationszeit rückte die Todesstrafe in den Vordergrund, zumal in den Verfolgungswellen, die sich gegen die Minderheiten richteten, seien es sexuelle (Homosexuelle), religiöse (Reformierte), kulturelle (Hexer und Hexen) oder soziale (Vagabunden und Landstreicher) Minoritäten. Selbst in den Stadtrepubliken funktioniert das Schauspiel des Schreckens wie am Beispiel Amsterdams im 17. Jahrhundert (Spierenburg, 1984b), Delfts (Noordam, 1989b) oder Haarlems (Hoeven, 1982) zu sehen ist. Nach 1650 und insbesondere nach 1750 kommt die Todesstrafe weniger häufig zur Anwendung (Huussen, 1992, Huussen, 1994; Rousseaux, 1996a), obwohl die Juristen für sie plädieren. Die Anwendung der übrigen Körperstrafen folgt derselben Entwicklung. Die Zeit von 1450 bis 1550 glänzt mehr als das klassische Mittelalter mit der Erfindung neuer Strafen, die allerdings eher erniedrigende als wirklich blutige Strafen sind. Die Ehrenstrafen (Pranger, Halseisen und Brandzeichen) kennen wir mittlerweile dank neuerer Arbeiten genauer (Cate, 1975; Win, 1991a, 1992a). Diese verfolgen ein <?page no="128"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 129 doppeltes Ziel: Sie versuchen die Stellung der Ehrenstrafen im Strafrecht des Ancien Régime einerseits und in demjenigen des napoleonischen Regimes andererseits zu bestimmen. Im Rahmen der entstehenden Rechtsarchäologie (Win, 1992b) macht De Win für das ländliche Belgien mit seinem publizierten systematischen Verzeichnis der Pranger auf die konkreten Spuren dieser stigmatisierenden Ehrenstrafen aufmerksam (Win, 1996). Da er jedoch jeden Fall aus seinem strafrechtlichen Kontext herauslöst, erlaubt es eine solche Vorgehensweise - anders als die Arbeiten zum Vollzug der Todesstrafe - nicht, die Politik der Infamie herauszuarbeiten. Die kirchlichen Strafen bedürfen besonders genauer Analyse. Die Untersuchung der Strafpraktiken in einer geistlichen Herrschaft wie der von Nivelles zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert führte zu grundsätzlichen Revisionen älterer Auffassungen (Rousseaux, 1992c). So maß das Mittelalter Sanktionen wie der Strafwallfahrt zweifellos eine große Bedeutung zu. Doch verfolgten diese Strafen eher ökonomische (Möglichkeit des Loskaufs von der Strafe nach festgelegten Sätzen) und soziale (befristete Abschiebung von Störenfrieden) als religiöse Ziele (Heerwarden, 1978b). Die von 1550 bis 1650 angewandten Strafen hingegen zeugen davon, daß die moralische und religiöse Ordnung (Rousseaux, 1992b; Goosens, 1997, 1998) bestätigt wird. In der Gegenreformation verstärken öffentliche Buße, obligatorische Teilnahme an den kirchlichen Zeremonien, Zwangspilgerschaften zu den neuen Kultorten der Gegenreformation, Bußen zugunsten der religiösen Orden einen von der Justiz gegen die moralische und religiöse Devianz geführten Strafdiskurs. Die Gefangensetzung ist Gegenstand vieler und vielfältiger Arbeiten, die sich auf die städtischen Gefängnisse, die halbprivaten Formen der Einsperrung und die Entwicklung der modernen Erziehungsanstalten in der Provinz beziehen. Die vollständigste Arbeit ist diejenige P. Spierenburgs, der die holländischen und deutschen Städte vergleichend betrachtet und dabei ein »hanseatisches« Modell der Gefangensetzung (Spierenburg, 1990b, 1991) zeichnet. Merkwürdigerweise fehlt uns für die Niederlande und das Fürstbistum Lüttich weiterhin eine Überblicksdarstellung über die »Erfahrung der Gefängnisse«; dies, obwohl zahlreiche Artikel darauf hingeweisen haben, daß Städte wie Brüssel entsprechende Ansätze machen (Bruneel, 1966a und b, 1967) und die Erziehungsanstalten von Gent und Vilvorde (Dupont-Bouchat, 1990b; Lis, Soly, 1993b) für die Entwicklung des Strafmodells zur Zeit der Revolution bedeutend sind. Diese bilden den Archetyp und Schlußstein des Strafmodells (Dupont-Bouchat, 1999). Andere Untersuchungen widmen sich der Einlieferung ins Gefängnis auf Betreiben der Familien oder städtischen Obrigkeiten (Diederiks, Spierenburg, 1984; Spierenburg, 1984b, 1985, 1986a; Lis, Soly, 1990). Die Geschichte der Strafe, dem theoretischen Modell von Rusche und Kirchheimer (1939, 1981) folgend, als Geschichte einer sozialen Funktion zu begreifen, deren Gestalt sich wiederum mit dem gesamtgesellschaftlichen Wandel verändert, ist ein neues Feld. Strafe wird hier als ein Schlüsselelement des Rechtshandelns begriffen, zugleich werden aber die Strafhandlungen mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realitäten des Ancien Régime in Verbindung gesetzt. Mittels der genauen Untersuchung der jeweiligen Strafen geht es um eine Analyse sowohl des gesamten Sanktionssytems wie auch dessen langfristigen Wandels (Rousseaux, Emsley, 1995). <?page no="129"?> Xavier Rousseaux 130 Ökonomien des Strafens: vom städtischen zum staatlichen Modell Verbrechen und Justiz als Ökonomie zu betrachten, erlaubt es, die neueren historischen Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte in der Langzeitperspektive neu zu betrachten. Für das Früh- und Hochmittelalter lassen es die Quellen kaum zu, über eine traditionelle Beschreibung hinauszugehen. Eine tiefergehende Untersuchung für die Grafschaft Flandern erlaubt es, die Machtausübung der Herrscher zu untersuchen. Der Aufstieg der Territorialfürsten und das Aufkommen der städtischen Gemeinden lassen die Justiz von einem Instrument der Machtdemonstration zu einem der Friedenswahrung werden (Caenegem, 1954, 1956, 1991). Der städtische Frieden Das, was die Regionen nördlich der Loire am meisten charakterisiert, ist die Entstehung eines Netzes mächtiger Städte. Dieses Netz erlaubt es ihnen, ein Modell politischer und gerichtlicher Machtausübung zu konstruieren und neue Praktiken für die Bürger zu entwickeln. Dieses Modell entwickelt sich zwischen 1300 und 1450 parallel zur Verstädterung. Es strahlt auf das ländliche Hinterland der Städte aus (Gent, Brügge, Louvains, Brüssel, Utrecht). In diesem Modell stellt Friedensbruch die Gefahr par excellence dar. Als gewöhnlicher Friedensbruch ist er Gegenstand verschiedener Formen von Wiedergutmachung. In seiner politischen Ausformung wird Friedensbruch mal streng, mal nachsichtig behandelt. Die Strenge des Richters Seit 1450 führt der Aufstieg der burgundischen Fürsten und ihrer habsburgischen Nachfolger zur Bildung eines zusammengesetzten Staates mit Einigungsbestrebungen. Die Justizpraktiken der Fürsten entwickeln sich in den Leerräumen zwischen den Städten und infiltrieren sogar die städtischen Justizverwaltungen (Amsterdam, Arras, Douai, Brüssel, Nivelles). Die Randfigur - der Häretiker, derVagabund, oder die Hexe - wird zum Feind. Die soziale Reaktion favorisiert die spektakuläre Verfolgung, um die Macht der fürstlichen Justiz zu markieren, die zwischen 1500 und 1650 ihren Höhepunkt erlebt. Die Rückschritte in der Zentralisierung unter den Habsburgern und die Teilung der Niederlande führen jedoch zu einer Schwächung der fürstlichen Justiz zugunsten der lokalen Oligarchien. In den nördlichen Niederlanden rücken die Städte (Amsterdam, Leiden), in den südlichen die Provinzsstände an die Stelle fürstlicher Herrschaftsausübung. Die Entwicklung zur staatlichen Kontrolle Das Ende des Ancien Régime ist gekennzeichnet von Veränderungsprozessen in verschiedenen Regionen. Das Fürstenmodell verblaßt allmählich gegenüber dem Konzept einer Modernisierung der Justiz. Der Anstieg des Vagantentums und des Diebstahls sowie die Schaffung von Zwangsanstalten sind die Symbole der neuen Ideen, die sich im Programm Beccarias kristallisieren; sie stoßen jedoch auf den Widerstand der großen Institutionen, der General- und der Provinzialstände sowie der großen Städte. <?page no="130"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 131 Die rechtlich-politische Konstruktion des Verbrechens Die Kriminalitätsgeschichte beschränkt sich nicht auf die Erforschung des Verbrechens und der Strafe; sie schließt vielmehr die Erforschung der politisch-gerichtlichen Determinanten in die Konstruktion der Kriminalität ein (Rousseaux, Lévy, 1997). Zuerst einmal geht es darum, die Arbeiten über die Normenproduktion im Lichte der neuen Erkenntnisse über die Justizpraxis zu lesen. Dann ist die Rolle der Justizapparate und der darin arbeitenden Menschen zu überprüfen und der Erfolg dieser modernen Institution zu erklären. Schließlich handelt es sich darum, die gerichtlichen Verfahren mit Hilfe ethnologisch-anthropologischer Methoden zu reexaminieren. Normen, Doktrinen und Juristen Rechtshistoriker haben darauf aufmerksam gemacht, daß Rechtsgeschichte die Dokumente zur Rechtspraxis integrieren muß (Godding, 1989; Caenegem, 1991; Wijffels, 1993). Der Beitrag der Mediävisten zur Kriminalitätsgeschichte bestand darin, darauf aufmerksam zu machen, daß die normativen Texte, auf die im allgemeinen Bezug genommen wird, selten wortgetreu angewendet wurden. Auch stehen diese Texte in einem zeitspezifischen Zusammenhang (Vanhemelryk, 1966, 1969; Stein-Wilkenhuis¸ 1991). Da die Texte relativ selten oder wenig explizit sind, muß man die Konstruktion der Strafnorm in einer kleinen Landstadt aus den vielen Quellen zur Rechtspraxis erschließen. Das Bild, das dann von der Justiz entsteht, ist ein ganz anderes als das der traditionellen Geschichtsdarstellungen, die auf den normativen, vorrangig fürstlichen Quellen beruhen. Und gerade dieses städtische Gewicht charakterisiert die Regionen, die den Benelux-Raum bilden. Die dogmatische und normative Verhärtung unter Karl V. und Philipp II. (1500- 1598) ist ein weiteres Beispiel für die Entwicklungsmöglichkeiten in der Umformung alter und Schaffung neuer Normen. Man kennt die großen Texte des Strafrechts, doch paradoxerweise fehlt für die meisten noch eine neuere wissenschaftliche Edition: Weder die Verordnungen (Janssens, 1996) noch die großen dogmatischen Schriften liegen in einer Edition vor. 7 So ist die Praxis Criminalium von Damhouder zuerst in der lateinischen (Damhouder, 1978), dann in der flämischen Fassung (Damhouder, 1981) als Reprint wiederaufgelegt worden, ohne daß eine kritische Edition vorgelegt worden wäre. Die Erfolge, die Wielants und Damhouders Textkompilationen gefunden haben, laden dazu ein, das redaktionelle Milieu der »Kriminalisten« näher zu untersuchen. Doch ist die Schnittstelle zwischen dem Milieu der juristischen Dogmatiker, dem der Fürstenberater und dem der Richter vor Ort noch wenig erforscht; ebenso die Art und Weise, wie sich diese Schnittstelle im Wandel des Strafrechts unter Karl V. und Philipp II. auswirkt (Vrugt, 1978). Was die Rezeption der strafrechtlichen Verordnungen des 16. Jahrhunderts betrifft (der Constitutio Criminalis Carolina von Karl V. und den Ordonnanzen Philipps II.), so ist gleichfalls kaum etwas davon bekannt, obwohl die Verordnungen von den Juristen in den südlichen wie in den nördlichen Niederlanden benutzt werden (Moorman van Kappen, 1983, 1984a). 7 Die kritische Edition der Opera Omnia von Filip Wielant wird in Belgien unter der Federführung des Kommittees der Rechtsgeschiedenis de la Koninklijke Vlaamse Academie veröffentlicht werden. <?page no="131"?> Xavier Rousseaux 132 Institutionen und Menschen - die gerichtlichen Strukturen In soziologischer Perspektive werden Institutionen als ein Ensemble von Regeln und Praktiken betrachtet, die das Leben der Gesellschaft strukturieren (Lepetit, 1995). Für eine Geschichte der Kriminalität und des Strafrechts nehmen deshalb die Institutionen, deren Aufgabe die »Bearbeitung« von Kriminalität ist, und die Menschen, die in diesen Institutionen wirken, einen wichtigen Platz ein. Die gerichtlichen Strukturen sind außerordentlich stark lokal geprägt, und der Forschungsstand erlaubt es noch nicht, die jeweils spezifischen Verhältnisse genau zu beschreiben. Solange dies der Fall ist, beruhen die vorliegenden Überlegungen lediglich auf Einschätzungen, die allerdings von einigen Arbeiten bestätigt werden. Man kann indes auch auf nahezu 20 Jahre alte Überlegungen verweisen (Godding, 1977). Institutionen Im Ancien Régime erfüllten zahlreiche Institutionen gerichtliche Funktionen. Generell ist hier auf die jeweiligen Überblicksdarstellungen für die südlichen Niederlande und das Fürstbistum Lüttich (Rousseaux, Dupont-Bouchat, 2000) bzw. für die nördlichen Niederlande (Egmond 1989; Diederiks, Egmond, 2000) zu verweisen (zu den Institutionen vgl. Godding, 1987). Die ländlichen Institutionen sind vor dem 16. Jahrhundert schwer zu erfassen. Zum Funktionieren des Dorfgerichts oder des dörflichen Schöffengerichts (etwa Bastien, 1989; Hoppenbrouwers, 1992), wie auch zu spezifischen Institutionen wie die plaids généraux oder franches vérités (Arnould, 1986) liegen für das Mittelalter einige Arbeiten vor. Nach dem 16. Jahrhundert sind mehr Akten aus den Dorfgerichten erhalten geblieben, so daß diese eine ähnliche Quellenlage wie bei den städtischen Gerichten bieten (Dupont-Bouchat, 1988; Diederiks, Huussen, Faber, 1988). Die städtischen Institutionen sind besser erforscht: Dies trifft in den Niederlanden für die städtischen Schöpfungen wie die Institutionen der Friedenstiftung (peysmaekers, vredemaekers) zu, die gegen die städtische Gewalt kämpfen (Caenegem, 1954, 1956; Smolar-Meynart, 1981; Rousseaux, 1991). Dies gilt um so mehr für die städtischen Räte oder Schöffengerichte, die meistens, unter welcher Form auch immer, bis zum Ende des Ancien Régime über die Strafgewalt in hochgerichtlichen Angelegenheiten verfügen (Dupont-Bouchat, 1976; Noordam, 1989a; Boomgaard, 1991, 1992; Rousseaux, i.Dr.). In bestimmten Gebieten wie dem Fürstbistum Lüttich werden diese Gerichtshöfe der Kontrolle durch die rencharge des Schöffengerichts von Lüttich unterworfen (Page, i.Dr.). Freilich sind die fürstlichen Institutionen am besten erforscht. So liegen Studien über die fürstlichen Beamten (Rompaey, 1967; Smolar, 1991) vor, die zumal in Flandern (Buntinx, 1949; Rompaey, 1973), Holland, Brabant und dem Hennegau den Kern der Verwaltung bilden. In der Strafjustiz spielen die zentralisierenden Institutionen wie die kollateralen Räte Karls V. (Baelde, 1965) oder seit dem 14. Jahrhundert die höheren Gerichtshöfe eine wichtige Rolle. Neuere Studien über den Großen Rat von Mecheln (van Rompaey, 1973), den Rat von Flandern (Peteghem, 1990), die Räte von Brabant (Godding, 1985; Colloquium Raad van Brabant, 1985; Bosman u.a., 1989; Jacobs, 1994) und den Hof von Holland (Verhas, 1997) unterstreichen die wesentliche Rolle der unabhängigen Justizräte und insbesondere der Hauptanklagebehörde (Procureurs généraux) (Douxchamps-Lefèvre, 1961), die beide für die Entwicklung des schriftlichen Verfah- <?page no="132"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 133 rens, für die Vereinheitlichung des Rechts durch die schriftliche Fixierung des Gewohnheitsrechts eine wichtige Rolle spielen und die das ganze Ancien Régime hindurch zur Vereinheitlichung des Rechtsraums beitragen. Dennoch sind auch Sondergerichte hier zu nennen: Zu ihnen gehören die Militär-, Marine- (Simons, 1974), Universitäts- (Vandenghoer, 1987; Huussen, Hempenius van Dijk, 1985) und Sittengerichte und die Ansätze zur Institutionalisierung der Inquisitionsgerichte (Wiele, 1982, 1987; Goosens, 1997, 1998). Die Niederlande schließlich stehen mit an der Wiege der ersten Gefängniseinrichtungen; zu nennen sind hier etwa das Rasphuys von Amsterdam und die unterschiedlichen Erziehungsanstalten, die in den Handelsstädten von Antwerpen bis Brüssel entstehen (Bruneel, 1966a, 1966b, 1967; Spierenburg, 1991). Auf dem Hintergrund des Kampfes gegen den Pauperismus bauten zum Ende des Ancien Régime die südlichen Niederlanden erste moderne Gefängnisse, in denen in Gent und Vilvorde (Lis, Soly, 1990, 1993b; Dupont-Bouchat, 1999) Zwangsarbeit mit Ausschließung und strafrechtlicher Einsperrung kombiniert waren. In der Republik hingegen wird Zwangsarbeit immer mehr zur Antwort auf die soziale Krise (Eerenbeemt, 1977; Haesenne-Peremans, 1981, 1983; Diederiks, 1992). Menschen Das intellektuelle Profil und die soziale Herkunft der Männer, die Recht sprachen, sind prosopographisch erforscht worden. Selbstverständlich hat man sich der unmittelbaren Umgebung der Fürsten im ausgehenden Mittelalter und der jeweiligen Stellung der Adligen, Geistlichen und der Bürgerlichen gewidmet. Der Aufstieg der Bürger war ebenfalls in den höheren Beratungsgremien (De Ridder-Symoens, 1981; Kerckhoffs de Hey, 1980; Engels, 1984), aber seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch in den Magistraten der großen Städte zu spüren (De Ridder-Symoens, 1978). Die Forschung zum Führungspersonal der Zentral- und Provinzialbehörden erlaubt es, den Aufstieg der administrativen Funktionsträger besser zu erfassen. Dieser vollzog sich mit einiger Verzögerung in den Kleinstädten und Dörfern, in denen bis zum ausgehenden Ancien Régime die Strafrichter weiterhin überwiegend unter den Händlern und Bauern rekrutiert wurden (Bruneel, 1988; Rousseaux, Nandrin, 1993). Die wachsende Hinzuziehung von Juristen in schwierigen Fällen betonen zahlreiche Lokalstudien (Dupont-Bouchat, 1976; Caminada-Voorham, 1988). Gerichtsverfahren und Gesellschaft Der Prozeß ist eher ein legitimes Instrument zur Regelung von Konflikten als eine juristische Technik. Die Praktiken entsprechen der sozialen Landschaft. So sind in den mittelalterlichen Gesellschaften Schlichtung und Verhandlung die Regel. Im allgemeinen werden diese Verfahren mündlich geführt, ihre Rituale sind Bestandteil des Zusammenlebens. Die placita generalia überleben in den kleinen Fällen, die in vielen Dörfern mit Familienangelegenheiten oder Fragen des Landbesitz verbunden sind. Seit dem 13. Jahrhundert entwickeln sich in den Städten ganze Befriedungstechniken (Waffenstillstand, Friedensschluß, Versöhnung, vete, zoen), die insbesondere darauf zielen, Formen der Rache entgegenzuwirken (Immink, 1969; Caenegem, 1991; Diederiks, Roodenburg, 1991; Rousseaux, 1996b). <?page no="133"?> Xavier Rousseaux 134 Das inquisitorische Strafverfahren taucht Ende des 15. Jahrhunderts und zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf und geht mit der Entwicklung der höheren Gerichtshöfe Hand in Hand. Die Techniken des römischen Rechts dringen ebenfalls in die städtische Rechtssprechung vor (Rousseaux, 1990a; Graafhuis, 1976). Das schriftliche Verfahren ersetzt die mündlichen (Monballyu, 1991), und der Strafgerichtsprozeß setzt sich gegenüber den Verhandlungspraktiken der Parteien durch. Freilich überleben diese in einigen Streitsachen, d.h. dem notariellen Privatvertrag (Heersink, 1988) oder der Schlichtung durch traditionelle Autoritätspersonen (Herr oder Priester). Das Gerichtsverfahren der höheren Gerichtsbarkeit ist in neueren Studien zusammenfassend dargestellt worden (Wijffels, 1993; Dauchy, 1996). Den Überlegungen Philippe Goddings zufolge (Godding, 1989) schält sich ein Verständis von »Justizpraktiken« heraus, das weiter ist als das juristische Verständnis von Rechtsprechung. Diese Auffassung erlaubt es zu verstehen, warum die Hinzuziehung von höheren Gerichten in den Bevölkerungsgruppen im Ancien Régime zunimmt. Die Justizrevolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts Die Revolutionen, welche die südlichen Niederlanden wie die Vereinigten Provinzen erschüttern, stellen zum Teil eine Kritik, zum Teil eine Reform der Justiz dar (Te Brake, 1989; Schama, 1992). Außerdem spiegeln sie die heftigen Debatten über die Modernisierung der Justiz wieder, die sich an den zuerst ins Französische und dann ins Holländische übersetzten Ideen Beccarias orientieren. In den südlichen Niederlanden wird die Modernisierung von oben durch den österreichischen Herrscher Joseph II. geleitet und von hohen Beamten getragen. Bei der Modernisierung der Justiz und beim darauf folgenden Aufstand, der gegen die Reformen erfolgte, spielten Juristen und Beamte eine wichtige Rolle. Oft führte ihr Weg während der Revolution in die Politik (Dupont- Bouchat, 1990a; Rousseaux, Nandrin, 1993). Eine Zusammenfassung der Entwicklung und Entstehungsgeschichte der prinzipiellen Vereinheitlichungsbemühungen des Strafrechts und der Strafgerichtsverfahren am Ende des Ancien Régime fehlt für den Benelux-Raum. Dies gilt um so mehr für den Vergleich zwischen den Reformversuchen des Kaisers in den Niederlanden und dem Einfluß der neuen Konzepte in den Vereinigten Provinzen oder den unabhängigen Fürstentümern (Rousseaux, 1997a; Diederiks, Huussen, 1989). In Sachen Strafverfahren wächst die Kritik an den schriftlichen Verfahren angesichts ihrer Unkosten, ihrer Langsamkeit und der anwaltlichen Praktiken (Dupont-Bouchat, 1988; Rousseaux, 1988, 1997a), vor allem aber wegen der Anwendung der Folter (Faber, 1985a) und der Todesstrafe. Die Reformansätze gehen in der Praxis wie in der Theorie in Richtung einer allmählichen Aufgabe der Folter und einer Milderung der Strafen (Bruneel, 1986; Dupont-Bouchat, 1989; Diederiks, Huussen, 1989). Die Haltung der Provinzjustizräte insbesondere in den wenig urbanisierten Gegenden wie in Namur (Page-Steffens, 1991) oder Friesland (Huussen, 1994) ebenso wie die Praxis von Städten wie Anvers, Turnhout oder Nivelles, Haarlem oder Heusden (Maes, 1978; Vinck,1978- 1981; Dupont-Bouchat, 1976; Hoeven, 1982; Caminada-Voorham, 1988) zeugen vom zaghaften, aber tatsächlichen Vordringen der »Aufklärung« (Rousseaux, 1997b). Im Benelux-Raum jedoch kommt die radikale Reform von außen, d.h. für die südlichen Niederlande und das 1795 eroberte Fürstbistum Lüttich von der französischen Republik, für die Republik der Vereinigten Provinzen, die zuerst zu »Satellitenstaaten« <?page no="134"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 135 und dann 1810 annektiert werden, vom napoleonischen Reich. Die Angliederung der »belgischen« départements an Frankreich fällt mit der Verbreitung des republikanischen Verfahrens zusammen: es ist ein lokales und mündliches und wird von gewählten Amtsleuten geleitet. Als dann das Königreich Holland in das napoleonische Reich eingegliedert wird, hat sich das Strafverfahren gewandelt. Nunmehr ist es etatistisch und autoritär, wird es von Amtsleuten kontrolliert und schriftlich durchgeführt (Rousseaux, 1999). Zur Sozialanthropologie des Konflikts und der Konfliktlösung Was die Ursachen für Kriminalität angeht, so hat man die sehr beschränkteVorstellung von »kriminogenen« Faktoren wie der Armut oder dem Alkoholismus (Vanhemelryck, 1975b; Eerenbeemt, 1968, 1970) schnell aufgegeben. 8 Andere Perspektiven sind bei der Erforschung von Themenbereichen wie der Hexerei, der Gewalt, der Einsperrung oder dem Räuberwesen eröffnet worden. Der Reichtum der Justizakten und die durch sie eröffneten Möglichkeiten, die Mentalitäten des Volkes zu untersuchen, hat die Forschung fasziniert (Muchembled, 1978). Sicher hat eine Lektüre der rechtlichen Quellen als »unmittelbare« Zugänge zur Volkskultur bisweilen zu einem eher farblosen Bild dieser culture populaire geführt. In Wirklichkeit aber verdanken sich die meisten fruchtbaren Fortschritte einer ernsthaften und kritischen Quelleninterpretration mit Hilfe rechtsethnologischer oder sozial- und kulturanthropologischer Methoden. Eine derartige sozialanthropologische Zugangsweise hat sich in der belgischen und holländischen Geschichtwissenschaft in drei Hauptrichtungen entwickelt: Die einen untersuchen die Repräsentation des Verbrechens in bestimmten sozialen Gruppen, andere beschäftigen sich mit den Regeln der Konfliktlösung, die dritten schließlich thematisieren die soziale Symbolik gerichtlicher Rituale. Die gesellschaftliche Konstruktion des Verbrechens: die vielfältigen Bedeutungen des »Verbrechens« Indem man über einen reinen Verhaltensansatz hinausgeht und indem die in den Archiven der Justiz beschriebenen Realitäten mit anderen Quellen verglichen und kombiniert werden, lassen sich die im ersten Teil beschriebenen Phänomene auf die sozialen Bewertungen und Beziehungen der Akteure - Opfer, Verursacher und Zeugen einer Gesetzesübertretung - hin befragen. So kann Robert Muchembled anhand der Gnadenbriefe bei Totschlägen die Mentalitäten der Bauern des 15. bis 18. Jahrhundert des Artois rekonstruieren (Muchembled, 1987, 1988, 1992). Den gleichen Ansatz wählen die ethnographischen Untersuchungen zur Hexerei etwa in Flandern, Geldern oder Holland (Gijswijt-Hofstra, Frijhoff, 1991; Blécourt, Waardt, 1991; Waardt, 1991). Von der Defininition kriminellen Verhaltens ausgehend, kann die Forschung an den gesellschaftlichen, magisch geprägten Konstruktionen des Verbrechens ansetzen. 8 Ansätze aus den 60er und 70er Jahren, die einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und wirtschaftlicher Lage herstellten, sind angesichts der zweifelhaften Natur sowohl der strafrechtlichen wie auch wirtschaftlichen Daten (Preise, Löhne, Lebensstandard) kritisiert worden. <?page no="135"?> Xavier Rousseaux 136 Ebensowenig beschränkt sich die Analyse der großen Räuberbanden (Blok, 1978, 1991; Egmond, 1993b) oder Zigeneunerbanden (Lucassen, 1990) auf ihre Verfolgung, sondern sie untersucht gleichfalls die Kulturen der unterschiedlichen Gruppen, aus denen diese Banden bestanden, das Verhältnis zwischen seßhaften und wandernden Bevölkerungsgruppen sowie die sozialen Praktiken des Raumes und die Nutzungsformen der Landstraße. Die Mikrogeschichte hat es möglich gemacht, die Formen der Soziabilität näher zu untersuchen, deren Studium die quantitativen Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte zuvor vernachlässigt hatte. So porträtiert Wim Blockmans am Beispiel eine Genter Vendetta von 1300 die alten und neuen Rivalitäten in einer sich im Wirtschaftswachstum befindenden Stadt, d.h. den Kampf um die Macht und die Bedeutung der Clans im politischen Leben der mittelalterlichen Stadt (Blockmans, 1987). Hinter der Begnadigung eines Totschlägers im 16. Jahrhundert verbirgt sich ein Netz sozialer Beziehungen, dessen Untersuchung die Bedeutung des tötlichen Schlages um einige Dimensionen bereichert; die Soziabilität des Trinkens spielt hier ebenso eine Rolle wie die verbale Gewalt oder die spezifischen Rollen der Frauen (Rousseaux, Mertens de Wilmars, 1999). Die Untersuchung einer Verfolgungswelle in einem kleinen flämischen Dorf erlaubt es zu verstehen, welche Rolle dörfliche Gemeinde und Region für das Ende der Hexenprozesse spielen (Muchembled, Desmons, 1981). Die Hartnäckigkeit schließlich, mit der die Behörden zwischen 1730 und 1731 gegen die »Sodomiter« vorgehen, lassen die Phantasien der Eliten der Republik erkennen (Huussen, 1989a; Meer, 1984, 1995; Beeck, 1987). In jeder dieser Mikrogeschichten dient die als Verbrechen eingestufte Erscheinung als Katalysator für die Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Gruppen, den sozialen Spannungen und dem wirtschaftlichen Druck, den Religionskrisen und dem Mentalitätswandel. Formen der Konfliktregulierung: Strafe, Gnade und Verhandlung Die Form der Konfliktregulierung ist offenbar ein wichtiger Indikator dafür, wie eine Gesellschaft mit ihren Problemen umgeht. Anthropologisch-ethnologische Arbeiten unterstreichen, wie sehr die Existenz von Konflikt Aufschluß über die Mittel gibt, die einer Gesellschaft zur Kontrolle ihrer Spannungen zur Verfügung stehen. Die ländliche Welt liebte es, Prozesse zu führen (Rousseaux, 1988, 1996b) und verhandelte über den Preis vergossenen Bluts wie über Boden- oder Viehpreise (Dupont-Bouchat, Rousseaux, 1988). Vor allem die seit dem Mittelalter geübte Form der Rache oder Vendetta hat mechanistische Vorstellungen über Verbrechen und seine Repression in Frage gestellt (Blockmans, 1990; Marsilje, 1990; Diederiks, Roodenburg, 1991). Statt dessen wurde deutlich, wie komplex und variabel der Zusammenhang zwischen dem gefährlichen Sozialverhalten (der gewaltsame Tod und seine Einstufung als »Unglücksfall« oder »Verbrechen«) und der Reaktion der Gesellschaft war, die in Verhandlungen zwischen Privatparteien (Rousseaux, 1996) ebenso bestehen konnte wie in der Gewährung von Gnade seitens der geschädigten Familie bzw. des Herrschers (Schepper, 1995; Schepper, Vrolijk, 1998) oder im Vergleich vor einen Amtsmann (Rompaey, 1961). Derartige Praktiken des Aushandelns von Sanktionen betreffen im übrigen Formen individueller ebenso wie kollektiver Gewalt. <?page no="136"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 137 Die Rituale des ausgehenden Mittelalters wurzeln ganz in der städtischen Soziabilität. Sie begründen, insbesondere bei den Strafwallfahrten (Aufbruch zur Wallfahrt, Kerzenopfer), eine Symbolik der Wiederherstellung des Friedens (Herwaarden, 1978a, 1978b). Diese Symbolik erfährt am Ende des Mittelalters einen grundlegenden Wandel. Ganz besonders in den Städten des 16. und 17. Jahrhunderts rückt das Theater des Schreckens, die öffentliche und blutige Hinrichtung der Kriminellen wie die absolute Gnadengewalt der Behörden in den Vordergrund. In den rekatholisierten Gebieten erneuern die Strafen innerhalb des Gotteshauses (Besuch der Messe, Stiftung eines Kirchenfensters) und außerhalb der Kirche (Teinahme an einer Prozession) die Rituale städtischer Soziabilität (Lottin, 1984; Rousseaux, 1990a). Nach der Gegenreform ändert sich selbst die Symbolik der Wallfahrten ganz und gar (Rousseaux, 1995b). Strafen und Vergebung können als zwei Facetten einer Politik begriffen werden, welche die Ordnung aufrechtzuerhalten sucht. Hinrichtungen zielten darauf, Übeltäter abzuschrecken und das Volk zu beruhigen, in Arras ebenso wie in Gent, Amsterdam, Haarlem oder Delft (Muchembled, 1984, 1992; Roets, 1987; Spierenburg, 1984b; Hoeven, 1982; Noordam, 1989a), aber zugleich darauf, die Macht der Obrigkeit zu zeigen. Dabei verfolgt die Demonstration der fürstlichen Gnade ein dreifaches Ziel: die Gesellschaft zu befrieden, den begnadigten Untertan zur Treue zu verpflichten und die fürstliche Herrschaft gegenüber den lokalen Herrschaftsträgern durchzusetzen. Soziale Rituale: Ehre, Schande und soziale Kontrolle Eine instrumentelle Betrachtungsweise von Konflikten erklärt jedoch nicht die Komplexität der Beziehungen zwischen Bevölkerung und Justiz. Das Bedürfnis nach rechtlichen Verfahren spiegelt sich in den Ritualen von Wiedergutmachung oder Stigmatisierung, die in den Praktiken der Konfliktregulierung in Erscheinung treten. In diesem Kontext spielen ebenfalls die Auseinandersetzungen über die Ehre ein wichtige Rolle. Kollektive Beziehungen können in diesen ländlichen, größtenteils oral geprägten Gesellschaften den Verlauf und die Regelung von Konflikten besser erklären als individuelle Reaktionen. Über die Stellung der Freunde, Verbündeten und Nachbarn in der Regelung des sozialen Lebens im Mittelalter wird kontrovers diskutiert (Hoppenbrouwers, 1985; Carlier, 1997; Bousmar, 1997). Worte (Injurien) und Gesten (Bremmer, Roodenburg, 1992) gewinnen bei der Wiederherstellung des Friedens zwischen Menschen, die miteinander zu tun haben, großes Gewicht. Umgekehrt werden in Hexerei- oder Häresieprozessen Injurien und Gotteslästerungen zu einem Indikator der Unordnung. Ab dem 16. Jahrhundert setzt sich die Justiz immer mehr als wesentliches Instrument der Konfliktlösung in den Städten und selbst im ländlichen Milieu durch. Es ist zum Beispiel offensichtlich, daß die Prozesse, die von Dörfern vor den höheren Instanzen angestrengt werden, am Ende des Ancien Régime zunehmen (Rousseaux, 1988, 1994b). Die wachsende staatliche Monopolisierung der Justiz verhindert jedoch nicht, daß Praktiken informeller Konfliktregelung weiter bestehen und Bewohner an Formen kollektiver Justiz teilhaben. Die Fälle von Charivaris in Flandern (M.Jacobs, 1986a und b) und Brabant (Rooijakkers, Romme, 1989) stehen vor allem mit Heiratspraktiken des 17. und 18. Jahrhunderts im Zusammenhang. Die Gruppen von jungen Leute spielt hierbei eine wichtige Rolle. Im ausgehenden Ancien Régime bedienen sich dieselben Gruppen des Charivaris in politischen Konflikten (Rousseaux, 1988). <?page no="137"?> Xavier Rousseaux 138 Die Infrajustiz entwickelt sich genau in der Phase, in dem der Staat zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert das Monopol auf Konfliktlösung beansprucht. In den Großstädten der südlichen Niederlande verbindet sich die formelle soziale Kontrolle mit den örtlichen Beziehungsnetzen, die zwischen Leuten der gleichen Berufsgruppe (Deceulaer, 1996a) oder zwischen Nachbarn (Deceulaer, 1995, 1996b) bestehen. Mit der gerichtlichen Tätigkeit der Zünfte steht den Akteuren der Arbeitswelt ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie Konflikte austragen und regeln. Gleiches gilt für die unterschiedliche Art und Weise, in der die Stadtbürger an der Aufrechterhaltung der Ordnung oder im 17. und 18. Jahrhundert an der Kontrollierung des öffentlichen Raums in Städten wie Gent, Antwerpen, Utrecht oder Namur (Jacobs, 1986 a und b; Deceulaer, 1995, 1996b; Clément-Denys, 1998) beteiligt werden. Vor der Gründung einer eigenen und institutionalisierten Polizei im 18. Jahrhundert ist die Beteiligung der Bürger an der Wahrung der Ordnung in der Stadt eine Notwendigkeit (Vanhemelryck, 1972; Boone, Prak, 1995). Auf dem Land hingegen wird die freilich sehr unzulängliche Sicherheit auf den Transportwegen von Einheiten militärischen Ursprungs, d.h. den Maréchaussées gewahrt, die sich in den Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenschließen (Deroisy, 1985; Coutiez,1993; Verhas, 1993). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tendierten die traditionellen Formen der Konflikte bzw. der Konfliktregulierung in Verbindung mit Modernisierungsideen zu einer Politisierung. Städtischer Aufruhr (Boone, Prak, 1995), Charivaris (Blok, 1989a; Rooijakkers, 1994), ländliche Konflikte und sozialer Wandel spiegeln die Veränderungen in den sozialen Beziehungen wieder. Der gleichen Entwicklung waren die öffentlichen Rituale der Strafverfolgung unterworfen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt unter dem Druck des napoleonischen Staates verschwinden. Nord und Süd: Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der historischen Entwicklung Schematisch gesprochen, hat die Kriminalitätsgeschichte der südlichen und nördlichen Niederlande auf drei gesellschaftlichen Untersuchungsebenen - Herrschaft, Justiz und Bevölkerungsgruppen - angesetzt. Jeder Ebene entspricht eine leitende Fragestellung: Angesprochen sind die Probleme der Staatsbildung, der Verrechtlichung und der »Zivilisierung der Sitten«. Herrschaft und Territorien: von der Stadt zum Staat Bei den Modellen der Staatsbildung (Rousseaux, Lévy, 1997) stellt sich die Frage, inwiefern das nördliche Staatsmodell der Vereinigten Provinzen im Vergleich zum südlichen, »absolutistischen« Modell Frankreichs und der spanischen Niederlande, in dem die Person des Monarchen den Gehorsam seiner Untertanen ganz auf sich vereint, eine Sonderstellung einnimmt (Muchembled, 1992). Demzufolge könnte das »absolutistische« gegenüber dem »republikanischen« Modell als dominant angesprochen werden. P. Spierenburg dagegen plädiert für die Existenz mehrerer Modelle der Staatsbildung. Im Süden wie im Norden scheiterte die Zentralisierung im 16. und 17. Jahrhundert mehr oder minder. Von ihr profitierten die mächtigen Städte im Norden und die regionalen Oligarchien in den weniger urban geprägten Gegenden im Süden (Namur, Luxemburg). Die <?page no="138"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 139 meisten Justizsymbole, die dem Absolutismus zugeordnet werden, werden ebenfalls von den Patriziern in den Städten der Republik und von den Justizräten in den südlichen Provinzen verwendet. Oberflächlich betrachtet, folgt der Wandel den gesamteuropäischen Entwicklungen: Die Herrschaftsinstanzen monopolisieren im Zuge ihres Zentralisierungsprozesses Macht und Kontrolle. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert kommt im unterschiedlichen Schicksal der Städte in ihren Konflikten mit den Herrschern zum Ausdruck, wie unterschiedlich der Raum der Verbrechenskontrolle im Norden und im Süden definiert wird. Bis zum 16. Jahrhundert ist im Süden wie im Norden die städtische Dominanz offensichtlich; mit der Teilung wird sie im Norden stärker, im Süden schwächer. Doch auch der Herrscher wird in den südlichen Niederlanden im 17. Jahrhundert schwächer. Dies erklärt, warum die südlichen Niederlanden und die Vereinigten Provinzen in ihrer Justizorganisation unterschiedliche Wege gehen (Diederiks, 1997). 9 Im Norden verhandeln die mächtigen Städte mit dem Fürsten. Im Süden hingegen rücken die Provinzoligarchien an die Stelle der Städte, um mit dem Fürsten in Konkurrenz zu treten (Rousseaux, 1997a). Anders gesagt: Staatsbildung verschmilzt nicht immer mit Zentralisierung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts indes gleichen sich der Norden und der Süden an; die Versuche, überregionale Strukturen im Militär-, Finanz-, Justiz- und Polizeiwesen zu schaffen, sind nicht zu übersehen (Spierenburg, 1997). Die Justiz: Der Herrscher, die Stadt- und Dorfgemeinde und die Richter: die Monopolisierung des Rechts Die Tätigkeit der Justiz befindet sich an der Schnittstelle zwischen Machtdemonstration und der Manifestation von Alltagskonflikten. Die Integration der Institutionen vollzieht sich nach und nach in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, vor allem durch die Modernisierung des Justizapparats nach dem Modell des römischen Rechts. Der Bruch am ausgehenden 16. Jahrhundert verhindert die »Modernisierung« der Justiz nicht: Die zersplitterten Gebiete werden neu organisiert (Egmond, 1989), neue Verbrechen werden konstruiert, die Gerichtsverfahren rationalisiert, neue Strafen angewandt, die Verfolgung wird systematisiert. Wenn auch die Akteure jeweils andere sind, bewirkt die Konfessionalisierung der Justiz den gleichen Prozeß. Am Beispiel der öffentlichen Hinrichtungen kann gezeigt werden, daß die Justiz des Magistrats von Amsterdam sich kaum von derjenigen des Conseil des Troubles oder derjenigen einer lokalen Herrschaft wie der der Äbtissin von Nivelles unterscheidet. Alle drei verfolgten ein Modell, nach dem die von oben aufgezwungene Justiz Gewalt scharf ahnden muß. Die Justiz versucht daher immer mehr Sektoren des öffentlichen Lebens zu erobern, die traditionellerweise von lokalen Institutionen (Handwerk, Nachbarschaft) kontrolliert werden. Auf dem Lande belegen die Entwicklung der Maréchaussées auf der Provinzebene und die übernationale Zusammenarbeit (Deroisy, 1965; Egmond, 1986; Macours, 1996) die allmähliche »Provinzialisierung« des Landes in Justiz- und Polizeiangelegenheiten. Die nächste Veränderung vollzieht sich Ende des 18. Jahrhunderts. Unter dem doppelten Einfluß der »germanischen« Aufklärung und der französischen Lumières führt die Modernisierung der Bürokratie dazu, die Aufgaben der Justiz von den Aufgaben der 9 Für die anderen Fürstentümer, insbesondere für das Fürstbistum Lüttich, fehlen Untersuchungen zur Kriminalitätsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. <?page no="139"?> Xavier Rousseaux 140 Verwaltung zu trennen (Coopmans, 1989). Indem sie zu reinen Gerichtshöfen werden, stärken die Gerichte ihr gesellschaftliches Profil als Justizinstanzen. Im Zuge dieser Modernisierung nehmen die höheren Gerichte immer mehr Einfluß auf die Arbeit der lokalen Justizen. Die Bevölkerung: soziale Spannungen, Krisen und Konfliktlösungen Auf der lokalen Ebene wird das Verhältnis der Bevölkerung zu Justiz und Kriminalität geprägt von der allmähliche Zivilisierung des Verhaltens bzw. ihrer Akkulturation in das System der offiziellen Justiz (Rousseaux, Lévy, 1997). Die wesentlichenVeränderungen betreffen die Autonomie der Parteien bei der Behandlung des Konflikts, die Zurückdrängung informeller Lösungsformen, die Entmachtung der traditionellen Vermittler zugunsten der Experten wie Rechtsanwälte, Richter oder Polizisten (siehe Rousseaux, 1996b, 1997b). Dieser Wandel in den Wahrnehmungsweisen ist nach 1650 ganz offensichtlich (Muchembled, 1992). Er erfaßt zugleich die Art und Weise, wie sich Konflikte äußern (Gewalt, Diebstahl), den gesellschaftlichen Einsatz (Frieden, Ehre, Ansehen, Ordnung), der auf dem Spiel steht, und die Formen, in denen sich Konfliktregulierung vollziehen (Wiedergutmachung, Bestrafung, Wiedereingliederung). Schlußfolgerungen Dank dreißigigjähriger Forschungen sind unsere Kenntnisse über die langfristigen Prozesse, über den Wandel des Verbrechens, über die Modernisierung der Justiz und die Veränderungen der Mentalitäten im Benelux-Raum entscheidend erweitert worden. 1 Aus der Perspektive der Zivilisierung der Sitten und der Verrechtlichung der sozialen Verhaltensformen gesehen, fügen sich die Bevölkerungen des Benelux-Raums in die allgemeine Bewegung ein, die die westliche Gesellschaft zwischen dem Ende des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kennzeichnet. Wie überall in Europa verlieren langfristig die Dorf- oder Stadtgemeinden ihre Autonomie, und der Staat versucht, ein gewisses Monopol in der Strafverfolgung, in den Formen der Konfliktregelung und der Lösung der Alltagskonflikte (Gattrell, Lenman, Parker, 1980) zu erlangen. 2 Aus der Perspektive der Staatsbildung betrachtet, haben der nördliche und der südliche Teil des Benelux-Raums einen unterschiedlichen Wandlungsprozeß durchgemacht, der diese Region zugleich von der historischen Entwicklung der Nachbarländer abhebt. Auf der einen Seite gingen im Benelux Modernisierung und Zentralisierung nicht miteinander einher. Die politische, justizielle und soziale Modernisierung vollzog sich während einzelner Phasen im Kontext eines Vereinigungsprozeß der einzelnen Gebiete zu einem zentralisierten geschlossenen Land (zuerst zwischen 1450 und 1565, dann von 1795 bis 1830), zu einer anderen Zeit jedoch im Zusammenhang mit einem Rückgang der Zentralisierung (insbesondere nach 1585). Der Modernisierungsprozeß ging im 17. und 18. Jahrhundert auf der Ebene der örtlichen Herrschaften, der Städte sowie der Lehnsherrschaften und der regionalen Herrschaften (der Provinzen) weiter. Wurde der Prozeß im Norden als ein autonomer anerkannt, so erlebte man ihn in den südlichen Niederlanden eher als Reaktionsform auf eine weit entfernte Zentralregierung. Auf der anderen Seite wurden die unterschiedlichen Regionen des Benelux-Raums - die südlichen Niederlanden, die Verei- <?page no="140"?> Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 141 nigten Provinzen, die selbständigen Fürstentümer - vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, Objekt eines territorial-staatlichen Verdichtungs- und Konzentrationsprozesses. Ein Gegengewicht bildeten aber die bedeutenden Städte, die dazwischen geschalteten Stände und das Fehlen einer Zentralregierung. Diese spezielle Verknüpfung von Kriminalität, Justiz und Gesellschaft scheint für den Benelux-Raum im Vergleich mit seinen englischen und französischen Nachbarn charakteristisch gewesen zu sein. Erst im Gefolge der französischen Eroberung kam es mit politischer Zentralisierung und einer Verstaatlichung der Justiz zu einem grundlegenden Wandel. Sie bewirkt einen radikalen Bruch, der sich durch die politische Zentralisierung, die Verstaatlichung der Justiz, die Strafe und dasVerbrechen zieht. (Übersetzung aus dem Französischen von Francisca Loetz) Bibliographie zur Geschichte der Strafjustiz und der Kriminalität in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg Allgemeine Literatur Bercé, Y. M., Castan, Y. (Hg.): Les archives du délit, empreintes de société, Toulouse 1990. Billacois, F.: Pour une enquête sur la criminalité dans la France d’Ancien Régime, in: Annales E.S.C. 22 (1967), 340 - 349. Billacois, F.: Criminalistes, pénalistes et historiens, in: Annales E.S.C. 24 (1969), 911 - 914. 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Selbst einschlägige Periodika wie die vom Deutschen Historischen Institut in Rom herausgegebenen ehrwürdigen ›Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken‹ (QFIAB) können im Bereich der Frühen Neuzeit nur punktuell Hilfestellung geben. Neuerdings hat die von einem modifizierten Wissenschaftsverständnis ausgehende Kahlschlagpolitik diverser öffentlicher Hände bei geisteswissenschaftlichen Einrichtungen und bei Bibliotheken die Lage hier zum Teil dramatisch verschärft, so daß die Bearbeitung eines Themas aus der frühneuzeitlichen Geschichte Italiens unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur nicht mehr ohne monatelanges Warten auf Fernleihen, wenn nicht gar ohne aufwendige Bibliotheksreisen über die Alpen, zu bewältigen ist. Die Zeitschrift ›Ricerche storiche‹, um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen, die einzige mit einer ständigen, von Andrea Zorzi betreuten, bibliographischen Rubrik zur italienischen Kriminalitäts- und Justizgeschichte, wird von keiner dem universitären Leihverkehr angeschlossenen Bibliothek in der Bundesrepublik gehalten. Der vorliegende Literaturbericht verzichtet unter solchen Umständen von vorneherein auf eine irgendwie geartete Vollständigkeit, 1 sondern will eher Trends und Tendenzen der italienischen Kriminalitätsforschung der letzten Jahre aufzeigen, vor allem aber solche, für die es im deutschen Sprachraum wenig Parallelen gibt. Zwei wissenschaftliche Kongresse in den Jahren 1985 und 1986 markieren den Beginn der jüngsten Phase der historischen Kriminalitätsforschung in Italien. Der erste dieser Kongresse, im November 1985 in Venedig, versammelte Kriminalitätshistoriker aus ganz Europa mit dem Spezialgebiet »Banditen und Bandenkriminalität zwischen Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert«. Der 1986 erschienene, von Gherardo Ortalli herausgegebene Tagungsband 2 mit einem Vorwort des Nestors der eu- 1 Der hier gebotene Überblick beruht auf der Analyse von 97 Veröffentlichungen zu dem genannten Themenkomplex aus den Jahren 1986 bis 1997. Besonderer Dank für die Unterstützung bei der Literatursuche sei hier Frau Prof. Dr. Irene Polverini Fosi von der Universität Rom I »La Sapienza« gesagt. 2 Gherardo Ortalli (a cura di): Bande armate, banditi, banditismo e repressione di giustizia negli stati europei di antico regime, Roma 1986. <?page no="161"?> Peter Blastenbrei 162 ropäischen sozialhistorischen Banditenforschung, Eric Hobsbawm, enthält Beiträge zum banditismo zwischen Ungarn und Spanien, zwischen dem Balkan und Skandinavien, von denen im folgenden nur diejenigen mit Bezug auf Italien berücksichtigt werden können. Der zweite hier als chronologisch-thematischer Markierungspunkt dienende Kongress fand im Dezember 1986 in Siena statt. Anlaß dazu war die 200. Wiederkehr des vielleicht bedeutendsten einzelnen Justizreformgesetzes der europäischen Aufklärung, die nach ihrem Schöpfer, dem habsburgischen Großherzog Pietro Leopoldo von der Toscana (1765 - 1790), benannte Leopoldina mit ihrer Abschaffung von Folter und Todesstrafe. Unter dem Reihentitel ›La Leopoldina‹ und unter der Gesamtkoordination von Paolo Berlinguer von der Universität Siena sind bis jetzt elf der geplanten dreizehn Bände zur gesamteuropäischen aufklärerischen Debatte um Delinquenz, Strafe und institutionelle Reform erschienen. Zwei der wichtigsten Themen, die die italienische Kriminalitätsforschung schwerpunktmäßig bis heute beschäftigen, waren damit angeschlagen, das Banditenproblem und die justizielle Institutionengeschichte. Für die italienische historische Forschung ordnet sich die Entwicklung von Devianz und Delinquenz seit langem in das Oberthema der Entstehung der frühneuzeitlichen Gesellschaften und des frühmodernen Staates ein, für das ja auf der Apenninhalbinsel vielfältige Studienobjekte zur Verfügung stehen. Aufklärerische Institutionenreform und der banditismo mit seiner Hochphase 200 Jahre zuvor sind unter dieser Prämisse Aspekte eines einzigen langdauernden Prozesses, für den allerdings die im deutschen Sprachraum geläufigen Etikettierungen nicht ganz tauglich erscheinen mögen. Dazu kommt die weiter unten im einzelnen zu thematisierende Entwicklung von Sexualität, Sittlichkeit und Familie nach dem Konzil von Trient, denen ebenso wie dem banditismo und, damit eng verbunden, der sich wandelnden Rolle des Adels in diesem Prozeß die Funktion von Leitphänomenen zufällt. Konzentrieren wir uns vorerst auf den banditismo, so lag der Schwerpunkt hier vor allem auf dem Konflikt zwischen zentralisierenden und bürokratischen Tendenzen der Staaten und dem Durchsetzungswillen der aufsteigenden Schicht professioneller Juristen einerseits und regionalen, vielfach zentrifugalen Kräften, nicht zuletzt des ländlichen Niederadels und anderer peripherer Gruppen andererseits. Die große Banditenwelle, die zwischen etwa 1570 und 1600 die Halbinsel überrollte und schwächer strukturierte Staaten durchaus in ihrer Existenz bedrohte, war teilweise von solchen Gruppen getragen, wenn man sich auch wird hüten müssen, dies als intentionelle Widerstandshandlungen gegen eine möglicherweise adelsfeindliche Politik von Zentralstaaten zu interpretieren. Der grundlegende Aufsatz von Claudio Povolo im banditismo-Sammelband von 1986 3 stellt vor diesem Hintergrund die heiße Phase der Banditenunruhen im venezianischen Landgebiet dar. Selten noch ist der Mythos von der Effektivität der venezianischen Verwaltung in Sicherheitsdingen so gründlich in Frage gestellt worden wie hier: lokale Behörden wie die ferne Zentrale der Serenissima reagierten auf die bürgerkriegsähnlichen Unruhen mit inadäquaten Mitteln wie forciertem Militäreinsatz und mußten vielfach schließlich ihre Zuflucht zum Ausspielen der Banden untereinander nehmen. Erst langsam erzwangen solche Nöte eine ungewohnte grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Justizorganen Mailands, Venedigs und des Kirchenstaa- 3 Claudio Povolo: Nella spiraglia della violenza. Cronologia, intensità e diffusione del banditismo nella Terraferma veneta (1560 - 1510), in: Bande armate (wie Anm. 2), 21 - 52. <?page no="162"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 163 tes. 4 Povolos breitangelegte Darstellung läßt sich im Detail ergänzen durch Peter Lavens Aufsatz 5 im Tagungsband zu dem Kongress »Crime and disorder in Renaissance Italy« (London Mai/ Juni 1991). 6 Laven stellt die Aktivitäten zweier Bandenführer um 1580 am Gardasee dar, die eine so starke klientelare und feudale Basis besaßen, daß den venezianischen Behörden nur die gegenseitige Neutralisierung beider Banden übrig blieb. Waren die Träger und Anführer der Banden in der venezianischen Poebene meist unruhige Landadlige, so gelang es unter den archaischen Strukturen des Friaul 7 sogar einem Kaufmann, Alessandro Mantica aus Pordenone, 1571 eine bewaffnete Bande zur Rache an den Feinden seiner Familie auf die Beine zu stellen, die den venezianischen Behörden ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten bereitete. 8 Hat im venezianischen Herrschaftsbereich der sozial, rechtlich und politisch klar definierte Unterschied zwischen der herrschenden Elite und lokalen Oberschichten wenigstens die Beeinflussung der Entscheidungsfindung in der Zentrale durch Banditensympathisanten ausgeschlossen, so war die fehlende Distanz zwischen Teilen der herrschenden Eliten und den Trägern des banditismo in anderen italienischen Staaten geradezu die Vorbedingung des Umgangs mit diesem Phänomen. In den permanenten Kämpfen nichtadliger Clans in der Gegend von Castelbolognese (Umgebung von Bologna) vermischt sich legales Ringen um politischen und wirtschaftlichen Einfluß mit engster, vielfach reziproker Kooperation mit Banditen, wobei andererseits nachweisbare Kontakte zu Banditen die Clans für die ansonsten eher abwartende päpstliche Justiz angreifbar machten. 9 Auch im gebirgigen Hinterland des weiter westlich gelegenen Herzogtums Modena nahm der banditismo eine Mischform von traditionellem Faustrecht, Clanfehden und echter Bandendelinquenz an, wobei der übermächtige Adel die Durchsetzung zentralisierender Justizkonzepte von Seiten der Esteherzöge in wohlverstandenem Eigeninteresse hintertrieb. 10 Noch weiter entfernt vom ansonsten in Europa geläufigen Banditenbegriff waren die Verhältnisse im genuesischen Landgebiet, wo die bewaffneten Bauernsippen (parentele) ebenso die Basis des hochentwickelten und für die Landesverteidigung unentbehrlichen Milizsystems bildeten wie sie Träger der endemischen, eng mit dem Schmuggel verquickten, ländlichen Unruhen waren. Maria D. Floris’ 11 generelles Ergebnis einer überaus kreativen, aber angesichts solcher Voraussetzungen nahezu hilflosen Justiz wird von der Regionalstudie Osvaldo Raggios für das südgenuesische Val Fontanabuona 12 eindrucksvoll bestätigt. Die einzige größere Arbeit 4 Enrico Basaglia: Il banditismo nei rapporti di Venezia con gli stati confinanti, in: Bande armate (wie Anm. 2), 423 - 440. 5 Peter Laven: Banditry and lawlessness on the Venetian Terraferma in the late Cinquecento, in: Trevor Dean/ Kate/ J.P. Lowe (eds.): Crime, society and the law in Renaissance Italy, Cambridge 1994, 221 - 248. 6 John E.Law/ Suzy Butters: Vorbericht zum gesamten Kongress, in: Ricerche storiche 21 (1991), 441 - 444. 7 Vgl. unten S. 166. 8 Nicholas S. Davidson: An armed band and the local community on the Venetian Terraferma in the sixteenth century, in: Bande armate (wie Anm. 2), 401 - 422. 9 Raffaella Comaschi: Strategie familiari, potere locale e banditi in una comunità del contado bolognese del XVI secolo, in: Bande armate (wie Anm. 2), 225 - 232. 10 Marco Cattini/ Marzio A.Romani: Tra faida familiare e rivolta politica: banditi e banditismo nella montagna estense (sec. XVII), in: Bande armate (wie Anm. 2), 53 - 66. 11 Maria D. Floris: La repressione della criminalità organizzata nella repubblica di Genova tra Cinque e Seicento. Aspetti e cronologia della prassi legislativa, in: Bande armate (wie Anm. 2), 8 7 -106. 12 Osvaldo Raggio: Parentele, fazioni e banditi: la Val Fontanabuona tra Cinque e Seicento, in: Bande armate (wie Anm. 2), 233 - 276. <?page no="163"?> Peter Blastenbrei 164 zum banditismo Mittel- und Süditaliens im Berichtszeitraum stammt aus der Feder der römischen Historikerin Irene Polverini Fosi, die die Zusammenarbeit von Adel, hier dem römischen Hochadel, und Banditen im Kirchenstaat am Beispiel der Familie Caetani aufzeigt. 13 Ist die mehr oder minder offene Unterstützung von Seiten des Adels überall in Italien ein Aspekt der banditismo-Welle nach 1570, so war das sozial und mental archaische, von Venedig nur oberflächlich beherrschte Friaul in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Schauplatz eines jahrzehntelangen, vom Lokaladel fast unbehelligt ausgetragenen faktischen Bürgerkrieges. Dies würde den thematische Rahmen dieses Berichts sprengen, hätte nicht die umfassende Studie Edward Muirs 14 - trotz mancher unpassender wörtlicher Übernahmen Eliasscher Konzepte - die Veränderungen adliger Konfliktaustragungsmechanismen vom Massaker an den Gegnern am Gründonnerstag 1511 über den offenen Kampf, den Mord aus dem Hinterhalt bis hin zum finalen Duell der Protagonisten 65 Jahre später beispielhaft gezeigt. Die rigorose Durchsetzung des staatlichen Tabakmonopols schuf im Friaul der 1770er Jahre erneut eine hochexplosive quasi vorrevolutionäre Situation, die ansonsten für das zeitgenössische Italien keineswegs typisch war; diesmal lieferten sich allerdings schwerbewaffnete bäuerliche Schmugglerbanden regelrechte Schlachten mit den Ordnungskräften. 15 Bedeutete für das Friaul des 16. Jahrhunderts der Übergang des adligen Verhaltens vom Krieg zum gesellschaftlich geduldeten Duell bereits eine greifbare Veränderung weg von der Gewalt als Mittel der Konfliktbereinigung, konnten anderswo in Italien starke kirchliche und weltliche Autoritäten bereits daran denken, das 1564 ergangene Duellverbot des Konzils von Trient in die Wirklichkeit umzusetzen. An seine Stelle traten seit spätestens 1600 in Nord- und Mittelitalien Ersatzformen wie Schimpfkanonaden und selbst so kuriose Dinge wie schriftliche Duelle. 16 Die großangelegte Studie Oscar Di Simplicios, 17 deren erster Teil der Disziplinierung der gesellschaftlichen Eliten von Adel und Klerus im frühneuzeitlichen Siena gewidmet ist, zeigt aber, daß depravierte Duellformen in der Art groben Unfugs noch lange über diese Grenzlinie hinweg nachweisbar bleiben, und der sienesische Adel erst um 1700 wirklich zu einer gewaltfernen gesellschaftlichen Gruppe geworden ist. Solche grundlegenden Verhaltensänderungen erfolgten im frühneuzeitlichen Italien aber überall unter Zwang und Sanktionsdrohung und hingen damit lange Zeit vollständig von der Präsenz durchsetzungswilliger kirchlicher oder staatlicher Autoritäten ab. Dies zeigt das harte Durchgreifen Venedigs 13 Irene Polverini Fosi: La società violenta. Il banditismo dello stato pontificio nella seconda metà del Cinquecento, Roma 1985. Vgl. auch Dies.: Il banditismo nello stato pontificio nella seconda metà del Cinquecento, in: Bande armate (wie Anm. 2), 67 - 85. 14 Edward Muir: Mad blood stirring. Vendetta and factions in Friuli during the Renaissance, Baltimore/ London 1993. Lesenswert bleibt daneben zum selben Thema: Furio Bianco: Mihi vindictam: aristocratic clans and rural communities in a feud in Friuli in the late fifteenth and early sixteenth centuries, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 249 - 273. 15 Furio Bianco: Sbirri, contrabbandieri e le ›rie sette dei malfattori‹ nel ’700 friulano, in: Emarginazione, criminalità e devianza in Italia fra ’600 e ’900, a cura di Alessandro Pastore e Paolo Sorcinelli, Milano 1990, 51 - 76. 16 Donald Weinstein: Fighting or flyting? Verbal duelling in midsixteenth-century Italy, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 204 - 220. 17 Oscar Di Simplicio: Peccato, penitenza, perdono. Siena 1575 - 1800: la formazione della coscienza dell’Italia moderna, Milano 1994. Vgl. auch Ders.: Sulla nobiltà e il crimine a Siena 1603 - 1772, in: Bande armate (wie Anm. 2), 307 - 315. <?page no="164"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 165 gegen einen älteren Verhaltensmustern anhängenden Vicentiner Adligen zu Anfang des 17. Jahrhunderts, also nach Abklingen des frühneuzeitlichen großen banditismo, 18 im Kontrast zu dem nur wenig jüngeren Fall eines Landpfarrers, der sich im Schutz eines kleinen abgelegenenen Maremmenortes ohne merkliche Behelligung durch die Behörden ein Netz mafiöser Gewaltbeziehungen zum eigenen materiellen Nutzen aufgebaut hatte. 