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Mobilität und Migration in der Region

1120
2013
978-3-8649-6370-4
978-3-8676-4443-3
UVK Verlag 
Dr. Reinhard Baumann
Rolf Kießling

>Migration< ist in aller Munde, sei es um die Zuwanderung aus anderen Staaten oder Kulturräumen zu beschreiben, sei es um die Binnenwanderung innerhalb des eigenen Staates oder Landes zu erfassen. Über der Diskussion gegenwärtiger Phänomene vergisst man gerne, dass Migration seit jeher ein Merkmal der Gesellschaft war und jede historische Epoche ganz spezifische Formen kennt. Der vorliegende Band - die Dokumentation einer Tagung des Memminger Forums im Jahr 2011 - spannt den Bogen von den mittelalterlichen Wanderungen des Klerus und der Rekrutierung von Söldnern über die Mobilität der bürgerlichen Oberschicht oder den Umgang mit den Außenseitern der >Zigeuner< in der Frühen Neuzeit bis zu den massenhaften Anwerbungen auswärtiger Arbeiter in der Industrialisierung und der politisch bedingten Vertreibung bzw. Abwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Ansatz, die verschiedenartigen Erscheinungsformen in ihrer regionalen Dimension zu erfassen, erweist sich auch bei diesem Thema als aufschlussreich und eröffnet Einsichten zur Vertiefung der aktuellen Diskussion.

<?page no="1"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Rolf Kießling im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 10 <?page no="2"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 10 Mobilität und Migration in der Region Herausgegeben von Reinhard Baumann und Rolf Kießling UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="3"?> Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen und der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau. Abbildung auf der Einbandvorderseite: Memmingen von Osten mit dem Einzug der Salzburger Emigranten 1731. Kupferstich von Elias Bäck, Augsburg, aus: „Kurtze Historie der Evangelischen Emigranten ...“, verlegt bei Elias Fridauer, Buchbinder in Memmingen, 1733. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-86496-370-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Vorwort Dass wir heute in einer mobilen Gesellschaft leben, wird von den meisten als großer Vorteil gesehen; wenn aber zahlreiche Flüchtlinge und Asylanten untergebracht und versorgt werden sollen, erscheint das vielen als Belastung, die steigende Zahl von ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ gar als Gefahr. Dabei war Migration immer ein Phänomen der Menschheitsgeschichte und die verschiedenen kleineren und größeren Wanderungsströme forderten die jeweils sesshafte Bevölkerung immer dazu heraus, sich mit den ›Anderen‹ auseinanderzusetzen. Die 13. Tagung des ›Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte‹ vom 18.-20. November 2011 griff vor allem solche Erscheinungsformen der Mobilität und Migration heraus, die bisher nur wenig Beachtung fanden, aber geeignet sind, die Dynamik gerade in den regionalen Lebensverhältnissen aufzuzeigen: sei es durch tendenzielle Abwanderungen, um den Lebensunterhalt zu sichern, sei es durch Zuwanderungen von neuen Gruppen, die die lokalen Gesellschaften prägten, sei es durch die permanente Mobilität, die einigen Minderheiten aufgezwungen wurde. Es ging darum, die Erfahrungen der Menschen aufzuspüren, die Probleme und Chancen für das Zusammenleben zu diskutieren und damit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion aus der Tiefe der Geschichte zu leisten. Nach wie vor gilt, dass wissenschaftliche Tagungen der Mäzene bedürfen, und wir schätzen uns glücklich, dass wir mit der Stadt Memmingen einen solchen an unserer Seite wissen. Großzügig finanzierte Memmingen erneut den wissenschaftlichen Diskurs in seinem Rathaus und die Drucklegung der Tagungsergebnisse; deshalb sei dem Oberbürgermeister Dr. Ivo Holzinger und dem Stadtrat an erster Stelle Dank gesagt. Weitere Unterstützung erhielten wir von der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau; auch ihr gebührt unser Dank. Mein Dank gilt aber nicht zuletzt den Autoren für ihre Vorträge und die Bereitschaft, sie in Leseform zu gießen, und meinem Mitherausgeber Reinhard Baumann für seinen umsichtigen Part bei der Redaktionsarbeit. Und gerne danke ich erneut dem Team, das für die Buchherstellung verantwortlich zeichnet: Frau Angela Schlenkrich, die in bewährter Weise das Layout erstellt hat, Frau Uta Preimesser für die wie immer kompetente verlegerische Betreuung und dem Memminger MedienCentrum für die sorgfältige Drucklegung. Bonstetten b. Augsburg, im September 2013 Rolf Kießling <?page no="6"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 R EINHARD B AUMANN / R OLF K IESSLING Einführung 11 T HOMAS K RÜGER Motive und Probleme mittelalterlicher Kleriker- und Religiosenmigration. Beispiele aus dem Bistum Augsburg im europäischen Vergleich 23 S TEFAN S ELZER Wünsche und Bilanzen südwestdeutscher Italiensöldner des 14. Jahrhunderts 45 R EINHARD B AUMANN Feldzugs- und Gartmigration von Kriegsleuten im 16. Jahrhundert 65 M ARK H ÄBERLEIN Pilger, Studenten, Handelsreisende und Glaubensflüchtlinge: Migration und Mobilität in Augsburger Familienbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts 85 F RANK K LEINEHAGENBROCK Konfessionell bedingte Migration im Süden des Alten Reiches 105 A NDREAS L INK Deferegger in Augsburg. Kirchenbücher als Quelle der Migrationsforschung 127 S ABINE U LLMANN Siedlungsgeschichte als Migrationsgeschichte. Zur Entwicklung der jüdischen Niederlassungen in Schwaben während des 16. und 17. Jahrhunderts 163 <?page no="7"?> 8 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Illegale Migration als Lebensform: ›Zigeuner‹ zwischen Arlberg und Bodensee im 18. Jahrhundert 187 M ARCEL M AYER Immigration nach St. Gallen zur Zeit der Stickereiblüte 1870-1914 229 M ANFRED H EERDEGEN Zwangsmigration als Folge des Zweiten Weltkriegs: Wanderschicksale und Integration von Vertriebenen 249 P HILIP Z ÖLLS München - Weltstadt mit Migrationshintergrund 277 S ABINE A LBRICH -F ALCH Südtiroler Arbeitsmigration der 1950/ 60er Jahre mit einem genaueren Blick auf das Zielgebiet Vorarlberg 299 Autorenverzeichnis 323 Nachweis der Abbildungen 325 <?page no="8"?> 9 Abkürzungsverzeichnis ACTn Archivio Comunale Trient ANIM Archiv des Neugablonzer Industrie- und Schmuckmuseums Augsburger Stadtlexikon Augsburger Stadtlexikon, hg. von Günther G RÜN - STEUDEL u. a., 2. neu bearb. Aufl. Augsburg 1998 BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv BCTn Biblioteca Comunale Trient Bü. Büschel BundesA Bundesarchiv DekA Augsburg Archiv des Dekanats und der Ev.-Luth. Gesamtkirchenverwaltung Augsburg FS Festschrift GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HAB S Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben HBEKB Handbuch der evangelischen Kirche in Bayern HJb Historisches Jahrbuch HoA Hohenems Akten HStASt Hauptstaatsarchiv Stuttgart HZ Historische Zeitschrift IfZ Institut für Zeitgeschichte IPO Instrumentum Pacis Osnabrugense JVAB Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte LFlüV Landesflüchtlingsverwaltung MGH (SS) Monumenta Germaniae Historica (Scriptores) NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge OMGB Office of Military Government for Bavaria OMGUS Office of Military Government for Germany (U. S.) PfA Pfarrarchiv SdA Sudetendeutsches Archiv StaatsA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StK Staatskanzlei SuStBA Staats- und Stadtbibliothek Augsburg UB Universitätsbibliothek Veröff. Veröffentlichungen <?page no="9"?> 10 ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZHF Zeitschrift für Historische Forschung ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben ZWLG Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte <?page no="10"?> 11 R EINHARD B AUMANN / R OLF K IES SLING Einführung ›Migration‹ ist heute in aller Munde - er ist ein Allerweltsbegriff geworden, der permanent in den Medien traktiert, in Talkshows dekliniert und an Stammtischen hin- und hergewendet wird, so dass der Eindruck entstehen muss, es handle sich nicht nur um ein wichtiges, sondern womöglich um ein neues Phänomen. Dann könnte man sogar annehmen, in der Vergangenheit sei die Gesellschaft eher homogen oder gar statisch gewesen. Die Unschärfe dieser allgegenwärtigen Begriffsverwendung lässt zudem vieles verschwimmen; so wird etwa bei der Frage nach den zugehörigen Raumeinheiten eine gewisse Beliebigkeit erkennbar, denn regionale Mobilität, Wanderungen innerhalb einer Nation oder zwischen solchen in Europa und globale Migration werden nur unzulänglich unterschieden, Zugehörigkeiten zu anderen Religionen oder Kulturkreisen als eindimensionale Bestimmungsmerkmale für die an Wanderungsbewegungen Beteiligten verwendet. Besonders problematisch erscheint allerdings, dass sich sehr schnell Bewertungen einstellen: Der ›Andere‹ wird zum ›Fremden‹ hochstilisiert und seine Existenz in der eigenen Umgebung in Frage gestellt. Dass ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ einen immer noch zunehmenden Teil unserer Gesellschaft ausmachen, gleich an welchem Ort, in welcher Region oder in der ganzen Nation, erscheint dann oft eher als Bedrohung denn als Selbstverständlichkeit, so dass der Ruf nach Integration im Sinne einer Forderung nach Anpassung erhoben wird was immer damit verbunden wird. Der Begriff ›Migration‹ bedeutet zunächst einmal nichts anderes als eine elementare Kategorie zur Analyse von gesellschaftlichen Vorgängen der Wanderung. Ganz generell zielt er auf Prozesse räumlicher Bewegung von Menschen, die sich als mehr oder weniger dauerhaft erweisen und wegen ihrer zumindest relativen ›Endgültigkeit‹ erhebliche Auswirkungen auf die beteiligten gesellschaftlichen Gruppen haben, und zwar an den Ausgangspunkten wie an den Zielorten. Die Forschung hat zwar anfangs vor allem die Moderne ins Blickfeld genommen, 1 doch die historisch ausgerichteten Fragestellungen haben seit langem nicht nur auf 1 Stellvertretend genannt seien die bahnbrechenden Arbeiten von K LAUS J. B ADE , Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880 1980, Berlin 1983; D ERS ., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; D ERS . u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn-Wien 2007. <?page no="11"?> R EINHA R D B AU MANN / R OLF K IES S LING 12 die Vielfältigkeit von Migrationen verwiesen 2 und dabei immer wieder betont, dass es sich um ein generelles Phänomen der Menschheitsgeschichte handelt - und es somit darauf ankommt, die situations- und zeitbezogenen Spezifika zu erfassen und zu analysieren. 3 Dabei werden sehr unterschiedlichen Dimensionen erfasst: die Nah- und Fernwanderung, angefangen von der Land-Stadt-Migration oder regionalen Wanderbewegungen zu neuen Lebens- und Arbeitsräumen im Mittelalter, über die ›klassische‹ Überseewanderung aus Europa in die ›Neue Welt‹ bis hin zu den globalen Phänomenen der Gegenwart. Die Suche nach den bestimmenden Faktoren reicht demgemäß von demographischen und ökonomischen Auslösern - das bekannte push-and-pull-Modell, das nicht zuletzt bei der Einwanderung in die USA im 18./ 19. Jahrhundert lange dominierte - über religiös bedingte Auswanderungen etwa der französischen Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes oder der Salzburger Emigranten bis hin zu politischen Ursachenzusammenhängen, unter denen die Massenmigrationen, die aus den internationalen Konflikten des 20. Jahrhunderts resultierten, besonders gravierend waren. Damit hängt wiederum die Frage nach Freiwilligkeit oder Zwang zusammen, nach den Erwartungen und Erfahrungen der beteiligten Menschen. Besonderes Gewicht erhielt von Anfang an die Untersuchung von Eingliederungsprozessen: die Kettenwanderung, die Bildung von Einwandererkolonien, die Mechanismen der Isolation oder Vermischung und deren soziale Folgen sowie des kulturellen Austauschs. Mit dem Spannungsfeld von ›Inklusion und Exklusion‹ wurde in jüngerer Zeit das Problemfeld der Akzeptanz und Ausgrenzung von ›Fremden‹ weiter vertieft. 4 Dies verbindet sich eng mit der Unterscheidung von ›Assimilation‹, bei der die mehr oder weniger freiwillige Anpassung von Zugewanderten an die Lebensformen ihrer neuen Umwelt im Mittelpunkt stand, und der ›Akkulturation‹, bei der religiöse oder ethnischen Gruppierungen in einer offenen Wechselbeziehung mit ihrer neuen Gesellschaft gesehen werden. Das Problem der Aufgabe der eigenen Identität auf der einen Seite und die Bereitschaft der Angleichung von Lebensverhältnissen in wechselseitiger Akzeptanz von Unterschiedlichkeit wurde nicht zuletzt in den letzten Jahrzehnten bei der Analyse der jüdischen Geschichte des 18./ 19. Jahrhunderts sehr deutlich herausgehoben. 5 2 Vgl. dazu etwa die 1991 gegründete Reihe der ›Stuttgarter Beiträge zur Historischen Migrationsforschung‹, Münster 1991ff., hg. von A NDREAS G ESTRICH u. a. 3 Vgl. dazu jüngst D IRK H OEDER , Geschichte der deutschen Migration vom Mittelalter bis heute, München 2010; S YLVIA H AHN , Historische Migrationsforschung, Frankfurt-New York 2012; J OCHEN O LTMER , Globale Migration - Geschichte und Gegenwart, München 2012. 4 Vgl. dazu den Trierer SFB 600 ›Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart‹. 5 Auch dazu nur zwei beispielhafte Titel: J ACOB K ATZ , Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770 1870, Frankfurt/ Main 1986; S HULAMIT V OLKOV <?page no="12"?> E INFÜHR UNG 13 In diesem riesigen Feld historischer Phänomene und Fragestellungen wollte das ›Memminger Forum‹ mit seiner Tagung wie immer das Augenmerk gezielt auf die Regionalität wenden, auf den Versuch, die allgemeinen Phänomene im begrenzten Raum aufzuspüren und aus der Kenntnis des Regionalen zu ihrer tieferen Erkenntnis beizutragen. Es fällt auf, dass diese regionale Dimension der Migration deutlich unterbelichtet ist. Sehr häufig greifen Einzelstudien ein generelleres Phänomen mit einem lokalen oder regionalen Beispielfall auf, 6 aber dezidiert regionale Ansätze, wie sie etwa vor kurzem für den Ostseeraum thematisiert wurden, 7 sind eher selten. Auch für Schwaben bietet die bisherige Forschung einige Ansätze, bei denen sich drei Schwerpunkte deutlich abzeichnen. Der erste nimmt die Migrationen in der Frühen Neuzeit in den Blick: Besonders auffällig erscheint dabei eine landschaftsspezifische Zuwanderung vorwiegend von Tirol und Vorarlberg nach Schwaben, die durch die demographische Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges verursacht wurde, nachdem regional über die Hälfte, in einzelnen Orten bis zu zwei Drittel der Bevölkerung eingebüßt wurde. 8 Teilweise parallel dazu wird das (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 25), München 1994. 6 Nur einige Beispiele seien genannt: A NDREAS G ESTRICH / H ARALD K LEINSCHMIDT / H OLGER S ONNABEND (Hg.), Historische Wanderungsbewegungen. Migration in Antike, Mittelalter und Neuzeit (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 1), Münster 1991, mit Beispielen von den Kelten über die Situation von Migranten im Römischen Reich, die mittelalterliche Rodung oder das medizinische Fachpersonal in mittelalterlichen Städten bis zur pietistischen Wanderung nach Russland im 19. Jahrhundert und zu den Emigranten in Bayern nach 1945. Zum Problemfeld Religion jüngst C LAUDIA K RAFT / E BERHARD T IEFENSEE (Hg.), Religion und Migration. Frömmigkeitsformen und kulturelle Deutungssysteme auf Wanderschaft (Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt 7), Münster 2011. Auch ein einzelner Autor kann derartige, sehr unterschiedliche Beispiele zusammenstellen wie H ARALD K LEINSCHMIDT , Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven (Theorie und Geschichte der Bürgerlichen Gesellschaft 24), Münster 2011. 7 O TFRIED C ZAIKA / H EINRICH H OLZE , Migration und Kulturtransfer im Ostseeraum während der Frühen Neuzeit (Acta Bibliothecae Regiae Stockholmeniensis 80), Stockholm 2012. 8 Vgl. dazu schon A DOLF L AYER , Tirol und Vorarlberg im Mittelpunkt der Auswanderung. Epochen der tirolisch-vorarlbergischen Bevölkerungs-, Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, Diss. München 1947; dann W ERNER L ENGGER , Die Einwanderung aus Tirol nach Ostschwaben nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: W OLFRAM B AER / P ANKRAZ F RIED (Hg.), Schwaben - Tirol. Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Beiträge, Rosenheim 1989, S. 307-314; und umfassend: D ERS ., Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, 2 Bde. (Veröff. der Schwäbischen <?page no="13"?> R EINHA R D B AU MANN / R OLF K IES S LING 14 Schicksal der Salzburger Exulanten im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert thematisiert, bei dem Schwaben oft nur als Durchgangsland gesehen wurde - aber auch als Zielland eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte. 9 Erste Sondierungen galten zudem den Savoyarden, die seit dem 16. Jahrhundert in der ländlichen wie städtischen Wirtschaft gewichtige Aufgaben übernahmen. 10 Ein zweiter Schwerpunkt galt den Auswanderungen nach Übersee im 19. Jahrhundert, zu denen ein breit angelegtes Forschungsprojekt nicht nur einen statistischen Überblick erarbeitete, 11 sondern auch über eine Quellenedition sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte ins Blickfeld nahm. 12 Und schließlich wird seit längerem die Problematik der Flüchtlingsströme nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht, 13 die jüngst für die Sudetendeutschen wieder aufgenommen worden ist. 14 Forschungsgemeinschaft, Reihe 9: Historische Migrationsforschung in Bayerisch-Schwaben 2), Augsburg 2002. - Sehr viel seltener wurde die umgekehrte Richtung untersucht: H ANS H EISS , Schwäbische Zuwanderungen nach Brixen, Bozen und Trient vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: ZHVS 82 (1989), S. 39-63. 9 Vgl. etwa G EORG R USUM , Österreichische Exulanten in Franken und Schwaben, 2. Aufl. Neustadt/ Aisch 1989; W ERNER W ILHELM S CHNABEL , Österreichische Exulanten in Oberdeutschen Reichsstädten, München 1992; jüngst A NDEAS L INK , Lendler, Deferegger, Salzburger: arme Exulanten in Augsburg, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 35-83. 10 Vgl. dazu M ARTIN Z ÜRN , Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg und Konstanz, in: C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S. 381-419. 11 P ETER M AIDL , Auswanderung nach Übersee, 2 Bde., Diss. Augsburg 1993 (Microfiche); D ERS ., Aspekte der Überseewanderung bayerisch-schwäbischer Juden im 19. Jahrhundert - dargestellt anhand von Selbstzeugnissen, nebst einigen Anmerkungen zum Forschungsstand und ersten quantitativen Ergebnissen, in: P ETER F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II (Irseer Schriften 5), Stuttgart 2000, S. 87-113; O TTO H ALLA - BRIN / P ETER M AIDL , Auswanderungen aus Bayerisch-Schwaben zwischen 1800 und 1914 in das außereuropäische Ausland, in: P ETER F ASSL / W ILHELM L IEBHART / W OLFGANG W ÜST (Hg.), Aus Schwaben und Altbayern. FS für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 5), Sigmaringen 1991, S. 49-64. 12 P ANKRAZ F RIED / P ETER M AIDL , »Hier ißt man anstadt Kardofln und Schwarzbrodt Pasteten …«. Die deutsche Überseewanderung des 19. Jahrhunderts in Zeitzeugnissen (Veröff. der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 9: Historische Migrationsforschung in Bayerisch-Schwaben 1), Augsburg 2000. 13 Eine knappe Auswahl: O TTO H ALLABRIN , Die Aufbauleistung und die Integration der Vertriebenen in Augsburg in den Jahren 1945-1955, Augsburg 1988; B ARBARA S ALLIN - GER , Die Integration der Heimatvertriebenen im Landkreis Günzburg nach 1945, München 1992; M ANFRED H EERDEGEN , Heimat verloren - Zuhause gewonnen. Dokumenta- <?page no="14"?> E INFÜHR UNG 15 Diese Schwerpunkte entsprechen den bekannten, besonders auffälligen Erscheinungsformen der Migration in den bekannten historischen Kontexten. Dass das Phänomen Migration aber auch und gerade aus regionaler Perspektive sehr viel breiter ausgelotet werden kann, versucht der vorliegende Band zu zeigen: In guter Tradition der landesgeschichtlichen Forschung pflegt er den epochenübergreifenden Zugriff und bemüht sich darum, die zeitliche Spannbreite vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert in einzelnen Facetten des Themas zu berücksichtigen. Wie immer bettet das Memminger Forum ›seine‹ Region Schwaben vergleichend mit den benachbarten Regionen Tirol und Vorarlberg, Württemberg und Bayern in einen größeren Beobachtungsraum ein, getragen von der Überzeugung, dass es nur so gelingen kann, die jeweils spezifischen Grundbedingungen für die Migrationsbewegungen zu erkennen und damit ihren Wandel zu begreifen. Der Versuch, die wichtigsten Phänomene wenigstens andeutungsweise zu systematisieren, findet seinen Niederschlag in der Berücksichtigung einer möglichst großen Spannbreite sozialer Gruppen, die bislang in dieser Hinsicht wenig untersucht wurden: von der Kleriker- und Religiosenwanderung des Mittelalters über die Mobilität der Kriegsleute und der reichsstädtischen Eliten zu den konfessionsbedingten Migrationen kleinräumiger Art, aber auch ganz spezifischen Phänomenen wie den Wanderbewegungen von Juden und ›Zigeunern‹ im Alten Reich, bis hin zu den wirtschaftlich bedingten regionalen Massenwanderungen der Industrialisierung, der Vertreibung und den Zentralitätsverschiebungen der jüngsten Zeit. tion über die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen im Ostallgäu, Marktoberdorf 1995; D ERS ., Kaufbeuren-Hart oder Kaufbeuren-Neugablonz? Der Konflikt um die Benennung einer Vertriebenengründung im Regierungsbezirk Schwaben 1946-1952, in: P AUL H OSER / R EINHARD B AUMANN (Hg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum (Forum Suevicum 5), Konstanz 2003, S. 359-381; D ERS ., Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft. Entstehung und Entwicklung sudetendeutscher Interessengruppen im Regierungsbezirk Schwaben 1945 1960, in: P ETER F ASSL (Hg.), Beiträge zur Nachkriegsgeschichte von Bayerisch-Schwaben 1945 1970 (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 2), Augsburg 2011, S. 117-148. 14 M ARITA K RAUSS / S ARAH S CHOLL -S CHNEIDER / P ETER F ASSL (Hg.), Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert grenzüberschreitenden Perspektiven, München 2013. Dieser Ansatz beruht auf einer langjährigen Beschäftigung von Marita Krauss mit dem Thema: zum einen als Mitherausgeberin verschiedener Bände der ›Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung‹ (Bd. 4: Migration und Grenze, 1999; Bd. 5: Frauen und Migration, 2001; Bd. 6: Zurückbleiben, 2006), zum anderen mit eigenen Studien wie D IES ., Die Integration Vertriebener am Beispiel Bayerns - Konflikte und Erfolge, in: D IERK H OFFMAN / M ICHAEL S CHWARTZ (Hg.), Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/ DDR (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), München 1999, S. 47-56. <?page no="15"?> R EINHA R D B AU MANN / R OLF K IES S LING 16 Der Versuch ist von der Absicht geprägt, neue Beobachtungsfelder für diesen Problemkreis zu erschließen, die bislang vernachlässigt erscheinen. Deutlich wird dabei aber auch, dass die Grenze zwischen Migration und Mobilität nicht immer klar zu ziehen ist, 15 dass die Bereitschaft zum Verlassen des angestammten Lebensumfelds zwar vielfach in einer dauerhaften Ansiedlung endete, aber auch - von vornherein beabsichtigt oder nicht - in eine Rückkehr münden konnte deshalb auch der Doppelbegriff im Titel. Erste Einblicke in die Wanderungsbewegungen des Mittelalters bietet zunächst T HOMAS K RÜGER mit seiner Untersuchung zur Kleriker- und Religiosenmigration im Bistum Augsburg. Vor dem Hintergrund, dass Klöster und Stifte der Diözese vorrangig Zielorte regionaler Kleriker waren, erhalten die weniger häufigen interregionalen Migrationen vor allem im Zusammenhang mit der Verbreitung neuer Orden ihr besonderes Profil. So entstanden die Konvente der Dominikaner, Franziskaner und Karmeliten in Augsburg durch Zuzug von außen, um dann mit regional rekrutiertem Personal weitergeführt zu werden. Dominikanische und franziskanische Frauenkonvente dagegen waren nicht das Ergebnis von Migration, sondern gingen aus lokalen Beginengemeinschaften hervor. Die Stadt war zudem das Ziel prominenter Wanderprediger wie des Franziskaners Berthold von Regensburg oder des Dominikaners Johannes Gailer von Kaysersberg. Ergiebig unter dem Aspekt der Migrationsforschung sind auch die Antoniter und die Chorherren vom Heiligen Geist (Kreuzherren) in Memmingen; erstere, weil die Präzeptoren des Klosters aus dem französischen Mutterhaus kamen, letztere, weil ihre Organisationsstruktur sie zu häufigen Wanderungen zum Mutterhaus in Rom bzw. zum Ordensvikar nach Stephansfeld im Elsass veranlassten. Zudem war die Erlangung von Stellen ein wesentlicher Migrationsgrund für die Kleriker, denn dadurch war ihre Versorgung gesichert, so dass sie sich religiösen, wissenschaftlichen oder sozialen Aufgaben widmen konnten. Das Bistum erwies sich somit zwar grundsätzlich offen für Migranten, aber es zog keine größeren Migrantengruppen an, nicht zuletzt deshalb, weil eine überregional anziehende Bildungseinrichtung in der Bischofsstadt fehlte. Einer besonderen Form von mittelalterlicher Arbeitsmigration geht S TEPHAN S ELZER nach. Er beschäftigt sich unter den Stichworten ›Hin- und Rückfracht‹ südwestdeutscher Italiensöldner im 14. Jahrhundert mit all den Erwartungen und Hoffnungen, die deutsche Reiterkrieger bei ihrem Ritt über die Alpen nach Oberitalien im Gepäck hatten, und mit den Eindrücken, den bleibenden geistigen Besitztümern in ihren Köpfen wie den materiellen auf ihren Packpferden, die sie bei ihrer Rückkehr mit in die Heimat brachten. Solddienst für italienische Städte, 15 Bezeichnenderweise verzichtet die ›Enzyklopädie der Neuzeit‹ auf einen eigenen Artikel zum Stichwort ›Migration‹ und verweist stattdessen auf ›Emigration‹, ›Land-Stadt-Wanderung‹, ›Mobilität‹ und ›Temporäre Migration‹ (Bd. 8, Stuttgart 2008, Sp. 486). <?page no="16"?> E INFÜHR UNG 17 sei es in päpstlichen, königlichen oder fürstlichen Heeren auf italienischen Kriegsschauplätzen war attraktiv für viele Adelige, vor allem aber für solche aus Schwaben, denn viele kamen aus Ritterfamilien, vor allem aus dem in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen lebenden Niederadel. Neben ordentlicher Besoldung erhofften sie sich Gewinn aus Beute und Lösegeld, aber auch Ehre, Ansehen und Karriere. Der Typ des professionellen Italiensöldners, der über mehrere Jahre südlich der Alpen kämpfte, machte freilich nur den kleineren Teil dieser Mobilität aus, sehr selten blieben sie auf Dauer und fanden ihren Platz in der Gesellschaft italienischer Städte. Die meisten waren Gelegenheitskrieger, die nur für eine Saison unter Vertrag standen. Längerfristiger Ertrag und lohnender Gewinn dieser Migration kann nur in wenigen Fällen nachgewiesen werden. Viele kehrten mit äußeren und inneren Blessuren zurück. Der sog. Wolfurt-Kelch, eine Stiftung des Konrad Wolf von Wolfurt, um Reue für Kriegstaten zu bekunden und Vergebung zu erlangen, ist eines der wertvollen Migrationszeugnisse, das bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. Eine quantitativ ganz andere Migration von Kriegsleuten untersucht R EIN - HARD B AUMANN im 16. Jahrhundert. Waren es im 14. Jahrhundert insgesamt nur einige tausend Gerüstete zu Pferd, so nun viele Tausende von Fußknechten, die - manchmal jährlich - aus Süddeutschland zu den Kriegsschauplätzen Europas zogen und von dort zurückkamen. Von dieser ›Feldzugsmigration‹ ist die ›Gartmigration‹ zu unterscheiden, das Vagieren von Territorium zu Territorium in der arbeitslosen Zeit. Diese Kriegsleute kamen zwar aus allen Ständen und Schichten, vor allem aber waren es nachgeborene Bauernsöhne und Handwerksgesellen, die sich anwerben ließen, im Schwäbischen oft Männer aus krisengefährdeten Textilberufen. Typisch für beide Migrationsformen war zudem, dass eine große Anzahl von Frauen im Tross mit in den Krieg zog und Fußknechte auf der Gart begleitete. Ein im Laufe des Jahrhunderts wachsender Anteil dieser Menschen fand allerdings nicht mehr in das frühere Berufsleben zurück, schloss sich anderen nichtsesshaften Gruppen an und wurde von der Obrigkeit diskriminiert und verfolgt. Das Selbstverständnis der Knechte als Mitglieder des Kriegsleutestandes bzw. des Landsknechtordens beschönigte oder verdrängte aber die reale Situation. Nur einige wenige Fälle zeigen, dass sie dennoch ihren Platz in der Gesellschaft hatten und karitative Einrichtungen für sie tätig waren. Als sich nach dem Dreißigjährigen Krieg die Kriegsführung mit kurzfristig angeworbenen Söldnern durch garnisonierte Soldaten veränderte, löste dies freilich das Problem der Garter nicht, weil soziale Versorgungsleistungen nach wie vor fehlten. Mit der Augsburger Oberschicht, den Patriziern und Kaufleuten in Augsburg setzt sich M ARK H ÄBERLEIN auseinander. Wesentliche Quellen sind dabei die Ehren- und Geschlechterbücher, in denen selbst eine erhebliche Mobilität thematisiert wird: Pilgerreisen, Kaufmannslehren in europäischen Städten, Studienaufenthalte an fernen Universitäten, Geschäftsreisen auf oft gefährlichen Routen und <?page no="17"?> R EINHA R D B AU MANN / R OLF K IES S LING 18 Vergnügungsunternehmungen in fremden Gefilden. Sie berichten zudem von beruflich bedingtem Wohnungswechsel, von Flucht und religiöser Verfolgung. Die prachtvoll ausgestatteten Handschriften hatten aber vor allem die Funktion, die Erinnerung an in der Fremde verstorbene Familienmitglieder und vor allem das kollektive Gedächtnis räumlich verstreut lebender Familienverbände zu pflegen. Zwei Studien beschäftigen sich mit Migration aus religiösen Gründen. F RANK K LEINEHAGENBROCK zeigt an Beispielen aus dem Hochstift Würzburg, welch hohen Stellenwert solche Wanderbewegungen im Bewusstsein der Lutheraner hatten. Konfessionsexulanten waren wegen ihrer Standhaftigkeit Vorbilder für die Gemeinden, man rückte sie in die Nähe des Märtyrertums. Ihr Schicksal vertiefte den Konfessionsstreit, schien doch die harte Haltung der Katholiken als ein Beleg nicht nur für unrechtmäßiges, sondern für unchristliches Handeln. Gleichzeitig ist zu beobachten, wie das Schicksal solcher Exulanten politisch instrumentalisiert wurde, bis hin zu Entscheidungen auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg. Der Vergleich protestantischer Suppliken des 16. Jahrhunderts mit der Berichterstattung über das Schicksal der Salzburger Exulanten im 18. Jahrhundert macht zudem neben allem individuell erfahrenen Leid auch eine inzwischen professionalisierte Propaganda deutlich. Dass die Aufnahme solcher Exulanten in lutherische Stadtgemeinden auch soziale Spannungen hervorrufen konnte, zeigt das Memminger Beispiel 1732. Eine insgesamt gelungene Integration von ländlichen Gebirgstalbewohnern in die Augsburger Stadtgesellschaft kann dagegen A NDREAS L INK für die Exulanten aus dem salzburgischen Defereggental (1684) nachweisen. Von einem Sample von 624 Menschen, die sich nach ihrer Ausweisung an die lutherischen Glaubensbrüder in den Reichsstädten Kempten, Memmingen, Leutkirch und Isny, dann auch an die im Herzogtum Württemberg wandten, kamen etwa 250 nach Augsburg. Anhand der Informationen aus den Kirchenbüchern über einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren zeigt Link eine aktiv betriebene Integration: Trauungsprotokolle, die an der Partnerwahl erkennen lassen, ob noch Deferegger untereinander heiraten oder ob schon Augsburger Partner möglich sind und üblich werden, Sterbeangaben und Taufbücher, bei letzteren vor allem der soziale Status der Paten - aus all diese Daten zeichnet er das Bild einer mehr und mehr erfolgreichen Eingliederung der Zwangsmigranten in die Gesellschaft der Reichsstadt. Eine als ›Fremde‹ eingestufte Minderheit stellten die jüdischen Gemeinden in Schwaben dar. Der jüdischen Migration in Schwaben geht S ABINE U LLMANN im Zusammenhang mit ihrer Siedlungsgeschichte nach. Sie stellt dabei zunächst heraus, dass Juden zur Absicherung des alltäglichen Lebensunterhalts, zur Erfüllung religiöser Pflichten und zur Pflege weit gespannter Familienverbindungen vielfach unterwegs waren. Vor allem im späten Mittelalter ist deshalb von einer hohen jüdische Mobilität aufgrund einer zerstreuten Siedlungsweise auszugehen. Die Ausweisungen aus Reichsstädten und einigen Territorien wie den Herzogtümern Bayern <?page no="18"?> E INFÜHR UNG 19 und Württemberg lösten dann eine komplexe jüdischen Wanderung aus, die letztendlich zu einer zerstreuten instabilen Siedlungsweise auf dem Land führte. Allerdings betont sie auch, dass zunächst nur ein schrittweiser allmählicher Übergang von ›Stadtjuden‹ zu ›Landjuden‹ stattfand, da viele Juden anfangs in anderen Städten Zuflucht fanden. Das deutlich weitgespannte jüdische Kommunikationsnetz war schon allein deshalb existenznotwendig, um den restriktiven Maßnahmen der christlichen Obrigkeiten immer wieder ausweichen zu können und neue Siedlungsorte zu erschließen. Wichtig erscheint die Feststellung, dass Juden in dieser Entwicklung nicht nur reagierten, sondern auch agierten: Die Neuansiedlung wurde innerhalb der Familienverbände mitgesteuert, einmal gewonnene Wohnorte wurden durch die Inanspruchnahme übergeordneter Schutzinstanzen wie den Kaiser gehalten und gesichert. Menschen mit hoher Mobilität par excellence und gleichzeitig einer Ausgrenzung ausgesetzt waren die sog. Zigeuner, denen W OLFGANG S CHEFFKNECHT aufgrund seiner langjährigen Studien zu vagierende Randgruppen in Vorarlberg besonderes Gewicht einräumt. Trotz einer allmählichen Tabuisierung der Bezeichnung in der Gegenwart, hervorgerufen durch die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in der NS-Zeit, war ›Zigeuner‹ nach seiner Einschätzung ein Quellenbegriff der Frühen Neuzeit, primär eine Fremdbezeichnung, die aber im Laufe der Zeit von den so Benannten übernommen wurde und durch ›Sinti und Roma‹ nicht ersetzt werden kann. Zigeuner waren in der Vormoderne Menschen, die man zur ›Subsistenz-Migration‹ zählt, wurden also als soziale Gruppe verstanden. Ob sie im 18. Jahrhundert schon eine ethnische Gruppe waren, ist nach den Vorarlberger Quellenbefunden äußerst zweifelhaft. Das kleinräumige Gebiet Vorarlbergs, in dem sich zwei Hauptwanderrouten Nichtsesshafter schnitten, war äußerst vorteilhaft für Aufenthalt und Leben ständig wandernder Gruppen, die pauschal als deviant oder kriminell diskriminiert wurden. Als problematisch erweist sich dabei eine Unterscheidung des Migrationsverhaltens von Handwerkern und Wanderarbeitern einerseits und Zigeunern andererseits. Letztere lebten auch nicht außerhalb und neben der Gesellschaft, denn es gab enge Verbindungen zur sesshaften ländlichen Bevölkerung. Zigeuner suchten und fanden Winterquartiere oder verdienten sich Geld als Saisonarbeiter oder Musikanten auf Familienfesten. Am Anfang der Fallbeispiele zum 19./ 20. Jahrhundert steht eine Mikrountersuchung von industriell bedingter Migration zwischen 1860 und 1910. M ARCEL M AYER zeigt, wie St. Gallen und seine beiden Nachbargemeinden Straubenzell und Tablat ein rasantes Bevölkerungswachstum durch starke Zuwanderung erlebten, die mit über 52.000 Menschen schließlich 1918 die Fusion der drei Gemeinden zur Stadt St. Gallen bewirkte. Ursache war das um 1860 erfolgreich mechanisierte Stickereigewerbe, dessen Blütezeit den starken Aufschwung anderer Wirtschaftszweige, vor allem des Bauwesens, nach sich zog. Die Immigration erfolgte aus mehreren europäischen Staaten, den größten Anteil stellten aber Deutsche und <?page no="19"?> R EINHA R D B AU MANN / R OLF K IES S LING 20 Italiener. Während sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Schweizern ziemlich unkompliziert gestaltete, war das zwischen Italienern und der einheimischen Bevölkerung sehr bald schon spannungsgeladen. Die italienischen Männer arbeiteten zumeist auf dem Bau, die Frauen in den Stickereifabriken - und gehörten damit zu den schlecht entlohnten Unterschichten. Eine einfache Lebensweise und die ärmlichen Zustände in den Italienersiedlungen mit Ghettocharakter ließen ein negatives Bild der Einheimischen von den Italienern entstehen. Erst der Niedergang der Luxusgüter produzierenden Stickereindustrie in einer drei Jahrzehnte andauernden Wirtschaftskrise in der ganzen Ostschweiz verursachte den Wegzug vieler Immigranten aus St. Gallen. Drei Beiträge erschließen die Migrationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Zwangsmigration der Sudetendeutschen widmet sich M ANFRED H EER - DEGEN anhand von drei Biographien, die exemplarisch Wanderschicksale vor Augen führen. Emil Stecker, aus einer Textilarbeiterfamilie stammend, politisch und gesellschaftlich geprägt durch Vorstellungen aus der Donaumonarchie, lehnte die tschechoslowakische Republik offen ab. Trotz völkischer Überzeugungen engagierte er sich in relativ gemäßigten Splitterparteien, so dass ihn die braunen Machthaber nach 1938 als Gegner inhaftierten. Erst 1946 ausgewiesen wurde er zum unbeugsamen Integrationsverweigerer, als Publizist und Versammlungsredner sich unbeirrbar für die Rückkehr in die alte Heimat einsetzend. Ganz anders der ebenfalls aus dem Arbeitermilieu kommende Sozialdemokrat Heinrich Wundrak und der bürgerliche Fritz Enz. Wundrak stand der Existenz eines tschechoslowakischen Staates positiv gegenüber und wurde ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgt. Enz war zunächst politisch unauffällig und widmete sich seiner beruflichen Karriere. Beide wurden schon 1945 ausgewiesen, zeigten aber in der neuen Allgäuer Heimat ein hohes Maß an Realismus und Pragmatismus, Wundrak als Flüchtlingskommissar und Parteipolitiker, Enz als Wirtschaftsjurist und Verbandsfunktionär. Die Lebensläufe der drei Zwangsmigranten können - bei aller Individualität - als charakteristisch gesehen werden für eine verweigerte Integration und für zwei aktiv gestaltete und erfolgreiche Integrationsprozesse. Die Zuwanderungspolitik der bayerischen Landeshauptstadt München zwischen 1945 und 1982 analysiert P HILIP Z ÖLLS . Er zeigt an diesem lokalen Fall auf, wie der Münchner Magistrat in einer ersten Phase vom Kriegsende bis in die 1960er Jahre bei den jüdischen Displaced Persons eine ablehnende, rassistische, zum Teil antisemitische Haltung an den Tag legte, die offenbar noch ganz in Kontinuität zum Nationalsozialismus stand. Als seit der Mitte der 1960er Jahre die Migration aus Südeuropa im Zentrum städtischer Reaktionen auf Einwanderung stand, kam jedoch eine geradezu revolutionäre Sichtweise zum Tragen: Migration wurde als elementarer Bestandteil der Stadtentwicklung gesehen. Das Stadtentwicklungsreferat, mit interdisziplinärer Zusammensetzung aus Stadtplanern, Statistikern und Soziologen, war das erste seiner Art in der Bundesrepublik und galt <?page no="20"?> E INFÜHR UNG 21 schon bald als beispielhaft für Bundesbehörden. Trotz erheblicher Widerstände im Stadtparlament verfolgte die Stadtregierung eine Migrationspolitik, die München zur integrativen Einwanderungsstadt machte. Mit der Migration junger Südtirolerinnen und Südtiroler in die Bundesrepublik, die Schweiz und nach Österreich in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts greift S ABINE A LBRICH -F ALCH eine wirtschaftlich motivierte Migration mit deutlich regionalem Charakter auf. Sie stützt sich dabei nicht zuletzt auf Interviews mit Betroffenen. Da es sich im Wesentlichen um ein Abwandern ins muttersprachliche Ausland handelte, dem sich kaum sprachliche und kulturelle Barrieren entgegenstellten, stuft sie ihren Fall als Form von Binnenmigration ein. Sie stellt zudem heraus, dass die politischen Verhältnisse - die Probleme einer deutschsprachigen Minderheit im italienischen Nationalstaat - keinen wesentlichen Auslöser darstellten, sondern das Fehlen einer bodenständigen Industrialisierung und damit von Arbeitsplätzen und Ausbildungsmöglichkeiten. Auch wenn die meisten Migranten die Rückwanderung von vornherein geplant hatten, blieben doch viele am Ort ihres Arbeitsplatzes. Bei den meisten galt aber weiterhin Südtirol als die ›wahre‹ Heimat - was die überproportional hohe Zahl derjenigen erklärt, die sich wegen der Nähe zur alten Heimat in Nordtirol und Vorarlberg niederließen. Das Konzept der Tagung war darauf ausgerichtet, möglichst viele verschiedenartige Formen von Mobilität und Migration in die Betrachtung einzubeziehen, die den historischen Raum ›Schwaben‹ und seine Nachbarregionen über die Jahrhunderte prägten. Aber auch ein solches Konzept gelangt freilich dort an seine Grenzen, wo die aktuelle Forschung Lücken aufweist oder die Grenzen der Kapazitäten einer Tagung erreicht sind: Vieles wäre noch denkbar - wie immer kann auch dieser Diskussionsrahmen keine Vollständigkeit anstreben, aber er hofft, Denkanstöße geben zu können. <?page no="22"?> 23 T HOMAS M. K RÜGER Motive und Probleme mittelalterlicher Kleriker- und Religiosenmigration. Beispiele aus dem Bistum Augsburg im europäischen Vergleich Aus der bisherigen Forschung gibt es weder Vorarbeiten, die sich dezidiert mit der Kleriker- und Religiosenmigration im Bistum Augsburg beschäftigt haben, noch personengeschichtliche Arbeiten, die hierzu in hinreichendem Maße Aufschluss geben. 1 Deshalb erscheint es bis auf weiteres nicht möglich, den Anteil von Migranten unter den Klerikern und Religiosen im mittelalterlichen Bistum Augsburg und dessen historische Veränderungen zu ermitteln. Noch vorrangig vor möglichen quantifizierenden Erkenntniszielen stellen sich aber definitorische Fragen. Eine eindeutige Begriffsklärung, was ›Migration‹ überhaupt bedeutet und unter welchen Voraussetzungen Personen der mittelalterlichen Geschichte als ›Migranten‹ zu charakterisieren sind, liegt nicht vor und kann auch nicht mit bindender Wirkung für künftige Forschungen festgelegt werden. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich zunächst der Blick auf bekannte Tatsachen, die unabhängig von Bezügen zur Region des Bistums Augsburg ein Licht auf die Rahmenbedingungen werfen, unter denen Kleriker und Religiosen im europäischen Mittelalter durch mehr oder weniger weite ›Wanderungen‹ ihre Situation und ihr Umfeld veränderten und uns deshalb im wörtlichen Sinne als ›Migranten‹ erscheinen. Daraus abzuleitende Schlussfolgerungen sollen dazu dienen, punktuelle Beobachtungen innerhalb des Bistums Augsburg bewerten zu können. Die im Titel des Beitrags angesprochene europäische Vergleichsperspektive ist deshalb nicht nur eine Erweiterung des regionalgeschichtlichen Themas, sondern eine methodische Notwendigkeit zum Verständnis der regionalgeschichtlichen Beobachtungen. 2 1 Anhaltspunkte, aber biographisch zu wenige Informationen bieten die Verzeichnisse von A LBERT H AEMMERLE , Die Canoniker des hohen Domstiftes zu Augsburg bis zur Saecularisation, Zürich 1935; und D ERS ., Die Canoniker der Chorherrnstifte St. Moritz, St. Peter und St. Gertrud in Augsburg bis zur Saecularisation, München 1938; sowie die Dissertation von I LSE S CHÖNTAG , Untersuchungen über die persönliche Zusammensetzung des Augsburger Domkapitels im Mittelalter, Zeulenroda 1938. 2 Als begrenzt anknüpfungsfähig erweist sich hierzu die Arbeit von L UDWIG S CHMUGGE , Mobilität und Freiheit im Mittelalter, in: J OHANNES F RIED (Hg.), Die abendländische Freiheit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 39), Sigmaringen 1991, S. 307-324, die verschiedene Phänomene der Sozialgeschichte des europäischen Mittel- <?page no="23"?> T HOMAS M. K RÜGER 24 Welche Einsichten und Erkenntnisse sich so gewinnen lassen, wird am Ende des Beitrags zu resümieren sein. Zunächst blicken wir auf die Rahmenbedingungen mittelalterlicher Kleriker- und Religiosenmigration ganz allgemein und in einem zweiten Abschnitt auf die Motive, bevor wir zum Bistum Augsburg kommen. 1. Rahmenbedingungen mittelalterlicher Kleriker- und Religiosenmigration Die mittelalterliche Kirche war als ecclesia universalis eine weltumfassende politische Ordnung, die die Migration theoretisch begünstigte. Eingeschränkt wurde dies aber durch ihre Untergliederung in ecclesiae particulares, in ortsbezogene Teilkirchen, die nicht nur als ›Glieder‹, sondern auch als Abbild des Ganzen verstanden wurden. 3 Eine Karriere als Kleriker oder als Angehöriger einer religiösen Bruderschaft, das heißt als religiosus, begann in der Regel in einer ortsbezogenen Teilkirche. Wer in ein Kloster benediktinischer Prägung eintrat, sollte dieses vom Tag seiner Profess an nicht mehr verlassen und verpflichtete sich zur stabilitas. 4 Der Empfang einer Klerikerweihe war mit einer Dienstverpflichtung gegenüber dem naturgemäß lokalen Weihetitel verbunden. 5 Weihe und Gelübde begründeten somit theoretisch eine dauerhafte Residenzpflicht am Ort der jeweiligen Teilkirche. Bekannte Biographien von Klerikern und Religiosen zeigen jedoch, dass stabilitas-Gebot und Residenzpflicht zu keiner Zeit des Mittelalters die Mobilität der Betroffenen konsequent verhinderten. 