19 Mit dem Ende des Konzils von Trient rückten Sexualität, Ehe und Familie so weit ins Zentrum der Aufmerksamkeit geistlicher und weltlicher Gesetzgeber, wie dies nie zuvor der Fall gewesen war. Die Durchsetzung der nun deutlich vorgezeichneten Normen ebnete Staatsmännern und Juristen, wie es schien, den direkten Weg zur Gnade Gottes 20 und ist in den folgenden zwei Jahrhunderten entsprechend intensiv betrieben worden. Nicholas Davidson hat dazu einen vor allem als Einführung in die juristisch-theologischen Probleme brauchbaren, literatur- und quellengesättigten Aufsatz geschrieben, der lediglich mit der Behandlung aller Formen devianter Sexualität etwas breit angelegt ist. 21 Giorgia Alessi von der Universität Neapel spitzt diese Frage auf die theologische Diskussion über Vergewaltigung, Verführung und die Entschädigung für die Frau zwischen dem Tridentinum und dem 18. Jahrhundert zu, 22 wobei bei den hier analysierten Autoren vor allem die unermüdliche Suche nach Milderungsgründen für die (männlichen) Verführer auffällt. Anhand des Konkubinatsprozesses eines florentinischen Landpfarrers 1784/ 86 stellte sie chronologisch anschließend die Entkriminalisierung derVerführung und die juristisch-praktische Überwindung der alten Entschädigungskonzepte für verlorene Jungfräulichkeit in der aufklärerischen Toscana dar. 23 Oscar Di Simplicios Arbeit zu den frühneuzeitlichen Vergewaltigungsfällen in Siena 24 führt weg von den zeitgenössischen theoretischen Erörterungen und zeigt unter Anwendung feministischer Theorien und Ergebnissen aus der modernen psychologischen Vergewaltigungsforschung die besondere Opferposition der Frau in einer gewaltnahen Gesellschaft. Die wenigen im Berichtszeitraum erschienen Arbeiten zu Homosexualität, Sodomie und ihre Verfolgung lassen einen lückenlosen Anschluß an die Unterdrückung heterosexueller nonkonformistischer Praktiken nicht zu. Romano Canosa vergleicht die phasenverschobene Praxis der Sodomieverfolgung in Florenz und Venedig zwischen dem Trecento und den Anfängen des 16. Jahrhunderts. 25 Seine Interpretation der Homosexuellenverfolgung basiert vor allem auf der in Venedig verbreiteten Gleichung Homo- 18 Claudio Povolo: Processo contro Paolo Orgiani e altri, in: Studi storici 29 (1988), 321 - 360. 19 Oscar Di Simplicio: Storia di un anticristo. Avidità, amore e morte nella Toscana medicea (Montorgiali, Maremma, 1609 - 1645), Siena 1996. 20 So der Consiglio dei Dieci 1575: Nicholas S.Davidson: Theology, nature and the law, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 77. 21 Vgl. Anm. 20. 22 Giorgia Alessi: Il gioco degli scambi: seduzione e risarcimento nella casistica cattolica del XVI e XVII secolo, in: Quaderni storici 75 (1990), 805 - 831. 23 Giorgia Alessi: Processo per seduzione. Piacere e castigo nella Toscana leopoldina, Catania 1988 (La ›Leopoldina‹.Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 8) 24 Oscar Di Simplicio: Violenza maritale e violenza sessuale nello stato senese di antico regime, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 33 - 50. 25 Romano Canosa: Storia di una grande paura. La sodomia a Firenze e a Venezia nel Quattrocento, Milano 1991. <?page no="165"?> Peter Blastenbrei 166 sexuelle=Glaubensfeinde, leider aber auch auf einem fragwürdigen, mit demographischen Problemen argumentierenden, Rationalisierungsversuch. Auch Gabriele Martinis Arbeiten 26 zur sich wandelnden Haltung von Öffentlichkeit und Justiz Venedigs zur Homosexualität zwischen dem frühen 16. Jahrhundert und dem späteren 17. Jahrhundert leidet trotz guter Darstellung ebenfalls an einem durchaus vermeidbaren interpretatorischen Problem, hier einem vom Modewandel abgeleiteten Verweiblichungskonzept. 27 Die Ausgrenzung unerwünschten Sexualverhaltens hatte ihr Komplement in der Durchsetzung eines neuen Ehe- und Familienmodells im nachtridentinischen Italien, die wegen ihrer Implikationen für die Familien- und Besitzstruktur vielleicht noch langwieriger und mühevoller war. Nach dem zweiten Teil von Oscar Di Simplicios bereits genannter Studie, 28 die sämtliche Aspekte dieses Prozesses erfaßt, kann das tridentinische Ehe- und Familienmodell in Siena nicht vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als durchgesetzt und das freie Zusammenleben zweier heterosexueller Partner als ausgerottet gelten; zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Gabriele Martini bei der Auswertung von Akten aus dem Patriarchatsarchiv von Venedig. 29 Die geistliche und weltliche Folgegesetzgebung nach dem Konzil bezog sich darüber hinaus auf das Vorfeld der eigentlichen Eheschließung, wo das neue Ideal der keuschen Verlobung dem vielerorts gebräuchlichen vorehelichen Geschlechtsverkehr der Verlobten entgegengesetzt wurde. 30 Auch Claudio Povolo hängt seinen Aufsatz zur Kindesaussetzung und Kindestötung im venezianischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert in die Entstehungsgeschichte der posttridentinischen famiglia legittima in Italien ein. 31 Mit den von ihm benutzten Quellen, darunter Akten der Findelhäuser in Venedig, Vicenza und Padua, kann er bei rigideren Aufnahmekriterien für Findelkinder eine steigende Zahl unehelicher Kinder und eine sich gleichzeitig massiv verschärfende soziale Ausgrenzung unehelicher Mütter belegen. Vor dem Übergang zur Betrachtung der Studien zur Kriminalpolitik einzelner italienischer Staaten seien hier einige Arbeiten genannt, die sich wegen ihrer Konzentration auf zumeist einen einzigen Delikttyp oder auf eher vereinzelt auftretende Devianzaspekte nicht einfach in die bisher beschriebenen Forschungszusammenhänge einfügen lassen. Der Berichterstatter selbst 32 hat mit Rom im späten 16. Jahrhundert eine 26 Gabriele Martini: Sodomia e discriminazione morale a Venezia nei secoli XV-XVII: tendenze evolutive, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 341 - 366; Ders.: Il ›vitio nefando‹ nella Venezia del Seicento. Aspetti sociali e repressione di giustizia, Roma 1989 (Collana della Facoltà di lettere della Università di Venezia, Sezione di studi storici, 2). 27 Vgl.dazu die Rezension des Berichterstatters in QFIAB 72 (1992), 643 - 645. 28 Vgl. Anm. 17. 29 Gabriele Martini: La donna veneziana del ’600 tra sessualità legittima ed illegittima: alcune riflessioni sul concubinato, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 301 - 339. 30 Daniela Lombardi: Intervention by church and state in marriage disputes in sixteenthand seventeenthcentury Florence, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 142 - 156. 31 Claudio Povolo: Dal versante dell’illegittimità. Per una ricerca sulla storia della famiglia: infanticidio ed esposizione d’infante nel Veneto nell’età moderna, in: Crimine, giustizia e società veneta in età moderna, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 9), 89 - 164. 32 Peter Blastenbrei: Kriminalität in Rom 1560 - 1585, Tübingen 1995 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 82). Italienische Kurzfassung der Hauptergebnisse Ders.: I Romani tra violenza e giustizia nel tardo Cinquecento, in: Roma moderna e contemporanea 5 (1997), 6 7 -79. <?page no="166"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 167 städtische Delinquenzlandschaft mit ihren Rahmenbedingungen flächenmäßig darzustellen versucht. Die Befunde, gewonnen auf der breitesten Datenbasis der bisherigen Delinquenzforschung überhaupt (über 7.000 Fälle), abweichende Rechtsauffassung in der Bevölkerung, hohe Gewaltbereitschaft, polykratische Machtstrukturen, können als Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen mit zivilisationshistorischem Ansatz vor einem städtischen Hintergrund dienen. 33 Besondere Aufmerksamkeit haben Sonderformen der Delinquenz in Pestzeiten (Diebstahl in ausgestorbenen Häusern, sexuelle Exzesse, Verstöße gegen obrigkeitliche Abwehrmaßregeln, unzioni, d.h. angebliche Herbeiführung der Seuche durch magische Salben etc.) erfahren: neben drei vergleichenden Studien Alessandro Pastores zu Genua, Rom und Bologna in den Seuchenjahren 1630 und 1656 34 liegt jetzt auch das komplette Protokoll des berühmten mailändischen untori-Prozesses von 1630 im Volltext vor. 35 Auch das Delikt der Verschwörung wurde mehrfach behandelt, so die drei Verschwörungen von 1468, 1517 und 1523 gegen den Papst von Kate Lowe, die allerdings wenig mehr als die Beschreibung der Ereignisse bietet. 36 Dem Berichterstatter ging es dagegen bei seinem Artikel über die Verschwörung gegen Pius IV. 1564 um die Aufhellung der komplexen Motivation ihres Initiators und um die Interaktion zwischen den Verschworenen. 37 Nach der bloßen Anzahl der erschienenen Titel nahm die Geschichte der Kriminalpolitik verschiedener frühneuzeitlicher Epochen und ganz besonders die justizielle Institutionengeschichte im Berichtszeitraum den ersten Platz ein. Ein überaus lohnendes Beispiel für die enge Verflechtung von Justizpolitik, Herrschaftssicherung und Durchsetzung moderner obrigkeitlicher Disziplinierungskonzepte ist die Toscana der frühen Medicigroßherzöge. Nach Elena Fasano Guarini 38 hat Cosimo I. (1537 - 1587) in diesem Sinn trotz Fehlens eines eigenen Disziplinierungskonzeptes ausgeprägte persönliche Initiativen auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung entwickelt, die unter seinen Nachfolgern schnell dem gelehrten Juristenstand zufielen. Speiste in der Toscana das ideologische Bild des treusorgenden Fürsten als Gesetzgeber eine beachtliche und auch innovative Justizpolitik, so kam die Justizpolitik im benachbarten Kirchenstaat gerade unter dem in der bisherigen Forschung als besonders tatkräftig angesehenen Papst Sixtus V. (1585 - 1590) angesichts der verworrenen Machtverhältnisse vielfach über propagandistisches Selbstlob nicht 33 Zur Delinquenzlandschaft Rom vgl. auch Thomas V.Cohen/ Elizabeth S.Cohen: Words and deeds in Renaissance Rome. Trials before the papal magistrates, Toronto/ Buffalo/ London 1993 und die Rezension des Berichterstatters in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), 120 - 122. 34 Alessandro Pastore: Tra giustizia e politica: il governo della peste a Genova e Roma nel 1656/ 57, in: Rivista storica italiana 100 (1988), 126 - 154; Ders.: Criminalità e giustizia in tempo di peste. Bologna, 1630, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 25 - 31; Ders.: Crimine e giustizia in tempo di peste nell’Europa moderna, Bari/ Roma 1992. 35 Guiseppe Farinelli/ Ermanno Pascagnini (a cura di): Processo agli untori. Milano 1630 - Cronaca e atti giudiziari, Milano 1988. 36 Kate Lowe: The political crime of conspiracy in fifteenthand sixteenth-century Rome, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 184 - 203. 37 Peter Blastenbrei: Glücksritter und Heilige. Motivstruktur und Täterprofile bei der Accoltiverschwörung gegen Papst Pius IV. im Jahre 1564, in: QFIAB 70 (1990), 441 - 490. 38 Elena Fasano Guarini: Produzione di leggi e disciplinamento nella Toscana granducale tra Cinque e Seicento. Spunti di ricerca, in: Disciplina dell’anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra medioevo ed età moderna, a cura di Paolo Prodi con la collaborazione di Carla Pernuti, Bologna 1994 (Convegno internazionale di studio, Bologna 7 - 9 ottobre 1993), Annali dell’Istituto italo-germanico in Trento, Quaderno 40, 659 - 690. <?page no="167"?> Peter Blastenbrei 168 hinaus 39 und behinderte sich selbst durch ihre Befangenheit in theologischen statt praktisch-juristischen Kategorien. 40 Aus der Feder von Gabriella Santoncini liegt eine aus normativen Quellen geschöpfte, sehr brauchbare Gesamtdarstellung der Justizinstitutionen des Kirchenstaates bis 1798 vor, 41 die auf das Ausbleiben zentralisierender und rationalisierender Innovationsschübe auch im Jahrhundert der Aufklärung abhebt. 42 Nicht unproblematisch bleibt allerdings auch bei ihr der Instanzenwirrwarr als Kriterium mangelnder Effektivität. Ein Seitenblick auf die kaum weniger verwickelten Justizsysteme Englands oder der Niederlande hätte hier aufhellend wirken können. Für Italien zeigt der kurze Aufsatz Luciano Allegras, 43 daß zumindest in Kleinregionen eine starke Abnahme interpersonaler Gewalt im 18. Jahrhundert auch ohne jede Zentralisierung der Organe der Sozialkontrolle eintreten konnte. Viele italienische Staaten entwickelten angesichts der endemischen Unruhen um 1600 neue, wenn auch oft problematische Methoden spezialisierter Delinquenzbekämpfung. Besonders verbreitet war die Aussetzung von Geldprämien oder Amnestieangebote an Banditen für den Mord oder Verrat an Kameraden, wie es Gabriella Santoncini für die Toscana vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die 1640er Jahre schildert. 44 Genua verließ sich mit seinen speziellen Schwierigkeiten seit der sogenannten legge dei biglietti von 1607 ganz auf das zu einzigartiger Vollendung gebrachte Mittel der anonymen Denunziation, das Edoardo Grendi an erhaltenen anonymen Eingaben der Jahre 1638 bis 1650 untersucht. 45 Mehr noch als im 16. Jahrhundert übernahm die Toscana im 18. Jahrhundert die Vorreiterrolle bei der Weiterentwicklung der Justiz- und insbesondere der Kriminalpolitik. Die vielbewunderten Justizreformen ab 1771 und vor allem dann die Leopoldina von 1786 46 machten das Großherzogtum zum Musterland der europäischen Aufklärung, doch gaben ihm massive persönliche Kontrollansprüche des Fürsten und in präventiver Absicht formulierte neue Ausgrenzungstendenzen zugleich Züge eines Überwachungsstaates. 47 Unter veränderten gesamtpolitischen und rechtstheoretischen Rahmenbedingungen wich ab 1793 das Ziel einer generellen Strafmilderung und eines ratio- 39 Irene Polverini Fosi: Justice and its image. Political propaganda and judicial reality in the pontificate of Sixtus V, in: The Sixteenth Century Journal 24 (1993), 75 - 95. 40 Michele Di Sivo: Le costituzioni e i bandi di SistoV.L’amministrazione della giustizia tra accentramento e crisi dello stato pontificio, in: ›Pro tribunali sedentes‹. Le magistrature giudiziarie dello stato pontificio e i loro archivi (Atti del convegno di studi, Spoleto 8 - 10 novembre 1990), Archivi per la storia 4 (1991), 137 - 148. 41 Gabriella Santoncini: Il groviglio giurisdizionale dello stato ecclesiastico prima dell’occupazione francese, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/ Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient 20 (1994), 63 - 127. 42 Vgl. dazu auch Hanns Gross: Roma nel Settecento, Roma/ Bari 1990, 248 - 268 (engl. Original: Rome in the age of enlightenment, Cambridge 1990). 43 Luciano Allegra: Stato, monopolio e controllo sociale: il caso del Piemonte, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 77 - 84. 44 Gabriella Santoncini: La legislazione premiale dello stato fiorentino nei secoli XVI-XVIII, in: Le politiche criminali nel XVIII secolo, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1990 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ›700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 11), 1 - 42. 45 Edoardo Grendi: Lettere orbe. Anonimato e potere nel Seicento genovese, Palermo 1989. 46 Entstehungsgeschichte und Volltextausgabe (im 2. Band) Dario Zuliani: La riforma penale di Pietro Leopoldo, 2 Bände, Milano 1995 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 2). <?page no="168"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 169 nalen Sanktionensystems erneut der Repression zur Absicherung der gesellschaftlichen Ordnung. 48 Anders als solche wenigstens zeitweiligen Erfolge aufklärerisch inspirierter Justizpolitik, wie sie auch im österreichischen Mailand betrieben wurde, 49 versandeten solche Ansätze auf Sizilien bereits im Frühstadium angesichts des zähen Widerstand der Privilegierten. 50 Auf dem engeren Feld der justiziellen Institutionengeschichte ist heute wohl der Kirchenstaat das am dichtesten erforschte Territorium. Der Tagungsband eines fast ausschließlich von Archivarinnen und Archivaren bestrittenen Kongresses in Spoleto im November 1990 enthält allein achtzehn knappe, auf die praktische Weiterarbeit ausgerichtete Beiträge zur frühneuzeitlichen justiziellen Institutionengeschichte besonders Umbriens und der Marche (Gubbio, Perugia, Urbino, Foligno etc.). 51 Ein Band mit ähnlicher Zielsetzung liegt im Rahmen der Leopoldina-Serie für die Kriminaljustiz Sienas im 18. Jahrhundert vor. 52 Für die Metropole Rom ist ein Artikel des Berichterstatters zu nennen, in dem versucht wird, die praktische Arbeit der stadtrömischen Kriminalgerichte nicht mehr allein aus dem Blickwinkel der normativen Texte, sondern mit einer Kombination solcher Quellen mit den an diesen Gerichtshöfen produzierten Akten zu erfassen, und Spuren der alltäglichen Interaktion von Bevölkerung und Justizarbeit ans Licht zu bringen. 53 Die zentrale florentinische Strafverfolgungsbehörde der Otto di guardia e balìa, gegründet im 14. Jahrhundert als Staatsgerichtshof, hat 1992 eine gewichtige und umfassende Untersuchung von dem britischen Historiker John K. Brackett bekommen, 54 die sich ergänzen läßt durch eine Studie Elena Fasano Guarinis zur Indienstnahme dieser Behörde für die Herstellung von Loyalitätsbindungen an die Medicidynastie anläßlich eines verpfuschten Sexualstrafprozesses 1558. 55 Ähnliche Aufmerksamkeit hat während des Berichtszeitraums nur noch eine einzelne Justizbehörde erfahren, die venezianischen esecutori contro la bestemmia, ein 1537 eingerichteter Sonderausschuß des Consiglio dei Dieci zur Bekämpfung des Fluchens, der Blasphemie, des Glücksspiels und aller anderen Arten religiös und moralisch anstössigen Verhaltens; parallel zu den Dieci konnte dieser Ausschuß seine Befugnisse schnell aus- 47 Floriana Colao: ›Post tenebras spero lucem‹. La giustizia criminale senese nell’età delle riforme leopoldine, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 7). 48 Mario Da Passano: Il diritto penale toscano dai Lorena ai Borbone 1786 - 1807. Dalla mitigazione delle pene alla protezione che esige l’ordine pubblico, Milano 1988 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 3). 49 Zur vorbereitenden Diskussion hier vgl. Marzio A.Romano: ›Haec est regula recti‹: tentativi di disciplinamento sociale nella Lombardia in epoca teresiana, in: Le politiche (wie Anm. 44), 43 - 62. 50 Vittorio Sciuti Russi: La contrastata modernizzazione del sistema penale in Sicilia, in: Le politiche (wie Anm. 44), 143 - 174. 51 ›Pro tribunali sedentes‹. Le magistrature giudiziarie dello stato pontificio e i loro archivi (Atti del convegno di studi, Spoleto 8 - 10 novembre 1990), Archivi per la storia 4 (1991). 52 Sonia Adorni Fieschi/ Carla Zarrilli (a cura di): Leggi, magistrature, archivi. Repertorio di fonti normative ed archivistiche per la storia della giustizia criminale a Siena nel Settecento, Milano 1990 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 13). 53 Peter Blastenbrei: Zur Arbeitsweise der römischen Kriminalgerichte im späteren 16. Jahrhundert, in: QFIAB 71 (1991), 425 - 481. 54 John Brackett: Criminal justice and crime in late Renaissance Florence, 1537 - 1609, Cambridge/ New York 1992. 55 Elena Fasano Guarini: The prince, the judges and the law: Cosimo I and sexual violence, 1558, in: Dean/ Lowe (wie Anm. 5), 121 - 141. <?page no="169"?> Peter Blastenbrei 170 bauen, verlor sie mit der politischen Teilentmachtung der Dieci 1628 aber ebenso rasch wieder. 56 Ein kurzer Unterabschnitt zu Polizei und Gefängniswesen sei an die institutionengeschichtlichen Arbeiten angehängt. Die chronologisch älteste Periode behandelt ein Aufsatz des Berichterstatters zur römischen Polizeitruppe des späten 16. Jahrhunderts (sbirri). Ausgehend vom Massaker an den römischen sbirri im April 1583 wird ihre Struktur, ihre Arbeitsweise und ihre soziale und politische Rolle im Dauermachtkampf zwischen Papst und römischem Hochadel dargestellt, der ihnen schließlich zum Verhängnis wurde. 57 Die aufklärerischen Reformen im Polizeibereich, das Thema aller anderen Studien hier, setzten in Italien meist auf die Übernahme des Pariser Modells, so 1777 in der Toscana 58 und 1779 in Neapel. 59 Fast unvermeidlich folgte dann der nächste Schritt zur Trennung von Justiz und Polizei (Toscana 1784, Neapel 1798), allerdings läßt sich ungeachtet solcher organisatorischer Veränderungen gegen Ende des Jahrhunderts der Aufklärung überall ein Anwachsen der Kompetenzen der Polizei feststellen. Zum Gefängniswesen Mailands liegen zwei Studien vor, eine kürzere über die Zeit bis 1700 mit leicht irreführendem Titel 60 - auch in Mailand gab es zu dieser Zeit keine echte Gefängnisstrafe im modernen Sinn - und ein längerer Artikel zu den aufklärerisch beeinflußten Veränderungen des 18. Jahrhunderts. 61 Die überwiegende Zahl der bisher vorgestellten kriminalitäts- und justizhistorischen Arbeiten stammt wie selbstverständlich von Sozialhistorikern, und selbst dort, wo einmal ein Aufsatz von einem Rechtshistoriker verfaßt wurde, ist der Autor sozialhistorischen Fragestellungen nachgegangen. Damit ergibt sich für Italien grundsätzlich ein ähnliches, wenn auch nicht dasselbe Problem, wie es der Jenaer Rechtshistoriker Günter Jerouschek gerade eben für den deutschen Sprachraum thematisiert hat. 62 Gemeint ist das allmähliche, aber anscheinend unaufhaltsame Hinüberwachsen der historischen Kriminalitätsforschung von der Rechtsgeschichte als Zweig der Jurisprudenz zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte und verwandten Disziplinen, jedenfalls aber in den Bereich der Geschichtswissenschaft hinein. Doch nicht nur, daß dieser Prozeß in Italien noch nicht so weit gediehen ist wie bei uns, die Probleme methodischer Natur, die sich damit verbinden, sind in Italien viel früher und viel deutlicher von engagierten Rechts- 56 Gaetano Cozzi: Religione, moralità e giustizia a Venezia: vicende della magistratura degli esecutori contro la bestemmia (secoli XVI-XVII), in: Ateneo veneto 179 (Nuova serie, 29) (1991), 7 - 95. 57 Peter Blastenbrei: La quadratura del cerchio. Il bargello di Roma nella crisi sociale tardocinquecentesca, in: Dimensioni e problemi dell ricerca storica. Rivista del dipartimento di studi storici dal medioevo all’età contemporanea dell’università ›La Sapienza‹, Roma 1994, 1, 5 - 37. 58 Carlo Mangiò: La polizia toscana. Organizzazione e criteri d’intervento (1765 - 1808), Milano 1988 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 6) 59 Giorgia Alessi: Giustizia e polizia. Il controllo di una capitale: Napoli 1779 - 1803, Napoli 1992. Nicht zugänglich war mir Luigi Londei: Organizzazione della polizia e giustizia penale a Roma fra antico regime e restaurazione (1750 - 1820), ungedruckte tesì di laurea der Università di Roma I ›La Sapienza‹, 1987. 60 Giovanni Liva: Pena detentiva e carcere. Il caso della Milano ›spagnola‹, in: Emarginazione (wie Anm. 15), 9 - 25. 61 Alberto Liva: Carcere e diritto a Milano nell’età delle riforme: la casa di correzione e l’ergastolo da Maria Teresa a Giuseppe II, in: Le politiche (wie Anm. 44), 63 - 142. Vgl. zum Mailand der Aufklärung auch Italo Mereu: La pena di morte a Milano nel secolo di Beccaria, Vicenza 1988 (Nuovi saggi e studi di storia d’arte e della cultura 3). 62 Günter Jerouschek: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 110 (1998), 143. <?page no="170"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 171 historikern zur Sprache gebracht worden. Vor allem der Rechtshistoriker Mario Sbriccoli hat seit seiner Rede auf dem Kongress ›Storia sociale e dimensione giuridica‹ im April 1985 in Florenz - wie so oft in Italien bildete auch hier ein Kongress den thematischen Ausgangspunkt - dieses Problem immer wieder aufgegriffen und auf diese Weise zusammen mit seinen Schülern den einzigen genuin italienischen Beitrag zur internationalen Methodendiskussion während des Berichtszeitraumes geliefert. 1985 in Florenz 63 nahm Sbriccoli noch eine vermittelnde Position zwischen Rechts- und Sozialhistorikern ein und bezeichnete die Geschichte von Delinquenz und Kriminaljustiz sogar als ideales Feld der Kooperation; die Warnungen an seine engeren Fachkollegen, nicht ohne Not Terrain aufzugeben, und an die Sozialhistoriker, die normativ-juristische Dimension des frühmodernen Alltags nicht weiterhin zu vernachlässigen, waren dennoch nicht zu überhören. Zwei Jahre später warf Sbriccoli in einem durchaus polemisch formulierten 64 Aufsatz den Sozialhistorikern eine aus Unkenntnis eben der dimensione giuridica der Geschichte erwachsende unangemessene Benutzung und vielfältige Mißdeutung der aus dem Justizbereich stammenden und von Juristen produzierten Kriminalitätsquellen vor. 65 Die ja keineswegs auf Italien beschränkte Erkenntnis, daß die Justizarbeit aus vielerlei Gründen historische Delinquenz nicht einfach abspiegelt, verlockte Sbriccoli nicht zur Literarisierung des Quellenmaterials und auch nicht zur Flucht in mikrohistorische Unverbindlichkeiten, sondern führte ihn zu der nicht weniger radikalen Forderung, Quellen aus dem Kontext der Strafjustiz nur noch zur Erforschung der Arbeit der Justiz selbst, im weiteren Sinn also des justiziellen Umgangs mit Devianz und Delinquenz zu benutzen. Was die von Sbriccoli geforderte Geschichte der justiziellen Bearbeitung von Delinquenz als Teilzweig der Rechtswissenschaft, aber zugleich unter Berücksichtigung sozialhistorischer Forschungsergebnisse im besten Fall zu leisten vermag, zeigte der Macerateser Rechtshistoriker Luigi Lacchè mit seinem ebenfalls 1988 erschienenen Buch zum Raub als historischjuristischer Kategorie. 66 Das materialreiche, scharf analysierende, aber stellenweise durchaus im Stil Sbriccolis gegen die sozialhistorische Kriminalitätsforschung polemisierende Buch 67 gehört ohne Zweifel zu den besten italienischen Veröffentlichungen zur Kriminalitäts- und Strafjustizforschung im Berichtszeitraum überhaupt. Es stellt die juristischen Diskussionen um diese Deliktform vom 15. Jahrhundert bis zur Übernahme des Code Napoléon mit besonderem Gewicht auf dem Verfahrensrecht (immer ein Ausnahmedelikt! ) und der Straferkenntnis dar. Überaus eindrucksvoll ist dabei die Bedeutung normativer Äußerungen von Juristen, ohnehin 63 Mario Sbriccoli: Storia del diritto e storia della società. Questioni di metodo e problemi ricerca, in: Storia sociale e dimensione giuridica. Strumenti d’indagine e ipotesi di lavoro (Atti dell’incontro di studio, Firenze 26 - 27 aprile 1985), a cura di Paolo Grossi, Milano 1986 (Biblioteca del Centro di studi per la storia del pensiero giuridico moderno, 22), 127 - 148. Entgegnung aus sozialhistorischer Sicht Edoardo Grendi: Sulla ›storia criminale‹: risposta a Mario Sbriccoli, in: Quaderni storici 73 (1990), 269 - 275. 64 »L’opinione che il crimine abbia cause (...) possiede tutta la forza di inerzia«, »non negherò l’esistenza di qualche naif che concepisce la storia criminale come la scienza del determinato, della misura e della quantità (...)«: Sbriccoli: Fonti giudiziarie (wie Anm. 65), 492 - 493. 65 Mario Sbriccoli: Fonti giudiziarie e fonti giuridiche. Riflessioni sulla fase attuale degli studi di storia del crimine e della giustizia, in: Studi storici 29 (1988), 491 - 501. 66 Luigi Lacchè: Latrocinium. Giustizia, scienza penale e repressione del banditismo in antico regime, Milano 1988 (Università di Macerata. Publicazioni della Facoltà di giurisprudenza, 2a serie, 55). 67 »Una storia criminale senza il diritto è forse possibile, ma rischia a perdersi, alla fine, in un infruttuoso metodo impressionistico (...)«: Lacchè: Latrocinium (wie Anm. 66), 2 - 3. <?page no="171"?> Peter Blastenbrei 172 der gesellschaftlich unaufhaltsam aufsteigende Stand dieser Zeit, für den Umgang der Obrigkeiten mit dem Raub als Bandendelikt, ja selbst für die Entstehung des Delikttyps überhaupt. Ähnlich wie Lacchè für den Raub verfährt Domenico Zorzi für die Tötungsdelikte am Beispiel Paduas im 18. Jahrhundert 68 und Rita Filippi für das Delikt der Sachbeschädigung in den Statuten des mittelitalienischen Fleckens Magliano Sabina. 69 Mühelos anschließen lassen sich hier einige Arbeiten zum historischen Verfahrensrecht, das von italienischen Rechtshistorikern immer wieder stark beachtet worden ist. Luigi Lacchè hat selbst noch einmal einen verfahrensrechtlichen Aspekt gesondert behandelt, der bei der Diskussion um den Straßenraub eine zentrale Rolle spielt, das prozessrechtliche Ausnahmeverfahren bei außergewöhnlichen oder als außergewöhnlich empfundenen Straftaten zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. 70 Darunter fielen neben dem latrocinium und dem banditismo einige in der Definition wechselnde crimina atrociora, Vergehen von Militärpersonen und die Prominentenkriminalität. Mehrere Arbeiten aus dem venezianischen Raum thematisieren Rolle und Funktion der Aussagen im Prozeßverlauf. Dies ist für diese Region Italiens von besonderer Bedeutung, weil das venezianische Rechtssystem als Ausnahme in Italien und auch ansonsten in Europa für die Urteilsfindung nicht auf das Geständnis fixiert war, sondern auf die Gesamtschau der Zeugenaussagen. Prozeßrechtlich verschob sich damit das Problem auf die Manipulierbarkeit der Zeugen mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen, auf die Absprache unter Zeugen und den oftmals inadäquaten Umgang der Richter mit den Aussagen, wie sie Gianni Buganza an Beispielen zwischen 1561 und 1698 analysiert. 71 Vor demselben Hintergrund steht ein etwas früher erschienener Artikel Buganzas zum Blasphemiefall Guarnieri (1755/ 58), der in der Diskussion um die Reform des venezianischen Prozeßrechts eine Rolle spielte. 72 Zu den Besonderheiten des venezianischen Rechts gehörte nicht nur die genannte Gewichtsverschiebung bei den Elementen der Urteilsfindung, sondern auch der gefürchtete Rat der Zehn (Consiglio dei Dieci), der im Lauf der Zeit von einem Sondergerichtshof gegen die politischen Gegner der Republik zum höchsten Kriminalgericht Venedigs geworden war. Das eigene Verfahrensrecht (rito) der Dieci erlaubte die Verteidigung wahlweise durch gelehrte Anwälte oder durch den Angeklagten selbst, ohne aber irgendeine Bindung der richterlichen Entscheidungsfreiheit durch die vorgebrachten Argumente anzuerkennen. Wie gefährlich dies werden konnte, zeigt der von Gaetano Cozzi mit Hilfe der Verteidigungsschrift rekonstruierte Fall eines Vicentiner Adligen, der unter Mordanschuldigung diesen Weg in 68 Domenico Zorzi: Sull’amministrazione della giustizia penale nell’età delle riforme: il reato di omicidio nella Padova di fine Settecento, in: Crimine, giustizia e società veneta in età moderna, a cura di Luigi Berlinguer e Floriana Colao, Milano 1989 (La ›Leopoldina‹. Criminalità e giustizia criminale nel ’700 europeo. Ricerche coordinate da Luigi Berlinguer, 9), 27 3 -308. 69 Rita Filippi: Il danno dato nello statuto di Magliano Sabina ed alcune considerazioni sulle fonti giudiziarie della comunità in età moderna, in: ›Pro tribunali‹ (wie Anm. 51), 301 - 308. 70 Luigi Lacchè: ›Ordo non servatus‹. Anomalie processuali, giustizia militare e ›specialia‹ in antico regime, in: Studi storici 29 (1988), 361 - 384. 71 Gianni Buganza: Il potere delle parole. La forza e le reponsabilità della deposizione testimoniale nel processo penale veneziano (secoli XVI-XVII), in: La parola all’accusato, a cura di Jean-Claude Maire- Vigeur e Agostino Paravicini Bagliani, Palermo 1991, 124 - 138. 72 Gianni Buganza: Il teste e la testimonianza tra magistratura secolare e magistratura ecclesiastica, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti 145 (1986/ 87), 257 - 280. Verhörstrategien und Aussagestrukturen thematisiert auch Claudio Povolo: L’interrogatorio di un imputato in un processo penale degli inizi del ’600, in: La parola (wie Anm. 70), 139 - 153. <?page no="172"?> Neuere italienische Forschungen zu Delinquenz und Kriminaljustiz 173 der Hoffnung auf einen fairen Prozeß beschritt, schließlich aber 1726 nach siebenjähriger Haft ohne Prozeß im Gefängnis starb. 73 Bibliographie Anton Blok: Die Mafia in einem italienischen Dorf 1860 - 1960. Eine Studie über gewalttätige bäuerliche Unternehmer, Frankfurt a.M. 1981. Luigi Cajani: Giustizia e criminalità nella Roma del Settecento, in: Ricerche sulla città del Settecento, a cura di Vittorio Emanuele Giuntella, Roma 1978, 263 - 312. Oscar Di Simplicio: La criminalità a Siena (1561 - 1808). Problemi de ricerca, in: Quaderni storici 49 (1982), 242 - 264. Marzio A. Romani: Criminalità e giustizia nel ducato di Mantova alla fine del Cinquecento, in: Rivista storica italiana 92 (1980), 680 - 706. 73 Gaetano Cozzi: ›Ordo est ordinem non servare‹: considerazioni sulla procedura penale di un detenuto dal Consiglio dei X, in: Studi storici 29 (1988), 309 - 320. <?page no="174"?> 175 Jens Chr. V. Johansen Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern Bereits in den 40er Jahren wurden in Finnland Artikel und Bücher veröffentlicht, die auf Gerichtsaufzeichnungen basierten und die - in der Tradition von Norbert Elias - das Verhalten und die Mentalität der Finnen im 16. Jahrhundert zum Thema machten 1 . Da diese Artikel jedoch auf Finnisch oder Schwedisch verfaßt waren, blieben diese Pionierarbeiten jenen Wissenschaftlern verschlossen, die weder der einen noch der anderen Sprache mächtig waren 2 . Selbst unter denen, die mit diesen Sprachen vertraut waren, beschäftigte sich niemand weiter mit dieser Idee. Erst als in den siebziger Jahren der internationale Durchbruch der ›new legal history‹, ›legal anthropology‹, ›historischen Kriminalitätsforschung‹ oder ›historical criminology‹ (oder wie immer man die neue Forschungsrichtung ettikettieren möchte) erfolgte, wurde das Thema auch in Skandinavien erneut aufgegriffen. Wieder war es ein Finne, der den ersten Schritt unternahm. 1976 veröffentlichte Heikki Ylikangas auf Englisch einen Artikel über Gewaltverbrechen 3 . In den folgenden Jahren erschienen auch in den anderen skandinavischen Ländern 4 Artikel, jedoch in sehr unterschiedlicher Zahl: Während in Finnland, Norwegen und Schweden in großem Umfang geforscht wurde, blieb dieser Bereich in Dänemark mehr oder weniger vernachlässigt - warum. bleibt ein wenig rätselhaft. Während der achtziger Jahre wurden in den skandinavischen Ländern von den Geschichtsfakultäten mehrere Forschungsprogramme zur historischen Kriminalitätsforschung ins Leben gerufen. In Schweden war die Universität von Lund mit mehreren Projekten unter der Leitung von Eva Österberg führend; weitere Forschungen waren an der Universität von Umeå (Marja Taussi Sjöberg), an der Universität von Linköping (Jan Sundin) und an der Universität von Stockholm (Johan Söderberg) angesiedelt. In Norwegen erzielte die Universität von Oslo mit ihrem Forschungsprogramm über Gerichtaufzeichnungen unter der Leitung von Sölvi Sogner einen entscheidenden Durchbruch auf diesem Gebiet. In Finnland lenkte Heikki Ylikangas von der Universität von Helsinki die Aufmerksamkeit vieler Studierender auf die Kriminalitätsforschung. Dä- 1 Vgl. Veli Verkko: Våldsbrottslighetens utveckling och lagbundenhet i Sverige och Finland åren 1750 - 1940 in : Historisk tidsskrift för Finland 49 (1946) and Pentti Renvall: Suomalainen 1500-luvun ihminen oikeuskatsomustensa valossa, Turku 1949. 2 Skandinavien besteht aus fünf Ländern: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden. Schweden-Finnland kann vom späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert als Einheit betrachtet werden, genauso wie Dänemark-Norwegen-Island, die vom gleichen König regiert wurden. Man darf nicht vergessen, daß die Skandinavier untereinander normalerweise ihre Sprachen lesen können. Die Ausnahme bildet Finnisch, da es zu den finnougrischen Sprachen gehört. Da jedoch Schwedisch von klein auf in der Schule gelehrt wird, verstehen finnische Wissenschaftler diese Sprache. 3 Heikki Ylikangas: Major Fluctuations in Crimes of Violence in Finland: A Historical Analysis, in : Scandinavian Journal of History 1 (1976), 81 - 103. 4 Eva Österberg: Våld och våldsmentalitet bland bönder. Jämförande perspektiv på 1500och 1600-talens Sverige, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 49 (1983), 5 - 30; Hans Eyvind Næss: ›straffes på livet andre til eksempel og forskrekkelse‹. Kriminalitet og bruk av dødsstraff i Rogaland på 1600-tallet, in: Heimen 22 (1985), 53 - 59 und Jens Chr. V. Johansen/ Henrik Stevnsborg: Hasard ou myopie. Réflexions autour de deux théories de l’histoire du droit, in: Annales E.S.C. 41 (1986), 601 - 624. <?page no="175"?> Jens Chr. V. Johansen 176 nemark war das einzige Land, in dem es keine enge Verbindung zwischen dieser Forschungsrichtung und einer historischen Fakultät gab; die meisten Untersuchungen wurden von den wenigen Historikern innerhalb der Juristenfakultäten durchgeführt. Diese strukturelle Differenz hatte zur Folge, daß nur wenige Studierende der ›New Legal History‹ etwas abgewinnen konnten; Studierende wollten ihre Zeit nicht mit einem Thema vergeuden, das sie in ihrer Karriereplanung kaum weiterbringen konnte. Nach einer Konferenz in Oslo im Herbst 1990 über ›Gerichtsaufzeichnungen als historische Quellen‹ und einer Tagung über ›Verbrechensentwicklung und soziale Kontrolle vor 1800‹ im Rahmen des XXI. Treffens skandinavischer Historiker in Umeå im Sommer 1991 wurde im Herbst 1992 ein dreijähriges skandinavisches Gemeinschaftsprojekt ›Normen und soziale Kontrolle in Skandinavien zwischen ca.1550 - 1850: Gerichte und Ortsverbände‹ unter der gemeinsamen Leitung von Eva Österberg, Sölvi Sogner, dem dänischen Professor für ›Legal History‹, Ditlev Tamm und Heikki Ylikangas ins Leben gerufen, das vom ›Scandinavian Research Council for the Humanities‹ gefördert wurde. Für das XXII. Treffen skandinavischer Historiker wurde 1994 ein vorläufiger Bericht, der sich mit dem Gerichtssystem, Gewalt, Diffamierung, Hexerei sowie sexuellen und ökonomischen Verbrechen beschäftigte, veröffentlicht. 5 Als Ergebnis dieses Projektes wird demnächst ein Buch mit dem Titel ›Control, Conflicts and Consensus: People Meet the Law. Scandinavia in the Early Modern Period‹ veröffentlicht. Einer der spannendsten Aspekte in der skandinavischen Forschung über Gerichtsaufzeichnungen ist der unausgesprochene Konflikt zwischen denen, die sich mit ›Kriminalität‹ beschäftigen, um gesamtgesellschaftliche Entwicklungen - ob durch Norbert Elias’ Zivilisationstheorie oder durch Michel Foucaults Theorie des ›Überwachens und Strafens‹ inspiriert - besser verstehen zu können, und jenen, die einen engeren rechtsgeschichtlichen Rahmen wählen, um sowohl Kriminalals auch Zivilprozesse, z.B. um Schulden und Erbschaft, zu studieren. Allerdings muß gesagt werden, daß die Erforschung der ›civil litigation‹ in Skandinavien ebenso wie im übrigen Europa vernachlässigt wurde. 6 Inger Dübeck (heute Professor für Erbrecht an der Universität Århus, ursprünglich aber Rechtshistoriker), Anu Pylkkänen (Universität Helsinki), und die Historiker Hilde Sandvik (Universität Oslo), Maria Ågren (Universität Uppsala) und Grethe Jacobsen (Königliche Bibliothek Kopenhagen) bilden bisher die einzigen Ausnahmen. 7 5 Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994. 6 Beim Vergleich der Ergebnisse der skandinavischen Ländern können Schwierigkeiten entstehen, da die Statistik der dänischen Forschung auf einer Zählung aller Aktivitäten des Gerichts (Zivil- und Strafprozesse) basiert, während in den anderen Ländern nur die Strafprozesse gezählt wurden. 7 Vgl. Inger Dübeck: Købekoner og konkurrence. Studier over myndighedsog erhvervsrettens udvikling med stadigt henblik på kvinders historiske retsstilling, København 1978; Anu Pylkkänen: Puoli vuodetta, lukot ja avaimet. Nainen ja maalaistalous oikekeuskäysännön valossa 1660 - 1710, Helsinki 1990; Hilde Sandvik: ›Umyndige‹ kvinner i handel og håndværk. Kvinner i bynæringer i Christiania i siste halvdel av 1700-tallet, Oslo 1992; Maria Ågren: Jord och gäld. Social skiktning och rättslig konflikt i södra Dalarna ca 1650 - 1850, Uppsala 1992 und Grethe Jacobsen: Kvinder, køn og købstadslovgivning 1400 - 1600 - lovfaste Mænd og ærlige Kvinder, København 1995. <?page no="176"?> Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 177 Gesetze und Gerichtsinstanzen Innerhalb des abendländisch-europäischen Rechts können vier Gesetzesfamilien unterschieden werden: römisches Recht, deutsches Recht, anglo-amerikanisches ›Common Law‹ und skandinavisches Recht 8 , wobei es im skandinavischen Recht wiederum Unterschiede gab. Seit dem Mittelalter hatten die verschiedenen Provinzen der einzelnen Länder ihre eigenen Gesetze. Norwegen besaß jedoch seit ca. 1270 mit den Gesetzen von Magnus Lagabøter schon sehr früh ein gemeinsames Rechtssystem. Um 1350 folgte Schweden mit den Gesetzen von Magnus Eriksson. Dänemark erlangte erst 1683 mit der Veröffentlichung eines »dänisches Gesetz« genannten Kodex ein gemeinsames Recht. Auch die Gerichtssysteme unterschieden sich: Dänemark-Norwegen hatten ein dreigliedriges, Schweden-Finnland im allgemeinen ein zweigliedriges System. In den ersten beiden Ländern wirkten sowohl in ländlichen als auch städtischen Gebieten lokale Gerichte unter dem Vorsitz eines Vogtes. Von diesen Gerichten konnten Fälle vor ein Provinzialgericht unter adligem Vorsitz gebracht werden; als letzte Appellationsinstanz fungierte ein Oberster Gerichtshof, der aus dem König und dem königlichen Rat bestand. 9 In Schweden und Finnland spielten die Geschworenen auf der Gemeindeebene eine weit wichtigere Rolle, obwohl die Gerichte unter dem Vorsitz eines Richters tagten, der von der Obrigkeit eingesetzt wurde. Kriminalsachen, die mit peinlichen Strafen sanktioniert werden konnten, sollten vor eines der nach 1614 gegründeten Hochgerichte gebracht werden. Die anderen Fälle wurden erst- und letztinstanzlich vor den örtlichen Gerichten verhandelt. Alle Gerichte bearbeiteten im übrigen sowohl Zivilals auch Strafsachen. In Dänemark ist es schwer zu sagen, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, daß die Beteiligten einen Fall vor das Höchste Gericht brachten. Aber seit Mitte des 17. Jahrhunderts spielte die geographische Nähe zu Kopenhagen eine wichtige Rolle, und so ist es bezeichnend, daß weniger als 10% der Berufungen von der Halbinsel Jütland kamen. 10 Ein gemeinsames Merkmal des skandinavischen Rechtssystems im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ist, daß meistens Laienrichter ohne juristische Ausbildung den Gerichten vorsaßen. Nach der Einführung der Hochgerichte in Schweden änderte sich dies: Bereits 1640 hatten 4 von 13 Richtern einen juristischen Doktortitel, 1662 war diese Zahl bereits auf 6 angewachsen. 11 In Dänemark hatte dagegen kein einziger Richter am obersten Gerichtshof eine ähnliche Ausbildung. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Schweden-Finnland und Dänemark-Norwegen bestand in der Verpflichtung der örtlichen Gerichte in Schweden-Finnland, nach der Einführung der Hochgerichtshöfe jährlich die Gerichtsakten zur Überprüfung an diese Oberinstanzen zu schicken. So entstand ein viel zentralisierteres Gerichtssystem als in Dänemark- Norwegen. Seither verfügen wir über zwei getrennte Überlieferungen, nämlich über diejenige des lokalen Gerichts und die aus dem Archiv des Hochgerichts. 8 Konrad Zweigert/ Heinz Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.Aufl. Tübingen 1996. 9 Dies ist eine Beschreibung der Situation bis zur Einführung des Absolutismus 1660; seit dieser Zeit wurden auch Richter von ›bürgerlicher‹ Herkunft Mitglieder der Provinzialgerichte und des Hohen Gerichts. 10 Vgl. Ditlev Tamm/ Jens Chr. V. Johansen: Retssystemerne i Norden, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstole i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 32 - 44: 35. 11 Rudolf Thunander: Hovrätten i funktion. Göta Hovrätt och brottmålen 1635 - 1699, Lund 1993, 32f. <?page no="177"?> Jens Chr. V. Johansen 178 Ein Zankapfel in der skandinavischen Forschung ist die Frage, wie die soziale Kontrolle außer- und unterhalb der gewöhnlichen Gerichte untersucht werden kann. In Schweden scheinen die sogenannten ›Sockenstämmor‹ (Kirchgemeindeversammlungen) von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung sozialer Kontrolle gewesen zu sein; normalerweise wurden davon Aufzeichnungen gemacht. In Norwegen wurde, wahrscheinlich auf Grund der großen Entfernungen, nie ein ähnliches System ins Leben gerufen, während es in Dänemark Dorfversammlungen gab. Bedauerlicherweise sind außer den Satzungen der Versammlungen keine Quellen erhalten. Ein wichtiger Unterschied zwischen Schweden und Dänemark war, daß die schwedischen Gemeindeversammlungen die Zustimmung der Obrigkeit genossen. 1650 wurden ihre Kompetenzen zum erstenmal durch Privilegien für die Geistlichen beschnitten. 1723 wurde eine Aufgabenverteilung zwischen den weltlichen Gerichten und den Kirchengemeinderäten beschlossen. Die letzteren sollten sich unter anderem um Handlungen kümmern, für die keine gesetzliche Bestrafung vorgesehen und die dementsprechend nicht vor einem regulären Gericht verhandelbar waren. In der Praxis verwischte sich die klare Arbeitsteilung, da Kirchengemeinderäte auch bei kleineren Gewalttaten (oft in oder außerhalb der Kirche) oder bei geringem Diebstahl Strafen verhängten. Allerdings machten derartige Dinge niemals den Hauptteil der Arbeit der Kirchengemeinderäte aus; sie beschäftigten sich vor allem mit den Gebäuden der Kirche, mit Finanzfragen und zunehmend mit der Armenfürsorge. Auch in Schweden entstanden während des späten 18. Jahrhunderts Gemeinderäte. Wie sie funktionierten, ist jedoch unklar. 12 Ähnliches gilt für Finnland. Im Unterschied dazu versuchten die Gemeinderäte in Dänemark, gegen die gewöhnlichen Gerichte anzutreten, und dies mit einigem Erfolg. Viele Statuten schrieben vor, daß kein Bauer wegen einer geringfügigen Straftat vor einem gewöhnlichen Gericht prozessieren durfte; stattdessen sollte sie vor die Gemeinderatsversammlung gebracht werden, wo dann die schuldige Partei eine Strafe zahlen mußte. Diese bestand normalerweise in einem Faß Bier für das nächste Treffen. Die weltlichen Autoritäten verloren so eine wichtige Einnahmequelle 13 und sie forderten wiederholt, daß auch derartige Fälle vor einem weltlichen Gericht entschieden werden sollten. Die geistlichen Gerichte beschäftigten sich hauptsächlich mit Ehefällen. Auch hier gab es innerhalb der skandinavischen Länder Unterschiede. Während die schwedischen Gerichte (die wie vor der Reformation immer noch ›Domkapitel‹ genannt wurden) sich einmal im Monat trafen, trafen sich die Dänen nur viermal im Jahr. Im Gegensatz dazu kamen die weltlichen Gerichte in den ländlichen Gebieten Schwedens zwei oder drei Mal im Jahr zusammen, in Dänemark aber jede Woche (außer während der Erntezeit, wo sie ihre Versammlungen nur zweimal im Monat abhielten). Dieser Aspekt wurde jedoch in der skandinavischen Forschung nie berücksichtigt. Der Unterschied zeigt sich daran, daß das ›Domkapitel‹ im schwedischen Ort Växjö von 1650 bis 1654 jedes Jahr 15 Mal in Ehefällen Recht sprach, während das gleiche Gericht im norwegischen Ort Bergen nur fünf Fälle pro Jahr zwischen 1604 und 1708 verhandelte 14 . Die schwedi- 12 Vgl. Björn Furuhagen: Berusade bönder och bråkiga båtsmän. Social kontroll vid sockenstämmor och ting under 1700-talet, Stockholm 1996, 218. 13 Dasselbe System kann in den Zünften beobachtet werden. 14 Hanne-Marie Johansen: Dømt til eksteskap? Enn rettsog sosialhistorisk undersøkelse av ekteskapssakene ved Kapitelretten i Bergen 1604 - 1708, (Hovedoppgave i historie, Universitetet i Bergen 1984), 62f. <?page no="178"?> Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 179 schen Gerichte wurden hauptsächlich von Frauen aufgesucht, deren Tätigkeit sie, um es mit den Worten von Malin Lennartsson zu sagen, als eine Art »Familientherapie« ansahen. Das ›Domkapitel‹ beschäftigte sich auch viel intensiver mit Sexualverbrechen als die Dänen. Hexerei Obwohl die Hexerei ebenso wie z.B. Bigamie oder Diebstahl als ein gewöhnliches Verbrechen betrachtet werden kann, das von normalen Gerichten abgeurteilt wurde, hat das Delikt der Hexerei im europäischen Kontext ein historiographisches Eigenleben geführt. Auch in den skandinavischen Ländern zog es außergewöhnlich starke Aufmerksamkeit auf sich. Verglichen mit dem internationalen Durchbruch der modernen Hexenforschung 15 wurde die Hexerei in Skandinavien schon früh erforscht; wobei wiederum Finnland führend war, dicht gefolgt von Schweden. 16 Die Hexenprozesse unterschieden sich in den einzelnen skandinavischen Ländern enorm. 17 Zunächst zeigt eine chronologische Betrachtung, daß die Prozesse in Dänemark in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stattfanden, während sie in den anderen Ländern erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzten. Zwischen 1609 und 1687 wissen wir von 494 Prozessen auf der dänischen Halbinsel Jütland, von denen jedoch um die 60% zwischen 1617 und 1625 stattfanden. Die tatsächliche Anzahl der Prozesse in Schweden wird nie genau bekannt werden, weil das Archivmaterial vernichtet ist, aber es scheint, daß sie nach 1600 anstieg. Der Anstieg erreichte jedoch nie die Ausmaße der sogenannten »Blåkulla - Prozesse« 18 zwischen 1668 und 1675. Ein ähnliches Bild präsentiert sich in Finnland, wo 20% der bekannten Prozesse zwischen 1520 und 1639 stattfanden. In Norwegen kann der Höhepunkt der Prozesse in den Jahren nach 1650 angesetzt werden. 19 Die chronologische Betrachtung hilft vielleicht zu klären, warum die finnischschwedischen Prozesse meistens Anklagen wegen Teilnahme am Hexensabbat beinhalteten 20 , während die dänischen und bis zu einem gewissen Grade auch die norwegischen Prozesse sich auf Anschuldigungen wegen Schadenszaubers (Maleficium) beschränkten. 21 Daneben ist der Umfang an dämonologischer Literatur zu berücksichti- 15 Dieser ist zeitlich bestimmt durch die Veröffentlichungen von Alan Macfarlane’s Witchcraft in Tudor and Stuart England im Jahre 1970 und Keith Thomas’ Religion and the Decline of Magic aus dem Jahre 1971. 16 Antero Heikkinen: Paholaisen liittolaiset. Noitaja magiakäsityjsiä ja -oikeudenkäyntejä soumessa 1600-luvun jälkipuoliskolla, Helsinki 1969 ( mit einer ausführlichen englischen Zusammenfassung: Alllies of the Devil. Notions of Witchcraft and Demonic Magic and Trials for Witchcraft and Demonic Magic in the late 17th Century Finland) und Benkt Ankarloo: Trolldomsprocesserna i Sverige, Stockholm 1971. 17 Das folgende basiert auf Jens Chr. V. Johansen: Trolddom, in Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfunnet, Oslo 1994, 87 - 102. 18 Nach dem Treffpunkt der Hexen benannt. 19 Die jüngere Forschung über Hexenprozesse in Norwegen stimmt nicht ganz mit diesem Bild überein; vgl. Gunnar W. Knutsen: Trolldomsprosessene på Østlandet (Hovedoppgave i historie, Universitetet i Oslo 1996). 20 Obwohl als Thema noch zu erforschen, mag die starke schwedische Teilnahme am dreißigjährigen Krieg ein Teil der Antwort sein. 21 Allerdings wurden die Norwegischen Prozesse nach 1650 auch mit Erzählungen über den Hexensabbat eingefärbt. <?page no="179"?> Jens Chr. V. Johansen 180 gen: Aus Dänemark sind aus dem 17. Jahrhundert nur drei Veröffentlichungen bekannt (alle aus dem letzten Jahrhundertviertel), während sich die Anzahl in Schweden-Finnland auf 13 beläuft, von denen sechs vor der Jahrhundertmitte veröffentlicht wurden. Während des 17. Jahrhunderts wurden vier isländische dämonologische Werke gedruckt, die allerdings die Struktur der Prozesse auf der Insel nicht beeinflußten. Auch der Anteil der Geschlechter an den Angeschuldigten differierte in den skandinavischen Ländern. In Dänemark-Norwegen ähnelte er dem englischen Muster mit einem Frauenanteil von fast 90 Prozent unter den Angeklagten. Das isländische Muster mit nur zehn angeklagten Frauen unter den 120 in Prozesse verwickelten Personen ist diametral entgegengesetzt. 22 Im späten 16. Jahrhundert machten in Finnland Männer fast 60% der Angeklagten aus, während im 17. Jahrhundert der Frauenanteil stieg, ohne jemals zu überwiegen. Das mag damit zu tun haben, daß bei vielen Fällen die traditionelle Magie im Zentrum stand. Nach dem alten religiösen Glaubenssystem der Finnen standen die bei magischen Handlungen beteiligten Geister mit den Männern und nicht mit den Frauen in Verbindung. 23 Schmähung und Beleidigung Forschungen über Schmähungen und Beleidigungen in den skandinavischen Ländern werden durch die Tatsache behindert, daß in den Gerichtsquellen weitgehend Informationen über die tatsächlichen Redewendungen und Begriffe, die zu Beleidigungsklagen führten, fehlen. 24 Wir wissen, daß die Wörter »Hure« und »Hexe« speziell zur Diffamierung von Frauen und die Termini »Schelm« und »Dieb« Männern gegenüber benutzt wurden. Erwähnenswert ist, daß Beleidigungen mit religiösen Konnotationen, wie sie in den südeuropäischen Ländern nachgewiesen sind, so gut wie nicht auffindbar sind. 25 Welche große Bedeutung der persönlichen Ehre zukam, läßt sich im Kontext des Rechts unmittelbar plausibel machen, denn eine ehrlose Person konnte nicht an gerichtlichen Verfahren teilnehmen. Während des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts waren Injurien oft Auslöser für Gewalttaten. Später änderte sich das jedoch. Hans Eyvind Næss hat festgestellt, daß in Stavanger an der norwegischen Westküste eine steigende Zahl von Staatsbeamten in drastische Fälle von Ehrverletzungen verwickelt war. Offenbar wurde das Konzept der Ehre hier zugunsten der Etablierung einer neuen, starken und aufstrebenden Gruppe eingesetzt. 26 Dies gilt auch für Finnland. 1670 wurde ein finnischer Landwirt zum Tode verurteilt, weil er in betrunkenem Zustand geäußert hatte, der Bischof habe seinen kostbaren Hut von Huren in Reval gekauft. Das Gericht entschied, diese Schmähung sei strafbar sowohl aufgrund der Geistlichen als auch aufgrund des Angriff auf die Wür- 22 Kirsten Hastrup: Iceland: Sorcerers and Paganism, in: Bengt Ankarloo/ Gustav Henningsen (Hg.): Early Modern European Witchcraft: Centres and Peripheries. Oxford 1990, 383 - 401: 386. 23 Antero Heikinen/ Timo Kervinen: Finland: The Male Domination in: Ankarloo/ Henningsen: Early Modern European Witchcraft (wie Anm. 22), 319 - 338: 321 - 325. 24 Erling Sandmo: Æren og ærekrnkelsen, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet. Oslo 1994, 81 - 86: 83. 25 Jaime Contreras: El Santo Oficio de la Inquisicion en Galicia 1560 - 1700. Poder, Sociedad y cultura, Madrid 1982, 654 - 662. 26 Sandmo: Æren (wie Anm.24), 83f. <?page no="180"?> Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 181 de des Bischofsamtes. 27 Die ›laws of privilegies‹ schützten Menschen mit hohem gesellschaftlichen Status vor Schmähungen durch Angehörige sozial niedriger Schichten. Zumindest im Finnland des 16. Jahrhunderts kann eine gesellschaftliche Differenz festgestellt werden zwischen Menschen, die Gewaltverbrechen begingen, und denjenen, die zum Mittel der Schmähung griffen. Erstere kamen meist aus den niedrigen Schichten der Gesellschaft, während sich die Injuranten aus Amtsträgern und den höheren Schichten der ländlichen Gesellschaft zusammensetzten. 28 Gerichte, die über Ehrverletzungen urteilten, definierten auch die sozialen Grenzen der Gesellschaft neu. Was den Unterschied der Geschlechter angeht, so scheint es evident, daß die Ehre der Frauen stärker mit Sexualität verknüpft war als die der Männer. Es sollte jedoch betont werden, daß Männer, die wegen Sodomie angeklagt und überführt wurden, als Entehrte betrachtet wurden. 29 Sexualverbrechen Wie in anderen lutheranischen und reformierten Regionen wurden in den skandinavischen Ländern nach der Reformation die sexuellen Sitten genauer unter die Lupe genommen. Sexualität wurde kriminalisiert und auf völlig neue Weise bestraft. Den Geistlichen wurde die Aufgabe zuteil, die Sexualität vor allem vor und neben der Ehe zu kontrollieren. Die Gesetze für Ehebruch, Unzucht und Inzest wurden verschärft. 30 Obwohl nach der Reformation prinzipiell die weltlichen Gerichte die Rechtssprechung bei Sexualverbrechen übernehmen sollten, wurde zumindest von finnischen Kirchengerichten diese Art des Vergehens bis weit ins 17. Jahrhundert weiter bearbeitet. 31 Der Anteil der Sexualverbrechen war am Anfang des 17.Jahrhundert mit 10% eher gering, in Finnland lag er sogar noch niedriger. Danach begann er zu steigen. In einigen Regionen Norwegens waren im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts Sexualdelikte die meistgeahndeten Straftaten, obwohl signifikante regionale Unterschiede existierten. 32 Zwischen 1641 und 1650 machten in Island Sexualdelikte mehr als 90% aller Vergehen auf der Insel aus. 33 Die Kontrolle des Sexualverhaltens gestaltete sich in den Städten weniger effektiv als auf dem Lande, wie am Beispiel der dänischen Insel Falster studiert werden kann. 34 In den meisten Fällen ging es um Unzucht; ungefähr 75% aller Sexualdelikte in skandinavischen Ländern fielen unter diese Kategorie 35 , wobei Finnland mit 88% an der Spitze liegt. 36 27 Heikki Ylikangas: Väkivaltarkosten motivaatiopohja 1500-livulla Suomessa, in: Historiallinen Arkisto 65 (1971), 86 - 205: 137. 28 Ylikangas: Väkivaltarikosten (wie Anm. 27), 164ff. 29 Jonas Liliequist: Brott, synd och straff. Tidelagsbrottet i Sverige på 1600och 1700-talet Umeå 1992, 146f. 30 Gísli Ágúst Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott i Norden 1550 - 1850, in Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1 5 5 0 -1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 105. 31 Seppo Aalto: Sedlighetsbrottslighetens sociala bakgrund i Borgå län 1670 - 1690, in: Historisk Tidskrift för Finland 75 (1990). 32 Margit Løyland: Slagsmål, leiermål og bøtlagte egder 1 6 0 0 -1700, Oslo 1992, 45. 33 Thorgeir Kjartansson: Stóridómur, in: Sagnir 3 (1982), 2 - 12: 10. 34 Jens Chr. V. Johansen: Falster and Elsinore 1680 - 1705: a comparative study of rural and urban crime, in: Social History 15 (1990), 97 - 109: 102. 35 Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott (wie Anm. 30), 117. <?page no="181"?> Jens Chr. V. Johansen 182 Während des 17.Jahrhunderts änderte sich die traditionelle Sichtweise, daß es in der Regel die Männer waren, die den Frauen und ihren Familien Wiedergutmachung zu leisten hatten; nun wurden beide Parteien als strafwürdige Sünder behandelt. Bei Fällen von vorehelicher Unzucht betonte die Obrigkeit vor allem deswegen die Verantwortung der Väter, da sie befürchtete, die Männer würden sich andernfalls um ihre Pflicht zur Sorge um ihren Nachwuchs drücken und so die Kosten für die öffentliche Wohlfahrt steigern. 37 In Finnland und Norwegen wurden die Geldstrafen herabgesetzt, wenn sich das Paar zur Heirat entschloß. In Norwegen zahlten meist die Frauen die Strafgelder, da es sich bei den Männern in drei von vier Fällen um Soldaten handelte, die bei ihrer ersten Involvierung in einen Unzuchtsfall nicht zahlen mußten. In Schweden waren Männer nur zur Bußzahlung verpflichtet, wenn es sich bei den beteiligten Frauen um Jungfrauen handelte. Seit 1694 wurden sowohl Männer als auch Frauen der Unzucht angeklagt; durch die enge Zusammenarbeit zwischen Klerus und Gericht wurden beide Parteien zu Strafgeldern, die Männer überdies zur Zahlung eines Kindergeldes, verurteilt. Offensichtlich funktionierte dieses Konzept bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, als immer mehr Männer die Vaterschaft abstritten. 38 Sexualverbrechen wurden zunehmend zu dem Kriminaldelikt mit der größten Beteiligung von Frauen; die Zahl der weiblichen Verurteilten stieg ständig an. 39 Normalerweise kamen diese Frauen aus der gesellschaftlichen Unterschicht. Beamten- und Adelstöchter trifft man selten an. In Finnland waren nicht weniger als 13% der wegen Sexualdelikten verurteilten Männer aus der Oberschicht, zumeist Offiziere der Armee. Der Prozentsatz der Frauen aus denselben gesellschaftlichen Gruppen lag bei nur 0,4%. 