6 Durch das kirchliche Dispensrecht konnten jederzeit Ausnahmen alters mit migrationssoziologischen Theorien verknüpft, dabei aber nur in geringem Maße auf die Migration von Klerikern und Religiosen eingeht. Dies gilt auch für die mediävistische Forschung insgesamt. So finden sich zum Stichtag 3. Mai 2013 in der größten mediävistischen Literaturdatenbank, dem RI-OPAC der Regesta Imperii, 408 Aufsätze und Bücher mit dem Titelstichwort ›Migration‹, aber meinem Eindruck nach keine grundlegenden Arbeiten zur Kleriker- und Religiosenmigration. 3 Die ekklesiologische Beziehung von Universalkirche und lokalen Teilkirchen wird besonders übersichtlich dargestellt von K ARL A. F RECH , Reform an Haupt und Gliedern. Untersuchung zur Entwicklung und Verwendung der Formulierung im Hoch- und Spätmittelalter (Europäische Hochschulschriften III/ 510), Frankfurt am Main 1992. 4 Regula Benedicti, c. 58.15-17. 5 Vgl. J OSEF W EIER , Der kanonische Weihetitel. Rechtshistorisch und rechtsdogmatisch gewürdigt. Ein Beitrag zum Ordinationsrecht der katholischen Kirche, Würzburg 1936, S. 4-41. 6 Vgl. U WE I SRAEL , Reform der Mönche aus der Ferne, Das Beispiel der Benediktinerabtei Subiaco, in: D ERS . (Hg.), Vita communis und ethnische Vielfalt. Multinational zusammengesetzte Klöster im Mittelalter (Vita regularis Abhandlungen 29), S. 157-178, hier 159f. Israel bemerkt zu Recht, dass die Benediktsregel nicht explizit ›Ortsbeständigkeit‹ (stabilitas <?page no="24"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 25 zugelassen werden, und es gab genügend Gründe auch religiöser Art, wie etwa das Ideal der perigrinatio, davon Gebrauch zu machen. 7 Vorgesetzte konnten bei Vorliegen sachlicher Gründe Ausnahmen vom stabilitas-Gebot sogar anordnen, sie konnten gewünschte Ausnahmeregelungen aber auch verweigern. Insofern waren mittelalterliche Kleriker und Religiosen in ein Spannungsfeld von Regionalität und Universalität hineingestellt. Ambitionierte Persönlichkeiten haben lange und gründlich überlegt, wo und wie sie ihre Karriere begannen, weil sie wussten, dass sie anschließend nicht mehr eigenverantwortlich über ihre weiteren Perspektiven entscheiden konnten. Diese allgemeinen Rahmenbedingungen waren innerhalb der Gesamtepoche des Mittelalters einem Wandel ausgesetzt. Im frühen Mittelalter waren die migrationshinderlichen rechtlichen Bestimmungen noch wenig gefestigt. Im hohen und späten Mittelalter entwickelte sich dagegen ein päpstliches Dispenswesen, das auch regionale Autoritäten übergehen konnte. Während im früheren Mittelalter vor allem die königliche Hofkapelle Anziehungspunkt für karriereorientierte Kleriker war, galt dies im Spätmittelalter besonders für die päpstliche Kurie. Während das so genannte Wandermönchtum im frühen Mittelalter auf individuellen Initiativen beruhte, entstanden mit den Mönchs- und Ritterorden des 12. Jahrhunderts, vor allem aber mit den Bettelorden des 13. Jahrhunderts universalkirchliche Institutionen, die die Migration ihrer Mitglieder nicht nur erlaubten, sondern teilweise auch forderten und organisatorisch unterstützten. Veranschaulichen lässt sich dieser Wandel zum Beispiel durch eine Gegenüberstellung der Begriffe ›Kloster‹ und ›Konventshaus‹: Das Kloster bezeichnet einen abgeschlossenen Ort. Wer als Mönch in ein Kloster eintrat, verpflichtete sich nach der Benediktsregel, dauerhaft dort zu bleiben, auf seinen eigenen Willen zu verzichten und sich in Gehorsam dem Abt des Klosters unterzuordnen. 8 Aber auch der Abt war prinzipiell an sein Kloster gebunden. Deutlich wird dies am Beispiel des Abtes Robert de Molesme, der, um seine Ideale besser verwirklichen zu können, am Ende des 11. Jahrhunderts mit ausgewählten Mönchen sein Kloster verließ und ein neues gründete, das Novum monasterium in Cîteaux. 9 Die verbliebenen loci) fordert, verkennt aber den Umstand, dass es im frühen Mittelalter noch keine überregionalen Orden oder Kongregationen gab. Das ausdrückliche Verbot, das Kloster »nicht zu verlassen« bedeutete im Regelfall eine Fixierung auf genau ein Kloster, ggf. maximal erweitert auf abhängige Tochterklöster oder Priorate. 7 Vgl. J OSEF S EMMLER , »Perigrinatio« und »stabilitas« im frühmittelalterlichen Mönchtum, in: B ARBARA H AUPT / W ILHELM G. B USSE (Hg.), Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora 41), Düsseldorf 2006, S. 43-65. 8 Regula Benedicti, c. 5.7, 5.12 sowie c. 58.15-17. 9 Eine Monographie zu Robert de Molesme liegt bisher nicht vor. Die relevanten Quellen finden sich in: Acta Sanctorum Aprilis tomus III, hg. von G OTTFRIED H ENSCHEN / D ANIEL P APEBROCH , Venedig 1737, S. 662-678, sowie in der kritischen Edition von <?page no="25"?> T HOMAS M. K RÜGER 26 Mönche in Molesme akzeptierten dies nicht und zwangen Robert unter Einschaltung der päpstlichen Gerichtsbarkeit zur Rückkehr. 10 Das Novum monasterium in Cîteaux durfte nach päpstlichem Urteil unter neuer Leitung aber bestehen bleiben, und es wurde zur Keimzelle und zum Zentrum eines großen überregionalen Ordens, des Zisterzienserordens. 11 Trotz der überregionalen Ordensstruktur unterstand in diesem Orden aber jeder einzelne Mönch weiterhin vornehmlich der Hierarchie seines lokalen, der Benediktsregel verpflichteten Klosterverbandes. Er konnte allerdings von seinem Abt zusammen mit Mitbrüdern zur Gründung und zum Aufbau eines unter Umständen geographisch weit entfernten Tochterklosters ausgesandt werden. Ab diesem Moment gehörte er dem rechtlich selbständigen neuen Klosterverband an, und sein Leben war nun an den neuen Klosterbezirk gebunden. Ein Zurück war nicht möglich. Die im 13. Jahrhundert gegründeten Bettelorden, die Franziskaner, Dominikaner und Karmeliten, verfolgten dagegen einen anderen Ansatz. Als lokale Stützpunkte dienten ihnen Konventshäuser, das heißt Gebäude, die den Ordensangehörigen für ihre Zusammenkünfte - conventus dienten. Durch die Einrichtung von Klausurbereichen ähnelten diese in gewissem Sinne den Klöstern. Sie werden auch als solche bezeichnet, obwohl sie sich von Klöstern benediktinischer Prägung erheblich unterschieden. Der einzelne Bettelmönch hatte zwar seine Aufgaben zumeist im städtischen Umfeld des Konventes, aber er gehörte nicht in erster Linie diesem, sondern einem überregionalen Orden an. Seine Gehorsamsverpflichtung galt keinem Klosterabt, sondern den Ordensoberen. Insofern war hier die Migration, besonders auch die Migration zu Bildungszwecken, deutlich erleichtert. 12 Die Migration innerhalb des Ordens musste allerdings nicht zwingend zum endgültigen Verlassen einer Herkunftsregion und zu einer auf Dauer angelegten Niederlassung in einem neuen geographischen Umfeld führen. Eine weitere Besonderheit der K OLUMBAN S PAHR , Das Leben des hl. Robert von Molesme. Eine Quelle zur Vorgeschichte von Citeaux, Fribourg 1944, S. 16f. 10 Vita beati Roberti Molismensis, c. 13, in: Acta Sanctorum (Anm. 9), S. 667; K. S PAHR , Leben (Anm. 9), S. 16 f. 11 Angesichts strittiger Auffassungen zur Entstehungsgeschichte des Zisterzienserordens und seiner Gründungsdokumente kann diese Aussage als simplifizierend, aber sicherlich nicht als unzutreffend gelten. Vgl. entsprechend der traditionellen Sichtweise: R EINHARD S CHNEIDER , Anfänge und Ausbreitung des Zisterzienserordens, in: B ARBARA S CHOLK - MANN / S ÖNKE L ORENZ (Hg.), Von Cîteaux nach Bebenhausen. Welt und Wirken der Zisterzienser, Tübingen 2000, S. 1-20; und zu forschungsgeschichtlichen Kontroversen: M ARTHA G. N EWMAN , Foundation and twelfth century, in: M ETTE B. B RUUN (Hg.), The Cambridge Companion to the Cistercian Order, Cambridge 2013, S. 27-29. 12 Vgl. zuletzt T HOMAS E RTL , Netzwerke des Wissens. Die Bettelorden, ihre Mobilität und ihre Schulen, in: Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit, Bd. 1: Essays, hg. von M ATTHIAS P UHLE , Mainz-Magdeburg 2009, S. 313-323. <?page no="26"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 27 Migration von Ordensangehörigen lag darin, dass die Ordensstruktur ein Mindestmaß an Konformität des sozialen Umfelds unabhängig von geographischen Veränderungen sicherte. Deshalb stellt sich die Frage, ob hier entgegen älteren Forschungen eine deutlichere Differenzierung zwischen ›Mobilität‹ und ›Migration‹ angebracht wäre. 13 Wenn man ›Migration‹ nicht als temporäre ›Wanderschaft‹, sondern im Sinne der etablierten Begriffsbedeutung als Aufgabe einer gewohnten zu Gunsten einer neuen Umgebung versteht, können als ›Migranten‹ allenfalls solche Ordensbrüder bezeichnet werden, die einen ursprünglichen Herkunftsort dauerhaft verließen. Zeitlich begrenzte Wanderschaften, etwa zum Zwecke des Studiums, könnte man dagegen eher als ›Mobilität‹ verstehen. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass die zeitliche Begrenzung nicht immer vorhersehbar war und gerade bei Ordensangehörigen auch keiner Selbstbestimmung unterlag. Außerdem haben wir es bei ›Wanderschaften‹ in aller Regel mit längeren Zeiträumen zu tun, Monaten und sogar mehreren Jahren, in denen der Reisende wesentliche Erfahrungen machte, die ihm eine neue Prägung gaben, und andererseits aber wichtige Ereignisse am Ort seiner Herkunft nicht oder nur in Form verzögert eintreffender Nachrichten mitbekam. Bei Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalters erscheint es daher legitim, von einer engen Definition des Migrationsbegriffes abzusehen. 2. Motive mittelalterlicher Kleriker- und Religiosenmigration Unabhängig von den Rahmenbedingungen war die Migration für mittelalterliche Kleriker und Religiosen kein Selbstzweck. Es lassen sich vor allem fünf Motive unterscheiden: 1. Missionarische Anliegen 2. Bildungs- und Forschungsanliegen 3. Streben nach Rangerhöhung und politischer Macht 4. Versorgungsanliegen 5. Verfolgung und Verbannung Dabei haben oft mehrere der genannten Motive in unterschiedlicher Gewichtung gemeinsam eine Rolle gespielt. Selbstverständlich lassen sich diese Motive auch mit 13 Eine synomyme Verwendung von ›Mobilität‹ und ›Migration‹ findet sich etwa in dem Beitrag von L. S CHMUGGE , Mobiltät (Anm. 2), S. 318-324. Eine Differenzierung wurde von Rolf Kießling in der Schlussdiskussion der diesem Band zu Grunde liegenden Tagung angeregt. <?page no="27"?> T HOMAS M. K RÜGER 28 allgemeinen Einsichten aus dem Bereich der Migrationssoziologie in Verbindung bringen. 14 Missionarische Anliegen spielten sicherlich besonders bei den teilweise aus dem iro-schottischen Raum stammenden Wandermönchen in der Zeit der Christianisierung eine Rolle. 15 Folgen dieser Missionstätigkeit waren Klostergründungen, zum Beispiel in St. Gallen oder in Regensburg, die für den gesamten süddeutschen Raum und auch darüber hinaus eine Ausstrahlung als Bildungszentren hatten. 16 Es ist bekannt, dass im 10. Jahrhundert der junge Dillinger Grafensohn und spätere Bischof Ulrich von Augsburg in die Klosterschule von St. Gallen geschickt wurde. Das heißt aber auch: Im Bistum Augsburg gab es damals keine gleichwertige Bildungseinrichtung. Ulrich erwog auch, nach dem Besuch der Klosterschule in St. Gallen zu bleiben und als Mönch in das Kloster einzutreten, entschied sich dann aber bewusst und offensichtlich mit weitergehenden Ambitionen, in die Dienste des Bischofs von Augsburg zu treten. Er wollte selbst Bischof werden. Dafür migrierte er von St. Gallen aus in die für ihn neue, aber nicht ganz fremde Umgebung der Bischofsstadt, die vielleicht sogar seine Geburtsstadt war und auf jeden Fall in regionaler Verbindung zum Stammsitz seiner Familie in Dillingen 14 Vgl. etwa die Begriffe »Statusinkonsistenz«, »Sozialprestige« und »Transilient-Phänomen«, die laut L. S CHMUGGE , Mobilität (Anm. 2), S. 319f., in der älteren migrationssoziologischen Literatur zur Erklärung von Migration geprägt wurden. Erklärungsmodelle der neueren Migrationssoziologie mit ihrer Fokussierung auf komplexe Migrationsprobleme in Zeitgeschichte und Gegenwart sind allerdings nicht für das Verständnis der in den meisten Fällen einfacher begründbaren mittelalterlichem Kleriker- und Religiosenmigration entwickelt worden. Vgl. P ETRUS H AN , Soziologie der Migration, Erklärungsmodelle - Fakten - Politische Konsequenzen - Perspektiven, 3. Aufl. Stuttgart 2010, S. 5-123. 15 Vgl. M ARIANNE P OPP , Der heilige Bischof Emmeram (2. Hälfte des 7. Jahrhunderts), in: G EORG S CHWAIGER Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Regensburg 1, Regensburg 1989, S. 25-37; S TEFAN V ATTER , St. Magnus. Apostel des Allgäus. Leben, Wirken und Bedeutung, Lindenberg 2010, S. 26-38; M ICHAEL R ICHTER , Verbreitung des Wortes: Columban und der jüngere Gallus, in: A LFRIED W IECZOREK / G ERFRIED S ITAR (Hg.) Benedikt und die Welt der frühen Klöster. Begleitband zur Sonderausstellung »Benedikt und die Welt der frühen Klöster« in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Regensburg 2012, S. 39-46. 16 Vgl. G ABRIEL M EIER , Geschichte der Schule von St. Gallen im Mittelalter, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 10 (1885), S. 33-128; C HRISTINE R ÄDLINGER -P RÖMPER , Sankt Emmeram in Regensburg. Struktur- und Funktionswandel eines bayerischen Klosters im frühen Mittelalter (Thurn-und-Taxis-Studien 16), Kallmünz 1987; T HEO K ÖLZER , Frühmittelalterliches Mönchtum und abendländische Kultur, in: Die Kultur der Abtei St. Gallen. Vorträge im Studium universale anläßlich der Ausstellung vom 1. April bis zum 18. Mai 1996 in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Bonn 1997, S. 9-31. <?page no="28"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 29 stand. 17 St. Gallen aber war in diesem Sinne als Bildungseinrichtung sowohl Ziel als auch Ausgangspunkt von Migration, bis seine Bedeutung im 11. Jahrhundert allmählich verblasste und andere Orte in den Mittelpunkt rückten. Als Paradebeispiel eines Migranten kann im hohen Mittelalter der Philosoph und Erzbischof Anselm von Canterbury genannt werden. Er war 1033 in dem heute in Italien gelegenen, damals politisch zu Burgund gehörenden Aosta als erbberechtigter Sohn eines adeligen Grundbesitzers geboren worden, entschied sich aber entgegen den Vorstellungen seines Vaters für eine vita religiosa. 18 Nach eigener Darstellung schwankte er dabei zwischen den Klöstern Cluny in Burgund und Bec in der Normandie. 19 Cluny, dessen Gründung auf das Jahr 910 zurückgeht, war das größte und politisch wohl einflussreichste Kloster des 11. Jahrhunderts. Es galt als ein Symbol für das Ideal kirchlicher Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber Laiengewalt und als Vorreiter im Kampf zeitgenössischer Kirchenreformer gegen Simonie und Priesterehe und war zudem das Zentrum eines weit verzweigten Klosterverbandes. 20 In Bec befand sich Anselm zum Zeitpunkt der Entscheidung, aber nicht als Mönch, sondern als Schüler. Es handelte sich um ein junges Kloster, in das sich einer der prominentesten europäischen Gelehrten der Zeit zurückgezogen hatte und dort eine Schule aufbaute, der aus Pavia gebürtige Lanfranc. Dessen Ansehen und Ausstrahlung hatte neben Anselm zahlreiche junge Männer aus ganz 17 W ILHELM V OLKERT , Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg 1 (Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg 2b/ 1), Augsburg 1985, S. 63, Nr. 102. Als Indiz für Augsburg als möglichen Geburtsort verwies Volkert auf eine Auskunft, die Ulrich laut seinem Biographen Gerhard bei seinem ersten Rombesuch dem Papst gegeben haben soll. Vgl. hierzu die Edition Gerhard von Augsburg, Vita sancti Uodalrici, hg. von W ALTER B ERSCHIN (Editiones Heidelbergenses 24), Heidelberg 1993, S. 94: […] a venerando papa marino bene susceptus est et ab eo interrogatus de qua provintia vel civitate esset nativus Qui respondens dixit De provincia alamannia et de civitate augusta oriundus sum. Diese Aussage sollte man wohl nicht allzu wörtlich nehmen. Gerhard irrte sich beim Namen des Papstes und war bei dem Treffen sicher nicht dabei gewesen. Über den Geburtsort Ulrichs könnte er informiert gewesen sein, aber sicher ist auch das nicht. Seine Fiktion einer päpstlichen Frage nach der civitas von Ulrich Herkunft ist plausibel. Als Antwort hierauf war aber die Nennung Augsburgs auch dann angemessen, wenn es sich nur um die zu einem möglichen ländlichen Geburtsort nächst gelegene civitas handelte. 18 Vgl. T HOMAS M. K RÜGER , Persönlichkeitsausdruck und Persönlichkeitswahrnehmung im Zeitalter der Investiturkonflikte. Studien zu den Briefsammlungen des Anselm von Canterbury (Spolia Berolinensia 22), Hildesheim 2002, S. 44f. 19 Eadmer Cantuariensis, Vita Sancti Anselmi, ed. R ICHARD W. S OUTHERN , The Life of St Anselm Archbishop of Canterbury (Oxford Medieval Texts), Oxford 1979, S. 9. Vgl. G EORG M ISCH , Geschichte der Autobiographie, Bd. 3,1: Das Hochmittelalter im Anfang, Frankfurt am Main 1959, S. 231. 20 Vgl. G ERD T ELLENBACH , Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte 2 F1), Göttingen 1988, S. 98f. <?page no="29"?> T HOMAS M. K RÜGER 30 Europa angezogen. 21 Ein ›Lehrer-Migrant‹ zog also zahlreiche ›Schülermigranten‹ nach sich. Die meisten von ihnen verließen den Ort nach dem Studium wieder und erlangten oftmals ranghohe Prälatenstellen in verschiedenen Regionen. 22 Anselm und manche andere entschieden sich jedoch zum Bleiben. Wie das frühmittelalterliche St. Gallen war damit auch das hochmittelalterliche Bec ein Ort, der sowohl Ziel als auch Ausgangspunkt von Migration war. Abhängig war dies aber stark von den jeweils präsenten Lehrerpersönlichkeiten. Der Weggang von Lanfranc, der von Wilhelm dem Eroberer zunächst als Gründungsabt von St.-Étienne in Caen und dann als Erzbischof von Canterbury berufen wurde, konnte in Bec zunächst durch den nachrückenden Anselm kompensiert werden. 23 Ein deutlicherer Einschnitt für die Ausstrahlung der Schule von Bec war die Berufung Anselms als Erzbischof von Canterbury im Jahre 1093 durch König Wilhelm Rufus. Anselms Entscheidung, sein Kloster, dem er mittlerweile auch als Abt vorstand, zu Gunsten der erzbischöflichen Position zu verlassen, war deshalb in Bec heftig umstritten. Wie beim Auszug des bereits erwähnten Abts Robert de Molesme nach Cîteaux gab es auch in Bec Mönche, die eine solche Verletzung des benediktinischen Stabilitas-Gebotes für unzulässig hielten, insbesondere wenn ein solcher Karriereschritt von Anselm selbst geplant gewesen sein sollte. Gegen diesen Verdacht verwahrte sich Anselm. Er verwies auf den Gehorsam, den er im Sinne seiner benediktinischen Profess höheren Autoritäten, vor allem aber Gott schulde, und setzte seine Entscheidung gegenüber dem Mönchskonvent von Bec durch. 24 Als Erzbischof von Canterbury geriet Anselm in Konflikt mit den englischen Königen Wilhelm Rufus und Heinrich I. und musste deshalb zweimal für längere Zeit ins Exil auf dem Festland gehen. 25 In seiner Biographie haben wir damit wohl mit Ausnahme des Versorgungsmotives alle anderen Migrationsmotive vereinigt: Das Bildungsmotiv bei seiner Migration von Aosta nach Bec. Das in seinem Falle sicherlich mit einem starken Missionsmotiv verbundene Machtmotiv bei der 21 Vita Sancti Anselmi (Anm. 19), S. 8: Excellens siquidem fama illius quaque percrebruerat, et nobilissimos quosque clericorum ad eum de cunctis mundi partibus agebat. 22 S ALLY N. V AUGHN , Anselm, Lanfranc, and the School of Bec: The Search for the Students of Bec, in: M ARC A. M EYER (Hg.), The Culture of Christendom. Essays in Medieval History in Memory of Denis L. T. Bethell, London 1993, S. 155-182; Th. M. K RÜGER , Persönlichkeitsausdruck (Anm. 18), S. 40. 23 Vgl. S ALLY N. V AUGHN , Anselm of Bec: The Pattern of his Teaching, in: D ERS ./ J AY R UBENSTEIN (Hg.), Teaching and Learning in Northern Europe, 1000-1200 (Studies in the Early Middle Ages 8), Turnhout 2006, S. 99-127. 24 Vgl. Th. M. K RÜGER , Persönlichkeitsausdruck (Anm. 18), S. 186-199. 25 Vgl. S ALLY N. V AUGHN , Archbishop Anselm (1093-1109). Bec Missionary, Canterbury Primate, Patriarch of Another World (The Archbishops of Canterbury Series), Farnham und Burlington (VT) 2012, S. 101-152. <?page no="30"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 31 Migration von Bec nach Canterbury und schließlich das ebenfalls mit seinen Missionsanliegen verknüpfte Verbannungsmotiv in den Zeiten des Exils. Beim Missionsmotiv ging es zu seiner Zeit freilich nicht mehr um Christianisierung, sondern um die Reform der christlichen Kirche. Dabei gehörte Anselm als Mönch und Abt dem Religiosenstand und als Priester und Erzbischof dem Klerikerstand an. Sein Beispiel dokumentiert damit auch die Berechtigung, Religiosen- und Klerikermigration gemeinsam in den Blick zu nehmen. Das Versorgungsmotiv, das bei Anselm aufgrund seiner Situation als Alleinerbe elterlicher Adelsgüter keine Rolle spielte, war vor allem für die nachgeborenen Söhne sowie für Töchter mittelalterlicher Adelsfamilien entscheidend. 26 Verbunden war es oft mit dem Motiv des Strebens nach Rangerhöhung und politischer Macht. Die Erlangung kirchlicher Pfründen und Prälatenstellen ermöglichte den Adelsabkömmlingen auch ohne Erbe von elterlichem Besitz ein standesgemäßes Leben und in manchen Fällen sogar sozialen Aufstieg - mit der einzigen Einschränkung, dass sie keine legitimen Kinder haben konnten. Eine Voraussetzung war jedoch zumeist die Bereitschaft, einen neuen Wohnsitz anzunehmen, der im regionalen Umfeld des Ursprungsortes, aber auch entfernter gelegen sein konnte. Dabei wird man unter den Kommunikations- und Verkehrsbedingungen des Mittelalters auch bei relativ nahen Ortswechseln von ›Migration‹ sprechen dürfen. Zu unterscheiden ist dann aber zwischen regionaler und interregionaler Migration. 27 Interregionale Migration lösten aufgrund ihrer Zugangsbestimmungen theoretisch vor allem exklusiv hochadelige Stifte wie die Domstifte zu Köln und Straßburg oder das Damenstift Essen aus. Praktisch konnte dabei die Migration durch Dispense von der Residenzpflicht aber vermieden werden. 28 In Stiften und Klöstern des Bistums Augsburg gab es dagegen solche Zugangsbeschränkungen auf den Hochadel gar nicht. Hier waren zumindest auch der so genannte Niederadel aus der ritterbürtigen Ministerialenschicht, teilweise auch das vermögende Bürgertum, zugangsberechtigt, wodurch eine breitere Basis für die regionale Migration gegeben war. Die interregionale Migration ins Bistum Augsburg könnte von diesem Umstand beeinträchtigt gewesen sein, wenn sie deshalb auch nicht unmöglich war. 26 Als ›Spitäler des Adels‹ wurden Klöster und Stifte oft bezeichnet in Anlehnung an A LOYS S CHULTE , Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte, 3. Aufl. Stuttgart 1958, S. 282-287; zum Versorgungsmotiv bei der weiblichen vita religiosa vgl. F RANZ S TAAB , Standesgemäße Lebensform und Frauenfrömmigkeit. Bemerkungen zu einem Langzeitphänomen, in: K URT A NDERMANN (Hg.), Geistliches Leben und standesgemäßes Auskommen. Adelige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart, Tübingen 1998, S. 147-161. 27 Dem entsprechend wird nach P. H AN , Soziologie der Migration (Anm. 14), S. 7f., in der modernen Migrationssoziologie zwischen »Binnenmigration (internal migration)« und »Internationaler Migration (international migration)« unterschieden. 28 Vgl. A. S CHULTE , Adel und deutsche Kirche (Anm. 26), S. 28-43. <?page no="31"?> T HOMAS M. K RÜGER 32 3. Kleriker und Religiosen als Migranten im Bistum Augsburg Neben dem Versorgungsmotiv kommen vor allem das Missionsmotiv und das Motiv des Strebens nach Rangerhöhung und politischer Macht als Gründe interregionaler Kleriker- und Religiosenmigration ins Bistum Augsburg in Betracht. Eine Bildungseinrichtung von überregionaler Bedeutung hat es im mittelalterlichen Bistum Augsburg nicht gegeben. Weiterbildungsanliegen können deshalb bei begrenzten Zielsetzungen nur für regionale Migration im Bistum eine Rolle gespielt haben. Für die Augsburger Domschule konnte zwar um 1117 mit Gerhoch, dem späteren Propst von Reichersberg, ein Gelehrter als Scholaster gewonnen werden, der im fernen Hildesheim seine Ausbildung erworben hatte, doch musste dieser seine Stelle schon um 1120 wieder fluchtartig aufgeben und gelangte erst später zu überregionalem Ruhm. 29 Immerhin ist Gerhoch ein Beispiel für einen Klerikermigranten in Augsburg. Sein Migrationsmotiv dürfte aber vor allem mit der ihm dort gebotenen Stelle, also mit dem Versorgungsmotiv zu erklären sein. Sein Scheitern als Augsburger Domscholaster hing demgegenüber mit persönlichen Fehlern zusammen, die wohl nicht vornehmlich seiner Eigenschaft als Migrant geschuldet waren. In interregionaler Hinsicht kommen Bildungsanliegen somit eigentlich nur als Emigrationsmotive in Betracht. Ähnliches gilt für die Migration aufgrund von Verbannung oder politischer Verfolgung. Als Ort des Asyls für verfolgte oder verbannte gelehrte Kleriker empfahl sich das Bistum Augsburg kaum, da hier keine namhafte fürstliche Schutzmacht für deren Sicherheit sorgen konnte, wie etwa Ludwig der Bayer für die prominenten exkommunizierten Franziskanertheologen seiner Zeit. 30 Dagegen ist der genannte Gerhoch von Reichersberg ein Beispiel, dass das Verbannungs- und Fluchtmotiv natürlich auch als Emigrationsmotiv für Augsburger Kleriker eine Rolle spielen konnte. Mit Bischof Ulrich von Augsburg wurde bereits ein prominenter Fall der Augsburger Bistumsgeschichte angesprochen, der noch eine vertiefende Betrachtung verdient. 31 Ulrich ist in seinem Leben für die Verhältnisse seiner Zeit weit gewandert. Allein dreimal war er in Rom. Trotz dieser hohen Mobilität bereitet es Mühe, in seinem Fall von interregionaler Migration zu sprechen, da sein Lebensmittelpunkt von Geburt an (890) bis zu seinem Tod (973) erkennbar das Bistum 29 Vgl. I. S CHÖNTAG , Untersuchungen (Anm. 1), S. 73f.; E RICH M EUTHEN , Art. Gerhoch von Reichersberg, in: Theologische Realenzyklopädie 12, Berlin 1984, S. 457-459. 30 Vgl. W OLFGANG W INHARD , Wilhelm von Ockham, die Münchner Franziskaner und Ludwig der Bayer, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 45 (2000), S. 39-58. 31 Vgl. zu seinem Leben die kommentierte Zusammenstellung aller Quellen von W. V OL - KERT , Regesten (Anm. 17), S. 62-89, ergänzend die Neuedition der Vita sancti Uodalrici von W ALTER B ERSCHIN (Anm. 17) und die ausführliche Darstellung von M ANFRED W EIT - LAUFF , Bischof Ulrich von Augsburg (923-973). Leben und Wirken eines Reichsbischofs der ottonischen Zeit, in: JVAB 26/ 27 (1993), S. 69-142. <?page no="32"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 33 Augsburg war. Die ihm in St. Gallen gebotene Option, dieses auf Dauer zu verlassen, hat er nicht genutzt. Von regionaler Migration, vor allem zwischen Dillingen und Augsburg, kann man bei ihm sicherlich sprechen, doch ist dabei schwer zu sagen, welcher der beiden Orte eigentlich mehr als sein Heimatort anzusehen ist. Der Umfang und die genaue Lage seiner Familiengüter sind nicht bekannt. Vielleicht hatte seine Familie sogar Besitz in der Bischofsstadt Augsburg. 32 Wichtiger als die geographischen Lebensorte innerhalb des Bistums könnte dagegen das soziale Umfeld gewesen sein. Nach seinem Studium wurde der Augsburger Bischofshof zu seiner Heimat, so lange dort mit Adalpero ein aus seiner Sicht respektabler Bischof, vermutlich ein Mann aus adeligem, den Grafen von Dillingen mindestens ebenbürtigem Geschlecht, regierte. 33 Dessen Nachfolger Hiltine (909- 923) soll dagegen laut Gerhard von Augsburg nicht von vergleichbarer »Hoheit« (tantae celsitudinis) gewesen sein, weshalb der Augsburger Bischofshof für Ulrich dann bis zu seiner eigenen Bischofswahl als Lebensumfeld nicht mehr in Frage gekommen sei. 34 In dieser Zeit wird daher wohl Dillingen sein Lebensmittelpunkt gewesen sein. Als Bischof nahm er seine Residenz in Augsburg, ohne die Verbindung zum Familienstammsitz deshalb aufgeben zu müssen. Sein Wirkungskreis war überdies nun das ganze Bistum, sein Mobilitätsradius als Reichsbischof erstreckte sich sogar weit darüber hinaus. Er reiste oft und weit, war aber kein Migrant. Über die Vorgänger Ulrichs als Bischof von Augsburg gibt es kaum aussagekräftige Quellen, 35 zu allen Nachfolgern Ulrichs dagegen verlässliche Informationen. Dabei lässt sich feststellen, dass sich viele Beobachtungen, die für Ulrich galten, immer wieder finden, gerade auch was seine Herkunft anbelangt - jedenfalls wenn man die Herkunftsfrage nicht starr auf die Augsburger Diözesangrenzen fixiert. So lässt sich feststellen, dass mit einer einzigen Ausnahme alle Augsburger Bischöfe des Mittelalters aus dem Hochadel oder aus begüterten Rittergeschlechtern im regionalen Umfeld des Bistums rekrutiert wurden. 36 Der Augsburger Bischofsstuhl war also kein Platz für Migranten aus entfernteren Regionen. Es ist allerdings nach Ulrich auch nie ein gebürtiger Augsburger Bürger Bischof geworden. Die Position des Bischofs, mit der neben der Leitung der Diözese vor allem die fürstliche Administration des Hochstifts verbunden war, war unabhängig von 32 Vgl. den Hinweis oben, Anm. 17, wonach Ulrich Augsburg als seine Geburtsstadt bezeichnet haben soll. 33 Vgl. W. V OLKERT , Regesten (Anm. 17), S. 44f., Nr. 887. 34 Vita Sancti Uodalrici (Anm. 17), S. 96. Vgl. W. V OLKERT , Regesten (Anm. 17), S. 59, Nr. 96. 35 Vgl. W. V OLKERT , Regesten (Anm. 17), S. 13-62, mit immerhin 101 Regesten für die Zeit von 738-923. 36 Ich stütze mich hier auf die nach Pontifikaten gegliederte Bistumsgeschichte von F RIED - RICH Z OEPFL , Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter (Das Bistum Augsburg 1), München-Augsburg 1955. <?page no="33"?> T HOMAS M. K RÜGER 34 den sich wandelnden Stellenbesetzungskompetenzen des deutschen Königs, des Domkapitels und des Papstes quasi exklusiv dem regionalen Adel vorbehalten. Die einzige Ausnahme, auf die noch zurückzukommen ist, dauerte nur zwei Jahre und bewährte sich offensichtlich nicht. Für die regionale Migration der Bischöfe im Bistum etablierte sich Dillingen als wichtigster Ort. Zwei der Nachfolger Ulrichs hatten wie dieser dort ihren Familiensitz: Walter I. (1133-1152) und Hartmann (1248-1286). Letzterer verschrieb die von seinem Vater geerbten gräflichen Güter zu Dillingen teils dem Hochstift und teils dem Domkapitel und schuf damit die Grundlage für die Errichtung einer bischöflichen Nebenresidenz in Dillingen, die sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts zur faktischen Hauptresidenz entwickelte, ohne dass Augsburg als Amtssitz deshalb aufgegeben wurde. 37 Anders als in manchen anderen Bischofsstädten musste die Augsburger Residenz ungeachtet von Spannungen mit dem Augsburger Bürgertum auch nicht aufgegeben werden, doch entsprach die freiwillige räumliche Distanz der sozialen, und Dillingen bot für den Bischofshof zudem mehr Sicherheit. Der Herkunftsort der Bischöfe Ulrich, Walter I. und Hartmann wurde für die spätmittelalterlichen Bischöfe und ihren Hofstaat damit zur Zieladresse regionaler Migration. Ähnliches wie bei der Herkunft der Augsburger Bischöfe lässt sich auch bei der Zusammensetzung des mittelalterlichen Augsburger Domkapitels beobachten. Ilse Schöntag hat für die Zeit vom 9. bis 15. Jahrhundert die Herkunft von insgesamt 850 Domherren zu klären versucht und konnte bei 483 die Ursprungsdiözese bestimmen. Danach stammten von diesen 221 aus der Diözese Augsburg und 148 aus der Nachbardiözese Konstanz. Für alle anderen Diözesen liegen die Zahlen deutlich niedriger. Die drittgrößte Herkunftsregion war die Diözese Speyer mit 25 Domherren, gefolgt von Würzburg (22), Bamberg (17), Freising (14), Regensburg (11) und Eichstätt (9). 38 Diese Zahlen sind für sich genommen aber wenig aussagekräftig. Dasselbe gilt für die Verzeichnung etlicher Domherren von Albert Haemmerle, darunter im späten Mittelalter Angehörige der markgräflichen Häuser Baden und Brandenburg und sogar der römischen Adelsfamilie Savelli, die ihrem Namen und ihrer bekannten Herkunft nach für interregionale Migranten gehalten werden könnten. 39 Ihr Augsburger Kanonikat erklärt sich aber mit der bekannten Praxis der Mehrfachbepfründung ranghoher Kleriker. Es ist davon auszugehen, dass hochrangige Personen aus entfernten Gegenden durch einschlägige Dispense von der Residenzpflicht in Augsburg befreit waren. Für sie war eine Augsburger Dom- 37 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg (Anm. 36), S. 221. 38 I. S CHÖNTAG , Untersuchungen (Anm. 1), S. 40. 39 A. H ÄMMERLE , Canoniker des hohen Domstifts (Anm. 1), S. 13f., Nr. 53-57 (Markgrafen von Baden), S. 32f., Nr. 140-143 (Markgrafen von Brandenburg), S. 142f., Nr. 705a und 706 (Savelli). <?page no="34"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 35 herrenstelle nichts weiter als eine päpstlich verliehene Zusatzpfründe zur Aufbesserung ihrer sonstigen Einkünfte. Zur Wahrnehmung ihrer Rechte kamen sie nicht selbst, sondern schickten Prokuratoren, und für Verpflichtungen vor Ort wurden Vikare eingesetzt. 40 Auch der hohe Anteil von Kanonikern aus dem Bistum Konstanz erklärt sich zumindest teilweise vor diesem Hintergrund, denn das päpstliche Provisionswesen, das die wesentliche Voraussetzung für Mehrfachbepfründungen darstellte, fand Ergebnissen neuerer Forschung zufolge im Bistum Konstanz eine auffallend breite Akzeptanz und Anwendung. Die Beziehungen zur päpstlichen Kurie in Avignon waren hier wohl intensiver und die Kenntnisse der Verfahrensfragen ausgeprägter als in den meisten anderen deutschen Bistümern. 41 Dies erklärt aber nur den überproportional hohen Anteil Konstanzer Kleriker, denn andererseits gehörte das Bistum Konstanz auch durch seine geographische Nähe zum plausiblen Rekrutierungsradius des Augsburger Domkapitels. Auf der Basis des prosopographischen Forschungsstandes kann davon ausgegangen werden, dass dessen residenzpflichtige Kanoniker dem Adel und Rittertum aus dem regionalen Umfeld des Domstifts entstammten, das sich über das Bistum Augsburg hinaus auch auf Nachbarbistümer erstreckte. Die Diözesangrenzen bildeten hier aus zwei Gründen keine adäquate Schranke: Zum einen lag der Grundbesitz des Domstifts teilweise außerhalb der Diözese Augsburg. Zum anderen stellten die Diözesangrenzen keine Barriere für persönliche Beziehungen und Verflechtungen der adeligen und ritterbürtigen Familien dar. ›Landfremder‹ Adel spielte dagegen im Augsburger Domkapitel ebenso wie auf dem Augsburger Bischofsstuhl keine Rolle, allenfalls vereinzelt in Gestalt von Pfründern, die nicht präsent waren. Das Augsburger Domkapitel war damit ein Institut regionaler Migranten. Diese legten darauf auch Wert und kultivierten eine soziale Abgrenzung gegenüber den bürgerlichen Ortsbewohnern durch ein statutarisches Verbot zur Aufnahme von Augsburger Bürgersöhnen, denen freilich genügend andere Stifte und Klöster in der Stadt offen standen. 42 40 Vgl. T HOMAS M. K RÜGER , Die Hausherrn des Doms und sein funktionsgeschichtlicher Wandel, in: M ARTIN K AUFHOLD (Hg.), Der Augsburger Dom im Mittelalter, Augsburg 2006, S. 27-48, hier 44f. 41 Diese Einschätzung gewinnt man aus der Arbeit von B RIGITTE H OTZ , Päpstliche Stellenvergabe am Konstanzer Domkapitel. Die avignonesische Periode (1316-1378) und die Domherrengemeinschaft beim Übergang zum Schisma (1378) (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 49), Ostfildern 2005, in Kombination mit Ergebnissen von J ÖRG E RDMANN , »Quod est in actis, non est in mundo«. Päpstliche Benefizialpolitik im »sacrum imperium« des 14. Jahrhunderts (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 113), Tübingen 2006. 42 Vgl. R OLF K IESSLING , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19), Augsburg 1971; T HOMAS M. K RÜGER , Gewalt und <?page no="35"?> T HOMAS M. K RÜGER 36 Der Befund zur Augsburger Bischofsliste und der aufgrund der gegebenen Forschungsgrundlage gewonnene Eindruck zum Augsburger Domkapitel sind keineswegs überraschend, sondern sie entsprechen in hohem Maße der teilweise sehr fundiert erforschten Situation in vielen anderen deutschen Bistümern. Dabei vermittelt eine im Augsburger Mittelalter sehr populäre und für wahr gehaltene Fiktion über die Anfänge der Augsburger Bistumsgeschichte einen anderen Eindruck. Grundlage dieser Fiktion war eine im 8. Jahrhundert entstandene Darstellung über die Bekehrung und das Martyrium der heiligen Afra. 43 In dieser Darstellung wurde eine sehr kurze, ältere Überlieferung deutlich erweitert. Demnach soll während der Christenverfolgung des Diokletian im frühen 4. Jahrhundert der Bischof Narcissus von Girona zusammen mit seinem Diakon Felix als Flüchtling nach Augsburg gekommen sein. Diese waren somit aus mittelalterlicher Sicht die ersten interregionalen Migrantenkleriker in Augsburg. Sie befanden sich auf der Flucht, wirkten gleichzeitig aber missionarisch, indem sie die Dirne Afra sowie deren Diener und Familienangehörigen zum Christentum bekehrten. Dabei soll es sich bei den Konvertiten ebenfalls um Migranten, nämlich um Migranten aus Zypern gehandelt haben. Afra gründete in ihrem Haus in Folge der Bekehrung eine Art Religiosengemeinschaft. Zum Priester und Bischof sei Afras Onkel Zosimus geweiht worden. Narcissus und Felix sollen sich immerhin neun Monate in Augsburg aufgehalten haben, bevor sie wieder in ihre spanische Heimat aufbrachen, wo sie dann das Martyrium erlitten. Den in Augsburg verbliebenen zypriotischen Migranten erging es nicht besser. Auch sie erlitten nach kurzer Zeit alle das Martyrium. Diese Vorstellung, dass die ersten Augsburger Kleriker und Religiosen Migranten waren, war im Mittelalter und noch lange Zeit darüber hinaus nicht umstritten. 44 Was besagt aber diese Legende hinsichtlich der historisch fassbaren Augsburger Recht: Bürgerlich-klerikale Streitkultur im mittelalterlichen Augsburg, in: M ARTIN K AUF - HOLD (Hg.), Städtische Kultur im Mittelalterlichen Augsburg, Augsburg 2012, S. 62-70. 43 MGH SS rer. Merov. 3, Hannover 1896, S. 55-64. Zur quellenkritischen Einordnung vgl. B ERNHARD S CHIMMELPFENNIG , Hat Afra gelebt oder verehren wir ein Phantom, in: M ANFRED W EITLAUFF / M ELANIE T HIERBACH (Hg.), Hl. Afra. Eine frühchristliche Märtyrerin in Geschichte, Kunst und Kult (JVAB 38), Augsburg 2004, S. 28-33; und W ALTER B ERSCHIN , Die frühe Verehrung der heilige Afra. Von Venantius Fortunatus bis St. Ulrich, in: Ebd., S. 34-41. 44 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Afralegende den Ausstellungskatalog von M. W EIT - LAUFF / M. T HIERBACH (Hg.), Hl. Afra (Anm. 43), und ergänzend T HOMAS M. K RÜGER , Die Abtei St. Ulrich und Afra und ihre Erinnerungskultur im 16. und frühen 17. Jahrhundert: Von reformatorischen Repressalien zur (Re-)Konstruktion mittelalterlicher Substanz, in: M ANFRED W EITLAUFF (Hg.), Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg (1012- 2012). Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligen Reichsabtei, Bd. 1, Augsburg 2011, S. 180-199, hier 189, 193. <?page no="36"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 37 Bistumsgeschichte ab dem 10. Jahrhundert? Waren Migrantenkleriker in Augsburg nur als Märtyrer und tote Kultfiguren willkommen? Das Christianisierungsanliegen des Narcissus von Girona konnte zwar keine Rolle mehr spielen, wohl aber ein gewandeltes Missionsmotiv zu Gunsten der Verbreitung von kirchlichen Reformzielen und religiöser Erneuerung. Dabei ist eine Offenheit gegenüber den Reformorden des 12. und 13. Jahrhunderts durchaus zu konstatieren. In Quellen nicht nachvollziehbar ist die etwaige Rolle von Migranten bei der Gründung der Prämonstratenserstifte Ursberg und Roggenburg, die zu den frühesten Beispielen der Ausbreitung des Prämonstratenserordens überhaupt gehören. 45 Eine direkte Besiedlung vom französischen Mutterkloster Prémontré aus gilt aber als unwahrscheinlich. 46 Auch der benediktinische Reformorden der Zisterzienser war im Bistum Augsburg frühzeitig willkommen. Gerade einmal 16 Jahre nach der Formulierung der zisterziensischen Ordensverfassung im burgundischen Cîteaux wurde im Bistum Augsburg das Zisterzienserkloster Kaisheim gegründet und vom Grafen von Lechsgemünd und seiner Familie reichhaltig mit Gütern ausgestattet. Der Gründungsabt und zwölf Gründungsmönche müssen entsprechend der Ordensverfassung aus einem älteren Zisterzienserkloster, dem Mutterkloster, rekrutiert worden sein. Dabei handelte es sich hier um das Kloster Lützel im Oberelsass, das seinerseits ein Tochterkloster der Primarabtei Morimond war. Näheres über die Gründungsmönche von Kaisheim ist nicht bekannt. 47 Man kann hier also von einer Migrantengruppe aus dem Elsass sprechen, die mit Unterstützung des Grafen von Lechsgemünd und mit urkundlicher Billigung des Augsburger Bischofs offensichtlich erfolgreich eine nicht nur kirchlich, sondern vor allem auch agrarwirtschaftlich bedeutende Institution in der Region aufbaute. Als Nachfolger zog diese Gruppe aber allem Anschein nach keine weitere Migration nach sich. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass unter den Gründungsmönchen aus dem Elsass Personen waren, die überhaupt nur mit dem Ziel der Kaisheimer Gründung in das elsässische Mutterkloster eingetreten waren. Eine solche Aktion lässt sich ungeachtet der beeindruckenden Ordensexpansion kaum als rein spontane Aktion verstehen. Es waren sehr viele Aspekte, insbesondere die Lage des Klosters, unter Berücksichtigung von Ordensstatuten sehr sorgfältig zu planen. Warum sollte der Graf von 45 Vgl. G EORG K REUZER , Das ehemalige Reichsstift Ursberg, Landkreis Günzburg, in: W ERNER S CHIEDERMAIER (Hg.), Klosterland Bayerisch Schwaben, Lindenberg 2003, S. 320-323; W ILHELM L IEBHART , Das ehemalige Reichsstift Roggenburg, Landkreis Neu- Ulm, in: Ebd., S. 316-319. 46 So N ORBERT B ACKMUND , Die Chorherrenorden und ihre Stifte in Bayern: Augustinerchorherren, Prämonstratenser, Chorherren v. Hl. Geist, Antoniter, Passau 1966, S. 204. 47 Vgl. B IRGITT M AIER , Kloster Kaisheim. Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Zisterzienserabtei von der Gründung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 25), Augsburg 1999. <?page no="37"?> T HOMAS M. K RÜGER 38 Lechsgemünd nicht auch eine aktive Personalplanung betrieben haben? Das Stiftungsvermögen war beträchtlich. Einer ihm völlig unbekannten Migrantengruppe wird er dies wohl kaum überantwortet haben, aber über die Gründe seines Vertrauens sind unterschiedliche Hypothesen möglich. Genaueres ist über die Zusammensetzung des Kaisheimer Gründungskonvents also nicht überliefert. Wir wissen somit nichts über dessen ursprüngliche familiäre und geographische Herkunft. Eindeutig lässt sich nur sagen, dass die Ideen, die seine Mitglieder vom Elsass ins Bistum Augsburg transferierten, ihren Ursprung in Zentralburgund hatten. Die prominenteste Figur im süddeutschen Raum, die mit diesen Ideen ebenfalls stark verflochten war, war der Sohn Otto des Markgrafen Leopold von Österreich und der Agnes von Waiblingen, der Tochter Kaiser Heinrichs IV. und Halbbruder König Konrads III. Zur Zeit der Kaisheimer Gründung war er Zisterziensermönch in Morimond, das heißt in der Mutterabtei der Mutterabtei von Kaisheim - der Begriff ›Großmutterabtei‹ wurde von den Zisterziensern nicht gebraucht und wäre auch irreführend, weil die ›Großmutterabteien‹ laut Ordensverfassung keinerlei direkten Einfluss auf ›Enkelabteien‹ hatten. Otto wurde 1138 sogar zum Abt von Morimond gewählt, doch erreichte ihn kurz darauf die Nachricht seiner Ernennung zum Bischof des Augsburger Nachbarbistums Freising. 48 Die Zisterzienser kamen früh ins Bistum Augsburg, aber in andere deutsche Regionen teilweise sogar noch etwas früher. Dagegen war bei der Ausbreitung des wichtigsten Reformordens im folgenden Jahrhundert, bei den Franziskanern, Augsburg sogar die erste Station ihrer Mission auf deutschem Boden, noch zu Lebzeiten des heiligen Franziskus. Dies hat wohl hauptsächlich geographische Gründe. Einer der beteiligten italienischen Minderbrüder, Jordan von Giano, berichtete dabei über einen sehr freundlichen Empfang durch den Bischof von Augsburg. 49 Dabei war er vor Antritt der Missionsreise aufgrund landläufiger Vorurteile gegen die barbarischen nordalpinen Regionen noch fest davon überzeugt gewesen, seinem Martyrium entgegen zu gehen, und dies mehr unfreiwillig als freiwillig, weil 48 Zur Biographie Ottos von Freising vgl. zuletzt R OMAN D EUTINGER , Bischof Otto I. von Freising (1138-1158). Ein Lebensbild, in: U LRIKE G ÖTZ (Hg.), Otto von Freising, Rahewin, Conradus Sacrista. Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts in Freising. Beiträge zum 850. Todesjahr Bischof Ottos von Freising 2008 (Sammelblatt des Historischen Vereins Freising 41), Freising 2010, S. 15-28. 49 Chronica Fratris Iordani a Iano, in: Analecta Franciscana sive chronica aliauqe varia documenta ad historiam fratrum minorum spectantia, ed. a patribus Collegii s. Bonaventurae, Bd. 1, Quaracchi 1885, S. 1-19, hier 9 (c. 22) - Jordan von Giano, Chronik. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von D IETER B ERG , in: D ERS ./ L EONHARD L EHMANN (Hg.), Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Kevelaer 2009, S. 955-1011, hier 986. <?page no="38"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 39 seine Absichten missverstanden worden waren und er dann im Angesicht des Heiligen nicht gewagt hatte, auf seinem Verbleib im schönen Italien zu beharren. 50 Die Gruppe wohl sehr zerlumpt auftretender Minderbrüder kam im Oktober 1222 in Augsburg an, und die vermeintliche Gefahr eines Martyriums erwies sich hier anscheinend als völlig unbegründet. Der Bischof unterstützte die Gruppe nachdrücklich. Leider fehlt es uns über diesen Bericht des Jordan von Giano hinaus an aussagekräftigen Quellen zur Etablierung des Franziskanerkonvents in Augsburg. Fest steht aber, dass es sich um ein Beispiel einer kulturgeschichtlich gerade auch in Augsburg sehr wirkungsmächtigen Religiosenmigration handelt, allerdings einer Migration, bei der Augsburg keine Endstation war. Die Missionsreise der italienischen Migranten ging weiter in andere deutsche Städte, wo ebenfalls Konvente gegründet wurden. Dabei war die päpstlich autorisierte Predigttätigkeit der Franziskaner wie auch diejenige der Dominikaner in deutschen Städten für den dort etablierten Klerus sicherlich keine nur willkommene Konkurrenz. In Augsburg haben wir allerdings keine deutlichen Quellen zu diesbezüglichen Spannungen, auch nicht in späterer Zeit. Institutionell werden dort die Konvente der Franziskaner und Dominikaner ab der Mitte des 13. Jahrhunderts fassbar. 51 In welchem Maße und über welche Zeiträume sich darin Migranten befanden, ist bislang nicht erforscht. Um 1240 wird eine Predigttätigkeit des Franziskaners Berthold von Regensburg in Augsburg angenommen, der aber auch andere Städte bereiste und sich ab 1246 überwiegend in Regensburg aufhielt. 52 Der prominenteste Dominikaner, der zeitweilig als ein vom Oberrhein stammender ›Migrant‹ in Augsburg predigte, war im 15. Jahrhundert Johannes Geiler von Kayserberg. 53 Für namhafte Prediger wie Berthold und 50 Chronica Fratris Iordani (Anm. 49), S. 7f. (c. 18) - Jordan von Giano, Chronik (Anm. 49), S. 982f. 51 Vgl. R. K IESSLING , Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 42), S. 36, mit Bezug auf Zeugen aus beiden Orden in einer Urkunde von 1251. Die älteste erhaltene, vom Augsburger Dominikanerkonvent ausgestellte Siegelurkunde stammt von 1254 XII 18 (StaatsA Augsburg, KU Kaisheim 85); diejenige des Franziskanerkonvents von 1280 V 17 (StaatsA Augsburg, KU Maria Stern 1). 52 Zur Biographie Bertholds vgl. F RANK G. B ANTA , Art. Berthold von Regensburg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1, Berlin-New York 1978, Sp. 817- 823; P ETER S EGL , Berthold von Regensburg - Prediger (1210-1272), in: K ARLHEINZ D IETZ / G ERHARD H. W ALDHERR (Hg.), Berühmte Regensburger. Lebensbilder aus zwei Jahrtausenden, Regensburg 1997, S. 79-88. 53 Vgl. W ERNER W ILLIAMS -K RAPP , Johannes Geiler von Kayserberg in Augsburg. Zum Predigtzyklus Berg des Schauens, in: D ERS ./ J OHANNES J ANOTA (Hg.), Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, Tübingen 1995, S. 265-280; Herbert K RAUME , Art. Johannes Geiler von Kayserberg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 11, Berlin-New York 2004, Sp. 502f. <?page no="39"?> T HOMAS M. K RÜGER 40 Johannes Geiler bot die Stadt Augsburg aufgrund ihrer Größe ein interessantes Publikum, aber keine Gründe für eine dauerhafte Bindung an die Region. Noch weniger als bei den Augsburger Männerkonventen ist in den verschiedenen franziskanischen und dominikanischen Frauenkonventen in und außerhalb Augsburgs mit Migranten zu rechnen. Die Frauenkonvente sind zumeist aus örtlichen Beginengemeinschaften hervorgegangen und dann in einen der beiden Orden inkorporiert worden. Eine Betätigung als Predigerinnen war für Frauen nicht möglich. Deshalb gab es für sie keinen Grund zum Reisen. Wahrscheinlich erscheint aber auch bei den Frauenkonventen ein Anteil von regionalen Migrantinnen, die von ländlichen Gebieten der Region kamen, in denen es keine entsprechenden Einrichtungen gab. 54 Wenige Jahrzehnte nach den Franziskanern und Dominikanern ließen sich Karmeliten in Augsburg nieder und wurden von Bischof Hartmann I. mit Urkunden aus den Jahren 1270 und 1275 ausdrücklich privilegiert. Auch das Recht zur Predigt in der Stadt wurde ihnen wiederholt bestätigt. 55 Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden zu ihrem Gründungskonvent Migranten gehört haben, allerdings wird in den frühen Privilegien nicht einmal der Prior namentlich angesprochen. Deshalb wissen wir über die persönliche Zusammensetzung der Frühzeit nichts Bestimmtes. Ebenso wenig wissen wir über etwaige Migrantenprobleme unter den frühen Karmelitern in Augsburg. In der weiteren Geschichte des Karmeliterklosters St. Anna spricht dagegen nichts mehr für einen signifikanten Zustrom von interregionalen Migranten, dagegen ist von einer zunehmenden Verflechtung mit dem vermögenden, durch Stiftungstätigkeit sich profilierenden Bürgertum der Stadt auszugehen. 56 Migration spielte allerdings bei der Besetzung des Priorenamtes eine Rolle. Dieses stellte mitunter nur eine Zwischenstation in den Karrieren ehrgeiziger gelehrter Ordensmitglieder dar, konnte aber nach vorangehender Mobilitätsphase auch zur Endstation einer Ordenslaufbahn gebürtiger Augsburger werden, so bei Johannes Weilweiler, der dem Konvent von St. Anna von 1449 bis zu seinem Tod im Jahre 1472 vorstand. 57 54 Vgl. W ILHELM L IEBHART , Stifte, Klöster und Konvente in Augsburg, in: G UNTHER G OTTLIEB u. a (Hg.), Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 193-201. 55 Eine Edition der ältesten Privilegien für die Augsburger Karmeliten bei St. Anna bietet E BERHARD S CHOTT , Beiträge zu der Geschichte des Carmeliterklosters und der Kirche von St. Anna in Augsburg I, in: ZHVS 5 (1878), S. 259-327, hier 292-294, dazu die Darstellung ebd., S. 273-277. 56 Vgl. R. K IESSLING , Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 42), S. 265f. 57 Vgl. B ERNHARD B RENNER , Der Konvent der Karmeliten und seine Prioren - Wissenschaft und Spiritualität, in: R OLF K IESSLING (Hg.) St. Anna in Augsburg - eine Kirche und ihre Gemeinde, Augsburg 2013 (im Druck). <?page no="40"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 41 Auch weitere Orden boten einen Rahmen für Migration, insbesondere die zentralistisch auf ihre Mutterhäuser ausgerichteten Antoniter und Chorherren vom Hl. Geist, beide mit Niederlassungen in Memmingen. Wie alle Antoniter sind die Memminger Antoniter als ›Glieder‹ und Teil des Mutterhauses Saint-Antoine-en- Viennois aufzufassen. 58 Von ihm wurden auch die Memminger Präzeptoren gestellt, die somit als französische ›Migranten‹ in Memmingen gelten könnten, die sich aber aufgrund ordensübergreifender Aufgaben kaum nur hier aufhielten. Der Memminger Präzeptor Pierre Mitte de Chevrières († 1479) gab allerdings die entscheidenden Impulse für den Bau und die Ausstattung des Memminger Antoniterhauses und die künstlerische Ausgestaltung der diesem inkorporierten Pfarrkirche St. Martin und damit auch für die Memminger Stadtentwicklung im 15. Jahrhundert insgesamt. 59 In enger Verbindung zu ihrem Mutterhaus, dem römischen Hospital Santo Spirito in Sassia, standen auch die Memminger Chorherren vom Hl. Geist, hier auch ›Kreuzherren‹ genannt. Dies erfolgte bei ihnen aber wohl weniger durch römische ›Migranten‹ in Memmingen, sondern durch häufige Besuche von Memminger Ordensbrüdern in Rom und durch hierarchische Unterordnung unter den Spitalleiter von Stephansfeld. 60 Ein Sonderfall in der Augsburger Bistumsgeschichte war der Bischof Johannes Schadland (1371-1372). Im Unterschied zu allen anderen mittelalterlichen Augsburger Bischöfen gehörte er nicht zum landsässigen Adel des Bistums und seiner Nachbarregionen, sondern er war Mitglied des Dominikanerordens, in dem die Berufung von Brüdern auf kirchliche Prälatenstellen eigentlich nicht gerne gesehen wurde, weil sie die Ordenshierarchie aufbrach. Ein Bischof konnte mit Rücksicht auf sein Amt gegenüber den Ordensoberen nur noch in sehr eingeschränktem Maße obödienzpflichtig sein. Johannes Schadland war vor seiner Ernennung zum Bischof von Augsburg durch Papst Gregor XI. bereits von 1359 bis 1363 Bischof von Culmsee im Deutschordensland und von 1363 bis 1365 Bischof von Worms und zudem eng mit der Kurie in Avignon verbunden, als Inquisitor für Deutschland (1348-1364) und als päpstlicher Kollektor und fiskalischer Nuntius (1359-1372). 58 Vgl. A DALBERT M ISCHLEWSKI , Die Niederlassungen des Antoniterordens in Bayern, in: N. B ACKMUND , Chorherrenorden (Anm. 46), S. 231-242, hier 233. 59 Vgl. A DALBERT M ISCHLEWSKI , Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Caprariis (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8), Köln 1976; D ERS . Die Antoniter und ihr Haus in Memmingen, in: Das Antoniterhaus in Memmingen. Beiträge zur Geschichte und Restaurierung (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 84), München 1996, S. 13-22. 60 Vgl. G ISELA D ROSSBACH , Die Memminger Kreuzherren im Spannungsfeld zwischen päpstlichem Zentralismus und lokaler Autonomie, in: Das Kreuzherrenkloster in Memmingen (Arbeitshefte des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 116), München 2003, S. 21-27. <?page no="41"?> T HOMAS M. K RÜGER 42 Er war somit nicht nur Ordensmann, sondern auch ein wichtiger päpstlicher Mandatsträger, allerdings mit Aufgaben, die nicht dazu geeignet waren, sich beliebt zu machen. Seine Ernennung zum Bischof von Augsburg durch Papst Gregor XI. erfolgte in einer Krisensituation des Bistums nach längerer Sedisvakanz und war wie seine vorangehenden Pontifikate in Culmsee und Worms möglicherweise nicht als Dauerlösung gedacht. In der Tat wurde Johannes Schadland dann auch noch als Bistumsadministrator in Konstanz für den dort vorübergehend suspendierten Heinrich von Brandes eingesetzt, bis er sich 1373 in den Dominikanerkonvent Koblenz zurückzog, wo er noch im selben Jahr starb. 61 Er hatte somit schwierige Voraussetzungen, nicht die Zeit und wahrscheinlich auch nicht den Willen für eine mittel- oder gar langfristig erfolgreiche Niederlassung in Augsburg. Angehörige mehrerer Orden betätigten sich im späteren Mittelalter im Bistum Augsburg mit bischöflichen Weihehandlungen, ohne selbst Bischof von Augsburg zu sein, sondern im Auftrag oder jedenfalls mit der Zustimmung des jeweils amtierenden Augsburger Bischofs. Deshalb werden sie auch als ›Weihbischöfe‹ bezeichnet, obwohl die mittelalterliche Bistumsorganisation keine dem Ordinarius untergeordneten ›Weihbischöfe‹ im modernen Sinne kannte. Sie waren vielmehr reguläre Bischöfe, allerdings mit Bistümern, die aufgrund der politischen Faktenlage für die westliche Kirche nur theoretisch existierten, etwa im Bereich des sich ausdehnenden Osmanischen Reiches. Präziser kann man daher von ›Titularbischöfen‹ sprechen. Aus der Zeit von 1290 bis 1506 sind im Bistum Augsburg Weihehandlungen von insgesamt 23 solcher Titularbischöfe belegt. 62 Ihre bischöflichen Titel erwecken den Anschein von beeindruckend weit gereisten Migranten aus Rodosto, Chalcedon, Dschiebleh, Kiew, Myra, Navarzan, Salona, Sebaste, Salmasa, Nicopolis und Edremit. Tatsächlich sind die Betroffenen in diesen Orten wohl nie gewesen. Dennoch handelt es sich, was ihre geographische Herkunft betrifft, um ›Migranten‹. Ihr hauptsächlicher Bezugsort war allerdings zumeist kein geographischer, sondern ein sozialer Ort, nämlich ein überregionaler religiöser Orden. Fünf von ihnen gehörten dem Franziskanerorden an, vier waren Dominikaner, jeweils zwei Zisterzienser, Prämonstratenser und Karmeliter und einer Augustinereremit. Bei den übrigen ist eine Ordenszugehörigkeit nicht belegt. Über einige von ihnen haben wir überhaupt nur aufgrund einzelner, mehr oder weniger zufällig überlieferter Weihehandlungen Kenntnis. Da sie sukzessive und nie gleichzeitig nachzuweisen sind, besteht dennoch der Eindruck, dass sie quasi ein Amt der Diözesanverwaltung bekleideten, auch wenn die Kirchenverfassung ein solches eigentlich nicht vorsah. Dieser Eindruck wird 1447 bestätigt, 61 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg 1 (Anm. 36), S. 321-325; P AUL -G UNDOLF G IERATHS , Art. Johannes Schadland, in: NDB 10, Berlin 1974, S. 543. 62 A LFRED S CHRÖDER , Die Augsburger Weihbischöfe I: Im Mittelalter, in: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 5 (1916-1919), S. 411-442. <?page no="42"?> M OTIVE UND P ROBLEME MITTELALTERLICHER K LERIKER - UND R ELIGIOSENMIGRATION 43 als der Prämonstratenser Wilhelm Mader zusammen mit seiner päpstlichen Provision als Titularbischof von Edremit auch die Vollmacht erhielt, »in Stadt und Bistum Augsburg Pontifikalhandlungen vorzunehmen«, und »zugleich auch die Anweisung auf ein Gehalt von 200 Gulden aus den Einkünften der Augsburger Kirche«. 63 Dabei agierten im Bistum Augsburg bereits ein Vorgänger Maders und mehrere Nachfolger mit dem Titel eines Bischofs von Edremit. 64 Diese ›Weihbischöfe‹ waren zweifellos willkommene Helfer für die Augsburger Ordinarien. Gerade weil sie in der Region ›Migranten‹ waren und zudem innerhalb ihrer Orden eher Einzelgänger, waren sie von den Augsburger Bischöfen abhängig und konnten keine eigene politische Macht im Bistum entfalten. Für die Augsburger Bischöfe war es so möglich, sich dank ihrer Unterstützung umso mehr auf die Verwaltung des Hochstifts konzentrieren. 4. Ergebnisse Die meisten Stifte und Klöster im Bistum Augsburg waren vornehmlich Zielorte regionaler Migration. Dieser Umstand wurde durch statutarische ständische Abgrenzung, zum Beispiel gegenüber lokalen bürgerlichen Milieus, teilweise zielgerichtet gefestigt. Eine Ablehnung potentieller interregionaler Migranten war damit nicht verbunden. Für interregionale Migranten war das Bistum Augsburg nur in Einzelfällen eine Zieladresse, begründet durch die Verbreitung neuer Orden oder durch ordensspezifische Besonderheiten. Niederlassungen der großen europäischen Orden des 12. und 13. Jahrhunderts erfolgten im Bistum Augsburg relativ bald nach ihrer Gründung, und sie waren hier allem Anschein nach auch willkommen und wurden mit regional rekrutiertem Personal weitergeführt. Vor allem Leitungsämter, die eine besondere Qualifikation erforderten, kamen aber weiterhin für Migranten in Betracht. Die Stadt Augsburg war wegen ihrer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung auch eine interessante Zielstation für prominente Prediger aus dem Franziskaner- und Dominikanerorden. Einzelne Mitglieder überregionaler Orden konnten darüber hinaus im Bistum Augsburg ab dem späten 13. Jahrhundert ein Betätigungsfeld als Weihbischöfe finden, ohne über ihre Weihetätigkeit hinaus signifikante Spuren in den Quellen zu hinterlassen. Das wichtigste Ziel von regionalen wie auch interregionalen Migranten im mittelalterlichen Bistum Augsburg war die Erlangung von Stellen, die Versorgungsanliegen befriedigten, aber auch Grundlage für die Wahrnehmung religiöser, wissenschaftlicher, sozialer und administrativer Aufgaben waren. Die im Bistum Augsburg zu besetzenden Stellen konnten Zwischenstation, aber auch Endstation von 63 A. S CHRÖDER , Augsburger Weihbischöfe I (Anm. 62), S. 430f. 64 Vgl. die Liste A. S CHRÖDER , Augsburger Weihbischöfe I (Anm. 62), S. 442. <?page no="43"?> T HOMAS M. K RÜGER 44 Karrieren sein. Für die Wahrnehmung der Stellen begründete die Migration keine spezifischen Probleme, jedenfalls ist dergleichen nicht überliefert. Dieser Befund korrespondiert mit dem Eindruck, dass wir es überwiegend mit regionaler Migration oder solcher aus Nachbarregionen zu tun haben, lässt sich aber auch deshalb verstehen, weil die Aufgaben in den Kirchen und Klöstern angesichts überregionaler Strukturen und Regeln nur zu einem geringen Anteil lokalspezifische Kenntnisse erforderten. Größere Migrantengruppen kamen nicht ins mittelalterliche Bistum Augsburg. Dies hätte das Vorhandensein von Bildungseinrichtungen mit überregionaler Strahlkraft vorausgesetzt. Das Bistum war aber prinzipiell offen für Migranten. Die populäre Afralegende spricht für ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Gesamtchristenheit, in der die geographische Herkunft von religiösen Leitfiguren keine entscheidende Rolle spielte, die Fiktion von exotischen Provenienzen aber vielleicht sogar zur Steigerung von religiösem Charisma beitrug. Die historische Seltenheit von Migranten aus entfernteren Regionen zeigt aber, dass extraregionale Karrieren wohl in aller Regel nicht zu den Zielvorstellungen von Klerikern und Religiosen gehörten, auch wenn die Bedenken gegen Migration wohl nicht immer so ausgeprägt waren, wie beim jungen Franziskaner Jordan von Giano vor seinem Aufbruch nach Deutschland. Im Alltag mittelalterlicher Regionen wird die die Kirche wohl vornehmlich als ein Verband regionaler Gemeinden und Institutionen wahrgenommen worden sein. Dies beeinflusste weniger den Umgang mit Migranten, sondern die Karriereplanung von Klerikern und Religiosen, vielleicht aber auch eine tendenziell kritische Haltung gegenüber dem päpstlichen Provisionswesen, vor deren Hintergrund etwa der junge Nikolaus von Kues viel Beifall für eine auf dem Basler Konzil vertretene These erhielt, wonach eine legitime Bistumsbesetzung den Konsens des regionalen Klerus’ und Kirchenvolkes voraussetze. 65 65 Diese These vertrat Nikolaus von Kues im Konzilsprozess um den Trierer Bistumsstreit als Anwalt des Grafen Ulrich von Manderscheid. Den Prozess verlor er zwar, aber seine Argumentation gegen päpstliche Provisionen fand starken Widerhall. Vgl. E RICH M EU - THEN , Das Trierer Schisma von 1430 auf dem Basler Konzil. Zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues (Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft 1), Münster 1964. <?page no="44"?> 45 S TEPHAN S ELZER Wünsche und Bilanzen südwestdeutscher Italiensöldner des 14. Jahrhunderts 1. Problemstellung Eine sachliche Verbindung von Migration und Krieg lässt nach den Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts an Flucht und Vertreibung denken. Doch soll es hier um einen anderen Zusammenhang gehen, der sich aus dem Umstand ergibt, dass in spätmittelalterlichen Kriegen keine durch Wehrpflicht rekrutierten Soldaten kämpften, sondern vorrangig bezahlte Söldner zum Einsatz kamen. Es geht mithin um adelige Migration zum Zwecke der Arbeits- und Verdienstsuche als Söldner, die sich im 14. Jahrhundert aus dem deutschsprachigen Südwesten bevorzugt nach Nord- und Mittelitalien richtete. Die Aspekte, die im Folgenden betrachtet werden sollen, 1 lassen sich um die Begriffe Hin- und Rückfracht organisieren: Gefragt werden soll danach, was südwestdeutsche Adelige, die im 14. Jahrhundert nach Italien ritten, um in Solddienste zu treten, 2 zu ihrer Mobilität motiviert hat. Dafür ist zu ergründen, welche Erwartungen 1 Der hier um Anmerkungen erweiterte Vortragstext lehnt sich an folgende Publikationen des Verfassers an: S TEPHAN S ELZER , Deutsche Söldner im Italien des Trecento (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 98), Tübingen 2001; D ERS ., Sold, Beute und Budget - Zur Ökonomie deutscher Italiensöldner des 14. Jahrhunderts, in: H ARM VON S EGGERN / G ERHARD F OUQUET (Hg.), Adel und Zahl. Studien zum adligen Rechnen und Haushalten in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Pforzheimer Gespräche 1), Ubstadt- Weiher 2000, S. 219-246; D ERS ., Reitende Macht. Italienische Condottieri und ihre Pferde im 14. und 15. Jahrhundert, in: J OACHIM P OESCHKE / T HOMAS W EIGEL / B RITTA K USCH - A RNOLD (Hg.), Praemium Virtutis III: Reiterstandbilder von der Antike bis zum Klassizismus (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 22), Münster 2008, S. 75-93. 2 Siehe aus der nach Abschluss von S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), erschienenen Literatur, vor allem: K ENNETH F OWLER , Medieval Mercenaries, Bd. 1: The Great Companies, Oxford u. a. 2001; W ILLIAM C AFERRO , John Hawkwood. An English Mercenary in Fourteenth-century Italy, Baltimore 2006. Für die deutschen Söldner in Florenz bringt neues Material und Deutungen L ORENZ B ÖNINGER , Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter (The Medieval Mediterranean 60), Leiden u. a. 2006, S. 26-36. Ein Überblick bei T HOMAS E RTL , Alle Wege führten nach Rom. Italien als Zentrum der mittelalterlichen Welt, Ostfildern 2010, S. 270-286. <?page no="45"?> S TEPHAN S ELZER 46 und Hoffnungen sie bei ihrem Ritt über die Alpen hegten (das wäre die Hinfracht) und andersherum (und dafür steht der Begriff der Rückfracht), was dieselben Personen bei ihrer Rückkehr über die Bergpässe an prägenden Eindrücken und bleibendem Besitz in ihren Köpfen und in ihren Satteltaschen aus Italien mitgebracht haben. Es geht also in diesem Zusammenhang seltener um Migration, verstanden als ein dauerhaftes Verlassen der Heimat, als vielmehr um Mobilität, um das Hin und Her zwischen Nord und Süd im 14. Jahrhundert. 3 2. Rückfracht Mit der Rückfracht sei eingesetzt und dabei gefragt, was sich von Italien, und gemeint ist hier ausschließlich das Italien der Söldner dieser Epoche, heute noch in Südwestdeutschland finden lässt, welche materiellen Zeugnisse dieser Migration in der Region erhalten sind? Die Antworten sind ernüchternd, weil jegliche Selbstzeugnisse fehlen: Was in den Köpfen der Migranten vor dem Aufbruch herumschwirrte und was von ihrem Erlebnis blieb, an Träumen wie an Alpträumen, hat keiner von ihnen niedergeschrieben. 4 Auch die materielle Überlieferung ist verschwindend klein: Nur höchst wenige in Italien ausgestellte Schuldscheine und kein einziger Soldvertrag werden in nordalpinen Archiven verwahrt. 5 Immerhin kennt man einige Siegelabdrücke an nördlich der Alpen ausgestellten Urkunden, die italienische Umschriften zeigen, sodass sichtbar wird, dass sich ein Söldner der Fertigkeiten italienischer Künstler für sein Typar bedient haben muss: Beispielhaft dafür ist eine Urkunde von 1362 für das Spital in Biberach, an der ein Siegel des Grafen Hartmann von Wartstein mit der italienischen Form seines Vornamens Artemanno hängt. 6 3 Vgl. z. B. G ERHARD J ARITZ / A LBERT M ÜLLER (Hg.), Migration in der Feudalgesellschaft (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 8/ Medium aevum quotidianum 11-12), Frankfurt am Main 1988; P ETER M ORAW (Hg.), Unterwegssein im Spätmittelalter (ZHF Beiheft 1), Berlin 1985. 4 Zu adeligen Selbstzeugnissen des Mittelalters siehe allgemein die einschlägigen Beiträge in H EINZ -D IETER H EIMANN / P IERRE M ONNET (Hg.), Kommunikation mit dem Ich: Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts (Europa in der Geschichte 7), Bochum 2004. 5 S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 331. 6 Vgl. G UNTHER D OHL , Die Grafen von Wartstein und ihre Burgen im Lautertal, Ulm 1991, S. 49, Abb. 18; 194, Nr. 162. <?page no="46"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 47 Ob die Biberacher damit etwas anzufangen wussten, entzieht sich unserer Kenntnis genauso wie die passende Antwort auf die Frage, ob man in Süddeutschland den Herrschaftstitel von Konrad Wolf von Wolfurt zuordnen konnte, der 1364/ 65 zwei Urkunden als Baron von Guglionesi in der Provinz Campobasso siegelte (s. Abb. 1). 7 Immerhin hat sich von diesem Wolfurter ein für das Familienkloster gestifteter Messkelch erhalten, den man heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich bewundern kann (s. Abb. 2). 8 In die Stiftungsurkunde ließ Konrad von Wolfurt hineinschreiben, dass »für das Seelenheil all derjenigen, die von ihm in Leib und Gut, tödlich oder auf irgend eine andere Weise verletzt worden sind«, 9 gebetet werden solle. Mitgebracht aus Italien hatte er also nicht nur Sachkultur, sondern auch ein schlechtes Gewissen. Dieses teilte er vermutlich mit einem Kampfgefährten, mit dem er 1350 in Neapel die Beute eines Kriegsunternehmens geteilt hatte. Es war der prominente Condottiere Herzog Werner von Urslingen, der Kleinodien im Wert von 600 Gulden dem Kloster Rottenmünster für seine Memoria überließ. 10 7 Vgl. Thurgauisches Urkundenbuch, Bd. 6: 1359-1375, bearb. von E RNST L EISI , Frauenfeld 1950, S. 382-384, Nr. 2848. 8 Das Stück wurde mehrfach ausgestellt und kommentiert. Siehe z. B. P ETER J ETZLER (Hg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, eine Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums, 5. Aufl. Zürich 1997, S. 222f., Nr. 43/ 44. 9 Zitiert nach K ARL H. B URMEISTER , Das Edelgeschlecht von Wolfurt (Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 28), Lindau 1984, S. 40. 10 Vgl. M ARGARETA R EICHENMILLER , Das ehemalige Reichsstift und Zisterziensernonnenkloster Rottenmünster, Studien zur Grundherrschaft, Gerichts- und Landesherrschaft (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 28), Stuttgart 1964, S. 116, 157f.; K LAUS S CHUBRING , Die Herzoge von Urslingen, Tübingen 1972, S. 175-179, Nr. 113-124; H ANS H ARTER , Die Herzöge von Urslingen in Schiltach. Adlige Existenz im Spätmittelalter (Beiträge zur Geschichte der Stadt Schiltach 5), Schiltach 2008, S. 26. Abb. 1: 1364 siegelte Konrad Wolf von Wolfurt in seiner Heimat als Baron von Guglionesi in den italinischen Abruzzen. <?page no="47"?> S TEPHAN S ELZER 48 Abb. 2: Stiftung eines Condottiere: Konrad Wolf von Wolfurt für das Kloster in Präfers. <?page no="48"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 49 Trotz solcher Belege bildet aber der sichtbare Rückstrom von Papieren, Sachgütern und geistigen Zeugnissen im Falle der Italiensöldner des 14. Jahrhunderts kaum mehr als ein dünnes Rinnsal. Der Bestand bleibt weit hinter dem zurück, was beispielsweise als Folge hochadeliger Heiratsbeziehungen südwestdeutscher Familien zu den Visconti 11 und Gonzaga 12 erhalten geblieben ist, oder gar, was über Austauschbeziehungen zwischen Italien und Süddeutschland seit der Renaissance dickleibige Publikationen zu füllen vermag. 13 3. Gescheiterte Hoffnungen? Zieht man ein Zwischenfazit, so fällt auf, dass südwestdeutsche Söldner zwar kopfstark in italienischen Solddiensten des 14. Jahrhunderts vertreten waren, aber wenige Spuren von dieser Migration in ihrer Heimat sichtbar werden. Es könnte 11 Vgl. P ETER R ÜCKERT (Bearb.), Antonia Visconti († 1405) - ein Schatz im Hause Württemberg / Antonia Visconti († 1405) - un tesoro in casa Württemberg. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg/ Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart 2005; D ERS ./ S ÖNKE L ORENZ (Hg.), Die Visconti und der deutsche Südwesten: Kulturtransfer im Spätmittelalter / I Visconti e la Germania meridionale, Ostfildern 2008. 12 Vgl. P ETER R ÜCKERT (Bearb.), Von Mantua nach Württemberg: Barbara Gonzaga und ihr Hof / Da Mantova al Württemberg: Barbara Gonzaga e la sua corte, Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg/ Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart 2011. Vgl. zudem C HRISTINA A NTENHOFER , Briefe zwischen Süd und Nord. Die Hochzeit und Ehe von Paula de Gonzaga und Leonhard von Görz im Spiegel der fürstlichen Kommunikation, 1473-1500, Innsbruck 2007; D IES ., Briefe, Besuche, Hochzeiten: Die Gonzaga im Kontakt mit deutschsprachigen Fürstenhäusern (1354-1686), in: M ARCO B ELLABARBA / J AN P AUL N IEDERKORN (Hg.), Le corti come luogo di comunicazione. Gli Asburgo e l’Italia (secoli XVI-XIX) / Höfe als Orte der Kommunikation: Die Habsburger und Italien (16. bis 19. Jahrhundert), Bologna 2010, S. 39-60; C LAUDIA F EL - LER , Briefe nach Mantua. Spätmittelalterliche Dokumente der Herzoge und Herzoginnen von Österreich aus dem Archivio Gonzaga, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010), S. 377-394. 13 Siehe z. B. A LOIS S CHMID (Hg.), Von Bayern nach Italien. Transalpiner Transfer in der Frühen Neuzeit (ZBLG, Beiheft 38), München 2010; R EINHARD R IEPERTINGER u. a. (Hg.), Bayern-Italien, Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2010 »Bayern - Italien«, Augsburg 2010; W OLFGANG W ÜST u. a. (Hg.), Schwaben und Italien: zwei europäische Kulturlandschaften zwischen Antike und Moderne. Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2010 »Bayern - Italien« in Füssen und Augsburg (ZHVS 102), Augsburg 2010; B ODO G UTHMÜLLER (Hg.), Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 19), Wiesbaden 2000. <?page no="49"?> S TEPHAN S ELZER 50 naheliegen, beide Beobachtungen dadurch zu verbinden, dass man von massenhaft gescheiterten Hoffnungen ausgeht. Tatsächlich endete in den Hügeln der Toskana und auf anderen Kriegsschauplätzen für manche Männer die Migration aus der Region tödlich. Denn gegen die populäre Vorstellung von den unblutigen ›Theaterschlachten‹ italienischer Condottieri kann man zeigen, dass auch die Kriegführung im Italien des Spätmittelalters ein brutales Metier war. 14 Andere Migranten blieben am Abend der Schlacht verletzt zurück. Neben den durch Tod abgebrochenen stehen durch Verwundung geknickte Lebenswege deutscher Italiensöldner. 15 Über Menschen dieses Schicksals weiß man wenig, weil italienische Soldverträge das Risiko der Invalidität auf die Kämpfer abwälzten. Immerhin ließen Venedig und Florenz die Wunden, die ihre Söldner davontrugen, medizinisch behandeln. 16 Ihr Elend schilderten die am Körper Gezeichneten zuweilen selbst, wenn ein Wunder ihnen aus ihrer Misere half. 17 Auch finden sich vom Krieg gezeichnete Deutsche in Musterungslisten: Narbengesichter, Einäugige oder Gehbehinderte stehen hier nebeneinander. 18 Andere 14 Siehe dazu die Überlegungen bei S TEPHAN S ELZER , ›Renaissancemenschen‹ gesucht - Italienische Condottieri (1380-1480) im Porträt bei Jacob Burckhardt und im prosopographischen Gruppenbild, in: D ERS ./ U LF -C HRISTIAN E WERT (Hg.), Menschenbilder - Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2), Berlin 2002, S. 241-275. Vgl. allgemein K LAUS O SCHEMA , »Si fut moult grande perte …«. L’attidue paradoxale de l’idéologie chevaleresque envers la mort (XV e -XVI e siècles), in: Francia 33.1 (2004), S. 95-119; M ALTE P RIETZEL , Der Tod auf dem Schlachtfeld, Töten und Sterben in der Chronistik des 100jährigen Krieges, in: B IRGIT E MICH / G ABRIELA S IGNORI (Hg.), Kriegsbilder, Visualisierung und Intermedialität von Krieg und Zerstörungen in der Vormoderne (ZHF, Beiheft 41), Berlin 2008, S. 61-92. 15 Das Thema ist weitgehend unerforscht und soll im Rahmen des Bremer Projektes ›Homo debilis‹ erschlossen werden. Siehe als Überblick O LIVER A UGE , »So solt er im namen gottes mit mir hinfahren, ich were doch verderbt zu einem kriegsmann«. Durch Kampf und Turnier körperlich versehrte Adelige im Spannungsfeld von Ehrpostulat und eigener Leistungsfähigkeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 28 (2009), S. 21-46. 16 Vgl. D AVID M. D’ A NDREA , Civic Christianity in renaissance Italy: the Hospital of Treviso 1400-1530, Rochester (NY) 2007, S. 96; John H ENDERSON , The Renaissance Hospital: Healing the Body and Healing the Soul, New Haven (Conn.) 2006, S. 316; K ATHARINE P ARK , Doctors and Medicine in Early Renaissance Florence, Princeton 1985, S. 87-90. 17 Das Material ist bisher für Italien nicht systematisch gesammelt worden. Aus Frankreich weiß man von solchen von Kriegern bevorzugten Wallfahrtsstätten. Siehe z. B. Livre des miracles de Sainte-Catherine-de-Fierbois (1375-1470), hg. von Y VES C HAUVIN (Archives Historiques du Poitou 60), Poitiers 1975; M ARCUS G. B ULL , The Miracles of our Lady of Rocamadour. Analysis and Translations, Woodbridge 1999. 18 Eine der wenigen edierten Listen bei G IUSEPPE Z IPPEL , Documenti per la storia del Castel Sant’ Angelo, in: Archivio della Società Romana die Storia Patria 35 (1912), S. 151-218. <?page no="50"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 51 Versehrte wurden aus Gnade von ihren einstigen Dienstherren als Wachposten auf Burgen versorgt 19 oder erhielten aus Barmherzigkeit eine Unterbringung in italienischen Hospitälern. 20 In die Kategorie der gescheiterten Migration gehören auch solche Biographien, die durch den Solddienst (oder über ihn als Zwischenstation) in die Kriminalität führten und dort endeten. So weiß man von Deutschen, die im Kerker von Venedig schmachteten. 21 Anderen machte die Obrigkeit in Bologna den Prozess: Mord, Totschlag, Vergewaltigung, bandenmäßiger Betrug, aber auch Beschaffungskriminalität wie Diebstähle von Hausgerät und Wäsche legte ihnen der Podestà zur Last. 22 Aus denselben Städten und oftmals aus demselben Quellenmaterial lassen sich aber genauso Erfolgsgeschichten von beispielhafter Migration erzählen. Als Söldner ins Land gekommene Deutsche werden sichtbar mit italienischen Ehefrauen, als Väter italienischer Kinder, in angesehenen Berufen, in ihren Stadtvierteln fest verankert, als anerkannte Mitglieder ihrer Pfarrei und als großherzige Stifter - so wie beispielsweise Oswald Büler im Jahre 1381, der seine Tochter für mehrere Monate bei einer Pflegefamilie in Mantua unterbrachte, währenddessen er sich in Florenz beruflich zu etablieren suchte. 23 Zeugnisse für erfolgreiche Assimilation sind auch italianisierte Familiennamen, wie im umgekehrten Fall im 15. Jahrhundert die Della Scala von Verona im bayerischen Adel zur Familie Von der Leiter wurden. 24 Was sich bei Enkeln und Urenkeln irgendwann verlor, bleibt in der ersten Migrantengeneration als Rückbindung an die alte Heimat spürbar: Suppliken, die von Söldnern in Treviso an den venezianischen Senat gerichtet wurden, lassen an diesen menschlichen Bindungen teilhaben. In ihnen ging es um Sonderurlaub, um sich etwa eine deutsche Ehefrau zu suchen, die Hochzeit des Bruders mitzufeiern, nach 14 Jahren die Verwandten 19 Siehe z. B. M ARIA N. C OVINI , L’esercito del duca. Organizzazione militare e istituzioni al tempo degli sforza (1450-1480) (Nuovi studi storici 42), Rom 1998, S. 406, 441f. 20 Siehe z. B. für das 16. Jahrhundert M ARINA G ARBELLOTTI , L’Ospedla alemanno: un esempio di assistenza ospedaliera nela Trento die secc. XIV-XVIII, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, Sezione I, 74 (1995), S. 259-323. Siehe zudem den Beitrag von Reinhard Baumann in diesem Band. 21 S TEFANO P IASENTINI , »Alle luce della luna«. I furti a Venezia 1270-1403, Firenze 1992, bes. S. 95-100 und im Appendix. 22 Vgl. G IULIA L ORENZONI , Conquistare e governare la città: forme di potere e istituzioni nel primo anno della signoria viscontea a Bologna (ottobre 1350-novembre 1351) (Bologna medievale ieri e oggi 9), Bologna 2008. 23 Vgl. S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 158-165, 365-391. Zu Oswald Büler siehe insbes. ebd., S. 530 (Index). 24 Vgl. M ANFRED T REML (Hg.), Aus dem adeligem Leben im Spätmittelalter. Die Skaliger in Oberitalien und in Bayern (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 12), München 1986. <?page no="51"?> S TEPHAN S ELZER 52 wiederzusehen, zur Regelung von Erbschaftsangelegenheiten zu reisen oder um sich noch mit dem im Sterben liegenden Vater aussprechen zu können. 25 4. Geld, Reichtum, Adel Zwischen Lebenswegen von in Italien gescheiterten Männern und einer schmalen Erfolgsspur existieren freilich zahlreiche individuelle Zwischenpfade. Deswegen darf nicht nur von Einzelschicksalen die Rede sein, sondern es müssen auf einer abstrakteren Ebene die wirtschaftlichen und sozialen Chancen dieser Italienmigration betrachtet werden, ohne dass in gleicher Weise wie für spätere Epochen statistisch nutzbares Zahlenmaterial verfügbar wäre. Begonnen sei mit der Achse Adel und Geld, weil hier erst in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Forschung ein neues Verständnis für die grundlegenden Sachverhalte entstanden ist. 26 Zwar steht es außer Frage, dass in den Werken der höfischen Literatur der Fahrende Ritter in die Fremde zieht, um Abenteuer und Ehre und nicht um den finanziellen Gewinn zu suchen. Doch sollten Historiker darauf bestehen, dass literarische Leitbilder nicht mit mittelalterlicher Realität verwechselt werden dürfen. 27 Denn anders als bei Preußenreisenden oder bei Adeligen auf dem Weg ins Heilige Land, deren Fahrten viel Geld kosteten und ausschließlich Ehre als symbolisches Kapital einbrachten, zielten die Adeligen, die im 14. Jahrhundert über die Alpen zogen, um in Solddienste zu treten, auf finanziellen Gewinn. Dieser ökonomische Anreiz ist bei ihnen völlig deutlich, weil lehnsrechtliche 25 Das Material aus der Serie ›Archivio di Stato di Venezia, Senato, Deliberazioni Misti‹, bis in die 1370er Jahre verzeichnet bei S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 432-434. Die Edition der Serie ist mittlerweile bis zum 28. Register fortgeschritten. Vgl. E RMANNO O RLANDO (Hg.), Senato Misti, Bd. 15: Venezia - Senato. Registro XXVIII (1357-1359), Venedig 2009. 26 Wegweisend war der Sammelband H. VON S EGGERN / G. F OUQUET (Hg.), Adel und Zahl. (Anm. 1). Siehe zudem K URT A NDERMANN , Adel und finanzielle Mobilität im späten Mittelalter, in: H ORST C ARL / S ÖNKE L ORENZ (Hg.), Gelungene Anpassung? Adelige Antworten auf gesellschaftliche Wandlungsvorgänge vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 53), Ostfildern 2005, S. 13-26; E NNO B ÜNZ , Adlige Unternehmer? Wirtschaftliche Aktivitäten von Grafen und Herren im späten Mittelalter in: K URT A NDERMANN (Hg.), Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert (Kraichtaler Kolloquium 5), Epfendorf 2006, S. 35-70; M ATTHIAS S TEINBRINK , Adeliges Wirtschaften zwischen Haus und Markt, in: W ALTER D EMEL (Hg.), Adel und Adelskultur in Bayern (ZBLG, Beiheft 32), München 2008, S. 213-232; B ERND F UHRMANN , Adliges Wirtschaften im Spätmittelalter. Das Beispiel Konrad von Weinsberg, in: ZWLG 68 (2009), S. 73-102. 27 Siehe dazu W ERNER P ARAVICINI , Noblesse. Studien zum adeligen Leben im spätmittelalterlichen Europa. Gesammelte Aufsätze, hg. von U LF C HRISTIAN E WERT / A NDREAS R ANFT / S TEPHAN S ELZER , Ostfildern 2012. <?page no="52"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 53 Verpflichtungen, Glaube oder Patriotismus für ihren Weg in den Kriegsdienst keine wesentliche Rolle spielten. Sie kämpften nicht für Himmelreich, König oder Vaterland, sondern für sich selbst. Konrad von Megenberg empfahl die Soldnahme in der Lombardei deutschen Adeligen, denen drohte, auf einen bäuerlichen Status (in rusticum statum) hinabzufallen, deshalb ausdrücklich als einen finanziellen Ausweg. 28 Zwar unterliegt es keinem Zweifel, dass Motive auch bei Italiensöldnern in einer Gemengelage auftraten, sodass es nicht zu verwundern braucht, wenn man die Lebenswege von gepeinigten Söhnen, unglücklichen Ehemännern, entsprungenen Mönchen, ehrsüchtigen Jünglingen, bergmüden Herren und zu kurz gekommenen Erben kreuzt. Doch war auch für sie der zu erwartende Gewinn ein hinreichendes Motiv, um ein Italienunternehmen zu beginnen. 29 Wie viel aber erhielt ein Söldner in den italienischen Kriegen des Trecento als monatlichen Sold? Vergleicht man einschlägige Rechnungen aus Pisa, Florenz, Venedig und dem Kirchenstaat, so zeigt sich, dass in Nord- und Mittelitalien ein nahezu identischer Tarif galt, dass sich also auf einem verflochtenen Soldmarkt die regionalen Preise angeglichen hatten. In den italienischen Kriegen galt zwischen 1320 und 1370 grosso modo, dass ein einfacher Reiter mit einem Beipferd seine Haut für etwa neun Gulden monatlich zu Markte trug. Der Anführer eines Banners, einer Organisationseinheit von 20 bis 25 schwerbewaffneten Reitern, konnte mit dem Doppelten rechnen. 30 Wie attraktiv war dieser Grundlohn? 31 Mit Johan Huizinga wird man auf diese Frage auch mit einem psychologischen Argument antworten dürfen. Denn er wies darauf hin, dass es in der mittelalterlichen Adelswelt nicht ein abstrakter Kapitalbegriff, sondern noch »das gelbe Gold selbst [war], das die Vorstellung beherrscht«. 32 Falls seine Einschätzung zutrifft, dann muss der Umstand, dass in Italien Kampfkraft Gold wert war, geradezu elektrisiert haben, als zu Beginn des 14. Jahrhunderts nördlich der Alpen Münzen dieser Art noch weniger bekannt 28 Konrad von Megenberg, Ökonomik (Buch 1), hg. von S ABINE K RÜGER (MGH, Staatsschriften des späteren Mittelalters III, 5/ 1), Stuttgart 1973, § 19, S. 98-100. Zur Frage von Auf- und Abstieg an der unteren Adelsgrenze siehe K URT A NDERMANN / P ETER J OHANEK (Hg.), Zwischen Nicht-Adel und Adel (Vorträge und Forschungen 53), Stuttgart 2001. 29 Von einer Argumentation mit einer allgemeinen Adelskrise des Spätmittelalters ist man inzwischen richtigerweise abgerückt. Siehe dazu W ERNER R ÖSENER , Befand sich der Adel im Spätmittelalter in einer Krise? Zur Lage des südwestdeutschen Adels im 14. und 15. Jahrhundert, in: ZWLG 61 (2002), S. 91-109. 30 Dazu ausführlich S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 234-243. 31 Die folgenden Passagen ausführlicher bei S. S ELZER , Sold (Anm. 1), S. 224-227. 32 J OHAN H UIZINGA , Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Nach der niederländischen Ausgabe von 1941 hg. von K URT K ÖSTER , 11. Aufl. Stuttgart 1975, S. 31. <?page no="53"?> S TEPHAN S ELZER 54 waren. 33 Doch schauen wir auf die harten Zahlen: Um zu ermitteln, ob solche Verdienstaussichten tatsächlich einen Anreiz darstellten, muss man sich nach Vergleichszahlen umsehen. Nun wäre es relativ einfach, dergleichen aus denselben italienischen Finanzunterlagen beizubringen, aus denen auch die Zahlungen für die Söldner entnommen worden sind. Doch wirklich nützlich ist ein Vergleich beispielsweise mit den Einkünften der Weber von Florenz kaum. Einen wirklichen Maßstab können nur adelige Einkommen im Reich liefern, denn sie waren die Richtschnur, mit der die zumeist adeligen Söldner vertraut waren und an der sie ihre Entscheidungen ausgerichtet haben werden. Doch Serien, an denen zu verfolgen wäre, was der Durchschnittsadelige jährlich zu erwarten hatte, fehlen aus dem 14. Jahrhundert für die Hauptrekrutierungsgebiete deutscher Italiensöldner völlig. Überhaupt lassen sich adelige Einkünfte im Mittelalter in aller Regel nur punktuell sichern. Was man sich wünschte, eine auf gleicher Basis zustande gekommene Einkommensübersicht aus der südwestdeutschen Adelslandschaft, liegt erst viel später, nämlich für das Jahr 1488 für die im St. Jörgenschild organisierte Ritterschaft am Neckar vor. 34 Diese Aufstellung sei trotz des zeitlichen Abstands benutzt, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen: Eine Überschlagsrechnung, die nur mit der Anzahl der Goldstücke kalkuliert und die Kaufkraft nicht berücksichtigt, vermittelt zumindest einen Eindruck. Danach waren für die Ritterschaft am Neckar solche Einkommen typisch, die zwischen 50 und 100 Gulden im Jahr lagen. Etwa ein Viertel der Adeligen konnte über Beträge dieser Höhe verfügen; aber 16 von 139 Personen mussten sogar mit weniger als 50 Gulden rechnen. Gut hundert Jahre zuvor, um 1370, hätte beispielsweise ein einfacher Reiter mit Beipferd in Pisa nicht einmal ein halbes Jahr benötigt, um 50 Gulden zu verdienen; und in einem kompletten Soldjahr wären bei ihm sogar mehr als 100 Gulden zusammengekommen. Ein Bannerherr hätte in Florenz zur selben Zeit bei Einkünften von 30 Gulden monatlich in noch nicht einmal vier Monaten 100 Gulden erwirtschaftet. Wenn also die Italiensöldner des Trecento in der Heimat ähnlich hohe Einkünfte zu erwarten hatten wie ihre Urenkel, dann dürften die neun Gold- 33 Zu den ersten Goldmünzenprägungen im Reich siehe H ENDRIK M ÄKELER , Reichsmünzwesen im späten Mittelalter 1: Das 14. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 209), Stuttgart 2010. Als Beispiel für südwestdeutsche Schatzfunde mit italienischen Goldmünzen siehe U LRICH K LEIN , Italienische Goldmünzen und Mailänder Groschen des Spätmittelalters in Südwestdeutschland, in: P. R ÜCKERT / S. L ORENZ (Hg.), Visconti (Anm. 11), S. 299-316. 34 Die folgenden Zahlen nach K ARL -O TTO M ÜLLER , Zur wirtschaftlichen Lage des schwäbischen Adels am Ausgang des Mittelalters, in: ZWLG 3 (1939), S. 286-326. Siehe dazu H ORST C ARL , Der lange Weg zur Reichsritterschaft. Adelige Einungspolitik am Neckar und Schwarzwald vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, in: D ERS ./ S. L ORENZ (Hg.), Gelungene Anpassung? (Anm. 26), S. 27-66. <?page no="54"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 55 stücke, die von den Werbern als monatliche Soldeinkünfte genannt wurden, für viele Adelige recht verlockend geklungen haben. Wenn freilich ein Söldner mit der Vorstellung nach Italien geritten wäre, dass mit dem Sold in seinem Beutel alsbald ein Leben im höfischen Luxus beginnen müsste, hätte er eine herbe Enttäuschung erlitten. Denn den Einnahmen eines Söldners standen erhebliche Kosten gegenüber. 35 Jeder Dienstwillige musste nämlich das notwendige Arbeitsmaterial selbst beschaffen. Er musste sich selbst ausrüsten oder einen Ausrüster finden, um überhaupt den Solddienst beginnen zu können. Weil es sich bei den deutschen Italiensöldnern des 14. Jahrhunderts fast ausschließlich um Reiterverbände handelte, konnte nur derjenige zum Söldner werden, der die Kosten für Kauf oder Ausleihe von Rüstung und Pferden aufzubringen vermochte. Ökonomisch gesprochen lag also die Eintrittsbarriere auf dem Soldmarkt des Trecento für Migranten recht hoch. Setzt man mögliche Kosten und die Soldsumme in Beziehung, so lässt sich festhalten, dass ein einfacher Söldner allein schon zwei Monate brauchte, um seine Auslagen für den Kauf des Pferdematerials wieder einzunehmen. Nimmt man noch das beträchtliche Risiko hinzu, dem sich jeder Söldner bei seiner Berufsausübung aussetzte, liefert das, was bisher über die Gewinnaussichten im Solddienst zu berichten war, ein wenig ermutigendes Bild. Warum aber besaß der italienische Solddienst trotzdem eine so große Attraktivität? Wir sind mit dieser Frage an einen Punkt gelangt, an dem man sich leicht täuschen lässt, wenn man nur mit den monatlichen Soldzahlungen kalkuliert. Die Söldner rechneten anders, und auch die Forschung sollte von einer doppelten Struktur der Einkünfte ausgehen. Der fixe monatliche Soldbetrag war nur ein Element. Was daneben jeder mittelalterliche Kämpfer zu gewinnen trachtete, waren Beute und Lösegelder, die den Sockelbetrag des monatlichen Soldes erheblich aufstocken konnten. 