40 Im späten 18. Jahrhundert begannen die Obrigkeiten, die Unzucht zu entkriminalisieren. Diebstahl Obwohl der Diebstahl in der Diskussion um die ›de la violence au vol‹-These, die seit den frühen 1960ern geführt wurde, eine wesentliche Rolle spielte 41 , beschäftigten sich nur wenige Forscher ernsthaft mit diesem Delikt. Die einzige Ausnahme bildet die Norwegerin Bodil C. Erichsen, die in ihrem Buch über Kristiania ein wichtiges Kapitel dem Diebstahl gewidmet hat. 42 Während des 16. und fast des gesamten 17. Jahrhunderts war der Prozentsatz von Diebstählen im Vergleich mit anderen Delikten sehr niedrig; völlig in Übereinklang mit der Theorie wurde die 10%-Marke kaum überschritten. 43 In der kleinen schwedischen Stadt Vadstena stieg jedoch der Prozentsatz 36 Aalto: Sedlighetsbrottsligheten (wie Anm. 31), 228 37 Marie Lindstedt Cronberg: Synd och skam. Ogifte mödrar på svensk landsbygd 1680 - 1880, Lund 1997, 176f. 38 Gunnlaugsson: Sedlighetsbrott (wie Anm. 30), 133. 39 Lindstedt Cronberg: Synd (wie Anm. 37), 85f. 40 Aalto: Sedlighetsbrottsligheten (wie Anm. 31). 41 Vgl. Xavier Rousseaux: Existe-t-il une criminalité d´Ancien Régime? Réflexions sur l´histoire de la criminalité en Europe (XIVe -XVIIIe siècle) in Benoît Garnot (Hg.): Histoire et criminalité de l´antiquité au XXe siècle. Nouvelles approches, Dijon 1992, 123 - 148. 42 Bodil Chr. Erichsen: Kriminalitet og rettsvesen i Kristiania på slutten av 1600-tallet. Oslo 1993. 43 Eva Österberg/ Dag Lindström: Crime, and Social Control in Medeieval and Early Modern Swedish Towns, Uppsala 1988, 47 und Petri Karonen: Brottsligheten i städerna i egentliga Finland och Satakunta i början av 1600-talet, in: Historisk Tidskrift för Finland 79 (1994), 75 - 102: 82 - 85. <?page no="182"?> Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 183 während des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhundert auf erstaunliche 16%. 44 Nur im Osten Finnlands wird man Zeuge eines frühen Anstieges; in Savolax von 10% im Jahre 1566 auf 40% im Jahre 1610. In den großen Wäldern mit ihrer Brandrodungsagrikultur waren die Eigentumsgrenzen unsicher. Wenn die Bauern Wälder niederbrannten, um neues Land zu beanspruchen, war es leicht, sich über die zuvor festgelegten Feldergrenzen hinwegzusetzen. Bodil C. Erichsen betont den Gegensatz zwischen der niedrigen Diebstahlrate im späten 17. Jahrhundert in Norwegen und der intensiven zeitgenössischen Diskussion und der Furcht vor diesem Verbrechen. Als Folge dieser Diskussion wurde die Todesstrafe, die 1687 mit dem neuen norwegischen Gesetzeskodex abgeschafft worden war, 1690 wieder eingeführt. Die niedrige Diebstahlsrate verdankte sich jedoch der großen finanziellen Belastung, die ein gerichtliches Vorgehen für private Ankläger bedeutete. Wenn sie selbst kein Geld zum Klagen hatten, konnten arme Leute nicht von der Obrigkeit erwarten, für sie einzuspringen. In Kristiania war die Obrigkeit eher geneigt, reichen Opfern zu helfen. 45 Im Vergleich zu den Städten weisen ländliche Gegenden eine niedrigere Diebstahlsrate auf. In Schweden gilt das sogar noch für die Mitte des 18. Jahrhunderts. Aber dort begingen erstaunlicherweise die reicheren Angehörigen der ländlichen Gesellschaft dieses Verbrechen. 46 Daß die Anzahl der Diebstähle aber auch in den skandinavischen Städten begrenzt war, muß vielleicht auch vor dem Hintergrund deren bescheidener Größe gesehen werden. Nur die Hauptstädte Kopenhagen und Stockholm hatten mehr als 4.000 Einwohner. Dort lag die Diebstahlrate wahrscheinlich beträchtlich höher als in anderen Städten. 47 In den ersten 25 Jahren des 17. Jahrhunderts erreichte der Prozentsatz in Stockholm 25%. 48 Wir haben keine Zahlen für Kopenhagen, aber es war sicherlich kein Zufall, daß 1686 in Kopenhagen extra ein neues Gericht für Fälle von Diebstahl eingerichtet wurde. 49 In allen skandinavischen Ländern schließlich begann die Anzahl der Diebstähle im Laufe des späten 18. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts zu steigen. 50 Gewalttaten Es ist kaum eine Überraschung, daß die verschiedenen Formen der Gewalt, soweit die Quellen zurückreichen, das Feld der Kriminalität in den skandinavischen Ländern dominierten. 51 Dabei scheint ein allgemeines Einvernehmen darüber zu bestehen, daß ›geringfügige‹ Gewalt vorherrschte. Totschlag und Mord waren relativ selten. 52 Zwischen 1643 und 1705 wurden nur vier Fälle von Mord vor das Hohe Gericht von Stavanger in 44 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 54. 45 Bodil Chr. Erichsen: Norsk strafferettspraksis på slutten av 1600-tallet: forskjellsbehandling på økonomisk gruunlag, in: (Norsk) Historisk tidsskrift 75 (1994), 145 - 160: 158. 46 Vgl. Johansen: Falster (wie Anm. 33), 102 und Furuhagen: Berusade bönder (wie Anm. 12), 71 und 99. 47 Für Stockholm vgl. Hans Andersson: Genus och rättskultur. Kvinnlig brottslighet i stormaktstidens Stockholm, in: (Svensk) Historisk tidsskrift 1995: 2, 129 - 159: 144 - 147. 48 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm.43), 85. 49 Henrik Stevnsborg: ›Samfundets‹ og ›statens‹ strafferetspleje. Lovgivning og praksis i Københavnske prostitutionssager i slutningen af det 17. og begyndelsen af det 18. århundrede, in: (Dansk) Historisk tidsskrift 82 (1982), 1 - 26: 14. 50 Johansen/ Stevnsborg: Hasard, (wie Anm.4), 608 - 614. <?page no="183"?> Jens Chr. V. Johansen 184 Norwegen gebracht. 53 Auf eine ähnlich geringe Anzahl kommt man in ganz Norwegen. Eine Beobachtung aus der norwegischen Gerichtspraxis vermag jedoch Zweifel an diesem Befund zu wecken. Um sich des korrekten Urteils sicher zu sein, konsultierte der Richter des lokalen Gerichts das übergeordnete Hochgericht, bevor er sein eigenes Urteil verlas. Dies passierte auch in Fällen von Totschlag. 54 Diese Fälle jedoch tauchen in den Aufzeichnungen des Hohen Gerichts nie auf. Zu einem geringeren Grad scheint auch die in der Praxis mögliche Purgation von Tötungen, die bis 1687 sogar Morde einschloß, für die geringe Zahl der nachgewiesenen Fälle verantwortlich zu sein. 55 In den Amtsberichten von Stavanger taucht zudem eine sehr viel höhere Zahl auf: Zwischen 1610 bis 1660 stößt man auf 54 Mordfälle, wobei ein Höhepunkt in den 30er Jahren lag. In Norwegen dominierten bis Mitte des 17. Jahrhunderts geringfügige Gewalttaten. Verglichen mit den Morden in Stavanger finden wir von 1623 bis 1629 232 Fälle von Übergriffen, und in den Aufzeichnungen von Nedenes und Lista sind die Zahlen für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ähnlich hoch. 56 Um 1700 geht die Zahl der Morde wie auch der Übergriffe zurück. Von den Aufzeichnungen über Geldbußen des schwedischen Hochgerichts wurde in der Forschung reger Gebrauch gemacht; ihnen zufolge ging die Anzahl der aufgezeichneten Fälle von Gewalt nach 1640 zurück - wann genau dieses geschah, steht zur Diskussion. 57 Jan Sundin hat gezeigt, daß die Anzahl der Gewalttaten in der Stadt Linköping von 1610 bis 1650 dramatisch abfiel. Am Ortsgericht von Gullberg stieg die Anzahl bis 1630 und fiel dann. 58 In Finnland bestehen die Quellen wie in Norwegen und Schweden aus den Rechnungen über die Geldbuße und den Aufzeichnungen der örtlichen Gerichte, da die Archive des Hochgericht in Åbo vom Feuer zerstört wurden. Heikki Ylikangas konstatiert ein starke Konjunktur der Gewaltdelikte während des 16. Jahrhunderts. Jede Kleinbauernfamilie mußte alle sechs oder sieben Jahre eine Buße für Gewalttaten bezahlen. 59 Kurz nach 1580 nahm jedoch die Gewalt ab. 60 In einigen Gemeinden findet man jedoch auch im 17. Jahrhundert ein hohes Maß an Gewalt. Wäh- 51 Vgl. zu den schwedischen Städten Arboga, Vadstena und Stockholm im 15. Jahrhundert Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 43, 54 und 79; für Finnland im 16. Jahrhundert Heikki Ylikangas: Ätten och våldet. Våldsbrott i Norden vid övergången til nya tiden, in: Historisk tidsskrift för Finland 79 (1994), 3 - 25; für Norwegen im 15. Jahrhundert Jørn Sandnes: Kniven, ølet og æren. Kriminalitet og samfunn i Norge på 1500og 1600-tallet, Oslo 1990, 46 und für Dänemark im 16. Jahrhundert Henrik Stevnsborg: ›Tak Gud min søn, at du ikke kom for Riberret‹ Retspleje i Ribe 1590 - 1594, in: Grethe Christensen (et al.) (Hg.): Tradition og kritik. Festskrift til Svend Ellehøj den 8. September 1984, København 1984, 205 - 233: 217. 52 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm.43), 46 und 79 - 85; Thunander: Hovrätt (wie Anm. 11), 132. 53 Hans Eyvind Næss: Vold, in: Sölvi Sogner (Hg.): Normer og sosial kontroll i Norden ca. 1550 - 1850. Domstolene i samspill med lokalsamfundet, Oslo 1994, 62 - 80: 65. 54 Dasselbe passierte auch bei Schmähung, Diebstahl und Hexerei. 55 Hans Eyvind Næss: Mededsinstituttet. En undersøkelse av nektelsesedens utbredelse og betydning i norsk rettsliv på 1600-tallet, in (Norsk) Historisk tidsskrift 1991: 2, 179 - 201: 200f. 56 Næss: Vold (wie Anm. 53), 68. 57 Vgl. Johan Söderberg: En fråga om civilisering. Brottsmål och tvister i svenska häradsrätter 1540 - 1660, in: (Svensk) Historisk Tidskrift 1990, 229 - 258: 232 - 237 und Eva Österberg: Kontroll och kriminalitet i Sverige från medeltid til nutid. Tendenser och tolkninger, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 57 (1991), 65 - 87: 74f. 58 Jan Sundin: För Gud, Staten och Folket. Brott och rättskipning i Sverige 1600 - 1840, Lund 1992, 90f. 59 Ylikangas: Major Fluctuations (wie Anm. 3), 83. 60 Der dänisch-amerikanische Historiker John Mårberg behandelt dasselbe Problem in einem demnächst erscheinenden Artikel über Kleinbauern in Österbotten. <?page no="184"?> Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern 185 rend des zweiten Viertels des 17. Jahrhunderts war in den drei finnischen Orten Raumo, Björneborg und Nystad Gewalt nicht das dominierende Verbrechen, sondern die Schmähung spielte eine gleichwertige Rolle. 61 Der Vergleich der norwegischen und schwedisch-finnischen Darstellungen mit denen in Dänemark ist schwierig, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Überlieferung. Wurde ein Bauer in Dänemark straffällig, so hatte er seine Geldbuße dem Adligen zu entrichten, auf dessen Land er saß. (In Schweden konnte das prinzipiell auch passieren, aber die Zahl der berechtigten Adligen war sehr viel kleiner als in Dänemark.) Zudem existierte in Dänemark lange kein zentralisiertes Hochgericht, das die Gerichtsakten zu überprüfen hatte. Bis 1636 müssen wir uns auf die eher spärlichen Akten der lokalen Gerichte verlassen, die Fälle der Gewalt festgehalten haben. Erst nach diesem Datum mußten Urteile über Mord und Totschlag vor ein Hochgericht gebracht werden. Am Hohen Gericht in Jütland hatten Mord und Totschlag während des ersten Viertels des 17. Jahrhundert Konjunktur, während zumindest nach 1640 diese Delikte an Häufigkeit abnahmen. 62 Vielleicht kann die Tätigkeit der örtlichen Gerichte von Elsinore diese Tendenz erklären. Von der Mitte des 16. Jahrhundert an bis ins späte 17. Jahrhundert sank der Prozentsatz der Gewalttaten von 16% aller Fälle (Zivil und Gewalt) auf 4%. (Diese Zahlen können vielleicht mit denen von Raumo, Björneborg und Nystad verglichen werden). Auf der Insel Falster war der Prozentsatz der Gewaltverbrechen während des letzten Viertels des 17. Jahrhunderts sehr niedrig; obwohl ein solches Vorgehen vielleicht methodisch problematisch erscheint, zeigt der Vergleich zu einigen örtlichen Gerichten im Südwesten Jütlands während des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts einen Rückgang von 10% in Jütland auf 2% auf Falster. 63 Im allgemeinen war es in ländlichen Gebieten ruhiger und friedlicher als in den Städten. Dabei erscheint die Gewalt besonders in den nördlichen Gegenden Finnlands und Norwegens sehr ausgeprägt im Unterschied zu Gebieten, die eine größere räumliche Nähe zu kulturellen Zentren aufwiesen. Im Laufe der Jahrhunderte änderten sich auch die Gewalttäter. Im Finnland des 16. Jahrhunderts begingen Mitglieder der Geschworenengerichte, die normalerweise reicher als einfache Bauern waren, auch öfter schwerwiegende Gewaltverbrechen als andere Dorfbewohner. 64 Im Laufe des 17. Jahrhunderts näherte sich das Täterprofil immer mehr dem bekannten Bild von den jungen gewaltsamen Männern aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft an. Am frühesten läßt sich diese Entwicklung in den Städten beobachten, wo Landstreicher, Bettler und Menschen ohne Familienanbindung seit dem späten 16. Jahrhundert an Zahl zunahmen. 65 Allmählich breitete sich das Muster auch auf ländliche Gebiete aus, wo vor allem Soldaten aus Finnland-Schweden einen Hang zur Gewalt hatten. 66 Im Gegensatz dazu begingen die Soldaten in Dänemark nicht so viele Verbrechen, zumindest nicht bis zum 18. Jahrhundert 67 . Es könnte ein In- 61 Karonen: Brottsligheten (wie Anm. 43), 80 - 85. 62 Næss: Vold (wie Anm. 53), 71. 63 Jens Chr. V. Johansen: Kvinderne og tinget på Falster og i Helsingør i det 17. århundredes sidste halvedel. Paper vom Workshop: Actors of the Court. Uppsala, 27 - 29. October 1995 und ders.: Da Djævelen var ude. Trolddom i det 17. århundredes Danmark, Odense 1991, 102. 64 Ylikangas: Väkivaltarikosten (wie Anm. 27), 132f. 65 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 95. 66 Sundin: För Gud (wie Anm. 58), 101 und Furuhagen. Berusade bönder (wie Anm. 12), 99. 67 Tyge KROGH, Oplysningstiden og det magiske - Henrettelser og korporlige straffe i 1700-tallets første halvdel (im Druck). <?page no="185"?> Jens Chr. V. Johansen 186 diz für die Militarisierung der schwedisch-finnischen Gesellschaft an einem frühen Punkt sein. Die erfolglose Teilnahme der Dänen am dreißigjährigen Krieg basierte auf dem Aufmarsch angestellter Söldner, während die erfolgreiche schwedische Teilnahme aus der Einberufung von Soldaten aus Finnland und Schweden resultierte. Wie läßt sich die verbreitete Gewaltsamkeit erklären? Die Theorien von Norbert Elias haben einen großen Einfluß auf die skandinavischen Forschungen gehabt, obwohl sie in letzter Zeit etwas an Boden verloren haben. Der Norweger Jørn Sandnes hat mit seiner Behauptung, die Gewalt in Skandinavien sei ein Überbleibsel der »Wikinger-Mentalität«, die provozierendste Erklärung vorgelegt. 68 Eva Österberg interpretiert die Gewalt als Teil einer Kultur der Ehre, in deren Kontext das Austeilen von Schlägen keine gesellschaftliche Stigmatisierung zur Folge hatte. 69 Heikki Ylikangas legt die Betonung auf die Trinkgewohnheiten und die Wichtigkeit des Verwandtschaftssystems. Selbst kleinste Angriffe wurden als Beleidigung der gesamten Familie betrachtet. Die entsprechenden Fälle wurden vor Gericht gebracht, damit jeder der Rechtfertigung beiwohnen konnte und um die Bezahlung einer angemessenen Kompensationssumme zu sichern. Zusammen mit der Entstehung des modernen Staates begann die Auflösung dieses Verwandtschaftssystems, was wiederum zu einer Reduktion der Gewalt führte 70 . Der Staat war fortan in der Lage, seine Bürger zu schützen, ohne daß diese zu privater Gewaltanwendung greifen mußten. Als die Zahl der Gewaltfälle abnahm, begann die Zahl der Beleidigungsdelikte im übrigen zu steigen. Frauen vor Gericht Es ist kaum überraschend, daß die Zahl der Frauen, die in Skandinavien in Kriminalfälle verwickelt waren, derjenigen in ganz Europa gleicht. Deshalb wurde diese Frage auch nie ernsthaft diskutiert. Jedoch hat eine Debatte über die Beteiligung von Frauen an Zivilprozessen begonnen, in deren Verlauf die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frauen in Skandinavien kontrovers beurteilt wird. 71 Hilde Sandvik zeichnet ein sehr viel freundlicheres Bild über die Möglichkeiten von Frauen im Handel bzw. ökonomischem Leben allgemein als Grethe Jacobsen. Geteilte Verantwortung ist eines von Sandviks Hauptkonzepten. Sie geht von der Annahme aus, daß der eheliche Status wichtiger als die Geschlechtszugehörigkeit war. Demgegenüber akzentuiert Jacobsen 68 Sandnes: Kniven (wie Anm. 51), 117. 69 Österberg/ Lindström: Crime (wie Anm. 43), 55. 70 Heikki Ylikangas: Knivjunkarna: Våldskriminaliteten i Sydösterbotten 1790 - 1825, Borgå 1985. 71 Hilde Sandvik: ›Kvinners rettslige handleevne‹. Tingbøker som kilde til forholdet mellom kjønnene, in: (Norsk) Historisktidsskrift (1991: 2), 282 - 292; Grethe Jacobsen/ Anna Christine Ulfsparre: Kommentarer til Hilde Sandvk, in: (Norsk) Historisk tidsskrift (1991: 2), 293 - 306; Marja Taussi Sjöberg: Kvinnorna på Njurundatinget på 1600-tallet, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1992: 2), 141 - 171; Anu Pylkkänen: Kvinnan, hushållet och rätten - Regionala variationer i stormaktstidens Finland, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1994: 3), 365 - 388; Andersson: Genus (wie Anm. 47); Åsa B. Karlsson: Kvinnan, staden och rätten under 1600-talet, in: (Svensk) Historisk tidskrift (1995: 4), 536 - 559; Marja Taussi Sjöberg: Rätten och kvinnorna. 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Jahrhunderts und des frühen 18. Jahrhunderts Zivilprozesse immer mehr Zeit und Ressourcen der Gerichte in Anspruch nahmen. Um es mit den Worten der Schwedin Maria Ågren zu sagen: Die Gerichte wurden ein Weg, um ökonomische Dispute zu lösen. Hatten sie sich ursprünglich vor allem mit Delikten wie Gewalt und Schmähungen zwischen Einzelpersonen zu beschäftigen, so wurden sie allmählich zu einem Forum des Austrags von Konflikten mit finanziellen Hintergründen. Die während des späten Mittelalters und des 16. Jahrhunderts beinahe ausschließlich mit Laienrichtern besetzten Gerichte waren - allerdings mit Ausnahme der Kapitaldelikte (»crimina excepta«, »kwade feiten«, »henious crimes«) - an der Verhängung von Strafen nicht interessiert. Die Sanktionierung brachte den Opfern keinen finanziellen Ausgleich. Infolgedessen strebten die Gerichte private Regelungen mit Entschädigungen an, die den Beschuldigten ohne Verlust der Ehre wieder in die Gesellschaft zurückführten. Seit dem 17. Jahrhundert begannen die Gerichte immer mehr, den Interessen der Obrigkeit zu dienen. Dies kann an den Prozessen gegen illegalen Handel und Schmuggel ebenso gezeigt werden wie an der Anzahl der Prozesse, die sich mit Schulden und Verträgen beschäftigen. Sie stieg an, als der Prozentsatz von Kriminalfällen zu sinken begann. Insgesamt befanden sich die skandinavischen Länder auf einem beschleunigten Modernisierungskurs. (Übersetzung aus dem Englischen von Axel Fischer) 72 Jacobsen: Kvinder (wie Anm. 7), 280 - 286. <?page no="187"?> Jens Chr. V. Johansen 188 Bibliographie Seppo Aalto: Sedlighetsbrottslighetens sociala bakgrund i Borgå län 1670 - 1690, in: Historisk Tidskrift för Finland 75 (1990). Gudrun Andersson: Kvinnans underordning: axiom eller öppen fråga? , in: (Svensk) Historisk tidskrift (1997: 3). Hans Andersson: Genus och rättskultur. Kvinnlig brottslighet i stormaktstidens Stockholm, in: (Svensk) Historisk tidsskrift (1995: 2). 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Zunächst hat die polnische Geschichtsschreibung traditionell engere Verbindungen zur französischen unterhalten als die deutsche. Im Kern gingen diese auf das 19. Jahrhundert zurück, als Paris nach dem tragischen Ausgang der polnischen Aufstände zum intellektuellen Zentrum der polnischen Emigration aufstieg. Als Treffpunkt patriotisch - und das hieß antisowjetisch - Gesinnter bot sich Paris aber auch in der Epoche des Kalten Krieges an, so für BronisÎaw Geremek, der bei Fernand Braudel an der »École des Hautes Études« studiert hatte und mit mehreren Studien zu spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen internationale Beachtung erfuhr. 1 Nach Warschau zurückgekehrt, wirkte Geremek an der polnischen Akademie der Wissenschaften sowohl auf eine rege Diskussion zwischen polnischen und französischen Historikern als auch auf eine verstärkte Erforschung von Außenseitern und Delinquenz in Polen hin. 2 Zweitens profitierte die Kriminalitätsgeschichte davon, daß die Bedeutung der Frühen Neuzeit im polnischen Geschichtsbild weitaus größer ist als etwa im deutschen, wohl eine zwangsläufige Folgeerscheinung der polnischen Katastrophe schlechthin: Den Teilungen von 1772 bis 1795. Mit diesem Spezifikum ging ein stärkeres Interesse an Disziplinen wie der Rechts- oder Wirtschaftsgeschichte einher. Erstere war dazu angetan, die notorische Autoritätskrise des polnischen Königtums näher zu beleuchten, letztere diskutierte die Unterfinanzierung von Heer und Verwaltung im alten Polen. Ein dritter Grund für das frühe Einsetzen kriminalitätshistorischer Untersuchungen ist 191 1 BronisÎsaw Geremek: Les marginaux parisiens aux XIV e et XV e siècles. Paris 1976; ders.: Truands et misérables dans l’Europe moderne. Paris 1980; ders.: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1988; ders.: PrzestøpczoÃÅ a ÃwiadomoÃÅ spoÎeczna we wczesnonowoîytnej Europie (Kriminalität und soziales Bewußtsein im frühneuzeitlichen Europa), in: Antoni Måczak (Hg.): Europa i Ãwiat w poczåtkach epoki nowoîytnej (Europa und die Welt zu Beginn der Moderne), Warszawa 1991, 39-67. 2 Andrzej Karpi¢ski: Pauperes. O mieszka¢cach Warszawy XVI i XVII wieku (Pauperes. Über die Einwohner Warschaus im 16. und 17. Jahrhundert). Warszawa 1983; Jan Kracik/ MichaÎ Roîek: Hultaje, îÎoczy¢cy, wszetecznice w dawnym Krakowie. O marginesie spoÎecznym XVI-XVIII wieku. (Halunken, Übeltäter und Huren im alten Krakau. Soziale Marginalitäten vom 16. bis 18. Jahrhundert), Kraków 1986; Bohdan Baranowski: Ludzie goÃci¢ca w XVII-XVIII w. (Fahrendes Volk im 17. und 18. Jahrhundert), ŸódÏ 1986. Im Umkreis der Forschungen zu den Marginalitäten ist auch die 1992 erschienene Festschrift zu Geremeks 60. Geburtstag angesiedelt. Vgl. Maurice Aymard (Hg.): Biedni i bogaci. Studia z dziejów spolecze¢stwa i kultury (Arme und Reiche. Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte), Warszawa 1992. <?page no="191"?> schließlich damit verbunden, daß Volk und Obrigkeit aus polnischer Sicht immer wieder als Opponenten galten - auch dies eine Konsequenz aus der Teilungszeit, als sich die polnische Gesellschaft einem nichtpolnischen Staat gegenübersah. Nicht zuletzt deshalb hat die Geschichte Polen noch im 18. und 19. Jahrhundert mit großen Rebellen gesegnet, gleichfalls ein Phänomen, das den Deutschen ermangelt. Vor diesem Hintergrund war die Schwelle, die der Historiker zur Erforschung von Unterwelt und Subkultur überschreiten mußte, in Polen bedeutend niedriger als bei seinem Nachbarn im Westen. Die vorliegende Skizze versucht, eine vorläufige Bilanz der polnischen Beiträge zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz zu ziehen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf neueren Arbeiten zur Epoche der Frühen Neuzeit, da das späte Mittelalter von polnischen Kriminalitätshistorikern bislang ausgespart blieb. Eine Ursache dieser Zurückhaltung ist wohl darin zu suchen, daß die großen polnischen Mediävisten wie Marian Biskup, Aleksander Gieysztor, Gerard Labuda oder Benedykt Zientara durch die Ostsiedlung oder den Gegensatz zwischen polnischer Krone und Ordensstaat in gewisser Hinsicht »nationaler« eingestellt waren als zum Beispiel die Dixhuitièmisten und ihr Lebenswerk demzufolge nicht der Rechts- und Sozialhistorie, sondern der Agrar- oder der äußeren Geschichte gewidmet haben. Die nicht ganz unerhebliche Literatur zu vermeintlichen Hexen bleibt ausgeklammert, 3 desgleichen die zu Ritualmordprozessen. 4 Zunächst soll ein knapper Überblick drei Generationen polnischer Kriminalitätshistoriker vorzustellen, danach folgt je ein Abschnitt zu Delinquenz und Sanktion. Am Schluß dieser Skizze steht die Frage nach kriminalitätshistorischen Charakteristika des alten Polen, soweit es der bisherige Forschungsstand zuläßt. 1. Generationen Als Urvater der polnischen Kriminalitätsgeschichte muß wohl WÎadysÎaw Ÿozi¢ski gelten, ein Kulturhistoriker Lemberger Tradition, der auch eine Geschichte des Patriziats seiner Heimatstadt verfaßt hat. Im vergleichsweise liberal verwalteten österreichischen Teilungsgebiet veröffentlichte er 1903 eine zweibändige Darstellung des Justizalltags im südöstlichen Polen vor 1700. Auch wenn dieser Landesteil durch das Vorherrschen der Magnaten für Polen als Ganzes nicht immer typisch ist, haben die großen Adelsfamilien und deren Güter Ÿozi¢ski doch die Quellen geliefert, um dem tatsächlich Bestehenden in vorbildlicher Seite weit mehr Platz einzuräumen als dem gesetzlich Verlangten. Die Schattenseiten der polnischen Adelsrepublik arbeitet Ÿozi¢ski damit gnadenlos heraus: Die Ohnmacht der Krone, resultierend im weitgehenden Fehlen einer zentralen Strafverfolgung, insbesondere in bezug auf die Straßenräuber, die Lynchjustiz mancher Szlachtafamilien untereinander, die das Verfassungsrecht auf Bildung einer Konföderation zu Privatfehden mißbrauchten, und nicht zuletzt das infernus rusticorum, hier also 192 Christoph Schmidt 3 Vgl. dazu den (nicht gänzlich gelungenen) Artikel von Janusz Tazbir: Hexenprozesse in Polen, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1980), 280-307. Neuere Literatur bei Andrzej Karpi¢ski: Kobieta w mieÃcie polskim w drugiej poÎowie XVI i w XVII wieku (Die Frau in der polnischen Stadt in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert), Warszawa 1995, 392-97. Zum schlesischen Oszillationsraum s. Karen Lambrecht: Hexenverfolgung und Zaubereiprozesse in den schlesischen Territorien, Köln 1995. 4 Dazu etwa Hanna Wøgrzynek: LudnoÃÅ îydowska wobec oskarîe¢ o popeÎnianie przestøpstw o charakterze rytualnym (Die jüdische Bevölkerung und Anklagen auf Ritualmord), in: Kwartalnik Historyczny 101 (1994), Heft 4, 13-26. <?page no="192"?> Willkür und Machtmißbrauch der Gutsbesitzer gegenüber ihren Leibeigenen. Auch wenn die großen Linien hinter der Fülle des Archivmaterials manchmal zurücktreten und Ÿozi¢ski keinen quantifizierenden Zugang findet - dafür sind die verwendeten Akten zu disparat -, liefert der Verfasser dennoch eine so nüchterne Beschreibung des Gerichtswesens, wie sie für das Deutschland der wilhelminischen Zeit in dieser Form kaum denkbar war. 5 Hat die Teilungsepoche den Blick »von unten« somit begünstigt, traten nicht wenige der polnischen Historiker nach der Wiedererlangung der nationalen Souveränität 1918 in eine neue Rolle ein. Ganz unverkennbar, daß nunmehr eine Orientierung am Offiziellen und Staatstragenden um sich griff, ablesbar etwa an der ebenfalls zweibändigen polnischen Kulturgeschichte von Jan StanisÎaw Bystro¢, erstmals erschienen von 1932 bis 1934. Ganz anders als Ÿozi¢ski begnügt sich Bystro¢ mit einer im Grunde banalisierenden Beschreibung der Offizialkultur. Die Passagen zu Justiz und Kriminalität sind dem sterilen Duktus von Radbruch/ Gwinner daher nicht ganz unähnlich. 6 Die zweite Generation der polnischen Kriminalitätshistoriker setzt also erst mit der Rezeption des historischen Materialismus nach 1945 ein. Ein genuin marxistisches Interesse hat zunächst Jerzy Topolski verfolgt, das ihn ausgehend vom Theorem des bäuerlichen Klassenkampfes bald auf die Läuflingsbewegung aufmerksam machte. Topolskis Schätzung zufolge schloß sich ein Zehntel der polnischen Leibeigenen dieser kriminalisierten Form des Widerstandes an. 7 Anders als in der Sowjetunion oder in der DDR waren viele polnische Historiker allerdings eigenständig genug, sich der Parteilinie nicht blindlings zu unterwerfen. Dieser Haltung verdanken wir mehrere Studien zu den Entstehungsbedingungen frühneuzeitlicher Kriminalität, so von Bohdan Baranowski. Hatte StanisÎaw Grodziski das fahrende Volk 1961 noch als Opfer zahlreicher Repressionen geschildert, 8 sah Baranowski in den Landstreichern auch Täter. Das von sowjetischen Historikern nicht selten bemühte Bild vom Räuber als Klassenkämpfer löste sich dabei in Ideologieschwaden auf: So wertete Baranowski 119 Raubüberfälle bei Ëywiec in den Beskiden aus der Zeit von 1589 bis 1782 aus, wobei 59% der Überfallenen Bauern waren, aber nur 16% Adlige. Ein weiteres Verdienst von Baranowskis Untersuchung besteht darin, daß erhebliche landschaftliche Unterschiede bei der Verbreitung der Bettler hervortreten. Am Ende des 18. Jahrhunderts lag deren Bevölkerungsanteil im zurückgebliebenen Masowien bei ca. 4,8%, in Kalisch, einem Zentrum der Frühindustrialisierung, aber bei nur 2,1% 9 . 193 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 5 WÎadysÎaw Ÿozi¢ski: Prawem i lewem. Obyczaje na Czerwonej Rusi w pierwszej poÎowie XVII wieku (Mit Recht oder Unrecht. Bräuche der Czerwoner Rus’ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts), 2 Bde., Kraków 6 1960. 6 Jan StanisÎaw Bystro¢: Dzieje obyczajów w dawnej Polsce wiek XVI-XVIII (Kulturgeschichte des alten Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert), 2 Bde., Nd. Warszawa 1994. 7 Jerzy Topolski: Zbiegostwo chÎopów w dobrach kapituly gbieÏnie¢skiej w pierwszej poÎowie XVIII w. (Die Flucht der Bauern von den Gütern des Gnesener Kapitels in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts), in: Roczniki dziejów spoÎecznych i gospodarczych 16 (1954), 95-112; ders.: PoÎoîenie i walka klasowa chÎopów w dobrach arcybiskupstwa gnieÏnie¢skiego w XVIII w. (Lage und Klassenkampf der Bauern auf den Gütern des Erzbischofs von Gnesen im 18. Jahrhundert), Warszawa 1956. Mit ähnlicher Interpretation schon WÎadysÎaw Ochma¢ski: Zbójnictwo góralskie. Z dziejów walki klasowej na wsi góralskiej (Bergräuber. Zur Geschichte des Klassenkampfes im Bergdorf), Warszawa 1950. 8 StanisÎaw Grodziski: Ludzie luÏni. Studium z historii pa¢stwa i prawa polskiego (Homines vagi. Eine Studie zur Staats- und Rechtsgeschichte Polens), Kraków 1961. In manchem vergleichbar MirosÎaw FranciÅ: Ludzie luÏni w osiemnastowiecznym Krakowie (Die Homines vagi im Krakau des 18. Jahrhunderts), Warszawa 1967. 9 Baranowski: Ludzie (wie Fn. 2), 191. <?page no="193"?> Die dritte Generation polnischer Kriminalitätshistoriker ist schließlich die heutige. Ein deutliches Kennzeichen dieser Gruppe ist die Internationalisierung, die in Polen gründlicher als in Deutschland betrieben wird, beginnend mit der Rezeption der englischen und französischen Forschung. Das besondere Augenmerk aber besteht darin, selbst in englischer oder französischer Sprache zu veröffentlichen. Mehrere historische Fachzeitschriften Polens dienen allein diesem Zweck. Der wohl bedeutendste Beitrag dieser vorerst letzten Generation ist das Buch Marcin Kamlers zur registrierten Kriminalität in Posen (1550-1633), Lublin (1550-1565, 1622-1648) und Krakau (1550-1635). Dabei gilt sein Augenmerk vor allem der kriminellen Subkultur, ihrer Rekrutierung und sozialen Zusammensetzung, den verschiedenen Delikten, der Gaunersprache und -mentalität. Hier zeichnet Kamler das Bild eines nahezu stabilen Mikrokosmos mit der Kneipe als Angelpunkt. Im Grunde trug diese Subkultur nahezu »demokratische« Züge, waren Bauern und Adlige, Städter und Juden nach dem Eintritt doch vollkommen gleichberechtigt. 10 Ein derartiges Fazit wird man jedoch nicht nur in Polen ziehen können. 2. Delinquenz Wie in Westeuropa sahen sich auch die polnischen Kriminalitätshistoriker vor dem Dilemma, zu den städtischen Delikten weitaus bessere Quellen vorzufinden als zu den auf dem Dorf begangenen. Einen Sonderfall stellen allein die Straßenräuber dar, da sie in der Stadt vor Gericht standen, zumeist aber auf dem Land straffällig wurden. 299 mutmaßliche highwaymen hat Kamler nach ihrer sozialen Herkunft aufgeschlüsselt und dabei festgestellt, daß 50% aus dem Dorfe kamen, 42% aus der Stadt und 7% aus dem Adel. Verglichen mit der Zusammensetzung aller Angeklagten waren die Bauern unter den Straßenräubern deutlich überrepräsentiert (sonst 39%), desgleichen die Szlachta (sonst 2%). Angaben zum Beruf lagen in nur wenigen Beispielen vor, so bei entlassenen Soldaten (sieben Fälle), Schneidern (vier) oder Müllern (drei). Von Straßenräubern besonders frequentiert waren die von Kaufleuten befahrenen Überlandrouten etwa zwischen Posen und Schlesien, um entweder aus dem Hinterhalt loszuschlagen oder die Reisenden zu verfolgen und einzuholen. In aller Regel umfaßten die Banden um die fünf Mitglieder, die fast immer in Waffenbesitz waren und zur Einschüchterung der Opfer von ihren Pistolen auch gerne Gebrauch machten. Der »edelmütige Räuberhauptmann«, von dem Antoni Måczak für England und Italien spricht, 11 läßt sich zumindest in polnischen Akten nicht finden. Vielmehr wurde die überwiegende Zahl der Überfallenen vorsätzlich und grausam umgebracht. So gaben die von Kamler untersuchten 299 Räuber 310 Mordfälle zu. Stellt man die polnischen Daten ansatzweise in den europäischen Zusammenhang, so ist Kamlers These von einer höheren Gefährdung auf polnischen Landstraßen nicht ganz überzeugend. Vor dem Posener Stadtgericht stellten die Räuber 8% der Angeklagten, in Lublin 18% und in Krakau 11,8%. Demgegenüber verweist Kamler aufgrund der englischen Literatur für Straßenräuber in Essex, Herts und Sussex zwischen 1556 und 1625 auf einen Anteil von 3,4% an allen Angeklagten bzw. von 7,6% in Surrey (1660-1800). 194 Christoph Schmidt 10 Marcin Kamler: Õwiat przestøpczy w Polsce XVI i XVII stulecia (Die Welt des Verbrechens im Polen des 16. und 17. Jahrhunderts), Warszawa 1991, 189-97. 11 Antoni Måczak: Ëycie codzienne w podróîach po Europie w XVI i XVII wieku (Der Alltag auf europäischen Straßen im 16. und 17. Jahrhundert), Warszawa 1978, 179-81. <?page no="194"?> Ein derartiger Prozentualvergleich liefert jedoch keinen ausreichenden Anhaltspunkt, um auf ein von West nach Ost ansteigendes Gewaltniveau zu schließen, weil so grundlegende Faktoren wie das Verhältnis der Überfälle zur Bevölkerungsdichte, die Variationsbreite des Begriffs »Raubüberfall« und die unterschiedliche Effizienz der Strafverfolgung nicht berücksichtigt werden. Im ersten russischen Strafgerichtshof, dem Moskauer Sysknoj Prikaz, lag der Anteil des Delikts Straßenraub ebenfalls bei nur 5,7% aller Anklagen (1730-1740). 12 Niemand wird hieraus jedoch den Schluß ziehen wollen, die russischen Landstraßen seien sicherer als die polnischen gewesen. Beschränkt man die Frage auf die städtische Kriminalität, werden die Aussagen merklich präziser. Auch die polnische Forschung ist zunächst den Weg über Lokalstudien gegangen, zu dem eine Alternative ja auch kaum denkbar ist. 13 In bemerkenswerter Weise zeigte die polnische Historiographie dabei eine Vorliebe für »alte« Städte wie Posen, Lublin, Krakau oder Lemberg, währenddessen »neue« Städte wie Danzig (1466 zur Krone) oder Warschau (1529 zur Krone) bislang fast übergangen wurden. Hierin mag sich die Tatsache widerspiegeln, daß die »alten« Städte eben auch eingewurzelte Justizorgane aufwiesen, allen voran den Oberhof in Polens alter Hauptstadt Krakau. In bewußter Anknüpfung an Ÿozi¢ski hat unlängst Andrzej Karpi¢ski aus den Lemberger Akten des 17. Jahrhunderts 560 Anklagen analysiert, davon 450 gegen Männer und 110 gegen Frauen. 45% der Delinquenten entstammten den Stadtständen, ein Drittel den Bauern und 20% der Szlachta. Die Berufsangaben fallen hier nicht so lückenhaft aus wie bei Kamlers Aufsatz zu den Straßenräubern: Karpi¢ski beziffert den Anteil der Handwerkerkinder auf 35%, den der Gesellen auf 23 bzw. den von Soldaten auf 25%. Diese Daten bedürfen jedoch eingehenderer Diskussion, als Karpi¢ski sie bietet; für sich genommen besagen sie wenig. 60% der erfaßten Straftaten machten die Eigentumsdelikte aus. Es ist nur zu bedauern, daß sich Karpi¢ski - obschon er einen vergleichsweise großen Zeitraum behandelt - mit einem statischen Blick auf die einzelnen Delikte begnügt. Wir erfahren daher nicht, ob die Eigentumsvergehen auch in Polen peu à peu zunahmen, die Gewalttaten aber zurückgingen, wie es im Zuge der langsamen Urbanisierung für das Paris oder Moskau des 18. Jahrhunderts dann beobachtet wurde. 145 Anklagen oder 23% entfielen auf die Schwerkriminalität gegen Leben und Gesundheit; hier lag der Anteil männlicher Straftäter mit 80% erstaunlicherweise niedriger als bei der Besitzkriminalität (87%). Karpi¢ski erklärt dies mit dem Kindsmord als »dem typisch weiblichen Delikt«. Mit 15 Fällen machten die Kindstötungen in Lemberg rund 10% der Schwerkriminalität aus. 14 Eine besondere Kategorie stellen schließlich die Kirchendiebstähle dar (34 Fälle insgesamt), ebenso die Anklagen wegen Hexerei (10) und wegen verschiedener Sittlichkeitsvergehen wie Prostitution 15 oder Bigamie (41). 16 195 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 12 J.S. Cockburn: The Nature and Incidence of Crime in England 1559-1625. A Preliminary Survey, in: J.S. Cockburn (Hg.): Crime in England 1550-1800. London 1977, 55; John M. Beattie: Crime and the Courts in England 1660-1800. Oxford 1986, 147. Zum Sysknoj Prikaz s. Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649 bis 1785. Stuttgart 1996, 270-72. 13 Als ersten, nicht ganz befriedigenden Versuch einer Bilanz s. den Beitrag von Maria Bogucka: Law and Crime in Poland in Early Modern Times, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 175-96. Die mittlerweile ans Tageslicht beförderten Daten werden kaum diskutiert. Dies gilt auch für das rechtsbzw. kriminalitätshistorische Kapitel in: Dies.: The Lost World of the »Sarmatians«. Custom as the Regulator of Polish Social Life in Early Modern Times. Warszawa 1996, 160-80. 14 Dabei waren die Mütter ausnahmslos ledige Hausbedienstete. Artikel 80 des Magdeburger Rechts (Krakauer Ausgabe von 1559) schrieb als Strafe die Verbrennung bei lebendigem Leibe vor, zusätzlich sollten die Verurteilten gepfählt werden. Vgl. Marcin Kamler: Infanticide in the Towns of the Kingdom of Poland in the Second Half of the 16th and the First Half of the 17th Century, in: Acta Poloniae Historica 58 (1988), 33-50. <?page no="195"?> Woran es dem Aufsatz Karpi¢skis mangelt, ist die Bewertung dieser Befunde. Weitaus differenzierter erscheint hier Kamlers Untersuchung zu Posen, Lublin und Krakau, die allerdings auch auf einer größeren Aktengrundlage beruht. Insgesamt betrug der Anteil männlicher Adliger zwischen 1550 und 1650 bei allen Verurteilten 2,1%. Während im Durchschnitt 69% der angeklagten Männer wegen Diebstahls belangt wurden, waren es bei der Szlachta nur 52%. Andererseits wirkte sich das Privileg des wohlgeborenen Standes auf den Besitz von Waffen in einem deutlich höheren Anteil am Straßenraub aus (21,3% beim Adel gegenüber 11,9% im Durchschnitt aller Männer). Da den polnischen Juden zahlreiche Tätigkeitsfelder verwehrt waren, sie von den Magnaten aber gern als Kneipenpächter geschröpft wurden, 17 sahen sich Juden in überdurchschnittlichem Maße als Hehler bezichtigt. Bei den Schwerdelikten lag der jüdische Anteil dagegen außerordentlich niedrig. Frauen stellten 13% der männlichen Angeklagten, nach Stand und Ethnie traten dabei jedoch erhebliche Differenzen auf. Unter den Städtern umfaßte ihr Anteil 20%, bei den Bauern 7%, bei der Szlachta 21% und bei den Juden 6%. Bei den Männern entfielen rund 70% der registrierten Straftaten auf nur ein Delikt, den Diebstahl, während Hehlerei und Falschmünzerei mit weniger als 10% deutlich schwächer ins Gewicht fallen. Die Kriminalität der Frauen war dagegen nahezu gleichmäßig auf vier Tatbestände verteilt: Beihilfe, Diebstahl, Hehlerei und Unzucht. 18 3. Sanktion Für die Rechts- und Strafrechtsgeschichte haben polnische Juristen und Historiker auf Grundlage der Gesetze eine Vielzahl gediegener Untersuchungen und eine nahezu mustergültige Synthese vorgelegt, 19 auf dem Gebiet der Justizpraxis tut sich jedoch eine Lücke auf. Eher unfreiwillig deckt Jerzy Malec dieses Defizit auch in seinem unlängst erschienenen Überblick zur Geschichte der polnischen Polizei auf. Vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts begegnet uns das Wort »Policya« allein im Sinne der Politeia des Aristoteles; eine institutionelle Verdichtung, wie sie etwa den französischen maréchaussés vergleichbar wäre, blieb infolge des in Polen fehlenden Absolutismus bzw. der verfassungsrechtlichen Allmacht der Szlachta jedoch aus. Erst unter dem Eindruck der inneren Krise, die von den Teilungsmächten dann so rücksichtslos ausgenutzt wurde, setzte ein Umdenken zur Stärkung der Exekutive ein. Nach den Schatz- und Militärkommisionen von 1764 und der für Bildung 1773 schuf der Sejm 1775 als vierte ständige Verwaltungsbehörde den sogenannten Immerwährenden Rat mit fünf Departements, davon einem für Polizei. Über Organe in der Provinz verfügte das Departement nicht. Das über Jahr- 196 Christoph Schmidt 15 Prostitution war nur dann strafbar, wenn sie versteckt betrieben wurde. Vgl. Andrzej Karpi¢ski: La prostitution dans les grandes villes polonaises aux XVI e et XVII e siècles (Cracovie, Lublin, Pozna¢, Varsovie), in: Acta Poloniae Historica 59 (1989), 5-40. 16 Andrzej Karpi¢ski: PrzestøpczoÃÅ we Lwowie w ko¢cu XVI i w XVII wieku (Kriminalität in Lemberg am Ende des 16. und im 17. Jahrundert), in: Przeglåd Historyczny 87 (1996), 753-68. 17 Dazu jetzt Jacob Goldberg: Die jüdischen Gutspächter in Polen-Litauen und die Bauern im 17. und 18. Jahrhundert, in: Manfred Alexander (Hg.): Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas, Stuttgart 1991, 13-21. Goldbergs Annahme, mehr als ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Polen-Litauens habe dem Stand der Schenkenpächter angehört, erscheint jedoch als etwas überzogen. 18 Kamler: Õwiat (wie Fn. 10), 31. 19 Juliusz Bardach/ BogusÎaw LeÃnodorski/ MichaÎ Pietrzak: Historia pa¢stwa i prawa polskiego (Polnische Staats- und Rechtsgeschichte), Warszawa 1985. <?page no="196"?> hunderte gewachsene Bollwerk der Gutsherrschaft als einer Form von Komplementärobrigkeit war so stark, daß noch die Verfassung vom 3. Mai 1791 - die erste geschriebene Europas - auf dem flachen Land die Vollzugskompetenz den Gutsbesitzern überließ. Auch als die Polizeibehörde ebenfalls 1791 zur eigenständigen Kommission aufgewertet wurde, war es den acht Intendanturen in der Provinz untersagt, in private Städte oder Dörfer einzugreifen. Damit hat die Gutsherrschaft die Entwicklung eines übergreifenden Polizeiwesens bis zum Ende der polnischen Adelsrepublik erfolgreich unterdrückt. 20 Aufgrund dieser Eigenheiten der polnischen Verfassungsgeschichte hat sich die polnische Historiographie kaum mit der Polizei, sondern zumeist mit der kommunalen Strafjustiz befaßt. Zur Rechtsprechung der königlichen Tribunale über den Adel, des Hetmans im Heer sowie über die Patrimonialgerichtsbarkeit auf den Gütern können wir bislang keine triftige Aussage machen. Besser steht es um die Städte. Als Grundlage der Urteile zumal in Posen, Lublin oder Krakau diente das Magdeburger Recht oder Speculum Saxonum, 1582 von PaweÎ Szczerbic aus dem Lateinischen ins Polnische übersetzt. Auch hierzu hat Marcin Kamler unlängst eine bemerkenswerte Studie erarbeitet, die auf 1.126 Sprüchen aus Posen, 161 aus Lublin sowie auf 506 Urteilen aus Krakau zwischen 1550 und 1635 beruht. Dabei schwankte der Anteil verurteilter Frauen zwischen elf (Lublin) und 27% (Posen). Vor der Verhängung der Todesstrafe zeigten die Richter dabei wenig Scheu. Bei Männern wurde sie in 54% aller Fälle befohlen, bei Frauen in 25. Mutmaßliche Mörder, Brandstifter und Sodomiten knüpfte man ohne Ausnahme auf, Räuber zu 91%, Kirchenfrevler zu 74 und Diebe zu 47%. Kindsmörderinnen wurden verbrannt. 21 Wieviele dieser Hinrichtungen auf einem unter Folter erpreßten Geständnis beruhen, ist neuerdings umstritten. 1979 hatte Witold Maisel einen Wert von 12% aller Angeklagten angenommen, die in Posen vom 16. bis 18. Jahrhundert peinlich verhört worden seien. Grundlage für die Anwendung der Folter war der Sejmbeschluß von 1532, demzufolge die Constitutio Criminalis Carolina auch für Polen Rechtskraft erhielt. Eine polnische Fassung brachte Bartholomäus Groicki 1559 in Krakau heraus. In einer sehr lesenswerten Untersuchung zum Beruf des Henkers in Polen hat Hanna Zaremska die These Maisels 1986 angezweifelt; vielmehr sprach sie von einer minimalen Bedeutung, die dem Geständnis und der Zeugenaussage gegenüber der Folterung zugekommen sei. 22 Kamlers Studium der städtischen Quellen hat auch hier neues Material zutage gefördert, das zunächst erhebliche regionale Abweichungen beim Gebrauch der Folter belegt. In Posen gestanden 7% der Angeklagten unter Tortur, in Lublin 62 und in Krakau 26%. Eine Korrelation zwischen der Anwendung der Folter und der Todesstrafe bestand nicht. In Posen wurden 53% der Belangten gehenkt, in Lublin 74 und in der alten Uni- 197 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 20 Jerzy Malec: Policey im frühneuzeitlichen Polen: Gesetzgebung und Literatur, in: Michael Stolleis (Hg.): Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt/ M. 1996, 407-19. 21 Marcin Kamler: Penalties for Common Crimes in Polish Towns 1550-1650, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 161-74. Vgl. die vorangehende Studie von Hubert Ÿaszkiewicz: Kary wymierzone przez såd miejski w Lublinie w drugiej poÎowie XVII wieku (Die vom Lubliner Stadtgericht in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verhängten Strafen), in: Czasopismo prawno-historyczne 41, 1998, Heft 2, 139-51. Die Aufschlüsselung nach Delikten fällt hier teilweise genauer als bei Kamler aus. 22 Witold Maisel: Tortury w praktyce sådu kryminalnego miasto Poznania w wiekach XVI-XVIII (Die Folter in der Gerichtspraxis der Stadt Posen vom 16. bis 18. Jahrhundert), in: Studia i MateriaÎy do Dziejów Wielkopolski i Pomorza 13 (1979), 115-25; Hanna Zaremska: Niegodne rzemiosÎo. Kat w spoÎeczenstwie Polski XIV-XVI w. (Das unehrenhafte Handwerk. Der Henker in der polnischen Gesellschaft vom 14. bis 16. Jahrhundert), Warszawa 1986. Vgl. zum Hintergrund Maria Bogucka: Les origines de la pensée pénitentiaire moderne en Pologne du XVII e siècle, in: Acta Poloniae Historica 56 (1987), 19-28. <?page no="197"?> versitätsstadt Krakau, wo man der Folter ja so argwöhnisch gegenüberstand, 89% der Angeklagten. Kamler begründet diese hohe Hinrichtungsquote Krakaus damit, daß sich dort anders als im kleineren Posen ein Zentrum professioneller Kriminalität entwickelt habe. Die Sonderstellung Lublins beruhe auf einem Quellenfehler, da Akten zur leichten Kriminalität dort nicht durchweg überliefert worden seien. Kamler stimmt Maisel damit zu, daß in Posen nur etwa jeder zehnte strafrechtlich Angeklagte peinlich verhört worden sei. Für Polen als ganzes - so wäre Kamler entgegenzuhalten - ist Posen aber kaum typisch. 23 4. Spezifika Vor den Augen der Historiker kann die polnische Justiz offenbar nicht auf Milde hoffen. Zumindest hat Maria Bogucka unlängst das Verdikt gefällt, nach dem Recht und Gericht zu den dunkelsten Flecken in der Geschichte des alten Polen zu zählen seien. In einer Zeit, in der westeuropäische Nationen das harte, aber fruchtbare »Training« des Absolutismus durchlaufen hätten, habe sich Polen an ein gesetzloses Dasein gewöhnt. 24 Obwohl auch Kamlers These von der höheren Überfallsgefahr auf polnischen Landstraßen zu diesem Urteil zu passen scheint, fügt Bogucka doch zwei unvereinbare Dinge zusammen. Das eine ist die bis zum Überdruß wiederholte Absicht der sogenannten Sozialdisziplinierung, die Gerhard Oestreich unseligerweise allein auf Westeuropa bezogen hat, obwohl es ein leichtes wäre, derartige Vorsätze auch für Polen, Schwedisch-Livland oder den Zarenstaat zu belegen. Von diesen Vorsätzen jedoch auf das Erreichte zu schließen, wie es Maria Bogucka tut, käme der Kapitulation des Historikers gleich. Für Polen dagegen legt die Warschauer Historikerin anders als für den Westen nicht den Maßstab des de jure-Verlangten an, sondern den des de facto-Dokumentierten. Auf derartige Weise kann man die Frage nach den polnischen Charakteristika wohl kaum beantworten. Plausibler erscheint es dagegen, bei den sozialhistorischen Voraussetzungen der polnischen Adelsrepublik anzusetzen. Durch das Fehlen jeglicher Matrikel wuchs die Szlachta zu einem auch zahlenmäßig imponierenden Stande heran, der rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachte. In Masowien lag ihr Prozentsatz noch darüber. Es klingt daher nicht überraschend, daß der polnische Adel mit Zunahme der sozialen Differenzierung auch in der Kriminalstatistik überdurchschnittlich häufig vertreten war: Unter den angeklagten Straßenräubern stellte die Szlachta 21,3%, unter den Gefolterten sogar 36%. Kein Spezifikum, aber ein Unterschied zu Westeuropa ergibt sich aus der Leibeigenschaft. Wie in den norddeutschen Kolonisationsgebieten und in Rußland erzwang der Adel seit dem 15. Jahrhundert auch in Polen eine Spaltung der Rechtssphäre in enge hoheitliche und ausgedehnte private Zuständigkeit, so daß der Landesherr die Mehrzahl der Bauern an die Ritter auslieferte. In Norddeutschland und Polen blieb die Präsenz des Landesherrn auf dem Dorf zumindest latent erhalten, indem bevorzugte bäuerliche Kategorien auch weiterhin Zugang zum öffentlichen Justizwesen hatten. Im Zarenstaat setzte dagegen eine vollständige Verdrängung der Autokratie aus den Dörfern ein, die Zentraljustiz kam hier generell zum Erliegen. Polen kann somit in gar keiner Weise als 198 Christoph Schmidt 23 Marcin Kamler: The Role of Torture in Polish Municipal Judicature in the Second Half of the 16th and the First Half of the 17th Century, in: Acta Poloniae Historica 66 (1992), 53-74. 24 Bogucka: Law and Crime (wie Fn. 13), 195. <?page no="198"?> typisch für Osteuropa gelten: Während institutionelle Formen der Konfliktbeilegung in Polen immerhin in Erinnerung blieben, erlebte Rußland eine Entrechtung der Leibeigenen sondergleichen. Nicht zuletzt deshalb wurde allein der Zarenstaat durch große Bauernaufstände erschüttert. Über soziale Wirklichkeiten sagt der polnische Justizapparat also deutlich mehr aus als der russische. 25 Dennoch ist unverkennbar, daß die Leibeigenschaft auch in ihrer polnischen Ausprägung der Gesellschaft ein beträchtliches Konfliktpotential beschert hat, das der Kriminalitätsgeschichte mit zugrunde lag. 26 Hieraus speiste sich nicht zuletzt die Fluchtbewegung. Gerade für das südöstliche Polen und die Rekrutierung der Kosaken hatte sie erheblich größere Bedeutung als im Rahmen der deutschen Landesgeschichte. Ein vergleichender Blick auf die Läuflingsbewegungen Ostmittel- und Osteuropas steht allerdings noch aus. Schon jetzt läßt sich aber erkennen, daß das östliche Europa eigene Widerstandsformen hervorgebracht hat, die als »Kriminalität« nicht adäquat zu beschreiben sind, unterhielten die Kosaken doch sowohl zu Polen als auch zu Rußland offizielle Beziehungen, auch um das Vergehen der Flucht von offizieller Seite legalisieren zu lassen. Das wohl schwerwiegendste Defizit besteht wohl im Hinblick auf die Frage, welche Reichweite das in Europa einmalige Herrschaftssystem der polnischen Adelsrepublik ausgeübt hat. Maria Boguckas Pauschalanklage ist schon deshalb verfehlt, weil die föderale Struktur Polens mit seinen adligen Landtagen oder Sejmiki durchaus in der Lage war, sozialdisziplinierende Initiativen zu ergreifen. Bei der Erforschung dieser Sejmiki hat sich die Forschung bisher in einseitiger Weise von politikhistorischen Fragen leiten lassen. Immerhin ergibt sich an dieser Stelle, daß die polnische Verfassung dem Kriminalitätshistoriker gerade zur Erforschung der Peripherie erhebliche Quellen anbietet. In welchem Maße die polnischen Städte Spezifika geliefert haben, ist generell fraglich, besonders für die protestantisch regierten im Königlichen Preußen wie Danzig, Elbing und Thorn. Hier ließe sich polnische Geschichte anhand deutschsprachiger Akten erforschen - ein Umstand, den sich auch die westliche Kriminalitätsforschung zunutze machen sollte. Alles in allem kann man das Fazit ziehen, daß die polnischen Historiker ihrer traditionellen Pionierrolle auch auf dem Feld der Kriminalitätsgeschichte gerecht wurden, ihre Quellen bislang aber erst ansatzweise erschöpft haben. Die »Entzifferung Europas«, betrieben durch die Ökumene der Historiker, steckt somit auch in dieser Frage noch in den Anfängen. 199 Polnische Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz 25 Hinzu kommt, daß Polen im Hinblick auf rechtshistorische Forschungen ein hohes Maß an Kontinuität aufweist. Dagegen wurde die Disziplin Russische Rechtsgeschichte nach 1917 kaum noch betrieben. Vgl. dazu den Forschungsbericht von Christoph Schmidt: Spaltung der Rechtskultur? Neuansätze zur Erforschung der russischen Rechtsgeschichte (16. bis 18. Jahrhundert), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995), 482-92. 26 Vgl. etwa Janusz Tazbir: Okrucie¢stwo w nowoîytnej Europie (Die Grausamkeit im Europa der Neuzeit), Warszawa 1993, 108-19. Daß die Verrechtlichung sozialer Konflikte von West nach Ost abnahm, die Gewaltsamkeit der bäuerlichen Renitenz sich aber verstärkte, dürfte kaum bezweifelbar sein. Zur Eskalationsspirale bei den Widerstandsformen Leibeigener zwischen Mecklenburg und Moskau Christoph Schmidt: Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie, Köln 1997, 82-104. <?page no="199"?> Bibliographie Maurice Aymard (Hg.): Biedni i bogaci. Studia z dziejów spolecze¢stwa i kultury (Arme und Reiche. Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte). Warszawa 1992. Bohdan Baranowski: Ludzie goÃci¢ca w XVII - XVIII w. (Fahrendes Volk im 17. und 18. Jahrhundert). ŸódÏ 1986. Juliusz Bardach, BogusÎaw LeÃnodorski, MichaÎ Pietrzak: Historia pa¢stwa i prawa polskiego (Polnische Staats- und Rechtsgeschichte). Warszawa 1985. John M. Beattie: Crime and the Courts in England 1660 - 1800. Oxford 1986. Maria Bogucka: Law and Crime in Poland in Early Modern Times, in: Acta Poloniae Historica 71 (1995), 175 - 96. Dies.: Les origines de la pensée pénitentiaire moderne en Pologne du XVII e siècle, in: Acta Poloniae Historica 56 (1987), 19 - 28. Dies.: The Lost World of the »Sarmatians«. Custom as the Regulator of Polish Social Life in Early Modern Times. Warszawa 1996. Jan StanisÎaw Bystro¢: Dzieje obyczajów w dawnej Polsce wiek XVI - XVIII (Kulturgeschichte des alten Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert), 2 Bde. Nd. Warszawa 1994. J.S. Cockburn: The Nature and Incidence of Crime in England 1559 - 1625. A Preliminary Survey, in: J.S. Cockburn (Hg.): Crime in England 1550 - 1800. London 1977. MirosÎaw FranciÅ: Ludzie luÏni w osiemnastowiecznym Krakowie (Die Homines vagi im Krakau des 18. Jahrhunderts). Warszawa 1967. BronisÎaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1988. Ders.: Les marginaux parisiens aux XIV e et XV e siècles. Paris 1976. Ders.: Truands et misérables dans l’Europe moderne. Paris 1980. 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Theoretische Perspektiven <?page no="204"?> 205 Andrea Griesebner, Monika Mommertz Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte Noch zu Beginn der neunziger Jahre kritisierte Robert Jütte die deutschsprachige Geschichtswissenschaft wegen ihrer Ignoranz gegenüber andernorts längst in Angriff genommenen Fragen nach geschlechtsspezifischer Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. 1 Nur acht Jahre später hat sich das Bild verschoben. Wie ein Blick in historische Fachzeitschriften und kriminalitätsgeschichtliche Sammelbände zeigt, befaßten sich seitdem zahlreiche Studien mit »weiblicher Kriminalität«, »weiblicher Delinquenz«, »weiblicher Devianz« oder mit »Frauen vor Gericht«. Auch liegt ein erster Sammelband zu Geschlecht und Kriminalität vor. 2 Wenigstens für jüngere Generationen sozial- oder kulturgeschichtlich arbeitender KriminalitätshistorikerInnen scheint die Kategorie Geschlecht zum Handwerkszeug zu gehören; wer nicht wenigstens ›einen Blick‹ auf Frauen einzuarbeiten versteht, muß auf den Tagungen der Zunft mit Befremden oder gar mit ›peinlicher Befragung‹ durch KollegInnen rechnen. Für diese im Vergleich zu anderen historischen Forschungsschwerpunkten bemerkenswerte Aufmerksamkeit sind mehrere Momente auszumachen. Im deutschsprachigen Raum ist die historische Kriminalitätsforschung ein sehr junges Forschungsfeld, an dessen Ausgestaltung an Frauen- und Geschlechtergeschichte interessierte HistorikerInnen nicht unwesentlich beteiligt waren. Gilt das Forschungsinteresse semi-oralen bzw. illiteraten Gesellschaften, so verbindet Historische Kriminalitätsforschung und Frauen- und Geschlechtergeschichte nicht zuletzt das gemeinsame Interesse an den im Kontext obrigkeitlicher Verfolgung produzierten Texten. Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings, wie ungleichzeitig bzw. ausgesprochen selektiv Diskussionsprozesse und Thesen der Frauen- und Geschlechtergeschichte im Feld der historischen Kriminalitätsforschung rezipiert wurden und werden. Die Rezeptions- und Gedankenarbeit ist unserer Beobachtung nach ziemlich disparat verteilt: Während in einigen Ecken des ›kriminellen‹ Wissenschaftsfeldes selbst die für die ersten Anfänge feministischer Geschichtsforschung charakteristischen Axiome einer Kritik der androzentrischen Vernunft noch kaum angekommen sind, wird in anderen Ecken längst über die durchaus nicht unproblematischen Implikationen und Begrenzungen des Sex-Gender-Konzepts nachgedacht. Wie facettenreich der Forschungsstand ist, der sich unter den Stichworten Frauen/ Geschlecht/ Kriminalität ansiedeln läßt, kann an vielen Orten, nicht zuletzt auch in 1 Robert Jütte: Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Germ. Abt.) Heft 108/ 1991, 86 - 115, hier: 91. 2 Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995. <?page no="205"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 206 verschiedenen Beiträgen dieses Sammelbandes nachgelesen werden. 3 In unserem Beitrag wollen wir den Schwerpunkt daher auf methodologische und theoretische Fragen legen. In einem ersten Abschnitt sollen die kritischen Stimmen zur Verwendung der Kategorie Geschlecht durch historische KriminalitätsforscherInnen gebündelt werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil in neueren ›allgemeinen‹ Forschungsüberblicken zwar auf geschlechtergeschichtliche Studien Bezug genommen wird, die aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung formulierten methodologischen Bedenken gegenüber gängigen Methoden bzw. Vorannahmen der historischen Kriminalitätsforschung hingegen gänzlich ausgespart bleiben. 4 Die Einwände wie die daraus abgeleiteten Postulate der SkeptikerInnen speisen sich aus einer theoretisch informierten Reflexion empirischer Befunde. Will sich die historische Kriminalitätsforschung den Anschluß an neuere Entwicklungen der Geschichtswissenschaft nicht versperren, so sollte sie unseres Erachtens die Erkenntnisse der ›Gender Studies‹ nicht ausklammern. In einem zweiten Schritt wollen wir deshalb auf die - in weiten Teilen der historischen Kriminalitätsforschung unbeachtet gebliebenen - Gender-Debatten aufmerksam machen und damit einhergehende grundlegende theoretische Positionsverschiebungen umreißen. Dabei ist über das historiographische Feld hinauszugreifen, denn gewissermaßen traditionell hat sich die überwiegend unter feministischen Vorzeichen betriebene Reflexion der Kategorie Geschlecht in den Zwischenräumen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen abgespielt. Wenn wir im letzten Teil unseres Beitrags den Bogen zu methodologischen Überlegungen aus unseren eigenen Forschungen spannen, so geschieht dies in der Absicht, exemplarisch einige von sicherlich vielen Möglichkeiten zu skizzieren, wie diese Gender-Debatten für das wissenschaftliche Nachdenken produktiv gemacht werden können. Kritische Stimmen Würde man aus den bislang vorliegenden kritschen Beiträgen zu ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ eine Problemliste erstellen, so müßte wohl der allzu unbefangene Umgang mit statistisch erhobenen Daten an erster Stelle stehen. Schon früh setzten Susanna Burghartz und Michaela Hohkamp einer geschlechtsspezifischen Quantifizierung ihre Beobachtung entgegen, daß in ›vormodernen‹ Gesellschaften die Gerichte in aller Regel kein »Ort für Frauen« waren. 