36 Wie begründet aber war dieser Traum von Reichtum und sozialem Aufstieg durch Kriegsgewinne? Hierzu lässt sich bei fehlenden Quellen für das 14. Jahrhundert nur feststellen, dass mit dem Hinweis auf einige Erfolgreiche noch nichts darüber ausgesagt ist, wie groß die Durchschnittschancen wirklich waren. Aber 35 Das folgende ausführlicher bei S. S ELZER , Sold (Anm. 1), S. 227-233. 36 Zur Funktion Beutenahme im mittelalterlichen Krieg siehe aus den neueren Arbeiten vor allem M ICHAEL J UCKER , Zirkulation und Werte der geraubten Dinge: Schatz, Beute und ihre Symbolik im mittelalterlichen Krieg, in: L UCAS B URKART u. a. (Hg.), Le trésor au Moyen Âge. Discours, pratiques et objets, Florenz 2010, S. 221-240; D ERS ., Le butin de guerre au Moyen Âge, aspects symboliques et économiques, in: Francia 36 (2009), S. 113- 134; D ERS ., Plünderung, Beute, Raubgut: Überlegungen zur ökonomischen und symbolischen Ordnung des spätmittelalterlichen Krieges 1300-1500, in: S EBASTIEN G UEUX / V ALENTIN G ROEBNER / J AKOB T ANNER (Hg.), Kriegswirtschaft, Wirtschaftskriege (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 22), Zürich 2008, S. 51-69. <?page no="55"?> S TEPHAN S ELZER 56 genauso wenig wie es vorstellbar ist, dass jemand nur durch seinen Sold vermögend geworden ist, wird man annehmen können, dass die Bildung von großen Vermögen durch Beute und Lösegeld die Regel war. Karrieremuster legen diese Folgerung nahe. Unter den prominentesten deutschen Condottieri 37 des Trecento war Werner von Urslingen, ein Herzogssohn. Hinzu kamen mit Konrad, Lutz und Eberhard Grafen von Landau, Hartmann Graf von Wartstein, Johann Graf von Habsburg-Laufenburg, Heinrich Graf von Montfort-Tettnang sowie Konrad Graf von Aichelberg sieben Angehörige von gräflichen Familien. Weitere acht Personen entstammten Niederadelsfamilien, wie die Brüder Konrad Wolf und Ulrich von Wolfurt oder Konrad von Praßberg. Aus unteradeligen Schichten zur Traumkarriere gelangten hingegen nur Rainald Frenz, genannt Malerba, und Albert Sterz. 38 5. Soziale Beziehungen und Solddienstregion Der deutsche Südwesten ist, wie die beistehende Karte zeigt, als Herkunftsregion der bedeutenden Söldnerführer besonders häufig vertreten. Damit ist ein zweites Stichwort angeklungen: die soziale Dimension der Italienmigration. Es handelt sich um einen kräftigen Klang, denn unter allen Frachten sind es soziale Bindungen, die in der forschenden Rückschau am deutlichsten sichtbar werden. In Freundschaften, Heiratsverbindungen, Vormundschaften und Totengedenken scheinen italienische Gemeinschaften nach der Rückkehr über die Alpen wieder auf. 39 Doch solche Bande wären als bloße Rückfracht falsch verstanden. Denn den einsamen Ritter auf Reisen zu großen Abenteuern, wie er die höfischen Romane bevölkert, gibt es auf mittelalterlichen Straßen und Alpenpässen eher seltener. Söldner des 14. Jahrhunderts erscheinen nicht einzeln, sondern auf Hin- und Rückweg in Gruppen. Und so wurden sie auch in Dienst genommen. Die typischen Banner der italienischen Armeen von etwa zwanzig Berittenen bildeten in Herkunft und Hierarchie oftmals nordalpine Sozialverhältnisse ab. 40 37 Von den neueren biographischen Arbeiten zu den italienischen Condottieri des 15. Jahrhunderts siehe vor allem H EINRICH L ANG , Cosimo de’ Medici, die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert, Paderborn 2009, bes. S. 317-375; R INALDO C OMBA (Hg.), Ludovico II marchese di Saluzzo: condottiero, uomo di stato, mecenate (1475-1504). Atti del convegno, Saluzzo, 10-12 Dicembre 2004, Cuneo 2005; S ERENA F ERENTE , La sfortuna di Jacopo Piccinino: storia dei bracceschi in Italia, 1423-1465, Firenze 2005; M ARIO D EL T REPPO (Hg.), Condottieri e uomini d’arme nell’Italia del Rinascimento, Napoli 2002. 38 Die Karrieren sind zusammengestellt bei S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), Anhang 2, S. 365-391. 39 Vgl. S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 170-182, 323-337. 40 Vgl. S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 201-220. <?page no="56"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 57 Karte: Bekannte deutsche Condottieri des 14. Jahrhunderts und ihre Herkunft. Daher scheint die ältere Forschungsmeinung von einer professionellen Kriegsmigration von unten, einem wilden Laufen zu den italienischen Kriegen, nicht zutreffend zu sein, wenn man sie als Regelfall versteht. 41 Die Rekrutierung verlief anders und wurde vermittelt von Personen, die in der Lage waren, den italienischen Mächten größere Kontingente zuzuführen, denn alle Abnehmer brauchten nicht 41 Ähnliche Beobachtungen für die eidgenössischen Söldner bei H ERMANN R OMER , Herrschaft, Reislauf und Verbotspolitik. Beobachtungen zum rechtlichen Alltag der Zürcher Solddienstbekämpfung im 16. Jahrhundert (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 28), Zürich 1995. <?page no="57"?> S TEPHAN S ELZER 58 nur kampfstarke Krieger, sondern sie brauchten diese rasch und in großer Zahl. Wer dies als Vermittler organisieren konnte, auf den trifft bereits für das Mittelalter die für die Frühe Neuzeit eingeführte Bezeichnung Söldner- oder Soldunternehmer zu. 42 Bedeutende unter diesen Soldunternehmern waren die bereits genannten Hochadeligen. Als Anwerber rekrutierten sie in ihrer Adelslandschaft, 43 dort, wo ihre Familien zu Hause waren und sie somit über Klientelbeziehungen verfügten. Dies galt auch im kleineren Maßstab. Wie viele Männer allerdings so zusammenkamen, ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Für südwestdeutsche Niederadelige dürften aber die fünfzehn Helme, über die 1353 Peter von Hewen einen Dienstvertrag abschloss, an der oberen Grenze gelegen haben. 44 Selbst solche zahlenmäßig kleineren Anwerbeaktivitäten wirkten in der Summe wie Katalysatoren, die eine Region zum überproportional sichtbaren Rekrutierungsraum machen konnten. Günstige Verkehrsanbindung, die Abkömmlichkeit eines kriegsfähigen Adels, der nicht in Kriegen oder am Hof einer einheimischen Dynastie gebunden war, und vielleicht auch familiäre Italientraditionen 45 waren 42 Siehe für das 16. Jahrhundert außer dem Klassiker von F RITZ R EDLICH , The German Military Enterpriser and his Workforce. A Study in European Economic and Social History, 2 Bde. (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 47-48), Wiesbaden 1964/ 65, z. B. R EINHARD B AUMANN , Söldnerische Kleinunternehmer im Baierischen Erbfolgekrieg 1504 - eine Studie zur Entwicklung des europäischen Kriegsunternehmertums in der frühen Neuzeit, in: W OLF D. G RUNER / P AUL H OSER (Hg.), Wissenschaft - Bildung - Politik: von Bayern nach Europa. FS für Ludwig Hammermayer zum 80. Geburtstag, Hamburg 2008, S. 19-32. Siehe zudem die beiden Sammelbände S TIG F ÖRSTER u. a. (Hg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung von der Antike bis zur Gegenwart (Krieg in der Geschichte 57), Paderborn 2010; und M ATTHIAS M EINHARDT / M ARKUS M EUMANN (Hg.), Die Kapitalisierung des Krieges. Kriegsunternehmer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 13), Münster 2013. 43 Zu dem nützlichen Begriff der ›Adelslandschaft‹ siehe J OACHIM S CHNEIDER , Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel. Ein landschaftlicher Vergleich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 52), Stuttgart 2003. 44 R UDOLF T HOMMEN (Hg.), Urkunden zur Schweizer Geschichte aus österreichischen Archiven, Bd. 1: 765-1370, Basel 1899, S. 308, Nr. 498. Vgl. W OLFGANG S ANDERMANN , Die Herren von Hewen und ihre Herrschaft. Ein Beitrag zur politischen Geschichte des schwäbischen Adels (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 3), Freiburg 1956, S. 23, 67, 80; M ARKUS B ITTMANN , Kreditwirtschaft und Finanzierungsmethoden. Studien zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Adels im westlichen Bodenseeraum 1300-1500 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 99), Stuttgart 1991, S. 80-82. 45 Zu solchen in die Stauferzeit zurückreichenden Italientraditionen siehe K LAUS S CHU - BRING , Zwischen Syrakus und Seelbach. Stauferzeitliche Verbindungen von Süditalien zur Ortenau, in: Die Ortenau 65 (1985), S. 120-133; D ERS ., Der Brief Konrads von Lützel- <?page no="58"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 59 fördernde, aber einzeln wohl nicht hinreichende Faktoren für die Ausbildung einer Söldnerregion. Denn ähnliche Strukturbedingungen und ebenso starke individuelle Motive zur Migration gab es zur selben Zeit auch anderswo. Vorrangig die militärischen Zwischenhändler machten den Südwesten zum im 14. Jahrhundert für italienische Mächte wichtigsten deutschen Rekrutierungsraum für Söldner. 46 Es ist derselbe Mechanismus, der die Konstituierung eines europäischen Anwerbemarktes für Söldner zur Mitte des 15. Jahrhunderts in Böhmen 47 und im letzten Drittel des Jahrhunderts in der Eidgenossenschaft 48 bewirkte. In der Fähigkeit, ein nordalpines Rekrutierungspotential auszuschöpfen, es militärisch zu organisieren und auf den italienischen Kriegsschauplatz zu führen, lag eine hohe Gewinnmöglichkeit. 49 In diesem Punkt kreuzen sich die beiden Betrachtungsachsen der sozialen Dimension und des Geldes. Weil die italienischen Abnehmer die Anwerbung, den Anmarsch, die Ausrüstung, die Versorgung und die Ergänzung der Armee der Privatinitiative der Söldnerführer überließen, waren diese zugleich Initiatoren, Investoren und militärische Befehlshaber. Dieses Funktionsbündel vergüteten die italienischen Abnehmer mit Provisionen, die auf die normalen Soldsätze aufgeschlagen wurden und ein Engagement dieser Qualität lukrativ machten. Man weiß zudem von Pferdeverleih an Untergebene und darf wohl auch eine Vorausfinanzierung von Ausrüstung und Verpflegung vermuten. Hier stehen sich zwei Migrationswelten gegenüber. Zwischen beiden Ebenen der militärischen Hierarchie verlief, zugespitzt formuliert, die Grenze zwischen ›Tagelöhner‹ und ›Unternehmer‹ im italienischen Soldgeschäft. Für die Kleinen blieb der Weg nach Italien eine saisonale Gelegenheitsarbeit, ein Nebenerwerbsfeld, in dem nur jemand, der dem Reiz von Erfolgsgeschichten erlag und die Nachrichten von verstümmelten Berufskollegen überhörte, von einem sicheren Karrieresprung träumen konnte. Oder die Migration war der letzte Strohhalm, die Flucht aus einem Desaster in der Heimat, wie es in der Rückschau die Zimmersche Chronik in Worte fasste: sie muesten armut und schulden halber entreiten, kamen in die hardt an seine Mutter. Erläuterungen und kritische Edition, in: Deutsche Archiv für die Erforschung des Mittelalters 51 (1995), S. 405-431; D ERS ., Waren die Malatesta von Rimini Lützelhardter? , in: Geroldsecker Land 41 (1999), S. 17-37. 46 Vgl. S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 269-300. 47 Vgl. U WE T RESP , Söldner aus Böhmen: im Dienst deutscher Fürsten. Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19), Paderborn 2004, S. 96-123; D ERS ., Die »Quelle der Kriegsmacht«. Böhmen als spätmittelalterlicher Söldnermarkt, in: S. F ÖRSTER (Hg.), Rückkehr (Anm. 42), S. 43-61. 48 Vgl. H ANS R. F UHRER u. a. (Hg.), Schweizer in »Fremden Diensten«: verherrlicht und verurteilt, Zürich 2006; H ERMANN R OMER , Alles halb so wild. Adel, Sold und Krieg im Spätmittelalter, in: P ETER N IEDERHÄUSER (Hg.), Alter Adel - neuer Adel. Zürcher Adel zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2003, S. 43-49. 49 Zum Folgenden ausführlicher S. S ELZER , Sold (Anm. 1), S. 234-236. <?page no="59"?> S TEPHAN S ELZER 60 Lambardei und warden kriegsleut; 50 was dann erfolgreiche Migration gewesen sein kann, weil sich in der Fremde die Chance eröffnete, noch in dürftiger Zeit ein Ritter zu sein und als adelig zu gelten. So gewendet, gehört der italienische Solddienst zu den vielfältigen Strategien des »Oben-Bleibens«, über die in der Adelsforschung zuletzt lebhaft diskutiert worden ist, 51 denn er war abseits vom finanziellen Gewinn stets prestigeträchtige Mobilität: Ehrerwerb in der Fremde. Doch wird die Landesgeschichte noch anders fragen müssen und weniger die individuellen Erfolge durch Italiendienst betrachten, als auf den Ort dieser adeligen Migration in der generationenübergreifenden Geschichte einzelner Adelsfamilien schauen wollen. Blickt man so, dann wird es wichtig, eine derartige Migration in der Abfolge von Heiraten, Todesfällen und Besitzübertragungen innerhalb eines Adelsgeschlechts überhaupt wahrzunehmen. Gelingt dies, dann erkennt man zuweilen solche Rückfrachten, die in der Heimat die wirtschaftliche Existenz zu festigen halfen. In der ersten Generation des 14. Jahrhunderts etwa finden sich in der Allgäuer Familie Von Rotenstein gleich fünf Söhne, von denen nur einer im Deutschen Orden unterzubringen war. Die Vierteilung des Besitzes durch Konrad den Alten von Rotenstein im Jahre 1339 setzte offensichtlich alle vier Brüder auf Treibsand. Keinem von ihnen blieb es erspart, als Verkäufer von ererbtem Besitz aufzutreten. Doch anschließend ist bei zweien der Brüder zu erkennen, dass der Italiendienst zum Weg einer Teilkonsolidierung wurde. 52 Was für die Söhne Konrad des Alten erschlossen werden kann, gilt deutlicher noch für die Enkelgeneration. Hug von Rotenstein hatte 1410 die Burg Ittelsburg mit in der Fremde erworbenen Mitteln gekauft. Doch um welchen Preis gelang dieser Erfolg, denn Hug war der einzige von drei Brüdern, der aus dem Kriegsdienst in welschen Landen zurückgekehrt war! Er sorgte überhaupt erst für die Anerkennung der Kinder seines verschollenen Bruders Jos, der einst in sollich groß geltschuld und kumernuß fiele, das er auß disen landten rayt so ferr in frembde land. 53 Auch andere in Italien Erfolgreiche sind bekannt: Was Wilhelm Graf von Montfort-Tettnang vom Italienzug Ludwig des Bayern um 1330 an den Bodensee mitbrachte, war nach Johann von Winterthur so viel, dass er sich davon die Burg 50 Zimmerische Chronik, urkundl. berichtet von Graf Froben Christof von Zimmern und Johannes Mueller, neu hg. von P AUL H ERRMANN , Meersburg 1932, hier Bd. 4, S. 133f. 51 Siehe zur adeligen Selbstsicht z. B. P ETER S CHOLZ / J OHANNES S ÜSSMANN (Hg.), Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart (HZ, Beiheft 58), München 2013. 52 Vgl. F RANZ L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus, Bd. 2: Das späte Mittelalter (1268- 1517), Kempten 1890, ND Aalen 1973, S. 552; S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 279f. 53 K LAUS VON A DRIAN -W ERBURG , Studien zum Begriff der Ebenbürtigkeit an Beispielen der v. Mühlegg und v. Rotenstein im Allgäu, in: Blätter des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde 27 (1964), S. 456-465, hier 464f. mit dem Zitat aus der Urkunde. <?page no="60"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 61 Langenargen errichten konnte. 54 Seit 1351 kauften auch die beiden Brüder Oswald und Marquard aus der Allgäuer Adelsfamilie Von Heimenhofen beständig Besitz hinzu, dessen Umfang im Jahre 1361 ausreichte, um zwei wirtschaftlich gesicherte Linien der Familie zu begründen. 55 Konrad von Praßberg erwarb auf dem Höhepunkt seiner Karriere im päpstlichen Dienst zwischen 1395 und 1397 Land und Herrschaft im Allgäu. 56 Auch Konrad Wolf von Wolfurt brachte nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern so viel Geld in seine Heimat zurück, dass er Besitzungen im Thurgau ankaufen konnte. 57 Innerhalb der dynamischen Umschichtungsprozesse im mittelalterlichen Adel sorgte freilich ein einträgliches italienisches Soldengagement einer herausragenden Persönlichkeit stets nur zur zeitweiligen wirtschaftlichen Sanierung. Diese Beobachtung lässt sich gerade bei den Grafen von Grüningen-Landau machen, die über fast drei Generationen die Große Kompanie in Italien dominierten. 58 In ihrer schwäbischen Heimat bewirkte der italienische Zugewinn zunächst eine merkliche Stabilisierung der Lage. Die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einsetzende Serie der Besitzverkäufe endete. Die Stammburg konnte 1356 zurückgekauft werden. Doch eine dauerhafte Konsolidierung bewirkten diese ersten Erfolge nicht. Ein deutlicher Indikator dafür sind die Heiratsverbindungen. Schon der Vater der beiden Condottieri Lutz und Eberhard heiratete zweimal Frauen aus niederadeliger, vielleicht sogar aus nicht-adeliger Familie. Eine Rangminderung, die Lutz noch einmal durchbrechen konnte, als ihm aufgrund seiner italienischen Position die Heirat mit einer unehelichen Visconti-Tochter gelang. Doch die beiden Söhne aus dieser Verbindung fanden in der Heimat keine gräflichen Ehepartner. Sie legten schließlich sogar den Grafentitel ab, nannten sich nur noch Ritter und näherten sich dem Niederadel an. Genauso wie sich hierin der soziale Abstieg manifestierte, so lässt sich in derselben Generation auch feststellen, dass der Bergrutsch des Besitztums durch die italienischen Münzen nur abgedämmt, nicht aber aufgehalten worden war. Es war Eberhard, Sohn des in Italien berühmten Grafen Lutz, der im Jahre 1437 dann den völligen wirtschaftlichen Ruin ertragen musste. Vielleicht besaß eine solche Entwicklung eine gewisse Zwangsläufigkeit. Denn solche Familien engagierten sich vermutlich im fremden Solddienst gerade deshalb, 54 MGH, Scriptores rerum Germanicarum NS, Bd. 3: Die Chronik Johann von Winterthurs, hg. von F RIEDRICH B AETHGEN , Berlin 1924, S. 86. 55 F. L. B AUMANN , Geschichte (Anm. 52), S. 516-520; G ÜNTHER B RADLER , Studien zur Geschichte der Ministerialität im Allgäu und in Oberschwaben (Göppinger Akademische Beiträge 50), Göppingen 1973, S. 286f. 56 Das Material zusammengetragen in S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 387f. 57 Das Material zusammengetragen in S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 366f. 58 Die folgenden Informationen nach S. S ELZER , Söldner (Anm. 1), S. 368-370, 380-385; S ÖNKE L ORENZ , Das Haus Württemberg und die Visconti, in: P. R ÜCKERT / S. L ORENZ (Hg.), Visconti (Anm. 11), S. 49-61. <?page no="61"?> S TEPHAN S ELZER 62 um zu Hause möglichst wenig ändern zu müssen. Das fremde Geld half zwar für den Moment, die Lücken zu stopfen, zementierte aber damit die strukturelle wirtschaftliche Schieflage ein Strukturproblem, das in dem Augenblick erneut aufbrach, als der italienische Solddienst keine Alternativen mehr bot. Spätestens in diesem Moment waren solche Familien im Vorteil, die auf Zugewinn im Dienst eines benachbarten Landesherrn gesetzt hatten. 59 So ist in gewisser Weise symptomatisch, dass es der Rückfracht Werner Herzogs von Urslingen, desjenigen Söldnerführers, der unter den Italienern zeitweise am gefürchtetsten war, recht jämmerlich erging. Sein Bruder Reinhold war es, der in der Heimat in so niederschmetternden Verhältnissen steckte, dass er nach dem Tod seines Bruders die von diesem für sein Seelgerät bestimmten Kleinodien als Pfand aus der Hand gab. 60 Anders als der Wolfurter Kelch in Zürich finden sie sich somit in keinem europäischen Museum als Beispiele für Rückfracht aus Italien. 6. Ergebnisse Die Soldnahme von südwestdeutschen Kämpfern in Nord- und Mittelitalien war ein Ereignis, das rund neunzig Jahre andauerte. Von etwa 1313 bis 1403 sind einige Tausend Männer über die Alpen gezogen, um durch ihre Mobilität einen finanziellen Zugewinn zu erzielen. Weniger das dauerhafte Engagement zu fairen Soldsätzen als die Hoffnung auf Beute und Lösegeld waren für die Söldner der zentrale Antrieb, um sich auf ihr gefährliches Geschäft einzulassen. Unterschiedliche Karrieretypen lassen sich fassen: Auf der einen Seite stand der professionelle, über mehrere Jahre dienende Italiensöldner. So zu beschreiben ist der kleinere Teil der Deutschen. Noch seltener nachzuweisen sind Personen, deren Mobilität zur dauerhaften Migration wurde. Doch lassen sich die professionellen Kämpfer auch dabei beobachten, wie sie sich um ihre Frauen und Kinder sorgten, mit Sprachproblemen kämpften und vor allem ihre Memoria zu garantieren suchten. Am typischsten waren indes die Gelegenheitssöldner: Wohl zwei Drittel aller Männer dienten bloß für eine Saison oder kamen nur für einen Kriegszug über die Alpen. 59 Vgl. P ETER N IEDERHÄUSER , Adel und Habsburg - habsburgischer Adel? Karrieremöglichkeiten und Abhängigkeiten im späten Mittelalter, in: D ERS . (Hg.), Die Habsburger zwischen Aare und Bodensee, Zürich 2010, S. 151-177, mit weiterer Literatur; M ARKUS B ITT - MANN , Parteigänger, Indifferente, Opponenten. Der schwäbische Adel und das Haus Habsburg, in: F RANZ Q UARTHAL (Hg.), Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, Stuttgart 2000, S. 75-88. 60 Das Dossier dieser Angelegenheit bei K. S CHUBRING , Urslingen (Anm. 10), S. 175-179, Nr. 113-124. <?page no="62"?> W ÜNSCHE UND B ILANZEN SÜDWESTDEUTSCHER I TALIENSÖLDNER 63 Unter den deutschen Italiensöldnern finden sich hochadlige Personen genauso wie Männer nicht-adeliger Herkunft. Auf der Ebene der Bannerführer war der italienische Solddienst vor allem ein niederadliges Phänomen. Mit der sozialen Herkunft stiegen in ganz auffälliger Weise die militärische Position und die Karrierechancen in Italien an. Söhne von Grafen stellten unter den prominenten deutschen Söldnerführern überproportional viele Personen. Wirkliche Aufsteiger von ganz unten waren selten. Materieller und ideeller Profit, Beute und Ehre können als Motivation benannt werden. Manch einem Söldner gelang es tatsächlich, von diesen Dingen etwas aus Italien zurückzubringen. Besonders auffällig waren die Kriegsprofiteure, die ihre italienischen Gewinne in Land und Herrschaft investierten, und zwar durchgängig in der Heimat und nicht in Italien. Freilich zeigte sich auch, dass selbst bei den besonders erfolgreichen Familien der italienische Geldsegen die strukturellen Probleme nur kurzzeitig überdeckte. Für die durchschnittlichen Kämpfer bleibt es hingegen zweifelhaft, ob einmaliger Italiendienst überhaupt lohnend sein konnte, sofern man diese Frage in ökonomischen Kosten-Nutzen-Relationen beantwortet. Denn ein Mitbringsel aus der Fremde konnten auch Sprachfähigkeiten und kulturelle Kompetenz sein, wovon man genauso wenig wissen kann, wie über die durch Kriegserlebnisse ausgelösten Traumata. <?page no="64"?> 65 R EINHARD B AUMANN Feldzugs- und Gartmigration von Kriegsleuten im 16. Jahrhundert Einer ständischen Gesellschaft waren zu allen Zeiten nichtsesshafte, migrierende Menschen fremd und verdächtig. Die Obrigkeit ließ sie argwöhnisch beobachten. 1559 trieben sich in Memmingen und seinem Umland fast fünfzig Personen herum, deretwegen der Rat ein verzaychnus der schadhafften personen anlegen ließ, so abermal hin vnnd wider wandern und ziechen, sich des hochsindtlich verpottnen lasters des Mordens, Brennens vnd Stelens gebrouchen. Vnd wie die personen In klaydung vnd ander weg gestalt sein sollen. 1 Dieses Verzeichnis ermöglicht einen genaueren Einblick in diese Migrantengruppe. Die meisten sind im süddeutschen Raum beheimatet: in Oberschwaben, in Vorarlberg, am Bodensee, im Schwarzwald, am Oberrhein, in Franken. Es gibt allerdings auch solche von weit her: Einer stammte aus Wien, einer von Mansfeld, zwei kamen aus dem Genfer Umland, vier von Petterlingen, und das ist der damals noch gebräuchliche deutsche Name von Abtei und Siedlung Payerne in der Waadt, seit 1536 Berner Herrschaftsgebiet. Die meisten der Männer sind Kriegsleute. Viele kann man als Landsknechte identifizieren, so an ihrer Kleidung: ainer hat rott zerhawen hosen an vnnd ain Landtsknechtischen schwarzen huot auff, und an ihrer Bewaffnung: Symon von Wien in Österreich, ain dicker, starcker mann, hat ain bart vnnd ain schlachtschwert vnnd ain Rappier und ain braunen mantell an. Der langbärtige Vorarlberger Hans Henj von Feldkirch dagegen, bereits ein alter Mann, trägt Panzerärmel über einem schwarzen Rock, der mit weißem Taft unterzogen ist. Er schleppt eine Feuerbüchse mit sich herum, ist dazu mit einem Degen und einer Hellebarde bewaffnet. Bei denen aus Peterlingen handelt es sich offensichtlich um Schweizer Reisläufer, die aus der Genfer Gegend sind wohl herumziehende Kriegsleute, ›Reisser‹ nennt man solche um die Wende zum 16. Jahrhundert. Von vieren weiß man, dass sie ehemalige Handwerksgesellen sind, zwei Spengler, ein Hutmacher und ein Kürschner. Einige sind lädiert: Einem fehlen zwei Finger an der rechten Hand, einer hat ain krumen Schenkel, einer ain wund im Backen, einer ist einäugig, einer hat nur eine Hand, einer ain pöse Handt, einer hinkt mit dem rechten Fuß. Nicht alle der 37 beschriebenen Männer ziehen allein durchs Land. Der Peterlinger Bernhart z. B. hat ain starckh frouwen vß Lottringen vnd ain starckhen knaben bei sich, der Peterlinger Hans Rott wird ebenfalls von einer Frau begleitet, die eine 1 StadtA Memmingen, A 409/ 1: verzaychnus der schadthafften personen, 1559. <?page no="65"?> R EINHA R D B AU MANN 66 krumme Hand hat, aber geziemend bekleidet ist, beide haben auffällig gute Hüte. Enderle Jumel von Ravensburg, klein von Gestalt, trägt eine Hakenbüchse und einen Langspieß mit sich herum und zieht stets mit einer Dirne, also einer Trosshure, durchs Land. 1. Kriegsleute als mobile Gruppe Mit dieser kurzen Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1559 kann man sich ein gutes Bild machen von der großen Gruppe Vagierender, die arbeitslos und bettelnd, stehlend und raubend durch die deutschen Lande zog, als typisches Produkt einer Kriegsführung mit Söldnern, die für einen Krieg angeworben und am Ende desselben entlassen wurden. Mit der Zunahme des Söldnertums seit dem 15. Jahrhundert wuchs auch die Erscheinung migrierender Kriegsleute. So zogen in den 1450er Jahren Söldnerverbände aus Böhmen, durchmischt mit anderen Soldknechten als Brat íci und Žebràci, also als Bruderschaften und Söldnergesellschaften, häufig unter der Führung böhmischer und polnischer, aber auch deutscher Adeliger durch die österreichischen und oberungarischen Lande, zumeist unbezahlt, auf Erfüllung ihrer Soldforderungen durch den Kaiser, den böhmischen oder den polnischen König wartend und sich derweil gewaltsam selbst versorgend. 2 Der Augsburger Chronist Burkard Zink nennt sie ain gesamnet volk von allen landen und eitl büeberei und verworfen volk und sind niendert dahaim. Wahin sollten sie dann ziehen? Ainer ist von Schwaben, der ander von Franken, der dritt von Bairn und von Behaim, von Österreich, von Ungarn etc. Die hand sich zusamen verpunden und der rauberei und der büeberei gewonet. 3 In den nächsten Jahrzehnten kamen weitere Erscheinungsformen von Soldknechten dazu, das Problem vagierender Einzelner und von Banden blieb aber dasselbe: eidgenössische Reisläufer, Landsknechte, dazu »Einspännige«, d. h. Soldreiter mit einem Pferd, auf der Suche nach städtischen Diensten, Angehörige der leichten und schweren Reiterei, zumeist als Ringerpferd und Schwarzreiter und als Kürisser bezeichnet. Landfremde leichte Reiter waren die Stradioten aus griechischen und albanischen Anwerbegebieten und balkanische »hussern Pferd«, also Husaren. Solches Kriegsvolk hielt sich offensichtlich auch im Land auf, denn z. B. in der Württemberger Fehde 1519 musste der Schwäbische Bund nicht erst auf 2 U WE T RESP , Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19), Paderborn u. a. 2004, S. 59-69. 3 Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Augsburg-Leipzig 1866, S. 117. <?page no="66"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 67 dem Balkan anwerben: Stradioten waren sofort in Süddeutschland verfügbar. 4 Schließlich sind auch vagierende Büchsenmeister und andere Artilleristen zu nennen. Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung liegt auf den Fußknechten. Berittene waren bei den Vaganten eher die Ausnahme, Büchsenmeister fanden schnell eine feste Bleibe und Anstellung. Zahlenmäßig waren die Fußknechte die größte Gruppe, in den Kriegen wuchs ihre Bedeutung als Langspießknechte und als Büchsenschützen. Migration war bei ihnen ein typisches, notwendiges Verhalten. 2. Formen der Migration von Kriegsleuten Wenn man unter Migration Wanderungsbewegungen von Menschen zwischen Staaten oder administrativen Untereinheiten eines Staates versteht, die zu einem längerfristigen oder dauernden Wechsel des ständigen Aufenthaltsortes führen, so lässt sich diese moderne Definition auch auf Kriegsleute des 15. und 16. Jahrhunderts anwenden. 5 Nicht nur diese Definition eines ökonomischen modernen Standardwerks, auch das Begriffsverständnis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge trifft auf das 16. Jahrhundert zu: »Von Migration spricht man, wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht«. 6 Bei der Migration von Kriegsleuten in der frühen Neuzeit handelt es sich um Arbeitsmigration. Der Begriff ›Kriegshandwerk‹ ist in diesem Zusammenhang ein treffender Sprachgebrauch. Dabei tritt Arbeitsmigration bei einigen Migranten als Karrieremigration auf, wie zu zeigen sein wird, in vielen Fällen allerdings als Migration zur Verbesserung der Lebensverhältnisse oder gar zur Vermeidung oder Verhinderung von Not. 7 Zwei Formen der Migration sind bei frühneuzeitlichen Kriegsleuten grundsätzlich zu unterscheiden: die ›Feldzugsmigration‹ und die ›Gartmigration‹. 4 R EINHARD B AUMANN , Georg von Frundsberg, Vater der Landsknechte, Feldhauptmann von Tirol, 2. erw. Aufl. München 1991, S. 179 f. 5 K ATRIN A LISCH / E GGERT W INTER / U TE A RENTZEN (Hg.), Gabler, Wirtschaftslexikon, 17. Aufl. Wiesbaden 2010, Lemma Migration. 6 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2006. Vgl. http: / / www.bpb.de/ gesellschaft/ migration/ dossier-migration/ 57302/ definition. Aufgerufen am 20.10.2012. 7 Vgl. allgemein J OCHEN O LTMER , Einführung: europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 5-27, hier 8; speziell zur Migration von Kriegsleuten vgl. M ATTHIAS A SCHE , Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Einleitende Beobachtungen zum Verhältnis von horizontaler und vertikaler Mobilität in der kriegsgeprägten Gesellschaft Alteuropas im 17. Jahrhundert, in: M ATTHIAS A SCHE u. a. (Hg.), Krieg und Migration in der Frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 9) Berlin 2008, S. 11-36, hier 12-15. <?page no="67"?> R EINHA R D B AU MANN 68 Die Feldzugsmigration umfasst den Zug weg von der Heimat in andere Länder und den Zug zurück über eine kürzere oder längere Zeitspanne. Sie bezieht sich sowohl auf den Kriegsdienst für einzelne Reichsstände (z. B. für Baiern-Landshut oder Baiern-München im Baierischen Erbfolgekrieg) und für das Reich (z. B. in den Venedigerkriegen 1508-1516) und für mit dem Reich verbundene Kriegsherrn wie z. B. Spanien, als auch auf reichsfeindliche Dienste wie z. B. für Frankreich. Dabei ist in diesem Zeitraum zu betonen, dass Heere üblicherweise nicht vom Anwerbeort zum Kriegsschauplatz geführt wurden, sondern dass vom einzelnen Kriegsmann eine längere oder kürzere Strecke bis zum Musterplatz individuell überwunden werden musste, also z. B. von Oberschwaben nach Trient oder in die Niederlande oder nach Frankreich. Es ist dies die Phase der ›laufenden Knechte‹, die zumeist ihre Fortsetzung erlebte, wenn die Knechte bei Beendigung des Krieges im fernen Land entlassen wurden und sich dann in Gruppen oder einzeln, aber jedenfalls nicht in einem irgendwie gearteten Heeresverband auf den Weg in die Heimat begaben. So wurde z. B. die kaiserliche Armee nach dem Sieg von Pavia 1525 ebendort entlassen und die deutschen Knechte machten sich auf den Heimweg. Die Gartmigration ist eine Form der Binnenmigration, d. h. es handelt sich um eine Migration in deutschen Landen in der Zeit ohne Soldvertrag, also in der arbeitslosen Zeit. Der Begriff ist mit einem zeitgenössischen Wort gebildet, dessen Herkunft nicht sicher ist, das allerdings in jedem Fall das Migrieren ohne Bindung an einen Kriegsherrn und ohne Zugehörigkeit zu einem Truppenverband bedeutet. Es wird zudem meist pejorativ gebraucht: Wer gartet, bettelt zumindest oder stiehlt auch. 8 Überschneidungen beider Formen sind möglich. So geht z. B. der Rückweg vom Kriegsschauplatz häufig unmittelbar ins Garten über, aus der Feldzugsmigration wird die Gartmigration. Welche Probleme das mit sich bringen konnte, zeigt ein Brief der Innsbrucker Regentschaft an Georg von Frundsberg vom 5. Dezember 1516: Frundsberg ist dabei, Verona nach den Verträgen von Noyon und Brüssel an Venedig übergabefertig zu machen. Dazu muss das Geschütz, die Munition, das Schanzzeug ordnungsgemäß nach Trient und Tirol zurückgebracht werden, vor allem aber sind die Kriegsknechte - Spanier und Deutsche - wenigstens notdürftig zu besolden und dann zu entlassen. Nun befürchten die Regenten in 8 Mehrere Belegstellen für »garten« bei P ETER B URSCHEL , Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts, Sozialgeschichtliche Studien (Veröff. des Max-Planck- Instituts für Geschichte 113), Göttingen 1994, S. 277, Anm. 20. Vgl. auch J AN W. H UNTE - BRINKER , »Fromme Knechte« und »Garteteufel«, Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 22), Konstanz 2010, S. 122-127; R EINHARD B AUMANN , Das Söldnerwesen im 16. Jahrhundert im bayerischen und süddeutschen Beispiel, Eine gesellschaftsgeschichtliche Untersuchung (Miscellanea Bavarica Monacensia 79), München 1978, S. 171-175. <?page no="68"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 69 Abb. 1: Landsknecht und Trosserin. Unbekannter Künstler. Gedruckt bei Hans Guldenmund d. Ä., Nürnberger fliegendes Blatt, um 1555. <?page no="69"?> R EINHA R D B AU MANN 70 Innsbruck, dass die dann nach Norden durch das Etschtal zurückströmenden Knechte sich Essen und Trinken überall dort nehmen, wo sie es finden. Sie fordern Frundsberg auf, rechtzeitig zu melden, wann die Entlassung sei, damit man die Bevölkerung warnen und soweit möglich auch schützen könne. 9 Der Begriff ›Kriegsleutemigration‹ könnte den Eindruck erwecken, als ob es sich um eine Migration nur von Männern handle. Das Memminger Beispiel von 1559 hat allerdings schon gezeigt, dass diese Migrationsform auch Frauen umfasste - die große Gruppe des weiblichen Trosspersonals. Wie die Kriegsknechte zog sie nach der Musterung mit und hinter den Regimentern zu den europäischen Kriegsschauplätzen, mit den Knechten kehrte sie wieder in die Territorien des Reiches zurück, mit ihnen und wie sie gartend. 3. Migrationsgründe Wirft man die Frage nach den Gründen auf, warum Menschen im süddeutschen Raum sich anwerben ließen, so ist zunächst die nach der sozialen Herkunft zu stellen. Das ganze 16. Jahrhundert über waren es Männner aus den ländlich-bäuerlichen Schichten, die als Landsknechte Laufgeld annahmen, kaum die Hofbesitzer, aber nachgeborene Bauernsöhne, Taglöhner und Bauernknechte, denn ein soziales Mindestprofil musste man nicht vorweisen und auch vom Rechtsstand her - Freier, Zinser, Leibeigener - gab es keine Einschränkungen am Werbetisch und auf dem Musterplatz. 10 Attraktiv war die Verpflichtung aber auch für die Männer der Städte, für Handwerksgesellen vor allem, immer mehr auch für die Arbeiterschichten der Stadt, die Dienstknechte und Taglöhner. Nicht erst die Söldnerunternehmer boten am Anfang des 16. Jahrhunderts die Möglichkeit, Waffen und Ausrüstung gestellt zu bekommen, die dann allerdings in Raten vom Sold abbezahlt werden mussten, auch die als Kriegsherrn direkt anwerbenden Städte 9 StaatsA Trient, APV Corr. cles. B VI f. unico c. 136, ediert in: G IANNI P OLETTI / R O - BERTO C ODROICO / F RANCA B ARBACOVI (Hg.), Ludovico l’eroe, I Lodron nella storia europea dei secoli XV e XVI (Judicaria Summa Laganensis 26), Tione di Trento 2011, S. 297. 10 In den Sold- und Musterlisten der Landsknechtzeit sind zwar keine Berufe verzeichnet, wohl aber oft die Herkunftsorte der Knechte. Wenn hinter den Namen der Knechte Dörfer oder Täler angegeben sind, ist davon auszugehen, dass es sich um Männer bäuerlich-ländlicher Herkunft handelt, ländliche Handwerker sind dabei nicht ausgeschlossen. Für Nordwestdeutschland vgl. P. B URSCHEL , Söldner (Anm. 8), S. 72-82, für Süddeutschland vgl. R. B AUMANN , Söldnerwesen (Anm. 8), S. 49-68. Vgl. auch R EINHARD B AUMANN , Söldnerische Kleinunternehmer im Baierischen Erbfolgekrieg 1504 - eine Studie zur Entwicklung des europäischen Kriegsunternehmertums in der frühen Neuzeit, in: W OLF G RUNER / P AUL H OSER (Hg.), Wissenschaft - Bildung - Politik, Von Bayern nach Europa (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 38), Hamburg 2008, S. 19-31, hier 21-28. <?page no="70"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 71 hatten dies schon praktiziert. 11 Dass der Kriegsdienst zu Fuß auch für Patriziersöhne und Adelige durchaus anziehend war, sei hier nur am Rande erwähnt. Diese Gruppen waren nämlich nur von der Feldzugsmigration, nicht aber von der Gartmigration betroffen, kehrten sie doch nach dem Feldzug normalerweise auf die väterliche Burg oder in die Vaterstadt zurück. Die Teilnehmerliste des Afrikafeldzugs unter dem Obristen Jakob Hannibal von Hohenems 1564 bietet z. B. ein ganzes Spektrum oberschwäbischer Patrizier, von den Welsern bis zu den Reichlin von Meldegg. 12 Die Gründe, Landsknecht zu werden, waren vielfältig. Im Zentrum stand aber zumindest bis zur rasch fortschreitenden Geldentwertung vor allem im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts der Monatssold von vier rheinischen Gulden. Er stellte die Knechte weit über den Monatslohn eines Gesellen und war deshalb ungeheuer anziehend. Dazu kam die Aussicht auf Beute. Die zumeist süddeutschen Landsknechtbildserien verdeutlichen in den beigegebenen Reimen mehrfach, dass die Aussicht auf mehr Geld Handwerker zu Kriegsleuten werden ließ. Da klagt der Schuhmachergeselle: Ich hab mich lang damit gelitten/ Ee ich ein wochenlon gewynn/ So ist das ander gar dahin. 13 Und der Schneider begründet seinen Abschied vom erlernten Handwerk: Lanng sitzen vnd ein klainer Lon/ Do mit ich nyndert kann beston/ Dess muß ein anders ich an fanngen/ Vnd neen mit der Hopffen stanngen/ In freyem Felld mit pfeyffen Trummen/ Ob ich auch gelt möchte über kummen. 14 Das ›Nähen mit der Hopfenstange‹, also das Kämpfen mit dem Langspieß ist es, worauf der Schneider seine Hoffnung setzt. Im Krieg will er wie der Schuster leichter Geld verdienen, seine Arbeitssituation verbessern, Geld auf die Seite bringen. 11 Über die Sold- und Musterlisten hinaus belegen zeitgenössische Bildserien die Attraktivität der Anwerbung für Handwerker, so z. B. die Nürnberger Landsknechtserien der Druckunternehmer Meldemann und Guldenmund, für die die Künstler Hans Sebald Beham, Erhard Schön und Niklas Stör arbeiteten. Dabei werden Landsknechte dargestellt, deren Motivation zum Solddienst und deren frühere Berufe in kleinen gereimten Texten zum Ausdruck kommen. Vgl. dazu M ATTHIAS R OGG , Landsknechte und Reisläufer: Bilder vom Soldaten, Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts (Krieg in der Geschichte 5), Paderborn u. a. 2002, S. 260 f. 12 F RIEDRICH O. P ESTALOZZI , Erlebnisse des Andreas Reichlin von Meldegg auf dem Zug nach Barbaria im Regiment des Jacob Hannibal von Hohenems 1564 und ein »hübsch Lied« über denselben Zug, ein zürichischer Beitrag zur Geschichte des deutschen Söldnerwesens, 123. Neujahrsblatt der Feuerwerkergesellschaft (Artilleriekollegium) in Zürich, Zürich 1931, S. 41-51. 13 M AX G EISBERG , The German single-leave woodcut 1500-1550, überarb. und ediert von W ALTER L. S TRAUSS , 4 Bde., New York 1974, hier Bd. 4, S. 1317. Vgl. auch J. W. H UNTE - BRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 403; M. R OGG , Landsknechte (Anm. 11), S. 262. 14 M. G EISBERG , Woodcut (Anm. 13), Bd. 4, S. 1316. Vgl. auch J. W. H UNTEBRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 404. <?page no="71"?> R EINHA R D B AU MANN 72 Andere Gründe kommen hinzu: das Selbstverständnis, als Kriegsmann seinen standesgemäßen Erwerb zu suchen bei nachgeborenen Adelssöhnen, wie den Neffen Georgs von Frundsberg, Thomas und Christoph Adam. Beide wurden Söldner, der eine kämpfte einige Jahre ›im Welschland‹, der andere zog 1514 als einfacher Landsknecht unter dem Oberbefehl seines Onkels nach Friaul, danach zu Pferd nach Spanien und in die Niederlande. 15 Bei Patriziern waren es oft Abenteuerlust und jugendliche Bewährung im Krieg, bevor man sich im Familienunternehmen oder im Dienst der Vaterstadt engagierte. Der Nürnberger Hans Rieter von Kornburg ist hier ein besonders herausragender Fall: Sein Weg führte ihn vom einfachen Landsknecht zum Fähnrich und schließlich zum Hauptmann unter Jakob Hannibal von Hohenems, und nach der Rückkehr in die Vaterstadt zum Ratsherrn und obersten Kriegshauptmann Nürnbergs. In seinem Söldnerleben kam er weit herum: Geldern, Frankreich, Niederlande, Brandenburg, Schottland, Oberitalien und Savoyen. In Rom schließlich schlug ihn der Onkel des Hohenemsers, Papst Pius IV., zum Ritter. 16 Mag das Abenteuer, das Unbekannte und die Ferne auch für den einen oder anderen Bauernsohn und Handwerksgesellen interessant gewesen sein, so war das gewiss nicht die wesentliche Motivation. Leider kann man aus den einschlägigen Quellenbeständen nur selten Aussagen über die Berufe der Knechte machen. Augsburger Chroniknotizen berichten vom Krieg Karls V. gegen türkische Seeräuber 1542, dass bei einem Sturm im Mittelmeer viele Augsburger, überwiegend Weber, ums Leben gekommen seien. 17 Im selben Jahr wurde der sterbenskranke Weber Michel Kramer, der ebenfalls beim Tunisfeldzug mit dabei war, den letzten Teil seines Heimwegs auf einem Karren von Landsberg nach Augsburg gebracht, wo er kurze Zeit später starb. 18 Geringe Bezahlung, unsichere Berufsaussichten oder Gesellenüberangebot im Weberhandwerk dürften diese Augsburger Handwerker in das gefährliche Afrika-Abenteuer getrieben haben. 19 15 Vgl. F RIEDRICH Z OEPFL , Die Hofhaltung der Frundsberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Friedrich Zoepfl, Studien zur Frundsberg-Geschichte, hg. von der Kreis- und Stadtsparkasse Mindelheim, Mindelheim 1973, S. 17. 16 Zur Biographie des Hans Rieter von Kornburg vgl. R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Von Helden und Schwartenhälsen, Mindelheim 1991, S. 84-91. 17 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 108f. 18 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 119. 19 Zur prekären sozialen Lage im Augsburger Weberhandwerk vgl. R OLF K IESSLING , Art. Weber, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 914f.; zu Krisen der schwäbischen Weber vgl. D ERS ., Umlandpolitik, wirtschaftliche Verflechtung und innerstädtischer Konflikt in den schwäbischen Reichsstädten an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: J OA - CHIM J AHN / W OLFGANG H ARTUNG / I MMO E BERL (Hg.), Oberdeutsche Städte im Vergleich, Mittelalter und Frühe Neuzeit (Regio, Forschungen zur schwäbischen Regionalgeschichte 2), Sigmaringendorf 1989, S. 115-137, hier 120f., 126, 129f. <?page no="72"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 73 Abb. 2: Der ehemalige Barchentweber Ulrich von Ulm als Gemeinweibel eines Landsknechtfähnleins, Einzelblatt einer Landsknechtserie von Niklas Stör (um 1535). <?page no="73"?> R EINHA R D B AU MANN 74 Solche Beweggründe nennt auch Ulrich von Ulm aus der Holzschnittserie des Niklas Stör um 1535. Stolz und selbstbewusst blickt er den Betrachter an, denn der Barchant Weber ist Landsknecht geworden und die Knechte seines Fähnleins haben ihn zum Gemeinwaibel gewählt. Er ist so mit einem Gemeinamt betraut, das ihm mehr Sold einbringt als den einfachen Knechten und mit dem er wichtige Aufgaben wie die Wachteinteilung, die Proviantzuteilung und die Interessenvertretung der Knechte wahrnimmt. Dem Holzschnitt beigefügte Verse zeigen den Vergleich seiner Situation als Landsknecht mit der vorigen des Barchentwebers. Sein Sold ermöglicht ihm ein besseres Leben: Da von thue ich meng stoltzen Truncke/ Das ich fur war in meiner Duncke/ Mit Barchant nit erweben mag/ Ob ich die nacht wyrckt zue dem tag. 20 Unter den beim Tunisfeldzug Ertrunkenen befanden sich auch vier Ehefrauen Augsburger Landsknechte. Offensichtlich waren sie ihren Männern als Trosserinnen in den Krieg gefolgt. Auch bei den vielen Vorarlbergern, Liechtensteinern und Klettgauern, die 1552 unter dem Obristen Nikolaus von Pollweiler an der Türkengrenze kämpften, war von Anfang an eine Frau dabei. Es handelt sich um Katharina Studerin aus dem Gericht Obsteig, die ihren Bruder Jakob Studer als ›Kriegsköchin‹ begleitete und nach der Schlacht von Palást (slowakisch Pláš ovce) in türkische Kriegsgefangenschaft kam. 21 Gewöhnlich nimmt man an, dass die Frauen im Tross als Kleinhändlerinnen und Kleingewerbetreibende mit und hinter den Kriegsknechten zogen, also als Marketenderinnen. Deren Trachten war es selbstverständlich, auf dem Zug und im Lager Geld zu verdienen und auf vielfältige Weise Gewinn zu machen - als Schankmägde und Köchinnen, als Braterinnen und Sudlerinnen, die Innereien und minderwertiges Fleisch zubereiteten, als Wäscherinnen und Näherinnen, als Händlerinnen mit Beutestücken, auch als Sanitäterinnen. Viele von ihnen waren Prostituierte - ›Concubinen‹ der Befehlsleute oder ›Huren‹ der einfachen Knechte. 22 Prostitution ist durchaus üblich im Landsknechtheer, doch sind die Frauen, die ihr nachgehen, nur eine der vielen Erscheinungsformen der Trosserinnen. Andere tun sich zu mehr oder weniger festen Partnerschaften mit Knechten zusammen. Keineswegs hat alle die Liebe um Geld zum Heer getrieben. Diesbezügliche Hinweise lassen sich Holzschnitten mit Paarbildern (Landsknecht - Marketenderin) 20 M. G EISBERG , Woodcut (Anm. 13), Bd. 4, S. 1318; vgl. auch M. R OGG , Landsknechte (Anm. 11), S. 263. Der Reim in neuhochdeutscher Übertragung: Davon kann ich mir manchen stolzen Trunk leisten. Mich dünkt, dass ich das mit Barchent nicht erarbeiten kann, auch wenn ich nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht webte. 21 M ANFRED T SCHAIKNER , Die Bemühungen um den Freikauf der 1552 von den Türken in Ungarn gefangenen Vorarlberger, Liechtensteiner und Klettgauer, in: Montfort, Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 58 (2006), Heft 1, S. 13-38, hier 20, 24. 22 Zu den Trosserinnen vgl. P. B URSCHEL , Söldner (Anm. 8), S. 226-258; R EINHARD B AU - MANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, S. 146-165. <?page no="74"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 75 entnehmen. So zeigt ein solcher, dass z. B. die Hoffnung, im Tross mit der erlernten Näharbeit mehr zu verdienen als in der Stadt, ein Beweggrund war. 23 Auch die Vorstellung, als Sudlerin Geld zu verdienen und - in Partnerschaft mit einem diese Arbeit verrichtenden Trosser - erfolgreich zu sein, spielte eine Rolle. 24 Dass Ehefrauen ihren Männern in den Krieg folgten, mag ebenfalls mit der Hoffnung auf Erwerb und Gewinn zu erklären sein, dürfte aber auch mit Sorge und Treue zu tun haben. Ein besonders klares Beispiel ist das der Trienter Bürgerin Catharina Kurtebach, die 1570, als der spanische König im Trentino ein Regiment Fußknechte anwerben ließ, ihren Mann in den Krieg begleitete. 25 Da sie sich aber über Gefahren und Risiko solchen Handelns klar war, ließ sie vorher unter Anwesenheit von sieben Zeugen durch einen Notar ein Testament abfassen. Aus ihm geht hervor, dass ihr Beweggrund, mit ihrem Gatten zu gehen, ihr Eheverständnis war. Sie wolle mit ihrem Ehemann treu leben und sterben, gab sie zur Niederschrift bekannt. Catharina, Ehefrau des Meisters Adam Kurtebach, Tochter des Rueb Kalbfues, gehörte zum deutschen Teil der Trienter Stadtbevölkerung und wohnte deshalb in der contrada alemanna. 26 Fast alle ihrer Zeugen und die im Testament bedachten Erben waren deutsche Bürger, sieht man einmal von den 36 Kreuzern für die Trienter Domwerkstatt ab. Die penible Verteilung ihrer Habe von kleinen Geldbeträgen über eine Korallenkette bis zu Kopfkissen und Federbett weist darauf hin, dass sie nicht mit einer Rückkehr nach Trient gerechnet hatte. Tatsächlich tauchte sie, ebenso wie ihr Gatte, in den Büchern der deutschen Pfarrei St. Peter in Trient nach 1570 nicht mehr auf. 27 23 Holzschnitt von Wolfgang Strauch: Der Schneyder und die Nederin (1568), aus: M. G EISBERG , Woodcut (Anm. 13), Bd. 3, S. 1075; vgl. auch J. W. H UNTEBRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 409. 24 Holzschnitt von Wolfgang Strauch: Der Sudler und die Sudlerin (1568), aus: M. G EISBERG , Woodcut (Anm. 13), Bd. 3, S. 1158; vgl. auch J. W. H UNTEBRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 408. 25 StaatsA Trient (ASTn): AAN Tn Notaio Colombini G. B., b I. 1, cc. 54v-55v: Testament der Catherina Kurtebach. Zur spanischen Anwerbung im Trentino in den 1570er Jahren vgl. F RIEDRICH E DELMAYER , Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 7), Wien-München 2002, S. 247. 26 Vgl. S ERENA L UZZI , Die deutsche Gemeinde in Trient und die Schlacht von Calliano, in: Circa 1500, Katalog zur Landesausstellung 2000 der Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Innsbruck, der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und der Autonomen Provinz Trient, S. 423-428, hier 423; D IES ., Straniera in città, Presenza tedesca e società urbana a Trento (secoli XV-XVIII), Bologna, S. 129f. 27 Für diesbezügliche Nachforschungen im Staatsarchiv, im Archivio Comunale und in der Bibliotca Comunale Trient bin ich Franca Barbacovi zu großem Dank verpflichtet. <?page no="75"?> R EINHA R D B AU MANN 76 Frau Catharina ist ein Beleg dafür, dass es sich bei den Trosserinnen offensichtlich nicht nur um Menschen vom Rand der Gesellschaft handelte. Auch die vielen, die mit ehemaligen Kriegsknechten in irgendwie gearteten Partnerschaften gartend durchs Land zogen und durch Betteln, Vortrag von Liedern und Vorführung von Kunststücken ihren Lebensunterhalt zu sichern versuchten, gehörten nicht von vornherein zu den Huren, wie man das plakativ in Darstellungen findet. Einen Hinweis hierfür liefert ja auch das Memminger Verzeichnis von 1559, das deutlich zwischen frauen und dirnen unter den Vaganten unterscheidet. 28 4. Integration und Integrationsprobleme Im Sommer 1518 erhielt der Memminger Rat ein Sendschreiben Kaiser Maximilians I., dass er derzeit keinen Krieg führe und deshalb den Landsknechten befohlen habe, nach Hause zu ziehen und auch dort zu bleiben. Nun müsse er aber hören, dass viele von ihnen in Rotten durchs Reich zögen und es wagten auf die Armleut zugarden und zulegern. Manche gäben sogar vor, das geschehe auf seinen Befehl hin. Davon jedoch könne keine Rede sein. Er brauche sie jetzt nicht. Man solle sie des Landes verweisen, bei Widerstand auch bestrafen. Bezeichnend ist dann folgender Satz: So wir aber Knecht zu unsern Diennsten bedürffen, werden wir sy in Iren heusern wol bewerben und ansuchen lassen. 29 Die kaiserliche Position mutet geradezu zynisch an. Auf jeden Fall ist sie fern jeder Wirklichkeit. Wer wegen wirtschaftlicher Not Sold angenommen hatte, wollte oder konnte an den Arbeitsplatz oder in den Beruf vor dem Krieg nicht zurückkehren. Viele hatte das Leben als Kriegsmann ohnehin dem ländlichen oder städtischen Leben entfremdet. Wer einmal im 15./ 16. Jahrhundert Sold angenommen hatte, gehörte damit in eine besondere Gruppe der ansonsten hierarchisch aufgebauten ständischen Gesellschaft. Zeitgenössische Quellen gebrauchen den Begriff des Standes der Kriegsleute, in der Selbsteinschätzung der Söldner war das ›der Kriegsleut Orden‹ oder insbesondere ›der Orden frommer Landsknecht‹. 30 Die Integration in diesen Stand oder Orden vollzog sich sehr rasch, allerdings erfolgte auch die Abgrenzung zur ständischen Gesellschaft und die Ausgrenzung durch sie sehr schnell. Augsburger Quellen aus den dreißiger und vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts zeichnen ein anschauliches Bild davon, wie rasch es zu Konflikten 28 Vgl. StadtA Memmingen, A 409/ 1: Verzaichnus der schadhafften leut, 1559. 29 StadtA Memmingen, Schubl. 1/ 2: Sendschreiben Maximilians I. an Memmingen, 25. Juni 1518. 30 Vgl. dazu P. B URSCHEL , Söldner (Anm. 8), S. 35; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 22), S. 115-120. <?page no="76"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 77 Abb. 3: Urs Graf, ›Al mein Gelt verspilt, 1519‹ Spottbild auf einen heimkehrenden Landsknecht. <?page no="77"?> R EINHA R D B AU MANN 78 zwischen Kriegsleuten und städtischer Gesellschaft kam, wenn Kriegsvolk in größerer Zahl sich untätig in der Stadt aufhielt. Die städtische Bevölkerung und die der Dörfer im Umkreis nahm die Landsknechte als Fremdkörper wahr und diese widersetzten sich den Ordnungsvorstellungen in Stadt und Dorf. Augsburg war damals nicht nur Anwerbe-, sondern auch Musterplatz mehrerer Fußknecht- und Reiterabteilungen, die von hier aus zu Ross, zu Fuß oder per Schiff an die Türkengrenze geschickt wurden. Ende März 1539 wollten einige Landsknechte im Wirtshaus im benachbarten baierischen Lechhausen die Zeche prellen und schlugen dann wütend und betrunken das Mobiliar kurz und klein. Der Wirt rief mehrere Bauern zusammen, die sie aus dem Dorf prügelten. Dabei kam ein Landsknecht ums Leben. 31 Eine Woche später versuchten erneut vier Landsknechte im Wirtshaus ›Zum Augustein Mynner‹ in Augsburg den Wirt zu betrügen. Der Vogtknecht Hanns Neumüller nahm einen von ihnen gefangen und sperrte ihn im narrenhaus ein. 32 Vierzehn Tage danach rauften und prügelten sich mehrere Landsknechte derart, dass einer von ihnen in ein Spital gebracht werden musste und dort starb. 33 Am nächsten Tag warfen einige Landsknechte im Wirtshaus ›Zum Erenfridt Stern‹ beim Mittelbad nach einem Zechgelage mehr als fünfzig Scheiben ein. 34 Zehn Tage später wurden randalierende Landsknechte in Gablingen (etwa 10 km nordwestlich der Stadt) von Bauern auseinandergetrieben. Dabei erschlug der Landsknecht Alexander Gerstle von Münster einen Bauern, der Frau und zwei Kinder hinterließ. Weil aber Gerstle auch noch in dieser Gegend Kirchenraub beging, wurde er kurz darauf gefangen gesetzt und in Burgau gehenkt. 35 Leider ermöglichen die knappen Aussagen der Chronik keine näheren Aufschlüsse über diese gewalttätigen Landsknechte. Zählen sie zu den schon mehrfach Angeworbenen, sind sie also schon länger Kriegsleute? Hat sie ihr ›Handwerk‹ so rücksichtslos und aggressiv gemacht? Oder sind sie gerade erst in den ›Orden‹ gekommen und haben sich schon so schnell von Ordnung und Moral der Gesellschaft entfernt? Auch in der nachfolgend angeführten Augsburger Gewalttat ist das nicht eindeutig zu entscheiden. Neu Angeworbene können Knechte sein, die erstmals verpflichtet wurden, oder schon erfahrene, die gerade eben zum wartenden Regiment dazu gekommen waren. Im Spätsommer des Jahres 1540 kam es nämlich unter Landsknechten, die auf den Abzug nach Ungarn warteten, zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei neu angeworbenen. Bei der Balgerei mit scharfen Waffen wurde dem einen der beiden, Sixt Rauner, die Hand abgeschlagen. Der Augsburger Stadthauptmann Sebastian Schertlin schlichtete und ließ Rauner 31 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 112. 32 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 112. 33 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 112. 34 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 113. 35 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 113. <?page no="78"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 79 ausmustern. 36 Im Frühjahr 1542 wurden zwei Weber und ein Landsknecht wegen unziemlichen Umgangs mit einer Hure im Narrenhaus gefangen gesetzt. 37 Im Frühjahr 1545 erschoss ein Landsknecht in der Rosenau beim Streit um die Entlohnung eine Hure. 38 Eine Kette von Gewalttaten in der Reichsstadt und ihrer Umgebung innerhalb weniger Jahre: Prügeleien, Zerstörung, Raub, Prostitution. Die Verhörprotokolle und Urgichtbücher anderer Städte zeichnen ein ähnliches Bild. 39 In den meisten Fällen zeigt sich, dass die straffällig gewordenen Kriegsleute die Normen und Regeln der Gesellschaft, aus der sie stammten, für sich nicht mehr als bindend ansahen. Dabei scheint es bei solchen in einer Stadt mit den Gesetzen in Konflikt geratenden Knechten fast unerheblich gewesen zu sein, ob sie stadtfremd oder in der Stadt beheimatet waren. So hatte Rothenburg ob der Tauber 1525 Probleme mit einem niederländischen Landsknecht, der sich innerhalb der Rothenburger Landwehr herumtrieb und den man verdächtigte, der Kriegsschar des Adam von Thüngen anzugehören, mit dem die Stadt in Fehde lag. Dieser Egidius von Anthorff (Antwerpen) hatte sich nachts im Dorf Gebsattel auf der Gasse verdächtig gemacht, wurde daraufhin eingesperrt, verhört und schließlich auf Urfehde entlassen. 40 Ihre liebe Not hatte die Stadt dagegen 1523 mit zwei Rothenburgern. Die beiden Kriegsknechte Peter Beck, seit 1497 im Besitz des Bürgerrechts, und Hans, des alten Wildbaders Sohn, hatten sich im städtischen Frauenhaus, also im Bordell, dermaßen übel aufgeführt, dass der Rat sie gefangen setzen und bestrafen ließ. Sie schworen dann ebenfalls Urfehde und wurden wieder entlassen. 41 Gerade dieser Fall dürfte ein Beleg dafür sein, dass auch diejenigen Knechte, die nach einem Feldzug wieder in die Heimatstadt zurückfanden, nicht oder nur mit Schwierigkeiten wieder in die Gesellschaft integriert werden konnten. Ein besonders eklatantes Beispiel ist der ehemalige Gürtlergeselle Jörg Graff. Nach einigen Jahren als Landsknecht zog es ihn wieder in die Heimatstadt Nürnberg, aber er fand nicht mehr in das bürgerliche Leben zurück. Durch einen Unfall erblindet, wurde er ins Bettlerdasein gezwungen. Dennoch war er ein ständiger Störfaktor für die öffentliche Ordnung; er trank, randalierte, lebte mit einer alten Hure zusammen. Auch Kerkerhaft und zeitweilige Verbannung aus der Stadt besserten ihn nicht. Im sozialen Gefüge Nürnbergs stand er ganz weit unten, doch fühlte er sich nach wie vor dem Landsknechtorden nahe und besang ihn in seinen 36 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 90. 37 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 114f. 38 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 304, fol. 188. 39 Vgl. P. B URSCHEL , Söldner (Anm. 8), S. 291-317; J. W. H UNTEBRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 176f.; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 22), S. 131-145. 40 StadtA Rothenburg ob der Tauber, A 242, fol. 280. 41 StadtA Rothenburg ob der Tauber, A 242, fol. 242. <?page no="79"?> R EINHA R D B AU MANN 80 Liedern. Er wusste aus eigener Erfahrung, wovon er sang. Als nun städtischer Bettler hatte er Verständnis für die durchs Land ziehenden, bettelnden Landsknechte. 42 Die Gartsituation entlassener Kriegsleute verstärkte die gesellschaftliche Sonder- und Außenseiterstellung. Die Landsknechte reihten sich ein in die große Gruppe der Vaganten, gehörten zu ihr wie Bettler und Kesselflicker, Landstreicher, Korbflechter und ›Zigeuner‹. Wie sie und mit ihnen organisierten sie sich auch, gebrauchten Merkzeichen und Geheimsprachen wie das Rotwelsche, fanden sich zu Rotten und bandenartigen Vereinigungen, sog. Vergaderungen, zusammen. 43 Dem Memminger Verzeichnis von 1559 ist leider nicht zu entnehmen, ob diese etwa fünfzig vagierenden Personen stets einzeln unterwegs waren oder ob sie sich - teilweise und manchmal -auch zusammenschlossen. Obwohl Kriegsknechte also in mehrfacher Hinsicht fern und außerhalb der Gesellschaft standen, gibt es Belege, dass sie nach wie vor dazugehörten, sowohl ihrem Selbstverständnis nach als auch im Verständnis der Gesellschaft. Wenn deutsche Söldner im späten 15. und ganzen 16. Jahrhundert auf dem italienischen Kriegsschauplatz entlassen wurden, nahmen sie ihren Rückweg häufig über das Etschtal. Es muss sich unter ihnen herumgesprochen haben, dass es für sie in Trient einen sicheren Anlaufpunkt gab: das Spital der deutschen Hauerbruderschaft in der Pfarrei St. Peter. 44 Hier betrachtete man sie nicht als Fremde und auch nicht als verachtete Außenseiter. Hier bekamen sie durch gotz willen kleine Geldbeträge für Speis und Trank, hier wurden sie durch die Spitalküche mit Zehrung und Getränken wie z. B. ein mas wein versorgt, hier wurden auch Verwundete gepflegt, wie z. B. der arm lantz knecht der dye kugl in im hat, oder der Lantz knecht den maister hans hat gehailt. Manchmal gab es auch Sachleistungen, z. B. wurden bedürftigen Knechten Schuhe gekauft. Die Hauerbruderschaft sorgte sogar für ein Begräbnis der deutschen Knechte auf dem Friedhof von St. Peter. Der Besitz der im Spital verstorbenen Kriegsleute, wenn sie denn einen hatten, wurde der Bruderschaftskasse zugeführt und wieder für mildtätige Gaben verwendet. 45 Ganze dreißig Knechte nahmen zwischen Januar und Mai 1525 - also den Wochen, in denen wegen der Schlacht von Pavia besonders viele Knechte das 42 Zur Biographie Jörg Graffs vgl. R. B AUMANN , Landsknechte, Helden (Anm. 16), S. 30-35. 43 Vgl. dazu J. W. H UNTEBRINKER , Fromme Knechte (Anm. 8), S. 122-150; P. B URSCHEL , Söldner (Anm. 8), S. 273-317; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 22), S. 131-145. 44 S ERENA L UZZI , Tedesci a Trento in età moderna, in: M ARCO B ELLABARBA / G IUSEPPE O LMI (Hg.), Storia del Trentino IV: L’ età moderna, Bologna 2000, S. 397-420, hier 402- 404; D IES ., La Confraternita Alemanna degli Zappatori. Lineamenti per una storia della Comunità tedesca a Trento fra tardo medioevo e prima età moderna, parte prima, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, A. LXXIII, Sezione 1-3, Trento 1994, S. 231-276, hier 233- 239, 242, 244f., 250-254, 261f. 45 BCTn, 3, 230 (kleiner Kodex), fol. 3-14 (21. Januar-3. Mai 1525). <?page no="80"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 81 Etschtal hinab- und hinaufzogen - die Versorgungsleistungen des Spitals in Anspruch; ein Zulauf deutscher Knechte ist aber das ganze 16. Jahrhundert über verzeichnet. 1601 hatte sich nicht der Sachverhalt, wohl aber der Sprachgebrauch verändert. Im Auß gab puech deß Anno 1601 Jahr hatte die Bezeichnung kriegsman den Landsknecht ersetzt, auch die Kriegsschauplätze, von denen Kriegsknechte entlassen wurden, waren andere. Welsche Kriegsleute kamen aus den Niederlanden und wurden ebenfalls versorgt, deutsche kamen von der Türkengrenze (vnger land) und nahmen den Weg über Venetien ins Etschtal. 46 Dass hier aber ein deutsches Bürgertum ein menschliches Gesicht zeigte, Gartknechte nicht ausgrenzte und ihrem Schicksal überließ, war gleich geblieben. Sucht man nach den Gründen, warum diese zunächst einzigartigen Versorgungseinrichtung für migrierende Kriegsleute im Süden des Reiches geschaffen wurde, so ist zweifellos christliche Fürsorge und Nächstenliebe als Fundament des Spitals der deutschen Bergmannsbruderschaft in Trient zu nennen. Man nahm die Bedürftigen auf und betreute sie. Manchmal kamen sie auch zu zweit oder in kleinen Gruppen. Und manchmal hatten sie ihre Begleiterinnen mit dabei. Im Spitalbuch von 1601 ist z. B. unter den Einträgen im November festgehalten: Di. 16. Dito hab Ich ainem kriegsman mit sein weib der kommt aus dem welsch land geben kreuzer 4. 47 Dass die Einrichtung des Trienter Bruderschaftsspitals auch einen politischen Hintergrund hatte, soll zumindest erwähnt sein. Dies hatte nämlich etwas mit dem Streben der wachsenden deutschen Gemeinde in der Stadt - sie stellte immerhin ca. 15 Prozent der Stadtbevölkerung nach Festigung und Vergrößerung ihres Einflusses im Stadtregiment zu tun. Vor allem die deutschen Handwerker und Kaufleute hofften darauf, dass ihre Interessen von deutschen Trienter Fürstbischöfen und von den Tiroler Herzögen wahrgenommen würden. Im Krieg gegen Venedig verhielt sich die deutsche Gemeinde besonders habsburgfreundlich und leistete einen unverhältnismäßig großen Wehrbeitrag. In der Schlacht von Calliano war der Blutzoll der Deutschen dann auch besonders hoch. Um die Bestattung der in der Schlacht Gefallenen, deutsche Trienter und Landsknechte, kümmerte sich gemäß ihren Statuten die Hauerbruderschaft. Sie wurden auf dem Friedhof von St. Peter begraben. Damit und mit anderen Maßnahmen sollte die Erinnerung an den Sieg von Calliano und den deutschen Anteil daran bewahrt werden. Die karitative Begräbnisaufgabe wurde dann auf die Versorgung und Betreuung von durchziehenden Kriegsknechten, aber auch anderen Bedürftigen, im Spital ausgeweitet. 48 Ungeachtet dessen dürfte das für Knechte stets offene Spital ein leuchtendes Beispiel christlichen karitativen Engagements sein. Spärliche Quellenfunde liefern zumindest Hinweise darauf, dass auch einige andere Städte alte und invalide Kriegs- 46 BCTn, 3, 178 (kleiner Kodex), fol. 2-14 (19. Januar-14. November 1601). 47 BCTn, 3, 178, fol. 14 v, 1601. 48 S. L UZZI , Deutsche Gemeinde (Anm. 26), S. 423-426. <?page no="81"?> R EINHA R D B AU MANN 82 knechte versorgten, wenn auch keineswegs in dem Umfang wie die Trienter Hauerbruderschaft. Im Lied von dem Landsknecht auf den Stelzen erzählt der Dichter, dass ein Invalide mit Stelzen, also mit Krücken, schon darauf hoffen kann, künftig als Spittelknecht weiterzuleben, d. h. ins städtische Spital aufgenommen zu werden. 49 Sehr wahrscheinlich stammt dieses Lied aus der Feder des ehemaligen Landsknechts Jörg Graff. Er selbst hat es am Ende eines unsteten Lebens geschafft, den Nürnberger Rat zu erweichen und, schon bettlägerig, ins Spital aufgenommen zu werden. Leider sagen die Ausgabenbücher des Spitals von St. Peter kaum einmal etwas über die Namen und die Herkunft der Knechte. Man geht aber nicht fehl in der Annahme einer bunten Zusammensetzung aus deutschen Landen, wie man sie aus deutschen Fußknechtfähnlein allgemein kennt. Ein Hinweis könnte das Fähnlein sein, das die Stadt Trient 1513 (wohl für den Venedigerkrieg) aufstellte. 50 Während der Hauptmann nur als Capitaneus angegeben ist, fungiert als Weibel Hans von Tramin, als Schreiber Leupold Sternschlager von Landshut und unter den einfachen Knechten (die nicht alle mit Herkunft notiert sind) finden sich Ulrich Reinwald von Feldkirch, Valentin Winnkh von Lienz, Jacob Obser von Nürnberg, Niclas von Tramin, Hanns von Weingarten, Martin Swaypergkh von Augsburg, Wolfgang von Regensburg, Baptista von Mailand, Lorenz Schneider von Trient und Hanns von Mindelheim. 5. Ausblick In den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden vollzog sich der Übergang zum stehenden Heer, mit dem sich die Situation des frühneuzeitlichen Söldners erheblich änderte. Er hieß nun im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit ›Soldat‹ und war ›Miles perpetuus‹, denn er diente seinem Landesherrn nicht mehr nur für einen Feldzug oder Krieg, sondern lag in Garnison, hatte dort seinen Platz und stand dort zur Verfügung. Dies war allerdings ein langsamer Prozess. Lediglich Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten ging den anderen Territorien im Reich beispielhaft voran. 51 Dort entstand durch die Verbindung von Werbung und Miliz allmählich ein neuer Soldatentyp, der nicht mehr aus der Gesellschaft herausgelöst war, sondern mit ihr 49 H EINRICH K RÖHER (Hg.), Der Schwartenhalß. Lieder der Landsknechte, Heidenheim an der Brenz 1976, S. 11, Strophe 4. 50 ACTn, 1.11-1 (4035), fol. 96f.: Trienter Soldliste 1513. 51 L UDWIG H ÜTTL , Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst, 1620-1688. Eine politische Biographie, München 1981, S. 99-110. <?page no="82"?> F ELDZUGS - UND G ARTMIGRATION VON K RIEGSLEUTEN 83 verbunden blieb. 52 Das Kantonssystem, wie es der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. einführte, kann sogar als ein erster Schritt hin zur allgemeinen Wehrpflicht verstanden werden. Doch auch in Brandenburg-Preußen war damit das Problem der Sozialversorgung invalider oder entlassener Soldaten noch nicht gelöst. In den mittleren und kleinen Territorien des Reiches vollzog sich der Wandel vom Söldnerheer zum stehenden Heer viel zögerlicher. Der gartierende Soldat als Zwangsmigrant blieb eine gewohnte Erscheinung auch im 18. Jahrhundert. Die politische Kleinräumigkeit im Süden des Reiches ließ solche Garter gerade hier gerne ihre Zuflucht suchen. Der Dreißigjährige Krieg hatte die Migrationssituation allgemein verschärft und damit auch die der migrierenden Kriegsleute. Der absolutistische Staat des späten 17. und des 18. Jahrhunderts kriminalisierte diese außerständische, im Wachsen begriffene Gruppe der Migranten und grenzte sie aus. 53 Ein Blick auf die Reichstadt Memmingen veranschaulicht das. Im August 1686, fast vierzig Jahre nach dem Westfälischen Frieden, ließ der Rat für die Torwächter eine Beschreibung ainig im Landt befindenten Gartierenden Soldaten mit Weib und Kindern anfertigen. Vierzehn ehemalige, entlassene oder davongelaufene Soldaten sind aufgeführt, die meisten von ihnen mit Frauen und einigen Kindern, einige zudem mit Mägden. Sie kommen aus nah und fern - aus Sachsen, Holstein, aus dem Land ob der Enns, aus dem Welschland, aus Böhmen, aus dem Kurfürstentum Bayern und aus der Herrschaft Mindelheim. Invaliden sind darunter, auch einige ehemalige Handwerker sind dabei. Viel hat sich nicht geändert im Vergleich mit dem Memminger Verzeichnis von 1559. 6. Ergebnisse 1. Kriegsleute, vor allem Fußknechte, waren im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit eine besonders mobile Gruppe, bedingt sowohl durch söldnerische Feldzugsmigration als auch durch die sich aus der Praxis der Entlassung aus dem Kriegsdienst ohne Versorgungsleistungen ergebende Gartmigration. Teile des söldnerischen Fußvolks schlossen sich den nichtsesshaften Migrantengruppen an, eine europaweite Erscheinung, die in der frühen Neuzeit in verschiedenen Regionen zwischen 8 und 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. 52 M ICHAEL K AISER , Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, in: S TEFAN K ROLL / K ERSTEN K RÜ - GER (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 1), Hamburg 2000, S. 79-120, hier 101-109, 115, 119. 53 Dazu noch immer grundlegend, vor allem für Süddeutschland: C ARSTEN K ÜTHER , Räuber und Gauner in Süddeutschland, Göttingen 1976, S. 14, 121-149. <?page no="83"?> R EINHA R D B AU MANN 84 2. Die Soldhöhe von vier rheinischen Gulden im Reich machte das söldnerische Fußvolk trotz aller Gefahren und Risiken attraktiv, nicht nur für Unterschichten, sondern bis weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein auch für Handwerker und Bauernsöhne. 3. Die Sonderstellung von Kriegsleuten in einer ständischen Gesellschaft und ihr eigenes Selbstverständnis als Kriegsleutestand oder Landsknechtorden ließ sie schnell neben und außerhalb der Gesellschaft stehen. Es gab große Integrationsprobleme und Eingliederungsbarrieren durch die Gartzeit, allerdings auch weiterhin Zugehörigkeit und Anbindungen an die Gesamtgesellschaft. 4. Wesentlicher Bestandteil dieser Migration von Kriegsleuten waren Frauen. Der Tross bot ihnen ein weites Betätigungsfeld: etwa als Köchinnen und Sudlerinnen, als Händlerinnen, Schankmädchen und Sanitäterinnen. Prostitution war im Söldnerheer verbreitet, doch gab es ebenso feste Partnerschaften und eheähnliche Verhältnisse. Auch Ehefrauen folgten ihren Männern ins Landsknechtheer. 5. Frauen waren auch über den Krieg hinaus oft Begleiterinnen arbeitsloser Knechte und zogen mit ihnen in der Gartzeit durch die deutschen Territorien. <?page no="84"?> 85 M ARK H ÄBERLEIN Pilger, Studenten, Handelsreisende und Glaubensflüchtlinge: Migration und Mobilität in Augsburger Familienbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts Seit dem 15. Jahrhundert verfassten reichsstädtische Patrizier und Bürger eine große Zahl chronikalischer und genealogischer Darstellungen ihrer eigenen Familien oder beauftragten Autoren mit der Abfassung solcher Familiengeschichten. Vor allem aus den Reichsstädten Nürnberg und Augsburg sind zahlreiche Exemplare dieser Gattung aus dem 16. bis 18. Jahrhundert überliefert. Diese zeitgenössisch als Ehren-, Stamm- oder Geschlechterbücher bezeichneten Zeugnisse reichsstädtischer Familiengeschichtsschreibung haben in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit von Seiten der Geschichts- und Kulturwissenschaft gefunden. Dabei hat sich die Forschung dieser Textgattung vor allem unter kultur- und historiographiegeschichtlichen Fragestellungen und Perspektiven genähert: Das Interesse galt ihrer repräsentativen, künstlerisch mitunter aufwändigen Gestaltung, den Repräsentationsabsichten ihrer Verfasser und Auftraggeber, dem genealogischen und historischen Denken, das in ihnen zum Ausdruck kommt, sowie ihrer Bedeutung für die städtische Erinnerungskultur und Identitätskonstruktion. 1 Im 1 An wichtigen neueren Arbeiten seien genannt: H ARTMUT B OCK , Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat (Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main 22), Frankfurt/ Main 2001; D ERS ., Die Familiengeschichtsschreibung der Welser, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 95 (2008), S. 93-162; G REGOR R OHMANN , ›Eines Erbaren Raths gehorsamer amptman‹. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 28), Augsburg 2001; D ERS ., Das Ehrenbuch der Fugger, 2 Bde. (Studien zur Fuggergeschichte 39), Augsburg 2004; B IRGIT S TUDT (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Städteforschung A 69), Köln u. a. 2007; C HRISTIAN K UHN , Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (Formen der Erinnerung 45), Göttingen 2010; Die Fugger im Bild. Selbstdarstellung einer Dynastie in der Renaissance, hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek München, Luzern-Darmstadt 2010; C HRISTOPH E MMENDÖRFFER / H ELMUT Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht. Augsburger Ehren- und Familienbücher der Renaissance, Katalogband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg vom 18. März bis 19. Juni 2011, Luzern 2011. <?page no="85"?> M ARK H ÄBER LEIN 86 folgenden Beitrag steht hingegen ein anderer Aspekt der städtischen Familiengeschichtsschreibung im Mittelpunkt: Die Funktion der Familienbücher als Wissensspeicher, in denen die Lebensläufe von Patriziern und Bürgern im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit beschrieben sind. Zu den biographischen Informationen, die regelmäßig festgehalten wurden, gehörten Migrationen und geographische Mobilität. Für den Historiker bieten sie damit die Möglichkeit, deren vielfältige Erscheinungsformen bei den Augsburger Eliten des 16. und 17. Jahrhunderts zu rekonstruieren. So lesen wir im Familienbuch der Hainhofer von 1626, 2 dass ein Sebastian Hainhofer zu Anfang des 16. Jahrhunderts in das Königreich Portugal kommen, [und] daselbsten ein berümbter Schiff Capitän zu Lysabona worden sei, wie er dann in Zeit seiner Schiffarthen schier die halb Welt vmbfahren vnd perlustrirt hat. 3 Aus dem Familienbuch der Thenn 4 erfahren wir, dass der 1547 in Salzburg geborene Andreas Thenn insgesamt zehn Jahre an sieben verschiedenen Universitäten in vier europäischen Ländern - in Ingolstadt, Löwen, Bourges, Padua, Pisa, Siena und Pavia - verbracht hatte. 5 Und der 1605 geborene Emanuel Garb charakterisierte sich in dem Familienbuch, das er 1675 verfasste, selbst als Exulant von Jugend auf. Nach dem Tod seiner Mutter und der Wiederverheiratung des Vaters sei er als Neunjähriger in die Frembde nacher Heidelberg versandt worden und habe nach Abschluss seiner Schulzeit seine junge Jahrn […] in Italia, Franckreich, Niederlandt, Pohlen, und Schleßien zugebracht, auch viele Jahre mit continuierlichem Reißen, und Beywohnung der Märckten […] verricht und sein Gewerb gehabt. Nachdem das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. die freie Glaubensausübung der Augsburger Protestanten drastisch eingeschränkt hatte, zog Garb 1629 mit seiner Familie nach Leipzig und drei Jahre später nach Dresden. Während der schwedischen Besatzung kehrte er 1634/ 35 nach Augsburg zurück, verließ die Stadt nach der Einnahme durch kaiserliche Truppen jedoch wieder und lebte zwischen 1636 und 1644 in Bern, Genf und Zürich. Von 1644 bis 1648 diente er dem schwedischen General Pfalzgraf Carl Gustav und kehrte erst nach dem Westfälischen Frieden wieder nach Augsburg zurück, wo er als Spitalschreiber und Spitalmeister tätig war. 6 2 Stammens-Beschreibung des Hainhoferischen Geschlechts: SuStBA Cim 66. Vgl. dazu C H . E MMEN - DÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 232-236 (Kat. 37). 3 SuStBA Cim 66, fol. 47r. 4 Stammenbeschreibung der Thennen: SuStBA Cim 65. Vgl. dazu C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 210-215 (Kat. 31). 5 SuStBA Cim 65, fol. 111v-113v. 6 Stamm-Büchlein der Familie Garb: SuStBA 4 o Cod. Aug. 263, fol. 29r. Eine Beschreibung der Quelle findet sich in C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 256-258 (Kat. 42). <?page no="86"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 87 Der folgende Beitrag versucht zu zeigen, dass Sebastian Hainhofer, Andreas Thenn und Emanuel Garb keine Einzelfälle waren, sondern vielmehr als Repräsentanten einer dynamischen reichsstädtischen Führungsschicht anzusehen sind, die beschwerliche Reisen und großräumige Mobilität nicht scheute. Damit knüpft er an Erkenntnisse der historischen Migrationsforschung sowie der neueren Reiseforschung an, welche die lange Zeit in der Geschichtsschreibung vorherrschende Dichotomie zwischen einer vermeintlich statischen, immobilen Vormoderne und einer dynamischen, durch hohe Mobilität gekennzeichneten Moderne zunehmend überwindet und die vielfältigen Erscheinungsformen geographischer Mobilität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit betont. 7 Für die Untersuchung der Migrationen und der Formen geographischer Mobilität Augsburger Patrizier und Bürger wurden acht Familienbücher ausgewählt, die zwischen der Mitte des 16. und dem späten 17. Jahrhundert entstanden. Darunter befinden sich mit den Stetten, 8 Linck, 9 Sulzer 10 und Hainhofer 11 vier altein- 7 Vgl. exemplarisch für die Historische Migrationsforschung: L ESLIE P AGE M OCH , Moving Europeans: Migration in Western Europe since 1650, Bloomington, Ind. 1992; S IMONETTA C AVACIOCCHI (Hg.), Le migrazioni in Europa, secc. XIII-XVIII (Istituto internazionale di storia economica ›F. Datini‹, Prato, Serie II, Atti delle ›Settimane di studi‹ 25), Prato 1994; H ARTMUT L EHMANN / H ERMANN W ELLENREUTHER / R ENATE W ILSON (Hg.), In Search of Peace and Prosperity: New German Settlements in Eighteenth-Century Europe and America, University Park, Pa. 2000; D IRK H OERDER , Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, N. C. 2002; M ATTHIAS A SCHE , Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit - Versuch einer Typologie, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), S. 74-89; K LAUS J. B ADE u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007. Für die Reiseforschung: H ERMANN B AUSINGER u. a. (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991; H OLGER T H . G RÄF / R ALF P RÖVE , Wege ins Ungewisse. Eine Kulturgeschichte der Reisen 1500-1800, Frankfurt/ Main 1997; M ICHAEL M AURER (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999; F OLKER R EICHERT , Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001; R AINER B ABEL / W ERNER P ARAVICINI (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005. 8 Die seit 1445 in Augsburg belegte Kaufmannsfamilie von Stetten wurde 1538 ins Patriziat aufgenommen und gehörte bis zum Ende des Alten Reiches zu den führenden evangelischen Familien der Reichsstadt. Vgl. P ETER G EFFCKEN u. a., Art. Stetten, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 852f. Das 1548 von Christoph von Stetten d. Ä. (1506-1556) angelegte Ehrenbuch der von Stetten ist in edierter Form zugänglich: A LBERT H AEMMERLE (Hg.), Deren von Stetten Geschlechterbuch MDXXXXVIII (Stetten-Jahrbuch 2), München 1955 (Privatdruck). Siehe auch C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 202f. (Kat. 29). 9 Die Kaufmannsfamilie Linck ist seit dem späten 14. Jahrhundert in Augsburg nachgewiesen. Ihre größte wirtschaftliche Bedeutung erlangte sie um die Mitte des 16. Jahrhunderts, <?page no="87"?> M ARK H ÄBER LEIN 88 gesessene, d. h. mindestens seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Augsburg nachweisbare Patrizier- und Kaufmannsfamilien, während die übrigen vier Familien später nach Augsburg zugezogen waren. Die Schorer 12 kamen aus Ulm, die als Ulrich Linck (1495-1560) gemeinsam mit Anton Haug und Hans Langnauer die Haug- Langnauer-Linck-Gesellschaft, eine der großen reichsstädtischen Handelsfirmen der Zeit, leitete. Vgl. M ARK H ÄBERLEIN / P ETER G EFFCKEN , Art. Linck, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 612. Auf die Initiative Ulrich Lincks ging auch die Erstellung des Ehrenbuchs der Linck (SuStBA 2 o Cod. Aug. 489) unter Mitwirkung des Augsburger Ratsdieners und Chronisten Clemens Jäger 1560/ 61 zurück. Das Buch wurde von Ulrich Lincks Sohn Melchior (1529-1587) fortgeführt. Vgl. die Beschreibung in C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 152-157 (Kat. 16). 10 Die Sulzer sind seit 1354 in Augsburg belegt. Ein Teil der Familie wurde 1538, eine weitere Linie 1648 ins Patriziat aufgenommen. Wie die Stetten gehörten sie im 17. und 18. Jahrhundert zu den einflussreichsten evangelischen Familien Augsburgs: P ETER G EFF - CKEN / M ARK H ÄBERLEIN , Art. Sulzer, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 864f. Die Abfassung einer ersten Familiengeschichte (Genealogia und Geschlecht-Register der Sulzer; SuStBA 2 o Cod. Aug. 131) durch Christoph Sulzer in den Jahren 1540/ 41 stand offenbar in engem Zusammenhang mit der Erhebung des Autors ins Patriziat. 1618 fertigten Wolfgang Leonhard und Hieronymus Sulzer eine Fortsetzung an, die Nachträge bis ins frühe 18. Jahrhundert enthält (Stammenbeschreibung der Sulzer; SuStBA 2 o Cod. Aug. 132). Vgl. C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 172f. (Kat. 21), 224f. (Kat. 35). 11 Die Hainhofer stiegen im 16. Jahrhundert aus dem Handwerk in die Reihen der Augsburger Großkaufleute auf. Die Stammens-Beschreibung des Hainhoferischen Geschlechts (vgl. Anm. 2) wurde 1626 von dem Unternehmer und Kunsthändler Philipp Hainhofer (1578- 1647) angelegt, der als Berater und Agent für Herzog Maximilian I. von Bayern, Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg und Herzog Philipp II. von Pommern-Stettin tätig war. Vgl. K ATARINA S IEH -B URENS , Art. Hainhofer, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 470f.; B ERND R OECK , Philipp Hainhofer. Unternehmer in Sachen Kunst, in: L OUIS C ARLEN / G ABRIEL I MBODEN (Hg.), Kräfte der Wirtschaft. Unternehmergestalten des Alpenraums im 17. Jahrhundert. Vorträge des zweiten internationalen Symposiums zur Geschichte des Alpenraums, Brig 1992, S. 9-53; B ARBARA M UNDT , Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern, München 2009. 12 Das 1595 von Hieronymus Schorer angelegte Schorerisch Geschlecht Buch (SuStBA 4 o Cod. Aug. 55) nennt als ›Stammvater‹ der Familie den Ulmer Kaufmann Leonhard Schorer, der 1480 in Sterzing in Südtirol starb. Auch im 16. Jahrhundert blieb ein Zweig der Familie in Ulm ansässig. Vgl. zu dieser Familie M ARK H ÄBERLEIN , Fremdsprachen in den Netzwerken Augsburger Handelsgesellschaften des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: D ERS ./ C HRISTIAN K UHN (Hg.), Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 7), Wiesbaden 2010, S. 23-45, bes. 24-29; D ERS ., Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und der Italienhandel oberdeutscher Kaufleute (ca. 1450-1650), in: H ANS -M ICHAEL K ÖRNER / F LORIAN S CHULLER (Hg.), Bayern und Italien. Kontinuität und Wandel ihrer traditionellen Beziehungen, Lindenberg im Allgäu 2010, S. 124-139, bes. 130f. <?page no="88"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 89 Hammann 13 aus München bzw. Regensburg, die Thenn 14 aus Salzburg und die Garb 15 aus Genf. Am Beispiel dieser acht Familien sollen fünf Formen geographischer Mobilität thematisiert werden, die unter den städtischen Eliten des 15. bis 17. Jahrhunderts weit verbreitet waren: Pilgerreisen (1.), Kaufmannslehren und Handelsreisen (2.), die Migration von Spezialisten (3.), Studienaufenthalte im Ausland und ›Kavalierstouren‹ (4.) sowie Migration aus religiösen Gründen (5.). 1. Pilgerreisen Spätmittelalterliche Pilgerreisen hatten drei bevorzugte Ziele: Jerusalem und das Heilige Land, wo die Stätten des Lebens, Wirkens und Leidens Jesu Christi besucht wurden; Santiago de Compostela in Galicien mit dem Grab des Apostels Jakobus; und Rom als Zentrum der abendländischen Christenheit und Wirkungsstätte zahlreicher frühchristlicher Märtyrer. Die spirituelle Ökonomie der spätmittelalterlichen Kirche, die Sündenablass und Erlösung im Gegenzug für fromme Werke in Aussicht stellte, förderte diese Pilgerreisen, und die Sorge um das eigene Seelenheil war zweifellos ein zentrales Motiv, eine Pilgerfahrt zu unternehmen. Daneben spielten aber auch andere Motive eine Rolle: die Neugier auf fremde Länder, der Prestigegewinn, den insbesondere eine Reise ins Heilige Land mit sich brachte, oder diplomatische Aufträge, wie sie für einige Santiagopilger belegt sind. Pilger- 13 Die ursprünglich in Heilbronn ansässigen Hammann siedelten um 1500 nach München über und sahen sich in den 1570er Jahren angesichts der gegenreformatorischen Konfessionspolitik Herzog Albrechts V. von Bayern zur Abwanderung nach Regensburg und Augsburg genötigt. Das Familienbuch der Hammann (SuStBA 4 o Cod. Aug. 80) »besteht aus zwei Teilen: Den ersten ließ der aus Regensburg nach Augsburg zugewanderte Isaak Hammann (1570-1632) zusammenstellen […]; dessen Sohn Johann Philipp Hammann (1616-nach 1665) führte das Werk weiter […].« C H . E MMENDÖRFFER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 252 (Kat. 41). 14 Mitglieder der Familie Thenn siedelten im späten 16. Jahrhundert von Salzburg nach Augsburg über. Von der Stammenbeschreibung der Thennen sind in Augsburg eine Konzeptfassung von 1582-1584 (fortgesetzt 1592-1617) sowie eine illustrierte Reinschrift von 1592 (mit Nachträgen bis ca. 1620) überliefert (SuStBA 2 o Cog. Aug. 110; Cim 65), während eine bebilderte Salzburger Fassung verloren gegangen ist. Vgl. E RNST VON F RISCH , Das Stammbuch der Thennen von Salzburg. Eine Bilderchronik des 16. Jahrhunderts (Historische Bildkunde 4), Hamburg 1934; D ERS ., Zur Entstehungsgeschichte der Thenn-Chronik, in: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte 1935, Heft 4, S. 251-255; C H . E MMENDÖRF - FER / H. Z ÄH (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht (Anm. 1), S. 206-215 (Kat. 30, 31). 15 Die Brüder Anton und Jakob Garb wanderten Ende des 16. Jahrhunderts nach Augsburg zu; vgl. M ARK H ÄBERLEIN , Art. Garb, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 428f. Anton Garbs 1605 geborener Sohn Emanuel legte 1675 das Stamm-Büchlein seiner Familie an (SuStBA 4 o Cod. Aug. 263); vgl. Anm. 6. <?page no="89"?> M ARK H ÄBER LEIN 90 fahrten ins Heilige Land waren durch venezianische Reeder, die Bürokratie des Osmanischen Reiches in Palästina und die Franziskaner, die die Pilger in Jerusalem beherbergten und führten, in so hohem Grade durchorganisiert, dass Historiker sie mit modernen Pauschalreisen verglichen haben. Deutsche Pilger reisten zumeist in Gruppen und hielten sich in der Regel nur wenige Wochen im Heiligen Land auf, um das weitgehend standardisierte Besuchsprogramm zu absolvieren. 16 Pilgerfahrten ins Heilige Land sind für die Augsburger Kaufleute Lorenz Egen (1385), Jörg Mülich (1449) und Martin Ketzel (1476) sowie für den Kanoniker Wolf von Zülnhart (1495) belegt. Rom zog insbesondere in den Heiligen Jahren 1450 und 1500 Zehntausende von Wallfahrern an, im ersteren Jahr unter anderem die Augsburger Hektor Mülich und Thomas Ehem. Nach Santiago pilgerten Sebastian Ilsung und Jörg Rephun (1446) sowie Lucas Rem (1508). 17 Im 16. Jahrhundert ging die Zahl dieser Pilgerfahrten generell stark zurück, da die Reformation den Zusammenhang zwischen frommen Werken und der Erlangung des Seelenheils grundsätzlich in Zweifel gezogen hatte. Gleichwohl machten sich weiterhin einige Augsburger auf den Weg zu den Heiligen Stätten, und zwar sowohl Katholiken als auch Protestanten. 18 Ein instruktives Beispiel für die Vermischung religiöser und weltlicher Anlässe für spätmittelalterliche Pilgerfahrten bieten die Familienbücher der Sulzer von 1540 und 1618. Sie berichten weitgehend textidentisch über Ulrich (III.) Sulzer 16 F. R EICHERT , Erfahrung der Welt (Anm. 7), S. 61-67 (Rom), 90-97 (Santiago), 137-149 (Heiliges Land); U RSULA G ANZ -B LÄTTLER , Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520) (Jakobus-Studien 4), Tübingen 1990; K LAUS H ERBERS , »Wol auf sant Jacobs straßen! « Pilgerfahrten und Zeugnisse des Jakobuskults in Süddeutschland, Ostfildern 2002. 17 K. H ERBERS , Pilgerfahrten (Anm. 16), S. 66-77; R OLF K IESSLING , Der Augsburger Handel und die Wallfahrt nach Compostela. Ökonomische Vernetzungen und die Kulttopographie der Stadt, in: K LAUS H ERBERS / P ETER R ÜCKERT (Hg.), Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten (Jakobus-Studien 18), Tübingen 2009, S. 7-34; V OLKER H ONEMANN , Ein Augsburger Patrizier auf dem Weg nach Santiago: Sebastian Ilsung und seine Reise nach Santiago de Compostela, in: K. H ER - BERS / P. R ÜCKERT (Hg.), Augsburger Netzwerke (Anm. 17), S. 147-177. 