5 Nimmt man hinzu, daß in der Frühen Neuzeit die Gerichtsherrschaft regional sehr unterschiedlichen Spielregeln gehorchte, so ist zu bezweifeln, ob sich aus einer numerischen Erfassung der DelinquentInnen brauchbare Aussagen 3 Neben den Beiträgen dieses Bandes vgl. exemplarisch auch die Forschungsüberblicke von Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Martina Althoff/ Sabine Kappel (Hg.): Geschlechterverhältnis und Kriminologie (=Kriminologisches Journal/ 5. Beiheft 1995), Weinheim 1995, 208-220; Susanna Burghartz: ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ - ein ›fruchtbares‹ Verhältnis? , in: Rudolf Jaun/ Brigitte Studer (Hg.): weiblich - männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken (Originaltitel: féminin - masculin. Rapports sociaux de sexes en Suisse: législation, discours, pratiques. Zürich 1995, 23-31); Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 39-62 und Otto Ulbricht: Einleitung, in: ders. (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 1-37. 4 Vgl. exemplarisch Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift Heft 263/ 1996, 681 - 715. <?page no="206"?> Fragile Liebschaften? 207 über eine ›geschlechtsspezifische Kriminalität‹ gewinnen lassen. Spätestens wenn es um überregionale oder über längere Zeiträume reichende Vergleiche geht, lassen sich die unterschiedlichen Entstehungskontexte der einzelnen Datensätze kaum mehr in die Analyse der Zahlenreihen miteinbeziehen. Zu denken ist hier sowohl an justizinterne Faktoren - an die Divergenz der Normensysteme und Strafverfahrensweisen, die unterschiedliche Effizienz der Strafverfolgung, die komplexen Auswirkungen von Regelungen, die den Zugang zu Rechtsinstanzen bestimmten - als auch an die Bandbreite der jeweils konkreten sozialen und kulturellen Bedingungen, die in die Entscheidungen einflossen, wer für welche Handlung vor Gericht zitiert wurde. 6 Mit verschiedenen Argumenten wurde unterstrichen, daß Kriminalstatistiken Ergebnisse geschlechtsspezifischer Zuschreibungen enthalten. Heide Wunder etwa betonte die produktive Wirkung von Geschlechterstereotypen sowohl für die ›Herstellung‹ wie für die Verfolgung von Kriminalität. Von der These ausgehend, daß die ZeitgenossInnen die Fähigkeit, die gesellschaftliche Ordnung zu gefährden, in bestimmten Bereichen eher Frauen, in anderen eher Männern zuschrieben, forderte sie, die Kriminalität von Frauen im Kontext sozialer Ungleichheit der Geschlechter zu analysieren. 7 Auf einen anderen für die Datenerhebung ebenfalls ausschlaggebenden Punkt machte Ulrike Gleixner aufmerksam, die am Beispiel von ›Unzuchts‹verfahren zeigte, wie gerade im richterlichen Verhör Geschlechterkonzepte entworfen wurden, die der Komplexität der ökonomischen und sozialen Beziehungen entgegenstanden, aus denen heraus KlägerInnen und Beklagte vor Gericht traten oder zitiert wurden. 8 Nicht zuletzt gilt es, recht einfach erscheinende Quellenprobleme zu beachten: Wie Gerd Schwerhoff anmerkt, unterscheiden historische Statistiken meist nicht zwischen Verhafteten und Verurteilten und sind schon allein aus diesem Grund für geschlechtsspezifische Vergleiche ungeeignet. 9 Auch berücksichtigen weder zeitgenössische noch historische Kriminalstatistiken, daß die DelinquentInnen sich oft wegen mehrerer ›Delikte‹ gerichtlich zu verantworten hatten. Dem »befremdlichen Statistikfetischismus« mancher historischer KriminalitätsforscherInnen hielt u.a. Claudia Ulbrich entgegen, erst jene quantitativen Befunde zu erzeugen, die scheinbar objektiv belegen, daß Frauen mit dem Strafrecht weniger oft in Konflikt kamen als Männer. Derart zustandegekommene Forschungsergebnisse führten vorschnell zur These einer jenseits aller Kultur und Geschichte »friedfertigen Frau«, eine These, welche nahtlos in gegenwärtig wirkungsmächtige Geschlechterstereotypen paßt. 10 5 Susanna Burghartz: Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter, in: Bea Lundt (Hg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, 49 - 64; Michaela Hohkamp: »Auf so ein erlogenes Maul gehört eine Maultaschen«. Weibliche Gegen-Gewalt. Ein Fallbeipiel aus dem Schwarzwald des 18. Jahrhunderts, in: Werkstatt Geschichte, 2. Jg./ Heft 4/ 1993, 9 - 19 sowie dieselbe: Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberger/ Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Historische Studien zu einer verschwiegenen Kontinuität, Frankfurt am Main 1995, 276 - 302. 6 Vgl. dazu auch Claudia Ulbrich: Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2), 281 - 312, hier: 282. 7 Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3) 8 Ulrike Gleixner: ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt am Main/ New York 1994 sowie dies.: Geschlechterdifferenzen und die Faktizität des Fiktionalen. Zur Dekonstruktion frühneuzeitlicher Verhörprotokolle, in: Werkstatt Geschichte, 4. Jg./ Heft 11/ 1995, 65 - 70. 9 Gert Schwerhoff: Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2) , 83 - 115. 10 Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 208. <?page no="207"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 208 Trotz der relativen Offenheit für geschlechtergeschichtliche Fragestellungen läßt sich für das Gros der kriminalitätshistorischen Arbeiten konstatieren, daß auch hier Geschlecht nicht als analytische Kategorie genutzt wurde, sondern meist als bloßes Synonym für ›Frauen‹ 11 Verwendung fand. Es verwundert deshalb nicht, daß ›Männer‹ oder ›Männlichkeit‹ als Problemstellung noch kaum in den Blick genommen werden. 12 Nach wie vor haben Studien, die ihre Beobachtungen an männlichen ›Objekten‹ nonchalant zu übergreifenden Aussagen wie beispielsweise zur Kriminalitätsentwicklung in der Frühen Neuzeit verarbeiten, weder an Attraktivität noch an wissenschaftlicher Legitimität verloren. Wo aber lediglich Frauen als geschlechtliche Individuen wahrgenommen werden, muß folgerichtig die Kriminalität von Männern als allgemeine, die Kriminalität von Frauen dagegen als abweichende Kriminalität konstruiert werden. Wie Susanna Burghartz hervorhob, haben diese Konzeptionen die Kriminalität von Frauen »zu einem bevorzugten Thema kriminalbiologischer und kriminalanthropologischer Theoretiker gemacht.« 13 In Distanz zu einer normativ ausgerichteten und an »dem Kriminellen« orientierten traditionellen Rechtsgeschichte bevorzugen die ›jüngeren‹ VertreterInnen der historischen Kriminalitätsforschung bekanntlich das ›weichere‹ und zugleich zur soziologischen Kriminologie hin offene Konzept des »abweichenden Verhaltens«. 14 Frauen- und GeschlechterforscherInnen griffen das Devianz-Konzept unter anderem deshalb auf, weil es biologistische Erklärungsansätze der ›Frauenkriminalität‹ zu überwinden versprach und zugleich die Annahme eines universellen Konsenses über Normen und Werte in Frage stellte. Damit wurde es möglich, nach den spezifischen Konstruktionen von Kriminalität und den ihnen zugrundeliegenden geschlechtsspezifischen Festschreibungen zu fragen. 15 Nimmt man dieses Konzept etwas genauer unter die Lupe, so zeigt sich jedoch, daß die programmatische Festlegung auf abweichendes Verhalten auch gewichtige Nachteile mit sich bringt. Gewissermaßen konzeptionell verfehlt eine über den Gegenstand Devianz zusammengehaltene historische Kriminalitätsforschung eines ihrer formulierten Ziele, nämlich in »Menschen vergangener Tage nicht allein Objekte obrigkeitlicher Disziplinierung«, sondern »eigenwillige Subjekte« sehen zu wollen. 16 Im Begriff des abweichenden Verhaltens mischen sich regelmäßig analytischer Anspruch und die in Gerichtsquellen vorgezeichnete Perspektive auf das Verhalten frühneuzeitlicher Frauen und Männer: Was sich im Rahmen der einschlägigen Akten als Devianz jeweils ermitteln läßt, wurde eben nicht bloß »durch die verfolgenden Instanzen - Polizei, Justizapparat und Gerichte - registriert, bewertet und sanktioniert« 17 , sondern auch in der Praxis dieser Institutionen erzeugt. Obwohl VertreterInnen des Devianz-Ansatzes durch- 11 Diesen Aspekt heben vor allem Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 212 sowie Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3) hervor, auf Implikationen ist weiter unten noch einzugehen. 12 Als eine der wenigen Ausnahmen vgl. Brigitte Rath: »(...) und wolt das Schwert durch in stossen.« Zur physischen Gewalt in Südtirol um 1500, in: L'Homme. Z.F.G. 7. Jg./ Heft 2/ 1996, 56 - 69. 13 Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3), 23ff. 14 Trotz ihrer Distanz zum Konzept der »weiblichen Kriminalität« setzt z.B. auch Heide Wunder explizit auf das Konzept des »abweichenden Verhaltens«, vgl. dies.: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3). 15 Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3), 27. 16 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung. Band 19/ Heft 4/ 1992, 385 - 414, hier: 413. 17 Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität« (wie Anm. 3), 42. <?page no="208"?> Fragile Liebschaften? 209 aus auf diese Problematik zu sprechen kommen, werden die Konsequenzen für die Bestimmung des Untersuchungsgegenstands oft nicht mitbedacht: Da das in Gerichtsquellen sichtbare Verhalten vorweg als deviant qualifiziert wird, ist quasi definitorisch ausgegrenzt, daß dem vor Gericht verhandelten und damit immer schon auf spezifische Weise präsentierten Verhalten im Kontext anderer sozialer Institutionen oder Handlungsfelder ein radikal anderer »sozialer Sinn« zukommen könnte. 18 Unberücksichtigt bleibt, daß die in Gerichtsakten als deviant wahrnehmbaren Handlungen eng an die verfolgten Individuen gebunden sind, identische Handlungen von anderen Individuen nicht per se ebenfalls als deviant bewertet wurden. Funktionieren Gerichtsquellen also bereits aus ihrem Entstehungshintergrund als hochgradige Filter sozialer Wirklichkeit, so wird mit der programmatischen Ausrichtung auf Devianz im nachhinein ein weiterer Filter vor die Erkenntnis sozialer wie kultureller Bedeutungen der in Justizakten zugänglichen Handlungs- und Verhaltensweisen geschoben. Dem entgeht auch ein um den »labeling-approach« erweiteter Devianzbegriff nicht grundsätzlich: Wenngleich damit zurecht angeregt wird, abweichendes Verhalten als Ergebnis von »Etikettierungsprozessen« 19 zu begreifen, die bereits im sozialen Umfeld der vor Gericht zitierten Personen zu untersuchen sind, schwenkt auch der »labeling-approach« wieder auf Devianz als eigentliches Untersuchungsfeld ein: Das wechselseitige Verhältnis zwischen DelinquentInnen und anderen in den Quellen greifbaren Personen interessiert primär, wenn nicht ausschließlich aus der Perspektive jener Prozesse, in denen das Etikett deviant einer Handlung bzw. den handelnden Personen aufgedrückt wird. 20 Für die wissenschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht wirkt sich dies in doppelter Weise aus: Vor dem Hintergrund der im allgemeinen geringen Sichtbarkeit von Frauen in der vormodernen Überlieferung gerät das als deviant kenntlich gemachte Handeln von Frauen unversehens zum einzig möglichen - oder aber zum ›weiblichen‹ Verhalten schlechthin: Gemessen an jenem von Männern muß dieses fast zwangsläufig als »defizitär« registriert werden. 21 Wer solchen Kurzschlüssen entgegenarbeiten möchte, darf sich unseres Erachtens nicht durch eine einseitige Ausrichtung auf abweichendes Verhalten die Chance vergeben, Gerichtsquellen systematisch zur Re-Konstruktion von Lebenswelten, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungsmustern historischer Frauen bzw. Männer zu nutzen - etwa indem die Akten auch als »Ego-Dokumente« begriffen werden. 22 Aus der Sicht der Geschlechterforschung scheinen darüber hinaus auch einige methodisch- 18 Vgl. dazu Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht. Konfliktaustragungspraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg (Zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Dreißigjährigen Krieg), unveröffentlichte Dissertation, Europäisches Hochschulinstitut Florenz 1997. 19 Gerd Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 16), 396. 20 Ebd., 396. 21 Auf den Effekt, daß die Suche nach »weiblicher Kriminalität« nicht selten diese als »Sonderfall« der selbstredend als männlich gedachten Kriminalität hervorbringt, verweist Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität« (wie Anm. 3). Claudia Ulbrich hebt hervor, daß ein »unreflektiertes Sichtbarmachen ›weiblicher Kriminalität‹ keineswegs eine harmlose Ergänzung des Forschungsstandes« ist, sondern im Gegenteil die Gefahr berge, »tradierte Vorstellungen von Weiblichkeit festzuschreiben und damit zu einer erneuten Verdrängung von Frauen beizutragen«. Dies.: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (wie Anm. 3), 217. Mit dem ›Devianz-Konzept‹ wird dieses Problem nur auf eine andere Ebene verschoben. 22 Vgl. dazu Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 207 - 226. <?page no="209"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 210 theoretische Horizontverschiebungen angebracht. Um diese auch für LeserInnen, die mit den Gender-Debatten der letzten Jahrzehnte weniger vertraut sind, nachvollziehbar zu machen, sollen zunächst - und in aller gebotenen Kürze - einige der wichtigsten Entwicklungslinien nachgezeichnet werden. Geschlecht als analytische Kategorie Die überwiegend unter feministischen Vorzeichen betriebene Reflexion der Kategorie Geschlecht hat seit ihren Anfängen in den siebziger Jahren die nationalen wie disziplinären, aber auch die akademischen Diskussionsräume überschritten. Die von US-amerikanischen Theoretikerinnen vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Sex (biologisches/ anatomisches Geschlecht) und Gender (soziales/ kulturelles Geschlecht) 23 rief international breite Resonanz hervor und fand rasch Eingang in die deutschsprachige Forschung. Der entscheidende Vorteil der analytischen Trennung von Sex und Gender lag in der Möglichkeit, die in der Vergangenheit vorgefundenen Geschlechterrollen zu historisieren und damit zuvor dominanten biologistischen Geschlechtertheorien den argumentativen Boden zu entziehen. Lag am Beginn des Neuaufbruchs der feminstischen Forschung der Fokus auf dem ›Sichtbarmachen‹ von Frauen, so erwiesen sich die kompensatorischen wie die kontributorischen Konzepte 24 relativ rasch als zu eng. Insbesondere Historikerinnen forderten ein relationales Verständnis der Kategorie Geschlecht ein. Wir erinnern etwa an die berühmt gewordene Analogie, die Natalie Zemon Davis zur Sozialgeschichte zog: Historikerinnen sollten »nicht ausschließlich über das unterdrückte Geschlecht arbeiten (...), ebensowenig wie ein Historiker, der sich mit Klassenkategorien beschäftigt, sich ausschließlich auf Bauern konzentrieren kann.« 25 Auch wenn in der Folge die ›Frauengeschichte‹ zunehmend durch eine ›Geschlechtergeschichte‹ ersetzt wurde: Mit der Betonung der sozialen und kulturellen Konstruktionen von Gender blieb das biologische/ anatomische Geschlecht, sprich der Körper außerhalb des Blickfeldes der historischen Forschung. ›Frauen‹ wie ›Männer‹ wurden als biologisch fundierte Bezugsgrößen und damit stillschweigend als in ihrer Grundkonstitution konstant und geschichtsunabhängig gedacht. Auf diese dem Sex- Gender-Konzept inhärenten Vorannahmen machten in den letzten Jahren neben femi- 23 Die US-amerikanische Soziologin Ann Oakely führte folgende Unterscheidung ein: »›Sex‹ is a word that refers to the biological differences between male and female (...) ›gender‹ however, is a matter of culture: it refers to the social classification into ›masculine‹ and ›feminine‹. The constancy of sex must be admitted, but also must the variability of gender«. Ann Oakely: Sex, Gender and Society, New York 1972, hier: 16. Ähnlich argumentierte auch die US-amerikanischen Anthropologin Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the Political Economy of Sex, in: Rayna Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women, New York 1975, 175 - 210. 24 Diese Systematisierung geht auf Gerda Lerner zurück. In Anlehnung an Mari Jo Buhle, Ann Gordon und Nancy Schrom teilte sie in einem ersten Forschungüberblick die Forschungen, je nachdem welche Gruppe von Frauen sie sichtbar machten, in kompensatorische und kontributorische Ansätze. Gerda Lerner: Placing Women in History, in: Feminist Studies III/ 1975, 5 - 14. Zur Konzeptualisierung von Geschlecht im feministisch-historischen Diskurs seit den siebziger Jahren vgl. auch Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1998, 40 - 76. 25 Natalie Zemon Davis: ›Women's History‹ in Transition: The European Case, in: Feminist Studies III/ 1976, 83 - 103 (deutsch: Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte, in dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt am Main 1986. <?page no="210"?> Fragile Liebschaften? 211 nistischen PhilosophInnen und AnthropologInnen insbesondere auch an Körpergeschichte interessierte HistorikerInnen aufmerksam. Schon früh hatten Caroline Walker-Bynum 26 , Gianna Pomata 27 und Barbara Duden 28 die Erforschung der Geschichte von Leiblichkeit, Sexualität und Körpererfahrungen mit der Frage nach Geschlecht verknüpft. 29 Ihre Arbeiten, die das in den letzten Jahren sprunghaft gestiegene Interesse an der Be-Deutung des Körpers gewissermaßen vorbereiteten, 30 belegten eindrucksvoll, wie durchgreifend man sich die Historizität von Sex vorzustellen hat. Geht man davon aus, daß Vorstellungs- und Deutungsmuster von Leiblichkeit, Natur und Materie auf der einen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf der anderen Seite in gesellschaftliche Prozesse eingebettet sind, so können keine biologischen Fixpunkte angenommen werden, auf denen ein jeweils veränderliches ›Gender‹ gewissermaßen aufsetzt. Auch wenn alle uns bekannten historischen Gesellschaften zwischen Männern und Frauen unterschieden und diese Unterscheidung häufig in irgendeiner Weise am Körper festmachten, so können, wie dies jüngst Linda Nicholson auf den Punkt brachte, »die subtilen Unterschiede in der Betrachtung des Körpers sehr grundlegende Implikationen für die Bedeutung des Mann- oder Frauseins und für das Ausmaß und den Charakter des Sexismus besitzen« 31 . Eine solche historisierte Sicht auf den Körper bedeutet keineswegs, wie häufig eingewandt wird, 32 daß der Körper als ein leeres Blatt für soziale Einschreibungen vorzustellen sei. Im Gegenteil. Die Historisierung eröffnet die Frage nach den Wechselwirkung zwischen Sex und Gender. Der Körper wird von einer vorgeblich konstanten zu einer variablen Größe, die auf ihre Bedeutungsvielfalt hin zu analysieren ist. 26 Caroline Walker Bynum: Fragmentierung und Erlösung, Frankfurt am Main 1996 (englisch 1991). 27 Gianna Pomata: Die Geschichte der Frauen zwischen Anthropologie und Biologie, in: Feministische Studien, 2. Jg./ Heft 2/ 1983, 113 - 127 (italienisch 1983). 28 Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. 29 Barbara Duden baut ihre Kritik an der gegenwärtigen medizinischen Praxis, die ihrer Ansicht nach die Körpererfahrungen von Frauen überformt, tendenziell auf der Matrix einer als authentisch geschilderten Körpererfahrung im 18. Jahrhundert auf. Vgl. Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, Hamburg 1991 und dieselbe: Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 11. Jg./ Heft 2/ 1993, 24 - 33. 30 Für diesen neuen Blick auf einen historisierten Körper vgl. Richard van Dülmen (Hg.): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1996. Vgl. insbesondere den Beitrag von Maren Lorenz: »(...) als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte (...).« Schwangerschaftswahrnehmungen und Geburtserfahrungen von Frauen im 18. Jahrhundert, 99 - 121 sowie dieselbe: Devianz und Gesellschaft. Selbst- und Fremdwahrnehmung von Körper und Seele im Spiegel gerichtsmedizinischer Fallsammlungen des 18. Jahrhunderts, unveröffentlichte Dissertation, Universität des Saarlandes 1997. 31 Linda Nicholson: Was heißt ›gender‹, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main 1994, 212. Vgl. dazu auch dieselbe: Geschlechtsidentität und sexuelle Praxis. ›Tommy‹ und ›Molly‹ als Verkehrung der Geschlechterrollen, in: Neue Rundschau 104. Jg./ Heft 4/ 1993, 71 - 80. 32 Vgl. exemplarisch die polemische Argumentation von Barbara Duden: Die Frau ohne Unterleib (wie Anm. 29), außerdem Hilge Landweer: Kritik und Verteidigung der Kategorie Geschlecht. Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur Sex/ Gender-Unterscheidung, in: Feministische Studien 11. Jg./ Heft 2/ 1993, 34 - 43. Hilge Landweer führt »Sterblichkeit, Geburtigkeit und damit Generativität« als anthropologische Grundkonstanten an, die in jeder Kultur zur »Kategorisierung von ›Geschlecht‹« führen würden. <?page no="211"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 212 Problematisch am Sex-Gender-Konzept erwies sich zudem, daß es der Vorstellung einer Zeit und Raum transzendierenden Dualität der Geschlechter verhaftet blieb. Kritik an der Annahme eines kollektiven Subjekts ›Frauen‹ (oder ›Männer‹), wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem mit Judith Butlers dekonstruktivistischen Überlegungen in »Gender trouble« verknüpft wird, übten zu Beginn der achtziger Jahre vorwiegend afro- und lateinamerikanische sowie lesbische Theoretikerinnen, die darauf aufmerksam machten, daß das kollektive Subjekt ›Frau‹ - auch in seiner Erweiterung auf ›Frauen‹ - eine gemeinsame Identität und gemeinsame Eigenschaften derjenigen voraussetze, die es zu repräsentieren vorgibt. 33 Das Ein- und Ausgeschlossene erzeugende und die Wahrnehmung von Wirklichkeit strukturiende Kollektivsubjekt ›Frauen‹ bzw. ›Männer‹ ist in dieser Lesart weder vordiskursiv 34 noch ›natürlich‹, sondern das Produkt verschiedener Diskurse und Praktiken, nicht zuletzt auch der feministischen. Subjekt- und Gender-Konzepte, die versuchen, dem Paradoxon Rechnung zu tragen, daß die Zurückweisung eindimensionaler Identitätskategorien - sei es Geschlecht, Rasse oder sexuelle Orientierung - ihre Konstruktion gleichsam voraussetzen, wurden in den letzten Jahren vor allem im framework postmoderner und postkolonialer Ansätze entwickelt. 35 Anstatt analytische Dichotomien weiter fortzuschreiben, gehen diese neueren Ansätze davon aus, daß Menschen an Schnittpunkten verschiedener Diskurse denken und handeln. In den Blick geraten die Überschneidungen und Verwebungen, die ›intersections‹ zwischen verschiedenen Klassifizierungs- und damit Positionierungssystemen. Daß mit der Verabschiedung des cartesianischen Subjekts eine generelle Suspendierung des handlungsfähigen Subjekts einhergehe - KritikerInnen sprechen polemisch vom »Tod des Subjekts« durch postmoderne Theorien 36 - sehen wir nicht. Die These des konstituierten Charakters des Subjekts stellt gerade die Vorbedingung für seine Handlungsfähigkeit dar, ermöglicht es, gegenwärtige wie historische Individuen als innerhalb eines historischen Kontextes hervorgebrachte und konstituierte zu begreifen. 37 33 In aktuelle politische Debatten eingreifend, kritisierte etwa Hazel V. Carby das feministische »Wir« als ein Konstrukt, das auf der Verschleierung von Machtbeziehungen zwischen Frauen beruht und durch die Ausblendung historischer rassistischer Kontexte »within the relations of racism« bleibt. Hazel V. Carby: White Women Listen! Black Feminism and the Boundaries of Sisterhood, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (ed.): The Empire Strikes Back. London 1988 (1982), 212 - 235. Zur Kritik am Rassismus feministischer Theorien vgl. Brigitte Kossek: Überschneidungen, Zwischenräume & Grenzziehungen, in: Gerlinde Schein/ Sabine Strasser (Hg.): Intersexions. Feministische Anthropologie zu Geschlecht, Kultur und Sexualität, Wien 1997 (Reihe Frauenforschung Band 34), 177 - 230. Die Konflikte, die die wissenschaflichen Debatten vorantrieben, werden auch an einem vielzitierten Satz von Monique Wittig greifbar: »Ich bin keine Frau, ich bin eine Lesbe.« 34 Mit vordiskursiv meinen wir, daß es keine Ich-Position außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse gibt. Vgl. dazu auch Isabell Lorey: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen 1996, 10. 35 Für die Identitätskategorie ›Frau‹ vgl. exemplarisch Joan Wallach Scott: Only Paradoxes to offer. French Feminists and the Rights of Man. Harvard 1996; für die Identitätskategorie ›Lesbe‹ vgl. exemplarisch Sabine Hark: Einsätze im Feld der Macht. Lesbische Identitäten in der Matrix der Heterosexualität, in: L'Homme. Z.F.G., 4. Jg./ Heft 1/ 1993, 9 - 17, für die Identitätskategorie ›schwarz‹ vgl. exemplarisch Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994. 36 Vgl. etwa Seyla Benhabib: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, in: dieselbe/ Judith Butler/ Drucilla Cornell/ Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, 9 - 30. 37 Vgl. dazu auch Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹, in: Seyla Benhabib/ Judith Butler/ Drucilla Cornell/ Nancy Fraser, Der Streit um Differenz (wie Anm. 36), 31 - 58. <?page no="212"?> Fragile Liebschaften? 213 Die kurz umrissenen Forschungspositionen, die von HistorikerInnen ebenso aufgegriffen wie angeregt wurden, eröffneten den Raum für veränderte Fragestellungen und führten zu bemerkenswerten Ergebnissen. Bereits Anfang der neunziger Jahre vertrat etwa Heide Wunder die Ansicht, daß frühneuzeitliche Gesellschaften mit einem binären Geschlechtermodell nicht angemessen analysiert werden können. Ihre Forschungen resümierend hielt sie fest, »daß in der ständischen Gesellschaft die ›Kategorie Geschlecht‹ nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war die Wirksamkeit der Geschlechtszugehörigkeit nach Lebensalter, Zivilstand und sozialer Schicht gestuft.« 38 Claudia Ulbrich förderte in ihrer mikrohistorischen Re-Konstruktion der Handlungsräume und Erfahrungswelten von Frauen eine Ordnung zutage, »die in Pluralität begründet war und Geschlecht nicht als polares Deutungsmuster, sondern in Interdependenz mit anderen Kriterien sozialer Ungleichheit erscheinen ließ.« 39 Wichtige Erkenntnisse lieferten gleichermaßen die von Michel Foucault inspirierten Studien, deren Interesse der Repräsentation sowie der Konstruktion der ›sexuellen Differenz‹ in verschiedenen Diskursformationen galt. Claudia Honegger beschrieb, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts neben den »Wissenschaften vom Menschen« auch die »Wissenschaft vom Weib« und mit ihr eine binäre Ordnung entstand, die bis in die Gegenwart für das Geschlechterverhältnis prägend ist. 40 Londa Schiebinger arbeitete heraus, wie im Denk- und Wissenschaftssystem der Aufklärung ›Volkszugehörigkeit‹ und Geschlecht zu zentralen Analyse- und Klassifikationskriterien wurden und nach langem Wenn und Aber die Differenz zwischen den Geschlechtern als sekundär gegenüber jenen der ›Rasse‹ gefaßt wurde 41 . Thomas Laqueur machte darauf aufmerksam, daß den anatomischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern noch im 18. Jahrhundert kaum Erklärungskraft zukam. 42 Wurden die jeweils wahrgenommenen körperlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den ›vormodernen‹ Gesellschaften als graduelle gedacht, 43 so be- 38 Heide Wunder: »Er ist die Sonn', sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, 264; vgl. dazu auch dieselbe: Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15. - 17. Jahrhundert), in: Christiane Eifert u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt am Main 1996, 122 - 155. 39 Claudia Ulbrich: Frauen im Dorf. Handlungsräume und Erfahrungswelten von Frauen im 18. Jahrhundert aus der Perspektive einer lokalen Gesellschaft, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 1994, 411 (Sulamith und Margarete. Religion, Macht und Geschlecht in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien/ Köln/ Weimar 1999 in Vorbereitung). 40 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750 - 1850, Frankfurt am Main/ New York 1991. Vgl. dazu auch Ludmilla Jordanova: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries, New York/ London u.a. 1989. 41 Londa Schiebinger: Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995 (englisch 1993). 42 Nach Thomas Laqueur galt es bis ins späte 18. Jahrhundert als »Allerweltsweisheit«, daß die Frauen über dieselben Genitalien wie die Männer verfügten, mit dem einzigen Unterschied, daß die imaginierte geringere Hitze der Frauen sie innerhalb ihres Körpers ließ. Das vorherrschende »Ein-Geschlecht-Modell« kannte keine Begrifflichkeiten für die weiblichen Geschlechtsorgane, sondern beschrieb sie als die mindere Version der männlichen. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main 1994 (englisch: 1990). 43 Während Thomas Laqueur diese Lesart der ›sexuellen Differenz‹ als ›Ein-Geschlecht Modell‹ begrifflich zu fassen sucht, spricht Stephen Greenblatt vom ›Konzept der teleologischen Männlichkeit‹. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben (wie Anm. 42); Stephen Greenblatt: Dichtung und Reibung, in ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, 66 - 91 (englisch 1988). <?page no="213"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 214 gann sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch in der Lesart der ›sexuellen Differenz‹ eine neue Logik durchzusetzen: eine Logik, die sich entlang der von Michel Foucault analysierten epistemologischen Verschiebungen entwikkelte und anstelle von Ähnlichkeit mit sich gegenseitig ausschließenden Gegensätzen operierte. 44 Historische wie ethnologische Forschungen haben vorgeführt, daß körperliche Differenzen zwischen Männern und Frauen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten mit einem großen Reichtum an Varianten wahrgenommen, gedeutet und gelebt wurden, ›westliche‹ Geschlechterkonzepte der Gegenwart weder in andere ›Kulturen‹ noch in andere ›Zeiten‹ übertragen werden können 45 . Letzteres scheint uns dort der Fall zu sein, wo historische KriminalitätsforscherInnen wider die sonst so eingängige Forderung nach einer differenzierten Betrachtungsweise die historischen Individuen lediglich auf der Grundlage einer einzigen Zuordnung - der nach Geschlecht - sortieren und die derart zutage geförderten Unterschiede unmittelbar auf die Geschlechtszugehörigkeit der untersuchten Individuen zurückführen. Auch wenn solche Unterschiede in der Tradition des Sex-Gender-Konzepts nicht mehr als biologisch, sondern als sozial und kulturell fundierte betrachtet werden, so überträgt dieser methodische Zugriff stillschweigend ein dualistisches und komplementäres Gender-Konzept in die Vergangenheit, welches - Karin Hausen hat bereits vor mehr als zwanzig Jahren darauf hingewiesen - konstitutiv für moderne Auffassungen von Geschlecht ist. 46 Aber auch eine qualitativ erweiterte bzw. interpretative Herangehensweise schließt nicht per se aus, daß Geschlechterbilder in die Vergangenheit transportiert werden, die eher die unhinterfragten Vorannahmen der Forschenden als die spezifischen Geschlechterkonzepte der untersuchten Gesellschaften beschreiben. Einer Geschichtsforschung, die sich nicht an einer Ontologisierung und Naturalisierung der ›sexuellen‹ Differenz beteiligen möchte, muß es also grundsätzlich darum gehen, die binäre Opposition zu dekonstruieren und nach den Bedingungen ihrer Entstehung zu fragen. 47 Auf die Kriminalitätsforschung bezogen gilt es, Konzepte und Methoden zu entwickeln, welche die herkömmlichen Dichotomien wie Opfer/ Täter oder Männer/ Frauen überwinden. 48 Wenngleich es keinen KönigInnenweg für historische Forschungen geben kann und ein solcher auch gar nicht wünschenwert wäre, so lassen sich dennoch einige allgemeinere Überlegungen anstellen, wie vermieden werden könnte, der Verquickung der dop- 44 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1995 (französisch 1966). 45 Die Forschungsergebnisse von Wissenschaftlerinnen, deren Forschungsinteresse im Gegensatz zum Beginn der Frauen- und Geschlechtergeschichte ›vormodernen‹ europäischen Gesellschaften galt, korrelieren hier deutlich mit Beobachtungen feministischer Ethnologinnen. Vgl. etwa die Beiträge in dem von Ilse Lenz und Ute Luig herausgegebenen Sammelband: Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, Berlin 1990; desweiteren: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Geschlechterkonstruktionen, Nr. 7/ 1994 sowie Gerlinde Schein / Sabine Strasser (Hg.): Intersexions (wie Anm. 33). 46 Vgl. den wegweisenden Artikel von Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 368 - 393. Vgl. dazu auch Gisela Bock: Historische Frauenforschung. Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte. München 1983, 22 - 60. 47 Vgl. den wegweisenden Artikel von Joan Wallach Scott: Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27 - 75 (englisch 1986). 48 Ein Postulat, welches trotz aller Unterschiede im Einzelnen auch von der Mehrheit der BeiträgerInnen des Sammelbandes: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 2) vertreten wird. <?page no="214"?> Fragile Liebschaften? 215 pelten Konstruktion von ›Kriminalität‹ und ›Weiblichkeit‹ 49 in den Akten aufzusitzen und diese fröhlich fortzuschreiben. Grundsätzlich scheint es uns überfällig, die längst breit akzeptierten Grundannahmen der historischen Anthropologie auch dann ernst zu nehmen, wenn das Forschungsinteresse der ›sexuellen Differenz‹ gilt. Die bislang ausgeführten Beobachtungen lassen sich zu der These verdichten, daß ›fremde‹, vormoderne Gesellschaften auch ›fremde‹ Konstruktionen von Geschlecht hervorbrachten. 50 Die unvertraute historische Seite von Sex wie Gender mitbedenkend, können historische Frauen und Männer folglich nicht vorweg definiert, sondern müssen gewissermaßen in Anführungszeichen gesetzt werden. Auf der Begriffsebene scheint es uns sinnvoll, von geschlechtlich markierten Personen zu sprechen. Will man die Prägekraft der geschlechtlichen Zuordnung berücksichtigen und zugleich im Auge behalten, wie weit die damit verbundenen Vorstellungen und Wahrnehmungsweisen von gegenwärtigen Konzeptionalisierungen entfernt sein können, so ist nach den Bedeutungen zu fragen, die in einer spezifischen historischen Gesellschaft jeweils mit der geschlechtlichen Markierung Frau oder Mann verbunden waren. Erkenntniswie Aussagemöglichkeiten sind eng an die jeweilige Quellenlage und damit an deren lokale oder regionale Entstehungs- und Funktionszusammenhänge gebunden. 51 Die Heterogenität und Vielgestaltigkeit der von Justiz- und Verwaltungsinstitutionen produzierten Texte kann, wie wir im folgenden exemplifizieren werden, unseres Erachtens erst in einer qualitativen und deliktüberschreitenden Analyse genutzt werden. Handeln und Bedeuten: Geschlecht in einer ›fremden‹ Gesellschaft Unser erster methodischer Vorschlag bezieht sich auf die Analyse von für die historische Kriminalitätsforschung typischem Aktenmaterial mit begrenztem Informationsgehalt. Wie narrative Texte, die aus der alltäglichen Gerichtspraxis hervorgingen, für eine interpretative Re-Konstruktion von ›Bedeutungen‹ von Geschlecht genutzt wer- 49 Vgl. Heide Wunder: »Weibliche Kriminalität«; Susanna Burghartz: »Geschlecht« und »Kriminalität«; Claudia Ulbrich: »Kriminalität« und »Weiblichkeit« (alle wie Anm. 3). 50 Anschließen läßt sich hier an die Grundannahmen einer historischen Anthropologie, welche in Anlehnung an die »social« und »cultural anthropology« davon ausgeht, daß vorindustrielle westliche Gesellschaften als ähnlich »fremd« zu betrachten seien, wie diejenigen sozialen Gebilde, die das (traditionelle) Forschungsfeld der Ethnologie darstellen. Soziale und kulturelle Phänomene der Frühen Neuzeit sind mit Peter Burke demnach vor allem »in terms of that society's own norms and categories« zu verstehen. Peter Burke: The historical anthropology of early modern Italy: essays on perception and communication, Cambridge 1987, 3. Programmatisch für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft: Hans Medick: »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, 48 - 84, hier: 49f. Zu einem ersten Systematisierungsversuch des methodischen Spektrums vgl. Gert Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996. Zu einem zur Erforschung historisch-spezifischer Gesellschaften geeigneten Kulturbegriff vgl. Lynn Hunt: Introduction: History, Culture, Text, in: dieselbe. (Hg.): The New Cultural History, Berkeley/ Los Angeles/ London 1989 und weitere Beiträge im gleichen Band. 51 Wenngleich den von Justizinstitutionen überlieferten Schriftstücken ihre Entstehung im Kontext strafrechtlicher Verfolgung gemeinsam ist, so liegen den einzelnen Texten - Verhörprotokollen, ZeugInneneinvernahmen, rechtliche und medizinische Gutachten, Anfrageschreiben und Berichte an übergeordnete Justiz- und Verwaltungsinstitutionen, Gnadengesuche, Urteile etc. - ganz unterschiedliche Entstehungssituationen und Aussageniveaus zugrunde. <?page no="215"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 216 den können, leitet sich aus methodisch-theoretischen Überlegungen her, die an dieser Stelle nur knapp umrissen werden können. Wir arbeiten hier mit einem Bedeutungsbegriff, der auf die kulturellen Implikationen der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz zielt. Zu den ›kulturellen‹ Bedeutungen von Geschlecht wären etwa Geschlechterbilder, -ideale und -normen, aber auch Geschlechtersymbolik und -metaphorik zu zählen. Unser Interesse gilt demgegenüber der Frage, wie Frauen und Männer einer frühneuzeitlichen Gesellschaft Geschlecht konzeptionalisierten, die sich nicht explizit oder wenigstens nicht in für uns direkt zugänglicher Weise dazu geäußert haben. Im folgenden Abschnitt wird ein möglicher Weg abgesteckt, wie diesem ›Unausgesprochenen‹ beizukommen und wie es in heutige Begrifflichkeiten, wenn man so will, übersetzt werden könnte. Ein Fallbeispiel aus der Mark Brandenburg der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, interpretiert vor dem Hintergrund von noch unveröffentlichten Forschungsergebnissen zu diesem Untersuchungsraum 52 , soll im Anschluß illustrieren, wie sich auf konkrete Quellen bezogen ›Redeweisen‹ über Geschlecht entwickeln lassen, in denen die Brüche zum modernen Denken mitreflektiert und zum Ausdruck gebracht sind. Methodisch verknüpft unsere Vorgehensweise die Frage nach »Bedeutungen von Geschlecht« mit der Untersuchung von Praktiken, worunter hier kulturell geprägte und sozial funktionsfähige 53 Handlungsformen gefaßt werden. Für diese Schwerpunktsetzung spielt u.a. eine in verschiedenen Richtungen der interpretativen Ethnologie bzw. Anthropologie vertretene Grundannahme eine Rolle, nach der die Handlungsformen, Rituale und Verhaltensmuster einer Gesellschaft als ein Medium kultureller Bedeutungsgebung zu verstehen sind. 54 Die Geschlechterforschung hat an dieses Postulat insofern angeknüpft, als feministische WissenschaftlerInnen wie etwa Maureen A. Mahoney und Barbara Yngvesson im Hinblick auf die Konstruktion von »Gender« auf »agency« aufmerksam machten, d.h. auf die Kapazität der Subjekte »to make meaning in her interaction with others«. 55 Pointiert findet man den Gedanken einer »interaktiven Herstellung von Geschlecht« bei Candace West, Don Zimmerman und Sarah Fenstermaker ausgeführt 56 . In der Theorietradition der Ethnomethodologie verankert, setzen diese WissenschaftlerInnen auf der Ebene des individuellen Handelns an, um Konstruktionsvorgänge von Geschlecht in gewöhnlichen Kommunikationssituationen der modernen westlichen Lebenswelt sichtbar zu machen. Zwar beschäftigen sich ihre Arbeiten weniger mit den Macht- und Herrschaftsbeziehungen, in die die interagierenden 52 Die folgenden Ausführungen basieren auf Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18). 53 Für eine ausführliche Begründung des im folgenden vorgeschlagenen »Praxis«-Begriffs sowie eine Diskussion der dafür verwendeten vorwiegend ethnologischen Literatur vgl. ebd. (wie Anm. 18), Erster Teil, Kap 3.6. Einen Überblick über verschiedene »practice-approaches« bietet der immer noch sehr informative Artikel von Sherry B. Ortner: Theory and Anthropology since the Sixties, in: Comparative Studies in Society and History 26 Jg./ Heft 1/ 1984, 126 - 166. 54 Einen neueren Überblick gibt Irmtraud Stellrecht: Interpretative Ethnologie, in: Thomas Schweizer/ Margarete Schneider/ Waltraud Kokot (Hg.): Handbuch der Ethnologie: Festschrift für Ulla Johansen, Berlin 1993, 29 - 78. 55 Maureen A. Mahoney/ Barbara Yngvesson: The Construction of Subjectivity and the Paradox of Resistance: Reintegrating Feminist Anthropology and Psychology, in: Signs 18 Jg./ Heft 1/ 1992, 44 - 73. 56 Candace West/ Don H. Zimmermann: Doing Gender, in: Judith Lorber/ Susan A. Farell (Hg.): The Social construction of gender, 13 - 37 (reprint von 1987). Vgl. dazu auch Candace West/ Sarah Fenstermaker: Doing difference, in: Gender & Society 9, H.1, 1995, 8 - 37. <?page no="216"?> Fragile Liebschaften? 217 Personen jeweils eingebunden sind, die AutorInnen können aber - was für unseren Ansatz maßgeblich ist - zeigen, wie Geschlechtszugehörigkeit in der alltäglichen Interaktion ständig hervorgebracht, validiert und reproduziert werden muß. Für die Frühneuzeitforschung eröffnet die These des »doing gender« die Möglichkeit, auch umgekehrt zu denken: Wenn Geschlecht etwas ist, das man nicht ›hat‹, sondern ›tut‹, so wird das wissenschaftliche Erkennen von Geschlecht für diese ›fremde‹ Periode zu einer Frage des ›Lesens‹. Ausgehend von der »interaktiven Herstellung« von Geschlecht liegt es nahe, Konzeptionalisierungen der Geschlechterdifferenz in einer nicht vertrauten Gesellschaft aus der Analyse von Handlungs- und Interaktionsformen der geschlechtlich markierten Personen zu erschließen. Im Fokus auf ›Praktiken‹ kann die Untersuchung auf eine für das alltägliche Zusammenleben elementare - und in der Geschichtswissenschaft bislang kaum thematisierte - Ebene eingegrenzt werden: Unter ›Bedeutungen von Geschlecht‹ lassen sich handlungsleitende Dispositionen verstehen, d.h. jene selbstverständlichen Denk- und Wahrnehmungsvoraussetzungen, an denen sich die Interaktion von ›Frauen‹ oder ›Männern‹ in einer spezifischen Gesellschaft orientierte. 57 Eine solche Herangehensweise scheint insbesondere im Hinblick auf die in der Überlieferung kaum mit Selbstzeugnissen im engeren Sinne vertretene frühneuzeitliche Bevölkerungsmehrheit sinnvoll zu sein, die ihre Geschlechterkonzepte vermutlich kaum thematisierte oder reflektierte. Hier ist im alltäglichen Verhalten ein, wenn nicht das wesentliche Medium der Vermittlung, Reproduktion, aber auch der Verschiebung von Geschlechtsbedeutungen zu sehen. Ein an Dispositionen festgemachter Bedeutungsbegriff zielt also auf Verhaltensorientierungen, die jenseits der Norm, der Präskription oder des Ideals anzusiedeln sind. Methodisch von Vorteil ist dabei nicht zuletzt, daß offen gehalten wird, ob und inwieweit die Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe in bestimmten Situationen und Handlungszusammenhängen bedeutungsvoller sein konnte als in anderen - bis hin zur Insignifikanz. Was die Arbeit an Gerichtsquellen betrifft, wirft dieser Gedankengang erneut die Frage nach den schriftlich festgehalten Handlungen auf: Um die Bedeutungen von Geschlecht als gesellschaftliche Konstruktion in ihrem spezifischen Gehalt zu ermitteln, muß es darum gehen, den ›sozialen Sinn‹ der in den Quellen greifbaren Handlungsmuster zu ermitteln. Der aber wird in den Präsentationsformen der Justiz- und Verwaltungsinstanzen gewissermaßen systematisch verdeckt. Einer Re-Konstruktion von Bedeutungen muß also eine Re-Konstruktion von sozialen Interaktionsformen vorausgehen. Für diesen Arbeitsschritt scheint uns ausschlaggebend, die besondere Textqualität des typischen Untersuchungsmaterials der historischen Kriminalitätsforschung zu berücksichtigen. Bei aller durch Zeit und Raum bestimmten Diversität ist narrativen Gerichtsakten vielfach eine Erzählstruktur gemeinsam, die man generalisierend als ›Schulderzählung‹ bezeichnen kann, und zwar insofern, als Anklageschriften, Verhörprotokolle, Rechtsanfragen und -gutachten etc. die Konstruktion einer strafwürdigen Handlung und einer bestrafbaren Person voraussetzen. Selbst wenn es nicht zu einer 57 Nach »meanings of gender« wurde in der feministisch inspirierten anthropologischen Forschung schon früh gefragt, allerdings wurde »kulturelles« Geschlecht im Gegensatz zu Sex konzipiert. Wegweisend waren die Beiträge des Bandes Sherry B. Ortner/ Harriet Whitehead: Sexual Meanings. The Cultural Construction of Gender and Sexuality, Cambridge u.a. 1981. Ähnlich auch in: Peggy Reeves Sanday/ Ruth Gallagher Goodenough (Hg.): Beyond the second sex. New directions in the anthropology of gender, Pennsylvania 1990. Für eine Kritik siehe Henrietta L. Moore: Understanding sex and gender, in: Tim Ingold (Hg.): Companian Encyclopedia of Anthropology, London/ New York 1994, 813 - 830. <?page no="217"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 218 Verurteilung der DelinquentInnen kam, ist dadurch abgesteckt, welche Ausschnitte einer Ereigniskette die jeweiligen ›ErzählerInnen‹ auswählten oder ausließen, welche Akte sie hervorhoben oder ausblendeten, wie sie Verhalten bewerteten, konnotierten und für welchen Darstellungsrahmen sie sich dabei entschieden. Auf der Ebene der Verschriftlichung ist das präsentierte Handeln tatsächlich meist schon im Hinblick auf ein ›Delikt‹ konstruiert und kategorisiert. Den möglichen ›sozialen Sinn‹ dieses Handelns zu erschließen erfordert daher eine Lesart der Quellen gegen ihren gewissermaßen ›genre‹spezifischen Strich: In der Quelleninterpretation muß es darauf ankommen, die sozialen Bedeutungen der im einzelnen meist nur in Bruchstücken erkennbaren Verhaltensweisen auch und gerade jenseits ihrer in der Überlieferung schon erfolgenden Festschreibung als ›Tat‹ zu lesen. Notwendig erscheint es uns, zum einen die in den Justizakten favorisierte Blickrichtung auf die individuellen ›TäterInnen‹ zu ›hintergehen‹ und zum anderen zu vermeiden, die in Gerichtsquellen angelegte Klassifizierung der verhandelten Praktiken als Delikte fortzuschreiben. Ein grundlegender Perspektivenwechsel ist also nötig. In vielen Fällen, so meinen wir, kann dies dadurch umgesetzt werden, daß die Untersuchung auf eine Erschließung von Praktiken im Sinne der oben gegebenen Definition hin angelegt wird. Systematisch lassen sich auf diese Weise die einzelnen Erzählelemente der ›Schulderzählung‹ aus der für sie konstitutiven Teleologie herauslösen: etwa, indem man nach ritualisierten, wiedererkennbaren und wiederholbaren Handlungen fragt; nach deren markierenden Momenten wie Orten, Gesten, Wortgebrauch, Sprechweisen; nach ähnlichen Situationselementen, kommunikativen Ereignissen und Handlungsabläufen oder auch danach, in welcher Weise kriminalisierte und nichtkriminaliserte Verhaltensweisen verschiedener Personen ineinandergreifen 58 . Von daher sind insbesondere auch die Vor- und Nebengeschichten, überhaupt all jene selbstverständlichen Wissensbestände in die Analyse miteinzubeziehen, ohne die weder die obrigkeitlichen Verfasser noch die verhörten ZeugInnen und DelinquentInnen eine kohärente Narration erzeugen konnten. In einer deliktübergreifend vergleichenden Interpretation kann man sich zunutze machen, daß ähnliche Verhaltensweisen im Rahmen verschiedener Deliktkategorien jeweils unterschiedlich geschildert und bewertet wurden. Im Ergebnis ist auf diese Weise jener Kontext zu rekonstruieren, der sich quer zur Erzählstruktur der Quellen aus dem funktionalen Zusammenhang einzelner Verhaltensweisen ergibt. Zu welchen Ergebnissen man mit einem derartigen Zugang gelangen kann, soll im folgenden in einer Skizze zur sozialen Bedeutung einer einzelnen Praktik, der »warsagerei«, veranschaulicht werden, die in der ländlichen Mark Brandenburg des ausgehenden 16. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Position innerhalb eines eigenständigen Praxisfeldes, dem der nicht-gerichtlichen Konfliktaustragung einnahm und auch für die obrigkeitliche Rechtsprechung nicht unbedeutend war. Unser Ausgangsfall ist der Sammlung des »Brandenburger Schöppenstuhl« entnommen, einer für das gesamte Territorium zuständigen Rechtsbelehrungs- und Spruchinstanz 59 . Betrachten wir die überlieferten Texte zunächst daraufhin, wie es zur gerichtlichen Verfolgung der wahrsagerischen Tätigkeiten der in der altmärkischen Stadt Tangermünde ansässigen »Hilbischen«, »hausfraw« des Matthias Hillen, kam. 58 Mit diesen Fragen sind die wesentlichen Elemente eines ethnologisch informierten und im Hinblick auf die Textanalyse operationalisierbar gemachten Praxisbegriffs umrissen, der es erlaubt, den oben eingeführten Definitionsrahmen von »Praktik« zu nutzen. <?page no="218"?> Fragile Liebschaften? 219 In einem Brief, der Teil eines umfangreicheren Rechtsbelehrungsgesuchs von Ratsleuten der Stadt Tangermünde an den »Brandenburger Schöppenstuhl« ist 60 , schildert der Schreiber Christoph Wolff, was sich um den 16. Dezember des Jahres 1586 auf dem wenige Kilometer entfernten, dem Fritz von der Schulenburg gehörigen Rittersitz Uetz zugetragen haben soll 61 . Diesem seinem Herrn, so berichtet der Schreiber, seien aus einer Lade hundert Taler abhanden gekommen. Da sich zum Zeitpunkt des Verlustes kein Fremder auf dem Hofe befand, habe der Junker zunächst das Gesinde verhört, sich schließlich aber mit dem Auftrag, eine »weise fraw« zu befragen, an ihn gewandt. Auf Rat des örtlichen Krügers habe er sich mit der allgemein für ihre einschlägigen Fähigkeiten bekannten »Hilbischen« in Verbindung gesetzt, welche bereits zuvor Diebstähle aufgeklärt und die Schuldigen den Gerichten zugeführt hätte. Von ihr habe er die Auskunft erhalten, daß das Geld tatsächlich gestohlen worden sei und es sich bei den Schuldigen um Gutsbewohner handle, die »keine schwerter an ihren seiten« trügen. Daraufhin habe sein Herr die »weise fraw« mit der Kutsche auf seinen Hof bringen lassen, wo sie im Beisein der Hausherrin und unter Zuhilfenahme eines Paares alter Schuhe, eines Topfes und von etwas Fett ein Finderitual veranstaltete. Als um Mitternacht der Junker das Ergebnis erfahren wollte, habe sie ihm zur Antwort gegeben, der Täter - nunmehr also nur eine Person - wäre einer seiner nächsten Diener. Für diese ihre »nachrichtungen« habe ihr der Junker die geforderte Entlohnung - zwei Scheffel Hafer, einen Scheffel Roggen - gegeben, offenbar auch noch etwas Geld dazugelegt und sie am folgenden Morgen mit dem Wagen in die Stadt zurückbringen lassen. Obwohl der Kontakt zwischen dem Guts- und Gerichtsherrn und der »weisen fraw« damit abgeschlossen ist, wird diese im Anschluß an jene Ereignisse verklagt und somit zum Gegenstand einer Anfrage auf Rechtsbelehrung. Ihre Verfolgung als »Zaubersche« geht von Christoph Wolff aus, der - als einer der nächsten Diener seines Herrn - des Diebstahls der besagten hundert Taler verdächtigt wird. Von seinem Herrn nach Tangermünde geschickt, um seine »Ehr und redlichkeit zuvortreten«, verklagt der Schreiber die »weise fraw« vor den städtischen Ratsleuten der »Zauberey«. Wohl, weil das Tangermündsche Gericht der Beklagten nicht nachweisen kann, ihre »kunst« zu schädlichen 59 Der »Brandenburger Schöppenstuhl« fungierte als wichtigste Rechtsbelehrungsinstanz der Mark in Erb- und Strafsachen und wurde auch aus benachbarten Territorien angeschrieben. Unter den strafrechtlichen Anfragen der städtischen bzw. patrimonialen Gerichtsobrigkeiten überwiegen solche zur Bewilligung der Tortur und zu Leibesbzw. Todesstrafen gegenüber jenen, die sich mit weniger schweren Delikten oder anderen Problemen der Gerichtspraxis befassen. Auch Einzelpersonen konnten das Gremium anrufen; der Verkehr erfolgte in der Regel ausschließlich schriftlich, und die Umsetzung des prinzipiell rechtsverbindlichen brandenburgischen »Urthels« konnte nicht kontrolliert werden. Das Fallbeispiel ist der Sammlung des Brandenburger Schöppenstuhls entnommen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Postdam, Pr. Br. Rep. 4D, Bd. 27, f. 548 - 559 (1587). 60 Neben dem erwähnten Brief liegen dem Schreiben des Tangermünder Rats auch Zeugenaussagen von Bürgern der Stadt sowie die in einem »gütlichen« Verhör gegebenen Antworten der Beklagten bei. 61 Fritz (»der Neunte«) von der Schulenburg, war Mitglied eines der wohlhabendsten und einflußreichsten altmärkischen Adelsgeschlechter und wurde als erster seiner Familie, in dem ca. 3 km jenseits der märkischen Grenze im Magdeburgischen gelegenen Uetz ansässig. Vgl. Johann Friedrich Danneil: Das Geschlecht der von Schulenburg, Bd. 1, Salzwedel 1842, 576. Guts- und Gerichtsherrschaft lagen in der Mark Brandenburg meist in einer Hand, die Familie von Schulenburg wickelte die betreffenden obrigkeitlichen Funktionen über ein gemeinsames Gericht ab, das seit 1597 als das »Gesamtgericht« belegt ist. Vgl. Friedrich Julius Kühns: Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozesses in der Mark Brandenburg vom X. bis zum Ablauf des XV. Jahrhunderts, Bd. 2, Berlin 1867. <?page no="219"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 220 Zwecken eingesetzt zu haben, 62 holt man beim »Brandenburger Schöppenstuhl« die Erlaubnis zur Anwendung der Folter ein. Die Antwort der Schöppen auf die Anfrage fällt positiv aus; ob die Folter tatsächlich durchgeführt und was am Ende mit der Beschuldigten unternommen wurde, bleibt von der Quelle her offen. Sowohl im Hinblick auf klassische Fragen der Kriminalitätsbzw. Hexen(verfolgungs)forschung als auch im Hinblick auf die Verflechtung von Gender mit anderen sozialen Parametern setzt die spezifische Anlage der Schöppenstuhlakten einer Interpretation enge Grenzen: So sind Angaben wie das Alter der Beschuldigten, ihr Familien- oder Besitzstand oft nicht bzw. nicht durchgängig zu ermitteln. Die Überlieferung der unteren Ebene patrimonialer Gerichtsbarkeit ist in der Mark weitgehend vernichtet. Allerdings lassen sich aus der referierten Geschichte einer »Zauberey«Beschuldigung - interpretiert man sie vor dem Hintergrund weiterer Rechtsanfragen auch zu anderen Delikten - Aspekte des ›sozialen Sinns‹ der magischen »nachrichtung« erkennen: 63 Zum Verständnis der »warsagerei« sind jene Vorgänge in Betracht zu ziehen, auf denen die Auskunft einer »weisen fraw« beruht bzw. die sich daraus entwickeln. Der Kontext des Finderituals selbst sowie der formal-sprachliche Aufbau der darin ermittelten »nachrichtung« sind dabei gleichermaßen aufschlußreich: Um einen magischen Bescheid geben zu können, mußte die um ihren »Rat« gebetene Findespezialistin ein bestimmtes Vorwissen haben. Lebte sie nicht ohnehin am selben Ort wie ihre Klientel, wo sie unvermeidlich in die »rede«, das »gerücht« und die »gemeine wissenschafft« der Gemeinde eingebunden war, so wurde sie von ihren AuftraggeberInnen informiert bzw. nahm selbst mit anderen Haushalts- oder Gemeindemitgliedern Kontakt auf. Das eigentliche »warsage«Ritual schuf eine Situation, welche der Ratgebenden erlaubte zuzuhören und den Ratsuchenden Gelegenheit gab, ihre Beobachtungen und Verdächtigungen auszudrücken. Aus derart zustandegekommenem Wissen setzte sich denn auch der Wahrsagespruch zusammen: Die als Fremde auf das schulenburgsche Gut gerufene »Hilbische« mußte z.B. gewußt haben, daß hier nicht nur mehrere »nahe Diener« lebten, sondern auch Personen, die »schwerter an ihrer seite« trugen. Die Junkerin dürfte ihren Verrichtungen kaum wortlos gefolgt sein, wahrscheinlich ist, daß sie der »weisen fraw« eine Reihe von Informationen anbot und ihr eigene Überlegungen nahelegte. Eine genauere Betrachtung der sprachlichen Gestaltung von Wahrsagesprüchen zeigt, daß damit nicht auf die für das moderne Rechtsbewußtsein so zentrale Frage nach der/ dem ›wahren‹ TäterIn abgehoben wurde. Charakteristischerweise legte die Wahrsagende die schuldige Person gerade nicht eindeutig fest, sondern grenzte lediglich über einige Merkmale den in Frage kommenden Personenkreis ein - womöglich in durchaus ›realistischer‹ Weise. 64 62 Dies wäre nach dem berühmten § 109, »Straff der zauberey« der auch in Brandenburg gültigen »Carolina« normative Voraussetzung einer Verurteilung wegen »zauberey« gewesen. Vgl. Gustav Radbruch (Hg.): Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls des V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 1975 (6. Auflage), 78. 63 Quellengrundlage sind ca. 325 Rechtsbelehrungsgesuche zu Delikten wie Beleidigung, Diebstahl, Brandstiftung und Branddrohung, Körperverletzungs-, Tötungs- und Unzuchtsdelikten, Kindsmord, »Zauberey« u.a. Für weitere Einzelbelege zu den folgenden Ausführungen sei verwiesen auf Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18), besonders Teil II, Kap. II.4. 64 Im geschilderten Fall geschah dies zudem in zeitlichen Abständen, sodaß eine fortschreitende Eingrenzung der möglichen Personen stattfand, in die wohl neue Informationen mit aufgenommen werden konnten. <?page no="220"?> Fragile Liebschaften? 