18 Beispielsweise der Stadtarzt Leonhard Rauwolf (1535? -1596), der 1573 im Dienst der Handelsgesellschaft Melchior Manlichs in den Nahen Osten ging und im Anschluss an eine Reise durch Syrien und Mesopotamien (den heutigen Irak) auch eine Pilgerfahrt nach Palästina unternahm. Vgl. M ARK H ÄBERLEIN , Mehrerlay Secten vnnd Religionen. Der Augsburger Arzt Leonhard Rauwolf und die Erfahrung religiöser Vielfalt im 16. Jahrhundert, in: J OHANNES B URKHARDT / T HOMAS M. S AFLEY / S ABINE U LLMANN (Hg.), Geschichte in Räumen. FS für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 225-240; T ILMANN W ALTER , Eine Reise ins (Un-)Bekannte. Grenzräume des Wissens bei Leonhard Rauwolf (1535-1596), in: N. T. M. - Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 359-385. <?page no="90"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 91 (1463-1545), dieser habe in der Juge[n]t sich mit Rennen vnnd stechenn geiebt […] vnnd gar maniche vnnd weitte walfart geraisset als gen feren S. Jacob de Galicia zu fueß ganngen. Ittem mit der Churfürstlichen gnaden Hertzog Friderichen von Sachsen ist er auß vnnd Ein gefaren zu dem Hailligen lannd vnnd haben des Haillig Grab besuecht, wo Sulzer vom sächsischen Kurfürsten zum Ritter geschlagen wurde. Außerdem habe Ulrich Sulzer noch zahlreiche weitere Reisen zu Wasser und zu Lande unternommen, dabei einenn gutten thail der welt in sonnder der Christenhaytt durch zogen vnnd durch wannderet und diese Reisen alle aus seinen eigenen Mitteln finanziert - Eins thails zum lob gottes, vnd seiner selbst anndacht, des anndern thails vmb Rittermessiger Kurtzweil willen. 19 Dass die Pilgerreise nach Santiago im Zeitalter der Konfessionsspaltung für Protestanten nicht ungefährlich war, zeigt der Fall des 1536 in Salzburg geborenen Caspar Thenn. Dieser machte sich im Anschluss an einen Studienaufenthalt in Frankreich auf den Weg nach Santiago de Compostela, wurde jedoch neben sein gesellen, von wegen der Religion gefängkhlich einzogen. Mit Hilfe hochrangiger Fürsprecher kam er zwar wieder frei, musste aber seine gesamten Habseligkeiten mit Ausnahme der Kleider, die er auf dem Leibe trug, zurücklassen. 20 2. Kaufmannslehren und Handelsreisen Wesentlich häufiger als Pilgerreisen dokumentieren die Augsburger Familienbücher geographische Mobilität im Zusammenhang mit der Handelstätigkeit der reichsstädtischen Familien. Bereits im Spätmittelalter war es üblich, dass Kaufleute ihre heranwachsenden Söhne in wichtige europäische Handelszentren schickten, um dort die Sprache, die Techniken der Buchführung und des kaufmännischen Rechnungswesens sowie die lokalen Handelspraktiken zu erlernen. Eine solche Ausbildung begann in der Regel zwischen dem 13. und 16. Lebensjahr und dauerte mindestens zwei Jahre, sie konnte sich jedoch auch über wesentlich längere Zeiträume erstrecken. Der mit Abstand wichtigste Ausbildungsort für Augsburger Kaufmannssöhne zwischen 1400 und 1650 war Venedig; daneben finden sich andere italienische Städte wie Bologna, Florenz, Verona und Vicenza sowie die großen westeuropäischen Handelsmetropolen Antwerpen, Lyon, Saragossa und Lissabon. Im 17. Jahrhundert wurde auch das aufstrebende niederländische Handelszentrum Amsterdam ein wichtiger Ausbildungsplatz. 21 19 SuStBA 2 o Cod. Aug. 132, fol. 32r-32v. 20 SuStBA Cim 65, fol. 137r. 21 H ANNS -P ETER B RUCHHÄUSER , Kaufmannsbildung im Mittelalter. Determinanten des Curriculums deutscher Kaufleute im Spiegel der Formalisierung von Qualifizierungsprozessen (Dissertationen zur Pädagogik 3), Köln-Wien 1989, S. 181-243; M ARKUS A. D ENZEL , Professionalisierung und sozialer Aufstieg bei oberdeutschen Kaufleuten und <?page no="91"?> M ARK H ÄBER LEIN 92 Der 1506 geborene Christoph von Stetten fügte in das 1548 von ihm angelegte Geschlechterbuch eine Lebensbeschreibung ein, in der er über seinen kaufmännischen Werdegang ausführlich Auskunft gibt. Demnach besuchte er seit seinem neunten Lebensjahr eine deutsche Schule in Augsburg, in der er neben Lesen und Schreiben auch etwas Latein erlernte. Später wurde er zu dem humanistisch gebildeten Schulmeister Johannes Pinicianus geschickt, 22 bei dem der Lateinunterricht intensiviert wurde. 1519 reiste er als Dreizehnjähriger gemeinsam mit drei weiteren Augsburgern nach Venedig, wo ihn Leonhard Sulzer, der Vertreter der Grander- Rehlinger-Honold-Gesellschaft, im Haus der deutschen Kaufleute, dem ›Fondaco dei Tedeschi‹, in Empfang nahm, für passende Kleidung und Ausstattung sorgte und ihn bei einem venezianischen Kaufmann unterbrachte. Dort blieb Christoph von Stetten fast zwei Jahre, lernte den Handel mit Gewürzen und Arzneimitteln kennen und besuchte eine Rechenschule, in der er sich auch die Techniken der Buchhaltung aneignete. Nachdem der Handelsdiener Jörg Spengler dessen Vater berichtet hatte, dass sein Sohn die Sprache und die venezianischen Handelspraktiken gut beherrsche, wurde Christoph von Stetten nach Augsburg zurückbeordert und 1521 in Begleitung Sebastian Neidharts, eines Schwiegersohns des Augsburger Großkaufmanns Christoph Herwart, nach Antwerpen geschickt. Wie zuvor in Venedig wurde Stetten auch in Antwerpen von einem erfahrenen Handelsdiener, dem Herwart- Faktor Claus de Clerck, unter dessen Fittiche genommen. Christophs älterer Bruder Lukas von Stetten, der ebenfalls für die Herwart-Gesellschaft in den Niederlanden arbeitete, vermittelte ihn an einen Kaufmann in Lille, um Französisch zu lernen. Christoph von Stetten schreibt, er habe sich dieser Aufgabe mit grossen Fleis dorch Lesen, [und] Schreiben gewidmet, vmb dise Sprach mit Gwalt aufs Erst zw lernen, so dass er sie schließlich wol ergriffen vnd gekint hab. Seine Italienischkenntnisse hielt er unterdessen durch Lektüre und Konversation mit italienischen Händlern an der Antwerpener Börse aktiv. Seine fremdsprachlichen und kaufmännischen Kompetenzen versetzten Christoph von Stetten in die Lage, die Herwart-Gesellschaft bis 1530 in Antwerpen und auf den niederländischen Messen zu vertreten und 1530/ 31 Faktoren im 16. Jahrhundert, in: G ÜNTHER S CHULZ (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Büdinger Gespräche 2000-2001), München 2002, S. 413-442, hier 428-430; M ATHIAS B EER , Migration, Kommunikation und Jugend. Studenten und Kaufmannslehrlinge der Frühen Neuzeit in ihren Briefen, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 355-387; M. H ÄBERLEIN , Fremdsprachen (Anm. 12); H EINRICH L ANG , Fremdsprachenkompetenz zwischen Handelsverbindungen und Familiennetzwerken. Augsburger Kaufmannssöhne aus dem Welser-Umfeld in der Ausbildung bei Florentiner Bankiers um 1500, in: M. H ÄBERLEIN / C H . K UHN (Hg.), Fremde Sprachen (Anm. 12), S. 75-92. 22 Vgl. zu ihm R OLF S CHMIDT , Art. Pinicianus, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 718. <?page no="92"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 93 eine Handelsreise nach Lissabon für sie zu unternehmen, ehe er sich als selbständiger Kaufmann in Augsburg niederließ. 23 Abb. 1: Porträts des Melchior Linck und seiner Ehefrau Anna Maria Manlich im Geheimen Ehrenbuch der Linck, 1560/ 61. Die Lebensbeschreibung, die der Kaufmann Melchior Linck (1529-1587) in das Geschlechterbuch seiner Familie einfügte, weist einige Parallelen zu der Karriere Christoph von Stettens auf. Darüber hinaus zeigt sie, dass neben der praktischen kaufmännischen Ausbildung auch gelehrte Bildung um die Mitte des 16. Jahrhunderts für Kaufmannssöhne an Bedeutung gewann. Nachdem Melchior Linck, dessen Vater Ulrich zum Teilhaberkreis der Augsburger Haug-Langnauer-Linck- Gesellschaft gehörte, zwei Augsburger Lateinschulen besucht hatte (wie Christoph von Stetten war er Schüler von Johannes Pinicianus), immatrikulierte er sich 1542 als Dreizehnjähriger an der Universität Tübingen, wo er gemeinsam mit Ludwig Langnauer, dem Sohn eines Teilhabers seines Vaters und nahen Verwandten, studierte. Im folgenden Jahr reiste er in Begleitung eines anderen Kaufmannssohnes 23 A. H AEMMERLE (Hg.), Geschlechterbuch (Anm. 8), S. 48-64; vgl. M. H ÄBERLEIN , Fremdsprachen (Anm. 12), S. 29-31. <?page no="93"?> M ARK H ÄBER LEIN 94 nach Padua, um dort sein Studium fortzusetzen. Als der mittlerweile neunzehnjährige Melchior Linck 1548 nach Augsburg zurückkehrte, schloss sich an das Universitätsstudium eine Ausbildung in der väterlichen Firma an: Er begab sich in Begleitung eines Verwandten nach Antwerpen und arbeitete eineinhalb Jahre in der dortigen Faktorei der Haug-Langnauer-Linck-Gesellschaft. 1550 ging er nach Genf und Lyon, um Französisch zu lernen; die Reise dorthin trat er gemeinsam mit drei anderen Kaufmannssöhnen an, die sich unterwegs mit einem satirischen Rollenspiel vergnügten. Bevor er 1551 nach Augsburg zurückkehrte, unternahm Melchior Linck noch eine private Rundreise durch Südfrankreich. Nach weiteren zwei Jahren, die er für die Haug-Langnauer-Linck-Gesellschaft in Frankfurt, Venedig und Nürnberg tätig war, wurde dem mittlerweile 24-Jährigen 1553 die Kaufmannstochter Anna Maria Manlich von meinem geliebten Herrn Vater […] versprochen. Sein Schwiegervater Matthias Manlich war einer der reichsten Augsburger Kaufleute und ein enger Geschäftspartner seines Vaters. Obwohl Melchior Linck also die zehn Jahre vor seiner Heirat größtenteils fernab von Augsburg verbracht hatte, hatte sein Vater in dieser Zeit sämtliche Weichen für seine berufliche und persönliche Zukunft gestellt. 24 Ein besonders eindrückliches Beispiel für die geographische Mobilität einer süddeutschen Kaufmannsfamilie bietet das Geschlechterbuch der Schorer. Zum einen lässt es eine starke Orientierung der Familie nach Italien erkennen: So verstarb Jos Schorer 1524 in Venedig und wurde in der Kirche San Bartolomeo beigesetzt. Zwischen 1565 und 1587 verschieden vier weitere Familienmitglieder in italienischen Städten, und für das Jahr 1590 erwähnt das Geschlechterbuch eine Familiengrabstätte in San Bartolomeo. 25 Aber auch die Beziehungen nach Nordwesteuropa waren nicht minder eng: Der 1521 geborene Bartholomäus Schorer und sein 1546 zur Welt gekommener gleichnamiger Neffe verstarben beide zu London in Engeland. Georg Schorer war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Antwerpen tätig. Georgs Sohn Marx heiratete 1579 in Antwerpen, und dessen gleichnamiger Sohn kam 1616 auf der Überfahrt nach England bei einem Korsarenüberfall ums Leben. Anton Schorer schiffte sich 1610 in Amsterdam nach dem russischen Weißmeerhafen Archangelsk ein. Dem Familienbuch zufolge starb seine Frau wenige Tage nach seiner Abreise aus unmuet, so sie über Ihn gehabt. Noch weiter gereist war sein gleichnamiger Verwandter Anton Schorer, der sich 14 Jahre lang in Ostindien aufgehalten und in der Faktorei der niederländischen Ostindienkompanie in Masulipatnam gearbeitet hatte, ehe er 1615 nach Augsburg zurückkehrte. 26 24 SuStBA 2 o Cod. Aug. 489, fol. 42r-44v; siehe auch M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 9), Berlin 1998, S. 347f. 25 SuStBA 4 o Cod. Aug. 55, S. 10, 17, 20-23, 35, 60, 69f., 75. 26 SuStBA 4 o Cod. Aug. 55, S. 7, 17, 21, 37, 48, 64. <?page no="94"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 95 Abb. 2: Das Leben als Pilgerschaft: Allegorische Darstellung im Stamm-Büchlein der Familie Garb, 1675. <?page no="95"?> M ARK H ÄBER LEIN 96 Im Fall der kaufmännischen Mobilität wird besonders deutlich, dass die Grenzen zwischen der temporären Abwesenheit von Lehrlingen und Handelsdienern und der permanenten Migration in andere Handelsstädte fließend waren. Während die Mehrheit der Augsburger Kaufmannssöhne nach der Ausbildung in einer oder mehreren europäischen Handelsmetropolen und einer mitunter längeren Tätigkeit als Handelsdiener in ihre Heimatstadt zurückkehrte, blieb eine Minderheit dauerhaft in der Fremde. Neben einem Zweig der Familie Schorer, der im frühen 17. Jahrhundert nach Venedig übersiedelte, wären hier beispielsweise der Augsburger Patrizier Daniel Herwart, der sich um 1600 in Lyon niederließ und dort zu einem der führenden Großkaufleute aufstieg, Christoph Rem in Genua oder Bartholomäus Hopfer in Amsterdam zu nennen. 27 Der 1608 in Augsburg geborene Tobias Hammann zog nach Hamburg, wo er dem Familienbuch der Hammann zufolge Eine Ehrliche Handlung vnd Außkommen hatte, 28 und Emanuel Garbs Bruder Anton, ein sehr frommer, Gottesfürchtiger, in vielerley Sprachen und allersort Handtlungen wohlerfahrner und geübter Handelsmann, starb im holländischen Leiden. 29 3. Migration von Spezialisten Personen, die über technische und künstlerische Fähigkeiten und Kenntnisse verfügten, waren bereits in der Frühen Neuzeit gefragt und wurden häufig als spezialisierte Migranten angeworben. Ein prominentes Beispiel im Augsburger Kontext ist Daniel Hoechstetter (1525-1581), der zunächst im Salzburger Land und in Tirol Bergbau betrieben hatte und 1564 von der Haug-Langnauer-Linck- Gesellschaft als Montanexperte nach England geschickt wurde, um den Kupferbergbau in Keswick in der Grafschaft Cumberland zu organisieren. Hoechstetter wurde Leiter der 1568 inkorporierten ›Company of Mines Royal‹, die von englischen Hof- und Regierungskreisen unterstützt wurde, und behielt diese Position auch nach dem Bankrott der Haug-Langnauer-Linck-Gesellschaft im Jahre 1574. Nach Hoechstetters Tod ging die Leitung des Bergbaus zunächst auf seinen Schwiegersohn Marx Steinberger (gest. 1597), anschließend auf seine Söhne Emanuel (gest. 1614) und Daniel d. J. (1553-1638) über. Damit lag der englische Kupferbergbau sieben Jahrzehnte lang in der Hand einer Augsburger Kaufmanns- 27 Vgl. R EINHARD H ILDEBRANDT , Commercium - Confessio - Conubium. Augsburger Kaufleute in europäischen Städten 1560-1650, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch- Schwabens 10), Augsburg 2005, S. 9-28; M. H ÄBERLEIN , Fondaco dei Tedeschi (Anm. 12), S. 130f. 28 SuStBA 4 o Cod. Aug. 80, unfoliert. 29 SuStBA 4 o Cod. Aug. 263, fol. 24r. <?page no="96"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 97 familie, die sich dauerhaft in England niedergelassen hatte. Die Hoechstetter genossen als Montanexperten hohes Ansehen und wurden auch bei Bergbauprojekten in Cornwall und Schottland zu Rate gezogen. Möglicherweise hielt sich Daniel Hoechstetter 1585/ 86 auch auf Roanoke Island, der kurzlebigen englischen Kolonie vor der Küste des heutigen US-amerikanischen Bundesstaats North Carolina, auf. Wie Besuche der Augsburger Leonhard Stammler und Johann Peter Haintzel in Keswick in den Jahren 1591/ 92 zeigen, hielten die Hoechstetter ihre Kontakte in die schwäbische Reichsstadt zumindest bis Ende des 16. Jahrhunderts aufrecht. 30 In den Augsburger Familienbüchern finden sich unter anderem Beispiele für die Migration von Münzmeistern, Montanexperten und Edelsteinschleifern. Der Salzburger Münzmeister Johann Thenn (1462-1531), dessen Enkel im späten 16. Jahrhundert nach Augsburg übersiedelte, war dem Geschlechterbuch seiner Familie zufolge in Essen geboren und über Zwischenstationen in Kleve, Nimwegen, Friesland, Köln, Leipzig und Schwabach im Jahr 1500 nach Salzburg gekommen, wo er sich unter schwierigen Umständen erfolgreich etablierte. Sein Sohn Albrecht war seit etwa 1516 Münzmeister zu Passau, wo er 1534 kinderlos verstarb, und dessen Bruder Marx (1499-1552), der 1512 zur Ausbildung nach Venedig geschickt worden war, übernahm von seinem Vater das Amt des Salzburger Münzmeisters. Darüber hinaus engagierte er sich als Montanunternehmer im Salzburger Land, im Berggericht Kitzbühel, im böhmischen Joachimsthal, am Fichtelberg vnd an mer andern orten selbiger Lanndsart. 31 Über seinen 1503 geborenen Großonkel Caspar Hainhofer berichtet Philipp Hainhofer im Ehrenbuch seiner Familie von 1626, dass dieser als Juwelenexperte nach Portugal gegangen sei: Caspar Hainhofer habe lust gehabt mit gioies [Juwelen] vmbzugehen, dahero er in Jtalia das Goldarbeiten vnd Stainuersetzen gelehrnet, hernach in 30 G EORGE H AMMERSLEY (Hg.), Daniel Hechstetter the Younger. Memorabilia and Letters 1600-1639 (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 17), Stuttgart 1988, S. 23-50; A DELHEID H OECHSTETTER -M ÜLLER , Die ›Company of Mines Royal‹ und die Kupferbergwerke in Keswick, Cumberland, zur Zeit Joachim und Daniel Hoechstetters (1526- 1580), in: P ETER F ASSL u. a. (Hg.), Aus Schwaben und Altbayern. FS für Pankraz Fried zum 60. Geburtstag (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 5), Sigmaringen 1991, S. 75-91. Zur möglichen Beteiligung Hoechstetters am englischen Kolonisationsprojekt auf Roanoke Island siehe D AVID B EERS Q UINN (Hg.), The Roanoke Voyages 1584-1590. Documents to Illustrate the English Voyages to North America under the Patent Granted to Walter Raleigh in 1584, Vol. 1, London 1955 (Nachdruck Nendeln 1967), S. 195; G ARY C ARL G RASSL , The Search for the First English Settlement in America. America’s First Science Center, Bloomington, Ind. 2006, S. 113-115, 145, 214-219; J AMES H ORN , A Kingdom Strange. The Brief and Tragic History of the Lost Colony of Roanoke, New York 2011, S. 67, 78. 31 SuStBA Cim 65, fol. 40v-41v, 46v-47v, 56v-59r (Zitat fol. 57v). <?page no="97"?> M ARK H ÄBER LEIN 98 Hispaniam vnd Portugalliam geraiset, sich daselbst heußlich nidergelassen, die Rauhe Stein so man auß India gebracht, kaufft vnd schneiden lassen, vnd also darmit gehandlet. 32 Als Sonderform der Spezialistenwanderung lassen sich die militärischen Laufbahnen reichsstädtischer Bürger bezeichnen, denn auch an Offizieren und Soldaten hatten das Reich und die frühmodernen Territorialstaaten in einem Zeitalter nahezu permanenter Kriege großen Bedarf. 33 Über Anton (III.) Sulzer berichtet das Geschlechterbuch seiner Familie, dass er Ende des 16. Jahrhunderts bei Raab in Vngern im Krieg erschoßen worden sei. 34 Das Familienbuch der Hammann erwähnt einen Arsatius Hammann, der 1576 als Soldat in Ferrara starb, und den 1625 in Regensburg zur Welt gekommenen Johann Thomas Hammann, der sich Lange Zeiten inn Schweden, Dennenmarckh, Engelandt, Pohlen, vnd Preüßen, Inn Kriegsdiensten auffgehalten hatte. 35 Im Familienbuch der Schorer schließlich heißt es, dass der 1655 geborene Matthäus als Soldat nach Paris gegangen sei. 36 4. Auslandsstudium und ›Kavalierstouren‹ Neben den Auslandslehren und Handelsreisen von Kaufleuten sind Studienaufenthalte und Bildungsreisen besonders häufig in den Augsburger Familienbüchern dokumentiert. Dies liegt zum einen daran, dass für Kaufleute und Handelsdiener, die im Rahmen ihrer kommerziellen Tätigkeit auch notarielle Dokumente ausfertigen ließen und Prozesse zu führen hatten, im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts juristische Kenntnisse an Bedeutung gewannen. Die erforderlichen Kompetenzen ließen sich durch die Kombination einer Auslandslehre mit einem Jurastudium erwerben, wie wir sie bei Melchior Linck bereits beobachten konnten. 37 Zum anderen nahm das Interesse an akademischer Bildung innerhalb des städtischen Bürgertums deutlich zu, da die entstehenden frühmodernen Staaten einen wachsenden Bedarf an qualifiziertem Verwaltungspersonal hatten. Dementsprechend stiegen die Besucherzahlen der meisten europäischen Hochschulen. 38 Neben dem Studium 32 SuStBA Cim 66, fol. 49v. 33 Vgl. die Beiträge in M ATTHIAS A SCHE u. a. (Hg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 9), Münster u. a. 2008. 34 SuStBA 2 o Cod Aug 132, fol. 72v. 35 SuStBA 4 o Cod. Aug. 80, unfoliert. 36 SuStBA 4 Cod. Aug. 55, S. 75. 37 M. A. D ENZEL , Professionalisierung (Anm. 21), S. 430f. 38 M ATTHIAS A SCHE , Peregrinatio academica in Europa im konfessionellen Zeitalter. Bestandsaufnahme eines unübersichtlichen Forschungsfeldes und Versuch einer Interpretation unter migrationsgeschichtlichen Aspekten, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 6 (2005), S. 3-33. <?page no="98"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 99 akademischer Fächer gehörten auch Exercitien wie Fechten und Tanzen sowie der Erwerb von Fremdsprachen zu einer umfassenden Ausbildung, die Patrizier- und Kaufmannssöhne für den Fürstendienst befähigen sollte. 39 Ferner orientierten sich die reichsstädtischen Eliten zunehmend an Lebensführung und Habitus des Adels und übernahmen auch die Praxis der adeligen Kavalierstour - einer Bildungsreise durch mehrere süd- und westeuropäische Länder, die junge Männer von Stand in Kleingruppen, von Privatlehrern oder Hofmeistern begleitet, meist zwischen dem 15. und dem 20. Lebensjahr unternahmen. Diese Reise, auf der königliche Schlösser, Universitäten, Ritterakademien, Kunstkammern sowie bedeutende geistliche und weltliche Monumente aufgesucht und besichtigt wurden, war »von der Idee getragen, dass die jungen Kavaliere unterwegs ihr Verhalten und ihre Kenntnisse vervollkommnen […] sollten.« 40 Die Belege für Studienaufenthalte im Ausland und Kavalierstouren in den Augsburger Familienbüchern sind sehr zahlreich, was auf das große Interesse der Autoren und Auftraggeber hinweist, diese Reisen dem familiären Gedächtnis einzuschreiben. Im Familienbuch der Thenn lässt sich gut nachvollziehen, dass Universitätsbesuche und ausgedehnte Reisen für Mitglieder dieser ursprünglich in Salzburg und später auch in Augsburg ansässigen Familie im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend wichtiger wurden. Georg Thenn (1517-1592) hatte zunächst eine kaufmännische Ausbildung in Venedig und Lyon erhalten, war danach auf Rom vnd Neapolis, Italien zu perlustriren fort gerückht und hatte auch das Königreich Hungern, vnd Niderlandt besehen. Sein jüngerer Bruder Christoph (1525-1574) hatte in Leipzig, Wittenberg und Tübingen studiert und war anschließend aus lieb der Künsten vnd welschen sprach nach Padua und Bologna gereist. Außerdem hatte er Rom vnd Neapolis vnd Italiam perlustriert. Der spätere Salzburger Hofrat Wilhelm Thenn (1532-1598) 39 M ATHIS L EIBETSEDER , Die Kavalierstour. Adelige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln 2004, S. 105f., 135; A LEXANDER S IGELEN , Dem ganzen Geschlecht nützlich und rühmlich. Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler zwischen Fürstendienst und Familienpolitik (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B: Forschungen 171), Stuttgart 2009, S. 84f., 524-537. 40 M. L EIBETSEDER , Kavalierstour (Anm. 39), S. 10 (Zitat), 209. Vgl. zur Kavalierstour auch J ÖRG J OCHEN B ERNS , Peregrinatio academica und Kavalierstour. Bildungsreisen junger Deutscher in der Frühen Neuzeit, in: C ONRAD W IEDEMANN (Hg.), Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposium, Stuttgart 1988, S. 155-181; H ILDE DE R IDDER - S YMOENS , Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert, in: P ETER J. B RENNER (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/ Main 1989, S. 197-223; D IES ., Mobilität, in: W ALTER R ÜEGG (Hg.), Geschichte der Universität in Europa 2, München 1996, S. 335-359, bes. 346-350; A NTJE S TANNEK , Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts (Geschichte und Geschlechter 33), Frankfurt/ Main-New York 2001. <?page no="99"?> M ARK H ÄBER LEIN 100 besuchte die Universitäten Ingolstadt, Leipzig, Löwen, Orleans, Paris, Bourges, Oxford, Cambridge und Bologna, wo er 1557 promoviert wurde. Christoph Thenns 1559 geborener Sohn Marx hatte sich nach dem Schulbesuch in Lauingen und dem Studium in Tübingen und Basel einige Monate in der italienischen Universitätsstadt Padua aufgehalten und 1581 die Gelegenheit genutzt, nach Venedig, Ferrara, Bologna, Florenz und Siena zu reisen und das Land zu besichtigen, ehe er 1582 nach Augsburg zurückkehrte. 41 Heinrich Thenn d. J. schließlich, der 1597 in Kitzbühel geboren und als Kind mit seinem gleichnamigen Vater nach Augsburg gekommen war, wurde 1608 mit seinem Präzeptor Jeremias Widholz nach Lauingen und eineinhalb Jahre später nach Straßburg geschickt, wo er vier Jahre lang studierte. Daran schloss sich 1614 eine Reise über die Schweiz und Savoyen nach Lyon an. In der französischen Universitätsstadt Orleans verweilte Thenn fast drei Jahre Linguae Studiorum & exercitiorum gratia. Obwohl die entstandene Tumultus bellici Thenn und seinen Präzeptor Widholz ann Ihrem tour vnd vnd durchreysen […] nicht wenig verhindert hätten, konnten sie eine schöne reiß unternehmen, die sie durch das Languedoc und die Provence nach Marseille, von dort über das vngestüme Meer nach Chaseau und über Lyon und das Burgund wieder zurück nach Augsburg führte. 1617 war Heinrich Thenn mit seinem Bruder Andreas und seinem Präzeptor nach Italien Inn Lombardia vnd Toscana herumbgereist, Selbige Stätt vnd Örtter zuebesichtigen. Während eines Aufenthalts in Siena verstarb allerdings der Präzeptor Jeremias Widholz, so dass die Brüder von ihrem Schwager Leonhard Weiß heimgeholt werden mussten. 42 Auch das Geschlechterbuch der Sulzer von 1618 lässt den zunehmenden Stellenwert ausgedehnter Bildungs- und Kavaliersreisen deutlich erkennen. Der 1541 geborene David Sulzer studierte im französischen Bourges und wurde anschließend nach Italien geschickt, um die Sprachen zue Lernen vnd dass Landt zuebesichtigen. Sein Sohn Wolfgang (1567-1609) ging ebenfalls nach Italien, um das Land bevor Rohm vndt Neapolis zuebesichtigen vnnd die Sprach zue Lernen, und dessen Sohn Wolfgang Leonhard (1591-1653) hielt sich längere Zeit in Verona und Amsterdam auf. Eine ausgedehnte Bildungsreise unternahm Wolfgang Leonhards Bruder Hieronymus Sulzer: Er begab sich zunächst 1608 zum Sprachenlernen nach Verona, wo er sich eineinhalb Jahre aufhielt und die Zeit zur besichtigung der vornembsten Stätt inn Italia nutzte. Nach einem Zwischenaufenthalt in Augsburg ging es 1611 über Frankfurt rheinabwärts nach Amsterdam, wo Hieronymus Sulzer zwei Jahre lang inn herren diensten stand und anschließend die Niederlande und England bereiste. Danach hielt er sich ein halbes Jahr in Lyon zue erlehrnung der selben sprach auf und bereiste die vornehmste Örther vnndt Stätt inn Frannckhreich, ehe er über die Schweiz die 41 SuStBA Cim 65, fol. 71v-72r, 88v, 129r-129v, 154r-154v. 42 SuStBA Cim 65, fol. 193v-194r. <?page no="100"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 101 Heimreise nach Augsburg antrat. 43 Im Falle Wolfgang Leonhard Sulzers d. J. (1622-1645) entwickelte sich die Bildungsreise geradezu zu einer Lebensform. Dieser wurde 1639 nacher Genff die frantzösische Sprach zuerlehrnen, von dar fürter in Franckreich nach Paris versendet, daselbst Er auf den Academien das Reuten, Fechten und andere Exercitia gelehrnet, welches Königreich Er fast ganz durchreisset, und alle vornehmste Stäte und örther daselben besichtiget, von danen Er A. o 1642 durch Artois, Hennegau, Flandern, Braband, nacher denen vereinigten Niderlanden, und vornemlich Amsterdam in Holland verreisset, allwo Er sich nachdem Er zuvor aller orthen besehen, bey einem Jahr lang aufgehalten, und daselbst dem Studio Architecturae Militaris obgelegen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Augsburg (1643) wurde Wolfgang Leonhard von Seinem herrn Vatter nachmahls auch in Italiam selbe Sprach zu erlehrnen, und dises Land zu besehen verschickt. Dort besichtigte er Rom und Neapel, wie auch andere berühmte orth diser Provinciae. Schließlich begab er sich an den Hof des Medici-Großherzogs in Florenz und nahm am Geburtstag des Herrschers an einem Turnier teil, bei dem er sich angeblich rühmlich […] sehen lassen, und sehr beliebt gemacht. Unglücklicherweise war dem jungen Augsburger Patrizier bei diesem Wettkampf jedoch eine ader im Leib gesprungen - eine Verletzung, an der er wenige Tage später im Alter von nur 23 Jahren verstarb. Daraufhin wurde Hieronymus Sulzer in der Kirche Santa Maria Novella beigesetzt, wo ein marmornes Epitaph an ihn erinnert. 44 Der Unternehmer und fürstliche Agent Philipp Hainhofer berichtet in der Stammens-Beschreibung des Hainhoferischen Geschlechts von 1626 ausführlich über seinen eigenen Bildungsweg sowie über denjenigen seines Neffen Hieronymus d. J. (1611- 1683). Philipp Hainhofer reiste demnach 1594 als Fünfzehnjähriger mit seinem Bruder Hieronymus und dem Präzeptor Hieronymus Bechler nach Padua, wo die Brüder zwei Jahre lang studierten. Anschließend hielten sie sich ein halbes Jahr in Siena auf und unternahmen eine Rundreise, die sie nach Rom und Neapel führte. Im Anschluss an seinen Italienaufenthalt ging Hainhofer Ende 1596 nach Köln, um alda die Studia zu Continuiren, vnd bei einem Niderlender Jacobo von Hauthuis [Jacob van Honthuizen] die Niderlendische vnd Frantzösische Sprach zu lernen. An den Aufenthalt in Köln, von wo er 1597 wegen des Ausbruchs der Pest mit seinem Sprachlehrer und dessen Familie fliehen musste, schlossen sich eine Reise durch die Niederlande und ein längerer Aufenthalt in Amsterdam an. Im Herbst 1598 trat er schließlich die Heimreise an. 45 43 SuStBA 2 o Cod. Aug. 132, fol. 61r, 78v-79r, 87r-87v, 89v. 44 SuStBA 2 o Cod. Aug. 132, fol. 96v. 45 SuStBA Cim 66, fol. 61r-61v; B. M UNDT , Kunstschrank (Anm. 11), S. 38-40. <?page no="101"?> M ARK H ÄBER LEIN 102 Hainhofers Neffe Hieronymus d. J., der es an Bildung und Weltgewandtheit durchaus mit seinem Onkel aufnehmen konnte, schlug schließlich eine Laufbahn als professioneller Reisebegleiter junger englischer Adeliger auf dem europäischen Kontinent ein. Zunächst wurde er als Jugendlicher von seinen Eltern nach Genf geschickt, wo er sich ungefähr zwei Jahre lang aufhielt und Französisch lernte. Danach verbrachte er eine Zeit bey Vornemen Handelsleuthen zu Lion, Nürmberg vnd Wien. Auf dem Regensburger Kurfürstentag von 1630 knüpfte Hieronymus Hainhofer d. J. Kontakte zu dem englischen Gesandten Sir Robert Anstruther, der ihn an die Familie Sir Edward Sackvilles, des Grafen von Dorset und Lord Chamberlain König Karls I., vermittelte. Zeitweilig hielt sich Hainhofer im Haushalt des Prinzen von Wales, des späteren Königs Karl II., und seines Bruders Jakob auf. 1641 heiratete er die französische Adelige Susanne d’Asnoy, ein Hoffräulein der Gräfin von Derby. Bei ihrer Hochzeit, heißt es im Hainhoferschen Familienbuch, habe sich jederman über die sonderbahre Schickhung Gottes verwundert, das der Breutigam als ein Deutscher, die Braut als eine Frantzösin, und also beide Frembde, sich hinwiderumb in einem frembden Königreich ausser ihrem Vatterlandt sollen zusammen Copuliern, dergleichen Exempel in Engellandt nicht baldt erhöret worden seyen […]. 46 Nach dieser Heirat begann Hainhofers Karriere als Reisehofmeister, der mit vnderschidtlichen jungen Grafen […] durch Franckhreich, Italia, Teutschland, vnd andere Provincias et Regiones pereginiert[e]. Einer Quelle aus dem Jahre 1657 zufolge war er bis zu diesem Zeitpunkt bereits zwölfmal durch Frankreich, siebenmal durch Italien, fünfmal durch England, viermal durch Holland und fünfmal durch Deutschland gereist. Mit seinen englischen Schützlingen suchte er wiederholt seine Heimatstadt Augsburg sowie ein Schloss auf, das er in der Touraine erworben hatte. Hainhofer lebte bis 1665 in England, verließ aber nach Ausbruch der Pest in London das Land und verbrachte seinen Lebensabend in Augsburg. 47 Die Laufbahn des polyglotten Reisehofmeisters Hieronymus Hainhofer d. J. zeigt, dass auch im Falle von Auslandsstudien und Bildungsreisen die Grenzen zwischen temporärer Mobilität und dauerhafter Migration fließend sein konnten. Die Kavalierstour durch mehrere europäische Länder, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil der Sozialisation von Patrizier- und reichen Kaufmannssöhnen entwickelte, war für die meisten von ihnen eine Lebensphase im Übergang zwischen ihrer Jugend auf der einen, ihrer Heirat und Niederlassung in Augsburg oder einer anderen süddeutschen Reichs- oder Resi- 46 SuStBA Cim 66, fol. 81r-81v; vgl. J ILL B EPLER , Augsburg - England - Wolfenbüttel. Die Karriere des Reisehofmeisters Hieronymus Hainhofer, in: J OCHEN B RÜNING / J OHAN - NES J ANOTA (Hg.), Augsburg in der Frühen Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsprogramm (Colloquia Augustana 1), Berlin 1995, S. 119-139, bes. 119-125. 47 SuStBA Cim 66, fol. 81r; J. B EPLER , Augsburg - England - Wolfenbüttel (Anm. 46), S. 125-139. <?page no="102"?> M IG R ATION UND M O BIL ITÄT IN A UG S B UR G ER F AMILI ENBÜC HERN 103 denzstadt auf der anderen Seite. Im Falle einiger junger Augsburger bildete die Vertrautheit mit fremden Sprachen und Lebensformen, die sie im Rahmen ihrer Studien und Reisen erwarben, hingegen den Auftakt zu einer Karriere im Ausland. 5. Migration aus religiösen Gründen Die Reformation und die konfessionelle Spaltung Europas hatten auch für die geographische Mobilität erhebliche Folgen. Wie bereits erwähnt gingen die Pilgerfahrten stark zurück, und viele Universitäten in katholischen Ländern verloren für Studenten aus protestantischen Ländern an Attraktivität. 48 Ferner kam es infolge von Religionskriegen, konfessionellen Konflikten und gegenreformatorischen Maßnahmen im späten 16. und 17. Jahrhundert zu einer ganzen Reihe religiös motivierter Wanderungsbewegungen, von denen die niederländischen Glaubensflüchtlinge in deutschen und englischen Städten, die böhmischen und österreichischen Exulanten, die wegen der gegenreformatorischen Maßnahmen der Habsburger ihre Heimatregionen verließen, sowie die Hugenotten, die Frankreich nach der Rücknahme des Edikts von Nantes 1685 den Rücken kehrten, die bekanntesten sind. 49 Im Gegensatz zu Städten wie Frankfurt am Main, Nürnberg oder Regensburg galt Augsburg in der bisherigen Forschung nicht als prominentes Ziel von Glaubensflüchtlingen und Konfessionsmigranten. 50 Die untersuchten Familienbücher zeigen jedoch, dass es sie auch in der schwäbischen Reichsstadt gegeben hat. 48 Vgl. H. DE R IDDER -S YMOENS , Mobilität (Anm. 40), S. 342f.; M. A SCHE , Peregrinatio academica (Anm. 38), S. 17. 49 Vgl. H EINZ D UCHHARDT , Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer (Niederländer, Hugenotten, Waldenser, Salzburger), in: K LAUS J. B ADE (Hg.), Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 278- 286; W ERNER W. S CHNABEL , Österreichische Exulanten in oberdeutschen Reichsstädten. Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 101), München 1992; H EINZ S CHILLING , Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: K LAUS J. B ADE (Hg.), Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Vorträge auf dem Deutschen Historikertag in Halle a. d. Saale, 11. September 2003 [richtig: 2002] (IMIS-Beiträge 20/ 2002), Osnabrück 2002, S. 67-89; M ATTHIAS A SCHE , Auswanderungsrecht und Migration aus Glaubensgründen - Kenntnisstand und Forschungsperspektiven zur ius emigrandi-Regelung des Augsburger Religionsfriedens, in: H EINZ S CHILLING / H ERIBERT S MOLINSKY (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Augsburg 21. bis 25. September 2005 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 150), Münster 2007, S. 75-103. Vgl. auch den Beitrag von Frank Kleinehagenbrock in diesem Band. 50 Vgl. aber den Beitrag von Andreas Link in diesem Band. <?page no="103"?> M ARK H ÄBER LEIN 104 So ist dem Familienbuch der Thenn zu entnehmen, dass zahlreiche Familienmitglieder das Erzstift Salzburg wegen der Religion, also wegen ihres protestantischen Glaubens, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verließen und sich unter anderem in Ulm, Nördlingen, Regensburg, Oberösterreich und Böhmen niederließen. Einer der ersten war der gelehrte und weit gereiste Christoph Thenn, der in Wittenberg bei Martin Luther und Philipp Melanchthon studiert hatte. Weil er sich als Protestant in Salzburg offenbar nicht mehr sicher fühlte, siedelte er vmb der rainen lehr des Euangelij, vnd Freyhait des glaubens willen 1557 ins bikonfessionelle Augsburg über. 51 Dem Hammannschen Familienbuch zufolge zog Jeremias Hammann (1538-1605) 1571 von München nach Augsburg, nachdem ihn Herzog Albrecht V. aus seiner Residenzstadt wegen des rainen Worts GOTTES vnd Augspurgischer Confession vertriben hatte. Jeremias’ ebenfalls protestantischer Bruder Georg Hammann siedelte 1574 mit seiner Familie nach Regensburg um. Auch der 1550 geborene Hans Hammann verließ München seines Glaubens wegen und betrieb nach einem Aufenthalt in Regensburg einen Eisenhammer in der Oberpfalz. 52 6. Zusammenfassung Die Ehren- und Geschlechterbücher Augsburger Patrizier- und Kaufmannsfamilien des 16. und 17. Jahrhunderts, die hier untersucht wurden, enthalten zahlreiche Informationen über die geographische Mobilität der reichsstädtischen Eliten. Pilgerreisen, Kaufmannslehren, Studienaufenthalte, Vergnügungs- und Geschäftsreisen fanden in den Familienbüchern der Stetten, Linck, Sulzer, Hainhofer, Thenn, Schorer, Hammann und Garb ebenso ihren Niederschlag wie beruflich bedingte Wohnortwechsel, religiöse Verfolgung und Flucht vor kriegerischer Bedrohung. Vor dem Hintergrund dieser hohen Mobilität scheint eine wichtige Funktion der Familienbücher darin bestanden zu haben, die Erinnerung an in der Fremde lebende bzw. dort verstorbene Angehörige und damit das kollektive Gedächtnis räumlich verstreut lebender Familienverbände zu bewahren. Die große Zahl der Familienbücher, die sich aus dem frühneuzeitlichen Augsburg erhalten haben, stellt somit eine wichtige migrationsgeschichtliche Quelle dar, die bislang noch nicht umfassend ausgewertet wurde und die auch in dieser Hinsicht nähere Beachtung verdient. 51 SuStBA Cim 65, fol. 89r. 52 SuStBA 4 o Cod. Aug. 80, unfoliert. <?page no="104"?> 105 F RANK K LEINEHAGENBROCK Konfessionell bedingte Migration im Süden des Alten Reiches Migrationsphänomene sind zentral in politischen und gesellschaftlichen Diskursen der Gegenwart. Sie stellen ein Kontinuum menschlicher Existenz dar, denn Migration »gehört zur Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod« und hat konsequentermaßen die europäische Geschichte entscheidend geprägt. 1 Auch für die frühneuzeitlichen Gesellschaften war Migration ein weithin kennzeichnendes Phänomen. Dennoch hat sich die Forschung dieser Thematik nur zögerlich zugewandt und erst nach und nach systematische Ansätze zur Analyse entwickelt. 2 Untersucht man migrierende Gruppen hinsichtlich der Gründe, die sie zum Aufbruch bewegten, so muss gerade für die Frühe Neuzeit festgestellt werden, dass infolge der Ausprägung von Konfessionsgesellschaften zahlreiche Menschen »aufgrund ihrer religiösen Praxis, ihres persönlichen Bekenntnisses oder ihrer konfessionellen Identität« auswanderten oder zur Auswanderung seitens ihrer Obrigkeiten gezwungen wurden. 3 Insbesondere jene, die in der Literatur als 1 Diese fundamentale Erkenntnis stellen die Herausgeber der Enzyklopädie ›Migration in Europa‹ ihrem grundlegenden Handbuch voran: K LAUS B ADE u. a., Die Enzyklopädie: Idee - Konzept - Realisierung, in: D IES . (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u. a. 2007, S. 19-27, hier 19. 2 Vgl. hierzu T HOMAS K LINGENBIEL , Migrationen im frühneuzeitlichen Europa. Anmerkungen und Überlegungen zur Typologiediskussion, in: T HOMAS H ÖPEL / K ATHARINA M IDELL (Hg.), Réfugiés und Emigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert (Comparativ 7), Leipzig 1997, S. 23-38; und vor allem M ATTHIAS A SCHE , Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit - Versuch einer Typologie, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), S. 74-89, hier 75; sowie D ERS ., Wanderungsbewegungen von und nach Deutschland. Eine Übersicht über die Epoche der Frühen Neuzeit (16.- 18. Jahrhundert), in: V OLKER T RUGENBERGER (Hg.), Genealogische Quellen jenseits der Kirchenbücher. 56. Deutscher Genealogentag in Leonberg 17.-20. September 2004, Stuttgart 2005, S. 267-303. - Dass es eine Vielzahl von Studien mit regionalen und lokalen Schwerpunkten gibt, belegen I NGRID M ATSCHINEGG / A LBERT M ÜLLER , Migration - Wanderung - Mobilität in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Eine Auswahlbibliographie, Krems 1990. 3 M ATTHIAS A SCHE , Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer. Perspektiven für die Forschung aus der Sicht der sozialhistorischen Migrations- und der vergleichenden Minderheitenforschung, in: M ICHAEL N ORTH (Hg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln u. a. 2009, S. 89-114, hier 89. - Dass Religion seit <?page no="105"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 106 ›Glaubensflüchtlinge‹, zeitgenössisch oft als ›Exulanten‹ bezeichnet werden, verdienen im Kontext der Migrationsforschung besondere Beachtung, ja können als Kennzeichen der Epoche verstanden werden. 4 Sie waren trotz allem mit ihrer Ausweisung und Flucht verbundenen Leids privilegiert, weil sie in der Regel Fürsprecher hatten, die ihnen Unterstützung gewährten, sie gegebenenfalls sogar umwarben und häufig auch Privilegien erteilten. 5 Gerade in der älteren Literatur sind Glaubensflüchtlinge deswegen oftmals entlang wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen behandelt worden, 6 und diese stellen durchaus einen beachtenswerten Aspekt der Thematik dar. 7 Weniger stark betrachtet wurden hingegen die rechtlichen Rahmenbedingungen konfessionell bedingter Migration, die jedoch zur Beurteilung der Lage der Migranten herangezogen werden müssen; dies gilt insbesondere für das Heilige Römische Reich. 8 alters und auch in der Gegenwart ein zentraler Aspekt von Migration ist, darf freilich nicht unberücksichtigt bleiben; vgl. dazu den Sammelband von S USANNE L ACHENICHT (Hg.), Religious Refugees in Europe, Asia and North America (6 th -21 st Century), Hamburg 2007. 4 So hebt es hervor A LEXANDER S CHUNKA , Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit, in: GWU 56 (2005), S. 547-564, hier 547. Vgl. dazu aber auch bereits H EINZ S CHILLING , Confessional Migration as a Distinct Type of Old European Longdistance Migration, in: S IMONETTA C AVACIOCCHI (Hg.), Le migrazioni in Europa secc. XIII-XVIII. Atti della »Venticinquesima Settimana di Studi« 3-8 maggio 1993, [Firence] 1994, S. 175-189; D ERS ., Religion, Politik und Kommerz. Die europäische Konfessionsmigration des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen, in: E DGAR J. H ÜRKEY (Hg.), Kunst, Kommerz, Glaubenskampf. Frankenthal um 1600, Worms 1995, S. 29-36; D ERS ., Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: K LAUS J. B ADE (Hg.), Themenheft »Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter«. Vorträge auf dem Deutschen Historikertag in Halle a. d. Saale, 11. September 2003, Osnabrück 2002, S. 67-89. 5 M. A SCHE , Glaubensflüchtlinge (Anm. 3), S. 95. 6 Überhaupt stellt die neuere Migrationsforschung, soweit sie sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigt, ökonomische Gründe für Migrationsbewegungen in den Mittelpunkt; vgl. etwa K LAUS B ADE , Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, hier S. 17-59; oder H ARALD K LEINSCHMIDT , Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen 2002, hier vor allem S. 89-131. 7 Verwiesen sei exemplarisch auf die jüngere Studie von H EINZ S CHILLING , Christliche und jüdische Minderheitengemeinden im Vergleich. Calvinistische Exulanten und westliche Diaspora der Sephardim im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZHF 36 (2009), S. 407-444. 8 M ATTHIAS A SCHE , Auswanderungsrecht und Migration aus Glaubensgründen - Kenntnisstand und Forschungsperspektiven zur ius emigrandi Regelung des Ausgburger Religionsfriedens, in: H EINZ S CHILLING / H ERIBERT S MOLINSKY (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Münster 2007, S. 75-104. <?page no="106"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 107 1. Rahmenbedingungen für konfessionell bedingte Migration Von der Reformationszeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die konfessionelle Spaltung ein bestimmendes Element europäischer Geschichte mit erheblichem Konfliktpotential, das juristisch, politisch und sozial begrenzt werden musste. Dies gilt für zahlreiche europäische Länder, in denen zumindest phasenweise die Reformation zu konfessioneller Inhomogenität führte und unterschiedliche Praktiken konfessioneller Koexistenz hervorbrachte. 9 Diese oftmals im Sinne moderner Toleranzpolitik 10 unbefriedigenden Situationen brachten konfessionell bedingte Migrationen hervor, die europaweit Beachtung fanden und Reaktionen hervorriefen. Die bedingungslose Vertreibung von Muslimen, Moriskos und Juden von der iberischen Halbinsel verweist dabei noch auf die vorreformatorische Zeit, 11 während die Flucht französischer Priester während der Französischen Revolution auf das Ende der Epoche verweist. 12 Der Exodus von Hugenotten, die trotz des ihnen 1685 im Edikt von Fontainebleau auferlegten Zwangs zum katholischen Bekenntnis zu ihrem reformierten Glauben standen, wurde zu einem europaweiten Politikum, 13 zumal die Protestanten europäische Netzwerke geschaffen hatten, die sich 9 Eine gute Übersicht bietet H ARM K LUETING , Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte, Darmstadt 2007, hier besonders S. 175-347, 354-359. 10 Zur Bedeutung interkonfessioneller Toleranz im frühmodernen Europa vgl. die grundlegenden Überlegungen von C. S COTT D IXON , Introduction: Living with Religious Diversity in Early-Modern Europe, in: D ERS ./ D AGMAR F REIST / M ARK G REENGRASS (Hg.), Living with Religious Diversity in Early-Modern Europe, Farnham (Surrey)-Burlington 2009, S. 1-20. 11 Vgl. hierzu im Sinne der hier behandelten Thematik K LAUS H ERBERS , Reconquista. Spaniens Christen gegen Spaniens Muslime? , in: R AIMUND A LLEBRAND (Hg.), Terror oder Toleranz. Spanien und der Islam, Bad Honnef 2004, S. 39-59; L UDOLF P ELIZAEUS , Angst und Terror seit der Endphase der Reconquista im christlichen und moslemischen Spanien, in: Das Mittelalter 12 (2007), S. 35-47; D ERS ., Al-Andalus. Begegnung von Kulturen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spanien, in: S TEFAN K RIMM / M ARTIN S ACHSE (Hg.), Wenn Kulturen aufeinandertreffen - europäische Begegnungen in Vergangenheit und Gegenwart. Acta Hohenschwangau, München 2008, S. 96-124. 12 Vgl. in Ermangelung einer Überblicksdarstellung und als Auszug zu einer Reihe von regionalen Studien für das Heilige Römische Reich hierzu etwa fränkische Beispiele: I VO F ISCHER , Eine Priesterhilfe in Franken am ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 1 (1933), S. 38-55; M ATTHIAS W INKLER , Die Emigranten der Französischen Revolution in Hochstift und Diözese Bamberg, Bamberg 2010, hier S. 86- 93. Siehe ferner zu dem Thema D OMINIC B ELLENGER , The French Exiled Clergy in the British Isles after 1789, Bath 1986. 13 Aus der Unzahl der einschlägigen Literatur seien folgende, Überblick vermittelnde Studien hervorgehoben: H EINZ D UCHHARDT , Die Konfessionspolitik Ludwigs XIV. und die <?page no="107"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 108 um das Schicksal der Glaubensflüchtlinge kümmerten. 14 Doch nicht nur Zwang führte zu konfessionell bedingter Migration. Die Auswanderung von Angehörigen unterschiedlicher nicht-anglikanischer Gruppen insbesondere in die nordamerikanischen Kolonien geschah gewiss auch ohne konkreten Zwang, wiewohl das Ausleben ihres Bekenntnisses in England einigen Beschränkungen unterworfen war. 15 Sie waren immerhin freier als Katholiken, die überall auf den britischen Inseln zwar existieren durften, aber aufgrund verbreiteter Vorurteile gesellschaftlich marginalisiert und zum Teil wie in Irland juristisch erheblich benachteiligt wurden. 16 Aber auch die sich etwa zu Ausbildungszwecken auf dem europäischen Festland aufhaltenden Katholiken aus England, Irland und Schottland sind Teil des Phänomens konfessionell bedingter Migration. Insbesondere jedoch sah sich das Heilige Römische Reich der Herausforderung gegenüber, unterschiedliche Bekenntnisse in sein sich seit 1495 dynamisch entwickelndes Verfassungssystem zu integrieren, was erstmals wegweisend im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und dann diesen bestätigend und weiterentwickelnd im Westfälischen Frieden von 1648 gelang. 17 Das Reichsrecht stellte quasi einen neutralen Rahmen dar, in dem sich konfesionelle Parität entfalten konnte Aufhebung des Edikts von Nantes, in: D ERS . (Hg.), Der Exodus der Hugenotten. Geschichte, Köln 1985; B ARBARA D ÖLEMEYER , Die Hugenotten, Stuttgart 2006. 14 M ATTHIAS A SCHE , Christliche Caritas, konfessionelles Kalkül und politische Propaganda. Emigrantennetzwerke, Flüchtlingskommissare und ihre Bedeutung für Logistik und Raumordnung in Alteuropa und im Alten Reich des ausgehenden 17. Jahrhunderts - ein Problemaufriß, in: J OACHIM B AHLCKE / R AINER L ENG / P ETER S CHOLZ (Hg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, S. 201-232. 15 Vgl. hierzu in einem knappen Überblick F ELICITY H EAL , Reformation in Britain and Ireland, Oxford u. a. 2005, hier S. 463-475. 16 Vgl. dazu etwa J OHN B OSSY , The English Catholic Community, 1570-1850, New York 1976; oder den Sammelband von B ENJAMIN J. K APLAN u. a. (Hg.), Catholic Communities in Protestant States. Britain and the Netherlands, c. 1570-1720, Manchester 2009. 17 Für die folgenden Überlegungen hier ein genereller Verweis auf einschlägige Studien des Verfassers mit ausführlicher Diskussion der Forschungslage: F RANK K LEINEHAGEN - BROCK , Die Erhaltung des Religionsfriedens. Konfessionelle Konflikte und ihre Beilegung nach 1648, in: HJb 126 (2006), S. 135-156; D ERS ., Ideen von 1648? Reichsverfassungsrecht als Quelle politischer Ideengeschichte, in: H ANS -C HRISTOF K RAUS / T HOMAS N ICKLAS (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 399-419; D ERS ., Die Wahrnehmung und Deutung des Westfälischen Friedens durch die Untertanen der Reichsstände, in: I NKEN S CHMIDT -V OGES u. a. (Hg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 177-193; D ERS ., Möglichkeiten und Grenzen von konfessioneller Toleranz im System der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, in: P ETR H LAVÁ EK u. a. (Hg.), (In)tolerance v evropských d jinách/ (In)tolerance in European History, Praha 2011, S. 196-211. <?page no="108"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 109 und das Nebeneinander der zunächst zwei und dann drei zugelassenen Konfessionen schuf. Katholiken, Lutheraner und Reformierte erfuhren ihre Freiheiten in diesem System durchaus als ›Toleranz‹, freilich in einem voraufgeklärten Sprachgebrauch. Dieses voraufgeklärte Toleranzverständnis war besonders kennzeichnend für die Lutheraner im Heiligen Römischen Reich, ja eigentlich eine wichtige Errungenschaft in ihrer Selbstwahrnehmung. Gemeint ist die Toleranz der »paritätischen Religionsfreiheit« 18 der Reichsverfassung. Diese unterstrich die Unantastbarkeit konfessioneller Besitzstände und der Normaljahrsregel des Westfälischen Friedens. So wurden rechtlich normierte Schutzräume für die Angehörigen der Konfessionen geschaffen, die insbesondere Lutheraner als Konsequenz ihrer Standhaftigkeit im Dreißigjährigen Krieg auffassten. Jegliche Veränderungen am Verhältnis der Konfessionen zueinander wurden als Ausdruck von Intoleranz betrachtet. 19 Dabei ist die Beobachtung, dass die rechtliche Einhegung von konfessionellen Konflikten nicht deren Befriedung bedeutete, von grundlegender Wichtigkeit. Denn trotz dieser im europäischen Vergleich aufgrund der strikten Parität der zugelassenen Konfessionen und der reichsgrundgesetzlichen Sicherung sehr weitreichenden, ja geradezu wegweisenden Regelungen hat es dennoch konfessionell bedingte Migrationen auch im Alten Reich gegeben. Dazu zählen etwa der Exodus von Reformierten aus den Niederlanden in den 1560er Jahren, 20 die Vertreibung protestantischer Eliten aus den Hochstiften der Reichskirche, wie Würzburg unter Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (1572-1617), 21 oder Münster und Paderborn in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges, 22 oder die sogenannte 18 M ARTIN H ECKEL , Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie, in: D ERS ., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, hg. v. K LAUS S CHAICH , Bd. 4, Tübingen 1997, S. 647-859, hier 661. 19 F. K LEINEHAGENBROCK , Ideen von 1648 (Anm. 17), hier bes. S. 417. 20 Vgl. dazu noch immer H EINZ S CHILLING , Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972. 21 Die Gegenreformation im Hochstift Würzburg ist am besten für die Stadt Würzburg selber erforscht, dazu zusammenfassend H ANS -P ETER B AUM , Das konfessionelle Zeitalter (1525-1617), in: U LRICH W AGNER (Hg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. II: Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814, Stuttgart 2004, S. 50- 96, hier 83-96; und eingehender H ANS -C HRISTOPH R UBLACK , Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen, Stuttgart 1978, S. 3-91. 22 Die Vertreibung der Protestanten aus den Städten der Hochstifte Münster und Paderborn ist nicht gut erforscht, wird oft als ein Teilaspekt des Dreißigjährigen Krieges abgehandelt, mitunter auch verharmlosend wie bei A NDREAS H OLZEM , Geschichte des Bistums Münster, Bd. 4: Der Konfessionsstaat (1555-1802), Münster 1998, hier S. 164: »Zahlreiche Bürgerfamilien, in der Regel die wirtschaftlichen und politischen Führungsschichten, wanderten aus [sic! ].« Einen Überblick gibt immerhin (wenn auch angereichert mit konfes- <?page no="109"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 110 Transmigration, die Zwangsumsiedlung von Protestanten aus den habsburgischen Ländern, 23 in denen zum Teil im 17. und 18. Jahrhundert der (Geheim-)Protestantismus verbreitet war, der aufgrund gegenreformatorischer Politik zu Fluchtbewegungen und Umsiedlungen führte. 24 Die einschlägige Handbuchliteratur tendiert hingegen dazu, konfessionelle Konflikte, zu deren Höhepunkten gewiss konfessionell bedingte Migrationsbewegungen zu rechnen sind, mit dem Westfälischen Frieden aus dem Auge zu verlieren. Dies aber ist verzerrend. Denn gerade nach 1648 bewährte sich die Reichsverfassung in besonderer Weise. Einerseits lebten die konfessionellen Spannungen zwischen Katholiken, Lutheranern und Calvinisten fort und entluden sich in zum Teil reichsweit Aufsehen erregenden Auseinandersetzungen. 25 Dazu zählen beispielsweise die konfessionellen Veränderungen und Spannungen in der Kurpfalz in den Jahrzehnten um 1700, 26 konfessionell motivierte Tumulte in Dresden zur sioneller Polemik) F RIEDRICH B RUNE , Der Kampf um eine evangelische Kirche im Münsterland 1520-1802, Witten/ Ruhr 1953, S. 146-155. 23 Vgl. dazu noch immer die ältere Schrift von E RNST N OVOTNY , Die Transmigration ober- und innerösterreichischer Protestanten nach Siebenbürgen im 18. Jahrhundert, Jena 1931; und S TEPHAN S TEINER , Reisen ohne Wiederkehr. Die Deportation von Protestanten aus Kärnten 1734-1736, München 2007. 24 Vgl. dazu im Überblick G USTAV R EINGRABNER , Die Verfolgung der österreichischen Protestanten, in: E RICH Z ÖLLNER (Hg.), Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte, Wien 1986, S. 52-67; sowie A NDREAS H OCHMEIR , Geheimprotestantismus, in: K ARL V OCELKA / R UDOLF L EEB / A NDREA S CHEICHL (Hg.), Renaissance und Reformation. OÖ Landesausstellung 2010, Linz 2010, S. 359-370; ferner erschöpfender die Sammelbände von R UDOLF L EEB / S USANNE C. P ILS / T HOMAS W INKELBAUER (Hg.), Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, Wien-München 2007; sowie R UDOLF L EEB u. a. (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./ 18. Jahrhundert), Wien-München 2009; und H ANS K AWARIK , Exul Austriacus. Konfessionelle Migrationen aus Österreich in der Frühen Neuzeit, Wien-Berlin 2010. 25 Ein feines Gespür dafür hat der Handbuchbeitrag von J OHANNES B URKHARDT , Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 11), 10. Aufl. Stuttgart 2006, ganz explizit etwa S. 326-328 oder 405-410. Vgl. ferner G ERD S CHWERHOFF , Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung, in: U LRICH R OSSEAUX / G ER - HARD P OPPE (Hg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Münster 2012, S. 17-34. - Eine wichtige neuere Spezialstudie dazu: C HRISTOPHE D UHAMMELLE , Une frontière abolie? Le rapprochement des calendriers catholique et protestant du Saint-Empire en 1700, in: B ERTRAND F ORCLAZ (Hg.), L’expérience de la différence religieuse dans l’Europe moderne (XVI e -XVIII e siècles), Neuchâtel 2013, S. 99-114. 26 Eine gute, neueren Fragestellungen zugewandte Studie dazu fehlt leider. Verwiesen sei deswegen auf H ANS VON H YMMEN , Der erste preußische König und die Gegenreformation <?page no="110"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 111 Mitte der 1720er Jahre, 27 der Streit um den Ostertermin in der Grafschaft Hohenlohe Ende der 1740er Jahre 28 oder die reichsweit wahrgenommenen Irritationen und Taktierereien im Umfeld von Fürstenkonversionen. Andererseits wurden im Kern anderer Konfliktfelder bestimmte Kontroversen konfessionalisiert, um sie auf der Ebene der Reichsgrundgesetze vor einer reichsweiten Öffentlichkeit für politische Zwecke und Fragen der Herrschaftsausübung zu instrumentalisieren und austragen zu können. 29 Waren Konfessionsfragen berührt, war es leicht möglich, vor dem Reichshofrat oder dem Reichskammergericht zu prozessieren und die großen Reichsstände zu involvieren. Forum dafür war insbesondere der Reichstag. Protestantische Beschwerdeführer wandten sich vor allem an das Corpus Evangelicorum, das sich ab 1652 zunehmend um die Koordination der Politik protestantischer Reichsstände kümmerte und gemeinsame rechtliche und politische Grundsatzpositionen gegenüber dem Kaiser und den nicht in entsprechender Weise agierenden katholischen Reichsständen vertrat. 30 Zur konfessionellen Aufladung eigneten sich besonders Fragen, die konkurrierende Herrschaftsrechte oder Konflikte zwischen Herrschaften und Untertanen tangierten. Dazu boten sich in der Spätphase des Alten Reiches ab 1650 nicht nur wegen der oftmals kleinräumigen territorialen Vielfalt im Westen und Süden, sondern auch aufgrund von Dynastiewechseln und Konversionen von Reichsständen, denen gegenreformatorische Maßnahmen gegenüber den Untertanen folgten, viele Anlässe. In diesem Umfeld sind konfessionell bedingte Migrationen im Heiligen Römischen Reich zu verorten. Sie stellten Extremsituationen dar, welche auf die Grenzen der Wirksamkeit des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens in der Pfalz, Diss. Phil. Göttingen 1904; und K ARL B ORGMANN , Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/ 20, Berlin 1937. Ferner sind folgende kirchengeschichtliche Arbeiten zu erwähnen: A LBRECHT E RNST , Die reformierte Kirche der Kurpfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1649-1685), Stuttgart 1996; C HRISTOPH F LEGEL , Die lutherische Kirche in der Kurpfalz von 1648 bis 1716, Mainz 1999. 27 Vgl hierzu die wichtige, sehr anschaulich aus dem Archiv erarbeitete Studie von M ATHIS L EIBETSEDER , Die Hostie im Hals. Eine ›schröckliche Bluttat‹ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726, Konstanz 2009. 28 J OCHEN V ÖTSCH , Die Hohenloher Religionsstreitigkeiten in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Württembergisch Franken 77 (1993), S. 361-399. 29 Dies wird besonders deutlich herausgearbeitet bei P ETER B RACHWITZ , Die Autorität des Sichtbaren. Religionsgravamina im Reich des 18. Jahrhunderts, Berlin-New York 2011. 30 Die Geschichte des Corpus Evangelicorum ist nicht hinreichend erforscht. Vgl. vorerst aus jüngerer Forschung G ABRIELE H AUG -M ORITZ , Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: V OLKER P RESS (Hg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 189-207; und A NDREAS K ALIPKE , »Weitläufigkeiten« und »Bedenklichkeiten« - Die Behandlung konfessioneller Konflikte am Corpus Evangelicorum, in: ZHF 35 (2008), S. 405-447. <?page no="111"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 112 verweisen. Einerseits bot das Heilige Römische Reich, wie bereits grob skizziert, einen rechtlichen Rahmen. Hierzu gehörte seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und bestätigt im Westfälischen Frieden von 1648 das ›Ius reformandi‹ der Landesherrn, also deren Recht, im Sinne konfessioneller Homogenität ihrer Untertanen und Einwohner einen Bekenntnisstand vorzugeben. Der Westfälische Friede hatte dieses Recht eigentlich widersprüchlich dazu um die Normaljahrsregel ergänzt, mit der der konfessionelle Besitzstand der zugelassenen Konfessionen überwiegend auf den 1. Januar 1624 festgeschrieben wurde. Zu den Ausnahmen gehörten die Territorien der Habsburger im Alten Reich, in denen es verbreitet Protestanten gab, die mitunter ihr Bekenntnis im Geheimen lebten und immer stärker unter Druck gerieten. Sie stellen, wie angedeutet, eine der Hauptgruppen der Konfessionsmigranten dar. Zudem existierte seit 1555 ein Auswanderungsrecht für Untertanen, die die Konfessionsentscheidung ihres Landesherren nicht mittragen wollten, das zwar 1648 ausgebaut, aber immer wieder missbraucht wurde und zu Ausweisungen führte. 31 Andererseits stellte das Heilige Römische Reich einen Kommunikationsrahmen dar, in dem konfessionell bedingte Migration intensiv öffentlich debattiert wurde, zumal eben die Öffentlichkeit des Alten Reiches seit der Reformationszeit für die Konfessionen betreffende Fragen in hohem Maße sensibilisiert war. Insbesondere der seit 1663 ständig in Regensburg tagende Reichstag, die auf ihm zusammenkommenden Gesandten der Reichsstände und die sie umgebende Infrastruktur ermöglichten Kontakte und Gespräche sowie die Verbreitung kontroverser Druckschriften. 32 Dabei ging es immer um Menschen, die um ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen willen ihre Heimat, ihren Besitz und ihre Existenzgrundlagen verließen, um einer oftmals zunächst ungewissen Zukunft entgegenzugehen. Bei konfessionell bedingter Migration, so wie sie im Folgenden behandelt wird, handelt es sich um solche, die primär durch das Bekenntnis, das nicht praktiziert werden konnte oder durfte, bedingt wurde. Das Argument der Konfession bestimmte dabei das Selbstverständnis der Migranten sowie deren öffentliche Wahrnehmung. Ökonomische Aspekte, die damit verbunden sein konnten, erscheinen dabei zweitrangig und wurden auch von den Zeitgenossen nicht zentral behandelt. Grob summierend lässt sich feststellen, dass es sich ganz überwiegend um konfessionelle Zwangsmigration, weniger um intrinsisch motivierte konfessionell bedingte Auswanderung handelte. 31 Vgl. - mit Bezug auf den Augsburger Religionsfrieden - die Diskussion bei A XEL G OTT - HARD , Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, S. 118-123. 32 Einen Blick hinter die Kulissen dieser Bühne des Alten Reiches gewährt S USANNE F RIEDRICH , Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700 (Colloquia Augustana 23), Berlin 2007. <?page no="112"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 113 Im Folgenden sollen ausgewählte Beispiele konfessionell bedingter Migration näher analysiert werden, wobei weniger der Vorgang der Migration, seine Ursachen und Wirkungen als vielmehr die Kommunikation darüber näher betrachtet werden soll. Der Untersuchungsraum ist dabei der Süden des Alten Reiches, wobei insbesondere der Fränkische, der Schwäbische sowie der Bayerische Reichskreis einbezogen werden. Die beiden zunächst genannten Reichskreise zeichnen sich nicht nur durch ihre territoriale Vielgestaltigkeit aus, sondern stellen auch hinsichtlich der Konfessionsverteilung einen Nukleus des Alten Reiches dar und lassen deswegen aufgrund der aus diesem Raum untersuchten Beispielfälle Ansätze zu einer Verallgemeinerung der Ergebnisse erwarten. 33 Einschränkend muss gesagt werden, dass die Perspektive dabei insofern verengt wird, als nur die Migration von Angehörigen der im Heiligen Römischen Reich zugelassenen Konfessionen untersucht wird, genauer: nur der lutherischen. Denn Flucht und Auswanderung von Katholiken aus konfessionellen Gründen ist - abgesehen von den britischen Inseln - kaum überliefert, insbesondere nicht für das Alte Reich. 34 Ausgeblendet werden für diese Studie also die nicht in das Reichsverfassungssystem integrierten Bekenntnisse wie Täufer, Mennoniten, Unitarier, Jansenisten, Böhmische Brüder, Herrnhuter oder Spiritualisten. Und auch die Ansiedlung von Protestanten aus den habsburgischen Ländern in fränkischen Territorien oder von Reformierten aus der Eidgenossenschaft im Kraichgau im Rahmen von Peuplierungsmaßnahmen nach dem Dreißigjährigen Krieg wird im Sinne der oben vorgenommenen Definition von konfessionsbedingter Migration ausgeblendet. Reformierte kamen in der Regel von außerhalb des Alten Reiches. 2. Lutherische Glaubensflüchtlinge Die Privilegierung von Glaubensflüchtlingen wurde als eines der kennzeichnenden Merkmale der protestantischen Migrantengruppen im Heiligen Römischen Reich bestimmt. Der Mut, zu seinem Bekenntnis zu stehen, möglichen Repressalien standzuhalten und im Zweifelsfall aufzubrechen und andernorts eine neue Existenz aufzubauen, wurde bereits seit dem 16. Jahrhundert anerkannt und gehörte 33 Im Grunde fehlen Studien, die einen Gesamtüberblick vorbereiten. Vgl. dazu etwa die genealogisch motivierte, sehr detailgenaue, geradezu die Möglichkeit zu statitischer Auswertung eröffnende regionale Studie von E BERHARD K RAUSS , Migration im Raum Neumarkt/ Opf. im 17. Jahrhundert, Nürnberg 2009. 34 B ETTINA B RAUN , Katholische Konfessionsmigration im Europa der Frühen Neuzeit - Stand und Perspektiven der Forschung, in: H ENNING P. J ÜRGENS / T HOMAS W ELLER (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010, S. 75-112. <?page no="113"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 114 offenkundig auch zum Selbstverständnis der betroffenen Personengruppen. 35 Davon zeugen zum Beispiel eine Reihe von Bittschriften aus der fränkischen Reichsgrafschaft Wertheim. In den 1590er Jahren bewarb sich etwa der Büttner Niclauß Wucht, Bürger der Stadt Wertheim, um die Stelle des dortigen Kirchners. Ihm ging es darum, mit dem Läuten der Glocken und der Verantwortung für den Betrieb der Kirchturmuhr - so die Beschreibung des Dienstes in der Supplik - zu einer zusätzlichen Einkunftsquelle zu gelangen, weil er in seinem eigentlichen Handwerk in Wertheim nicht mehr recht Fuß fassen konnte. Er benötigt aber größere Geldsummen für seinen in Halle in Sachsen studierenden Sohn, der vor der notwendigen Anschaffung diverser Bücher stand. Wucht empfahl sich in seiner Bewerbung vor allem mit seiner Vergangenheit als Glaubensflüchtling, indem er darauf verwies, welcher massen [er] mit weib und Kindern […] anno 86 p. Neben andern Bürgern und Christen, deren Bey 150 zu Carlstadt wegen Bekennung und anhangung Augspurgischer Confession von dem Bischoffen zu Würzburg vertrieben worden. 36 Das gegenreformatorische Vorgehen des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn war den Wertheimer Lutheranern nicht allein wegen der räumlichen Nähe präsent, sondern wurde zudem als konkrete Bedrohung des eigenen konfessionellen Standpunkts empfunden. 37 Indem Wucht sich darauf bezog und sich trotz seiner Aufnahme als Untertan in Wertheim auf die Zugehörigkeit zur eigentlich recht großen Gruppe der aus Karlstadt vertriebenen Lutheraner berief, machte er seinen Anspruch auf eine besondere Stellung deutlich. Dies ist kein Einzelfall. Ein anderer Wertheimer Untertan, der von Fürstbischof Julius Echter aus Lohr vertriebene Schiffbauer Michel Schupp, verwies 1608 in einer Supplik ebenfalls auf den Umstand seiner Vertreibung und das ihm bei Aufnahme als Wertheimer Untertan eingeräumte Privileg einer sechsjährigen Befreiung von Bet und Schatzung, an den Landesherrn abzugebende Steuern. Diese habe der Stadtrat nun nach Jahren jedoch in voller Höhe von ihm eingefordert und seine darauf vorgetragene Bitte um Minderung des Betrages abgelehnt. In seiner Supplik bat er um gräflichen Beistand für eine Reduktion der Zahlung, wobei er eigens betonte, er wolle nicht die volle Summe erlassen bekommen. Seine Situation sei deswegen in besonderer Weise zu berücksichtigen, weil er als der Erst von Lohr hirunter gezochen. 38 Schupp betonte - trotz eines eher dezenten Umgangs mit diesem Thema 35 Vgl. dazu auch die exemplarische Studie von I RENE D INGEL , Die Kultivierung des Exulantentums im Luthertum am Beispiel des Nikolaus von Amstorf, in: D IES . (Hg.), Nicolaus von Amstorf (1483-1565) zwischen Reformation und Politik, Leipzig 2008, S. 153-175. 36 StaatsA Wertheim, G Rep. 102 Nr. 3754: undatierte Supplik des Niclauß Wucht. 37 F RANK K LEINEHAGENBROCK , Würzburg als gegenreformatorisches Zentrum, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 67 (2005), S. 63-77. 38 StaatsA Wertheim, G Rep. 102 Nr. 3397: undatierte Suppik des Michel Schupp. <?page no="114"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 115 - seine Vorreiterrolle, als erster der Standhaften und Vertriebenen von Lohr nach Wertheim gekommen zu sein. Weil er aufgrund dieser Vorgeschichte in Wertheim für [s]ich nichts Eigenes […] habe, Ohn [s]ein hartt und schwer handwerck, könne er die von ihm geforderte Summe nur schwer aufbringen. Viel wichtiger noch ist, dass genau diese Argumentation verfing, weil sie offenkundig unter Zeitgenossen verbreitete Anschauungen aufgriff - zumal die öffentliche Meinung sich im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges und während der Kriegsjahre im protestantischen Deutschland entsprechend radikalisierte. 39 So wurde in dem auf der Supplik Schupps angebrachten Kanzleivermerk seiner Bitte auf Achtung der ihm einmal zugestandenen Schatzungsfreiheit stattgegeben, und dabei nachhaltig auf seine Flucht aus Lohr eingegegangen und diese als entscheidungsbestimmendes Merkmal hervorgehoben. In der Grafschaft Wertheim verschärfte sich die Situation noch aufgrund eines Lehensheimfalls. Dieser war in der Zeit des dynastischen Übergangs nach dem 1556 erfolgten Aussterben der Grafen von Wertheim vertraglich vereinbart worden. Bei tatsächlichem Eintritt der zunächst als unwahrscheinlich geltenden Übernahme des Wertheimer Erbes durch die Dynastie Löwenstein(-Wertheim) gelangten zu Beginn des 17. Jahrhunderts Untertanen und Einwohner zahlreicher Orte unter die Herrschaft des Würzburger Fürstbischofs, der zum einen seine vertraglich zugestandenen Rechte militärisch durchsetzte und zum anderen seine Herrschaftsübernahme mit massiven gegenreformatorischen Maßnahmen begleitete. 40 In der Konsequenz der sogenannten Würzburger Fehde suchten viele ehemals wertheimische Untertanen in den verbliebenen Wertheimer Orten Aufnahme. Ihre Anliegen wurden dort natürlich besonders berücksichtigt. Die Versprachlichung ihres Schicksals verweist noch deutlicher auf die Verfolgungssituation und ihren Bekennermut. So bat etwa der Schuster Endreß Kauttenwein, pürtig zu Lengfurth, um Aufnahme als Untertan zu Wertheim. 41 Er sei wol vor 11 Jahr bey der Julianischen Würzburg[ischen] und Crichingischen 42 verfolgung (da unnser viel ein Zeitlang als gehorsame verpflichte underthanen von Hauß und güeter gewichen und unnserm rechten Erb- und Schutzherren als Löwenstein p. nachgesetzt) viel einbüessen und schaden erdulden müessen […]. Erst vor 15 Jahren habe er sich in Lengfurth heußlich nidergethan und dort mit weib und kindt 39 Hier sei allein auf die konzise Studie verwiesen von T HOMAS K AUFMANN , Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998. 40 H EINRICH N EU , Die Fehde des Würzburger Fürstbischofs Julius gegen die Grafen von Löwenstein-Wertheim in den Jahren 1598 bis 1617, in: Deutsch-Evangelische Blätter 28 (1903), S. 471-489; H ERMANN E HMER , Geschichte der Grafschaft Wertheim, Wertheim 1989, hier S. 139-146. 41 StaatsA Wertheim, G Rep. 102 Nr. 2568: undatierte Supplik des Endreß Kautenwein. 42 Lengfurth war ein Dorf, in dem auch die Grafen von Krichingen Herrschaft über Untertanen ausübten. <?page no="115"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 116 unterhalten können. In dieser Supplik wird das Würzburger Vorgehen eindeutig als Verfolgung aus konfessionellen Gründen bezeichnet und zudem grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der Herrschaft des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter angezweifelt, womit Kauttenwein tatsächlich juristischen Argumentationen seitens der Löwenstein-Wertheim folgte. Jedenfalls wurde so eine Identifikation mit den Löwensteinern und dem lutherischen Bekenntnis zum Ausdruck gebracht. Dabei ist bemerkenswert, dass die Art der Verfolgung nicht explizit angesprochen wurde, entweder weil sie als bekannt vorausgesetzt wurde oder keiner näheren Schilderung bedurfte, weil allein der Umstand als solcher argumentativ genügte. Jedenfalls war die Verfolgung zunächst noch nicht von einem solchen Ausmaß, dass dem Supplikanten ein Ortswechel angebracht schien. Doch das hatte sich nun offenbar verändert. Der Schuster hegte bei Verfassung der Supplik, elf Jahre nach dem Herrschaftswechsel, ganz den Wunsch, sich wieder in der Herrschaft Wertheim niederzulassen, weil [er] aber anietzo leider die Vorsorg, es möchte Würtzburg inskünftig der ort ferner eingriff[e] und ungebüerliche mittel mit unß arme an die handt nemen. So hatte er bereits bei Schultheiß und Gericht des nahe Lengfurth gelegenen Dorfes Urphar (Urfahr) um auff[-] und annemung gebeten. Die notwendigen Gebühren wolle er entrichten und sich hernach ordentlich verhalten. Eine Entscheidung wurde jedoch von einer entsprechenden gräflichen Resolution abhängig gemacht, die mit Verweis auf die erste Annahme als Untertan 15 Jahre zuvor untermauert wurde. Entscheidend war aber der Verweis auf erlittenes und die Furcht vor möglicherweise noch bevorstehendem Unrecht durch die neue Herrschaft. Dabei ist auffallend, dass die Sorge vor weiteren Repressalien nicht näher plausibilisiert werden musste. Andere Supplikanten wurden diesbezüglich genauer und verdeutlichten so die Notlage, in der sie sich befanden. Die noch ledigen Geschwister Paulus und Katharina Leutwein waren in ebensolcher Weise wie Endreß Kauttenwein von den Folgen des Herrschaftsübergangs an Würzburg betroffen. 43 Sie schrieben, dass sie beide bey Unns zu Freudenberg Thätlicher weis eingeschobenen papistischen grewels und Irthumbs noch [sic! ] enthalten und wieder aller Unser Nachtbarn willen Unnd Verhoffen bey der einmahl erkanten waren christlichen Religion beständiglich beharrt hätten. So machten die beiden Bittsteller deutlich, dass ihr Verhalten und ihr Bekennermut in der ihnen angestammten Umgebung nicht selbstverständlich war, ihnen sogar von vielen ihrer Nachbarn der Ratschlag erteilt worden sein musste, sich in die Verhältnisse zu fügen und einen Konfessionswechsel nach den Vorstellungen der neuen Herrschaft zu vollziehen. Und das sogar mehr als deutlich: dahero wir von ihnen noch mehr angefeind, Und verhast werden. 43 StaatsA Wertheim, G Rep. 102 Nr. 2568: undatierte Supplik der Geschwister Paulus und Katharina Leutwein. <?page no="116"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 117 Jedoch zeigten die Leutweins in ihrer Argumentation genau auf, wie bewusst sie den ihnen auferlegten Verkauf ihres Besitzes und ihre erzwungene Abwanderung in Kauf genommen haben: [W]elches dan wir viel lieber zuethun durch Götliche Verleihung gemeint Unnd entschlosssen seind, dan durch den schändlich Abfall Unsern Seelen Heil Unnd Seeligkeit in Stich zu setzen, der tröstlichen Hoffnung Und zuversicht, ob wir gleich wegen solchen Unser bestendigkeit in Abgang der zeitlichen nahrung etwas geraten müssen. Sie vertrauten auf Gottes Hilfe, so wir ain gueten gewissen darvon bringen. Dass ihnen ihr Seelenheil lieber war als irdischer Besitz und die daraus erwachsenden Annehmlichkeiten, verdeutlicht einmal mehr das Selbstverständnis der aufgrund konfessionellen Zwangs Migrierten. Sie verließen sich zugleich in ihrer Bittschrift auf das Entgegenkommen der Grafen von Wertheim, wie es zuvor vielen anderen in ähnlicher Situation zuteil geworden war - aus christlichem eiffer zue wahren seligmachenden Religion, dan auch hertzlichem betrawern und mitleiden. Das konfessionelle Motiv steht eindeutig vor dem karitativen. Deswegen bitten die Geschwister um das Recht eines zeitweiligen Aufenthaltes bei einem Bekannten in Haßloch, um einen Standort zu haben, von dem aus sie ihre Heirat und die Gründung bestendiger Hauswesen angehen könnten. Die Supplik des Büdners Johan Feier aus Laudenbach lässt ansatzweise sogar erkennen, wie emotional die Betroffenen auf den erzwungenen Konfessionswechsel reagierten - und das ohne auf Details einzugehen. 44 Es sei den Räten zu Wertheim ja bekannt, welcher massen es mit der Religionß Verenderung zu Lauttenbach zu gehe. Viele der Wertheimischen gewesenen Underthanen seien bekümmert. In Klammern wird diesem lapidaren Hinweis die Klage beigefügt: dem allmechtige Gott seie es mit Jemmerlichen seuffzen geklaget und der Göttlichen Rach bevohlen. Die große Verbitterung des Bittstellers ist durchaus verständlich. Ihm und den Seinen wurde eine Frist zur Räumung des Dorfes gesetzt. Dies bedeutete bereits die zweite Flucht, denn zuvor war er schon - ebenfalls von Fürstbischof Julius Echter - aus Karlstadt der Religion halben vertrieben worden. Nun hoffte er auf eine erneute Annahme als undersasse in der Grafschaft Wertheim, weil die Grafen Liebhaber und Fortpflanzer Götlichs worts seien. Entsprechend wurde das Motiv der Standhaftigkeit im Glauben nachdrücklich betont: Feier und die Seinen suchen gleichsam den Schutz der Göttlichen Schrift wolgegründen wahreen Augspurgischen confession und den weltlichen der Grafen. Es wird deutlich, dass spätestens um 1600 das Motiv der konfessionell bedingten Migration fast stereotyp anzutreffen ist. Dies galt für die an einer besonders heftig umkämpften konfessionellen Grenze exponierte Grafschaft Wertheim offenbar in besonderem Maße, 45 weil hier konfessionelle Flüchtlinge aus dem 44 StaatsA Wertheim, G Rep 102 Nr. 2568: undatierte Supplik des Johan Feier. 45 F RANK K LEINEHAGENBROCK , »Ansehnliche« und »geübte« Personen für die Seelsorge an der Grenze zum Papsttum. Pfarrer in fränkischen Reichsgrafschaften um 1600, in: H ER - MAN J. S ELDERHUIS / M ARKUS W RIEDT (Hg.), Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung, Tübingen 2006, S. 131-157. <?page no="117"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 118 nahen Territorium des Fürstbischofs von Würzburg ebenso Aufnahme fanden, wie ehemalige Untertanen aus dem an diesen verlorenen Wertheimer Herrschaftsgebiet. Dabei war das Motiv der konfessionell bedingten Migration ein entscheidender Faktor des Selbstverständnisses der Betroffenen wie ihrer durchaus positiven Wahrnehmung in der (lutherischen) Außenwelt. Beständigkeit im Glauben war also ein Wesensmerkmal der Glaubensflüchtlinge, sie war Teil ihres Selbstverständnisses und konnte folglich als Argument in Bittschriften dienen. Aus den Suppliken geht aber auch ihre zumindest zeitweise Privilegierung hervor, wie sie etwa durch Abgabenbefreiungen und -kürzungen deutlich wurde. Allerdings schied dieses Selbstverständnis der Exulanten sie auch von der Bevölkerung des aufnehmenden Landes und ließ sie nachhaltig zu einer spezifischen Gruppe werden, wie es Beispiele aus anderen Regionen des Heiligen Römischen Reiches nahelegen. 46 Eine besonders exponierte Gruppe konfessioneller Migranten stellten exulierte Pfarrer dar, die oftmals lange ohne Dienstverhältnis auf Wanderschaft waren und, ohne Pfarrstellen auszuüben, mancherorts versorgt wurden, so auch in der Grafschaft Wertheim. In den Rechnungen des Wertheimer Chorherrenstifts finden sich mehrere Hinweise auf entsprechende Unterstützungen (›Verehrungen‹). In einem Fall war eine Anstellung als Pfarrer in der Grafschaft Wertheim möglich. Sebastian Weidling aus Villach wurde immerhin kurzzeitig Pfarrer von Lengfurth, bis er 1602 nach militärischen Übergriffen Würzburgs auch von dort unter Todesandrohung und Zurücklassung seiner meisten Habe über Nacht vertrieben wurde. 47 Gerade Pfarrer hatten in ihrer Standhaftigkeit im Glauben eine Vorbildfunktion zu erfüllen und konnten darauf verweisen, wenn sie vertrieben wurden. 48 Der Pfarrer Johann Neunhöfer mag hier als Beispiel angeführt werden, welcher bis 1623 in Gerbrunn in der Grafschaft Castell amtierte. 49 Er musste seinen 46 Vgl. hierzu am Beispiel böhmischer Exulanten A LEXANDER S CHUNKA , Zuwanderer im Kursachsen des 17. Jahrhunderts im Spiegel des Supplikenwesens, in: J OACHIM B AHLCKE (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Berlin 2008, S. 235-256, hier vor allem 244-246. 47 Vgl. dazu E RICH L ANGGUTH , Lutherische Prediger und Pfarrer in Lengfurth zwischen 1534 und 1634, in: E DITH M ÜLLER (Hg.), Lengfurth. Ein Schiffer- und Winzerdorf im Wandel der Jahrhunderte, Triefenstein 2008, S. 264-287, hier 278-280. 48 Diese Einschätzung unterstreicht auch A LEXANDER S CHUNKA , Migrationen evangelischer Geistlicher als Motor frühneuzeitlicher Wanderungsbewegungen, in: H ERMAN J. S EL - DERHUIS u. a. (Hg.), Konfession, Migration und Elitebildung. Studien zur Theologenausbildung im 16. Jahrhundert, Leiden u. a. 2007, S. 1-26. 49 Vgl. dazu ausführlicher F RANK K LEINEHAGENBROCK , Die Grafschaft Hohenlohe im Dreißigjährigen Krieg. Eine erfahrungsgeschichtliche Untersuchung zu Herrschaft und Untertanen, Stuttgart 2003, S. 214f. bzw. 292 (u. a. mit Verweis auf Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, We 25, 47/ 25: Supplik des Johann Neunhöfer, Dörrenzimmern, 8.4.1627). <?page no="118"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 119 Dienstort verlassen, als der vor den Toren Würzburgs gelegene Ort an den dortigen Fürstbischof verkauft wurde, dieser wieder ungehemmt über sein Patronatsrecht verfügen konnte und eine Gegenreformation einleitete. Neunhöfer hielt sich zwischenzeitlich in seinem castellschen Wohnort Rüdenhausen auf und erhielt dann in Dörrenzimmern in der Grafschaft Hohenlohe eine neue Pfarrstelle. Wegen der hohen Kosten seines Aufzuges gab es Streit mit seinen neuen Pfarrkindern. Diese hatten den in ihren Augen zu umfänglichen mobilen Besiz des Pfarrers auf eigene Kosten zu seinem neuen Pfarrhaus zu transportieren. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen pochte Neunhöfer mehrfach auf seine Vertreibung und den materiellen Schaden, den er durch die Verfolgung durch die Papisten erlitten habe. Diese biographische Besonderheit fand sogar nach seinem Tod 1654 auf seinem Epitaph Erwähnung. Die Umstände dieser Vertreibung, die durchaus gewaltsam verlief, sind aus dem im Zusammenhang damit stehenden Reichskammergerichtsverfahren bekannt. 50 An Sonn- und Feiertagen seien capitlische dienere […] mit gewehrter Hand, bis zu 70 Mann, in das Dorf eingefallen, hätten sich gewaltsam Zutritt zur Kirche verschafft und ihr exercitium durchgesetzt. Mit Edikten seien die Untertanen zum Glaubensabfall genötigt worden. Bei diesen Aktionen wurde in die Häuser geschossen und Fenster wurden eingeschlagen, selbst der Tod eines sechswöchigen Kindes - infolge zu großen Erschreckens - wurde den Würzburgern angelastet. Unter diesen Umständen wurde Neunhöfer zunächst vom Pfarrhof vertrieben, blieb jedoch auf eigene Kosten vor Ort, bis er schließlich das Dorf verlassen musste. Das Beispiel des Pfarrers Neunhöfer macht deutlich, dass hinter der Argumentation der Vertriebenen durchaus Gewalterfahrungen stehen konnten und also der Vertreibung besondere Glaubensüberzeugungen und anerkennenswerte Verhaltensweisen zugrunde lagen. Dieses Motiv der Standhaftigkeit auch unter erschwerten Bedingungen stellt ein Kontinuum in der Kommunikation über konfessionell bedingte Migration im Alten Reich dar, auch über das Jahr 1648 hinaus, in dem rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen wurden, die konfessionelle Migration eigentlich verhindern sollten. Dies sei an einem der bekanntesten Fälle konfessionell bedingter Migration aus dem 18. Jahrhundert demonstriert, der Vertreibung der Salzburger Protestanten zu Beginn der 1730er Jahre. 51 Dieses Beispiel ergänzt die Analyse konfessionell 50 BayHStA München, RKG 15392: Supplik supra constitutione de pace Religionis, annexa petitione pro maturando Decreto, ex causis insertis des Anwalts des Grafen Gottfried von Castell gegen Philipp Adolph, Fürstbischof von Würzburg und das Domkapitel Gerbrunn betr, Lt. Seigerwald, exhib. 16.2.1624 (daraus die Zitate). 51 Umfänglichere neuere Studien zu diesem Thema haben G ERHARD F LOREY , Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1731/ 32, Wien u. a. 1977, und M ACK W ALKER , The Salzburg Transaction. Expulsion and Redemption in Eighteenth-Century <?page no="119"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 120 bedingter Migration aus dem Hochstift Würzburg, in dem die Gegenreformation früh eingesetzt und noch vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges einen konfessionell recht einheitlich geprägten Untertanen- und Einwohnerverband geschaffen hatte. Dies war anders im Erzstift Salzburg, das durch eine sehr spät einsetzende Konfessionalisierung geprägt wurde. 52 Dort konnten sich stabile protestantische Gemeinden entwickeln, die in der Phase der Gegenreformation zumal in einigen Alpentälern nicht mehr vollständig aufzulösen waren, sondern - ähnlich wie in vielen Gebieten der Habsburger - in geheime Existenzen gedrängt wurden. Als auf jesuitischen Druck hin ab 1729 Loyalitätsbeweise zur katholischen Kirche eingefordert wurden, bekannten sich viele Protestanten wieder offen und suchten wie bereits zuvor Unterstützung beim Corpus Evangelicorum am Regensburger Reichstag. 53 Reichsrechtlich sind im Hintergrund Fragen der Auslegung des Westfälischen Friedens zu erkennen. Hier standen die Normaljahrsregel und die im ›Instrumentum Pacis Osnabrugense‹ genau festgelegten Minderheitenrechte gegen das Konfessionsrecht des Landesherrn, in diesem Fall Fürstbischof Leopold Anton Eleutherius Graf von Firmian (1679-1744). Mit Unterstützung des Kaisers betrieb er die Ausweisung der Protestanten. Das am 31. Oktober 1731 veröffentlichte Emigrationspatent stellte ein reichsweites Politikum dar. Das unterscheidet die Situation der Salzburger Emigranten von jener der Würzburger um 1600. In gewisser Weise war das protestantische Deutschland auf diese Situation vorbereitet, leitete das genannte Emigrationspatent doch nicht die erste Ausweisung von Protestanten aus dem Erzstift ein. 54 Die Vertreibung von rund 800 Lutheranern aus dem äußeren Defereggental in den Osttiroler Alpen sowie rund 100 weiteren Lutheranern aus Dürrnberg und Umgebung durch den damaligen Salzburger Fürstbischof Max Gangolf von Kuenburg (1622-1687) riefen bereits in den 1680er Germany, Ithaca-London 1992, vorgelegt. Hierauf beziehen sich die folgenden Ausführungen ganz wesentlich. 52 Zur Konfessionalisierung des Erzstifts Salzburg vgl. F RANZ O RTNER , Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation im Erzstift Salzburg, Salzburg 1981; und knapper E RNST W. Z EEDEN , Salzburg, in: A NTON S CHINDLING / W ALTER Z IEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 1: Der Südosten, 2. Aufl. Münster 1989, S. 72-85. 53 Der einschlägigen Conclusa sowie die Schreiben an den Kaiser und den Erzischof von Salzburg des Corpus Evangelicorum sind abgedruckt bei E BERHARD C HR . W. VON S CHAU - ROTH (Hg.), Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des Hochpreislichen Corporis Evangelicorum. Vom Jahr 1663 bis 1752 […], Teil 3, Regensburg 1752, S. 414-529; darin der Text des Emigrationspatentes des Erzbischofs, S. 441-448. 54 A LOIS D ISSERTORI , Die Auswanderung der Defregger Protestanten 1666-1725, 2. Aufl. Innsbruck 2001 (zuerst 1964). - Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Link in diesem Band. <?page no="120"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 121 Jahren reichsweit heftige Debatten hervor. Protest erregten insbesondere die Modalitäten der erzwungenen Migration, vor allem die kurze Frist sowie die Auflage, Kinder zurückzulassen und katholischer Erziehung zu überlassen. Dieser Protest wurde vom Corpus Evangelicorum des Reichstages getragen. Die Exulanten dieser ersten größeren Vetreibung von Lutheranern aus dem Erzstift Salzburg fanden Aufnahme bei Reichsständen des Fränkischen und Schwäbischen Reichskreises, besonders im Herzogtum Württemberg. 55 Insofern waren der Erzbischof, aber auch der ihn unterstützende Kaiser fast fünfzig Jahre später durchaus gewarnt, welche Konsequenzen die Ausweisung von Lutheranern haben könnte. Entsprechend heftig fielen die reichsöffentlichen Debatten im Umfeld der Publikation des Emigrationspatents von 1731 aus, die zunächst bewirkten, dass der Salzburger Fürsterzbischof unter erheblichen Druck geriet und in Verhandlungen Erleichterungen für die betroffenen Lutheraner zugestehen musste. Schon im Sommer des Jahres 1731 hatten sich zahlreiche Salzburger Protestanten supplizerend an das Corpus Evangelicorum gewandt. Zudem kam es im Erzstift unter den Protestanten zu Tumulten, denen mit dem Einsatz von Soldaten, die der Kaiser und der Bayerische Reichskreis stellten, begegnet wurde. Dies war indes für den Kaiser kein guter Zeitpunkt, die evangelischen Reichsstände gegen sich aufzubringen, bemühte er sich doch seit dem Frühjahr 1731 intensiv um die Zustimmung des Reichstages zur Pragmatischen Sanktion, der reichsweiten Anerkennung der weiblichen Erbfolge im Hause Habsburg. 56 Insofern verursachte die Vertreibung der Salzburger Lutheraner in der Tat eine ernste politische Krise im Heiligen Römischen Reich, wobei das Krisenmanagement durch den brandenburgisch-preußischen Kurfürsten sowie den Kurfürst von Hannover, in Personalunion König von Großbritannien, wegweisend war und sowohl zur allgemeinen Zustimmung zur Pragmatischen Sanktion als auch zur Aufnahme der meisten Salzburger Protestanten im Königreich Preußen führte. 57 55 E BERHARD F RITZ , Christliche Nächstenliebe oder ökonomisches Kalkül? Probleme der Aufnahme von Salzburger Exulanten im Herzogtum Württemberg, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 110 (2010), S. 241-263. 56 Vgl. dazu aus neuerer Perspektive K ARL O. VON A RETIN , Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684-1745), Stuttgart 1997, hier besonders S. 328-332; ausführlicher die ältere, sehr detailreiche Studie von J OSEF K. M AYR , Die Emigration der Salzburger Protestanten von 1731/ 1732. Das Spiel der politischen Kräfte, Salzburg 1931. 57 Dies betont J OACHIM W HALEY , Germany and the Holy Roman Empire, Bd. 2: From the Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648-1806, Oxford u. a. 2012, S. 162. - Zur hier nur randständig behandelten Aufnahme der Salzburger Protestanten in Ostpreußen vgl. R AINER W ALZ , Die Ansiedlung der Salzburger Emigranten in Ostpreußen, in: K LAUS M ILITZER (Hg.), Probleme der Migration und Integration im Preußenland vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, Marburg 2005, S. 105-140. <?page no="121"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 122 Angesichts der verzwickten Rechtslage bedurfte es einer sehr komplizierten Kompromissfindung, zumal das Corpus Evangelicorum die Geschlossenheit der protestantischen Reichsstände sicherte. So heißt es im Conclusum vom 15. März 1732, dass dann auch in Corpore Evangel. Über obiges alles gebührend deliberiret, und nach reiffer Erwegung anheute geschlossen worden, zu Rettung vieler Nothleydenden und undschuldigverfolgten Glaubens-Genossen und Aufrechterhaltung des Westphälischen Friedens theuresten Reichs-Grund-Gesetzes, denen hochfürstl. Saltzburgischen widerrechtlichen Principiis und Anmassungen nichts einzuräumen, noch ihnen irgend zu weichen oder dabei zu acquieseiren […]. Die Ausweisung der Salzburger Protestanten widersprach aber nicht vollkommen dem Westfälischen Frieden, der mit der Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens das Ius reformandi der Landesherren bekräftigte und im Falle konfessionell bedingter Migration Vermögensschutz gewährte, gleichgültig, ob der betroffene Untertan freiwillig auswanderte oder dazu gezwungen wurde (IPO Art. V § 36). 