221 Ein so angelegter ›Bescheid‹ bot den Ratsuchenden - und denjenigen, die davon zu wissen bekamen - Spielräume für eigene Interpretationen. Er forderte, wie das Schreiben des Christoph Wolff eindrücklich belegt, zugleich zum Handeln auf. Auf den Spruch der »Hilbischen« hin wurde zunächst der »Petagogus«, also der Schullehrer des Ortes, aktiv. Er, der offensichtlich unverzüglich über die Auskünfte der »weisen fraw« informiert worden war - auch hier spielt die »gemeine rede« eine Rolle -, mußte sich als einer der nächsten Diener des Junkers angesprochen fühlen. Wie Christoph Wolff berichtet, habe der Lehrer der Frau eine Stellungnahme abverlangt, sie allerdings hätte ihn beruhigt: »ihr gutt gesell macht euch keine gedancken man weiß ohne das daß ihr dieser sachen nicht schuldig«. Auf seine Nachfrage, ob sie denn dann den Schreiber, also Christoph Wolff meine, wäre sie jedoch unbestimmt geblieben. Wie dem Schreiben zudem zu entnehmen ist, griff auch der Gutsherr zu weiteren Maßnahmen: Unmittelbar nachdem die »weise fraw« den Gutsbezirk verlassen hatte, sei dieser mit einem Aushang an seine Untertanen herangetreten. Er »hette durch gebrauchte mittel so viell erfaren daß ehr den Teter so ihm sein gelt gestolen wuste«, und wenn dieser die entfremdete Summe wieder einbrächte, so werde er den Vorfall ungestraft vergessen. Christoph Wolff selbst wurde, seinen eigenen Angaben nach, in der Folge sowohl durch den Schafmeister des Gutes als auch durch einige Adelige unter Druck gesetzt; ersterer habe ihm mitgeteilt, daß der Gutsherr ihn für schuldig halte, und ihn ermahnt, den Verdacht »ordentlicher Weise« von sich zu bringen. Als ihn schließlich sein Herr selbst aufforderte, nach Tangermünde zu ziehen, um den Vorwurf zu klären, habe er sich gezwungen gesehen, »mein Ehr und redlichkeit zu vertreten«, und sich in die Stadt begeben. Auf dem Weg dorthin wäre er auf die »Hilbische« und deren Bruder getroffen. Nach einem verbalen und offenbar auch handgreiflichen Schlagabtausch zwischen ihm und der »Hilbischen« habe sie ihm bedeutet, daß sie kaum anders könne, als in ihm den Schuldigen zu vermuten, da er doch über ihre »geringe worte« so aufgebracht sei. Im Übrigen habe sie schon ganz andere Leute als ihn an den Galgen gebracht. Eine solche Entwicklung im Vorfeld wie im Fortgang einer durchaus vor Gericht inkriminierbaren Handlung illustriert, in welchem Maße das Finden von TäterInnen auf magischem Wege ein soziales Ereignis darstellt, in dem der Wahrsageakt selbst nur ein einzelnes Moment ausmacht. Der Spruch der Findespezialistin gibt keine glatte Auflösung der an sie gerichteten Frage, sondern muß aktiv umgesetzt werden, sein ›Sinn‹ realisiert sich mithin erst durch den sich ausdehnenden Kreis von Wissenden, Kommentierenden und Eingreifenden. Die Wahrsagung bringt eine Dynamik in Gang, in der weitere kommunikative Praktiken der Konfliktaustragung zum Einsatz kommen: In der »rede« oder »sage« wird eine spezifische Form der Öffentlichkeit hergestellt, gegenüber der Verdächtige wie Christoph Wolff und der Schullehrer sich »verantwortten« müssen - beide reagieren damit wie auf einen ritualisierten verbalen Angriff, der vom beschuldigten Teil eine Verteidigung seiner Ehre erfordert. Auch in den Mahnungen, Aufforderungen und Warnungen des Schafmeisters lassen sich aus einer deliktübergreifenden Perspektive übliche Praktiken ausmachen, die sich wiederum in das Muster einer ehrverletzenden »Schelte« einfügen, insofern als diese regelmäßig Interventionen Dritter provoziert. Die »Hilbische« ihrerseits »verantwortet« sich gegenüber Christoph Wolff, als der sie auf dem Weg in die Stadt einer falschen Beschuldigung schilt, so, wie man dies gängigerweise tat: mit Worten, Schlägen und einer Gegenschelte. Daß in den Weiterungen einer Wahrsagung tatsächlich eine Reihe von anderen Streitpraktiken zum Tragen kommen, daß magische Handlungsmuster in ihrer sozialen Di- <?page no="221"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 222 mension also erst im Zusammenhang mit nicht-magischen Praktiken verständlich sind, ist allein anhand einer Deliktgruppe nicht freizulegen 65 . In diesem Kontext gesehen stellt sich Findemagie nicht als isolierter Akt dar, sondern als Ergebnis eines sehr viel umfassenderen Kommunikations- und Interaktionsprozesses, in dessen Verlauf Interpretationsangebote vor einem größeren Publikum auseinandergesetzt und ausgefüllt werden mußten. Da die Möglichkeiten, auf das Ergebnis Einfluß zu nehmen, keineswegs gleich verteilt waren, hingen die Chancen, den von seiner ganzen Anlage her kollektiven Auslegungsverlauf zu steuern, mit der Position der Beteiligten im Beziehungsgefüge des ländlich-gutsherrschaftlichen Lebenszusammenhangs eng zusammen. Magische Findeverfahren, die aus heutiger Sicht zunächst unverständlich und in ihrem Resultat willkürlich erscheinen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Praktiken, die in einer von spezifischen wechselseitigen Abhängigkeiten bestimmten Lebens- und Vorstellungswelt einen ›eigenen Sinn‹ machten. Ihre Wirkungsmächtigkeit bezogen sie letztlich aus einem Gesamtkomplex von Handlungsmustern, die einer außergerichtlichen ›Rechtsfindung‹ dienten, welche sich nicht einfach an allgemeinverbindlichen Normen, sondern an einer zutiefst relationalen Logik orientierten: Praktiken, über die im unmittelbar zwischen einzelnen Parteien aufbrechenden Konflikt die damit quasi notwendig hervorgerufenen vieldimensionalen Beziehungsverschiebungen dorföffentlich geregelt und festgelegt wurden. Die Figur der Finderin erscheint vor diesem Hintergrund als Interpretierende, Katalysatorin und Vermittlerin dieser Prozesse. Betrachten wir abschließend, welche ›Redeweisen‹ im Hinblick auf Geschlecht die ausgeführten Beobachtungen zulassen. Wie lassen sich Bedeutungen von Geschlecht, die in diesem Beispiel die Interaktion der verschiedenen Beteiligten anleiten, greifbar und beschreibbar machen? Dieser Frage kann man sich auf verschiedenen Ebenen annähern. Zunächst läßt sich festhalten, daß dem »warsagen« im Untersuchungszeitraum eine Perzeption von Geschlecht/ weiblich zugrundeliegt, mit der sich eine Disposition zur Erkenntnis und Aufklärung unrechter Handlungen verbinden läßt. Im Gegensatz zu den meisten anderen ritualisierten Verhaltensweisen, die im Rahmen von Kon- 65 Frühneuzeitliche volksmagische Praktiken wurden bislang vor allem im Rahmen von »Hexenfoschung« untersucht. Vgl. den Forschungsüberblick von Gerd Schwerhoff: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 7/ 8, 1995, 359 - 380. Anhand des Gegenstandes »Hexenverfolgung« nach »Bedeutungen« zu fragen, die Denken und Handeln der ZeitgenossInnen bestimmten, liegt grundsätzlich bereits deshalb nahe, weil »Magie« sich eben dadurch auszeichnet, daß sie heutiger Alltagsbzw. Wissenschaftslogiken auf unmittelbar einleuchtende Weise nicht entspricht. Die »Hexenforschung«, soweit sie sich mit »Magie« befaßt, greift denn auch gegenüber der üblichen Kriminalitätsforschung oft insofern weiter, als sie kriminalisierte Praktiken bewußt »auslegt« und zunehmend auch deren soziale Wirkmächtigkeit berücksichtigt. Für den deutschsprachigen Raum vgl. etwa die Arbeiten von Eva Labouvie, Ingrid Ahrendt-Schulte, Heide Dienst, Lyndal Roper und Rainer Walz. (Genaue bibliographische Angaben bei Schwerhoff: Alltagsverdacht, (wie oben). Hinsichtlich des »sozialen Sinns« magischer Verhaltensweisen wirken sich jedoch unseres Erachtens die für das Gros der einschlägigen Studien zentralen Fragestellungen und die damit einhergehende, fast durchgängige Beschränkung auf den Deliktbereich des Schadenszaubers bzw. der »Hexerei« wiederum in ähnlicher Weise aus wie in der Kriminalitätsforschung: In dem Maße, in dem die Aufmerksamkeit den Verfolgungsursachen von »Hexerei« gilt, geraten die vor Gericht gebrachten Handlungen ebenfalls in erster Linie als Verfolgungsgrund und damit als deviant ins Blickfeld. Zugleich können in die Interpretation der gewonnenen Beobachtungen lediglich jene Handlungen einbezogen werden, die in den mit Zauberei befaßten Akten als kriminalisierte präsentiert, bzw. in diesem Kontext angesprochen werden. Die wechselseitige Bedingtheit von magischen und nicht-magischen Verhaltensmustern und Denkweisen, z.B. im Konfliktaustrag, bleibt dann unberücksichtigt bzw. wird in ihrer Reichweite unterschätzt. <?page no="222"?> Fragile Liebschaften? 223 fliktaustragung relevant werden, ist das »warsagen« deutlich von Frauen dominiert, wobei Stand, Alter oder Familienposition, soweit erkennbar, diese Fähigkeit in keiner verallgemeinerbaren Form beeinflussen. 66 Dennoch überschreitet diese »kunst« die Geschlechtergrenzen: So kann ein Mann, auch wenn dies selten vorkommt, das »warsagen« lernen oder lehren, ohne daß deswegen die starke »weibliche Besetzung« dieser Praktik, die sich u.a. in den feststehenden Personenbezeichnungen wie »weise fraw« niederschlägt, aufgehoben wäre. Ohne also ›typisch weiblich‹ zu sein, ist das »warsagen« dennoch nicht ›geschlechtsneutral‹. Festzuhalten ist darüber hinaus, daß das Wirkungspotential der »warsage«Kunst an ein breiteres Spektrum von Fähigkeiten gebunden ist, auf welchen gewissermaßen anschließende Praktiken basieren: Zum einen sind dies andere magische Verhaltensweisen. So ist das »warsagen« mit dem Deuten von Zeichen, die der Unterscheidung von Recht und Unrecht dienen, eng verwandt - hier aber sind die entsprechenden Kompetenzen weniger stark auf Geschlecht/ weiblich als vielmehr auf ein aus Männern und Frauen zusammengesetztes Kollektiv bezogen 67 . Gleichzeitig wird die Autorität der »nachrichtung« durch die verbreitete Auffassung gestützt, daß die »kunst« letztlich auch zu »zauberischer« Gewalt dienen könne 68 . Auf magischer Ebene sind mit Geschlecht/ weiblich somit auch Dispositionen wie Gewaltbereitschaft und Gewaltfähigkeit zu verbinden. Diese sind zwar ebenfalls deutlich weiblich besetzt, sie können aber, in bestimmten verwandtschaftlichen, sozialen, zeitlichen und Streitkonstellationen, an einen Mann übergehen bzw. von ihm angeeignet werden. 69 Beim »warsagen« kann daher nicht von einer im modernen Sinne geschlechtsspezifischen Verhaltensweise gesprochen werden: Männer sind davon nicht nur nicht per Geschlecht ausgeschlossen, sondern sind auch nicht als ›Ausnahme‹ zu betrachten. Ebensowenig sind alle Frauen durchgängig und per Geschlecht zur Wahrsagung befähigt. Ob der einzelnen Frau entsprechende Potenzen zugeschrieben werden, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen der Aneignung der entsprechenden Handlungsweisen und den Reaktionen, die ihren Handlungen entgegengebracht werden, also in der Interaktion. Zum anderen ist in Betracht zu ziehen, daß das »warsagen« erst über den Einsatz weiterer, nicht-magischer Praktiken realitätsmächtig wird. Es umfaßt ein Spektrum von Handlungsformen, deren Sinn und Auswirkungen nicht von vornherein feststeht, sondern erst im Handeln dritter Personen umgesetzt und entfaltet wird. Welche Bedeutungen der Geschlechtsmarkierung dabei jeweils relevant werden - etwa die positiv konnotierte Fähigkeit zur Aufklärung unrechter Handlungen oder die negativ konnotierte zur Schaden verursachenden »Zauberey« - ergibt sich regelmäßig erst im Laufe 66 Um eine derartige Aussage zu treffen, kann man sich bei den hier untersuchten Quellen, die ja nicht immer Angaben zur sozialen Position der Beklagten enthalten, nicht unmittelbar auf statistische Befunde stützen, sondern muß Einzelbeobachtungen diskutieren. So ist im Fall des »warsagens« auch der Begriff »wise magdt« überliefert, außerdem sind verheiratete und unverheiratete sowie ältere und jüngere Frauen unter den FindespezialistInnen vertreten. 67 Vgl. Monika Mommertz: Handeln, Bedeuten, Geschlecht (wie Anm. 18), besonders Teil II, Kap. II.4.3 und II.4.4. 68 Ebd. Teil II, Kap I.3.2 und Kap. IV.8. 69 Bezeichnend ist, wie vor Patrimonialgerichten aussagende DorfbewohnerInnen gegenüber den wenigen einer negativen, »zauberischen« Handlung verdächtigten männlichen Angeklagten gängigerweise damit argumentieren, diese stünden in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu einer in der »kunst« bewanderten Frau, lebten mit ihr bereits lange Zeit zusammen, hätten Zugang zu den von ihr bereiteten Güssen oder Tränken etc. oder aber, sie teilten den »zorn« ihrer weiblichen Angehörigen, also die leiblichemotionale Komponente der Wirkkraft des Schadenszaubers. <?page no="223"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 224 eines kommunikativen Prozesses zwischen mehreren Personen. Potentiell kann die gesamte dörfliche Gemeinde in diesen Prozeß einbezogen werden. Der eigentliche Wahrsageakt kann also auf das hinführen, was man als seine Etikettierung, als deviant bezeichnen könnte, er geht darin aber keineswegs auf. Analoges gilt im Übrigen auch für andere Praktiken. Anders gesagt: Verhalten, ›Abweichung‹ und Geschlecht können nicht in ein lineares Verhältnis gestellt werden. Nimmt man das gesamte Praxisfeld der Konfliktaustragung in den Blick, so läßt sich für den hier vorgestellten Untersuchungszeitraum konstatieren, daß die Wahrnehmung der Geschlechtsmarkierung keineswegs mit der Vorstellung einer jeweils allen Frauen bzw. allen Männern gemeinsamen sozialen oder körperlichen Konstitution einhergehen konnte. Kennzeichnend für die Wirkungsweise der Geschlechterdifferenz sind vielmehr eine Reihe von Übergängen und zugleich breite Überschneidungen zwischen den in divergierendem Maß mit Geschlecht assoziierten Handlungspotentialen, denen nicht die Qualität verallgemeinerbarer, konstanter oder gar sich gegenseitig ausschließender »Geschlechtseigenthümlichkeiten« zukommt: Eine, wenn man so will, besondere »Eigenthümlichkeit« dieser Bedeutungsmatrix läßt sich indessen gerade daran festmachen, daß sich letztlich erst im konkreten Interaktionsverlauf zwischen Aneignung einer Praktik einerseits und den (ritualisierten) Reaktionen eines ganzen Beziehungsgefüges andererseits entschied, welche Dispositionen der einzelnen Frau oder dem einzelnen Mann zugeschrieben, wie diese bewertet werden und welche Folgen dies für die Einzelnen hat. Es ist also auch diese spezifische Relationalität der mit Geschlecht verknüpfbaren Dispositionen, die sich vom Konstruktionsmodus späterer »Geschlechterbilder« unterscheidet. Daß ein dualistisches Geschlechterkonzept in ›vormodernen‹ Gesellschaften immer schon zu kurz greifen muß, verdeutlicht auch unser zweiter methodologischer Vorschlag, mit welchem wir wieder in das ›engere‹ Untersuchungsfeld der historischen Kriminalitätsforschung zurückkehren. Ausgehend von dem im Erzherzogtum Österreich unter der Enns gültigen Strafrecht, der sogenannten Ferdinandea 70 , sollen die Klassifizierungsvariablen herausgearbeitet werden, die in die gerichtliche Konstruktion, Bewertung wie Sanktionierung von ›kriminellen‹ Praktiken einflossen. In unserer Analyse der Ferdinandea werden wir das Augenmerk auf die Kriminalisierung all jener Handlungen legen, die wir aus heutiger Perspektive als sexuelle bezeichnen würden. Diesen Fokus haben wir für diesen Artikel nicht zuletzt deshalb gewählt, weil sowohl in der historischen Kriminalitätsforschung wie in der Geschlechtergeschichte weitgehend die Auffassung geteilt wird, daß speziell bei der Verfolgung und Bestrafung ›sexueller Delikte‹ die geschlechtliche Markierung ausschlaggebend war. 71 Interagierende Differenzen Der engere Geltungsbereich der 1656 in Kraft getretenen und in der Forschung bislang kaum beachteten Ferdinandea umfaßte in etwa das Gebiet des heutigen Niederöster- 70 Land-Gerichts-Ordnung. Deß Erz-Herzogthumbs Oesterreich unter der Ennß, zitiert nach: Codex Austriacus, Band 1, Wien 1704, 659 - 729. Gültig von 1656 bis 1769 bzw. 1770. 71 Vgl. etwa Robert Jütte: ›Geschlechtsspezifische Kriminalität‹ (wie Anm. 1), 114; Susanna Burghartz: ›Geschlecht‹ und ›Kriminalität‹ (wie Anm. 3), 25. <?page no="224"?> Fragile Liebschaften? 225 reich. 72 Die insgesamt 40 Artikel, die die »landgerichtlichen Missethaten« kodifizierten, folgten einer einheitlichen Architektur. 73 Die fortlaufende Numerierung bildete gleichsam die Überschrift der einzelnen Artikel. Der erste Absatz beschrieb in aller Regel sehr detailreich, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken unter den Artikel fielen. Meist fand sich zudem der Kontext expliziert, in welchem die ›kriminelle‹ Handlung »landgerichtlich« oder »obrigkeitlich« zu verfolgen und zu ahnden war. Eine Kurzfassung dieser Beschreibung war in einer etwas kleineren Schrift am rechten bzw. am linken Papierrand vermerkt. 74 An die Einleitung schlossen fortlaufend numerierte Paragraphen an: Sie definierten, welche Verdachtsmomente zur begründeten Einleitung eines Verfahrens gegeben sein mußten, gaben Anweisungen zum Verfahren, beschrieben die Indizien, die zur ›Verwahrung‹ im Gefängnis und zur Anwendung der Folter ausreichten und listeten spezifische Fragen 75 an den »Missethäter«, die »Missethäterin« auf. Die abschließenden Paragraphen legten das »End-Urtheil« fest und listeten taxativ strafverschärfende bzw. strafmildernde Umstände auf. Hauptadressaten der Ferdinandea waren die Inhaber von Landgerichten, die immer wieder auch direkt angesprochen wurden. Wie eng sich im untersuchten Landgericht die juristisch kaum gebildeten Landgerichtsverwalter an die Ferdinandea hielten, wird offenkundig, wenn Gerichtsakten und Ferdinandea gegengelesen werden. 76 Die Perchtoldsdorfer Landrichter entnahmen ihr die Deliktkategorien, die Regeln für die Durchführung des Strafprozesses ebenso wie die Fragen, die sie im Zuge der Verhöre an die DelinquentInnen richteten. Aber auch den juristisch ausgebildeten Rechtsgutachtern diente die Ferdinandea zur Überprüfung der formellen Korrektheit des Strafverfahrens, zur Ableitung der jeweils in Rechnung stellbaren strafverschärfenden bzw. strafmildernden Umstände und zur Erstellung eines Urteilsvorschlages. Für beide Gruppen erfüllte die Ferdinandea somit quasi die Funktion eines Handbuches. 77 Schon ein flüchtiger Blick in die Ferdinandea läßt die von modernen Strafrechtskodifikationen grundlegend divergierende Konzeption der Individuen erkennen. Geht das 72 1769 von der Constitutio Criminalis Theresiana abgelöst, überdauerte die Ferdinandea ihren juristischen Geltungszeitraum insofern, als die Verfasser der Theresiana die Bestimmungen aus der Ferdinandea und aus der Josephina (1707) kompilierten und den Schwerpunkt dabei eindeutig auf die Ferdinandea legten. 73 Die ersten 58 Artikel der Ferdinandea sind mit heutiger Terminologie als Strafprozeßordnung zu bezeichnen. Daran schließen die 40 Artikel des materiellen Strafrechts an. 74 Zur Benennung der einzelnen Artikel zitieren wir im folgenden diese Kurzfassung. Die Theresiana übernimmt die chronologische Numerierung der kodifizierten ›Verbrechen‹ und verwendet diese Kurzfassungen - meist buchstabengetreu - auch als Überschrift. 75 Die allgemeinen Fragen, die allen DelinquentInnen zu stellen waren, listete ein spezieller Artikel auf: Ferdinandea, Artikel 32: »Von der gütigen Befragung/ und Fragstuck«. 76 Ausgewertet wurden die überlieferten Texte aller Malefizprozesse, die zwischen 1700 und 1789 vor dem in Niederösterreich gelegenen Landgericht Perchtoldsdorf verhandelt worden waren; Texte von Gerichtsverfahren, in welchen sich die DelinquentInnen wegen als ›Verbrechen‹ bewerteter Praktiken wie Abtreibung, Blasphemie, Diebstahl, Ehebruch, GattInnenmord, Kindsmord, Straßenraub, sexueller Gewalt, Sodomie, Totschlag etc. zu verantworten hatten. Vgl. dazu Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24). Auf die Verwendung der Begriffe ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ werden wir noch zurückkommen. 77 Diese Beobachtung steht im Gegensatz zu der von Elisabeth Koch vertretenen These, wonach den juristischen Kodifikationen bis ins 19. Jahrhundert kaum Bedeutung zukam. Vgl. dies.: Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, 73 - 93 sowie dieselbe: Maior dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Normensystem des 16. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1991. <?page no="225"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 226 moderne Strafrecht vom säkularen Grundsatz der ›Gleichheit‹ der Individuen vor dem Gesetz aus, so ist der Bezugspunkt der Ferdinandea das katholische Weltbild, welches die Menschen zwar im imaginierten ›Jenseits‹, nicht aber im realen ›Diesseits‹ als gleich entwirft. Dementsprechend konstruierten die Verfasser der Ferdinandea die ›kriminellen‹ Handlungen nicht nur entlang der sozialen und kulturellen Ungleichheit der Individuen, sondern sahen für identische Handlungen von »höheren Standspersohnen« 78 und »gemeinen Mann=und Weibspersohnen« teilweise divergierende »End Urtheile« vor. 79 Während die Ferdinandea auf den ersten Blick ein männliches Repräsentationssystem kennzeichnet, zeigt eine genauere Analyse des verwendeten grammatikalischen Geschlechts, daß das männliche Repräsentationssystem an verschiedenen Stellen immer wieder durchbrochen wird. So etwa bei der Kriminalisierung sexueller Handlungen, wo explizit sowohl die grammatikalisch weibliche wie die männliche Form verwendet wird. Das männliche Repräsentationssytem ist daher keineswegs als geschlechtsneutral zu sehen. Im Gegenteil: Die Analyse des grammatikalischen Geschlechts bietet einen ersten Aufschluß darüber, bei welchen kriminalisierten Praktiken eher Männer, eher Frauen oder aber beide Geschlechter als AkteurInnen gedacht sind. Auch wenn die ›höhere‹ und die ›niedere‹ Gerichtsherrschaft in manchen Orten bzw. Gebieten des untersuchten Erzherzogtums von den selben Personen ausgeübt wurde, so gehorchten die Strafprozesse - allen verfahrensrechtlichen Übereinstimmungen 80 zum Trotz - divergierenden Spielregeln: Die Unterschiede begannen bei der Entscheidung, ob die DelinquentInnen in den Arrest gesetzt oder aber nur angeklagt wurden. Sie setzten sich fort bei der Frage, welche Verhörtechniken für rechtmäßig erachtet wurden 81 , und sie waren schließlich auch bei der Bemessung des Strafrahmens 82 wie auch des Strafvollzuges 83 von Gewicht. Dennoch ist es wichtig, den Fokus nicht nur auf die zuständigen Gerichtsinstanzen zu legen. Untersucht man, wie es in der Kriminalitätsgeschichte meist geschieht, entweder das Quellenkorpus der einen oder das der an- 78 Sofern diese nicht ohnehin ein Kriminalprivileg besaßen. 79 So etwa beim als ›Verbrechen‹ bewerteten Ehebruch: Personen »höheren Stands« waren beim ersten Mal mit einer Geldstrafe und einigen Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot zu bestrafen, während »die gemeinen Mann= und Weibspersohnen (...) mit Ruthen ausgestrichen« und auf eine bestimmte Zeit des Landes verwiesen werden sollten. Waren die Männer und Frauen das zweite Mal des Ehebruchs angeklagt, so sollten die Landrichter bei »höheren Stands Persohnen« die Strafe willkürlich verschärfen, die »gemeinen Persohnen« dagegen zum Tod mit dem Schwert verurteilen. Ferdinandea, Artikel 76: »Von dem Ehebruch«, § 8. 80 Die Verfahren fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, die Individuen waren nicht als Angeklagte, sondern als DelinquentInnen, sprich als Schuldige konzeptionalisiert, sie hatten weder das Recht auf Zuziehung eines Verteidigers, noch durften sie ihre Anklageschrift selbst einsehen. 81 Während bei Prozessen der ›höheren‹ Gerichtsbarkeit die Folter über den Verfahren schwebte, waren wegen eines ›Vergehens‹ bezichtigte DelinquentInnen in keiner Stufe des Gerichtsprozesses von einer Folterung bedroht. Die 1769 in Kraft getretene Theresiana beschrieb die einzelnen Foltergrade und - methoden nicht nur, sondern sie visualisierte diese auch in 28 beigefügten Kupferstichen. Erst Joseph II. ordnete im Ende Dezember 1775 die Streichung der Folter aus der Theresiana an. Vgl. Entscheidung Joseph II., 23. Dezember 1775, zitiert nach Rudolf Hoke/ Ilse Reiter: Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte, Wien/ Köln/ Weimar 1993, 476. 82 ›Vergehen‹ konnten oft mit Geld verrechnet werden, ›Verbrechen‹ nicht. Im Gegensatz zu ›Verbrechen‹ waren für ›Vergehen‹ schwere, d.h. oft verstümmelnde Körperstrafen ebensowenig zulässig wie die Verbannung der DelinquentInnen aus bestimmten Orten oder Gebieten. 83 Die Sanktionierung von ›Vergehen‹ erfolgte selten »offentlich«, während jene von ›Verbrechen‹ oft ein Publikum voraussetzte. So war die Umsetzung einer Verbannung ohne die Mitwirkung der Bevölkerung nicht möglich, bezogen ›Ehrenstrafen‹ ihre Wirkung erst aus dem »offentlichen« Vollzug, wurden Hinrichtungen für die Bevölkerung inszeniert. <?page no="226"?> Fragile Liebschaften? 227 deren Gerichtsbarkeit, gerät allzuschnell aus dem Blick, daß strafrechtlich verfolgbare Handlungen nicht per se in die Kompetenz der höheren oder der niederen Gerichtsbarkeit fielen, sondern ihrer Zuordnung ein äußerst komplexer Bewertungsprozeß voranging. Methodisch sinnvoller erscheint es uns daher, neuerlich bei den Praktiken anzusetzen und, um diese Perspektivenwahl auch terminologisch zu fassen, mit dem modernen Begriffspaar ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ zu arbeiten. Der Vorteil dieser Begrifflichkeiten liegt unseres Erachtens darin, daß sie die zuständige Gerichtsobrigkeit zwar implizit mitführen, gleichzeitig aber so offen sind, daß ihr Sinngehalt immer nur kontextuell ermittelt werden kann. Für die modernen Begriffe spricht zudem, daß sie nicht in Dichotomie zueinander stehen, sondern vielmehr auf die fließenden Grenzen zwischen ihnen verweisen. Betrachten wir in einem ersten Schritt, welche sexuellen Handlungen die Ferdinandea als ›Verbrechen‹ qualifizierte und entlang welcher Variablen sie diese von den ›Vergehen‹ schied. Relativ einfach läßt sich feststellen, daß die Ferdinandea den gleichgeschlechtlichen ebenso wie den Geschlechtsverkehr mit Tieren als »Unkeuschheit wider die Natur« konzeptualisierte und diese sexuellen Praktiken ohne Wenn und Aber als ›Verbrechen‹ markierte. 84 Die Schwierigkeit beginnt allerdings bei der Frage, welche Handlungen als ›sodomitische‹ gedacht waren, da die Ferdinandea dazu keine Hinweise enthält. 85 Lenkt die Kriminalisierung sogenannter sodomitischer Praktiken unser Augenmerk auf eine von Gott gewollte bzw. sich aus der Natur ergebende generative Funktion der Sexualität, so verdeutlicht die Kriminalisierung bestimmter ›nicht-ehelicher‹ heterosexueller Paarkonstellationen, daß die Fortpflanzung an die Ehe gebunden werden sollte. Konsequenterweise kriminalisierte die Ferdinandea auch nur den mit einer Penetration verbundenen Geschlechtsverkehr und qualifizierte den coitus interruptus generell als strafmildernd. Für die Grenzziehung zwischen ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ entwarfen ihre Verfasser ein äußerst komplexes Regelsystem. Als ›Verbrechen‹ bewerteten sie den heterosexuellen Geschlechtsverkehr dann, wenn die SexualpartnerInnen erstens verschiedenen Religionsgemeinschaften bzw. Ethnien angehörten 86 , wenn sie zweitens gemäß des katholischen Eherechts so nahe miteinander verwandt waren, daß ihre Verehelichung nur mit einem Ehedispens möglich gewesen wäre, 87 wenn sie drittens zwar miteinander verheiratet waren, eine/ r von ihnen jedoch auch mit einer anderen Person verehelicht war 88 , wenn vier- 84 Ferdinandea, Artikel 73: »Unkeuschheit wider die Natur/ oder Sodomia«, Einleitung. 85 Wenngleich sich etwa im Landgericht Perchtoldsdorf während des gesamten 18. Jahrhunderts weder Männer noch Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Praktiken gerichtlich verantworten mußten, ist davon auszugehen, daß sexuelle Handlungen ohne Penetration nicht als ›sodomitisches Verbrechen‹ galten. Für diese These spricht, daß die Ferdinandea auch heterosexuelle Praktiken nur mit erfolgter Penetration kriminalisierte und sexuelle Praktiken mit Tieren per definitionem auf Männer beschränkte. Vgl. Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24), 171 - 214 sowie Maren Lorenz: Devianz und Gesellschaft (wie Anm. 30), 132ff. 86 Ferdinandea, Artikel 82: »Von der Blutschand Nothzuch/ Ehebruch und andern Fleischlichen Sünden/ so sich zwischen Christen und Juden/ Türcken/ oder andern Unglaubigen zutragen«. 87 Ferdinandea, Artikel 74: »Von der Blutschand«. Ob die betroffenen Personen von ihrer Bluts-, Wahl- oder geistigen Verwandtschaft wußten, schied nicht das ›Vergehen‹ vom ›Verbrechen‹, sondern hatte nur strafmildernde Effekte. Zu den kanonischen Eheverboten und den Ehedispensen vgl. Edith Saurer: Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreich (1750 - 1850), in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte (wie Anm. 73), 345 - 366. 88 Ferdinandea, Artikel 77: »Von zweyfacher Ehe«. Der soziale Stand floß in die Konstruktion der Bigamie als ›Verbrechen‹ insofern ein, als in Paarkonstellationen, wo eine »geringere Stands Persohn ein vornehmes Geschlecht überführt hätte«, die Ferdinandea eine strengere Bestrafung festlegte. <?page no="227"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 228 tens beide mit anderen Personen verheiratet waren oder wenn fünftens eine verheiratete Frau mit einem ledigen Mann schlief. 89 War dagegen der Mann verheiratet und die Frau ledig, so definierte die Ferdinandea diesen Beischlaf als ›Vergehen‹. Überschritten die SexualpartnerInnen keine der genannten religiös bzw. ethnisch begründeten Grenzen, so war die Häufigkeit der gerichtlichen Ahndung des Beischlafes entscheidend. 90 Standen die DelinquentInnen bei den ersten beiden gerichtlichen Verfahren noch wegen eines ›Vergehens‹ vor Gericht, so verwandelte die dritte gerichtliche Anklage das ›Vergehen‹ in ein ›Verbrechen‹. In einem sehr eingeschränkten Kontext qualifizierte die Ferdinandea die mit Gewalt erzwungene Penetration als »Nothzucht« und hob diese so von den bislang genannten sexuellen Praktiken ab. 91 Als »Nothzucht« bewertete sie die sexuelle Gewalt an »unverleumbteden Jungfrauen«, an Witwen und an Ehefrauen dann, wenn letztere nicht mit dem Vergewaltiger verheiratet waren. Frauen und Mädchen, welchen die Hebammen keine Verletzung der »weiblichen Scham« bestätigten, konnten per definitonem nicht vergewaltigt worden sein, ledige Frauen riskierten bei einer gerichtlichen Klage, selbst wegen »fleischlicher Versündigung« verurteilt zu werden. 92 Der Vollständigkeit halber sei abschließend noch erwähnt, daß der Delinquent oder die DelinquentIn den Beischlaf nicht selbst vollzogen haben mußte, um vor Gericht zitiert zu werden. Als ›Verbrechen‹ qualifizierte die Ferdinandea auch die »Kupplerey«, deren Bedeutungsfeld von der Anstiftung zur Prostitution über die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten an »verdächtige Leuthe« bis zur Duldung des Ehemannes reichte, daß in seiner Gegenwart »verdächtige Manns-Persohnen mit seiner Tochter/ oder Eheweib ungebührlich umbgiengen«. 93 Sollen nun einzelne Gerichtsurteile miteinander verglichen werden, so muß die Analyse noch weiter vorangetrieben werden. Wie wir bereits erwähnten, schrieb die Ferdinandea im Gegensatz zur ›älteren‹ Carolina für jede einzelne als ›Verbrechen‹ markierte Handlung eine Reihe von strafverschärfenden und strafmildernden Umständen fest, die bei ›sexuellen‹ Handlungen neuerlich entlang der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, der geschlechtlichen Markierung, der sozialen Position, des Alters, des Familienstands sowie des »Leumuths« konstruiert waren. Die rechtlichen Gutachten wie auch die Urteile der vor dem Perchtoldsdorfer Landgericht verurteilten DelinquentInnen belegen insbesondere das Gewicht der strafmildernden Umstände. Urteile, in denen die im sogenannten »End Urtheil« angedrohte Todesstrafe in einen kurzen Arrest verwandelt worden war, sind eher die Regel als die Ausnahme. 94 89 Ferdinandea, Artikel 76: »Von dem Ehebruch«. 90 Ferdinandea, Artikel 81: »Von gemeiner Hurerey und andern unzimlichen Beywohnungen«. 91 Ferdinandea, Artikel 75: »Von der Nothzucht«. Frauen waren immer als »Genothzüchtigte«, Männer immer als »Nothzüchtiger« gedacht. 92 Das Strafrecht bietet damit eine erste Erklärung, warum sexuelle Gewalt kaum angezeigt wurde und eine ›deliktspezifische‹ Sortierung der Gerichtsakten daher auch kaum »Nothzuchts«prozesse zutage fördern kann. Im untersuchten Landgericht mußte sich während des 18. Jahrhunderts nur Mathias Kindler 1752 »in puncto attentati stupri violentis« gerichtlich verantworten. Daß Frauen immer wieder von sexueller Gewalt bedroht und betroffen waren, wird dagegen in einer deliktübergreifenden Analye deutlich: So war etwa Susanna Fuxsteinerin, die 25jährig die Tötung ihres Neugeborenen 1761 mit dem eigenen Leben bezahlte, in ihrem kurzen Leben mehrmals vergewaltigt worden. Ausführlicher dazu Andrea Griesebner: »Er hat mir halt gute Wörter gegeben, daß ich es Thun solle.« Sexuelle Gewalt im 18. Jahrhundert am Beispiel des Prozesses gegen Katharina Riedlerin und Franz Riedler, in: Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Band 22/ 1996, 130 - 155. 93 Ferdinandea, Artikel 80: »Von der Kupplerey«. <?page no="228"?> Fragile Liebschaften? 229 Trotz aller gebotenen Kürze sollte deutlich geworden sein, daß die Ferdinandea bei der Konstruktion wie bei der Bewertung ›krimineller‹ Praktiken verschiedenen sozialen und kulturellen Kategorien gleichzeitig Bedeutung verlieh. 95 Anstelle kohärenter Geschlechtergruppen erzeugte sie ein Geflecht von interagierenden Differenzen, welche in die Wahrnehmung wie in die strafrechtliche Bewertung sprachlicher wie nichtsprachlicher Praktiken einflossen. Zu denken ist dabei neben den bereits genannten Differenzen ebenso an Unterschiede, die sich durch die jeweilige Einbettung in Beziehungsnetze oder auch durch den Gegensatz »einheimisch und angesessen« versus »fremd und streichend« 96 ergaben. Anstatt den im Kontext von Strafverfolgungen entstandenen Texten binäre Geschlechterkonzepte überzustülpen, sollte unseres Erachtens das methodologische und theoretische Instrumentarium verfeinert und die Erkenntniswerkzeuge, sprich die einzelnen Kategorien, immer wieder auch zum Erkenntnisgegenstand gemacht werden. Von der Überlegung ausgehend, daß die Relevanz der geschlechtlichen Markierung ebenso wie die Relevanz anderer Markierungen immer nur relational begriffen werden kann, läuft unser zweiter methodischer Vorschlag auf eine mehrfach relationale Analyse hinaus. 97 Analytisch scheint uns das mehrdimensionale Modell des ›sozialen Raumes‹, wie es Pierre Bourdieu auf der Basis seiner Arbeiten über die französische Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts entwickelte, auch für das Verständnis ›vormoderner‹ Gesellschaften nützlich. 98 Es muß wohl nicht extra betont werden, daß die von Pierre Bourdieu entwickelten Klassifizierungsvariablen nicht einfach in ›fremde‹ Gesellschaften projiziert werden können, sondern die für den jeweils interessierenden Untersuchungsraum charakteristischen Unterscheidungsprinzipien erst zu erarbeiten sind. Ein erster Einblick in die Wirkungsmächtigkeit bestimmter Klassifizierungs- und damit Positionierungsvariablen kann durch die Dialogisierung der Gerichtsakten und der Strafbücher gewonnen werden. Der enorme Hand- 94 Der Handlungsspielraum der Landrichter war durch keine Mindest- oder Höchststrafen begrenzt. Das sogenannte »End-Urtheil« entzieht sich daher gegenwärtig üblichen rechtstheoretischen Klassifikationen wie Höchst- oder ›Regelstrafe‹. Die vielfach beobachtete Differenz zwischen Strafnorm und Strafpraxis könnte möglicherweise schlicht damit erklärt werden, daß die Drohgebärden der Strafrechte mit Regelstrafen verwechselt werden. Neu zu überdenken wäre, auf welcher Quellenbasis sich überhaupt juristische Normen zur Bestrafung eines ›Vergehens‹ oder ›Verbrechens‹ re-konstruieren ließen. Vermutlich eignen sich die Texte der Juristen dazu eher als die »End-Urtheile« der Ferdinandea, wenngleich nicht vergessen werden darf, daß diese Drohgebärden - wie Einzelbeispiele verdeutlichen - auch in der Praxis umgesetzt werden konnten. Vgl. dazu auch Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen (wie Anm. 24), 259ff. 95 Die Beobachtung läßt sich, wie die einschlägigen Beiträge in dem jüngst von Ute Gerhard herausgegebenen Sammelband zeigen, generell auf das frühneuzeitliche ›europäische‹ Strafrecht übertragen. Vgl. die entsprechenden Artikel des ersten Teiles: Die Ordnung der Geschlechter in der Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte (wie Anm. 73), 27 - 264. 96 Diese Oppositionen durchziehen die einzelnen Artikel der Ferdinandea. 97 Zum folgenden vgl. auch Andrea Griesebner: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter u.a. (Hg.): Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1999. 98 Im Rahmen dieses Artikels kann dieses Konzept nicht ausgeführt werden, es muß auf die Arbeiten Pierre Bourdieus selbst verweisen werden. Einführend vgl. derselbe: Sozialer Raum und ›Klassen‹, in: derselbe: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 47 - 81 (französisch: 1984). Zum Konzept der Kapitalsorten und der Kapitalstruktur vgl. auch derselbe: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1989 (französisch: 1979). Zum Konzept des Habitus vgl. auch derselbe: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993, 97 - 121 (französisch 1980). <?page no="229"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 230 lungsspielraum der Landrichter und ihre Einbindung in lokale Herrschaftszusammenhänge ist methodisch insofern von Vorteil, als der Stellenwert ablesbar wird, der einer bestimmten Praktik ›vor Ort‹ beigemessen wurde. Vor Gericht wurde über individuelle Personen wie auch über legitime und illegitime Praktiken ganz allgemein entschieden, wurde Wahrheit produziert und durch die Produktion von Wahrheit Macht ausgeübt. Der Gerichtsprozeß war im Dorf- und Marktalltag ein herausragendes Ereignis, zu dessen Realisierung die Kooperation der dörflichen Bevölkerung - sei es als ZeugInnen, KlägerInnen oder DenunziantInnen - unumgänglich war. Auch wenn es bei der Analyse dieser Erzählungen immer zu berücksichtigen gilt, daß allen Individuen, die so entscheidend in den Prozeß verwickelt wurden, daß auch ihre Handlungen und Äußerungen uns heute überliefert sind, ein Raum des strategischen Ermessens zur Verfügung stand, 99 so können die vor diesem Hintergrund festgehaltenen Erzählungen für die Re- Konstruktion des sozialen Raumes nutzbar gemacht werden. Für die Positionierung der einzelnen Individuen im sozialen Raum ist es dennoch unerläßlich, die in den Gerichtsakten enthaltenen biographischen Informationen 100 weiter zu verdichten. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, möchten wir, ohne das Theoriegebäude des sozialen Raumes hier weiter ausführen zu können, festhalten, daß die im sozialen Raum eingenommene Position nicht gleichbedeutend mit dem ist, was in sozialhistorischen Theoriegebäuden sozialer Stand, soziale Schicht oder auch Klasse genannt wird. Der soziale Stand ist neben den bereits genannten und sicherlich noch weiter auszudifferenzierenden Kategorien 101 nur eine, wenngleich wichtige Positionierungsvariable. Die Positionierung der Individuen im sozialen Raum ist folglich erst im Rahmen einer Mikrostudie möglich, die alle verfügbaren Quellengruppen miteinbezieht. Neben traditionellen Quellen der Geschichtswissenschaft denken wir hier auch an alle jene Texte und Bilder, die in der Tradition der deutschsprachigen Wissenschaftskultur zwischen der Rechtsgeschichte, Germanistik, Literaturwissenschaft, Geographie, Philosophie, Kunstgeschichte oder auch der Theologie aufgeteilt sind. Damit verbindet sich nicht die Hoffnung auf eine allumfassende Re-Konstruktion, sondern die Überlegung, daß insbesondere auch die ›fiktiven‹ Geschichten - seien es jene aus literarischen oder aus religiösen Überlieferungen - keine eigene Welt bildeten, sondern die Möglichkeit, die Welt zu interpretieren, die Welt zu erfahren, der Welt Sinn zu verleihen. 102 Es versteht 99 Raum des strategischen Ermessens mit Pierre Bourdieu dahingehend verstanden, daß die Einzelnen nicht nur auswählten, was sie wann und vor allem wie vor Gericht erzählten, sondern sie auch reflektierten, was und vor allem wen sie vor Gericht brachten. Zu den Bedeutungsfeldern der Begriffe Strategie und Taktik vgl. auch Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (französisch 1980), Einleitung. 100 Im Untersuchungszeitraum waren dies: Name, Geschlecht, Alter, Religion, ziviler Stand, Kinder, Geburtsort, letzter Aufenthaltsort und Beruf(e) der DelinquentInnen. Abgefragt wurden zudem in aller Regel der Name, Beruf und Aufenthaltsort der Eltern und der Geschwister, bei verheirateten DelinquentInnen auch der Ehefrauen bzw. Ehemänner. Oft finden sich auch noch Angaben zum Besitz und zum Vermögen der DelinquentInnen, zur Höhe des zu erwartenden Erbes von väterlicher und mütterlicher Seite und zu den politischen Partizipationsmöglichkeiten, sprich ob sie InwohnerInnen waren oder aber das Bürgerrecht besaßen. 101 Wir denken hier etwa auch an die Bedeutung der Position in der Geschwisterreihe, die vor allem auch Ulrike Gleixner in ihrer Studie betonte. Vgl. Ulrike Gleixner: ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹ (wie Anm. 8). 102 Carlo Ginzburg führte dies in seiner Studie eines friaulischen Müllers des 16. Jahrhunderts vor mehr als 20 Jahren eindrucksvoll vor: vgl. derselbe: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 1990 (italienisch 1976). <?page no="230"?> Fragile Liebschaften? 231 sich, daß eine solche Herangehensweise nicht einfach umzusetzen ist: Sowohl die Arbeitskapazitäten der einzelnen WissenschaftlerIn als auch die immer nur ausschnitthaften Einblicksmöglichkeiten jeder Quellensorte setzen der Re-Konstruktion des sozialen Raumes wie der Positionierung der Individuen im sozialen Raum ihre Grenzen. Derartige Einschränkungen vorausgesetzt, läßt sich dennoch das methodische Postulat, welches sich aus diesen Überlegungen ergibt, systematisch fassen: Will man die Relevanz der Geschlechtsmarkierung in Relation zu anderen sozialen und kulturellen ›Markierungen‹ erfassen, so müssen ähnliche Praktiken von Frauen und Männern nicht nur in einer doppelten Relation, wie dies Pierre Bourdieu einforderte, 103 sondern in einer vierfachen Relation analysiert werden: erstens in Relation zu Praktiken von Individuen mit der gleichen geschlechtlichen Markierung, die im sozialen Raum eine ähnliche Position einnehmen; zweitens in Relation zu Praktiken von Individuen mit der gleichen geschlechtlichen Markierung, jedoch einer divergierenden Position im sozialen Raum; drittens in Relation zu Praktiken von Individuen mit einer ähnlichen Position im sozialen Raum, die eine andere geschlechtliche Markierung aufweisen; und viertens in Relation zu Praktiken von Individuen mit sowohl einer divergierenden geschlechtlichen Markierung als auch einer divergierenden Position im sozialen Raum. Abschließende Bemerkungen »Wenn Historiker so durch das Schlüsselloch der Kriminal- und Justizquellen in die Räume der Vergangenheit schauen, müssen sie sich fortwährend darüber Rechenschaft ablegen, welchen Ausschnitt des Raumes sie erblicken und was ihren Blicken aus welchen Gründen systematisch entzogen ist. Gleichzeitig werden sie bestrebt sein, aufgrund des Blickes durch das Schlüsselloch eines Raumes Aussagen über das gesamte mentale und soziale Verhaltensgebäude zu machen.« 104 Mit unseren Ausführungen hoffen wir, deutlich gemacht zu haben, daß dieser von Andreas Blauert und Gert Schwerhoff formulierte Anspruch für eine geschlechtergeschichtlich informierte historische Kriminalitätsforschung weitreichende Implikationen hat. Daß, um im Bild zu bleiben, nicht nur die Ränder des jeweils verfügbaren Quellen-Schlüssellochs ein Sichthindernis sind, sondern auch die eigenen Sehgewohnheiten den HistorikerInnen die Sicht auf vergangene Lebenswelten verstellen können, mag ein Erkenntniszuwachs sein, der sich 103 Im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke plädierte Pierre Bourdieu dafür, Frauen in einer doppelten Relation zu betrachten: »im Verhältnis zu den Männern derselben Position und im Verhältnis zu den Frauen anderer Positionen.« Auch wenn er in diesem Gespräch Klassensozialisation und Geschlechtersozialisation zusammendenkt, indem er davon ausgeht, daß die Geschlechtersozialisation nicht von der Sozialisation für eine soziale Position zu trennen ist, so bleibt sein Beispiel: »daß man lernt, eine Frau zu sein, aber man lernt immer zugleich, Tochter oder Frau eines Arbeiters, Tochter oder Frau eines leitenden Angestellten zu sein« androzentristisch. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke (März 1994), in: Irene Dölling/ Beate Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main 1997, 218 - 230, hier: 219 und 222. Zu seinen geschlechtertheoretischen Überlegungen vgl. auch: derselbe: Die männliche Herrschaft, in: ebd., 153 - 217 und derselbe: Männliche Herrschaft revisited, in: Feministische Studien 15. Jg./ Heft2/ 1997, 88 - 99 (Goffman-Preisrede an der Universität Berkeley vom 4. April 1996). 104 Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff: Vorbemerkungen, in dies.: (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, 7 - 15, hier: 11. <?page no="231"?> Andrea Griesebner, Monika Mommertz 232 augenfällig, aber sicher nicht ausschließlich aus der Diskussion der Kategorie Geschlecht ergibt. Wenn also die aktuellen Gender-Debatten auf das Ausmaß der möglichen Befangenheiten im eigenen historisch gewordenen Denken über ›Männer‹ und ›Frauen‹ verweisen, wenn sie die Sensibilität für unreflektiert mitgeführte Implikationen im Umgang mit den Quellen wecken, so ist damit sicher nicht nur der Geschlechtergeschichte gedient. Aus diesem Blickwinkel heraus hat der vorliegende Beitrag dezidiert für eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstands historischer Kriminalitätsforschung, für veränderte Fragestellungen und für neue Annäherungsweisen an Gerichtsquellen plädiert. In der Frage nach den Dispositionen, die in einer spezifischen Gesellschaft mit der geschlechtlichen Markierung verknüpfbar waren, und in der Frage nach der Relevanz, die der geschlechtlichen Markierung zukommen konnte, scheinen uns Möglichkeiten angelegt, systematisch die ›Fremdheit‹ frühneuzeitlicher Geschlechterkonzepte zu berücksichtigen und einen differenzierten Umgang mit den einschlägigen Quellen zu entwickeln. Die hier aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive entworfenen Herausforderungen reichen jedoch weiter. Den Vorgängen, Verhältnissen und Verhaltensweisen vor und außerhalb von gesetztem Recht und Gerichtsbarkeit größeres Augenmerk zu schenken, heißt zu Ende gedacht, den Analysehorizont der historischen Kriminalitätsforschung zu verschieben bzw. die Begrifflichkeiten zu überprüfen und zu erweitern, in denen dieser sich abbildet: Das justizförmig zugängliche Verhalten ist eben nicht lediglich mit Bezug auf justizielle Verfahrensweisen, Beziehungsformen und Institutionen einzuordnen und zu deuten, sondern mit Bezug auf Gesellschaft. 105 Die in Gerichtsakten festgeschriebenen Handlungsweisen sowohl mit der Frage nach ihrer sozialen Sinnhaftigkeit wie nach ihrer möglichen ›Eigenmächtigkeit‹ zu konfrontieren, erscheint uns gerade dann dringlich, wenn unmittelbar Prozesse der Kriminalisierung bzw. Ausgrenzung, also genuine Themen der historischen Kriminalitätsforschung, zur Debatte stehen: Nur wenn den Sichtverengungen der Gerichtsakten bewußt entgegengearbeitet wird, läßt sich umfassend erklären, worauf Obrigkeiten und/ oder andere in die Verfahren involvierte Personen re-agierten, wenn sie beispielsweise »soziale Kontrolle« ausübten. Wo sich aber kriminalisierte und nicht-kriminalisierte Verhaltensweisen systematisch als Praktiken mit eigenständigem ›sozialen Sinn‹ nachweisen lassen, kann wiederum die Frage angeschlossen werden, inwieweit in der obrigkeitlichen Gerichtspraxis, begriffen als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, selbst Bedeutung - in unserem Falle von Geschlecht - ›verhandelt‹ und damit produziert wurde. 106 105 Es versteht sich, daß hier ein umfassender und kulturtheoretisch gewendeter »Gesellschafts«Begriff zugrundegelegt werden muß. 106 Vgl. dazu auch: Monika Mommertz: »Ich, Lisa Thielen«. Text als Handlung und als sprachliche Struktur - ein methodischer Vorschlag, in: Historische Anthropologie 4, 1996, 303 - 329. <?page no="232"?> 233 Michael Maset Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen 1. Einleitung: Macht und Herrschaft Gerd Schwerhoff hat die historische Kriminalitätsforschung wie folgt definiert: »Die historische Kriminalitätsforschung als ein Teilbereich der allgemeinen Sozialgeschichte untersucht abweichendes Verhalten in der Vergangenheit im Spannungsfeld von Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle einerseits, von gesellschaftlichen Handlungsdeterminanten und sozialen Lagen andererseits. Umgekehrt wird Kriminalität auch als zentraler Indikator für die Erforschung von gesamtgesellschaftlichen Zuständen und von historischem Wandel eingesetzt.« 1 In dieser Beschreibung des Forschungsgebiets finden sich viele Begriffe, die zum gängigen Inventar kriminalitätshistorischer Studien gehören, die Termini ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ werden jedoch nicht explizit erwähnt. Sofern die historische Kriminalitätsforschung von ihren Vertretern und Vertreterinnen als Teil der Sozialgeschichte, häufig auch als »Konfliktgeschichte« 2 verstanden wird, nutzen diese Kriminalität als eine Sonde, von der sie sich - zumeist im Rahmen räumlich und zeitlich begrenzter Fallstudien - Einblicke in menschliche Gruppierungen sowie in darin vorzufindende Macht- und Herrschaftsverhältnisse erhoffen. 3 Die historische Beschäftigung mit abweichendem Verhalten und dagegen gerichteter Sanktionsmittel impliziert somit die Analyse des jeweiligen Machtbzw. Herrschaftskontexts, in dem der Untersuchungsgegenstand steht. Deshalb - so meine erste These - benötigt eine historische Kriminalitätsforschung ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse von Macht und Herrschaft. Macht und Herrschaft sind jedoch problematische Begriffe, was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß in den Wissenschaften keine einheitliche Auffassung über beide existiert. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß es sich bei Macht und Herrschaft um ein in allen Gesellschaften und Staaten für ihren Aufbau, ihr Wesen und Funktionieren bedeutsames Grundverhältnis handelt, in dem die Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen, Klassen oder auch Staaten, durch Über- und Unterordnung, durch Be- 1 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414, hier: 387. 2 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 405. 3 So z.B. Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmöderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek 1989, 24; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991, 442. <?page no="233"?> Michael Maset 234 fehl und Gehorsam bestimmt werden. 4 Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Begriffs Herrschaft, wie sie beispielsweise in den Geschichtlichen Grundbegriffen oder im Historischen Wörterbuch der Philosophie dargestellt wird, führt zu einem ähnlichen Ergebnis: Herrschaft wird als historisches Grundverhältnis der Über- und Unterordnung von Herrschenden und Beherrschten beschrieben, als Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹. In dieser Perspektive erscheint die Dichotomie von Herrschaft und Knechtschaft, die auf Aristoteles zurückgeführt wird und bei Hegel zu einer universalen weltgeschichtlichen Kategorie wurde, als eine anthropologische Konstante in der Geschichte. Macht stellt demzufolge einen vertraglich geregelten oder gewaltsam angeeigneten Besitz dar, der den politischen Souverän dazu berechtigt oder ermächtigt, Herrschaft auszuüben. Es wird von einem machtbesitzenden Subjekt ausgegangen, das geeignete Mittel zur Durchsetzung von Verboten und Anweisungen anwendet, welche die Realisierung von Herrschaftszwecken ermöglichen. 5 Reinhart Koselleck sieht im Oppositionspaar Herr und Knecht, in »Oben-Unten- Relationen« eine transzendentale Kategorie bzw. Minimalbedingung, welche die Möglichkeit von Geschichten benennt, womit gemeint ist, daß Oben-Unten-Relationen konstitutiv für die Entstehung, den Verlauf und die Wirksamkeit von Geschichten sind: »An dem Befund selber, daß sich immer neue Abhängigkeiten einspielen, (…) ändert sich nichts. (…) Jede Revolution, die auf gewaltsame Weise Gewaltverhältnisse geändert hat, führt zur Etablierung neuer Gewaltverhältnisse. Die Legitimation mag neu sein, die Rechtsverhältnisse mögen andere, vielleicht sogar bessere geworden sein, an der Wiederkehr von neu organisierten und rechtlich geregelten Abhängigkeitsformen, an der Oben-Unten-Relation selber ist deshalb noch nie etwas geändert worden. Selbst eine Vereinbarung unter Gleichen setzt politische Gewalt ein, um die Relationen zu stabilisieren.« 6 Macht und Herrschaft werden nicht immer eindeutig unterschieden und häufig aufeinander und/ oder auf Gewalt bezogen gedacht. 7 Sofern eine definitorische Trennung für notwendig erachtet wird, beziehen sich viele Historiker und Historikerinnen auf Max Webers Operationalisierung von Macht und Herrschaft. In der Nachfolge von Weber wird Macht als die Chance betrachtet, die Einzelne, eine Gruppe, Klasse oder der Staat haben, um den eigenen Willen innerhalb einer sozialen und politischen Beziehung durchzusetzen. Worin diese Durchsetzungsfähigkeit besteht und welche Vorausset- 4 Vgl. Lothar Döhn: Macht und Herrschaft, in: Hanno Drechsler/ Wolfgang Hilligen/ Franz Neumann (Hg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 8. neubearb. u. erw. Aufl., München 1992, 466 - 468. 5 Vgl. Horst Günther/ Dietrich Hilger/ Karl-Heinz Ilting/ Reinhart Koselleck/ Peter Moraw: Herrschaft, in: Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, 1 - 102; J. Winckelmann: Herrschaft, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/ Stuttgart 1974, 1084 - 1088; K. Rothe: Herrschaft und Knechtschaft, in: Ebd., 1088 - 1096. Zum Figurenpaar Herr und Knecht vgl. auch Hartmut Zwahr: Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig/ Jena/ Berlin 1990. 6 Reinhart Koselleck: Historik und Hermeneutik, in: Ders./ Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987, 9 - 28, hier: 20. 7 Ein Beispiel: Für Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a. Main/ New York 1996 beruht die spätmittelalterliche Herrschaft über Bauern auf dem Gewaltpotential und -monopol der Herren (Vgl. ebd., 224.). Eine definitorisch eindeutige Trennung zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt wird nicht durchgeführt. <?page no="234"?> Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 235 zung sie hat, spielt dabei keine Rolle. Macht ist in dieser Konzeption ein Instrument, ein Potential, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Herrschaft unterscheidet sich von Macht hauptsächlich dadurch, daß sie durch Recht, Gesetz, Ideen und Werte legitimierte Macht ist. Herrschaft ist dementsprechend die Chance oder Möglichkeit, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei bestimmten Personen Gehorsam zu finden. Sie korrespondiert in Webers Konzeption mit Anerkennung, auch wenn diese sich nur in Form bloßer Unterwerfung zeigt. Herrschaft bedarf einer Legitimität, wenn sie sich von Gewalt unterscheiden will, was jedoch nicht bedeutet, daß sich Herrschaft jeglicher Macht- oder Gewaltmittel enthalten müßte. 8 Während in der historischen Forschung vor allem die Analyse von Herrschaft thematisiert wird, möchte ich im folgenden bewußt die historische Analyse von Macht in den Mittelpunkt stellen. Sofern in Anlehnung an Weber Macht häufig als Instrument von Herrschaft bzw. Herrschaft als legitimierte Macht mit Sanktionsgewalt interpretiert wird, ist ein Zusammenhang von beiden gegeben, aber die Frage nach ›Macht‹ impliziert meines Erachtens eine stärkere Ausrichtung auf die menschlichen Beziehungen. Die Untersuchung von Herrschaftsverhältnissen begnügt sich oftmals mit der Darstellung von »Oben-Unten-Relationen« und der Frage ihrer Legitimierung bzw. Legitimität, wohingegen die Analyse von Machtverhältnissen das konkrete Funktionieren dieser Relationen untersuchen kann. 9 Dabei ist auch zu fragen, ob zweipolige »Oben-Unten-Relationen« überhaupt adäquate heuristische Hilfsmittel zur historischen Analyse von Macht darstellen. Distributive Schichtungsanalysen, die häufig mit »Oben-Unten-Relationen« arbeiten, sagen über das Funktionieren von Machtverhältnissen zumeist wenig aus, da sie Macht nur in Form von Potentialen darstellen und die historischen Subjekte häufig vor jeglicher gesellschaftlichen Interaktion positionieren (so z.B. in Wehlers Gesellschaftsgeschichte 10 ). Da Machtrelationen Verhältnisse zwischen Menschen bezeichnen, die zum Teil strukturellen Charakter haben oder strukturell bedingt sein können, bedarf eine historische Analyse von Macht sowohl einer strukturals auch einer handlungstheoretischen Perspektive, um die Doppelkonstitution historischer Wirklichkeit (Medick), die Gleichzeitigkeit von gegebenen und produzierten Verhältnissen, die Wechselwirkung zwischen prägenden bzw. determinierenden Strukturen und dem Handeln der Subjekte, die diese Strukturen hervorbringen, erfassen und darstellen zu können. 11 Meine zweite These lautet dementsprechend: Eine historische Kriminalitätsforschung bedarf einer Analyse von 8 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revid. Aufl., Tübingen 1976, 28; Achatz von Müller: Herrschaft, in: Manfred Asendorf u.a.: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, Reinbek 1994, 292 - 295; Döhn: Macht (wie Anm. 4). Zum Vergleich der Ansätze von Max Weber und Michel Foucault siehe Colin Gordon: The Soul of the Citizen: Max Weber and Michel Foucault on Rationality and Government, in: Scott Lash/ Sam Whimster (Hg.): Max Weber, Rationality and Modernity, London 1987, 293 - 316 und Petra Neuenhaus: Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993. 9 Ein Beispiel für eine auf das ›Funktionieren‹ ausgerichtete Analyse bietet James Given: The Inquisitors of Languedoc and the Medieval Technology of Power, in: AHR 94 (1989), 336 - 359. 10 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700 - 1815, München 1987, 1 - 30. 11 Vgl. Hans Medick: ›Missionare im Ruderboot‹? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 295 - 319. Zur ›Doppelkonstitution historischer Wirklichkeit‹ vgl. auch Gerd Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien/ Köln/ Weimar 1996, 162f. <?page no="235"?> Michael Maset 236 Macht, die struktur- und handlungstheoretische Zugänge methodisch verknüpfen kann. 12 Diese Verknüpfung, die keine Addition, sondern eine Synthese von methodischen Ansätzen meint, scheint mir wichtig, da sie eine Bestimmung des prekären Verhältnisses zwischen Absicht und Durchsetzung, Anspruch und Wirklichkeit ermöglicht und gegenüber der Kurzschlüssigkeit, von einer Norm auf die Realität eines Verhaltens zu schließen, immunisieren kann. Michel Foucaults Machtanalyse kann - so meine dritte These - diese Verknüpfung leisten, wie ich im folgenden ansatzweise skizzieren möchte. 2. Michel Foucaults Analyse von Macht Michel Foucault hat den Versuch unternommen, eine Analyse der Macht zu entwikkeln, die das konkrete ›Funktionieren‹ von Macht untersucht. Dabei entwirft er dezidiert keine Theorie der Macht, denn er ist weder am Wesen ›der‹ Macht noch an einer Analyse von Macht schlechthin interessiert. Vielmehr setzt er sich von der Voraussetzung einer grundlegenden Macht und ihrer Verdinglichung in mehreren Punkten kritisch ab, indem er nicht nach dem ›Was ist Macht? ‹, ›Woher kommt sie? ‹ 13 , ›Wer hat sie inne? ‹ und ›Was ist die legitime Basis dieser Macht? ‹, sondern nach dem ›Wie funktioniert Macht an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext? ‹ fragt. Gegenstand seiner Analysen ist dementsprechend nicht ›eine‹ Macht, sondern die Untersuchung von Machtverhältnissen. Foucault beschreibt Macht, indem er sie als eine Relation bzw. eine Funktion auffaßt. Macht ist für Foucault keine Form, sondern ein Kräfteverhältnis. Sie hat kein Wesen und ist kein Attribut. Sie ist operativ, es gibt sie nur als von einen bzw. einer auf die anderen ausgeübte: »Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich (…) auf permanente Strukturen stützt. (…) Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen.« 14 Foucault analysiert Machtverhältnisse als Beziehungen zwischen Subjekten. Macht ist kein Besitz, über den ein Individuum oder eine Gruppe verfügt und der anderen Individuen oder Gruppen abgeht. Jede Machtposition ist selbst in ein Feld von Beziehungen eingelassen, in dem es keine absolut privilegierte und unanfechtbare Stellung gibt. Macht hat bei Foucault kein Zentrum mehr. Sie muß ›dezentral‹ verstanden werden, 12 Zur Verknüpfungsmöglichkeit von Struktur und Handlung vgl. auch Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 405. 13 Vgl. dazu Michael Mann: The Sources of Social Power. Vol. I: A History of Power from the Beginning to A.D. 1760, Cambridge/ New York 1986 (dt. Ausg.: Geschichte der Macht, 2. Bde., Frankfurt a. Main/ New York 1990 u. 1991). Manns soziologische Studie über die ›Quellen‹ der Macht ist meines Wissens bisher nicht von der deutschen Geschichtswissenschaft rezipiert worden. 14 Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. Main 1987 (Chicago 1982), 241 - 261, hier: 254. <?page no="236"?> Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 237 das heißt sie wird nicht erworben, weggenommen, geteilt, bewahrt oder verloren, sondern sie ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht. Machtwirkungen werden überall erzeugt, nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben und auf oberer und unterer Ebene gegenseitig. Somit gibt es nicht nur vertikale, sondern auch horizontale soziale Kontrolle. Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (z.B. ökonomischen oder sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres. Sie sind ihnen insofern immanent, als sie einerseits unmittelbare Auswirkungen von Ungleichheiten, Ungleichgewichten und Teilungen sind, die in diesen Verhältnissen entstehen, andererseits aber auch die inneren Bedingungen jener Differenzierungen darstellen. 15 ›Macht‹ ist nicht eine Institution, eine Struktur oder die Mächtigkeit einiger Mächtiger, sondern vielmehr die Bezeichnung für eine komplexe strategische Situation. 16 Sofern Foucault eine punktuelle Lokalisierung von Macht ablehnt, sieht er auch in Institutionen keine Wesenheiten oder Ursprünge von Macht. Obwohl ihnen Machtverhältnisse innewohnen, sind Macht und Institutionen nicht dasselbe. Foucault will die Bedeutung von Institutionen bei der Einrichtung von Machtverhältnissen nicht verneinen, ihm erscheint es aber sinnvoller, die Institution von den Machtverhältnissen her zu analysieren und nicht umgekehrt, denn »(…) selbst wenn sie [die Machtverhältnisse, M.M.] in einer Institution Gestalt annehmen und sich herauskristallisieren, haben sie doch ihren Haltepunkt außerhalb dieser.« 17 Für Foucault gibt es nicht ›den‹ Staat, sondern lediglich eine Art ›Staats-Effekt‹. 18 Entsprechendes gilt für andere Institutionen (z.B. Familie, Religion). Sie sind keine ›Dinge‹, sondern operative Mechanismen, die differentielle Kräfteverhältnisse im Horizont eines sozialen Feldes integrieren. Für eine Analyse von Macht ist es deshalb u.a. wichtig zu fragen, welche Kräfteverhältnisse Institutionen integrieren und welche Beziehungen sie zu anderen Institutionen unterhalten. 19 Foucault hält es für gefährlich, Macht auf Repression, Ausschließung und Ausgrenzung zu reduzieren 20 und verweist auf den produktiven, ›ermöglichenden‹ Aspekt von Machtmechanismen, die z.B. Wissen hervorbringen: »(…) man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.« 21 Zugleich betont er die flexible, umkehrbare und auf Widerstand bezogene Struktur von Machtverhältnis- 15 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. Main 1977 (Paris 1976), 115. 16 Vgl. Foucault: Wille (wie Anm. 15), 114. 17 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 257. 18 Mitchell Dean: Critical and Effective Histories. Foucault’s Methods and Historical Sociology, London/ New York 1994, 156. Dieser schlägt vor, von einem »state-effect« zu sprechen. Zu diesem Thema vgl. auch Graham Burchell/ Colin Gordon/ Peter Miller (Hg.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Hemel Hempstead 1991. 19 Vgl. dazu auch Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a. Main 1987, 106f. 20 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. Main 1976 (Paris 1975), 250. 21 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 35. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Martin Dinges: Michel Foucault. Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. Main 1993, 189-212, 240-244. <?page no="237"?> Michael Maset 238 sen. Möglicher Widerstand ist die Perspektive, aus der seine Analyse Machtverhältnisse betrachtet. Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands gegenüber den verschiedenen Machttypen: »Metaphorisch gesprochen heißt das, den Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrensweisen herausbekommt. Statt die Macht von ihrer inneren Rationalität her zu analysieren, heißt es, die Machtverhältnisse durch den Gegensatz der Strategien zu analysieren. Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Gesellschaft unter vernünftig versteht, sollten wir vielleicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vor sich geht. Wir sollten untersuchen, was im Feld der Illegalität vor sich geht, um zu verstehen, was wir mit Legalität meinen, und um zu verstehen, worum es bei Machtverhältnissen geht, sollten wir vielleicht die Widerstandsformen und die Versuche zur Auflösung dieser Verhältnisse untersuchen.« 22 Foucault geht davon aus, daß eine gegebene soziale Situation zwar bestimmte Verhaltensweisen für bestimmte Individuen und Gruppen ausschließen kann, daß ihnen aber dennoch neben dem Versuch der Änderung der gegebenen Verhältnisse immer eine Reihe von Verhaltensmöglichkeiten offen stehen. 23 Sind diese Änderungsmöglichkeiten durch das Erstarren der beweglichen und umkehrbaren Machtverhältnisse eingeschränkt, spricht Foucault in den 80er Jahren auch von Herrschaft 24 : »Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und - mit Mitteln, die sowohl ökonomisch als auch politisch oder militärisch sein können - jede Umkehrbarkeit der Bewegung zu verhindern, dann steht man vor dem, was man einen Herrschaftszustand nennen kann.« 25 2.1. Machtausübung Machtausübung bezeichnet nicht einfach eine Beziehung zwischen Subjekten, sondern - wie schon gezeigt - die Wirkungsweise von Handlungen, die andere verändern: »Sie ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.« 26 22 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 245. 23 Vgl. Michel Foucault: Sex, Power and the Politics of Identity (1982), in: Sylvère Lotringer (Hg.): Foucault Live (Interviews, 1961 - 1984), New York 1996, 382 - 390. 24 Vgl. Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 241 - 261. 25 Helmut Becker (Hg.): Freiheit und Selbstsorge. Aufsätze von Michel Foucault, Frankfurt a. Main 1985, 11. 26 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 255. <?page no="238"?> Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 239 Machtausübung erscheint wie eine ›Affektion‹, da Kräfte sich durch das Vermögen definieren, andere Kräfte mit denen sie in Beziehung stehen, zu affizieren. Das heißt, daß jede Kraft sowohl affizieren als auch affiziert werden kann. Folglich impliziert jede Kraft Machtbeziehungen, und jedes Kräfteverhältnis verteilt die Kräfte gemäß dieser Beziehungen und ihrer Variablen. 27 ›Regieren‹ - im Sinne von ›andere führen‹ - heißt dann, das Feld eventuellen Handelns anderer Subjekte zu strukturieren. 28 Damit wäre die Verhaltensweise von Macht weder auf Seiten von Gewalt und Kampf, noch auf Seiten des Vertrags zu suchen, sondern in dieser Art des Handelns: »Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkung auf die Handlungen anderer definiert, wenn man sie durch das ›Regiment‹ [franz. gouvernement, M.M.] - im weitesten Sinne dieses Wortes - der Menschen untereinander kennzeichnet, nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der Freiheit. Macht wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur sofern diese ›frei‹ sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere ›Führungen‹, mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können.« 29 Machtverhältnisse sind also soziale Beziehungen, die zugleich durch politische, soziale, ökonomische Strukturen und das Handeln der Subjekte geformt werden. Macht nur in Form von Strukturen oder Institutionen zu betrachten, würde den flexiblen, Widerstand ermöglichenden Charakter der Machtverhältnisse begrifflich zum Verschwinden bringen. Andererseits ist es auch nicht möglich, Macht nur auf die Intentionen, den Willen oder den Besitz der Subjekte zu reduzieren, da die Gesamtausrichtung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft gerade kein Subjekt impliziert. Der Gesamteffekt entzieht sich den Intentionen der Handelnden: »›Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.‹« 30 Um beiden Einseitigkeiten zu entgehen, muß Macht ›relational‹, als Beziehung bzw. Funktion aufgefaßt und thematisiert werden. Auf diese Weise sieht Foucault die Möglichkeit gegeben, das Funktionieren von Macht in bezug auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse und im Hinblick auf das Handeln konkreter Subjekte zu beschreiben bzw. gerade die Interdependenz, das Zusammenwirken und die Verschränkung beider Aspekte zu analysieren. 31 Dabei kommt der Analyse gesellschaftlicher Praktiken ein wichtiger Stellenwert zu. 27 Vgl. Deleuze: Foucault (wie Anm. 19), 100f. 28 Vgl. dazu auch Barry Hindess: Discourses of Power: from Hobbes to Foucault, Oxford/ Cambridge, Mass. 1996, 105 - 113. Hindess’ Arbeit gibt - in historischer Perspektive - Einblicke in diverse Sichtweisen und Vorstellungen von Macht. 29 Foucault: Subjekt (wie Anm. 14), 255. 30 Michel Foucault in einer persönlichen Mitteilung, zitiert nach: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow: Michel Foucault (wie Anm. 14), 219. 31 Vgl. Foucault: Dispositive (wie Anm. 21), 83 - 88. <?page no="239"?> Michael Maset 240 2.2. Praktiken Paul Veyne hat Foucaults Analyse der Praktiken ein kleines Buch gewidmet, das er Foucault révolutionne l’histoire genannt hat. 32 Dort lautet seine zentrale, die Wichtigkeit (bzw. das für Veyne ›Revolutionierende‹) der Methode Foucaults hervorhebende These, daß es zur Erklärung dessen, was gemacht wurde - des Objekts -, des Blicks darauf bedarf, worin in jedem gegebeben historischen Moment das Machen - die Praktik - bestand. Zur Verdeutlichung dieser These sei hier das Beispiel der Lettres de cachet in Familienangelegenheiten angeführt: Eine vom Objekt, vom Gegenstand ausgehende Herangehensweise würde in den Siegelbriefen ein Potential, ein wichtiges Machtmittel des Königs, ein drastisches Mittel absolutistischer Willkür sehen. Die Vorgehensweise von Farge und Foucault war von der mit den Briefen verbundenen gesellschaftlichen Praxis, dem konkreten Machen bestimmt und kam zu ganz anderen Einsichten. 33 Unabhängig davon, ob die Ergebnisse von Farge und Foucault zutreffen mögen, zeigen sie meines Erachtens, daß eine angemessene Einschätzung der Lettres de cachet nur in Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen Praktiken vollzogen werden kann. Das Objekt Lettres de cachet ist das Korrelat der mit diesem Gegenstand verbundenen Praktiken: verändern sich diese, so verändert sich auch der Inhalt bzw. die Funktion der Siegelbriefe. Der Begriff der Praktiken bringt den relationalen Charakter der Analyse von Macht bei Foucault noch einmal auf den Punkt. Er wendet sich in analytischer Hinsicht gegen jegliche - der sozialen Interaktion vorausgehenden - Reifikation von Analyseobjekten. Die Gegenstände der Analyse existieren nur in der Relation und zu ihrer Erklärung bedarf es der Bestimmung dieser Relationen. Durch die Untersuchung von gesellschaftlichen Praktiken, wie sie Michel Foucault vorschlägt, kann der kardinale Fehler vermieden werden, aus der handlungsanleitenden Absicht auf die Durchführung bzw. Umsetzung zu schließen. Foucaults relationale Analyse von Macht kann somit auch für Untersuchungen zur Disziplinierung hilfreich sein. Disziplinierung ist das Korrelat der mit ihr an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext verbundenen Praktiken. Disziplin ist somit kein Ding, sie wird nur im Rahmen gesellschaftlicher Praxis deutlich, in der sie funktionieren, wirken und insofern existent sein kann. Eine Erprobung dieser Konzeption scheint mir sinnvoller als eine Weiterführung der Diskussionen um Oestreichs rudimentäre Gedankenansätze zu einem Konzept der Sozialdisziplinierung, aus denen zuweilen ein ›Paradigma‹ konstruiert wird. 34 32 Paul Veyne: Foucault révolutionne l’histoire, Paris 1978. (dt. Ausgaben: Paul Veyne: Der Eisberg der Geschichte. Foucault revolutioniert die Historie, Berlin 1981; Paul Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a. Main 1992.) 33 Vgl. Arlette Farge/ Michel Foucault: Familiäre Konflikte: Die ›Lettres de cachet‹. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1989 (Paris 1982). 34 So bei Heinz Schilling: Disziplinierung oder ›Selbstregulierung der Untertanen‹? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: HZ 264 (1997), 675 - 691. <?page no="240"?> Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse 241 3. Fazit Meiner bisherigen Argumentation könnte entgegen gehalten werden, daß die darin aufgestellten Forderungen von der historischen Kriminalitätsforschung - zumindest in Ansätzen - eingelöst werden, da viele ihrer Vertreter und Vertreterinnen gegen die Unzulänglichkeiten der älteren Herrschaftssoziologie und die mögliche Diskrepanz zwischen Norm und alltäglicher Praxis sensibilisiert sind. Das mag sein -, aber ich denke, daß der häufig in Studien anzutreffende Hinweis auf das historisch-anthropologische Programm Herrschaft als soziale Praxis 35 (Lüdtke) nicht ausreicht, um dem von Schwerhoff geforderten »Prozeß kontinuierlicher Selbstreflexion« 36 zu genügen. Wenn die historische Kriminalitätsforschung beansprucht, eine »hohe Anschlußfähigkeit an Theorien gesellschaftlicher und historischer Entwicklung« 37 zu haben, dann werden ihre Vertreter und Vertreterinnen dies nicht durch noch so spannende kriminalitäts- und alltagsgeschichtliche Fallstudien, die - in engen raum-zeitlichen Grenzen - ein plastisches und farbiges Bild von der Lebenswirklichkeit frühneuzeitlicher Delinquenz malen, beweisen. 38 Eine solche Anschlußfähigkeit und eine - erkenntnistheoretisch wünschenswerte - Korrektivfunktion gegenüber solchen Theorien kann meines Erachtens nur durch die vermehrte Erprobung von historischen Langzeitanalysen bzw. Gedanken zu einer Vernetzung bisheriger Ergebnisse erlangt werden, wobei eine einfache Addition von Ergebnissen kaum möglich sein wird. Dabei werden Analysetechniken benötigt, die struktur- und handlungstheoretische Perspektiven verbinden. Eine systematischere Rezeption von Foucaults Machtanalyse könnte zu einer produktiven Auseinandersetzung führen, die weiterführende Perspektiven für die historische Kriminalitätsforschung eröffnen kann. 35 Vgl. Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, 9 - 63. 36 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 387. 37 Schwerhoff: Devianz (wie Anm. 1), 410. 38 Vgl. auch Dirk Blasius: Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136 - 149. <?page no="242"?> III. Kriminalquellen - Sprache und Wissen <?page no="244"?> 245 Klaus Graf Das leckt die Kuh nicht ab »Zufällige Gedanken« zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit Im Januar 1773 erschien in den »Westfälischen Beiträgen«, der Beilage zum »Osnabrükker Intelligenzblatt«, ein kurzer Aufsatz unter dem Titel Zufällige Gedanken bei Durchlesung alter Bruchregister. Er beginnt mit folgenden Sätzen: Die Strafgesetze und Strafregister dienen ungemein, den Charakter einer Nation in gewissen Zeitpunkten zu bestimmen. Man gehe ein Strafoder, wie wir sprechen, Bruchregister von hundert Jahren durch: so wird man mit Vergnügen bemerken, wie gewisse Verbrechen zu einer Zeit sehr häufig vorkommen, die sich zu einer andern ganz verloren haben; nicht sowohl, weil der Mensch tugendhafter geworden, denn sonst würde ein solches Register gegen Rousseau beweisen, daß die Wissenschaften die Menschen frömmer gemacht hätten, sondern weil die Leidenschaften einen feinern Weg zum Ausbruche genommen haben. Es folgt eine Auswertung der Strafregister des osnabrückischen Amts Fürstenau aus den Jahren 1550 bis 1600. Der Verfasser dieser Miszelle war einer der bedeutendsten deutschen Publizisten der Aufklärungszeit, der osnabrückische Staatsmann und Historiker Justus Möser 1 . Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine seriell auswertbare Quelle aus der Frühen Neuzeit, und dies erklärt auch, weshalb der Ansatz Mösers und der anderen vergessenen Rechtsantiquare, Historiker und Publizisten seiner Zeit, die sich in ähnlicher Weise für die Geschichte und Altertümer der Strafjustiz interessierten 2 , ohne Resonanz blieb. Die germanistische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts war überwiegend einem romantischen Paradigma verpflichtet, für das Jacob Grimms »Rechtsaltertümer« 3 stehen können: Statt Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte zu betreiben, blickte man in eine mythenerfüllte Vorzeit zurück und spürte am liebsten Relikte germanisch-deutschen Volksrechts auf. 1 Justus Möser: Sämtliche Werke, Bd. 5, Oldenburg 1945, 264-267, Zitat 264. - Der vorliegende Beitrag geht zurück auf mein Referat auf der Tagung der Arbeitsgruppe »Historische Kriminalitätsforschung« im Rahmen der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart am 11. Juni 1993. Für Anregungen und Kritik danke ich Andrea Griesebner, Christof Jeggle, Barbara Krug-Richter, Peter Schuster, Gerd Schwerhoff, Gabriela Signori und Herwig Weigl. Besonders hervorheben möchte ich die Hilfe von Matthias Lentz, der mich kenntnisreich mit einer Reihe wichtiger Hinweise versorgt hat. 2 Beispielsweise publizierte Philipp Wilhelm Hausleutner in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift (Schwäbisches Archiv 1, Stuttgart 1790, 551f.) eine kurze summarische Hinrichtungsstatistik für die Reichstadt Augsburg 1350 - 1750 und kündigte weitere Nachrichten dazu an. Auf historische Beiträge im Rahmen der aufklärerischen Debatte über die Bestrafung von Kindsmörderinnen macht aufmerksam Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990, 246f. Zahlreiche rechtshistorische Dissertationen des 17./ 18. Jahrhunderts weist nach: Christoph Daxelmüller: Bibliographie barocker Dissertationen zu Aberglaube und Brauch, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 3 (1980) - NF 7 (1984), hier: NF 5 (1982), 222 - 224; NF 6 (1983), 230 - 233; NF 7 (1984), 209 - 211. 3 Jacob Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, 2 Bde, 4. Aufl., Leipzig 1899, Nachdruck Darmstadt 1989 (Erstausgabe 1828). Vgl. auch Dieter Werkmüller: Rechtsaltertümer, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte [künftig: HRG] 4 (1990), 265 - 268 und Louis Carlen: Sinnfälliges Recht. Aufsätze zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Hildesheim 1995, 34f. mit Hinweisen auf Vertreter der juristisch-antiquarischen Richtung im 18. Jahrhundert. <?page no="245"?> Klaus Graf 246 »Die Überlieferung ist selbst Geschichte« Wenn sich die historische Kriminalitätsforschung als ein »relativ lockerer Zusammenhang von Fragen, die sich vor allem aus den gemeinsam benutzten Quellen über deviantes Verhalten und Sanktionen ergeben« verstehen läßt 4 , so kommt der Frage nach den Gerichts- und Kriminalquellen und ihrer Eigenart größte Bedeutung zu. Die juristische Dissertation herkömmlicher Prägung beschränkte sich in der Regel darauf, aus den Quellen zur historischen Strafpraxis passende Beispiele zur Anwendung der Rechtsnormen herauszupicken. Über die Form, den Entstehungskontext, die Funktion und die Aussagekraft der herangezogenen Akten oder Protokolle erfährt man in diesen Arbeiten in der Regel nichts 5 . Ein besonders krasses Beispiel scheint mir vorzuliegen in einem 1956 an prominenter Stelle publizierten Aufsatz von Friedrich Merzbacher. Über den Entstehungszusammenhang des von ihm ausgewerteten »Alten Halsgerichtsbuchs« des Hochstifts Eichstätt schreibt Merzbacher buchstäblich nichts. Der Band wurde aufgrund älterer, bis in den Anfang des 15. Jahrhunderts zurückreichender archivalischer Aufzeichnungen, die regestenartig wiedergegeben werden, erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts angelegt - vermutlich in den 1560er Jahren - und dürfte mit territorialen Konflikten um die Hochgerichtsbarkeit (beispielsweise mit dem Deutschen Orden) in Verbindung stehen 6 . Marc Bloch, einer der Väter der französischen Sozialgeschichtsschreibung, betont in seiner »Apologie der Geschichte«: »Die Probleme der Quellenüberlieferung sind keineswegs nur Übungsaufgaben methodischen Charakters; sie berühren den innersten Lebensbereich der Vergangenheit: es geht um nichts geringeres als um die Weitergabe der Erinnerung im Ablauf der Generationen. Bei ernstzunehmenden historischen Werken gibt der Autor normalerweise in einer Liste an, welche Archivakten er durchgesehen hat und welche Sammlungen er verwendet hat. Das ist sehr gut, aber nicht genug. Jedes historische Werk, das diesen Namen verdient, müßte außerdem ein Kapitel enthalten (...) etwa mit dem Titel »›Wie kann ich das wissen, was ich jetzt sagen werde? ‹« 7 . Für jede kriminalitätshistorische Studie mit ungedrucktem Material sollte daher selbstverständlich sein, daß sie die verwendeten Hauptquellen so ausführlich charakterisiert, daß sowohl ihre Genese und Form als auch ihr spezifischer Informationsgehalt transparent werden 8 . Zu begrüßen wäre die Beigabe von ausführlichen Textproben. Kurz: 4 Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 385 - 414, Zitat 414. 5 Keinen Abschnitt über die Quellenlage enthält z.B. die umfangreiche Monographie von Franz Gut: Die Übeltat und ihre Wahrheit. Straftäter und Strafverfolgung vom Spätmittelalter bis zur neuesten Zeit ein -Beitrag zur Winterthurer Rechtsgeschichte, Zürich 1995. 6 Friedrich Merzbacher: Das »Alte Halsgerichtsbuch« des Hochstifts Eichstätt. Eine archivalische Quelle zur Geschichte des Strafvollzugs im 15. und 16. Jahrhundert zur rechtlichen Volkskunde, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung [künftig: ZRG GA] 73 (1956), 375 - 396. Gerhard Rechter, Staatsarchiv Nürnberg, verdanke ich ergänzende Informationen zu dem Band (Eichstätter Literalien Nr. 13). Eine Parallele stellt das aus der gleichen Zeit stammende Archivale Staatsarchiv Nürnberg Deutscher Orden Kommende Virnsberg Nr. 150 II dar, in dem - vielleicht zur Vorbereitung eines Reichskammergerichtsprozesses - die Ausübung der Gerichtsrechte durch die Kommende anhand von Einzelfällen ebenfalls regestenartig dokumentiert wurde, vgl. Gerhard Rechter: »Lieber Getreuer« oder »Euer Fürstlich Gnaden? «. Zum Verhältnis zwischen dem Deutschen Orden und den Zollern in Franken (=Triesdorfer Hefte 7),Triesdorf 1996, 7f. mit Anm. 44. 7 Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, hg. von Lucien Febvre, München 1985, 58f. <?page no="246"?> Das leckt die Kuh nicht ab 247 Der Leser oder die Leserin sollte sich ein anschauliches Bild von den Quellen machen können und aufgrund der Beschreibung ungefähr wissen, was er oder sie in ihnen vorfinden wird und was nicht. Wichtig wären auch Editionen geeigneter Texte, doch bedarf es dazu eines selbstlosen Engagements, das nur die wenigsten ForscherInnen aufbringen wollen und können 9 . Nötig wären aber auch zusammenfassende Studien etwa zu einzelnen Quellentypen, die Quellenkunde und Quellenkritik verbinden müßten. Eine solche Quellenkunde jenseits der engen Grenzen der juristischen Rechtsquellenlehre 10 hätte einerseits der Heuristik zu dienen, indem sie den Weg zu erschlossenen und unerschlossenen Archivalien bahnt 11 und die quellenkundlichen Einsichten der Spezialliteratur kritisch sichtet, andererseits aber einer bereichsspezifischen Geschichte der Schriftlichkeit vorzuarbeiten, die gemäß Hermann Heimpels Devise »Die Überlieferung ist selbst Geschichte« 12 nicht bei rechtshistorischen Konstrukten, sondern bei der Überlieferung anzusetzen hätte. »Zufällige Gedanken« - der Titel von Mösers kleiner Abhandlung - läßt sich auch auf den Zufall der Überlieferung 13 beziehen, der die von ihm besprochenen Strafregister erhalten hatte. Anders als privatrechtliche Aufzeichnungen, die aufgrund fortwirkender Rechtsverhältnisse als überlieferungswürdig galten, war das Schriftgut der Strafgerichtsbarkeit besonders gefährdet. Die durch bewußte Vernichtung - vergleichbar der Tilgung einer Vorstrafe - oder das Unverständnis der Verwaltungsbediensteten und Archivare eingetretenen Verluste können kaum überschätzt werden. 8 Vgl. beispielsweise Gerd Schwerhoff: Ein Blick vom Turm. Kölner Quellen zur historischen Kriminalitätsforschung, in: Geschichte in Köln 27 (1990), 43 - 67; Susanna Burghartz: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, 55 - 60; Katharina Simon-Muscheid: Gerichtsquellen und Alltagsgeschichte, in: Medium Aevum Quotidianum 30 (1994), 28 - 43; Katharina Simon- Muscheid/ Christian Simon: Zur Lektüre von Gerichtsquellen: Fiktionale Realität oder Alltag in Gerichtsquellen, in: Dorothee Rippmann/ Katharina Simon-Muscheid/ Christian Simon, Arbeit - Liebe - Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15. bis 18. Jahrhundert, Liestal 1996, 17 - 39 und künftig die ausführliche Beschreibung des Quellenkorpus bei Andrea Griesebner: Interagierende Differenzen. ›Vergehen‹ und ›Verbrechen‹ in einem niederösterreichischen Landgericht im 18. Jahrhundert, unveröffentlichte Diss., Wien 1998. Aus sprachhistorischer Perspektive: Arend Mihm: Die Textsorte Gerichtsprotokoll im Spätmittelalter und ihr Zeugniswert für die Geschichte der gesprochenen Sprache, in: Gisela Brandt (Hg.): Historische Soziolinguistik des Deutschen II. Sprachgebrauch in soziofunktionalen Gruppen und in Textsorten, Stuttgart 1995, 21 - 57. 9 Umso nachdrücklicher sei auf die von Dieter Hangebruch herausgegebenen »Brüchtenprotokolle der Stadt und des Landes Uerdingen im 17. Jahrhundert« (Krefeld 1991) aufmerksam gemacht. Die Masse der 679 Einträge in den Brüchtenprotokollen von 1607 bis 1632 und im Rapiar des Schultheißen von 1650 bis 1657, einem privaten Notizbuch, betrifft Beleidigungen. Ein rascher Zugriff auf den Inhalt ist dank eines Sachregisters möglich, was man leider von den wenigsten einschlägigen deutschsprachigen Darstellungen sagen kann. 10 Vgl. beispielsweise Otto Stobbe: Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 2 Bde, Leipzig 1860/ Braunschweig 1864, Nachdruck Aalen 1965; Theodor Bühler: Rechtsquellenlehre Bd. 2: Rechtsquellentypen, Zürich 1980. 11 Eine allzu lückenhafte Übersicht zu spätmittelalterlichen Kriminalquellen gibt Martin Schüßler: Verbrechen im spätmittelalterlichen Olmütz. Statistische Untersuchung der Kriminalität im Osten des Heiligen Römischen Reiches, in: ZRG GA 111 (1994), 148 - 271, hier: 245 - 248. 12 Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essais, 2. Aufl., Göttingen 1957, 209. 13 Vgl. Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), 529 - 570; nur der Text und einige bibliographische Nachträge wieder in: Derselbe: Zeitalter und Menschenalter. Der Mensch und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 39 - 69, 228f. <?page no="247"?> Klaus Graf 248 So wurden 1814 die Lübecker Aufzeichnungen über Verfestungen als völlig werthlos verkauft 14 . Sind Kriminalquellen doch erhalten, kommt es darauf an, sie mit größter Vorsicht zu lesen. Quellenkunde und Quellenkritik sind für eine Beurteilung der Aussagekraft der aus ihnen erhobenen Daten unerläßlich, und dies betrifft nicht nur die besonderen Probleme eines quantifizierenden Zugriffs 15 . Es geht nicht an, etwa die spätmittelalterliche Stadtchronistik auf die strafrechtlich relevanten Einträge zu durchmustern, ohne sich Gedanken darüber zu machen, welche Art von »Straffällen« dort registriert wurde, aus welchen Gründen und in welchem Kontext dies erfolgte 16 . Nach der Schriftlichkeit der Strafjustiz zu fragen, sollte sich jedoch nicht auf das Aufstellen einer Reihe methodischer Warntafeln beschränken. Ebenso wie normative Quellen und gelehrte Reflexionen sind auch die in Form von Urkunden, Akten und Geschäftsbüchern erhaltenen Kriminalquellen als eigenständige Zeugnisse eines gesellschaftlichen Diskurses über das Strafen und die soziale Kontrolle 17 zu würdigen. Daß in diesen Texten nicht nur die Stimme der Obrigkeit, sondern auch die der Untertanen zu vernehmen ist, haben die Forschungen der letzten Jahre wohl zur Genüge dargetan 18 . Der obrigkeitlichen Perspektive verpflichtet bleiben allerdings Thomas Lentes und Thomas Scharff, die vor kurzem »Schriftlichkeit als Technik der Disziplinierung, Normierung und Interiorisierung« in einem Aufsatz in den Blick genommen haben. Ihr Beitrag ist aus dem hier thematisch einschlägigen Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 »Pragmatische Schriftlichkeit« hervorgegangen 19 . Beobachtungsfelder von Lentes und Scharff sind das spätmittelalterliche Schriftgut der Inquisition und der Frömmigkeitspraxis. Es geht ihnen dabei um das »Erfassen und Speichern von Personennamen, das Sichern und Belegen von mit diesen Personen verbundenen Sachverhalten, das Veröffentlichen und Verlesen von Texten und das Ermahnen und Verändern des einzelnen anhand schriftlicher Aufzeichnungen« 20 . Für die Frühe Neuzeit lassen 14 Ferdinand Frensdorff: Einleitung. Die Verfestung nach den Quellen des lübischen Rechts, in: Otto Francke: Das Verfestungsbuch der Stadt Stralsund, Halle 1875, XIII-XCVI, hier: XIII; Ahasver von Brandt: Proscriptio. Zur Überlieferung und Praxis der Verfestung (Friedloslegung) im mittelalterlichen Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 48 (1968), 7 - 16, hier: 8f. 15 Vgl. Gerd Schwerhoff: Falsches Spiel. Zur kriminalitätshistorischen Auswertung der spätmittelalterlichen Achtbücher, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 82 (1995), 23 - 35 in Auseinandersetzung mit Martin Schüßler: Statistische Untersuchung des Verbrechens in Nürnberg im Zeitraum von 1285 bis 1400, in: ZRG GA 108 (1991), 117 - 193. 16 Vgl. Helmut Martin: Verbrechen und Strafe in der spätmittelalterlichen Chronistik Nürnbergs, Köln/ Weimar/ Wien 1996; Christoph Heiduk: Die Diskussion über das Strafrecht in spätmittelalterlichen Chroniken Schlesiens und der Lausitz, in: Derselbe/ Almut Höfert/ Cord Ulrichs: Krieg und Verbrechen nach spätmittelalterlichen Chroniken, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 9 - 109. 17 Zum diskursanalytischen Ansatz von Michel Foucault und seiner Rezeption vgl. Martin Dinges: Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, 189 - 212, 240 - 244. 18 Vgl. die einschlägigen Aufsätze insbesondere zu Verhörprotokollen im Sammelband: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996 und die Hinweise des Herausgebers ebd., 21 - 24. Vgl. auch Monika Spicker-Beck: Mordbrennerakten. Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Folterprozessen des 16. Jahrhunderts, in: Mark Häberlein (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, Konstanz 1999, 55 - 66. 19 Thomas Lentes/ Thomas Scharff: Schriftlichkeit und Disziplinierung. Die Beispiele Inquisition und Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), 233 - 251, Zitat 251. 20 Ebd., 234. <?page no="248"?> Das leckt die Kuh nicht ab 249 sich ausführlichere theoretische Reflexionen der Zeitgenossen heranziehen, die Schriftlichkeit weit systematischer als Instrument sozialer Kontrolle einsetzen wollten, als es die damalige Verwaltungspraxis zuließ. Besonders signifikant erscheint mir die zentrale Rolle schriftlicher Aufzeichnungen in der Polizeitheorie des Straßburger Ratsherrn Georg Obrecht aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, die mit ihrem Ideal eines »gläsernen Menschen« entfernt an George Orwells »1984« erinnert. Die Deputaten, eine Art Präventivpolizei, führen verschiedene Matrikeln über die gesamte Einwohnerschaft, die sowohl Planungsdaten für die Obrigkeit liefern als auch der Überwachung des Einzelnen dienen sollen. Alle erwachsenen Männer sollen in dem halbutopischen Plan alle drei Jahre inskribiert werden, wobei erforscht werden soll, was eins jeden Leben und Wandel seye. Dazu Hans Maier: »Ähnlich ist es bei Hochzeiten, Ortswechseln, Anvogtungen, Heiratserlaubnissen: Überall steht hinter dem registrierenden Deputaten der Censor, der mit Rügerecht ausgestattete Tugendwächter und Sittenrichter« 21 . Nun ist das ins Auge gefaßte Thema wahrlich, mit Fontane zu sprechen, »ein weites Feld«. Um es nicht bei programmatischen Forderungen zu belassen, werde ich zwei Aspekte näher beleuchten: Die Bedeutung der Eintragung in vornehmlich spätmittelalterliche Strafbücher (»schwarze Bücher«) und die Verewigung denkwürdiger Straffälle in Form dauerhaft konzipierter Erinnerungszeichen. Eingerahmt wird die Behandlung der im Zentrum des Beitrags stehenden Schanddenkmäler, die in Deutschland hauptsächlich in der Frühen Neuzeit errichtet wurden, von kritischen Ausführungen zu Justiz-Erinnerungen in Gestalt der sogenannten »Sagen« und von vorläufigen Bemerkungen zum »historischen« Diskurs über die Strafgerichtsbarkeit. Die Frage nach der Schriftlichkeit wird somit auszuweiten sein auf die Frage nach der Erinnerungskultur der Strafjustiz, nach ihrem Gedächtnis. Das Konzept »Erinnerungskultur« 22 verstehe ich als Ensemble von Medien, die Erinnerung stiften oder sichern sollen, sei es prospektiv durch Überlieferungsbildung, also Weitergabe historischer Erfahrung, sei es retrospektiv durch Bewahren und Aufgreifen von Traditionen. Da es an systematischen Vorarbeiten zu den im folgenden behandelten Aspekten fehlt, versteht es sich von selbst, daß ich hier nur erste Hinweise geben kann. Was die herangezogenen Belege betrifft, war ich weitgehend auf Zufallsfunde in der gedruckten Literatur angewiesen. Die archaisierende Möser-Reminiszenz im Untertitel meines Beitrags ist daher leider alles andere als Koketterie. Im schwarzen Buch stehen In der 1529 erstmals erschienenen Sprichwörtersammlung des Johannes Agricola wird das Sprichwort Grosse herren gedencken lang (Nr. 338) mit der Führung von Geschichtsbüchern für ehrliche und unehrliche Taten in wohlgeordneten Gemeinwesen in Verbindung gebracht. Während ehrliche Taten ihren Urheber erhöhen, dienen Auf- 21 Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München 1980, Zitate 126, 127. Die Quelle: G. Obrecht: Fünff Unterschiedliche Secreta Politica (...), Straßburg 1644 (ursprünglich 1617). 22 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997. Zu eigenen Studien zum Thema Erinnerungskultur vgl. am aktuellsten die gleichnamige Rubrik meines Internet-Angebots: http: / / www.uni-koblenz.de/ ~graf. <?page no="249"?> Klaus Graf 250 zeichnungen über Verfehlungen der Spezialprävention: Wer eyn ubelthat begehet, und entrinnet, der ist darumb noch nicht frey, kumpt er einmal widder, so wird er eben so wol gestrafft, als were er nie entrunnen. Agricola benennt als Beispiel einen Magdeburger Prediger, der in seiner Jugend mutwillig und frech gewesen sei und nach der Stürmung eines Hauses entfliehen konnte. Sein name aber was in dem schwartzbuch (so nennen sie das bu o ch der ubelthat) verzeychnet. Da er nun zu einem manne, und yhr Prediger ward, bat er den Radt, sie wölten seinen namen außleschen, aber er konde es nicht erlangen, unnd diß gedechtnuß bleibt noch, denn grosse herren gedencken lang 23 . Das nächste Sprichwort steht damit unmittelbar im Zusammenhang, denn es betrifft die Rechtskraft deutscher Stadtbücher, deren Einträge unanfechtbar und mit ewiger Geltung versehen sind: Es ist dahyn geschriben, daß es keyn ku o we ablecket, noch keyn Kro e außkratzet. Was im Stadtbuch steht, bleibt darin zu o ewigen zeitten, es kann die Kuh nicht ablecken und die Krähe nicht auskratzen 24 . Der obrigkeitlichen Buchführung über Straftaten korrespondierte also eine negative Wahrnehmung dieser Praxis durch die Betroffenen, die ungern »im Buch stehen« wollten und dies als Schande empfanden 25 . Dies wirft die Frage auf, ob der Eintrag in einem Strafbuch nicht als Bestandteil des Sanktionsinventars, als eine Art Ehrenstrafe 26 , verstanden werden kann. Über das Stadtbuch von Oschatz in Sachsen aus dem 15. Jahrhundert heißt es in einer älteren Arbeit: »Auch wenn keine Bestrafung erfolgte, werden strafbare Handlungen, z.B. Frevelreden wider den Rat, ›zu gedechtnisse‹ notiert« 27 . Es handelt sich wohl um so etwas wie eine Verwarnung mit Strafvorbehalt im Wiederholungsfalle 28 . Sebastian Francks 1541 gedruckte Sprichwörtersammlung vergleicht die Langmut Gottes mit dieser Praxis. Ausgehend von dem bereits von Agricola genannten Sprichwort Groß herrn dencken lang führt Franck aus: Es mag leicht einer ein punct im blu o t oder schwartzen bu o ch haben, kompt noch einer, so helff dir got. Ein punct mag dir wol verzihen sein, aber nit vergessen, kompstu noch ein mal ins blu o t bu o ch, so rechnet mann 23 Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen, hg. von Sander L. Gilman, Berlin/ New York 1971, Bd. 1, 289. 24 Ebd., 290. Zur Illustration sei eine Satzung des Basler Rats vom 19.3.1411 zitiert: Wer einen Meineid leistet, der soll in der stett bu o ch, das darumb in sunders gemaht ist, gesetzt werden und verschriben werden, daz er ewiclichen ein verworfener mensche sol sin aller eren und wirdickeiten, und daz er ze keinem gezúgen niemer genommen sol werden umb kein sach, Joh. Schnell (Hg.): Rechtsquellen von Basel Stadt und Land, Bd. 1, Basel 1856, 92, Nr. 93; vgl. zur Meineidstrafe auch ebd., 136, Nr. 143 (vom Jahr 1441, Eintrag ins Totbuch zu o ewiger gedechtnússe der selben dingen), 345, Nr. 264 (vom Jahr 1539). Hinweis auf die Quelle bei Peter Schuster: Ehre und Recht. Überlegungen zu einer Begriffs- und Sozialgeschichte zweier Grundbegriffe der mittelalterlichen Gesellschaft, in: Sibylle Backmann u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgenzungen, Berlin 1998, 40 - 66, hier: 59 Anm. 71. 25 Nicht im Buch stehen wollte ein Dortmunder Kaplan, der 1703/ 04 vor dem Reichskammergericht gegen seinen Pastor wegen eines von diesem vorgenommenen schmähenden Kirchenbucheintrags klagte, vgl. Gerichte des Alten Reiches. Teil 1: Reichskammergericht A-K, bearb. von Günter Aders, Münster 1966, 65f. zur Akte Staatsarchiv Münster B 885/ 3386. 26 Vgl. die Sammelbände: Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995; Ehrkonzepte (wie Anm. 24) sowie Gerd Schwerhoff: Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Mit den Waffen (wie Anm. 17), 158 - 188, 236 - 240. 27 Hubert Ermisch: Die sächsischen Stadtbücher des Mittelalters, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 10 (1889), 83 - 143, 177 - 215, hier: 198. 28 Ein frühes Beispiel aus Rostock: Si Stencop iuvenis plus excesserit, de omni causa reus erit, Hildegard Thierfelder (Hg.): Das älteste Rostocker Stadtbuch (Etwa 1254 - 1273), Göttingen 1967, 42 Nr. 50. <?page no="250"?> Das leckt die Kuh nicht ab 251 den ersten verzihen, aber nit vergessen punct zu dem andern, also wil jm auch Got thu o n, Ezech. 18 29 . Friedrich Battenberg hat angesichts der feierlichen Devise auf dem Einbanddeckel des erhaltenen Achtbuchs König Sigmunds vermutet, »daß den Eintragungen eine gewisse sakrale, wenn nicht gar magische Wirkung zugeschrieben wurde. Es ist durchaus daran zu denken, daß der mittelalterliche Mensch zu ihm das Buch des Lebens der Apokalypse assoziierte, nur hier mit umgekehrtem Vorzeichen im Sinne eines Buches, das die Namen all derer enthielt, die aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgestoßen waren« 30 . Populär war im Mittelalter die Vorstellung von einem Sündenregister, das der Teufel führte. In einem verbreiteten Predigtexempel wird dieses Register auf einer Kuhhaut geführt - Ursprung des Sprichworts »Das geht auf keine Kuhhaut« 31 . In den Hexenprozessen ist die Vorstellung, daß in einem schwarzen Buch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Teufelssabbat verzeichnet werden, bereits im 15. Jahrhundert gängiges Traditionsgut 32 . Die Farbsymbolik bei der Benennung der Strafbücher 33 liegt auf der Hand: Schwarz war die Farbe des Unheils und des Teufels 34 . Als schwarze Bücher wurden vor allem die Zauberbücher der Nigromanten (»Schwarzkünstler«) bezeichnet 35 . Ebenfalls unheilvolle Konnotationen vermochte der Name eines 1498 bis 1513 geführten Görlitzer 29 Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar Bd. 11: Sprichwörter, hg. von Peter Klaus Knauer, Bern u.a. 1993, 312 (II, Bl. 65); die Interpunktion habe ich modernisiert. Zur Herkunft der Passage aus der 1539 erschienenen Sammlung des Eberhard Tappe vgl. Ulrich Meisser: Die Sprichwörtersammlung Sebastian Francks von 1541, Amsterdam 1974, 300. 30 Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert, Köln/ Wien 1986, 273. Skeptisch dazu mit Blick auf weitere Gerichtsbücher Martin Walter Wernli: Das kaiserliche Hofgericht in Zürich. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Gerichtsbarkeit, Diss., Zürich 1991, 84. 31 Vgl. Lutz Röhrich: Religiöse Stoffe des Mittelalters im volkstümlichen Erzähl- und Liedgut der Gegenwart, in: Peter Dinzelbacher/ Dieter R. Bauer (Hg.): Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn u.a. 1990, 419 - 451, hier: 441 - 443; derselbe: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 2, Freiburg/ Basel/ Wien 1992, 906 - 908. Vgl. auch Rudolf Schenda: Buch, in: Enzyklopädie des Märchens 2 (1979), 965 - 970, hier: 966f. Zur himmlischen Buchführung über gute und böse Taten vgl. die Hinweise bei Hagen Keller: Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), 1 - 31, hier: 25; Lentes/ Scharff: Schriftlichkeit (wie Anm. 19), 237, 244. In Köln wurden Anfang des 16. Jahrhunderts Strafbücher als »Kalbfell« bezeichnet; der Einband des »Liber Malefactorum« (1510 ff.) trägt den Reim: Wer yn diesem calffell nyet en wylt staen, der sall van boesen wercken laen; Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör, Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/ Berlin 1991, 472. 32 Andreas Blauert: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989, 64f. 33 Die Bezeichnung schwarzes Buch (dat swarte boc) ist bereits 1300 für Riga belegt, Deutsches Rechtswörterbuch 2 (1932 - 1935), 551 s.v. Buch. Heino Speer vom Deutschen Rechtswörterbuch (Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften) verdanke ich die folgenden Nachweise aus dem Zettelarchiv zum Lemma »schwarz«: 1614 MittNordbExk. 30 (1907) 140; 1663 ZürichZftG. II 622; 1666 Wissel, Hdw. I 290; 1669 NürnbDecr. 436; nach 1681 TrierWQ. 594 Anm. 1; 1715; K. Mayer: Hexen, Henker und Tyrannen (Ort? Jahr? ) 49 [Karl Meier: Hexen, Henker und Tyrannen, mehrere Auflagen, 7. Auflage, Lemgo 1980, Zusatz K. G.]; 1764 SGallenOffn. I 75; 1774 Wagner, Civilbeamte II 150 u. 165; um 1780 Nyrop, HdvDanm. 79; 1781 MGPaed. 30 368 (öfter); ohne Jahr Wissel, Hdw. II 270; ohne Jahr Bothe, BrauchFrankf. 138 (schwarze Liste)«. (Auflösung der Abkürzungen in den Quellenheften zum Rechtswörterbuch.) 34 Zur Farbsymbolik vgl. beispielsweise Josef Hanika: Der Wandel Schwarz-Weiß als Erzähl- und Brauchmotiv, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1961, 46 - 60; Leopold Kretzenbacher: Aus Schwarz wird Weiß. Zu einem Gnadensinnzeichen als Legendentopos, in: Volkskultur. Mensch und Sachwelt. Festschrift für Franz C. Lipp zum 65. Geburtstag, Wien 1978, 227 - 237. <?page no="251"?> Klaus Graf 252 Stadtbuchs zu wecken: es heißt in der Aufschrift das swarcze buch, auf dem ersten Blatt aber Acheldemach - offenbar eine Anspielung auf den in der Apostelgeschichte 1, 19 erwähnten »Blutacker« (Hakeldamach) in Jerusalem, dem Grundstück, auf dem Judas seinen schrecklichen Tod gefunden hat 36 . Sprichwörtliche Redewendungen in der Art von im schwarzen Buch eingeschrieben sein 37 sind bereits im 16. Jahrhundert nachweisbar: Einen ins schwarze Buch schreiben 38 , Das schwarze Register, darin wir mit einem langen Item stehen, Einen ins schwarze Register bringen, ins schwartz Register kommen 39 . Belege liefert aber nicht nur die Sprichwörter-Literatur: In Halle an der Saale wird in amtlichen Unterlagen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts auf die verbreitete Sprechweise angespielt: wie man spricht du stehest auch im rotthen buche (das Rote Buch war das Register der Brandmarkungen) 40 . Und von der Straftäterin Anna Ulmer heißt es in Esslingen 1564: sie kumpt wider einmal ins buoch 41 . Neben schwarzen Büchern gab es schwarze Tafeln. Das Grimmsche Wörterbuch weiß von einem bei Handwerksgesellen üblichen Brauch, Übeltäter, die ohne Sühne fortgezogen waren, durch Anschreiben an die Schwarze Tafel zu strafen 42 . Sogar das Reichskammergericht mußte sich 1745 bis 1759 mit einem Streit zwischen den Lübekker Schonenfahrern und der dortigen Kaufleute-Compagnie befassen, bei der es um die Frage ging, inwieweit die Praxis schwarzer Hohn- und Spott-Tafeln rechtmäßig sei 43 . 1742 wurde ein Mitglied der Kaufleute-Compagnie, der die Wahl zum Bruder des Schonenfahrer-Collegiums ablehnte, auf das schwartze Brett gesetzt. Als der Name eines weiteren Kaufmanns gleichfalls dort angeschrieben wurde, setzte die Compagnie im Gegenzug die Alterleute der Schonenfahrer auf ihre schwartze Tafel. Da das Schwarze Brett als Hohn- und Spott-Tafel bezeichnet wurde und folglich gegen denjenigen, dessen Nahmen darauf gesetzet wird, als Beschimpfung anzusehen sei, kam das Reichskammergericht zum Schluß, dieses Medium coercendi injuriosum sei widerrechtlich und beide schwarze Bretter seien von Amts wegen zu beseitigen 44 . 35 Vgl. Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg, 2. Aufl., Bd. 1, Amsterdam 1996, 255 zu den bei Gottfried von Straßburg: Tristan, Vers 4690 erwähnten swarzen buochen. - Dem Quellenterminus Nigromantie liegt die irrige Ableitung der Nekromantie von »niger« (schwarz) zugrunde. 36 Paul Rehme: Stadtbuchstudien, in: ZRG GA 37 (1916), 1 - 93, hier: 23. 37 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch 9 (1899), 2318; vgl. auch Röhrich: Lexikon (wie Anm. 31) 1 (1991), 274; 2 (1992), 1238 (schwarzes Register); 3 (1992), 1436. 38 Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 1, Leipzig 1867, 499. 39 Ebd. Bd. 3 (1873), 1592 mit Belegen aus Schriften des 16. Jahrhunderts. 40 Erich Neuss: Das Hallische Stadtarchiv. Seine Geschichte und seine Bestände, Halle 1930, 10. 41 Günter Jerouschek: Die Hexen und ihr Prozeß. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, Esslingen 1992, 72. 42 Grimm: Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 37) Bd. 9, 2318. Vgl. auch die Hinweise bei Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966, 269. Zu eher scherzhaft gemeinten Kellertafeln in Wirtshäusern vgl. Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtliche Volkskunde, Halle/ Saale 1936, 157f. 43 Johann Frh. von Cramer (Hg): Von Hohn- und Spott-Tafeln, und derselben Abschaffung durch eine Reichs-Cammergerichtl. Urtheil, in: Wetzlarische Nebenstunden, 15. Teil, Ulm 1759, 69 - 80 (nach freundlicher Mitteilung von Matthias Lentz). 44 Zitate ebd., 79f. - Die Aufhängung einer Straf- und Schimpf-Taffel (unbekannter Farbe! ) im Lübecker Annenkloster 1606 notiert W. Brehmer: Eine »Straftafel« zu St. Annen, in: Mittheilungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 2 (1885), 50. <?page no="252"?> Das leckt die Kuh nicht ab 253 Ein Beispiel für ein schwarzes Schand-Schild aus der höfischen Kultur Frankreichs: 1468 ersetzte der Wappenkönig des Ordens vom Goldenen Vließ auf dem Ordenskapitel in Brügge das Wappenschild des der Zauberei und anderer Verbrechen beschuldigten Ordensritters Jean de Bourgogne durch ein schwarzes Schild, auf dem alle Anklagen schriftlich fixiert waren und das im Chorgestühl der Kirche belassen wurde, damit es tout le monde kopieren könne 45 . Alle diese Zeugnisse verweisen auf den engen Konnex zwischen schriftlicher Fixierung, Ehre und Öffentlichkeit. Besonders bezeichnend erscheint mir die im Jahr 1489 vor dem Bamberger Landgericht vorgebrachte Klage eines Mannes gegen die Verleumdung seiner Ehefrau. Er warf der Verleumderin vor, sie behaupte über seine Frau, in welchs haws sein hawßfrau gee, dorinn nemen die lewt abe an leybe und gut, das auch dieselbe sein haußfrau fur ein wissenliche hüren in das statbuch geschriben und sie solle der vier hüren eine in eelichem standt, die die ergsten genant sein sollen, eine sey[n] 46 . Die rechtliche Eigenschaft des Stadtbuchs als Buch öffentlichen Glaubens, das vollen Beweis über die darin niedergelegten Vorgänge zu führen vermag, wird hier zur Steigerung der Beleidigung benützt. Bei der Auswertung der zahlreich erhaltenen städtischen Acht- oder Verfestungsbücher 47 ist zu beachten, daß vielfach erst der Bucheintrag die Rechtswirkungen der Acht bzw. Verfestung entstehen ließ. Zwischen dem Urteil und dem Bucheintrag bestand somit ein Spielraum, den die Kontrahenten bei einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung zu einer gütlichen Beilegung des Konflikts nutzen konnten. Dank der Parallelüberlieferung von Ächterverzeichnissen und Achtbuch des Züricher Hofgerichts am Ende des 14. Jahrhunderts konnte festgestellt werden, daß sehr viele Ächtungen nicht in das Achtbuch eingetragen wurden 48 . Ein Schlaglicht auf das Nebeneinander mündlicher und schriftlicher Dokumentation gerichtlicher Vorgänge wirft das Verfahren des »Verzählens« in Freiberg in Sachsen 49 . Dabei handelt es sich um ein Strafverfahren gegen Abwesende, das der niederdeutschen Verfestung entsprach 50 . Nach dem Ausspruch des Urteils über den Verzählten hatte der 45 Gert Melville: Rituelle Ostentation und pragmatische Inquisition. Zur Institutionalität des Ordens vom Goldenen Vließ, in: Heinz Duchhardt/ Gert Melville (Hg.): Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 215 - 271, hier: 269f. 46 Friedrich Merzbacher: Iudicium provinciale ducatus Franconiae. Das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken-Würzburg im Spätmittelalter, München 1956, 153. 47 Vgl. immer noch Werner Schultheiß: Die Acht-, Verbots- und Fehdebücher Nürnbergs von 1265 - 1400. Mit einer Einführung in die Rechts- und Sozialgeschichte und das Kanzlei- und Urkundenwesen Nürnbergs im 13. und 14. Jahrhundert, Nürnberg 1960, 16*- 27*. 48 Wernli: Hofgericht (wie Anm. 30), 90; ebd., 80 - 90, eine ausführliche Quellenbeschreibung: »Das Achtbuch und die Gerichtsverzeichnisse«. 49 Vgl. Hubert Ermisch: Das Verzählen. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafverfahrens gegen Abwesende, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 13 (1892), 1 - 90. 50 Wurde ein Verfesteter gefangen vor das Gericht geführt, war nach lübischem Recht nur noch der Beweis der Verfestung zu führen, nicht der des Verbrechens (anders als bei der Verfestung des Sachsenspiegels), Frensdorff: Einleitung (wie Anm. 14), XXXII. Zur Verfestung (proscriptio) vgl. außer der älteren Arbeit von Frensdorff jüngst Ulrich Andermann: Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbehauptung. Untersuchungen zur Kriminalisierung und Bekämpfung des spätmittelalterlichen Raubrittertums am Beispiel norddeutscher Hansestädte, Frankfurt a. M. u.a. 1991, 226 - 251 (mit Quellenübersicht, 233 - 237); Rainer Demski: Adel und Lübeck, Studien zum Verhältnis zwischen adeliger und bürgerlicher Kultur im 13. und 14. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u.a. 1996, 285 - 304 (»Beobachtungen zum ältesten lübeckischen Verfestungsprotokoll« 1243ff.); Wolfgang Sellert/ Andreas Bauer: Verfestung, in: HRG 5 (1998), 718f. <?page no="253"?> Klaus Graf 254 Kläger das Gericht, Richter und Dingwarte, zu »besetzen« 51 . Die Besetzung des sächsischen Rechts, die eine Analogie im sogenannten »Verboten« des Ingelheimer Rechts besitzt 52 , war ein ganz an der Mündlichkeit des Verfahrens orientierter Rechtsakt: Die Erinnerung an einen gerichtlichen Vorgang sollte durch Zahlung einer Beweisgebühr dem Gedächtnis der Gerichtspersonen eingeprägt werden. Volle Rechtskraft erhielt die »Verzählung« jedoch erst durch den vom Rat auf Antrag des Klägers vorzunehmenden Eintrag im Verzählbuch, das als der burger brief bezeichnet wurde 53 . Hatte man einen Verzählten ergriffen, so konnte er von Rechts wegen seine Unschuld nicht mehr beweisen und die Hinrichtung abwenden. Es genügte, wenn sein Name »an dem Briefe« stand 54 . Ebenso erbrachte der Eintrag in das Achtbuch den vollen Beweis dafür, daß der Eingetragene sich in der Acht befand 55 . (Faktisch war natürlich immer ein Handlungs- und Verhandlungsspielraum gegeben.) Daß die Städte mit dem Verfestungsverfahren im Spätmittelalter ein politisch zu nutzendes Instrument gegen die sogenannten »Raubritter«, die adeligen Fehdegegner und »Städtefeinde« 56 , besaßen, kann hier nur am Rande erwähnt werden 57 . Zwischen Achtbzw. Verfestungsbüchern, Schadensverzeichnissen und Aufzeichnungen über Fehdehandlungen 58 besteht jedenfalls ein enger Sachzusammenhang. Diese Geschäftsbücher sind als sachbezogene Dossiers über Konflikte zugleich auch Geschichtsbücher, indem sie geschichtliche Erfahrungen als Exempla und Präzedenzfälle im Medium der Schrift aufbewahrten. Zwischen der Unterrichtung der Mitwelt, die man auch als Herstellung von Öffentlichkeit bezeichnen könnte (auch wenn diese meist verwaltungsintern blieb), und der - gleichsam »historiographischen« - Auf- 51 Ermisch: Verzählen (wie Anm. 49), 12. Vgl. Julius Wilhelm Planck: Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter. Nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen, Bd. 1, Braunschweig 1879, 331f. 52 Vgl. Peter Eigen: Die Verbotung in den Urteilen des Ingelheimer Oberhofs, Aalen 1966; Adalbert Erler: Verbotung, in: HRG 5 (1998), 667. Die Gedächtnisleistung der Schöffen wird in Analogie zum Transport einer Nachricht durch einen bezahlten Boten gesehen. 53 Ermisch: Verzählen (wie Anm. 49), 12 - 15. 54 Ebd., 20f. Wer von denjenigen Rittern, die bei dem Überfall auf die Stadt Lüneburg in der Ursulanacht 1371 gefangengenommenen worden waren, als Straßenräuber uppe der stad breve stand, wurde enthauptet, so eine allerdings nicht zeitgenössische Nachricht aus der niederdeutschen Fassung von Hermann Korners »Chronica«, Die Chroniken der deutschen Städte Bd. 36, Stuttgart 1931, 30; vgl. Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50), 243 (mit falscher Quellenangabe Floreke). Auch in der lateinischen Fassung D von 1435: postea decollati sunt plures de eis, qui in libro civitatis inventi sunt proscripti (nach Mitteilung von Matthias Lentz, der eine Monographie zur Lüneburger Ursulanacht vorbereitet). 55 Wernli: Hofgericht (wie Anm. 30), 81, Anm. 36 mit weiteren Nachweisen. 56 Vgl. Klaus Graf: Die Fehde Hans Diemars von Lindach gegen die Reichsstadt Schwäbisch Gmünd (1543 - 1554). Ein Beitrag zur Geschichte der Städtefeindschaft, in: Kurt Andermann (Hg.): »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter, Sigmaringen 1997, 167 - 189. Zur Kriminalisierung des sogenannten »Raubrittertums« vgl. insbesondere Ulrich Andermann: Kriminalisierung und Bekämpfung ritterlicher Gewalt am Beispiel norddeutscher Hansestädte, in: ebd., 151 - 166. 57 Gegen U. Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50) hat Gerd Schwerhoff in einem noch ungedruckten Aufsatz über Räuber, Diebe und Betrüger im ausgehenden Mittelalter Zweifel an einem durchweg rabiaten Vorgehen der Städte gegen die adeligen »Räuber« angemeldet. Aus wahrnehmungsgeschichtlicher Sicht bleibt jedoch festzuhalten, daß der »kurze Prozeß«, den die Städte mit den adeligen Straßenräubern machten, zur Eskalation des Stadt-Adel-Gegensatzes beigetragen hat, vgl. Klaus Graf: Feindbild und Vorbild. Bemerkungen zur städtischen Wahrnehmung des Adels, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), 121 - 154, hier: 136. 58 Vgl. dazu Andermann: Ritterliche Gewalt (wie Anm. 50), 105 - 113. <?page no="254"?> Das leckt die Kuh nicht ab 255 zeichnung besonders denkwürdiger Straftaten für die Nachwelt 59 , läßt sich keine scharfe Grenze ziehen. Wiederholt trifft man strafrechtliche Entscheidungen im Kontext von spätmittelalterlichen städtischen Statutenbüchern an. Der Einzelfall wird als Präzedenzfall vermerkt, damit bei einer gleichgearteten Straftat die gefundene Lösung übernommen werden kann 60 . Neben der Spezialprävention, die sich mit der Fixierung des Namens des Missetäters verband, steht das Bemühen der Obrigkeit, das Gedächtnis an die Art der Verletzung der Rechtsordnung und die darauf gefundene Antwort, die Strafe, dauerhaft festzuhalten. Die angenommene Bedrohung der Gesellschaft durch Schwerverbrecher ließ einen besonderen Informationsbedarf über ihre heimlichen Praktiken entstehen. Eine - noch nicht geschriebene - Überlieferungsgeschichte von Prozeßschriftgut in »literarischen« Handschriften des Mittelalters würde, soweit ich sehe, nur wenige Bereiche des Strafrechts erfassen, wobei an erster Stelle natürlich das Schriftgut der Inquisition stünde. Exemplarisch sei die Chronik des Heidelberger Hofkaplans Matthias von Kemnat aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts genannt, in der eigenständige Texte über die Verfolgung von Ketzern und Hexen sowie über Gauner und Landstreicher, aber auch ein Bericht über den angeblichen jüdischen Ritualmord an Simon von Trient integriert sind 61 . Literarisch verbreitet, so jedenfalls mein Eindruck, wurden im Mittelalter hauptsächlich Exempla und Berichte über Straftaten, die man als Teil einer Verschwörung gegen die Gemeinschaft verstand. 59 Vom »Erzählertalent« des Augsburger Stadtschreibers Nikolaus Hagen, der einen aufsehenerregenden Kriminalfall von 1355 besonders ausführlich im Achtbuch schildert, damit dieser nicht »vergessen werde«, spricht Adolf Buff: Verbrechen und Verbrecher zu Augsburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 4 (1877), 160 - 231, hier: 193 - 196, Zitat 193. Hinsichtlich der narrativen Elemente in den Kriminalquellen muß ein Hinweis genügen auf die bekannte Monographie von Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives, deutsch: Der Kopf in der Schlinge, Berlin 1988 und die unter Anm. 87 gegebenen Hinweise. 60 In den Hagenauer Statuten betrifft Nr. 125 (164f.) Von dem notzogen einen detailliert beschriebenen Notzuchtfall von 1409. Die verhängte Strafe wurde aufgezeichnet, durch das obe harnoch me semliche clegede und geschicht geschehent, das die ouch also verbessert wurdent; Das alte Statutenbuch der Stadt Hagenau, bearb. von A. Hanauer/ J. Klélé, Hagenau 1900, 165. - Zur Rolle des Einzelfalls und zur Tradierung gefällter Urteile liefern die Artikel von Ekkehard Kaufmann: Richterrecht, in: HRG 4 (1990), 1.054 - 1.057; Hans-Jürgen Becker: Präjudiz, in: ebd. 3 (1984), 1866 - 1870 und Dieter Werkmüller: Urteilssammlungen, in: ebd. 5 (1998), 622 - 628 sehr allgemein gehaltene Hinweise vor allem zur neuzeitlichen Praxis. Vgl. auch Heinz Mohnhaupt: Sammlung und Veröffentlichung von Rechtssprechung im späten 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. Zu Funktion und Zweck ihrer Publizität, in: Friedrich Battenberg/ Filippo Ranieri (Hg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln/ Weimar/ Wien 1994, 403 - 420. Zum größeren Kontext ist zum Thema »Exemplum« zu konsultieren: Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus« Johanns von Salisbury, Hildesheim/ Zürich/ New York 1988. Abundante Bibliographie: Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel: Eine exemplarische Bibliographie, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), 218 - 244; NF 14 (1991), 215 - 240; NF 16 (1993), 223 - 244. 61 Vgl. Birgit Studt: Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung, Köln/ Weimar/ Wien 1992, 337 - 351 (»Gelehrtes Schrifttum aus der Gerichts- und Inquisitionspraxis«) mit weiteren Hinweisen. Der neueste Versuch eines Überblicks zum Gaunerschrifttum von Christa Baufeld: Abenteuer sozialer Randgruppen. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Fachliteratur über das Gaunertum, in: Wernfried Hofmeister/ Bernd Steinbauer (Hg.): Durch abenteuer muess man wagen vil. Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag, Innsbruck 1997, 11 - 18 fußt auf veralteter Literatur und kennt nicht einmal die wichtige Monographie von Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber vagatorum (1510), Köln/ Wien 1988. <?page no="255"?> Klaus Graf 256 Dieser Publizitätsaspekt ist Anlaß, zum Abschluß dieses Abschnitts nochmals auf die Kategorie »Öffentlichkeit« zurückzukommen. Natürlich ist die Eintragung in einem verwaltungsinternen Strafbuch nicht mit dem Vollzug einer öffentlichen Schand- oder Ehrenstrafe gleichzusetzen. Sehr häufig blieben die in den Einträgen ausgesprochenen Drohungen folgenlos, wenn die Obrigkeit bei Wiederholungstätern die Aufzeichung vergaß oder sich nicht erinnern wollte. Hier sollte lediglich mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Anlage und Führung von Strafbüchern in der öffentlichen Verständigung über das Strafen eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte. Das sprichwörtliche »Sündenregister« des schwarzen Buchs verweist auf die wachsende Bedeutung der Schriftlichkeit, läßt aber auch die Autorität obrigkeitlicher Aufzeichnungen im allgemeinen Diskurs erkennen. Es kann als allgemein bekanntes »Symbol« für die Erfassung und Ahndung von Normverstößen gelten, als ein Zeichen, das immer auch Sünde, Verdammung und Teufel assoziieren ließ. Im Mai 1317 rief die Bannglocke die Koblenzer Bürgerschaft zusammen, damit die Bürgerversammlung die Anlage eines Buches beschließen sollte, in das der Stadtschreiber die verurteilten Verbrecher eintragen sollte - um künftigen Untaten entgegenzutreten und damit sich die Bösen nicht des gleichen Rechts erfreuten wie die Guten, so die Vorrede 62 . Innerstädtischer Konsens sollte die Buchführung über Straftaten absichern. Mag es sich dabei auch um eine Ausnahme gehandelt haben, so warnt dieses Beispiel doch davor, die Führung von Strafbüchern zu sehr als »verwaltungsinterne« Angelegenheit zu betrachten. Die in der Koblenzer Aufzeichnung beurkundete individuelle Rechtsminderung der Übeltäter - zu denken ist an das Verbot von Zeugenschaften 63 - durfte und sollte zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen. Weshalb aber hat man die Namen Hingerichteter registriert? Wollte man sich gegenüber möglichen Ansprüchen der Verwandten absichern, Rechenschaft über die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit ablegen oder war es womöglich ein symbolischer Akt der Ausstoßung aus der städtischen Rechtsgenossenschaft? Die Frage mag offenbleiben, doch setzt ein angemessenes Verständnis spätmittelalterlicher Strafbücher voraus, daß man bei ihrer Interpretation nicht nur die »modernen« Aspekte Rationalität und Effizienz im Auge hat. Meine fragmentarischen Bemerkungen wollten dazu anregen, der symbolischen Dimension und den religiösen Konnotationen der »schwarzen Bücher« mehr Beachtung zu schenken. Justiz-Erinnerungen Die bisher vorgeführten Beispiele schriftlicher Fixierung und Registrierung von Straftätern und Straftaten illustrieren zugleich die Rolle der Erinnerung auf dem Feld der Strafjustiz. Neben der obrigkeitlichen Tradierung verdienen die »Justiz-Erinnerungen« der einfachen Leute besondere Aufmerksamkeit. Der Sohn des am 23. Juli 1653 von der Luzerner Obrigkeit hingerichteten Entlebucher Bauernführers Hans Emmenegger notierte sich zur bleibenden Erinnerung an den schrecklichen Tod seines Vaters auf einem 62 Thea Buyken/ Hermann Conrad: Die ältesten Stadtbücher von Koblenz, in: ZRG GA 59 (1939), 165 - 193, hier: 168f.: attendentes, quod omnes ministri justitie et rectores populorum ad deprimendum nequitiam transgessorum tenentur maleficis maturis remediis obviare. Es sollen verzeichnet werden et qui ad aptus civiles per ipsorum facinora perpetrata minus sunt apti et dispositi, ne mali et boni pari jure gaudere videantur et suam pro meritis recipiant portionem. 63 Vgl. oben Anm. 24. <?page no="256"?> Das leckt die Kuh nicht ab 257 Zettel Tag und Stunde der Hinrichtung, die er der Obrigkeit nie verzeihen wollte 64 . Gefangenen-Grafitti in Gefängnissen und Verliesen bezeugen den Wunsch nach persönlicher Verewigung in einer Extremsituation 65 ; Aufzeichnungen von Gefangenen und »Gefängnis-Literatur« machen deutlich, wie sehr sie der Aufenthalt innerlich bewegt hat 66 . Umgekehrt sind von einer Reihe von Scharfrichtern der Frühen Neuzeit persönliche Aufzeichnungen über ihre Amtsführung erhalten geblieben 67 . Auch »auf starke Bauernnerven erregend« hätten Räuber-, Diebs- und Mordgeschichten wirken müssen, meinte Bruno Markgraf 1907 bei der Besprechung von Erzählungen über Straffälle, die anscheinend »lange Zeit unvergessen blieben« und in frühneuzeitliche ländliche Weistümer des Moselraums Eingang gefunden haben 68 . Für das Spätmittelalter liegt nunmehr eine jüngst erschienene eindringliche Studie von Dorothee Rippmann vor, die aus Zeugenverhören ( »Kundschaften«) von 1458 und 1466 die Erinnerungen von Bauern an Gewalttaten und Delikte in ihrem Dorf bzw. in ihrer Herrschaft erheben konnte 69 . Solche Erinnerungen waren der Nährboden des sogenannten »boshaften Gedächtnisses« (Karl-Sigismund Kramer 70 ), das »über Jahrzehnte, ja Generationen hinweg der allgemeinen Mißbilligung anheimgefallene Handlungen einzelner dem Betroffenen immer wieder vorhielt« 71 . Peinliche Strafen konnten die Nachkommen stigmatisieren, die sich bei Ehrenhändeln nicht selten mit einer ArtVererbung der Unehrlichkeit konfrontiert sahen 72 . Ob es sich tatsächlich um Erinnerun- 64 Andreas Suter: Der schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte - Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997, 438; zum Datum ebd., 286. 65 Vgl. Detlev Kraack: Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14. - 16. Jahrhunderts, Göttingen 1997, 57. Eine Gefangeneninschrift von 1596 z.B. bei Richard Strobel: Die Kunstdenkmäler der Stadt Schwäbisch Gmünd Bd. 3, München/ Berlin 1995, 324. 66 Vgl. z.B. Gerold Hayer/ Ulrich Müller: Flebilis heu maestos cogor inire modos: »Gefängnis-Literatur« des Mittelalters und der Fall des württembergischen Grafen Heinrich (1448 - 1519), in: Licht der Natur. Festschrift für Gundolf Keil, Göppingen 1994, 171 - 193; Martin Scheutz/ Harald Tersch: Das Salzburger Gefängnistagebuch und der Letzte Wille des Zeller Pflegers Kaspar Vogl (hingerichtet am 8. November 1606), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 135 (1995), 689 - 745; Walter Brunner: »Saufen oder Raufen! «. Aus dem Gefängnisalltag des zum Tode verurteilten Malefizverbrechers Andreas Schluderpacher, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 47 (1997), 139 -198 (Aufzeichnungen über die Verköstigung). Über die eigene Turmgefangenschaft 1478 berichten: Die Denkwürdigkeiten des Hallischen Rathsmeisters Spittendorff, hg. von Julius Opel, Halle 1880, 405- 408. 67 Vgl. Peter Putzer: Aus dem Salzburger Scharfrichter Tagebuch, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 8 (1986), 115 - 135, hier: 120 mit Literaturangaben. 68 Bruno Markgraf: Das Moselländische Volk in seinen Weistümern, Gotha 1907, 109f. 69 Dorothee Rippmann: Unbotmässige Dörfler im Spannungsverhältnis zwischen Land und Stadt: Pratteln im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Itinera 19 (1998), 110 - 156, hier: 115 - 131. 70 Vgl. z.B. Karl-S. Kramer: Zur Problematik der rechtlichen Volkskunde, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, 50 - 66, hier: 55. 71 Ruth-Elisabeth Mohrmann: Volksleben in Wilster im 16. und 17. Jahrhundert, Neumünster 1977, 227. 72 Einige Beispiele etwa bei Ulinka Rublack: Magd, Metz' oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. M. 1998, 125; Burghartz: Leib (wie Anm. 8), 129; Michaela Schmölz-Häberlein: Ehrverletzung als Strategie. Zum sozialen Kontext von Injurien in der badischen Kleinstadt Emmendingen 1650-1800, in: Devianz (wie Anm. 18), 137-163, hier: 138/ 9 Anm. 9, mit Literatur. Für die Hexenprozesse: Robin Briggs: Die Hexenmacher. Geschichte der Hexenverfolgung in Europa und der Neuen Welt, Berlin 1998, 310: »Die Gerichtsaussagen zeigen oft, wie gut das Gedächtnis der Bevölkerung die Erinnerung an sämtliche Fehltritte auch der ferneren Verwandtschaft eines Beschuldigten bewahrte und zitierte, als ob es sich um Beweise für dessen Verbrechen handelte«. - Ein schönes Beispiel für »Familien-Schande« aus der spätmittelalterlichen Literatur ist das Gedicht Wer ich geporen von schnoder art (Ende 15. Jahrhunderts), abgedruckt in: Epochen der deutschen Lyrik Bd. 2: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, hg. von Eva und Hansjürgen Kiepe, 2. Aufl., München 1982, 372f. <?page no="257"?> Klaus Graf 258 gen »über Generationen hinweg« gehandelt hat, muß allerdings in den meisten Fällen offen bleiben. Skepsis ist angebracht: Vielfach wird man in der Hitze des Wortgefechts einfach zu einer naheliegenden Beleidigung 73 gegriffen haben. Beachtung verdient Rippmanns unter Heranziehung der Resultate der historischvolkskundlichen Erzählforschung gewonnene Einsicht, daß die in den Kundschaften vermeintlich genau und detailgetreu geschilderten Szenen aus dem Rechtsleben nicht ohne weiteres als authentische Erinnerungen gelten können, daß also stets mit der Verformung durch die mündliche Überlieferung und ihrer Erzählschemata gerechnet werden muß 74 . Bekannt ist, daß Frevel und Verbrechen in den gemeinhin als »Sagen« bezeichneten Erzählungen eine große Rolle spielen 75 , doch eine von romantischen Klischees über »Volkssagen« 76 unbelastete Untersuchung dieses Problemkomplexes steht noch aus. Die in den Sagensammlungen des 19. Jahrhunderts enthaltenen literarischen Texte sind zuallererst als Zeugnisse für den Justiz-Diskurs des 19. Jahrhunderts wahrzunehmen, wobei es durchaus fraglich ist, ob sie naiv als »Zugang zum Rechtsdenken des Volkes« 77 oder als dessen »geschichtliche[s] Gewissen« 78 beansprucht werden dürfen. Wenn ein Stuttgarter Gymnasiast 1847 für seinen Lehrer zu Papier brachte, im Katharinenstift, dem ehemaligen Palast des berüchtigten Juden Süß, gehe noch die Sage, daß sein Geist und der eines unschuldig Gemordeten spuke 79 , so ist die deutlich antisemitisch eingefärbte Geister-Story alles andere als ein Beweis für das »Volksgedächtnis«, das noch weit über hundert Jahre nach der aufsehenerregenden Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer 1738 die Erinnerung an den verhaßten Hofjuden festgehalten hätte. In Anbetracht der enormen publizistischen Resonanz der Affäre ist es evident, daß jederzeit das historische Wissen um Oppenheimer mit einer gängigen Spukgeschichte verbunden werden konnte. Am wahrscheinlichsten aber ist die Entstehung der anscheinend nur dieses einzige Mal faßbaren Stuttgarter »Geistersage« nicht lange vor ihrer Aufzeichnung im Jahr 1847. Es dürfte sich um ein indirektes Rezeptionszeugnis der 1827 im Cottaschen »Morgenblatt« erschienenen antisemitischen Novelle »Jud Süß« von Wilhelm Hauff handeln 80 . 73 Vgl. allgemein zu Beleidigungen jüngst Ralf-Peter Fuchs: Ehrkämpfe. Injurienprozesse in der Frühen Neuzeit und ihre Interpretationsmöglichkeiten, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 42 (1997), 29 - 50. 74 Rippmann: Dörfler (wie Anm. 69), 130. 75 Den Ertrag der Erzählforschung erschließt die »Enzyklopädie des Märchens«. Als Ausgangspunkt für Recherchen zum Thema Strafen können die materialreichen Artikel von Rainer Wehse: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, in: ebd. 5 (1987), 1050 - 1064; Rolf-Wilhelm Brednich: Hinrichtung, in: ebd. 6 (1990), 1053 - 1060 und Christine Shojaei Kawan: Mord, in: ebd. 9, Lief. 2 (1998), 856 - 876 mit ihren Querverweisen dienen. 76 Vgl. z. B. Klaus Graf: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ›historischen Sage‹, in: Fabula 29 (1988), 21 - 47 und die von demselben: Sage, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), 1254 - 1257 zusammengestellte Literatur. 77 So Jörn Eckert: Sage, in: HRG 4 (1990), 1253 - 1256, Zitat 1255. 78 Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtserinnerung und vergessenes Recht, in: Wirtschaft und Kultur. Festschrift zum 70. Geburtstag von Alfons Dopsch, Wien 1938, 581 - 590, hier: 586; zu »Rechtssagen« vgl. auch derselbe: Rechtliche Volkskunde (wie Anm. 42), 12 - 22. Ganz traditionell auch Louis Carlen: Rechtliches in französischen Sagen, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 6 (1984), 143 - 165 und die in der gleichen Zeitschrift erschienenen Aufsätze: Francisca Schmid-Naef: Recht und Gerechtigkeit in den Sagen der Alpenkantone der Schweiz, in: ebd. 10 (1988), 131 - 162; Felici Maissen: Schuld und Sühne in der urnerischen Volkssage, in: ebd. 12 (1990), 153 - 183; Linus Hüsser: Das Recht in den Volkssagen des Fricktales, in: ebd. 13 (1991), 281 - 304. 79 Klaus Graf: Sagen rund um Stuttgart, Karlsruhe 1995, 28 Nr. 11. <?page no="258"?> Das leckt die Kuh nicht ab 259 So wie die Femegericht-Sagen des 19. Jahrhunderts deutlich den Einfluß der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Mode gekommenen Ritterromane und Ritterdramen erkennen lassen 81 , ist auch bei aus Akten erhobenen frühneuzeitlichen Nachweisen zu gängigen Erzählmotiven zum Thema Strafe und unschuldig Hingerichtete 82 auf die ständige Wechselwirkung etwa zwischen der gedruckten Exempel- und Kompilationsliteratur und der mündlichen Tradition 83 zu achten. Rudolf Schenda, der einem auch als Exemplum im juristischen Diskurs zur Folter verbreiteten Erzählstoff über einen zu Unrecht Verurteilten eine instruktive kleine Studie gewidmet hat, stellt fest: »Horror- Erzählungen von unschuldig Hingerichteten machten im 16. Jahrhundert weit und breit, bei denen da oben und bei denen da unten, die Runde« 84 . Erinnerungs- und Wahrzeichen, seien es als solche gestiftete, seien es im nachhinein so gedeutete, verweisen gleichfalls auf die Faszination des Themas. Das wunderbare Anlanden einer in Breslau zum Ertränken in der Oder verurteilten Frau wurde 1503 als Beweis ihrer Unschuld gewertet: Zum Gedächtniß ist ihr rother Rock vonTuch in die Kirche zu St. Niclas aufgehangen worden, gleich als wenn ihr St. Niclas herausgeholfen und sie am Leben erhalten hätte 85 . Die 80 Vgl. Barbara Gerber: Jud Süß. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990, 282. 81 Ein bezeichnendes Ludwigsburger Beispiel bei Graf: Sagen (wie Anm. 79), 195f. Nr. 246 (»Das Vehmgericht«, Aufzeichnung von 1847). 82 Wilhelm Heinrich Ruoff: Eine späte Rechtssagenbildung, in: ZRG GA 92 (1975), 201 - 209 erörtert obrigkeitskritische Erzählmotive einer 1659 geführten Unterhaltung von vier Schmiedemeistern über den als »Wädenswilerkrieg« bekannten Bauernaufstand von 1646. Die angeführten Wunderzeichen sollten die Unschuld der seinerzeit Hingerichteten unterstreichen. Zu einem vergleichbaren Fall von 1699 und seiner publizistischen Resonanz instruktiv: Karl-S. Kramer: Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974, 118f.; derselbe: Problematik (wie Anm. 70), 52f. 83 Leander Petzoldt: Zur Interdependenz von Literatur und Volksdichtung, in: Österreichische Zeitschrift für Volkunde 85 (1982), 266 - 276 behandelt die Erzählung von den Mordeltern bzw. der Mordherberge, die wiederholt als »Zeitungsnachricht aktualisiert« wurde (268); vgl. dazu zuletzt Rolf Wilhelm Brednich: Mordeltern, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 876 - 879, der sie eine historische »Mediensage« nennt (877). - Ingrid Tomkowiak: ›Hat er sie geschändet, so soll er sie auch behalten‹. Stationen einer Fallgeschichte, in: Fabula 32 (1991), 240 - 257 zeigt, wie ein Justiz- und Herrscherexempel über die Bestrafung sexueller Erpressung tradiert wurde. 84 Rudolf Schenda: Der Basler Mörder, der keiner war und den es auch nicht gab. Ein Studie zum Verhältnis von Sage und Geschichte. in: Leander Petzoldt/ Stefaan Toop (Hg.): Dona Folcloristica. Festgabe für Lutz Röhrich zu seiner Emeritierung, Frankfurt a. M. u.a. 1990, 213-224, hier: 219; vgl. auch Brednich: Hinrichtung (wie Anm. 75), 1056 und Susanne Ude-Koeller: ›Straff der weiber so jre kinder tödten‹. Zur sagenhaften Geschichte des Kindsmordes, in: Fabula 32 (1991), 258-274, hier: 269-271. Zurecht fordert Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordsgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Dieter Harmening/ Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1990, 530-551 eine stärkere Beachtung früher europäischer Kriminalliteratur durch die sozialhistorische Forschung. Vgl. zuletzt auch den materialreichen Artikel Schendas: Mordgeschichten, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 879-893. - Hingewiesen sei auch auf die zahlreichen Nachweise zu Straffällen im Sachregister von: Rudolf Schenda (Hg.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Studien zur Produktion volkstümlicher Geschichte und Geschichten vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Bern/ Stuttgart 1988, 640 (s.v. Strafen) und im umfangreichen Motivregister von: Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974, 863 (s.v. Frevler). 85 Abegg: Beiträge zur Strafrechtspflege in Schlesien, insbesondere im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 18 (1858), 389 - 451, hier: 447 mit Anm. 154, der sich auf die bis 1599 reichenden Jahrbücher der Stadt Breslau von Nicolaus Pol (gedruckt von J. G. Büsching 1813 - 1823, Bd. 2, 180) stützt. Der Chronist merkt an, die Delinquentin sei aber schließlich doch ertränkt worden. Ungenauer Hinweis bei Rublack: Magd (wie Anm. 72), 121, Anm. 196. Vgl. auch Heiduk: Diskussion (wie Anm. 16), 72f. <?page no="259"?> Klaus Graf 260 Darstellung eines Geräderten an der Tübinger Stiftskirche, vermutlich der heilige Georg, hat man im 16. Jahrhundert als Mahnmal eines tragischen Justizirrtums verstanden 86 . Es geht also nicht an, die »Sagen« von den anderen Justiz-Erzählungen 87 zu isolieren, wie sie etwa in »Newen Zeyttungen« und Flugschriften 88 faßbar sind. Diese Produkte frühneuzeitlicher Publizistik verstanden sich auch als Erinnerungsmedien: Wie der gehängte Täter, formuliert ein Flugblatt, soll es zu eim Exempel sta e t dienen 89 . Die Publizistik betonte die »Zerbrechlichkeit der sozialen Ordnung« 90 und machte sich vorwiegend die Perspektive des Justizapparats zu eigen. Ohne die Unterstützung der Obrigkeit wäre das im 18. und 19. Jahrhundert blühende Genre der sogenannten Armesünderblätter, Urgichten oder Urteln mit Wiedergabe von Geständnis und Gerichtsurteil nicht möglich gewesen. Spezielle Kolporteure - in Wien die sogenannten »Urteilsweiber« - vertrieben sie oft schon vor der Urteilsverkündung 91 . Bezeichnenderweise versprach sich 1789 im Zuge der Diskussion über die Strafrechtsbelehrung des Volkes ein aufgeklärter Jurist einiges von der »Begünstigung der Bänkelsänger« 92 . 86 Schenda: Mörder (wie Anm. 84), 217 nach Johann Georg Gödelmann 1591 (in huius rei perpetuam memoriam et iniquissimae condemnationis signum); vgl. auch den bei Schenda zu ergänzenden Artikel von Manfred Eimer: »Der geräderte Mann« an der Tübinger Stiftskirche, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 6 (1942), 112 - 118. - Die wunderbare Errettung eines Geigers vom Galgen soll, so erzählte man sich im 19. Jahrhundert in Vianden, sogar zur Stiftung der berühmten Echternacher Springprozession geführt haben; Gudrun Staudt/ Will-Erich Peuckert (Hg.): Nordfranzösische Sagen, Berlin 1968, 67f. Nr. 106. 87 Vgl. Davis: Kopf (wie Anm. 59) und aus literaturwissenschaftlicher Sicht den Sammelband: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991. Vgl. auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten von Kriminalitätsdarstellung im Zeitalter der Aufklärung, München/ Wien 1983. Noch nicht gesehen habe ich das Buch von Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie, Tübingen 1998, die laut Verlagsankündigung zeigen will, »daß das tradierte Giftmordwissen in einem beständigen Austausch- und Verweiszusammenhang zwischen Fachwissenschaft, schöner Literatur, Publizistik und Alltagswissen formiert, legitimiert und fortgeschrieben wurde«. 88 Vgl. z.B. Monika Spicker-Beck: Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert, Freiburg 1995, 218 - 224, die 220 Anm. 30 auf eine - nicht sonderlich ergiebige - Wiener Dissertation aufmerksam macht: Wolf-Rainer Will: Publizistische Auswertung krimineller Delikte im 16., 17. und 18. Jahrhundert. (Das Verbrecherunwesen in den Flugschriften und Relationen des 16. - 18. Jahrhunderts), Diss. masch., Wien 1971. Vgl. auch Joy Wiltenburg: Weibliche Kriminalität in popularen Flugschriften 1550 - 1650, in: Otto Ulbricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 215 - 229. Zum illustrierten Flugblatt vgl. grundlegend Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990. Zum Sonderfall der Hexenflugschriften sei nur verwiesen auf: Harald Sipek: »Newe Zeitung. (...)« oder: Marginalien zur Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik sowie zur Druckgraphik im Kontext der Hexenverfolgung, in: Sönke Lorenz (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten. Aufsatzband, Ostfildern 1994, 85 - 92 mit weiterer Literatur. 89 Schilling: Bildpublizistik (wie Anm. 88), 229. 90 Wiltenburg: Kriminalität (wie Anm. 88), 226. 91 Brednich: Hinrichtung (wie Anm. 75), 1054f.; Leander Petzoldt: Bänkelsang, in: Rolf-Wilhelm Brednich/ Lutz Röhrich/ Wolfgang Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes, Bd. 1, München 1973, 235-291, hier: 271f. 92 Juergen Koch: Die Strafrechtsbelehrung des Volkes von der Rezeption bis zur Aufklärung, Diss., Bonn 1939, 22 nach J. L. Klüber. Zum Bänkelsang vgl. zusammenfassend zuletzt Tom Cheesman: Moritat, in: Enzyklopädie des Märchens 9, Lief. 2 (1998), 905-918 mit reichen Literaturangaben. <?page no="260"?> Das leckt die Kuh nicht ab 261 Schand-Denkmäler: Prospektive Verewigung als pathetisches Ausrufezeichen Die schriftliche Fixierung besonders bemerkenswerter Straftaten erfaßt, wie bereits deutlich wurde, nur einen Teilbereich der Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit. Mitunter sollten Bilder, Zeichen und Denkmale das Andenken an besonders schwere Verbrechen dauernd bewahren. Sie müssen als Bestandteil der öffentlichen Inszenierung und des Bestrafungsrituals verstanden werden, das auf möglichst einprägsame, exemplarische Wirkung angelegt war. Nach der Hinrichtung von 63 Frauen in der Herrschaft Schongau als vermeintliche Hexen plante man 1594 ein Denkmal, ein ewige Merckhsäul, Zaichen und Gedechtnuß, das der erfolgreichen Obrigkeit zum Ruhm, den Vorbeireisenden aber zur Abschrekkung dienen sollte 93 . Gewiß handelt es sich wohl um ein singuläres Vorhaben, doch die Absicht, die erfolgreiche Ahndung besonders schwerer Verbrechen zu verewigen, läßt sich noch mit einer Reihe anderer Beispiele belegen. Am bekanntesten sind die noch heute am Turm der Lambertikirche zu Münster aufgehängten drei Käfige für die 1536 hingerichteten Haupträdelsführer der Wiedertäufer 94 . An den Pfeilern des Rathauses in Münster stellte man die vier Zangen, mit denen sie zu Tode gequält wurden, zur Schau - »Aufrührern zum Beispiel und Schrecken«, wie der Chronist Hermann Kerssenbroch schreibt 95 . Im Rathaus, das wie andere Rathäuser als eine Art stadtgeschichtliches »Museum« fungierte, wurden in der Frühen Neuzeit als echte oder angebliche »Andenken« an die Wiedertäufer und ihre Herrschaft der Harnisch des Täuferkönigs Jan van Leiden und ein angeblicher Pantoffel von dessen Nebenfrau gezeigt 96 . Eine Parallele zu den Wiedertäuferkäfigen von Münster stellt der am sogenannten Diek-Turm zu Einbeck aufgehängte Käfig des angeblichen »Mordbrenners« Heinrich Diek dar. Dieser Patrizier soll die Einbecker Brandkatastrophe vom Juli 1540 verursacht haben 97 . Nach seiner Hinrichtung wurde er in dem Käfig zur Schau gestellt. Spätere Traditionsbildung schmückte den Tod phantasievoll aus: Diek soll mit Honig bestrichen worden und erst nach drei Tagen an den Insektenstichen gestorben sein 98 . Die »Mordbrenner-Hysterie« des 16. Jahrhunderts 99 bildet auch den Hintergrund für die 93 Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, 2. Aufl., München 1993, 227f. 94 Vgl. die Studie von Karl-Heinz Kirchhoff: Die »Wiedertäufer-Käfige« in Münster. Zur Geschichte der drei Eisenkörbe am Turm von St. Lamberti, Münster 1996. 95 H. Detmer (Hg): Hermannis a Kerssenbroch Anabaptisti furoris Monasterium inclitam Westphaliae metropolim evertentis historica narratio, Bd. 2, Münster 1899, 875f.: Die Käfige wurden am Lambertusturm aufgehängt, ubi etiam nunc in perpetuam rei memoriam carne et ossibus absumptis corbes affixae conspiciuntur. Forcipes vero, quibus excruciati sunt, in columnis domus senatoriae suspensae in medio foro visuntur, ut seditiosis et magistratui legitimo non parentibus sint exemplo et terrori. Vgl. auch Gerd Dethlefs: Der Friedenssaal im Rathaus zu Münster, in: Heinz Duchhardt/ Gerd Dethlefs/ Hermann Quekkenstedt: »(...) zu einem stets währenden Gedächtnis«. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts, hg. von Karl Georg Kastner/ Gerd Steinwascher, Bramsche 1996, 39 - 64, hier: 41 (Ansicht des Rathauses um 1800 mit angebrachten Zangen), 44, 54, 58. 96 Dethlefs: Friedenssal (wie Anm. 95), 56 - 58; zu Täufer-Andenken vgl. auch Münster 800 - 1800. 1000 Jahre Geschichte der Stadt, Münster 1984, 133, 145f., 154, 156. 97 Helge Steenweg: Einbeck im Zeitalter der reformatorischen Bewegung, in: Geschichte der Stadt Einbeck, Bd. 1: Von der Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bearb. von Horst Hülse/ Claus Spörer, 2. Aufl., Einbeck 1991, 125 - 154, hier: 134 - 147; Elke Heege: Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500, in: Matthias Puhle (Hg.): Hanse, Städte, Bünde, Bd. 2, Katalog, Magdeburg 1996, 87 mit Abbildung des Käfigs. <?page no="261"?> Klaus Graf 262 Überlieferungen im Zusammenhang mit einem Stadtbrand in Wunstorf 1570. Um 1710 weiß ein - freilich nicht besonders zuverlässiger - Gewährsmann, man habe den Leichnam des Brandstifters Ortgieß Doven nach seinem Selbstmord in Stücke geteilt und den Kopf zu stets währendem Gedächtnis an einer eisernen Stange im eisernen Korbe an dem Stadtkirchturm aufgehängt. Um 1800 ergänzte ein anderer Autor, dies Schreckbild sei am Kirchtum noch vorhanden und man begehe alljährlich zur Erinnerung an den Brand am Jahrestag, Montag nach Lätare, ein Brandfest 100 . Das Aufstecken der Köpfe Hingerichteter an Türmen wurde nicht selten praktiziert 101 . Im Rathaus von Brügge wird noch der Rest eines Bronzekopfes aufbewahrt, der einst an der Smeedenport angebracht war. Nach der Hinrichtung eines Verräters, der die Stadt 1688 den französischen Truppen übergeben wollte, hatte man seinen Kopf an einem Nagel zur Schau gestellt. Später (nach 1691) ersetzte man ihn durch ein Exemplar aus Bronze. Gleichsam als Rehabilitation ihres einstigen Verbündeten haben es die Franzosen 1801 entfernt 102 . Ursprünglich sollte der große eiserne Galgen mit den sterblichen Überresten des Joseph Süß Oppenheimer, von der zeitgenössischen Publizistik als Denkmahl wiederhergestellter Ordnung bezeichnet, in Stuttgart dauernd an die Schuld des angeblichen Schwerverbrechers erinnern. 1744, sechs Jahre nach der Hinrichtung, wurde das grausige Erinnerungsmal beseitigt 103 . Bereits während der Haftzeit war der Ruf nach einer Schandsäul für Jud Süß lautgeworden 104 . Im 18. Jahrhundert wurde das Ausstellen von präparierten Leichen hingerichteter Verbrecher in Käfigen vor allem in England häufiger praktiziert 105 . Kaum weniger spektakulär als die Hinrichtung des Stuttgarter Hofjuden war im 16. Jahrhundert die Vierteilung des »Adelsrebellen« Wilhelm von Grumbach 106 am 98 Steenweg: Einbeck (wie Anm. 97), 146. Der Einbecker Rektor Schüsler will 1733 die durch Draht verbundenen Gebeine Dieks noch selbst gesehen haben (ebd.). - Zum Erzählmotiv des mit Honig bestrichenen und von Fliegen getöteten Täters vgl. auch die Sage »Mückenthurm zu Spangenberg«; Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Bd. 3, hg. von Barbara Kindermann-Bieri, München 1993, 64f. Nr. 54 und allgemein Grimm: Rechtsaltertümer (wie Anm. 3), Bd. 2, 286f. 99 Vgl. Spicker-Beck: Räuber (wie Anm. 88). 100 Heinrich Ohlendorf: Geschichte der Stadt Wunstorf, hg. von Wilhelm Hartmann, Wunstorf 1957, 74f. 101 So Karl von Amira: Die germanischen Todesstrafen. Untersuchungen zur Rechts- und Religionsgeschichte (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil. Kl. 31,3), München 1922, 129. Vgl. auch Hans von Hentig: Schriften zur Kriminalgeschichte, hg. von Christian Helfer, Bern 1962, 27f.; Wolfgang Schild: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, 2. Aufl., München 1985, 70.; Barbara Gobrecht: Köpfe auf Pfählen, in: Enzyklopädie des Märchens 8 (1996), 260 - 264. - Zwei aufgespießte Seeräuberschädel stellt das Museum für Hamburgische Geschichte aus; vgl. Jörgen Bracker: Störtebeker, der Ruhm der Hanseaten, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, Bd. 1, Hamburg 1989, 661 - 666, hier: 664, Abbildung 656. 102 Paul de Win: Rechtsarchäologie und Rechtsikonographie in Belgien. Zur Illustration: Der rechtsarchäologische und rechtsikonographische Reichtum der Stadt Brügge, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 13 (1991), 11 - 52, hier: 25. 103 Gerber: Jud Süß (Anm. 80), 264 mit Anm. 79, 266. Zu den Erinnerungsmedien gehörte im Fall Oppenheimers übrigens auch eine Spott-und Warnungsmedaille, eine Gedächtnuß-Müntz, ebd. 266 mit Anm. 102. 104 Ebd., 264. 105 Witold Maisel: Rechtsarchäologie Europas. Aus dem Polnischen von Ruth Poninska-Maisel, Wien/ Köln/ Weimar 1992, 149. 106 Vgl. zur politischen Einordnung Volker Press: Wilhelm von Grumbach und die deutsche Adelskrise der 1560er Jahre, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), 396 - 431, jetzt wieder in: Derselbe: Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. von Franz Brendle/ Anton Schindling, Tübingen 1998, 383 - 421. <?page no="262"?> Das leckt die Kuh nicht ab 263 18. April 1567 in Gotha gewesen. Die Vierteile Grumbachs und zweier seiner Verbündeten wurden auf zwölf Säulen aufgestellt, die längere Zeit standen 107 . Daneben wurde vom Kaiser die vollständige Schleifung der Festung Grimmenstein angeordnet. In einem Schreiben vom 18. April 1567 wurde ausgeführt, so das Aktenreferat Friedrich Ortloffs, daß die Nothdurft erfordere, dieses Trosthaus, Zuflucht, Herberge und Aufenthalt der Ächter, Landfriedensbrecher, Mörder und Straßenräuber nicht länger aufrecht zu wissen, vielmehr zu einem ewigen Gedächtniß und nothwendigem Ebenbild keinen Stein auf dem anderen zu lassen 108 . Der Kurfürst von Sachsen sah es am 23. April nicht anders: wenn das rebellische Mördernest nicht von Grund auf zerstört und also ein ewiges Gedächtniß gestiftet werden sollte, so würde die so sieghafte, herrliche Execution das vornehmste Lob verlieren, Gott nicht gefallen, dem aufrührerischen Haufen zu neuer Meutherei Ursache geben, und ihnen einen Muth machen 109 . Nicht zum Zuge kam ein Vorschlag, der in einem Schreiben des Würzburger Gesandten Eglof von Knöringen an den Bischof vom 12. April 1567 erwogen worden war. Man wollte Grumbach und einen Mittäter nach Würzburg führen und auf dem Markt gemeiner Bürgerschaft zu ewiger Ergötzlichkeit richten lassen. Die »cadavera« sollten in einem Eisenkorb oben am Grafenecker, dem Turm des Würzburger Rathauses, »zu ewiger Schmach und Abscheu« aufgehängt werden. Für den Fall, daß Würzburg den Leib Grumbachs nicht erhalten würde, wollte man wenigstens den Kopf begehren und diesen zu ewiger Gedächtniß auf die Mainbrücke stecken lassen 110 . Aufmersamkeit verdient in diesen Belegen die Semantik von »ewig«: unbegrenzte Dauer spricht man nicht nur den materiellen Erinnerungszeichen zu, auch die in Würzburg geplante Hinrichtung soll für immer in der Erinnerung der dortigen Bürgerschaft präsent bleiben. Der Gebrauch des Adjektivs »ewig« unterstreicht die Entehrung und fungiert gleichsam als eine Art »Pathosformel«: 1593 machte der Kölner Bürger Johann Kramer geltend, durch die Beschimpfung als meineidiger Dieb sei seine gesamte Nachkommenschaft zum ewigen Nachteil, Schmach und Schande entehrt worden 111 . 1716 wandte sich die Mutter des in der Herrschaft Canstein wegen Diebstahls gehängten Jakob Rehling an die Herrschaft und bat um die Schwertstrafe und ein ehrenhaftes Begräbnis, damit er Uns unschüldigen zur Ewigen Schande undt Schmach am Galgen nicht auffgehangen werden möege. Ihre Supplik war vergeblich, vier Monate hing ihr Sohn am Galgen, bevor die Leiche von Unbekannten widerrechtlich entfernt wurde 112 . In der Regel ließ man ja Leichen zur Abschreckung bis zur nächsten Exekution hängen, und daß Angehörige sie heimlich entwendeten, dürfte nicht selten vorgekommen sein 113 . 107 Friedrich Ortloff: Geschichte der Grumbachischen Händel, Bd. 4, Jena 1870, 158. 108 Ebd., 175. 109 Ebd., 176. Vgl. auch ebd., 260. 110 Ebd., 155. 111 Gerd Schwerhoff: Der Kornmesser und der Bürgermeister. Macht, Recht und Ehre in der Reichsstadt Köln (1592/ 93), in: Eva Labouvie (Hg.): Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, 51 - 80, hier: 52. Vgl. auch die Verwendung von »ewig« oben Anm. 24. 112 Barbara Krug-Richter: »Man müßte keine leute zuhause hangen«. Adelige Gerichtsherrschaft, soziale Kontrolle und dörfliche Kommunikation in der westfälischen Herrschaft Canstein, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), 481 - 509, hier: 494. 113 Vgl. z.B. Richard van Dülmen: Das Schauspiel des Todes. Hinrichtungsrituale in der frühen Neuzeit, in: Derselbe/ Norbert Schindler (Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16. - 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, 203 - 245, 417 - 423, hier: 229; Rublack: Magd (wie Anm. 72), 123f. <?page no="263"?> Klaus Graf 264 Zwischen kurzfristiger und »ewiger« Erinnerung, zwischen Mitwelt und Nachwelt, »kommunikativem« und »kulturellem« Gedächtnis 114 wurde bei der Verwendung von »ewig« nicht unterschieden. Das Vergessen negierten beide Seiten, Obrigkeit wie Betroffene: Was im Diskurs der Gegenwart von exemplarischem Belang war, davon war man überzeugt, würde auch in der Zukunft seine Bedeutung behalten 115 . Neben der dauernden Ausstellung der sterblichen Überreste der exemplarisch bestraften Schwerverbrecher etablierte sich - in Deutschland wohl erst im 17. Jahrhundert - die Errichtung eigener Schanddenkmäler. Der Kunsthistoriker Dietrich Erben hat in einem aufschlußreichen Aufsatz 116 ausführlich die Hintergründe eines merkwürdigen Ereignisdenkmals untersucht: Die archivalisch gut dokumentierte Aufstellung einer Pyramide zur Erinnerung an einen diplomatischen Eklat zwischen dem französischen König Ludwig XIV. und dem Papst. Das im Sommer 1664 in Rom errichtete Schandmal, gedacht als monument à la posterité zum Zeugnis des völkerrechtswidrigen Verhaltens des Papstes 117 , wurde allerdings nach vier Jahren wieder beseitigt. Erben ordnet die Pyramide in eine Gruppe von Schandmonumenten ein, die anläßlich eines »crimen laesae maiestatis«, von Attentaten oder Rebellionen, errichtet wurden 118 . Das jeweilige Vergehen wurde als Majestätsverbrechen gewertet, das »in seiner Schwere über das aktuelle Ereignis hinauswies und darum der überdauernden Erinnerung bedurfte. Dies machte eine Inschrift erforderlich, die den Betrachter gleichermaßen an das Ereignis selbst erinnerte, den Täter anklagte und den Erbauer des Monuments ehrte« 119 . Daß die Pyramide in der frühneuzeitlichen Ikonographie als »Ruhmessymbol des Fürsten« galt 120 , verweist auf die Komplementärbeziehung zwischen bleibendem Ruhm, als der Verewigung von Ehre, und ewiger Infamie, als der Verewigung von Schande. Der »moderne Ruhm« aber entstand - nach Jacob Burckhardts klassischer Darstellung Die Kultur der Renaissance in Italien 121 - in Italien und hier finden sich in der Tat frühe Beispiele für Schanddenkmäler und Schandgemälde. »In Florenz, Venedig und anderen Städten«, so Peter Burke, »bestrafte die Kommune treulose oder hinterlistige condottieri, Rebellen, Bankrotteure und andere Kriminelle, indem sie ihr Bild an mehreren auffallenden Stellen und Plätzen anbringen ließ« 122 . Allerdings war diese spätmittelalterliche »pittura infamante«, die es so anscheinend fast ausschließlich in Italien gab 123 , in aller Regel nicht als dauerhafte Entehrung konzipiert; nach der Versöhnung wurden die Ma- 114 Zu dieser nicht unproblematischen Unterscheidung vgl. Assmann: Gedächtnis (wie Anm. 22), 48 - 56. 115 Vgl. auch Reinhart Koselleck: Historia Magistrae Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Derselbe: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, 38 - 66. 116 Dietrich Erben: Die Pyramide Ludwigs XIV. in Rom. Ein Schanddenkmal im Dienst diplomatischer Vorherrschaft, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), 427 - 458. 117 So in einer Relation des Königs vom 11.9.1662, zitiert ebd., 432. 118 Ebd., 443 - 451. 119 Ebd., 450f. 120 Ebd., 449. 121 Erstausgabe 1860. Im zweiten Abschnitt: »Entwicklung des Individuums«. Zu fama und infamia in Italien vgl. Samuel Y. Edgerton: Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance, Ithaca/ London 1985, 60 - 65. Vgl. auch Achatz Freiherr von Müller: Gloria Bona Fama Bonorum. Studien zur sittlichen Bedeutung des Ruhmes in der frühchristlichen und mittellalterlichen Welt, Husum 1977. 122 Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie, Berlin 1986, 99. <?page no="264"?> Das leckt die Kuh nicht ab 265 lereien vernichtet 124 . Anders verhält es sich mit den von Burke erwähnten neuzeitlichen italienischen Beispielen für Schanddenkmälern: ein »Anti-Denkmal« von 1585 in Neapel mit den Köpfen von 24 Rebellen und einer Inschrift, eine durch den Romancier Manzoni berühmt gewordene Mailänder Schandsäule (colonna infame) zur ewigen Schande eines für die Ausbreitung der Pest 1630 verantwortlich gemachten Barbiers sowie einige »Anti-Epitaphe« für Verräter des Gemeinwesens an der Fassade der Kathedrale von Genua 125 . In seiner Rechtsarchäologie Europas nennt Witold Maisel drei venezianische Schandtafeln von 1657, 1680 und 1727, die sich gegen Verbannte richteten, und eine Inschrift in Padua über die Aburteilung von zwölf namentlich nicht genannten Sbirren (Stadtbedienstete) 1722, die Studenten angegriffen hatten. Die Tat sollte im ewigen Gedächtnis der Bürger bleiben und die dauernde Obhut der Stadt über die Universität bezeugen 126 . Solche Fälle, betont Burke, seien zu berücksichtigen »als Teil des Zeichensystems, welches das Wertesystem des frühneuzeitlichen Italien ausdrückte, in dem Ehre und Schande überragende Bedeutung hatten« 127 . Als man im Venedig des Quattrocento dem Verräter Baiamonte Tiepolo eine (heute noch im Museo Correr erhaltene) Schandsäule errichtete, stellte man zugleich eine Siegessäule auf 128 . Dies ist als deutlicher Hinweis auf den - auch formengeschichtlichen - Zusammenhang zwischen der Entstehung von öffentlichen Ruhmes-Denkmälern für Helden in der italienischen Frührenaissance und ihrem »unehrlichen« Äquivalent für Verbrecher zu verstehen 129 . »Wo die Ehrenstatue wieder möglich wird, gibt es auch Raum für das Schandmal« 130 . 123 Günter Schmidt: Libelli famosi. Zur Bedeutung der Schmähschriften, Schandgemälde und Pasquille in der deutschen Rechtsgeschichte, Diss., Köln 1985, 120 - 130; Wolfgang Brückner: Schandbilder, in: HRG 4 (1990), 1349 - 1351 (mit weiterer Literatur) und jüngst Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995, 33 - 37. An einer Dissertation über die deutschen Schandbriefe arbeitet Matthias Lentz, Bielefeld. - Nicht direkt vergleichbar sind die von Schmidt ebd., 125 - 128 besprochenen deutschen Schandgemälde auf Juden, die sich nicht auf bestimmte Ereignisse beziehen. Die angebliche Schändung eines Hennegauer Marienbildes durch Juden sollte auf Geheiß von Kaiser Maximilian nach der Austreibung der Colmarer Juden 1512 für ewige gedechtnüß im dortigen Dominikanerkloster gemalt werden; Winfried Frey: keyn volck vff erden nymer dreyt Also grossen haß im muot, alß der iud zuom christen duot. Zu einem antijüdischen Text aus dem frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 7 (1992/ 93), 159 - 179, hier: 166, 168, 176. Zu den Erinnerungsmedien antijüdischer Propaganda materialreich: R. Po-Chia Hsia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven/ London 1988. 124 Schmidt: Libelli (wie Anm. 123), 124. Edgerton: Pictures (wie Anm. 121), 74 erwähnt aber eine Malerei ad perpetuam vom Ende des 13. Jahrhunderts und Harald Keller: Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3 (1939), 227- 356, hier: 288, Anm. 236 meint unter Hinweis auf eine Villani-Stelle, von den Auftraggebern seien die Schandmalereien »wohl für längere Dauer berechnet« gewesen. Ein Statut Forlis von 1359 schreibt die Anfertigung eines Schandgemäldes für Verräter ad perpetuam ipsorum infamiam vor; Zahn: Wüstung (wie unten Anm. 154), 47. 125 Burke: Kultur (wie Anm. 122), 103f. Zu den Beispielen von Mailand und Neapel vgl. Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 444 mit Anm. 82. 126 Maisel: Rechtsarchäologie (wie Anm. 105), 149f.; ausführlicher dazu derselbe: Rechtliche Inschriftstafeln Italiens, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 8 (1986), 5 - 18, hier: 11f. mit Abb. 3f. auf 16. 127 Burke: Kultur (wie Anm. 122), 104. 128 Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 444; vgl. auch Werner Haftmann: Das italienische Säulenmonument. Versuch zur Geschichte einer antiken Form des Denkmals und Kultmonumentes und ihrer Wirksamkeit für die Antikenvorstellung des Mittelalters und für die Ausbildung des öffentlichen Denkmals in der Frührenaissance, Diss., Göttingen 1939, 134f. Ebd., 152, Anm. 141 wird ein weiteres venezianisches Beispiel von 1452 erwähnt. 129 Vgl. Haftmann: Säulenmonument (wie Anm. 128), 144. <?page no="265"?> Klaus Graf 266 Die humanistische Ideologie ewigen Ruhmes gilt es mitzudenken, wenn in frühneuzeitlichen Zeugnissen von ewiger Schande oder Infamie die Rede ist. Für die pathetische Inanspruchnahme der Kategorie ewigen Gedenkens durch die Humanisten mögen hier die Ausführungen Johannes Reuchlins stehen, mit denen dieser 1513 im »Augenspiegel-Streit« die überaus polemische Verteidigungsschrift gegen seine Kölner Gegner (›Defensio (...) contra calumniatores suos Colonienses‹) beschloß. Er wolle Gleiches nicht mit Gleichem vergelten und wünsche seinen Widersachern keineswegs die Qualen der Hölle. Seine einzige Rache solle sein, den Namen seines Gegners, eingehauen in Marmor, der Nachwelt zu überliefern: Arnold von Tongern, Fälscher und Verleumder (Calumniator Falsarius per omnia secula seculorum) 131 . Im Jahr zuvor hatte Willibald Pirckheimer Reuchlin brieflich gebeten, seine Schriften nicht mehr durch Erwähnung des Halbjuden Pfefferkorn, dessen Andenken zu tilgen sei (cuius memoria de terra viventium delenda esset), zu beschmutzen. Der Nürnberger Patrizier argumentierte mit einem antiken Vorbild: In Ephesus habe man verboten, den Namen des Brandstifters des Dianatempels in Schriften zu verewigen 132 . Es war ihm also um »damnatio memoriae« zu tun, um das Auslöschen des geschriebenen Namens 133 , auch wenn in Pirckheimers Brief der Begriff selbst nicht fällt. Ad damnandum memoriam Ioannis Kalckberner, um die Erinnerung an den Anführer des Aachener Protestantenaufstands 1611 zu verdammen, sei sie auf Geheiß der kaiserlichen Gesandten errichtet worden, verkündete die Inschrift einer 1616 auf dem Aachener Markplatz errichteten Schandsäule 134 . So kämen diejenigen um, die das Gemeinwesen unter Mißachtung kaiserlicher Edikte umzustürzen trachteten. Der ehemalige Bürgermeister der Reichsstadt Kalckberner wurde damals von den kaiserlichen Kommissaren postum zum Tode verurteilt, zwei weitere Rädelsführer ließen sie enthaupten. Das Relief der Säule zeigte über der Inschrift eine Vierteilungsszene. Ein Bericht über die Exekution wurde im Druck verbreitet 135 . »Noch steht auf öffentlichem Markte die Schandsäule eines der besten Bürger der Stadt«, empörte sich ein aufgeklärt gesinnter Protestant in einem 1785 in Berlin anonym erschienenen Reisebericht, der sich dem Despotismus der Geistlichkeit zu wedersetzen [! ], und Gewissensfreiheit mit Gefahr seines 130 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 204. 131 Ludwig Geiger: Johannes Reuchlin. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871, Nachdr. Nieuwkoop 1964, 278; Winfried Trusen: Johannes Reuchlin und die Fakultäten. Voraussetzungen und Hintergründe des Prozesses gegen den ›Augenspiegel‹, in: Gundolf Keil u.a. (Hg.): Der Humanismus und die oberen Fakultäten, Weinheim 1987, 115 - 157, hier: 149. Zum Kontext vgl. jetzt derselbe: Die Prozesse gegen Reuchlins »Augenspiegel«. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hg.): Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, Sigmaringen 1998, 87 - 131. - Wenige Jahre zuvor sprach der sogenannte »Oberrheinische Revolutionär« (vgl. unten Anm. 262) Rittern, die Bauern berauben, ewigen flu o ch vnd schandt in der welt zu; Annelore Franke/ Gerhard Zschäbitz (Hg.): Das Buch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs, Berlin 1967, 490. 132 Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, bearb. von Emil Reicke, München 1956, 211, Nr. 234. 133 Zur antiken Praxis vgl. z.B. Helmut Häusle: Das Denkmal als Garant des Nachruhms. Beiträge zur Geschichte und Thematik eines Motivs in lateinischen Inschriften, München 1980, 109 unter Hinweis auf die maßgebliche Monographie von Friedrich Vittinghoff: Der Staatsfeind in der römischen Kaiserzeit. Untersuchungen zur »damnatio memoriae«, Berlin 1936. Vgl. jüngst auch Alexander Demandt: Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997, 106f. 134 Die Inschriften der Stadt Aachen, bearb. von Helga Giersiepen, Wiesbaden 1993, 65 - 106 mit Abb. 31 (der bei von Amira: Todesstrafen [wie Anm. 101], 293f., Nr. 416 verzeichnete Kupferstich). 135 Vgl. Walter Schmitz: Verfassung und Bekenntnis. Die Aachener Wirren im Spiegel der kaiserlichen Politik (1550 - 1616), Frankfurt a. M./ Bern/ New York 1983, 347. <?page no="266"?> Das leckt die Kuh nicht ab 267 Lebens zu vertheidigen wagte; und noch hält man zum Andenken dieser abscheulichen Begebenheit, jährlich am 1. Sept. eine feyerliche Procession, von der ich selbst ein Augenzeuge war. Von keiner lächerlichen Seite kann sich die Charlatanerie des katholischen Gottesdienstes unmöglich zeigen 136 . So wundert es nicht, daß die Schandsäule 1792 bei Ankunft der Franzosen umgestürzt und zerschlagen wurde 137 . Im gleichen Jahr 1616 endete die Niederschlagung des Fettmilch-Aufstands in Frankfurt mit einem blutigen Richttag 138 . Vincenz Fettmilch, der Anführer der Rebellen, wurde mit weiteren Aufständischen hingerichtet, die Köpfe von vier »Ächtern« am Brückentorturm auf einem eisernen Träger mit vier Dornen angebracht. Als 1707 einer der Köpfe herunterfiel, mußte er auf Anordnung des Schöffengerichts wieder an die alte Stelle gesetzt werden 139 . Fettmilchs Haus wurde abgerissen, der Platz sollte wüst bleiben. An der Stelle des Wohnhauses ließ der Rat eine Schandsäule in Form einer Pyramide mit lateinischer und deutscher Inschrift aufrichten - zur ewigen Gedächtnuß der Rebellion, und jederman zur höchsten Warnung, so die Überschrift der von der Säule in Form eines Holzschnitts verbreiteten Abbildung 140 . Bis heute erhalten ist im Kölnischen Stadmuseums der Bronzekopf des am 23. Februar 1686 als Haupt-Rebell mit dem Schwert gerichteten Oppositionsführers Nikolaus Gülich 141 . Der Kopf, aus dem ein Richtschwert herausragt 142 , befand sich auf der Schandsäule Gülichs, die in der Mitte des leeren Platzes an der Stelle des geschleiften Wohnhauses des Aufrührers zu deß Aechtern ewiger Infamie 143 aufgerichtet wurde. Auf Schrifttafeln wurden gleichfalls zu deß Aechtern ewiger Infamie desselben Unthaten und Verbrechen beschrieben 144 . Die Köpfe Gülichs und seines Mistreiters Sax ließ der Rat an zwei Stadttürmen aufstecken. Bemerkenswert ist auch hier das quellenmäßig gut dokumentierte Nachspiel in französischer Zeit: Am 17. September 1797 wurde anläßlich der Pflanzung eines Freiheitsbaums die Schandsäule von revolutionär gesinnten Kölnern feierlich niedergelegt. Nunmehr war Gülich ein Verteidiger demokratischer Freiheiten, und ein tyrannischer Magistrat habe ihm, so die Aufzeichnungen des Kommissärs Rethel, die Säule setzen lassen, pour immortaliser sa vengeance cruelle et injuste 145 . 136 Cornelius Neutsch: Religiöses Leben im Spiegel von Reiseliteratur. Dokumente und Interpretationen über Rheinland und Westfalen um 1800, Köln/ Wien 1986, 117f. 137 Giersiepen: Inschriften (wie Anm. 134), 65. 138 Vgl. zusammenfassend Anton Schindling: Wachstum und Wandel. Vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV. Frankfurt am Main 1555 - 1685, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, 2 0 5 -260, hier: 236f. 139 Georg Ludwig Kriegk: Geschichte von Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1871, 408. Abbildung der aufgesteckten Köpfe auf einem Kupferstich um 1616: Lothar Gall (Hg.): FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994, 127. 140 Abbildung und Erläuterung bei Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 445. Zum Schicksal der Schandsäule, deren Postament noch 1772 nicht entfernt werden durfte, vgl. Kriegk: Geschichte (wie Anm. 139), 409f. 141 Vgl. Bernd Dreher, in: Der Name der Freiheit 1288 - 1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute, Köln 1988, 465 - 477, 480 - 484 und die Abbildung 577; Bernd Dreher: Vor 300 Jahren - Nikolaus Gülich, Köln 1986, 79, 83f. 142 Mit einem Schwert durchstochen ist auch der Bauer auf Albrecht Dürers berühmter »Bauernsäule«, dem Entwurf für ein Bauernkrieg-Denkmal; zu ihm vgl. jüngst Ernst Rebel: Albrecht Dürer. Maler und Humanist, München 1996, 405 - 410. 143 Dreher: Gülich (wie Anm. 141), 96. 144 Ebd., 83. 145 Der Name (wie Anm. 141), 483. <?page no="267"?> Klaus Graf 268 Vermutlich hat es außer diesen drei Beispielen von 1616 bzw. 1685 nicht viele weitere Schandsäulen im deutschsprachigen Raum gegeben. Aus der gleichen Epoche nennt Erben in seinem Aufsatz über das römische Schanddenkmal noch ein französisches Attentatsdenkmal von 1595 und die Schandpyramide für den 1663 wegen Landesverrats in Kopenhagen hingerichteten Grafen Corfitz Ulfeldt 146 . Beachtung verdient, daß bei der Hinrichtung Grumbachs 1567 noch keine Schandsäule vorgesehen worden war. Die italienischen Schanddenkmäler dürften die Beispiele nördlich der Alpen inspiriert haben. Allerdings wird eine Schandsäule von einer Lindauer Chronik aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei der Behandlung des sogenannten Rienolt-Aufstands im Jahr 1395 erwähnt. Das Urteil für die Haupträdelsführer habe darin bestanden, daß ihre Häupter auf dem baumgarten alhie sollen abgeschlagen werden, hernacher man ire cörper in den galgbronnen daselbst werffen, und denselben mit einer steinern blatten bedeckhen, und zu ewiger gedächtnuß darbei ein saul aufrichten solle, welches Urteil so vollzogen worden sei 147 . Nachdem ein zeitgenössischer Nachweis fehlt, könnte es sich um eine spätere Ausschmückung handeln. Die Aachener Inschrift spricht die »damnatio memoriae« explizit an. Es geht um die Auslöschung des Gedächtnisses für alle Zeiten. Das Urteil gegen die Grafen Nádasti, Zrínyi und Frangipani bestimmte 1671, daß ihr Gedechtniß von der Welt vertilget werden soll 148 . Die ideengeschichtlichen Hintergründe solcher frühneuzeitlicher Formulierungen hat Wolfgang Brückner in seinen Studien zur Leichenbestrafung und den Bildnishinrichtungen (»Executio in effigie«) der Frühen Neuzeit aufgeklärt 149 . Der gelehrte juristische Diskurs sah seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bei Majestätsverbrechen unter Rückgriff auf die altrömische Praxis der »damnatio memoria« als zusätzliche Ehrenstrafe die Verdammung des Andenkens der Täter vor. Der Hochverräter durfte nicht betrauert werden, Waffen und Wappen wurden zerschlagen, sein Haus gewüstet und die ewige Infamie ging aus spezialpräventiven Gründen auf die Söhne über 150 . Die gelehrte Theorie zum »crimen laesae majestatis« beeinflußte Rechtsnormen wie Strafpraxis. Das verbesserte Landrecht des Königreichs Preußen von 1721 sah vor, das Gedächtnis des Verräters solle durch Vernichtung der Ehrenzeichen und Schleifen der Wohnung ausgerottet werden 151 . Noch § 301 des Bayrischen Strafgesetzbuches von 1813 bestimmte unter anderem als Strafe des Hochverräters: Auf seinem Grabe wird eine Schandsäule errichtet 152 . 146 Erben: Pyramide (wie Anm. 116), 446f. Ein Hinweis auf die dänische Schandpyramide auf dem Königsattentäter Struensee 1772 ebd., 446, Anm. 90. Zu der 1569 in Brüssel auf dem Platz des gewüsteten Palais Culemborg aufgerichteten »schandzuil van Culemborg« vgl. Paul De Win: De schandstraffen in het wereldlijk strafrecht in de zuidelijke Nederlanden van de middeleeuwen tot de franse tijd bestudeert in europees perspectief, Brüssel 1991, 220f. (mit weiteren Hinweisen in Anm. 81f.). 147 Stadtarchiv Lindau, Lit. 19, 229 (für Kopien danke ich dem Stadtarchiv Lindau); die Stelle ist abgedruckt bei Joseph Würdinger: Kämpfe des Patriciats und der Zünfte zu Lindau im 14. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensee's und seiner Umgebung 3 (1872), 95 - 117, hier: 110. 148 Vgl. Rudolf Quanter: Die Schand- und Ehrenstrafen in der deutschen Rechtspflege. Eine kriminalistische Studie, Dresden 1901, 75 - 77. 149 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 232f., 237, 258, 265 und öfter. Zur Leichenbestrafung vgl. auch derselbe: Leichenbestrafung, in: HRG 2 (1978), 1802 - 1084. 150 Vgl. Johannes Martin Ritter: Verrat und Untreue an Volk, Reich und Staat. Ideengeschichtliche Entwicklung der Rechtsgestaltung des politischen Delikts in Deutschland bis zum Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches, Berlin 1937, 265 mit Nachweisen aus der gelehrten juristischen Literatur seit dem Ende des 16. Jahrhunderts. 151 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 265f. <?page no="268"?> Das leckt die Kuh nicht ab 269 Die von den juristischen Autoren der Frühen Neuzeit, beispielsweise von Benedict Carpzow 153 , für den Majestätsverbrecher im Zusammenhang mit der »damnatio memoriae« geforderte Strafe der Hauszerstörung (»Hauswüstung«) 154 ist bereits in hochmittelalterlichen Rechtsnormen nachweisbar. Sie sollte Anwendung finden »bei bestimmten Schwerstvergehen wie Mord, Landfriedensbruch, Hochverrat und Rebellion« 155 . Der Niederlegung der Burgen von Landfriedensbrechern 156 entsprach in den Städten die »Hauszerstörung als Manifestation des Ausschlusses aus der Eidgenossenschaft« 157 . Vielfach hat man die Wüstlegung des Hauses durch ein ewiges Wiederaufbauverbot verstärkt 158 . Bereits in mittelalterlichen Zeugnissen wird gelegentlich der Abschrekkungsgedanke hervorgehoben 159 . In Haarlem wurde 1377 bei der Bestrafung von Aufständischen bestimmt, das Haus, in dem die Verschwörung ausgeheckt wurde, solle vernichtet werden und zwar so, daß die Hofstätte nie mehr bewohnt werden kann, damit jeder sich einen spieghel nemen sol, der sich mit dem Gedanken eines Aufstands trägt 160 . Seit dem 16. Jahrhundert gewann dieser Aspekt an Bedeutung. Damit die Friedhäßige und unruhige Leut (...) auf alle nachkommenden Zeiten, ein vorbildigen Spiegel hieran haben und behalten, begründete der Regensburger Reichsabschied von 1567 das oben bereits erwähnte Wiederaufbauverbot der Feste Grimmenstein, des Stützpunktes des Adelsrebellen Grumbach 161 . In der Frühen Neuzeit wurden nicht nur die Häuser von Hochverrätern zerstört und mit einem Wiederaufbauverbot belegt 162 . In seltenen Fällen setzte man auch bei anderen schweren Verbrechen dieses pathetische Ausrufezeichen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erregte die in der Reichsstadt Esslingen ansässige angebliche Hunger- 152 Christoph U. Schminck: Hochverrat, in: HRG 2 (1978), 179 - 186, hier: 185. 153 Vgl. z.B. Benedict Carpzov: Practicae novae Imperialis Saxonicae Rerum Criminalium Pars I, 7. Aufl., Wittenberg/ Frankfurt 1677, 246 (qu. 41 n. 13). 154 Vgl. zusammenfassend Lorenz Laubenberger: Wüstung (als Strafe), in: HRG 5 (1998), 1566 - 1591 und die dort verzeichnete rechtshistorische Literatur. Ich hebe hervor: Alexander Coulin: Die Wüstung. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts unter besonderer Berücksichtigung des deutschen und französischen Hochmittelalters, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 32 (1915), 326 - 501; Ernst Fischer: Die Hauszerstörung als strafrechtliche Maßnahme im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1957; Theodor Bühler: Wüstung und Fehde, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 66 (1970), 1 - 27. Ungedruckt blieb leider die Arbeit von Nicolaus Zahn: Die Wüstung im mittelalterlichen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Italien und Flandern, Diss. masch., Basel 1956. 155 Werner Meyer: Die Eidgenossen als Burgenbrecher, in: Der Geschichtsfreund 145 (1992), 5 - 95, hier: 69. 156 Vgl. ebd., 68 - 71. 157 Heinz Holzhauer: Schädliches Haus, Schädlicher Mann, in: HRG 4 (1990), 1342 - 1345, hier: 1343. 158 Vgl. Bühler: Wüstung (wie Anm. 154), 15; Zahn: Wüstung (wie Anm. 154), 103 - 106. 159 Vgl. Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 373. 160 Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 89. Zur Spiegel-Metapher vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 42f. 161 Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede (...), Bd. 3, Frankfurt a. M. 1747, 259 § 60; vgl. Albrecht P. Luttenberger: Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., Mainz 1994, 363f.; Ortloff: Händel (wie Anm. 107), Bd. 4, 246 - 248. Vgl. oben Anm. 106. 162 1514 ließ die württembergische Obrigkeit das Versammlungshaus der Aufstandsbewegung des »Armen Konrad« in Schorndorf abbrechen; Andreas Schmauder: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit, Leinfelden-Echterdingen 1998, 252. - Ob ein Rothenburger Fall im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg 1525 zeitgenössisch belegt werden kann, bleibt noch zu überprüfen, vgl. vorerst Emmi Böck (Hg.): Sagen aus Mittelfranken, Nürnberg 1995, 45f. Nr. 69, 307 (»Die verfluchte Hofstätte«). Zeitgenössische Beispiele bei Zahn: Wüstung (wie Anm. 154), 147. <?page no="269"?> Klaus Graf 270 künstlerin Anna Ulmer überregional größtes Aufsehen. Eine vom Rat im April 1550 in Auftrag gegebene bildliche Darstellung der »Jungfrau von Esslingen« konnte nach Aufdeckung des Schwindels zum Denkmal des Betrugs umfunktioniert werden 163 . 1551 wurde Margareta, die Mutter der Ulmerin, als Hexe zum Feuertod verurteilt. Sie sollte mit dem Holzwerk des Hauses, in dem sie den Betrug verübt habe, verbrannt werden. In ewigkeit zu gedechtnus durfte an der Stelle kein Haus mehr gebaut werden 164 . 1617 verhaftete man in der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd im Zuge der Hexenverfolgungen den Kaplan Melchisedech Haas. Er wurde später in Dillingen als Hexenmeister hingerichtet. Ein Chronist des späten 18. Jahrhunderts vermerkt zu einem Gartengrundstück am heutigen Münsterplatz: Man hatte dieses Hauß nachgehends mit allem Fleisse rasieret, und geschleiffet, damit um desto ehender das abscheuliche Angedenken dieses gottlosen Priesters erlöschen möge 165 . Als 1667 ein großer Brand die Stadt Billerbeck im Münsterland in Schutt und Asche legte, kam der fahrlässige Brandverursacher mit dem Leben davon, sollte aber den unglücklichen orth ad rei memoriam anderen bürgern zur warnung nicht wieder bezimmern dürfen. 1669 versuchte die Stadt bei Verhandlungen mit den Räten des Landesherrn, des Fürstbischofs von Münster, vergeblich zu erreichen, daß der Wiederaufbau gegen eine jährliche Bußzahlung, die man zur Dotierung einer Brandprozession verwenden wollte, zugelassen würde 166 . In Bautzen schleifte man 1670 das Haus, in dem ein Kindsmord begangen wurde, und setzte einen Stein »zum ewigen Gedächtnis« an die Stelle 167 . Um die dauernde Wüstlegung eines Grundstücks künftigen Generationen mitzuteilen, wurden schon im Mittelalter Gedenkinschriften angebracht, wenn ein elsässischer Beleg aus dem 14. Jahrhundert verallgemeinert werden darf. In Colmar ist eine »Wüstungstafel« aus rotem Sandstein erhalten, deren Inschrift die erfolgreiche Niederwerfung eines Aufstands durch Herzog Rudolf IV. von Österreich, damals Reichslandvogt im Elsaß, im Jahr 1358 rühmt: und rach den uberlof (...) und brach darumb dis hus und sol niemer me wider gebuwen werden zu einer ewigen gedechtnist 168 . Bei spätmittelalterlichen Burgenzerstörungen habe man, meint Werner Meyer, Mauerteile als »Wahrzeichen der vollzogenen Rache und der vollstreckten Strafe« 169 stehen lassen. In der Tat berich- 163 Jerouschek: Hexen (wie Anm. 41), 68 mit Anm. 68. Noch Jahrzehnte später war die »Jungfrau von Eßlingen« eine sprichwörtliche Redenswart für die Vorspiegelung falscher Tatsachen, vgl. Schilling: Bildpublizistik (wie Anm. 88), 129f. mit weiteren Hinweisen zur publizistischen Resonanz. 164 Jerouschek: Hexen (wie Anm. 41), 70. 165 Chronik des Franz Xaver Debler, Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd Ch 2, S. 246 (ein zeitgenössischer Beleg ist nicht bekannt); zur Lage des Grundstücks mit Skizze vgl. Albert Deibele, in: Gmünder Heimatblätter 22 (1961), 19f. Zum Fall Haas vgl. die Hinweise bei Klaus Graf: Hexenverfolgung in Schwäbisch Gmünd, in: Sönke Lorenz/ Dieter R. Bauer (Hg.): Hexenverfolgung. Beiträge zur Forschung - unter besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raumes, Würzburg 1995, 123 - 139, hier: 125 mit Anm. 13. 166 Manfred Becker-Huberti: Die tridentinische Reform im Bistum Münster unter Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen 1550 bis 1678. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Reform, Münster 1978, 302f. Eine Ergänzung hierzu verdanke ich Christof Jeggle, Berlin: Im Oktober 1592 wurde vom Magistrat zu Münster ein Bäcker, durch Fahrlässigkeit Urheber eines Brandes, zum Stadtverweis verurteilt. Sein Haus durfte auf Lebenszeit nicht wieder errichtet werden, Stadtarchiv Münster, Kriminalregister 1590 - 1607, fol. 10r (23.10.1597); vgl. ebd., Ratsprotokoll A II 20 Bd. 24 vom 7.10.1592, fol. 97r. 167 Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 42. 168 Text bei Meyer: Eidgenossen (wie Anm. 155), 70; vgl. auch Wilhelm Baum: Rudolf IV. der Stifter. Seine Welt und seine Zeit, Graz/ Wien/ Köln 1996, 55 und Abbildung nach 320. 169 Meyer: Eidgenossen (wie Anm. 155), 69. <?page no="270"?> Das leckt die Kuh nicht ab 271 tet Erhard Appenwilers Chronik, bei der Zerstörung von Blochmont durch die Stadt Basel sei ein Teil der Mauern nicht niedergelegt worden zem wortzeichen 170 . Bezeichnend für die Verbreitung der Vorstellung der Wüstlegung mit anschließender Errichtung eines Erinnerungsmals ist ein in Genf umgehendes Gerücht, das 1474 Bern in Angst und Schrecken versetzte. Eine große Koalition europäischer Herrscher, hieß es, wolle Freiburg und Bern einnehmen, Bern zerstören und in der Mitte ein Denkmal aufrichten mit der Inschrift: Hier war einist ein Statt, die hiess Bern 171 . Die an der Stelle gewüsteter Stätten gesetzten Denksteine gelten als schlagendes Gegenargument gegen die von einflußreichen Rechtshistorikern vertretene Ansicht, die Hauswüstung sei ursprünglich ein sakralrechtliches Ritual gewesen mit dem Zweck der »Versöhnung der Gottheit durch Vertilgung aller Erinnerung an den Missetäter« 172 . Man könne sich ja, so Alexander Coulin, »kaum ein Mittel denken, das geeigneter wäre, das Andenken an Täter und Tat in der Bevölkerung wach zu erhalten, als der durch die Wüstung geschaffene Trümmerhaufen oder die jedem auffallende leere Stelle, über deren Schicksal jedermann in der Gegend Aufschluß zu geben vermag« 173 . Die frühneuzeitliche Belegsituation zur Rede von der Auslöschung des Andenkens darf nicht in das Mittelalter zurückprojiziert werden 174 . Vermutlich hat erst die Wiederentdeckung der »damnatio memoriae« des römischen Rechts das Aufkommen der Vorstellung von der Austilgung der Erinnerung gefördert. Wenn in einem offenbar frühneuzeitlichen Beleg die Verbrennung eines bei der Sodomie verwendeten Tieres mit der Vertilgung des gedächtnüß der schändlichen Tat motiviert wird 175 , so taugt diese Stelle nicht dazu, die generelle Behauptung, die Strafe der Verbrennung habe jede Erinnerung an das Verbrechen vernichten sollen, hinreichend zu begründen. Wer mittelalterliche Strafpraxis mit der Auslöschung der Erinnerung erklären will, müßte schon ein einschlägiges mittelalterliches Konzept glaubhaft machen können. Wie kann Erinnerung überhaupt wirksam vernichtet werden? Es liegt hier ein Paradox vor, das ich das Paradox der »damnatio memoriae« oder des erinnernden Vergessens nennen möchte. Obwohl die leeren Plätze an der Stelle der geschleiften Wohnhäuser als frühneuzeitliche Variante der »damnatio memoriae« das Andenken des Missetä- 170 Basler Chroniken Bd. 4, bearb. von August Bernoulli, Leipzig 1890, 300. 171 Johann Caspar Zellweger: Versuch die wahren Gründe des burgundischen Krieges aus den Quellen darzustellen und die darüber verbreiteten irrigen Ansichten zu berichtigen, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 5 (1847), 3 - 149, hier: 33. Zum Vorbildcharakter der Hauszerstörung für die Stadtzerstörung vgl. Marc Boone: Destroying and Reconstructing the City. The Inculcation and Arrogation of Princely Power in the Burgundian-Habsburg Netherlands (14th - 16th Centuries), in: Martin Gosman/ Arjo Vanderjagt/ Jan Veenstra (Hg.): The Propagation of Power in the Medieval West, Groningen 1997, 1 - 33, hier: 18f. 172 Hinrich Siuts: Acht und Bann und ihre Grundlagen im Totenglauben, Berlin 1959, 135. Diskussion der Literatur bei Fischer: Hauszerstörung (wie Anm. 154), 149f. 173 Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 360. Gegen eine Funktion als »damnatio memoriae« wendet sich auch Karl Meuli: Über einige Rechtsbräuche, in: Derselbe: Gesammelte Schriften, hg. von Thomas Gelzer, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1975, 445 - 469, hier: 454: f. 174 Vor solchen Rückprojektionen bei der Motivierung rechtsgeschichtlicher Phänomene warnt Coulin: Wüstung (wie Anm. 154), 374, Anm. 221. - Es wäre darauf zu achten, wann Formulierungen wie die Luthers in seiner Schrift an den christlichen Adel von 1520, man solle die geistlichen Strafen zehn Ellen tief begraben in die erden, das auch yhr nam und gedechtnis nit mehr auff erden were (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, Weimar 1888, 445), aufkommen und häufiger werden. 175 van Dülmen: Schauspiel (wie Anm. 113), 227; vgl. auch derselbe: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafritual in der frühen Neuzeit, München 1985, 126, 118. <?page no="271"?> Klaus Graf 272 ters auslöschen sollten, haben sie es im Gegenteil wachgehalten. Die oben zitierten Positionen von Reuchlin und Pirckheimer stehen für zwei Modi des Umgangs mit dem Andenken: Während es Reuchlin um die Verewigung von Schande geht, will Pirckheimer die Erinnerung des Täters durch Totschweigen auslöschen. Realistischer scheint die Haltung Reuchlins, denn eine hinreichende Kontrolle der medialen Präsenz des Täters im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis ist selbst in einem totalitären System nicht zu garantieren. Die in der Vormoderne mit der Hauszerstörung oder der Vernichtung von Porträts 176 inszenierte »Verdammung des Andenkens« vernichtet dieses in Wirklichkeit keineswegs, sie verewigt Schande bzw. »Infamie« des Täters. Die zitierte Colmarer Inschrift zur Wiederherstellung der Ordnung 1358 nennt keine Namen von Tätern, und dies gilt auch für eine etwas ältere zeitgenössische Inschrift aus Regensburg. Sie berichtet vom Verrat zweier namentlich nicht genannter Bürger, die 1337 mit einem unterirdischen Gang den belagernden Truppen Ludwig des Bayerns heimlich Zugang zur Stadt verschaffen wollten. Sie wurden einige Tage später an di zinn erhangen 177 . Zum Dank für die Rettung stiftete die Stadt eine ewige Messe in Niedermünster 178 . Jedes Jahr gemahnte in Köln eine Prozession an die Niederschlagung der Revolte von 1481/ 82 179 . Überhaupt sind die hier und im folgenden erwähnten Zeugnisse zum »Nachleben« von Revolten und Verratsfällen im Kontext der städtischen Erinnerungskultur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu sehen, die mit obrigkeitlich veranlaßten jährlichen Gedenkritualen 180 und Erinnerungszeichen das Andenken an Schlachten, Belagerungen, Überfälle und Aufstände wachhielt. Mit diesen Medien öffentlicher Erinnerung konnte wirksamer als in der Historiographie die erfolgreiche Überwindung der einstigen Bedrohung der städtischen Freiheiten verewigt werden 181 . Daneben wurde in Sühneverträgen anläßlich der Beilegung innerstädtischer Konflikte ein bleibendes Gedenken in Gestalt von Steinkreuzen, Kapellen oder Meßstiftungen vereinbart, das zwar ursprünglich der memoria der im Aufstand getöteten Opfer galt 182 , das aber ebenfalls das historische Wissen 176 Beides wurde z.B. praktiziert bei der Scheinhinrichtung des Hugenottenführers Coligny 1572, vgl. Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 298. 177 Hans Ulrich Schmid: Die mittelalterlichen deutschen Inschriften in Regensburg. Edition, Untersuchungen zur Sprache, Abbildungen, Frankfurt a. M. u.a. 1989, 11f., Nr. 5. 178 Johann Schmuck: Ludwig der Bayer und die Reichsstadt Regensburg. Der Kampf um die Stadtherrschaft im späten Mittelalter, Diss., Regensburg 1991, 235f., Anm. 1497. 179 Vgl. Wolfgang Schmid: Stefan Lochners ›Altar der Stadtpatrone‹. Zur Geschichte eines kommunalen Denkmals im Heiligen Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 58 (1997), 257 - 284, hier: 263. - Zu einer französischen Gedenkprozession aus Anlaß eines Verrats 1426 vgl. Jean Tricard: Une ville et son traître: Limoges et l’affaire Gaultier Pradeau. (XVe -XXe siècle), in: Monique Bourin (Hg.): Villes, bonnes villes, cités et capitales. Études d’historie urbaine (XIIe -XVIIIe siècle) offerts à Bernard Chevalier, Tours 1989, 211 - 221, hier: 217 (freundlicher Hinweis von Gisela Naegle, Gelnhausen). 180 Gedenkrituale aus Anlaß von Straftaten und Bestrafungen waren nicht üblich. Ich kenne nur die von Anton Mailly: Deutsche Rechtsaltertümer in Sage und Brauchtum, Wien 1929, 100 erwähnte Demütigung der Bauern von St. Peter in der Au bei Steyr, die wegen eines Aufstands von 1597 bis 1844 jeden Lichtmeßtag zur straff undt ewiger gedechtnus einen Gang zum Schloß machen mußten. Das Zitat nach Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt/ New York 1996, 176, Anm. 100. 181 Vgl. Klaus Graf: Schlachtengedenken in der Stadt, in: Bernhard Kirchgässner/ Günter Scholz (Hg.): Stadt und Krieg. 25. Arbeitstagung in Böblingen, Sigmaringen 1989, 83 - 104; derselbe: Schlachtengedenken im Spätmittelalter. Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität, in: Detlef Altenburg/ Jörg Jarnut/ Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbands, Sigmaringen 1991, 63 - 69. <?page no="272"?> Das leckt die Kuh nicht ab 273 um solche Ereignisse, die Erinnerung an »Verfehlung und Sühne« 183 , im städtischen Gedächtnis verankern konnte. An den Aufstand der Tuchmacher 1527 erinnert die »Verrätergasse« in Görlitz. Zum ewigen gedechtnus ließ der Rat an der zugemauerten Tür eines Hauses in diesem Gäßlein, wo die Verschwörer am meisten aus- und eingingen, die Inschrift DVRT (Der Verräterischen Rotte Tür) anbringen 184 . Wie bei der Basler »Mordnacht«-Überlieferung bringt die in einer »Sage« des 19. Jahrhunderts faßbare späte Traditionsbildung das Vorgehen der Uhr am Görlitzer Mönchsturm mit der Aufdeckung der Verschwörung in Verbindung 185 . Auch in Schlettstadt wurde im 16. Jahrhundert das Andenken an eine Verschwörung mit lateinischen und deutschen Inschriften vom Rat dauerhaft gesichert 186 . Während Inschriften den betreffenden Fall genau bezeichnen können, ist die Bezugnahme der Kennzeichnung innerstädtischer Hinrichtungsstätten auf ein bestimmtes Ereignis nicht ohne weiteres garantiert. Ganz sicher ist die Deutung nur bei dem jüngsten mir bekannten Fall: Als Bremer Kuriosität wird der sogenannte »Spuckstein« auf dem Domshof gezeigt. Es handelt sich um die durch ein Kreuz im Pflaster markierte Stelle, an der die Giftmörderin Gesche Gottfried 1831 bei der letzten öffentlichen Hinrichtung in der Hansestadt enthauptet wurde. Touristische Informationen wollen wissen, daß noch heute Einheimische »ihre Abscheu« durch Ausspucken äußern. In seiner Monographie zur rechtlichen Volkskunde aus dem Jahr 1936 berichtet Eberhard Freiherr von Künßberg von dieser und einer ähnlichen »Spucksitte«, die allerdings »nur mehr von Schulkindern« festgehalten werde, an der durch einen dunklen Stein bezeichneten Stelle der Hinrichtung des »Prinzenräubers« Kunz von Kauffungen im sächsischen Freiberg 1455 187 . Allerdings gehört die älteste Überlieferung zu diesem »Wahrzeichen« Freibergs auf dem Obermarkt zu den Zeugnissen für die üppige frühneuzeitliche Traditionsbildung rund um den »Prinzenraub«, die Entführung der Söhne des sächsischen Kurfürsten durch Kunz von Kauffungen. 1702 soll der Stein, als er zersprungen war, durch einen neuen ersetzt worden sein. Außerdem wurde ein Kopf am Rathaus als Bildnis des Täters und eine der Gefängniszellen als die seine ausgegeben 188 . 182 Vgl. Dietrich Poeck: Sühne durch Gedenken - Das Recht der Opfer, in: Clemens Wischermann (Hg.): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, 113-136. 183 Dietrich Poeck: Totengedenken in Hansestädten, in: Franz Neiske/ Dietrich Poeck/ Mechthild Sandmann (Hg.): Vinculum Societatis. Joachim Wollasch zum 60. Geburtstag, Sigmaringendorf 1991, 175 - 232, hier: 189. 184 Magister Johannes Hass Bürgermeister zu Görlitz Görlitzer Rathsannalen, hg. von E. E. Struve, Bd. 3 (1521 - 1542), Scriptores rerum Lusaticarum NF 4, Görlitz 1870, 74 (Zitat), 46; vgl. Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz Bd. I,1, Görlitz 1926, 298; Bd. I, 2, ebd. 1927 - 1934, 449. 185 Vgl. die mit dem Vermerk »Mündlich« versehene Sage bei Karl Haupt: Sagenbuch der Lausitz, in: Neues Lausitzisches Magazin 40 (1863), 336, Nr. 121. Zu Basel vgl. Hans Rindlisbacher: Mordnächte in der Eidgenossenschaft. (Begriff, Überlieferung, Typologie), masch. Lizentiatsarbeit, Basel 1979, 50, 77. Vgl. allgemein immer noch Ludwig Tobler: Die Mordnächte und ihre Gedenktage, in: Derselbe: Kleine Schriften zur Volks- und Sprachkunde, hg. von J. Baechtold/ A. Bachmann, Frauenfeld 1897, 79 - 105. 186 Joseph Gény: Die Reichsstadt Schlettstadt und ihr Antheil an den socialpolitischen und religiösen Bewegungen der Jahre 1490 - 1536, Freiburg 1900, 141 Anm. 2. 187 Künßberg: Rechtliche Volkskunde (wie Anm. 42), 105. Vgl. auch derselbe: Rechtserinnerung (wie Anm. 78), 584: Die Bremer »symbolisieren (...) ihr Vollwort zum Urteilspruch und ihre Gemeinschaftshandlung am Strafvollzug«. 188 Otto Coith: Kunz von Kauffungen. Eine historische Skizze, in: Mittheilungen des Freiburger Alterthumsvereins 13 (1876), 1135 - 1270, hier: 1192 mit Anm. 115. Zum Prinzenraub vgl. zuletzt Regina Röhner: Der sächsische Prinzenraub. Die Geschichte des Kunz von Kauffungen, 2. Aufl., Chemnitz 1994. Für die angebliche »Spucksitte« findet sich bei Coith kein Beleg! <?page no="273"?> Klaus Graf 274 Wilhelm Funk erwähnt neben dem Bremer und Freiberger Beispiel eine Lüneburger Markierung an der Stelle, wo 1457 (richtig: 1458) die Rädelsführer der Bürgerschaft hingerichtet worden seien 189 . Vergeblich fahndet man aber in zeitgenössischen Quellen und Bernd-Ulrich Hergemöllers maßgeblicher Darstellung 190 nach einem Beleg für dieses Erinnerungsmal. Zwar sagen die Chroniken, die Enthauptung Anfang Juni 1458 habe auf dem Markt stattgefunden 191 , doch muß das Alter der Markierung 192 vorerst offen bleiben. Gleiches gilt für die Kennzeichnung wirklicher oder angeblicher innerstädtischer Hinrichtungsstätten in Lindau (Rienolt-Aufstand 1395 193 ), Bautzen (Enthauptung aufständischer Handwerker 1408 194 ), Amberg (Hinrichtung von Bürgern durch Pfalzgraf Friedrich den Siegreichen 1454 195 ) und Wiener Neustadt (»Wiener Neustädter Blutgericht« im August 1522 196 ). In Lübeck erinnerte im 18. Jahrhundert eine Fliese auf dem Markt an die Enthauptung des Schiffshauptmanns Johannes Wittenborg als Verräter im Jahr 1363, doch war dies nicht das einzige »Andenken« an Wittenborgs Verrat: Mit der Hinrichtung brachte man auch ein im Zeughaus aufbewahrtes Richtschwert und einen Stuhl in Verbindung. Eine bildliche Darstellung, die das Urteil in Kopie enthalten haben soll, hing im Zeughaus 197 , und ein (in Wirklichkeit 1538 verfertigter) Pokal sollte, so die Überlieferung, an Wittenborgs schreckliches Ende gemahnen, wenn ihn die Ratsherren zweimal im Jahr leerten 198 . Bei dieser städtischen Traditionsbildung handelt es sich nicht etwa um eine »Volkssage«, sondern offenbar um eine »offiziöse«, im Um- 189 Wilhelm Funk: Alte deutsche Rechtsmale. Sinnbilder und Zeugen deutscher Geschichte, Bremen/ Berlin 1940, 105. Auf Funks Angaben fußt wohl Wolfgang Schild: Kriminalität und ihre Verfolgung, in: Cord Meckseper (Hg.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 - 1650, Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 131 - 174, hier: 144, der die Denkmale mit einer »Steigerung des Sensationellen« (bei gleichzeitigem Rückgang der Hinrichtungszahlen) in Verbindung bringt. 190 Bernd-Ulrich Hergemöller: »Pfaffenkriege« im spätmittelalterlichen Hanseraum. Quellen und Studien zu Braunschweig, Osnabrück, Lüneburg und Rostock, Bd. 1, Köln/ Wien 1988, 179. 191 Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 36 (wie Anm. 54), 142, 363, 385. 192 Die Steinplatten im Pflaster sind abgebildet bei Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, 168, Nr. 262. 193 Karl Wolfart (Hg.): Geschichte der Stadt Lindau am Bodensee, Bd. 1/ 1, Lindau 1909, 131: »Noch heute soll ein Steinkreis, der bei jeder Pflasterung erneuert wird, die Stelle anzeigen«. Dazu die Auskunft des Stadtarchivs Lindau (Werner Dobras) vom 30.6.1995: »Der von Wolfart genannte Steinkreis ist erst in neuerer Zeit (...) angelegt worden. Wann dies der Fall war, ist mir nicht bekannt. Heute nimmt in Lindau kaum mehr jemand davon Notiz, zumal er im Rahmen einer Neubepflasterung auch schlecht genug erkennbar und ohne jeden Hinweis ist«. 194 Vgl. den Abschnitt »Ein Pflasterkreuz offenbart Geschichte« im touristisch orientierten Bändchen von Roger Rössing: Bautzen, Leipzig 1989, 7f. 195 Unter Hinweis auf Richard Hipper: Die Entwicklung Ambergs vom Dorf zur Stadt und Hauptstadt der Oberpfalz, in: Anton Eberl (Hg.): 900 Jahre Amberg. Eine Festschrift, Kallmünz 1934, 4 - 10, hier: 9, Anm. 7 vermutet das Stadtarchiv Amberg (Johannes Laschinger) in seiner Auskunft vom 4.7.1995 eine Entstehung des Gedenksteins auf dem Marktplatz mit den drei Kreuzen im Zuge der Neupflasterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Erinnerungsmal ist jedoch älter, wie aus Felix Reichsfreiherr von Löwenthal: Geschichte von dem Ursprung der Stadt Amberg(...), München 1801, 245f., Anm. b hervorgeht: »Wo die Execution auf dem Markte geschehen ist, wurde ein viereckigtes Pflaster von weißen Steinen gesezt«. 196 Gertrud Gerhartl: Wiener Neustadt. Geschichte, Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wien 1978, 205: »Wann dieser Richtplatz besonders gekennzeichnet wurde, ist nicht mehr festzustellen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der ca. 1,80 m im Durchmesser große Kreis aus Pflastersteinen offensichtlich schon ein längst vorhandenes Denkmal in der Stadt gewesen«. Nach Mitteilung des Stadtarchivs Wiener Neustadt ist die Markierung vor 1839 entstanden. Zum Blutgericht vgl. zusammenfassend Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Bd. 5, Wien 1997, 638 (für Hilfe danke ich herzlich Susanne C. Pils). <?page no="274"?> Das leckt die Kuh nicht ab 275 kreis des Stadtregiments erzählte, von schriftlichen Geschichtsdarstellungen geprägte Überlieferung 199 . Gerhard Buchda behauptet eine Praxis, innerstädtische Hinrichtungsplätze durch einen oder mehrere in den Boden eingelassene Steine kenntlich zu machen 200 . Analog dazu will der Artikel »Schafott« im Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte wissen, diese Steine hätten die Stelle bezeichnen sollen, auf der das Schafott oder Blutgerüst aufzuschlagen war 201 . Obwohl diese Thesen noch weiterer Erhärtung bedürfen 202 , könnten sie die Existenz der referierten Traditionen plausibel erklären: Ex post hätte man die markierten Stellen mit den als besonders spektakulär in der städtischen Erinnerung festgehaltenen Hinrichtungen verbunden und gleichsam »historisiert« 203 . Nachdem die Markierungen selbst sich einer Datierung entziehen und auch archivalische Belege über den genauen Zeitpunkt ihrer Anbringung noch nicht erhoben werden konnten, wird man aber auch mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß sie im Kontext der neuzeitlichen Traditionsbildung entstanden sind. Vorerst gibt es keinen Nachweis dafür, daß bereits im Mittelalter der Ort von Hinrichtungen innerhalb der Stadt hervorgehoben wurde, sei es in der Art einer allgemeinen Kennzeichnung, sei es als Erinnerungsmal an eine bestimmte Hinrichtung. 197 Ausgeklammert habe ich in diesem Beitrag die bildlichen Darstellungen von Bestrafungen, die sich nicht selten auch in amtlichen Gerichtsquellen finden. Literaturhinweise zur Rechtsikonographie jüngst bei Ulrich Andermann: Das Recht im Bild. Vom Nutzen und Erkenntniswert einer historischen Quellengattung. (Ein Forschungsüberblick), in: Andrea Löther u.a. (Hg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, 421 - 451. Hingewiesen sei auch auf das reiche Material bei von Amira: Todesstrafen (wie Anm. 101), 236 - 415. 198 Wilhelm Mantels: Beiträge zur lübisch-hansischen Geschichte. Ausgewählte historische Arbeiten, Jena 1881, 193f., 227 - 229. Mantels zitiert 227 eine Chronik von Schultze aus dem 18. Jahrhundert, derzufolge der Stein, auf welchem die Decollation geschehen, von vielen noch will gewiesen werden. Doch wird er nicht mehr attendiret [beachtet], weil dieses Andenken Untergang die Zeit gleich alles auflösen wird. Ebd., 194 sagt Mantels, dessen Aufsatz erstmals 1872 erschien, die Fliese auf dem Markt werde noch gewiesen. 199 Zum Zusammenhang von städtischer Traditionsbildung und Historiographie vgl. ausführlich Klaus Graf: Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen zur Geschichtsschreibung der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1984. 200 Gerhard Buchda: Rechtsarchäologisches und Volksrechtskundliches aus Thüringen, in: Kurt Ebert (Hg.): Festschrift Hermann Baltl, Innsbruck 1978, 63 - 78, hier: 67. Zahlreiche Belege zu Hinrichtungen innerhalb der Stadtmauern bei von Amira: Todesstrafen (wie Anm. 101), 121 Anm. 10. 201 Günter Haberer: Schafott, in: HRG 4 (1990), 1348f. Er nennt Beispiele in Bremen, Lüneburg, Prag und Hanau. Zu Hanau ist anzumerken: An der Stelle des ehemaligen Prangers auf dem Altstädter Marktplatz vor dem heutigen Goldschmiedehaus ist ein Sandsteinblock im Pflaster eingelassen, der fälschlicherweise als Platz des Schafotts ausgegeben wird (freundliche Mitteilung von Angelika Hentschel, Historisches Museum Hanau). 202 Buchda zitiert unter anderem die Studie von Karl Frölich: Stätten mittelalterlicher Rechtspflege auf südwestdeutschem Boden, besonders in Hessen und den Nachbargebieten, Tübingen 1938, 7, 20, 38, doch sind die dort belegten städtischen »Blutsteine« offenkundig etwas anderes. 203 Eine nachträgliche Deutung liegt jedenfalls eindeutig vor, wenn ein Stein mit einer ausgehauenen Hand auf dem Markplatz des mecklenburgischen Boitzenburg als Stelle gilt, wo eine Kindsmörderin enthauptet wurde, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 8 (1936/ 37), 394 (s.v. Stein II). Zum Galgen von Schattenberg existiert eine Tradition, er sei zur Hinrichtung der acht Mörder des Pfarrers Melchior Lang 1493 errichtet worden, Hermann Baltl: Rechtsarchäologie des Landes Steiermark, Graz/ Köln 1957, 79. Ein Analogon zu einer solchen »Historisierung« stellt die nachträgliche Interpretation von Bräuchen als Erinnerungsfeste dar, die Gregor Römer: Die Historisierung von Volksbräuchen, Diss. masch., Würzburg 1951 behandelt (ein Beispiel oben Anm. 86). <?page no="275"?> Klaus Graf 276 Mit Sicherheit um neuzeitliche Fiktionen handelt es sich bei den Überlieferungen, steinerne Köpfe an Häusern oder Toren seien Darstellungen von Straftätern. Bereits erwähnt wurde der Kopf am Rathaus von Freiberg, bei dem es sich um den »Prinzenräuber« Kauffungen handeln soll. Bei einem Bürgeraufstand 1332 ließ der Abt von Fulda die Haupträdelsführer verbannen und ihre Häuser niederreißen. »Die spätere Behauptung«, stellt Konrad Lübeck fest, »der Abt habe auch Bürger hinrichten (...) und an den Häusern derselben steinerne Köpfe anbringen lassen, ist in keiner Weise zuverlässig bezeugt« 204 . 1430 wurde der Bautzener Stadtschreiber Peter Preischwitz wegen des Verrats der Stadt bei der Belagerung durch die Hussiten gevierteilt. Die eisernen Haken, mit denen die Viertel seines Körpers an den vier Toren aufgehängt worden sind, habe man noch lange gezeigt, wollen frühneuzeitliche Chroniken wissen. Diese bezeichneten auch das angebliche Wohnhaus des Stadtschreibers und deuteten einen steinernen Kopf an der Nikolaipforte als sein Bildnis 205 . Nach einer »sagenhaften Überlieferung« ist eine Statue am alten Markentor zu Elbing die Schandsäule eines Bürgermeisters, der die Stadt verraten habe 206 . Von zwei mit dem Tod im Eisenkorb bestraften Verrätern, dem Bürgermeister Prallas von Hildesheim und seinem Spießgesellen Kattenbrak, liest man in einer Sagensammlung des 19. Jahrhunderts: »Als sie nun gestorben waren, stellte man zum ewigen Gedenken der Verräterei ihre Steinbilder auf der Stadtmauer am Hagentore auf. Da standen sie Jahrhunderte lang und wurden von den Kindern mit Steinen beworfen« 207 . In die »Deutschen Sagen« der Brüder Grimm von 1816/ 18 gelangte die einer Quelle von 1689 entnommene Erzählung Der Schweidnitzer Ratsmann. Am Rathaus von Schweidnitz in Schlesien soll sich früher ein steinerner Kopf befunden haben, das Bild eines diebischen Ratsherrn, der auf dem Ratshausturm ausgesetzt wurde und sich selbst durch Abnagen seines eigenen Fleisches zu Tode gebracht habe 208 . Aus Martin Zeillers Reyßbuch von 1632 exzerpierten die Brüder Grimm für einen Nachtragsband die Erzählung, Erzbischof Anno von Köln habe falsche Richter durch Augenausstechen bestraft: Und damit die Gedächtnis der That desto langwieriger würde, ließ er auf die Häuser der Richter leimerne [tönerne] Köpfe mit ausgegrabenen Augen setzen, allen Vorübergehenden zu einem Schrecken 209 . In diesem Fall reicht die Tradition sogar ins Spätmittelalter zurück, denn die »Greinköpfe« der sogenannten Kölner Schöffensage erscheinen bereits in der 1469/ 72 verfaßten Kölner Chronik »Agrippina« des Heinrich van Beeck und danach in der gedruckten Koelhoffschen Chronik von 1499. In Wirklichkeit handelt es sich um steinerne Fratzenköpfe am Giebel eines Kaufmannshauses 210 . Potterköpfe (tönerne Köpfe), wie Menschenköpfe gebacken, seien zum ewigen An- 204 Konrad Lübeck: Die Fuldaer Bürgeraufstände 1331/ 32, in: ZRG GA 68 (1951), 410 - 433, hier: 431, Anm. 67, für die Hinrichtung unter Berufung auf die Darstellung bei Brower 1612. 205 Richard Needon: Der Verrat des Bautzener Stadtschreibers Peter Preischwitz im Jahre 1429/ 30, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 51 (1930), 11 - 19, hier: 18f. 206 Mailly: Rechtsaltertümer (wie Anm. 180), 157. Er gibt ebd., Anm. 14, Hinweise auf weitere Schandstrafen- und Schandsäulen-Sagen, denen nachzugehen wäre. 207 Karl Seifart: Sagen aus Stadt und Stift Hildesheim, hg. von Peter Guyot, Hildesheim/ Zürich/ New York 1995, 51. - Von dem Bremer verräterischen Bürgermeister Johann von der Tiever 1366 heißt es, man habe ihn gevierteilt und die Gewichtsangabe von einem der an der Stadtmauer aufgehangenen Viertel in einen Stein gehauen, Will-Erich Peuckert (Hg.): Bremer Sagen, 2. Aufl., Göttingen 1988, 64. 208 Brüder Grimm (Hg): Deutsche Sagen, ediert von Heinz Rölleke, Frankfurt am Main 1994, 380f., Nr. 358 (Nr. 359 der gängigen Zählung der dritten Ausgabe). 209 Brüder Grimm: Sagen Bd. 3 (wie Anm. 98), 103, Nr. 106. <?page no="276"?> Das leckt die Kuh nicht ab 277 denken der Nachwelt auf die Häusern der Verräter im Lübecker Knochenhaueraufstand von 1384 gesetzt worden, berichtet auch die Lübecker Chronik des Leutnants Detlev Dreyer aus dem 18. Jahrhundert 211 . In allen Fällen handelt es sich um ätiologische Erzählungen (»Erklärungssagen«) 212 , die auffällige Steinköpfe (auch bekannt als »Neidköpfe«) an Gebäuden nachträglich als bildliche Erinnerungen an Schwerverbrecher und ihre Taten deuten. Die rätselhaften Bildwerke, deren Funktion bis heute umstritten ist 213 , dienten ebenso als »Erzähl-Male« 214 wie beispielsweise die Darstellung des Martyriums des heiligen Cyrillus - seine Peiniger wanden ihm mit einer Walze die Gedärme aus dem Leib - in der Lübecker Marienkirche. Das Schnitzwerk wurde in protestantischer Zeit als Erinnerung an die Bestrafung des adeligen Mörders Klaus Bruskow 1367 mißverstanden, dessen Schwert man als Tatwerkzeug lange Zeit auf dem Zeughaus aufbewahrt habe 215 . Während die Geschichten die Gegenstände erklärten, beglaubigten umgekehrt die Gegenstände als »Wahrzeichen« die Geschichten von abscheulichen Taten und ihrer exemplarischen Ahndung. Eine der bekanntesten historischen Traditionen der Schweiz im 16. Jahrhundert war das auch in Flugschriften verbreitete Exempel von den Willisauer Spielern, die 1553 beim Scheibenspiel Gott gelästert und daraufhin ein furchtbares Ende genommen hatten. Die Scheibe mit dem vom Himmel getropften Blut werde noch heute, weiß eine Schrift aus dem Jahr 1556, in Willisau als Warnung vor dem Fluchen gezeigt 216 . Ein Autor des 17. Jahrhunderts vermerkt, der Tisch, an dem sie spielten, solle dort noch zum Wahrzeichen zu sehen sein 217 . 210 Zur Geschichte dieser Erzählung vgl. ausführlich Helmut Fischer: Vom Heiligen Anno. Profanierung und Popularisierung in Sagen seit dem 19. Jahrhundert, in: Temporibus tempora. Festschrift für Abt Placidus Mittler, Siegburg 1995, 297 - 318, hier: 303 - 306. Nachzutragen ist der etwas ältere Beleg: Robert Meier: Heinrich van Beeck und seine »Agrippina«. Ein Beitrag zur Kölner Chronistik des 15. Jahrhunderts. Mit einer Textdokumentation, Köln/ Weimar/ Wien 1998, 207: Vnd in wat huyser die scheffen woynden, dair moysten sy doyn machen eyn steynen heufft sunder ougen an den geuel zu eynre ewigen gedechtenysse. 211 Ernst Deecke: Die Hochverräter zu Lübeck im Jahre 1384, Lübeck 1858, 20f.; vgl. auch derselbe: Lübische Geschichten und Sagen. 5. Aufl, hg. von Heinrich Wohlert, Lübeck 1911, 163, Nr. 82 mit Nachweisen 453. - In Husum deutete man Sandsteinmasken an zwei Häusern am Rathaus als »Rebellenköpfe« und bezog sie auf die Opfer eines Aufstandes von 1472; Wilhelm Johnsen: Kunstdenkmäler in der Sage, in: Kunst in Schleswig-Holstein. Jahrbuch 3 (1953), 68 - 81, hier: 69. 212 Vgl. Lutz Röhrich: Die sichtbaren Beweise. Wahrzeichen, Denkmäler und andere Realien in der Sagenüberlieferung, in: Justus Cobet/ Barbara Patzek (Hg.): Archäologie und historische Erinnerung. Nach 100 Jahren Heinrich Schliemann, Essen 1992, 137 - 156. In Anlehnung an Richard M. Meyer: Ikonische Mythen, Zeitschrift für deutsche Philologie 38 (1906), 166 - 177 möchte ich von ikonischen Erzählungen sprechen. 213 Die von der Forschung als »Neidköpfe« bezeichneten Steinköpfe an Kirchen, Häusern und Toren sind bis zur Gegenwart Gegenstand sich wissenschaftlich gebender wilder Spekulationen, vgl. z.B. noch Rainer Braun: Zur Deutung der Steinmasken an fränkischen Kirchen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/ 35 (1975), 279 - 297. Vgl. auch Ernst Ludwig Rochholz: Die drei Hunnenköpfe, in: Argovia 1 (1860), 113 - 136; Müller-Bergström: Wahrzeichen, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 9 (1938/ 41), 49 - 53, hier: 50; Heiner Heimberger: Neidköpfe im Gebiet zwischen Neckar und Main, in: Mainfränkisches Jahrbuch 3 (1951), 252 - 271; Winfried Wackerfuß: Die Neidköpfe des Odenwaldes. Schreckfratzen und Spottfiguren zwischen Neckar, Rhein, Main und Mud, in: Winfried Wackerfuß/ Peter Assion/ Rolf Reutter (Hg.): Zur Kultur und Geschichte des Odenwaldes. Festgabe für Gotthilde Güterbock, Breuberg-Neustadt 1976, 199 - 218. 214 Graf: Thesen (wie Anm. 76), 47. 215 Deecke: Sagen (wie Anm. 211), 143f., Nr. 76, 452. 216 Rainer Alsheimer, in: Volkserzählung (wie Anm. 84), 477, Nr. 481. 217 Susanne Halblützel, in: Sagenerzähler (wie Anm. 84), 171f., 174f., Zitat 172. <?page no="277"?> Klaus Graf 278 In Rathäusern erinnerten nicht nur die bekannten Weltgerichtsbilder und gemalten Exempla vom gerechten Richter 218 die Ratsherren und Besucher an die Notwendigkeit gerechten Richtens. Härte bei schweren Vergehen gegen die Gemeinschaft forderten auch solche Strafjustiz-Andenken wie die oben erwähnten Wiedertäufer- »Reliquien« in Münster. Über eine auf einem Kasten montierte skelettierte Hand, die ebenfalls zum Rathaus-Inventar von Münster zählt, liest man, sie sei ein »der Abschreckung von Meineiden dienendes Requisit frühneuzeitlicher Justiz« 219 . Eine konkretere Vermutung, es handle sich um die »abgehackte Hand eines eidbrüchigen Notars«, notiert ein populärer Führer zu makabren Sehenswürdigkeiten 220 . 1831 gehörte zum Inventar des Erfurter Rathauses eine Kiste mit »abgehauenen Händen« 221 . In beiden Fällen dürften mittelalterliche »Leibzeichen« oder »Totenhände« vorliegen, die abgetrennten Hände von Erschlagenen, die vor Gericht als Beweisstück den ganzen Körper zu vertreten hatten 222 . Ätiologische Erzählungen, die Anton Mailly referiert, deuteten solche nicht mehr verstandenen Leibzeichen als Verbrecherhände. Von einer im Rathaus des rheinländischen Rees aufbewahrten vertrockneten Menschenhand heißt es, sie sei einem jungen Menschen abgeschlagen worden, »weil er sich an seinem Vater schwer vergriffen hätte«. Verdorrte Men- 218 Vgl. jetzt grundlegend Ulrich Meier: Vom Mythos der Republik. Formen und Funktionen spätmittelalterlicher Rathausikonographie in Deutschland und Italien, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 345- 387, hier: 356 - 360. Für die Frühe Neuzeit und die Niederlande wäre zu ergänzen die Darstellung der angeblichen Bestrafung eines diebischen Amtmanns durch den Grafen von Holland 1336 in den Rathäusern von Leyden (1582), Alkmaar und Naarden, vgl. Lambert E. van Holk: Eine mittelalterliche Rechtslegende und ihre Darstellung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 5 (1983), 135 - 157, hier: 138, 140, 141. 219 Dethlefs: Friedenssaal (wie Anm. 95), 58. - Als Abschreckung läßt sich in gewissem Sinn auch die frühneuzeitliche Praxis verstehen, die Skelette hingerichteter Straftäter als anatomisches Lehrmaterial zu verwenden. So bestimmte bereits 1604 Landgraf Moritz von Hessen, daß hingerichtete mißthätige zur Anatomi gefolget; Heiner Borggrefe/ Vera Lüpkes/ Hans Ottomeyer (Hg.): Moritz der Gelehrte. Ein Renaissance-Fürst in Europa, Eurasburg 1997, 365f., Nr. 401. 1612 und 1620 ist für die Stadtbibliothek Windsheim die Ausstellung der Skelette hingerichteter Straftäter belegt; Uwe Müller: Reichsstädtische Bibliotheken in Franken, in: Rainer A. Müller (Hg.): Reichsstädte in Franken. Aufsätze, Bd. 2, München 1987, 271 - 283, hier: 280. Vgl. auch Rublack: Magd (wie Anm. 72), 124f.; Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 238. - Zu makabren Sammlungsstücken in fürstlichen Kunst- und Wunderkammern vgl. den Hinweis im Katalog: Der Mensch um 1500. Werke aus Kirchen und Kunstkammern, 2. Aufl., Berlin 1977, 40: In der Kunstkammer des Bayernherzogs Albrecht V. (1528 - 1579) wurden auch Abbildungen von Verbrechern aufbewahrt, und im Inventar konnte man Aufzeichnungen zu ihren Taten lesen. Von einem heißt es, er habe 745 Morde begangen. 220 Jörg von Uthmann: Es steht ein Wirtshaus an der Lahn. Ein Deutschlandführer für Neugierige, 2. Aufl. Hamburg 1979, 254. Die Neuauflage Zürich 1998 lag mir noch nicht vor. - Bereits im 16. Jahrhundert wurden Hände auf Steinsäulen (vgl. Eugen Ehmann: Markt und Sondermarkt. Zum räumlichen Geltungsbereich des Marktes im Mittelalter, Nürnberg 1987, 116 - 149) als Zeichen zu ewiger gedechtnus und langwiriger schand der Stadt Freiburg interpretiert. Sie sollen an den Abfall von den Grafen von Fürstenberg und dabei geschworene Meineide erinnern, glaubt man der Zimmerischen Chronik: Zimmerische Chronik. Nach der von Karl Barack besorgten zweiten Ausgabe, hg. von Paul Herrmann, Bd. 1, Meersburg/ Leipzig 1932, 201. 221 Uwe Heckert: Die Ausstattung des Großen Saales im alten Erfurter Rathaus. Ein Beitrag zum politischen Selbstverständnis eines Stadtrats in späten Mittelalter, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 303 - 318, hier: 305. 222 Vgl. Klaus-Dieter Hoppe, in: Hanse, Städte, Bünde (wie Anm. 97), 83 mit Abb. 84; derselbe: in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, Bd. 2, Hamburg 1989, 435; Adalbert Erler: Leibzeichen, in: HRG 2 (1978), 1802 - 1804. An sich war eine Bestattung des Leibzeichens vorgesehen, vgl. die Ritualbeschreibung bei Heinrich Rüthing: Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft, Paderborn 1986, 415. <?page no="278"?> Das leckt die Kuh nicht ab 279 schenhände in Kirchen im pommerschen Buchholz und in Prag galten als Hände von Kirchenräubern 223 . Keine deutschen Belege existieren anscheinend für die flandrische und niederländische Praxis im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit, als Nebenstrafe bei Gewalt- und Verbaldelikten gegen die Obrigkeit zum dauernden Andenken die Anfertigung von bronzenen oder silbernen Objekten, Köpfe oder Fäuste, mit erklärendem Text aufzuerlegen. Vorbild dieses Brauchs könnte die Stiftung frommer Votivgaben sein. Die Objekte wurden »im Schöffenhaus ausgestellt oder in der Kirche zur Erinnerung und zur Erbauung« 224 . Im Erfurter Rathaus zeigte man 1831 die Kutte eines Mönchs, der 1472 Erfurt ansteckte 225 . An der Stelle seiner Hinrichtung sei zum immerwährendem Gedächtnis ein Steinkreuz errichtet worden, liest man in einer Thüringer Sagensammlung 226 . Eine Parallele wäre der auf einer Karte von 1769 eingezeichnete Galli-Küng-Bildstock, der bis zum 19. Jahrhundert am Rhein bei Lustenau in Vorarlberg stand und an die Untaten des 1552 als »Mordbrenner« hingerichteten Landsknechts Galli Küng erinnerte 227 . 1788 schlug ein aufgeklärter Jurist, der sich Gedanken über die Ignoranz des Volkes gegenüber der Strafjustiz machte, vor, »Merkmale öffentlicher Strafen an den Landstraßen zu errichten, und zwar am Orte z.B. eines Mordes« 228 . Die zahlreich überlieferten mittelalterlichen Steinkreuze 229 , die diesen Vorschlag inspiriert haben mögen, sind jedoch nicht als Abschreckung zu verstehen, sie dienten - insbesondere als Sühneleistung bei Todschlägen - primär dem Gedenken, der Totenmemoria der Opfer 230 . Ob sich hieb- und stichfeste zeitgenössische Belege für 223 Mailly: Rechtsaltertümer (wie Anm. 180), 122f. Vgl. jetzt auch Helmut Heckmann: Eine »tote Hand« im Besitz des »Historischen Vereins für Geldern und Umgegend«, in: Geldrischer Heimatkalender 1996, 186 - 193; Rudolf Schenda: Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper, München 1998, 364 - 366 und die bei Leander Petzoldt: Sagen von Rittern, Räubern, Bauern und Heiligen. Historische Sagen, München 1994, 284 - 286 zu Nr. 214 (»Die Hand aus dem Grabe«) angegebene volkskundliche Literatur. Dort zu ergänzen: Lenz Kriss-Rettenbeck: Ex Voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum, Zürich 1972, 20 - 25. 224 de Win: Rechtsarchäologie (wie Anm. 102), 45. Vgl. dazu ausführlich derselbe: De schandstraffen (wie Anm. 146), 215-221 (»Schandstrafstukken«). Vgl. auch Egied Strubbe: Een opstandige schuldenaar te Westvleteren 1551, in: Derselbe: De luister van ons oude recht, Brüssel 1973, 567-571 (Faust und Inschriftentafel als Strafe). 225 Heckert: Ausstattung (wie Anm. 221), 305. 226 Paul Quensel (Hg.): Thüringer Sagen, Augsburg 1998, 151f. 227 Spicker-Beck: Räuber (Anm. 88), 118. Einzige Quelle ist anscheinend der Eintrag Galli Küngsbild auf der ebd., 119 abgebildeten Karte von 1769, aus dem Ludwig Welti, in: Lustenauer Heimatbuch Bd. 1, Lustenau 1965, 97, schließen wollte, der Bildstock habe die Moritat Küngs »in Wort und Bild« festgehalten und demVolk Anlaß für eine Sage geboten. Es dürfte sich in Wirklichkeit um einen Gedenkstein für den bei einem Raubüberfall Küngs im Rhein umgekommenen Welschen handeln. Für Hilfe danke ich Monika Spicker-Beck, Freiburg. 228 Koch: Strafrechtsbelehrung (wie Anm. 92), 21 nach dem lateinischen Text von J. F. Schott: De ignorantia populi circa poenas earum vim impediente specimen, Diss. jur., Leipzig 1788. 229 Vgl. zusammenfassend Wolfgang Leiser: Steinkreuz, in: HRG 4 (1990), 1948f. Auf die im 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichneten Steinkreuzsagen, von denen die Kreuze oft als Erinnerungsmale an Verbrechen gewertet werden, kann ich hier nicht eingehen, vgl. etwa Bernhard Losch/ Marlies Jörling: Entfremdete Information. Sühne- und Gedenkkreuze in der volkstümlichen Überlieferung, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 4 (1991), 273 - 293; Werner Müller: Zur Verbreitung von Kreuzsteinsagen und -motiven in Niedersachsen. Ein Überblick, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 52 (1984), 57 - 75. 230 Vgl. dazu jetzt ausführlich Poeck: Sühne (wie Anm. 82). <?page no="279"?> Klaus Graf 280 die Aufstellung von Steinkreuzen zum Zweck der Verbrechensprävention finden lassen, bleibt abzuwarten. Quellenkritik tut not. Es ist im vorstehenden deutlich geworden, daß dies nicht nur für die Gerichtsquellen in den Archiven gilt, sondern auch für die erhaltenen oder schriftlich dokumentierten Zeugnisse der materiellen Kultur. Doch sollte man bei dem Nachweis stehenbleiben, daß die vermeintlichen Erinnerungsmale gar nicht so selten Fiktionen, nämlich Resultate neuzeitlicher Traditionsbildung sind 231 ? Indem die Traditionen retrospektiv bewußt gesetzte Gedenkzeichen denkwürdiger Straffälle entdekken wollen, setzen sie die Praxis prospektiver Verewigung für die Nachwelt voraus. Da die reale Ausführung von Schanddenkmalen extrem selten vorkam, bedienten die narrativen Fehldeutungen und Mißverständnisse den weitverbreiteten Wunsch nach »Symbolen«, nach anschaulicher Vergegenwärtigung exemplarischer Strafjustiz in Form von Erinnerungzeichen. Die Tradition neigte zur Strafverschärfung: 1425 wurden in Halberstadt vier Aufrührer enthauptet; die »erinnernde Sage« aber wollte von einer Vierteilung eines Anführers wissen 232 . Solche Überlieferungen demonstrieren nicht etwa das lange »Gedächtnis des Volkes«; sie setzen in der Regel gelehrtes historisches Wissen voraus und ihre Träger sind eher in der Oberschicht, im Umkreis des Magistrats, bei Lehrern, Pfarrern und Honoratioren zu suchen als unter einfachen Leuten 233 . Obrigkeitliche Verewigungspraxis und populare »Wahrzeichen«-Kunde sind aufeinander zu beziehen als Teile eines gemeinsamen gesellschaftlichen Diskurses über die Ahndung schwerster Verbrechen. Die Einbeziehung der Kategorie »ewiges Gedächtnis« in das Ritual des Strafens wurde ebensowenig konsequent gehandhabt wie das Strafen selbst. Mitunter akzentuierte die Erwähnung des ewigen Gedächtnisses eine besonders exemplarische Bestrafung, wenn es beispielsweise in der Präambel des Kölner Transfixbriefs von 1513 über die Aburteilung von Herren des alten Regiments heißt, sie sei »für alle ihre Nachkommen als warnendes Beispiel und zum ewigen Gedächtnis« erfolgt 234 . Meistens entschied man offenbar ad hoc, wie der Abschreckungseffekt von Strafen durch Wirkung auf das Gedächtnis der Zeitgenossen oder der Nachwelt zu verstärken war. Selten genug fixierte die Obrigkeit ihre Überlegungen schriftlich: 1582 wurde in Nürnberg der Kopf einer Kindsmörderin am Hochgericht angeheftet, damit der abscheuliche Anblick in längerer gedächtnus bliebe als beim Ertränken 235 . Auch wenn meine Beispielsammlung mit Sicherheit vermehrt werden kann, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß Obrigkeiten nur höchst sporadisch das ewige Gedächtnis bemühten. Als publikumswirksame Steigerungsform und Strafverschärfung im Sinne einer ewigen Entehrung demonstrierte die Bewahrung eines dauernden Gedächtnisses an bestimmte Straftaten vor allem in der Frühen Neuzeit exemplarische Härte. Mediale Präsenz in der Publizistik flankierte häufig die Anschaulichkeit der gegenständlichen Erinnerungszeichen: Es ging um »Justiz-Pädagogik« im Dienste der Generalprävention. 231 Methodisch anregend zur Geschichte einer juristisch-literarischen Fiktion: Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion, Düsseldorf/ Zürich 1996. 232 Wilfried Ehbrecht: Die Halberstädter Schicht 1423 - 1425: Zwietracht in der Einwohnerschaft einer Bischofsstadt oder das Ringen zwischen Stadtherrschaft und Bürgergemeinde, in: Hanse, Städte, Bünde (wie Anm. 97) Bd. 1: Aufsätze, 322 - 337, hier: 332. 233 Vgl. oben Anm. 199. 234 Der Name der Freiheit (wie Anm. 141), 457. 235 van Dülmen: Theater (wie Anm. 175), 231 Anm. 46. <?page no="280"?> Das leckt die Kuh nicht ab 281 Die pathetische Berufung auf die Ewigkeit läßt sich mit der von Gerd Schwerhoff konstatierten »Dialektik von Exempelstrafe und Sanktionsverzicht« 236 in Verbindung bringen. Wer gelegentlich spektakulär und aufsehenerregend strafte, konnte im Normalfall Milde an den Tag legen. Das ewige Gedächtnis erweist sich somit als Teil jenes Abschreckungsapparats, den die neuere Forschung immer mehr als Theaterkulisse erkennen will, hinter der viele Konflikte anderweitig geregelt werden konnten. Anekdotisch wird der Illusionsaspekt vormoderner Strafpraxis angesprochen in einer Beispielerzählung, die sich in Christoph Lehmanns 1630 erstmals erschienener Sprichwörtersammlung vorfindet. Von Herzog Alfons von Ferrara heißt es dort, er habe Hirschgeweihe bei Hingerichteten aufgehängt, obwohl er wegen Jagens niemand mit dem Tode bestraft habe 237 . Retrospektive: Der »historische« Diskurs über das Strafen 1824 wurde aufgrund eines Urteils des Malefizgerichts des Kantons Zürich ein Bauernhaus in Wildensbuch, in dem religiöser Rausch zur Tötung von zwei Menschen geführt hatte, niedergerissen. Das Urteil bestimmte, daß auf dieser Stelle niemals mehr ein Wohnhaus aufgeführt werden solle 238 . Lorenz Laubenberger kommentiert: »Die Besonderheit dieses Falles liegt darin, daß die eidgenössischen Richter in einer Situation, die aufgrund der Aufhebung des aufgeklärten code pénal die Möglichkeit ›freier‹ Rechtsgestaltung bot, zu einem auf archaisierenden Rechtsempfinden beruhenden Urteil kamen« 239 . Es waren unter anderem Wüstungsrituale, mit denen die Auffassung vom Wiederaufleben älterer Rechtsformen im Kontext der sogenannten »Volksjustiz« belegt wurde. Von der »Wiedergeburt alter Rechtsgedanken aus der Volksseele« sprach Eberhard Freiherr von Künßberg 240 , und auch der Volkskundler Karl-Sigismund Kramer glaubte feststellen zu können: »In Akten der Volksjustiz brechen häufig höchst altertümliche Züge hervor« 241 . Für Künßberg erfolgte der Rückgriff unbewußt und gleichsam instinktiv. Aber wie konnte das Volk um das alte Recht wissen 242 ? In der Antike habe man archaisierende Strafjustiz in der Tat praktiziert, entnimmt man einem Aufsatz Manfred Fuhrmanns zur Funktion antiquarischer Forschung im spätrepublikanischen Rom 243 . So sollte 63 v.Chr. C. Rabirius auf Betreiben Cäsars mit 236 Schwerhoff: Köln (wie Anm. 31), 172. Vgl. auch die in Anm. 189 angeführte Auffassung von Wolfgang Schild. - Seit wann und in welchen Kontexten eine explizite Berufung auf den Exempelcharakter der Strafe üblich war, ist, wenn ich recht sehe, noch nicht untersucht worden; zu französischen Belegen vom Anfang des 15. Jahrhunderts vgl. Claude Gauvard: Pendre et dépendre à la fin du Moyen Age: les exigences d'un rituel judiciaire, in: Jacques Chiffoleau/ Lauro Martines/ Agostino Paravicini Bagliani (Hg.): Riti e rituali nelle società medievali, Spoleto 1994, 91 - 211, hier: 198 - 200. 237 Christoph Lehmann: Florilegium politicum (...). Faksimileausgabe, hg., von Wolfgang Mieder, Bern/ Frankfurt/ New York 1986, 740. 238 Anton Largiadèr: Ein später Fall von strafrechtlicher Wüstung, in: ZRG GA 72 (1955), 244-253, hier: 244. 239 Laubenberger: Wüstung (wie Anm. 154), 1590. 240 Eberhard Freiherr von Künßberg: Rechtsgeschichte und Volkskunde, bearb. von Pavlos Tzermias, Köln/ Graz 1965, 59; vgl. auch derselbe: Rechtserinnerung (wie Anm. 78), 589: »Stürmisch begehrtes altes Recht ist bei seiner siegreichen Durchführung auch von längst vergangenen Rechtsmitteln begleitet: Selbsthilfe, Wüstung und Fronung, Blutrache leben wieder auf«. 241 Kramer: Problematik (wie Anm. 70), 63. 242 Eine mögliche Antwort legt das von Suter: Bauernkrieg (wie Anm. 64), 405-455 vorgestellte Material zur Bedeutung historischer Rückgriffe für die aufständischen Schweizer Bauern im 17. Jahrhundert nahe. <?page no="281"?> Klaus Graf 282 einem höchst altertümlichen Exekutionsritual hingerichtet werden, dessen Schrecknisse, so der Verteidiger des Angeklagten Cicero, aus historiographischen Quellen zusammengesucht worden seien 244 . Der Rückgriff transponiert, so Fuhrmann, »hocharchaische Rituale von grausiger Feierlichkeit in eine Welt, in der nur noch Spezialisten wissen, daß es einmal dergleichen gegeben hat« 245 . Der Strafrechtshistoriker Hans von Hentig bemühte 1957 für die Erklärung des von ihm konstatierten Wiederauflebens der Strafe des Lebendigbegrabens in Mecheln 1537 bis 1556 eine Krisentheorie: »Dieser Rückgriff auf alte Strafarten ist das Symptom einer kollektiven Gleichgewichtsstörung« 246 . Man tut sich allerdings schwer, solche Rückgriffe (»revivals«) methodisch einwandfrei nachzuweisen 247 . Wurde eine Strafe sehr selten vollstreckt, so könnte der zeitliche Abstand zur vorhergehenden Anwendung der Strafe dazu verleiten, von einem Rückgriff zu sprechen. Nicht alles, was »altertümlich« oder anachronistisch anmutet, ist ein Rückgriff. Es kann sich auch um ein Relikt handeln, um das Überbleibsel (»survival«) einer früheren Praxis. Mitunter spricht man auch von »Traditionsgebundenheit« oder »Konservativismus«. Vielfach beläßt man es bei der Feststellung eines solchen Befundes der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«, ohne sich über die Gründe der Beibehaltung des Überlebten Gedanken zu machen. Die anachronistischen Roben der Richtertracht 248 sind Würdeformeln, die mit ihrem retrospektiven Distanzsignal Feierlichkeit erzeugen sollen und damit in ähnlicher Weise wie die prospektive Verewigung ein pathetisches Ausrufezeichen setzen. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Norm und Strafpraxis hat man wohl nicht selten bewußt in Kauf genommen: »Alte grausame Strafen werden zwar nicht mehr ausgeführt, aber doch genannt. Statt die alten als zu streng empfundenen Strafmasse durch neue zu ersetzen, läßt man sie formell, als Rechtsformeln, noch weiter gelten und verweist auf den Weg der Strafmilderung durch den Gerichtsherrn, des privaten Verhandelns und Vergleichens mit diesem« 249 . Ein eindeutiges deutsches Beispiel für den Vollzug einer antiquierten und längst obsoleten Strafe ist mir zwar noch nicht bekannt, doch hat man für die Frühe Neuzeit generell mit der Existenz archaisierender oder historisierender Phänomene zu rechnen. So erhielt im 17. Jahrhundert die Effigies-Strafe, die stellvertretende Bestrafung des Bildnisses, nach Auffassung von Wolfgang Brückner »nachträglich ein historisierendes Fundament in der für römisch angesehenen damnatio memoriae« 250 . Ein ähnlicher Fall liegt vor bei Wiederaufnahme der altrömischen Strafe des Säckens (»poena culnei«) im Zuge der mittelalterlichen Rezeption des römischen Rechts 251 . 243 Manfred Fuhrmann: Erneuerung als Wiederherstellung des Alten. Zur Funktion antiquarischer Forschung im spätrepublikanischen Rom, in: Reinhart Herzog/ Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, 131 - 151, besonders 131 - 133, 147f. 244 Ebd., 131f. 245 Ebd., 133. 246 von Hentig: Schriften (wie Anm. 101), 181. 247 Zur methodischen Problematik vgl. Klaus Graf: Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des Historikers, in: Mundus in imagine (wie Anm. 197), 389 - 420. 248 Vgl. ebd., 408 mit Anm. 104. 249 Markgraf: Volk (wie Anm. 68), 521. 250 Brückner: Bildnis (wie Anm. 42), 258. 251 Vgl. Christina Bukowska Gorgoni: Die Strafe des Säckens - Wahrheit und Legende, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 2 (1979), 145 - 162. <?page no="282"?> Das leckt die Kuh nicht ab 283 Wenn 1702 der Nürnberger Rat auf die längst nicht mehr übliche Pfählung bei lebendigem Leibe zurückkam, sie in einem Dekret den Kindsmörderinnen androhte und sich 1745 das Kieler Kollegium bei der Behandlung eines konkreten Falls in rechtshistorischen Ausführungen zur gleichen Strafart erging 252 , so werfen diese Belege die Frage nach der Rolle des »historischen« Diskurses über das Strafen in der Strafpraxis auf. Es geht also um die retrospektive Dimension der Erinnerungskultur, den zeitgenössischen Blick zurück auf die eigene Geschichte. Im Grunde genommen kann hier nur eine große Forschungslücke markiert werden, denn allzu unzulänglich ist der gegenwärtige Kenntnisstand über die Anfänge und die Entwicklung des rechtshistorischen Diskurses in Mittelalter und Früher Neuzeit 253 . Beginnt die Geschichte der deutsche Rechtsgeschichte erst mit der humanistischen Jurisprudenz oder vielleicht schon im 15. Jahrhundert mit Nikolaus von Kues 254 ? Die verbreitete Ansicht, die mittelalterlichen Juristen hätten keinen Sinn für die historische Dimension des Rechts, seine Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit, besessen 255 , trifft jedenfalls nicht zu 256 . Das Problem der historischen Distanz hat nicht erst jene frühneuzeitlichen Autoren beschäftigt, die sich über die fortdauernde Gültigkeit des mosaischen Strafrechts den Kopf zerbrachen 257 . Otto Herding wollte das »Bewußtsein von der zeitlichen Distanz und der Andersartigkeit der zeitlich entfernten Welt, die man nicht durch Glossen zeitgemäß machen, sondern nur in voller Erkenntnis ihrer entfernten Hoheit verehren kann« zum Humanismus-Kriterium erheben 258 . Humanisten wären dann aber auch die Kanonisten des 12. Jahrhunderts, die mit der Maxime Non imitanda set veneranda die rechtliche Präzedenzfallfunktion bestimmter heikler biblischer Exempla zurückwiesen 259 . Zufallsfunde sollen verdeutlichen, worauf die künftige Forschung zu achten hätte. Schon im 15. Jahrhundert hat man sich mitunter mit älterem Recht intensiv auseinandergesetzt. Rechtsnormen der westfälischen Femegerichtsbarkeit von 1431 und 1433 252 Dieter Feucht: Grube und Pfahl. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Hinrichtungsbräuche, Tübingen 1967, 69, 71f. 253 Dies betont auch Joachim Knape: Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457 - 1521, Baden-Baden 1992, 367f. Anm. 82 (mit wichtigen Literaturhinweisen). 254 Zu Cusanus als »Rechtshistoriker« vgl. die zuletzt bei Gadi Algazi: Ein gelehrter Blick ins lebendige Archiv. Umgangsweisen mit der Vergangenheit im fünfzehnten Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 317 - 357 zusammengestellte Literatur. 255 Vgl. z.B. Bernard Guenée: Histoire et Culture historique dans l'Occident médiéval, Paris 1980, 33 - 35 und vorsichtiger Chris Wickham: Lawyers Time: History and Memory in Tenthand Eleventh-Century England, in: Henry Mayr-Harting/ Robert Ian Moore (Hg.): Studies in medieval history presented to R. H. C. Davis, London/ Ronceverte 1985, 53 - 71, hier: 64. 256 Vgl. Donald R. Kelley: Clio and the Lawyers. Forms of historical consciousness in medieval jurisprudence, in: Derselbe: History, Law and the Human Sciences, London 1984, 25 - 49. Vgl. auch Graf: Retrospektive Tendenzen (wie Anm. 247), 410. Zur Diskussion über die Veränderbarkeit des Rechts und das »gute alte Recht« im Mittelalter vgl. die Literaturhinweise bei Andermann: Recht (wie Anm. 197), 434f., Anm. 53. 257 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln/ Weimar/ Wien 1997, 201 - 215. Zentraler Punkt der Kritik Luthers und Melanchthons am mosaischen Recht war der »historische Abstand« (202). 258 Otto Herding: De Jure Feudali, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28 (1954), 287 - 323, hier: 298. 259 Vgl. Bruce C. Brasington: Non imitanda set veneranda: The Dilemma of Sacred Precedent in Twelfth- Century Canon Law, in: Viator 23 (1992), 135 - 152. <?page no="283"?> Klaus Graf 284 sind nach Theodor Lindner »das Ergebnis einer Art von gelehrter Forschung« 260 . Ein gelehrter Jurist ist wohl auch für die explizite Berufung auf eine stauferzeitliche Norm des Fehderechts, nämlich Kaiser Friderichs Barbarossä zue Nieremberg im Jahr 1187 gemachte (...) Satzung, verantwo