58 Das widersprach einerseits der Normaljahrsregel (IPO Art. V § 2) und andererseits der Möglichkeit der Duldung einer anderen zugelassenen Konfession mit Möglichkeit zum Hausgottesdienst (IPO Art. V § 34). Doch hatten beide Seiten Fehler gemacht. Der ausweisende Erzbischof beging einen unstrittigen Bruch des Westfälischen Friedens, indem er den Protestanten im Emigrationspatent nur eine Frist von acht Tagen im Falle von Besitzlosigkeit bzw. von maximal drei Monaten im Falle von Begüterung einräumte, während der Westfälische Friede mindestens eine Dreijahresfrist vorsah (IPO Art. V § 37). Die gegen die bevorstehende Ausweisung protestierenden Salzburger, die insbesondere im Pongau Tumulte anzettelten, lieferten dem Landesherrn jedoch ein Argument für die Ausweisung. 59 Der erwähnte Duldungsparagraph des Westfälischen Friedens betonte nämlich: doch sollen Landsassen, Vasallen und Untertanen im übrigen ihre Pflicht in schuldigemn Gehorsam und Unterordnung erfüllen und zu keinerlei Unruhen Anlaß geben (IPO Art V § 34). Das Corpus Evangelicorum wollte indes nach dem Wortlaut des Westfälischen Friedens Zeit für die Salzburger Protestanten gewinnen. 60 58 Die Angaben zum Instrumentum Pacis Osnabrugense (IPO) des Westfälischen Friedens sowie das nachfolgende Zitat beziehen sich auf die Studienausgabe von A RNO B USCH - MANN (Hg.), Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, Teil 2: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806, 2. Aufl. Baden-Baden 1994, S. 11-106, hier 35, 50-52. 59 Vgl. dazu F. O RTNER , Reformation, Katholische Reform (Anm. 52), S. 223-239. 60 Diese Debatte bestimmt etwa auch noch das aus konfessioneller Perspektive verfasste Werk von C[ ARL ] F R [ ANKLIN ] A RNOLD , Die Vertreibung der Salzburger Protestanten und ihre Aufnahme bei den Glaubensgenossen. Ein kulturgeschichtliches Zeitbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, Leipzig 1900, etwa S. 111. <?page no="122"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 123 Dennoch begannen die Deportationen von schließlich über 19.000 Menschen recht zeitnah zur Publikation des Patentes im Winter 1731/ 32 sowie im Frühjahr 1732 mit zwei Auswanderungsschüben der sozial Benachteiligten. 61 Zunächst waren 4.000 bis 5.000 Personen, vor allem besitzlose Knechte und Mägde, von der Zwangsmigration betroffen. Reichsweit wahrgenommen wanderten sie durch Süddeutschland und hofften auf Aufnahme in protestantischen Territorien. Ihr Zug wurde auch bildlich dargestellt als schier endlose, bis zum Horizont reichende Kette von Exulanten. Diese ungesessenen Personen mussten trotz der Verhandlungen des Corpus Evangelicorum ihre Heimat sehr überstürzt und ungeordnet verlassen, was ihre Situation verschlimmerte. 62 Spätere Exulantenwellen, zu denen vor allem die besitzenden Untertanen und ihre Angehörigen gehörten, verliefen wesentlich geordneter. Die Ungesessenen ließen sich zum einen leichter rasch ausweisen und eigneten sich aufgrund ihres Mitleid erregenden Auszugs zugleich gut für eine entsprechende Propaganda schließlich wurde ihr Schicksal im protestantischen Europa als besonders ungerecht empfunden und ihr Zug entsprechend publizistisch begleitet. Denn für die Protestanten im Heiligen Römischen Reich ergab sich aus der Ausweisung ihrer Salzburger Glaubensgenossen eine allgemeine Bedrohungslage. Der Bestand ihrer Konfession war zwar im Dreißigjährigen Krieg bewahrt worden, aber endgültig gesichert empfanden sie sich auch angesichts immer wieder vorgenommener Gegenreformationen nicht. Entsprechend heftig arbeitete ihre Propaganda, immer wieder die Verletzung des Reichsrechts anprangernd. Die Emigranten der ersten Verfolgungswelle liefen verschiedene Orte in Süddeutschland an und hofften überall auf Aufnahme, wobei ein solcher Schritt dort durchaus Tradition besaß. 63 An Memmingen zogen von Januar bis Juli 1732 insgesamt acht Züge vorbei. 64 Das Corpus Evangelicorum klagte bereits am 12. Februar 1732 beim Kaiser, dass inzwischen von Kauffbeuren, Augsburg, Memmingen, Kempten und Ulm die zuverläßlichen Nachrichten eingelauffen, was massen daselbst bereits bey 61 Dazu liegt eine sehr ausführliche ältere Studie vor: L UDWIG C LARUS , Die Auswanderung der protestantisch gesinnten Salzburger in den Jahren 1731 und 1732, Innsbruck 1864. Die Pespektive dieser eigentlich gründlichen Schrift ist eindeutig vom orthodox-lutherischen, antiborussischen Standpunkt des Verfassers bestimmt und kann deswegen durchaus Kontrapunkte zur zeitgenössischen Propaganda setzen, rückt aber die Vertriebenen zu einseitig in die Ecke von Aufrührern. 62 Vgl. hierzu und zum Folgenden G. F LOREY , Salzburger Protestanten (Anm. 51), S. 142. 63 W ERNER W. S CHNABEL , Österreichische Exulanten in oberdeutschen Reichsstädten. Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert, München 1992. 64 Vgl. zu den Vorgängen in Memmingen R ITA H UBER -S PERL , Reichsstädtisches Wirtschaftsleben zwischen Tradition und Wandel, in: J OACHIM J AHN / W OLFGANG B AYER / U LI B RAUN (Hg.), Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 679-782, hier 686. <?page no="123"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 124 die 1000. Emigranten angelanget, so man jedoch keineswegs emigrieren lassen, sondern noch zur Zeit ohne allen Fug, Macht und Recht darzu, auch mit mancherley ihren übrigen Umständen, zumahl bey jetziger so rauher Winters-Zeit erstaunens- und erbarmungswürdiger Schärfe, re vera aus dem Lande gejagt und vertrieben […]. 65 Ohne Zweifel stellten diese deutlich wahrnehmbaren Züge der armen, von der Vertreibung hart getroffenen Lutheraner aus dem Erzstift Salzburg eine große Herausforderung dar. Die Menschen lagerten teils vor den Toren der Städte und mussten versorgt werden. Kleinere Gruppen, nach Herkunftsorten geordnet, erhielten dauerhafte Aufnahme in jeweils einer der Städte. Zudem wurden gemeinsame Gottesdienste gefeiert. Über die Ankunft vor Memmingen, wo 250 bis 300 von ihnen schließlich bleiben konnten, ist ein Augenzeugenbericht überliefert, der den Exulantenzug durch einen Hinweis auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten heilsgeschichtlich einordnet. Wiewohl die Salzburger die Umstehenden zu Tränen rührten, weinten sie selber jedoch nicht: Sie selbst aber glichen Triumphierenden und waren den altchristlichen Märtyrern ähnlich, von denen erzählt wird, daß sie unter Hymnengesang ihrem Schicksal entgegengingen. So zogen diese unsere Bekenner singend zu uns heran […]. 66 Das seit dem 16. Jahrhundert verwendete Bekennermotiv wurde somit noch dadurch verstärkt, dass die Salzburger Protestanten als Märtyrer erschienen. Diese öffentlichkeitswirksame Deutung der Vertreibung der Salzburger Lutheraner hat aber keineswegs verhindert, dass ihre Aufnahme in Memmingen, wo sie zumeist als »Dienstboten« arbeiteten, soziale Spannungen hervorrief, die ihre Integration erschwerten. Von Pfarrern zu kontrollierende Schmähverbote, die der reichsstädtische Rat erließ, sollten die Stellung der Exulanten wahren und fügen sich in die propagandistische Deutung ein. Diese Nähe zum Märtyrertum findet sich in der zeitgenössischen Publizistik sogar im Zusammenhang mit der Diskussion um die Feinheiten des Reichsrechts: Damit man aber das harte Verfahren gegen die Evangelischen Unterthanen einiger massen entschuldigen möchte, so bemühete man sich, sie wegen einer sogenannten Sedition anzuklagen, und ließ deswegen ein sehr weitläuffiges Manifest ergehen. 67 Allerdings ließen sich keine überzeugenden und stichhaltigen Beweise dafür finden. Vielmehr wird festgehalten: Die Rebellion ist ihrer Lehre zuwider, welche nicht will, daß man sich durch Aufruhr an seiner 65 Inhaesiv-Vorstellungs-Schreiben an Ihro Römische Kayserliche Majestät […], 26.1.1732, in: E. C HR . W. S CHAUROTH , Vollständige Sammlung (Anm. 53), S. 436-440, hier 437. 66 J OHANN G. S CHELHORN , De religionis Evangelicae in Provincia Salisburgensi ortu etc., Leipzig 1732, in recht ungesicherter Übernahme nach G. F LOREY , Salzburger Protestanten (Anm. 51), S. 143, der dies übersetzt wiederum ohne gesonderten Hinweis von C. F. A R - NOLD , Vertreibung (Anm. 60), S. 80, übernommen hat. 67 E LIAS F RIDAUER , Kurtze Historie der Evangelischen Emigranten, wie die Göttliche Providentz dieselben […] Aus dem Ertz-Stifft Saltzburg in ein Land geführet, worinnen Milch und Honig der Evangelischen Wahrheit fliesset, Memmingen 1733, S. 24 (hier auch die folgenden Zitate). <?page no="124"?> K ONFES S ION ELL BED INGT E M IG R ATION 125 Obrigkeit vergreiffe. Diese Lehre hatten auch die ersten Christen, welche unter denen harten Verfolgungen der heydnischen Kayser lieber den Verlust ihrer Güther, ja den Tod selbsten erlitten, als sich empöret haben. Aus dieser Gedankenwelt stammt auch der Topos, die Salzburger seien trotz ihrer misslichen Lage sanft und geduldig wie Schaafe und Lämmer Christi durchs Land gezogen. Zentral aber war auch im 18. Jahrhundert das Bekenntnis und die standfeste Treue dazu: Man hatte sich zwar Römisch-Catholischer Seits in den Saltzburgischen gar sehr angelegen seyn lassen, die übrige Evangelische Lands-Leute und Einwohner durch allerhand Drohungen und erdichtete Erzehlungen, was die bereits emigrirte bey denen Lutheranern hätten ausstehen müssen, von ihrer rechten und allein seeligmachenden Lehre abzuhalten; allein sie verblieben gegen alle diese Stürme als unbewegliche Felsen. 68 Das Standhalten gegen den Konversionsdruck und das Beharren auf der Augsburger Konfession wurde 1732 in ganz ähnliche Worte gefasst wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Dazu gehörte auch die Erfahrung der Verächtlichmachung, wie sie etwa die Geschwister Leutwein aus Freudenberg berichtet hatten. Dies wird noch verstärkt durch das Motiv der fehlenden Mildtätigkeit der Katholiken, [d]a nun also an theils Catholischen Orten diesen erbarmungs-würdigen Leuten ihre Reyse so beschwerlich gemacht worden, so ist es freylich geschehen, daß […] viele darüber erkrancket, auch wol gar durch den Tod von der Welt abgefordert worden. 69 Diese Schilderung griff auch den Hinweis auf das Märtyrertum implizit auf. Dass der Wunsch nach freiem Besuch eines evangelischen Gottesdienstes den Auswanderungswillen der Ausgewiesenen erhöhte, war ein weiteres wichtiges Argument in der protestantischen Selbstwahrnehmung. So überwiegen in der Überlieferung Glaubensgründe, während materielle Erwägungen in den Hintergrund treten. Zugleich wurden die Emigranten vorbildlich für den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und somit gewissermaßen instrumentalisiert. 3. Konfessionell bedingte Migration auf der politischen Bühne des Alten Reiches Aus diesen sicherlich selektiven Beispielen lutherischer Emigration aus Hochstiften der Reichskirche im Süden des Alten Reiches ergibt sich ein seit dem 16. Jahrhundert gewachsener Kommunikationszusammenhang. Konfessionell bedingte Migration hatte einen hohen Stellenwert im Selbstverständnis der Lutheraner und wurde in erstaunlicher Kontinuität in ähnlicher Weise hochgehalten. Exulanten waren standhaft im Glauben und somit Vorbilder, deren Bekennermut mit Märtyrertum in Zusammenhang gebracht wurde. Entsprechend wurde situationsbedingt immer über die harten Umstände, den erlittenen Schaden und gegebenenfalls Tätlichkeiten 68 E. F RIDAUER , Kurtze Historie (Anm. 67), S. 25. 69 E. F RIDAUER , Kurtze Historie (Anm. 67), S. 34. <?page no="125"?> F R ANK K LEINEHAG ENBR OCK 126 berichtet, welche die Vorstellung vom Märtyrertum konkretisierten. In diesem Zusammenhang wird zugleich die Unbarmherzigkeit der katholischen Gegenseite herauspräpariert, deren Handeln nicht nur als unrechtmäßig, sondern auch christlichen Maßstäben nicht gerecht werdend wahrgenommen wird. Zugleich wird deutlich, dass sich der Umgang mit den Exulanten veränderte. Die konfessionell bedingte Migration aus dem Hochstift Würzburg um 1600, hier anhand der Aufnahme der Betroffenen in die Grafschaft Wertheim untersucht, fand kaum reichsweite Beachtung, ging quasi unter in der Vielzahl konfessioneller Konflikte der Zeit. Gleichwohl lässt sich eine einheitliche Versprachlichung als Anzeichen für eine kollektive Deutung der konfessionell bedingten Migration feststellen. Die fortschreitende Konfessionalisierung der territorialen Gesellschaften im Alten Reich, die Weiterentwicklung der Reichsverfassung im Westfälischen Frieden sowie die elaborierte politische Bühne des Immerwährenden Reichstages in Regensburg veränderten die Bedingungen konfessionell bedingter Migration. Gerade die Salzburger Lutheraner gerieten in den Mittelpunkt ganz anders gelagerter Konflikte im Heiligen Römischen Reich, wie der Verweis auf die Debatte um die Pragmatische Sanktion andeutete. Grundmuster der Kommunikation konnten von einer professionalisierten Propaganda entlang der politisch-konfessionellen Trennlinien im Alten Reich des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und einer reichsweiten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wenn auch die Deutung der erzwungenen lutherischen Emigration aus dem Erzstift Salzburg Kontinuitätslinien zum Konfessionellen Zeitalter aufweist - Bekennermut mit Bezügen zum Märtyrertum, Unrechtserfahrung, Mitleidserregung -, so ist die Darstellung in den protestantischen Schriften des 18. Jahrhunderts wesentlich emotionaler. Das Leid wird in den Berichten über die Salzburger viel plastischer als in den Suppliken des 16. Jahrhunderts dargestellt. Dies verweist darauf, dass konfessionell bedingte Migration im 18. Jahrhundert viel stärker als im 16. Jahrhundert auf der politischen Bühne des Reiches instrumentalisiert wurde. Die Auseinandersetzungen der Reichsstände untereinander und mit dem Kaiser verliefen eben auch im 18. Jahrhundert entlang konfessioneller Grenzen. Die Züge der Salzburger Lutheraner und ihre Deutung in der protestantischen Öffentlichkeit haben trotz allen real erlebten Leids durchaus Züge einer symbolischen Inszenierung, wie sie die Konfliktparteien etwa auf dem Reichstag in ›solemner‹, feierlicher Form vollzogen. Im vorliegenden Fall konnte - freilich nicht solemn, aber für große Teile der Bevölkerung des Reiches deutlich sichtbar - die konkurrierende Deutung der Reichsverfassung beziehungsweise konkret des Westfälischen Friedens kommuniziert werden. 70 70 Vgl. hierzu B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbosprache des Alten Reiches, München 2008, hier S. 304f. <?page no="126"?> 127 A NDREAS L INK Deferegger in Augsburg Kirchenbücher als Quelle der Migrationsforschung Bei den Defereggern handelt es sich um eine kleine, exakt umreißbare Gruppe von insgesamt 621 erwachsenen Glaubensemigranten aus dem Defereggental. 1 Die ländlichen Bewohner des Bergtals waren von den erzbischöflich-salzburgischen Behörden als hartnäckig ›unkatholisch‹ entdeckt und Ende 1684 als ›Rebellen‹ ausgewiesen worden. Im Zusammenhang mit der konfessionell bedingten Migration nach dem Westfälischen Frieden geht es also nur um einen kleinen Teilbereich. 2 In der allgemeinen Wahrnehmung schon der Zeitgenossen wurde das Schicksal der Deferegger Exulanten bald überlagert durch die seit 1675 wachsende Not der Hugenotten in Frankreich - vollends nach der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. anno 1685 - und deren Emigration: Rund 40.000 Hugenotten wurden in den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches aufgenommen. 3 Im Vergleich zu dieser Massenemigration ist die der Deferegger quantitativ geringfügig. Deferegger in Augsburg, das ist ein nochmals deutlich kleinerer Teilbereich. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Augsburg für sie lediglich vorübergehender Sammlungs- und Durchgangsort gewesen sei, lassen sich aber gut 250 Deferegger und ihre Nachkommen belegen, die mehr als drei Jahre in der Reichsstadt ansässig waren. Ja mehr als das: Man kann die Deferegger in Augsburg - auch schon von ihrer Anzahl her - nicht nur als versprengte Einzelne, sondern als Gruppe mit typischen Verhaltensweisen fassen. Dies betrifft ihre berufliche und soziale Stellung, die Partnerwahl und die Patenschaften für ihre Kinder und die Frage nach Separation oder Integration der Neuankömmlinge. Eine Mikroanalyse wird vornehmlich anhand von Kirchenbüchern möglich, einer wertvollen Quelle für die Migrationsforschung, ergänzt durch die Heranziehung 1 Zahl nach A LOIS D ISSERTORI , Die Auswanderung der Deferegger Protestanten 1666- 1725, 2. Aufl. Innsbruck 2001, S. 137. 2 Vgl. zum Gesamtzusammenhang den Beitrag von Frank Kleinhagenbrock in diesem Band. 3 M ATTHIAS A SCHE , Hugenotten und Waldenser in Württemberg, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 110 (2010), S. 81-135, hier 91. Die Gesamtzahl der Glaubensflüchtlinge wird auf 200.000 (R UDOLF E NDRES , Staat und Kirche, in: HBEKG I, S. 475- 490, hier 485) bis 500.000 (C LAUS -J ÜRGEN R OEPKE , Die Protestanten in Bayern, München 1972, S. 320) geschätzt. <?page no="127"?> A NDR EA S L INK 128 von Verwaltungschriftgut des Herzogtums Württemberg, das zusätzlich neue Perspektiven auf die Bedeutung Augsburgs für die Deferegger eröffnet. Auch innerhalb der aufnehmenden Augsburger Gesellschaft kristallisieren sich die maßgeblichen Protagonisten als mehr oder minder deutliche Gruppe heraus, die sich sogar hinsichtlich ihrer Frömmigkeitsrichtung ziemlich klar bestimmen lässt. Abschließend werden einige Erwägungen zur Reichweite des Quellenwertes von Kirchenbüchern, zur Methodik und zu analogen Auswertungsprojekten derartiger Quellen vorgestellt. 1. Die Deferegger - Musterbeispiel einer konfessionell bedingten Migration Die Deferegger zählen neben den ab etwa 1624 auswandernden ›Lendlern‹ - aus dem Land ob der Enns - und den 1731/ 32 vertriebenen Salzburgern zu den Paradebeispielen der Exulantenforschung. Schon 1688 veröffentlichte Johann Christoph Francke unter dem Pseudonym Gottfried Wahrlieben eine erste Darstellung: ›Die über Hundert Jahr Ihren Widersachern Unsichtbar gewesene, nunmehro aber, nach deren Entdeckung, zerstreuete evangelische Tefferecker-Kirche, in des Erz-Stiffts Saltzburg Pfleg Windisch Matterey‹. 4 In das hochgelegene Gebirgstal südlich des Tauernhauptkammes kam die lutherische Lehre wohl schon im 16. Jahrhundert. Die Hälfte der Bewohner war im Verborgenen evangelisch. Eine 1666 angeordnete Visitation verdächtiger Häuser blieb ohne Befund, »aber 1681 wurde Martin Veldner von Wolfg. Adam Lasser, dem Pfleger von Windisch-Matrei, vorgeladen und 1683 des Landes verwiesen. […] Im Sommer 1684 beschloß die Regierung für die Andersgläubigen als Sektierer und Aufrührer die Massenausweisung, die im Dezember 1684 erfolgte«. 5 Begüterte hatten vier Wochen Zeit, um die Heimat zu verlassen, mittlere Besitzer vierzehn Tage, Tagwerker drei Tage. 6 Im 4 G OTTFRIED W AHRLIEBEN [Johann Christoph Francke], Die über Hundert Jahr Ihren Widersachern Unsichtbar gewesene/ nunmehro aber/ nach deren Entdeckung/ zerstreuete evangelische Tefferecker = Kirche/ in des Erz = Stiffts Saltzburg Pfleg Windisch Matterey […], Denkstatt [Gotha] 1688, besonders S. 13, 10-21, 27. Der Verf. benutzte das Exemplar, das im Erscheinungsjahr mit dem Besitzervermerk Societatis Jesu Augustae 1688 versehen wurde, jetzt SuStBA 4 o ThH 2863, ein Hinweis auf das Interesse der Zeitgenossen. 5 G RETE M ECENSEFFY , Art. Deferegger und Dürrnberger Exulanten, in: RGG 3 , Bd. 2, Sp. 55f. Ausführlich A STRID VON S CHLACHTA , Die Emigration der Kryptoprotestanten, in: R UDOLF L EEB / M ARTIN S CHEUTZ / D IETMAR W EIKL (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./ 18. Jahrhundert), Wien-München 2009, S. 63-92, hier 64-69, die eine evangelische Kontinuität seit der Reformationszeit betont (Zitat S. 64). 6 G. W AHRLIEBEN , Tefferecker-Kirche (Anm. 4), S. 15. <?page no="128"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 129 Januar darauf tauchen dann nacheinander Trupps zu 50, 60 bis 80 Personen in Augsburg auf. 7 Aus der Literatur ergibt sich folgendes statistische Bild: »Soweit sich feststellen läßt, sind insgesamt 621 Personen aus dem Tal ausgewandert«. 8 Zu den Zielorten gehörten in Oberschwaben Memmingen, wo knapp 30 Personen geblieben sein sollen, 9 Kempten, das mit 30 Meilen Entfernung die nächstgelegene evangelische Stadt war, wo »sich dann viele auf Dauer […] ansiedelten«. 10 Lindau nahm 1684 immerhin 27 Personen auf, 11 von den Ausgewiesenen erreichten »einige« auch Kaufbeuren, 12 Isny und Leutkirch. 13 Im Juni 1685 sind im Herzogtum Württemberg 176 Exulanten, davon 110 allein in Stuttgart, detailliert nachgewiesen. 14 In 7 So berichtet der Müller Hans Jacob Zellner in seiner handschriftlichen, unpaginierten Cronica Waß Sich [in] Der Statt Augspu[rg] vnd In Andere Umblieg[ende] Ordten bei der Statt her[um] begeben hat für 1685: In dem Janüarj seindt auß dem Salzburger Landt viel leidt herkomen die seindt Ver/ trieben worden der Religion halben Sie habet aleß verlaßen miesen; SuStBA 4 o Cod S 16. 8 G ERHARD F LOREY , Protestanten im Lungau und Pinzgau, im Defereggental und am Halleiner Dürrnberg, in: P ETER K RÖN (Hg.), Reformation. Emigration. AK Salzburg, Salzburg 1981, S. 77-84, hier 81. 9 R ITA H UBER -S PERL , Reichsstädtisches Wirtschaftsleben zwischen Tradition und Wandel, in: J OACHIM J AHN (Hg.), Geschichte der Stadt Memmingen I, Stuttgart 1997, S. 679-782, hier 686. Vgl. TRJ 1688 Nr. 13, wo Christian Unteregger, jetzo Memmingen, genannt ist. Zur Abkürzung TRJ vgl. Abschnitt 2: Die Quellen und ihre Auswertung. 10 P AUL W ARMBRUNN , Evangelische Kultur in der Reichsstadt, in: V OLKER D OTTER - WEICH (Hg.), Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 273-289, hier 278: »Bereits 1685 hatte sie [die evangelische Bürgerschaft] 400 Glaubensflüchtlinge vorübergehend beherbergt«. 11 M ATTHIAS S IMON , Evangelische Kirchengeschichte Bayerns, München 1942, S. 527. 12 T HOMAS P FUNDNER , Die evangelische Gemeinde Kaufbeurens […] in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN D IETER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren 2, Thalhofen 2001, S. 272-322, hier 294. 13 A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 132-136, benennt im Zusammenhang mit Vermögensrestitutionen ab 1690 je drei Exulanten in Isny und in Leutkirch. 14 HStASt, A 63 Religions- und Kirchensachen Bü 101, Acta/ Wie die wegen der Religion emigrirte Defferekher so wol in dem Land als an benachbarten Orten […]/ 48 numeri de 1685 bis 1687: Gebundene Befragungslisten vom 15. Juni bis August 1685. Vgl. E BER - HARD F RITZ , Christliche Nächstenliebe oder ökonomisches Kalkül? Probleme der Aufnahme von Salzburger Exulanten im Herzogtum Württemberg, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 110 (2010), S. 241-263. Zu Augsburg vgl. TRA 1728 Nr. 7: Syb. Magd. Feldnerin von Kirchheim am Neckar; TRB 1724, S. 46: Phil. Heinr. Brugger, Schuster von Stuttgart; TRG 1731 Nr. 1: Anna Maria Oßmayrin von Esslingen; TRJ 1700 Nr. 14: Christoph Sonner von Tübingen; TRJ 1710 Nr. 3: Joh. Seb. Feldner, Zimmermann von Stuttgart. Zu den Abkürzungen TRA, TRB, TRG, TRJ vgl. Abschnitt 2: Die Quellen und ihre Auswertung. <?page no="129"?> A NDR EA S L INK 130 Ulm waren 1687 noch etwa 80 Deferegger anzutreffen. 15 Weitere hielten sich wohl nur vorübergehend zu Erkundigungen im Hohenlohischen auf. 16 Bereits im April 1684 kamen Abgesandte der Deferegger zu ersten Sondierungen nach Augsburg. Nach einem Glaubensverhör, dem sich Frantz Oßmeyer, schon landesverwiesen, und Martin Prümstetter erfolgreich unterzogen, fanden sie offenkundig juristischen Beistand für eine Audienz im Mai bei dem kurfürstlich sächsischen Gesandten Anton Schott in Regensburg samt einem Schreiben an dessen Landesherrn und für eine Supplikation an den Salzburger Erzbischof. Die dem herzoglichen Hof zu Stuttgart zugespielten Anlagen des Schreibens an die Churfürstl. Durchlaucht zu Sachsen wurden im Februar 1685 in der reichsstädtischen Kanzlei Augsburg offiziell als Kopien beglaubigt. 17 Zu diesen Deferegger Kundschaftern, die bey unsern vorangekommenen Brüdern allhier zu Augspurg, GOTT sey Lob, angelanget, und gleich ihnen, von Evangelischen gutthätigen Hertzen an Seel und Leib reichlich versorget worden, zählten Michael Veldner, Matthias Gasser, Gall Schneider und Matthias Veldner, die in unserm und aller Mit = Brüder Nahmen unterzeichneten. 18 Die Zurückbehaltung von 289 Kindern und Ehefrauen - und des Vermögens der »Ausgeschafften«, vorgeblich um die Grundbedürfnisse der Kinder sicherzustellen 19 - rief das Corpus Evangelicorum des Reichstags auf den Plan: Vor allem Friedrich Wilhelm von Brandenburg bezichtigte den Erzbischof des Bruches des Westfälischen Friedens. Protestschreiben belegen die Unterstützung der oberdeutschen Reichsstädte Regensburg, Nürnberg und Ulm, Memmingen, Augsburg und Windsheim, auch Leutkirch. Nach fünfjähriger Bemühung wurde der kaiserliche Befehl vom 6. September 1690 erwirkt, der gemäß dem Westfälischen Frieden den 15 G. F LOREY , Protestanten (Anm. 8), S. 83, nach A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 51. 16 G. W AHRLIEBEN , Tefferecker-Kirche (Anm. 4), S. 1; er benennt für den März 1685 Matthias und Michael Veldner, Valentin Mühlburger, Thomas und Urban Aßmar, die vielfach als ›deputirte‹ agierten, als »vergebliche« Rückkehrer aus dem Hohenlohischen (S. 21); im Zentralarchiv Hohenlohe jedoch nicht nachweisbar. 17 HStASt, A 63 Bü 101. Indiz für eine stärkere Unterstützung von Augsburger Seite als bisher vermutet. 18 G. W AHRLIEBEN , Tefferecker-Kirche (Anm. 4), S. 2, 12, Zitat S. 16, Unterzeichnernamen S. 19. 19 HStASt, A 63 Bü 101, Patent der oberösterreichischen Regierung vom 4. Jan. 1685, dass Kinder unter 15 Jahren nit passiert, sonderen aufgehalten, und auf höchstgedachter seiner Hoch- Fürstl[ichen] Gnaden unkossten bis auf weitere Veranstaltung, nottürfftiglich verpfleget werden sollen, sowie ein undatiertes Dank- und Bitt-Schreiben der Exulanten an den Herzog von Württemberg mit der Bitte, in Regensburg gegen die Rechtsbrüche vorzugehen, u. a.: daß unter dem Vorwand, Sie die arme Kinderlein aufzuziehen, nicht ein geringer Antheil Unßerer wenig zeitlichen Haabe, Unß entzogen, und biß auf diese Stundt vorenthalten worden. <?page no="130"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 131 damit als Glaubensexulanten anerkannten Evangelischen freien Abzug unter Mitnahme ihrer Kinder und Verfügung über ihr Vermögen gestattete. 20 Für viele ausgewiesene Deferegger kam dieser Befehl allerdings zu spät. An eine Familienzusammenführung war nicht mehr zu denken. Über die Jahre hinweg war Augsburg von einer Ausgangsbasis für die reichsrechtlichen Auseinandersetzungen und möglichen Rückkehrstation in die Heimat für zahlreiche Deferegger jedoch zur Stadt eines Dauerexils geworden. Zwar finden sich nur 38 förmliche Beisitzer- und 3 Bürgeraufnahmen von Defereggern in den städtischen Akten, 21 doch lassen sich über den zeitlichen Abstand von Emigrations- und Beerdigungsdatum 78 erwachsene Personen aus dem Kreis der unmittelbaren Zuwanderer nachweisen. Vergleicht man die Zeitangaben von Eheschließungen, Taufen der Kinder aus diesen Ehen und Sterbedaten der Eltern, so lassen sich weitere 45 Personen zur ersten Zuwanderergeneration rechnen - darunter auch fünf Mitglieder der schon unter den Kundschaftern genannten Sippen Oßmair und neun der Feldner-Sippe. Diese Familien und auch die Brugger, Blasing, Grün, Steinberger, Unteregger, usw. hatten 67 erwachsene Nachkommen. Dazu kommen im Laufe der Zeit Zuzügler aus Defereggerfamilien, die zunächst anderswo ansässig waren wie - prominentes Beispiel - die Baumeistersippe der Schneidmann aus Regensburg sowie die mit ihnen zusammenarbeitenden Zimmerleute Leipold aus Eldersdorf (bei Erlangen). Insgesamt lassen sich so in Augsburg rund 250 Deferegger und ihre Nachkommen sicher nachweisen. 2. Die Quellen und ihre Auswertung Herangezogen wurden vornehmlich die Kirchenbücher, 22 durchgängig zwischen 1685 und 1784. Die Begräbnisse sind ab 1701 mit Tag und Ort der Beerdigung, Name, Alter und Herkunft des Toten, eventuell Beruf oder Stand sowie Todesumständen vollständig verzeichnet, z. B. 14 Mai 1734. Elisabeth Feldnerin, Defereckherin, bey 90 Jahr, liegt N o 218 Gemei. Grab. Dass sie direkt zugewandert ist, sagt die Bezeichnung Defereckherin. Das Gemeinschaftsgrab Nr. 218 - ein Indiz für den Sozialstatus - lag auf dem oberen, heute Protestantischen Friedhof. 23 20 G. M ECENSEFFY , Deferegger (Anm. 5), Sp. 56. 21 Der Beisitz ist eine Art minderes Bürgerrecht. StadtA Augsburg, Beisitzakten 6-11, 14- 16, 18; Bürgeraufnahmen 13, 19, 20, 22. Vgl. auch W ERNER W. S CHNABEL , Österreichische Exulanten in Oberdeutschen Reichsstädten, München 1992, S. 99. 22 Archiv der Evang.-Luth. Gesamtkirchenverwaltung Augsburg. 23 Diese Quelle wird im Folgenden abgekürzt mit TOT plus Datum. <?page no="131"?> A NDR EA S L INK 132 Die Trauungsbücher liegen für alle sechs Innenstadtgemeinden nach 1649 lückenlos vor. 24 Sie nennen die Namen, örtliche und familiäre Herkunft der Ehepartner und den sozialen Status, z. B. 12. Aug. 1697: Der Erbare Christian Blasing, aus dem Tefferecker Thal, des bescheidenen Gregori Blasings ehelicher Sohn, und die tugendsame Catharina Riedmairin, des ehrbaren und mannhafften Michael Vogels sel. allhier hinterlaßne Wittib 25 (TRB 1697 Nr. 29). Die barocke Formelsprache bezeichnet mit ›bescheiden‹ einen armen Schlucker, ›ehrbar‹ ist jemand, der sich redlich nähren kann, ›mannhaft‹ meint einen Soldaten, ›ehrenhaft‹ ist eine Stufe über ›ehrbar‹, ›kunstreich‹ ist ein hochqualifizierter Handwerksmeister oder Künstler, ›ehrenvest‹ bekleidet man ein politisches oder kirchliches Amt bzw. Ehrenamt, ›fürsichtig‹ und ›wohlweise‹ ist ein Mitglied des Stadtregiments. Die Partnerwahl dieses Beispiels weist somit auf einen sozialen Aufstieg des Defereggers der zweiten Generation hin, was anhand der Taufeinträge des Paares deutlich wird. Auch die Taufbücher sind für unseren Zeitraum lückenlos erhalten. 26 Sie nennen die Namen des Kindes und der Eltern, ab 1692 oft den Beruf des Vaters und dazu die Paten, z. B. 21. November 1698: Täufling Anna Rosina Eltern: Christian Blasing Kürschner; Katharina Riethmayerin Paten: H. Philipp Jacob Holeisen; Fr. Anna Meißgeyrin; Fr. Rosina Steudtlerin. 27 10. Juli 1701: Täufling Christian Eltern: Christian Blassing Kirschner; Catharina Rietmeirin Paten: H. Andreas Meußgeyr, Handelsmann; H. Christoph Steudlin, Färber; Fr. Barbara Holeissin; 28 28. Okober 1702: Täufling Sibylla Eltern: Christian Bläßing, Kirschner; 29 Catharina Rietmairin Paten: H. Andreas Wickart; Fr. Regina Catharina Gersterin; Fr. Anna Meißgeyrin. 30 24 Beginnend bei St. Anna 1596, Zu den Barfüßern 1632, Heilig Geist 1649, Heilig Kreuz 1597, St. Jakob 1632 und St. Ulrich 1649, im Folgenden abgekürzt TRA, TRB, TRG, TRK, TRJ, TRU plus Jahreszahl und Nummer oder Seitenzahl des Eintrags. 25 Heirat des Guardi-Soldaten und der Tochter des Thomas Rietmair von Memmingen am 7. Jan. 1691; TRB 1691 Nr. 1. 26 Beginnend bei St. Anna 1651, Barfüßer 1607, Heilig Geist 1649, Heilig Kreuz 1607, St. Jacob 1607 und St. Ulrich 1607, abgekürzt TAA, TAB, TAG, TAK, TAJ, TAU plus Jahreszahl und Nummer des Eintrags. 27 TAB 1698 Nr. 123. 28 TAB 1701 Nr. 80. 29 Christian Blässing, Kirschner, wird am 24. Jan. 1704 beerdigt; TOT 1704. 30 TAB 1702 Nr. 108, S. 560. <?page no="132"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 133 Der Deferegger Christian Blasing war Kürschner. Das Ansehen zeigt sich am Sozialstatus der Paten für die Kinder. Mit dem Färber Christoph Steudlin und seiner Frau war ein ebenfalls achtbares Handwerk (in horizontaler Patenschaft) vertreten, der Handelsmann Andreas Meißgeyr und seine Frau gehörten bereits einer deutlich höheren Schicht an und mit Philipp Jacob Holeisen und dem Goldschmied Andreas (II.) Wickart waren noch renommiertere Familien beteiligt, stellten doch die Holeisen mit dem Münzmeister Johann Bartholomäus einen Zechpfleger der Barfüßergemeinde, wie auch Wickarts gleichnamiger Vater nicht nur Vorgeher und Geschaumeister der Goldschmiedezunft war, sondern auch Mitglied des Großen Rates ab 1654 sowie Stifter und Zechpfleger bei St. Ulrich; 31 die Holeisen sind zwischen 1636 und 1743 zwölfmal in den Hochzeitsbüchern der Bürger- und Kaufleutestube notiert, Maria Meißgeyr 1684. Aus Exulantenkreisen hat Blasing niemanden zu Gevattern gebeten, obwohl fünf verheiratete Geschwister, der Vater und eine Tante damals in Augsburg lebten. Seine Patenschaften zeigen vielmehr das Bestreben, sich als Aufsteiger in die Augsburger Gesellschaft zu integrieren. So können gerade Patenschaften, eine Gelenkstelle zwischen den Glaubensflüchtlingen und der Augsburger Gesellschaft, als Indikator für Separation und Integration dienen. Sterberegister, Hochzeitsamtsprotokolle, Beisitz- und Bürgeraufnahmen, Steuerbücher sowie Handwerkerakten enthalten oft weitere Angaben über soziale und berufliche Umstände. Freilich wurde für die Deferegger Weg- und Zuzügler keine gleichwertige diachrone Recherche in anderen Gebieten wie der Markgrafschaft Ansbach, der hohenlohischen Grafschaft Neuenstein, dem Herzogtum Württemberg, anderen oberdeutschen Reichsstädten oder dem Ulmer Gebiet durchgeführt, was die Augsburger Angaben im Einzelfall nahelegen und weitere Erkenntnisse ergeben könnte. 31 Vgl. A NDREAS L INK , Augspurgisches Jerusalem. Bürger - Künstler - Pfarrer. Evangelische Barockmalerei, München-Berlin 2009, S. 114, 131, 138. Auch die Meißgeyr drängen in das Goldarbeitergewerbe: Jakob Heinrich (um 1705-1780, Meisterstück 1735, Ehe TRU 1736 Nr. 4), dessen Sohn Emanuel Gottfried (um 1738-1790, Meister 1764), der durch Mitarbeit am St. Petersburger »Service Permski« und am Charkowschen Service hervortrat; auch sein Bruder Jakob Ludwig (um 1735-1794), Meister 1767, hat diesen Beruf zunächst ergriffen; s. H ELMUT S ELING , Die Kunst der Augsburger Goldschmiede 1529-1868, Bd. III, München 1980, Nr. 2267, 2497, 2515. Bei seinem Tod wird Jakob Ludwig jedoch als Spezereihändler und Buchhalter verzeichnet; beerdigt am 31.10.1794; TOT 1794. <?page no="133"?> A NDR EA S L INK 134 3. Das Herkunftsstereotyp und sein Verschwinden Erstes Indiz für die Integration der Exulanten ist das Verschwinden der Herkunftsangabe ›Deferegger‹ in den Quellen. Stets eindeutig ist sie nur in den Beisitz- und Bürgeraufnahmen und in den Totenbüchern bei direkten Zuwanderern vermerkt. Ihre in Augsburg getauften Kinder gelten bereits als ortsansässig. Die Taufbücher nennen die Herkunft nur, wenn die Ehe schon vor dem Zuzug geschlossen wurde. Zweitehen in Augsburg sind in den Trauregistern zwar durch den Witwenstand gekennzeichnet, nicht aber durch die ursprüngliche Herkunft. Sie fehlt auch generell bei Exulanten, die von auswärts Ehepartner in Augsburg fanden. Als erster Tefferecker wird Peter Feldner, Tagwerker, bei seiner Trauung mit Maria Mühlburger schon am 13. Mai 1686 in Augsburg verzeichnet, wo er im Jahr darauf den Beisitz erlangte. 32 Die letzte Nennung der Bezeichnung gilt der Beerdigung der 90-jährigen Maria Oberwalder am 4. Juni 1747. Allerdings lassen sich Deferegger- Nachkommen ohne dieses explizite Etikett in den Trauungsbüchern bis zu dem Goldschlager Elias Gottfried Brugger 1755, in den Taufbüchern bis Israel Peter Feldner und Georg Philipp Brugger 1779 durchgängig verfolgen. 33 Späte Nachfahren der Exulanten sind exemplarisch sogar bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisbar. 34 32 TRU 1686 Nr 2; StadtA Augsburg, BA 9, Nr. 26. Die Feldner und Mühlburger gehören zu den führenden Familien der Deferegger, die als Sprecher sowohl in Salzburg auftraten als auch aus dem Exil nach Beratungen mit dem sächsischen Gesandten Dr. Anton Schott in Regensburg eine Supplikation an Erzbischof Max Gandolf von Salzburg im August 1684 verfassten und von Augsburg aus ein Memorial an seine Churfürstliche Durchlaucht zu Sachsen vom 15. März 1685 unterzeichneten. Christian Feldner gehörte zu den ersten, die außer Landes geschafft wurden, und die je vier Kinder von Michael und Matthäus Feldner sowie die drei von Valentin Mühlburger wurden widerrechtlich in Innsbruck festgehalten. Vgl. HStASt, A 63 Bü 101, Beilage E des Memorial, Specification der Jenigen Kinder, welche auf Erzbischoffliche Requisition an Insprugg, von der Regierung daselbst angehalten worden im Januario. 1685.; G. W AHRLIEBEN , Tefferecker-Kirche (Anm. 4), S. 13, 19- 21, 27. 33 Thenn TRB 1734 Nr. 4; Mühlburgerin TOT 4. Juni 1747; Feldnerin TRB 1754 Nr. 12; E. G. Brugger TRU 1755 Nr. 6; I. P. Feldner TAB 1762 Nr. 92; Gg. Ph. Brugger TAU 1779 Nr. 4. 34 Der Turmwächter Christian Steißlinger ehelicht Euphrosina Magdalena Riedelspergerin (TRU 1863 Nr. 42); Anna Feldner, Schlossertochter von hier, lässt ihr uneheliches Kind taufen (TAJ 1863 Nr. 36). <?page no="134"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 135 Die ausdrückliche Hervorhebung des Personenkreises der Exulanten durch die explizite Herkunftsbezeichnung umfasst also einen Zeitraum von gut fünfzig Jahren. 35 Dann verschwindet das Herkunftsstereotyp. 4. Die Partnerwahl Augsburg wandelt sich für die Deferegger also von einer vorübergehenden Zwischenstation zur dauerhaften Bleibe. In ihrem Heiratsverhalten spiegelt sich denn auch zunächst eher die Verbundenheit mit der alten Heimat wider als ein aktiver Integrationswille in die Augsburger Verhältnisse. Denn in der ersten Dekade ihrer Anwesenheit in Augsburg (1686-1695) stehen 17 Trauungen von Paaren auß dem Deferegger Thal beyde gebürtig einer einzigen Einheirat gegenüber, wobei der Name der Braut allerdings stark vermuten lässt, dass auch sie eine zugezogene Defereggerin war. 36 In der zweiten Dekade (1696-1705) kommt es bei 17 reinen Defereggertrauungen dann schon zu acht Einheiraten durch vier Männer und vier Frauen. 37 Erst in der dritten Dekade (1706-1716) kehrt sich das Verhältnis grundsätzlich und für die Zukunft dauerhaft um: Sechs Frauen und sieben Männer heiraten nach Augsburg ein, während sich noch fünf Paare finden, deren Partner beide aus dem Defereggental stammen. 35 Vgl. W. W. S CHNABEL , Exulanten (Anm. 21), für Regensburg S. 259; für Weissenburg, wo der Beiname ›Lendler‹ 1671 verschwindet, S. 271. Der Befund ist der gleiche wie bei den Salzburger Exulanten 1731/ 32. 36 TRJ 1689 Nr. 13: Der Deferegger Tagwerker Thomas Brugger heiratet am 9. August die Jungfrau Margaretha Gasserin, Tochter des Ruprecht Gasser seel.; Bruggers Beisitzaufnahme ist im selben Jahr belegt (StadtA Augsburg, BA 9, Nr. 18). Zu den schon 1684 in Augsburg erwähnten ›vorangekommenen Brüdern‹ der Deferegger zählt Matthias Gasser (vgl. Anm. 17). Ruoprecht Gasser und Frau werden in einem Schreiben von Elias Veiel vom 23. Mai 1685 für Ulm (als Nr. 15) und in den Befragungslisten der Württembergischen Verwaltung vom Juni 1685 für Schorndorf (als Nr. 154) erwähnt; vgl. HStASt, A 63 Bü 101. 37 TRU 1696 Nr. 16: Der Witwer Friedrich Feldner, Diener, heiratet die Jungfrau Regina Helschachin; TRB 1697 Nr. 29: Christian Blasing die Soldatenwitwe Catharina Riedmayrin; 1703 Nr. 18: Christian Prugger, Schuster, die Jungfrau Helena Iderothin; 1703 Nr. 20: der gleichnamige Christian Prugger, ebenfalls Schuster, die Witwe Regina Hascherin; TRB 1699 Nr. 22: Der Laquai Johann Jakob Kick aus Lindau heiratet Brigitta Veldnerin (NB. tanquam prematuri concubitores); TRG 1700 Nr. 5: Andreas Ludwig, Maurer aus Berchtesgaden, Elisabeth Blasingerin; TRU 1705 Nr. 14: Der Witwer Carl Rüblinger die Witwe Rosina Mühlburgerin; TRA 1705 Nr 11: Der Bortenmacher David Demhardt ehelicht Maria Leonhardin. <?page no="135"?> A NDR EA S L INK 136 Grafik 1: Partnerwahl der Deferegger Das zunächst ausgeprägt endogame Heiratsverhalten darf als typisch gerade für ländliche Migrantengruppen gelten, wie etwa der Blick auf die in vieler Hinsicht vergleichbaren Waldenser in Württemberg zeigt. 38 Freilich darf die zunächst binnenorientierte Partnerwahl nicht als völlige Integrationsverweigerung interpretiert werden. Innerhalb der ersten Dekade gelangten 24 Deferegger, meist Tagwerker, in den Augsburger Beisitz, 15 davon ab 1691, als man an in der Heimat zurückgelassenes Vermögen gelangen konnte. In der zweiten Dekade waren es noch sechs und in der dritten Dekade vier, die in den Beisitz aufgenommen wurden. Das volle Bürgerrecht hatten in der Regel zünftige Handwerksmeister, bei den Bewohnern des ländlichen Gebirgstals ist es hingegen erst in der zweiten Dekade für rund zwanzig Deferegger nachweisbar, die meist bereits der zweiten (und städtisch ausgebildeten) Generation angehörten und nur selten selbst Zuwanderer waren wie die 38 Vgl. M. A SCHE , Hugenotten und Waldenser (Anm. 3), S. 81-135, hier 119, wobei die konfessionelle und - durch das okzitanische »Patois« - sprachliche Identität dieser Gruppe deren Separation massiv verstärkte. Zur Endogamie unter Exulanten vgl. auch C.-J. R OEPKE , Protestanten (Anm. 3), S. 301. <?page no="136"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 137 Schneidmann-Maurer. Offensichtlich arrangierte man sich nun rechtlich und beruflich mit den neuen Verhältnissen. Bei der Partnerwahl steht aber der starke landsmannschaftliche Zusammenhalt der Exulanten noch lange im Vordergrund. So wurden Deferegger von außerhalb gerne als Ehepartner für jetzt in Augsburg ansässige Landsleute genommen: so beispielsweise 1696 aus Neumuhr in der Markgrafschaft Ansbach, 1707 aus Ulm, 1709 ein Zimmermann Johann Leipold aus Eldersdorff in der Markgrafschaft Bayreuth, 1710 ein Zimmermann Feldner aus Stuttgart, 1721 wieder ein Zimmermann aus der Leipold-Sippe, Petrus, 1724 ein Schuster aus Stuttgart; das galt noch bis zum Jahr 1731 - also fast 50 Jahre nach der Vertreibung -, als Der Ehren- und Mannhaffte Johann Leupold Statt-Garde Soldat und Wittiber alhier, und die Erbare Jungfr. Anna Maria Oßmayrin, von Eßlingen, deß weyland Erbarn Thomas Oßmayers seel. daselbsten Eheliche Tochter heirateten. 39 Zweifellos gab es also einen starken Zusammenhalt der Defereggersippen auch in der Diaspora. Bei den Einheiraten erweist sich - wie schon bei den früheren Exulanten aus dem ›Landl ob der Enns‹ - das Umfeld der Augsburger Stadtgarde als eine Möglichkeit für die sozial als ›bescheiden‹ charakterisierten Zuwanderer, in der Stadt Fuß zu fassen. In einem eigenhändigen Schreiben des Pfarrers Gustav-Adolph Jung von Heilig Kreuz an die Exulanten zu Stuttgart vom 12. Juni 1685 wird diesen der Guarti Soldat Hans Bergler für Geldsammlungen und politische Sondierungen empfohlen. 40 Und so heirateten - wie gesehen - 1697 der Kürschner Christian Blasing eine Deferegger Soldatenwitwe, Christina Bergler 1704 und Ursula Oßmair 1706 einen Soldaten, Andreas Dirsch 1710 und Heinrich Mihlburger 1724 eine Soldatentochter und der bereits erwähnte Soldat Johann Leupold Anna Maria Oßmayr aus Esslingen. 41 Das Gros der Einheiraten entfällt auf die Deferegger-Frauen. Bei den Männern, die Augsburger Partnerinnen nahmen, spielte demgegenüber die soziale Platzierung durch den Beruf eine Rolle. Die Schuster, Kürschner und Goldschläger der Brugger-Sippe konnten sich als Meister ebenso eine flexible Partnerwahl leisten 42 39 Jacob Prugger TRG 1696 Nr. 5, Barbara Gellnerin TRJ 1707 Nr. 5, Johann Leipold TRG 1709 Nr. 1, Johann Sebastian Feldner TRJ 1710 Nr. 3, Petrus Leibold TRG 1721 Nr. 2, Philipp Heinrich Brugger TRB 1724, S. 46, Maria Oßmairin TRG 1731 Nr. 1. 40 HStASt, A 63 Bü 101: welches frantz Aßmaÿr und Christell feldner, die dem Verlaut nach zu Stuttgart sich aufhalten sollen, am besten verrichten könnten, Es wollte sich auch der hannß Bergler alhir Guarti Soldat mit Ihnen aufmachen. 41 Catharina Riedmairin TRB 1697 Nr. 29, Daniel Keyser TRU 1704 Nr. 17, Andreas Peppel TRU 1706 Nr. 7, Elisabeth Kellerin TRG 1710 Nr. 8, Maria Barbara Hoßfelderin TRA 1724 Nr. 16. 42 Schuster: eine Defereggerin TRJ 1702 Nr.17; Jungfrau TRB 1703 Nr. 18, 22; Witwe 1724 S. 46; Jungfrau TRG 1738 Nr. 7; Jungfrau TRB 1743 Nr. 28; Jungfrau aus Schlipsheim TRA 1743 Nr. 5; Jungfrau aus Harburg TRG 1751 Nr. 3; Jungfrau aus Burtenbach TRJ <?page no="137"?> A NDR EA S L INK 138 wie die Goldschlager Andreas Feldner und Johann Martin Unteregger. 43 Die Partnerschaften bleiben durchwegs innerhalb der eigenen Standesebene. Viele Deferegger-Frauen erheirateten sich aber einen sozialen Aufstieg. So ehelichte Elisabeth Blasing aus ›bescheidenen‹ Verhältnissen einen Maurer, Maria Leonhard gar einen ›ehrenhaften und kunstreichen‹ Bortenmacher. Generell bedeutete die Partnerwahl den Aufstieg von der Tagelöhnerfamilie ins Handwerk. Beispielhaft ist dafür der Eintrag: Der Ehrbare Daniel Thenn, Metzger, des ehrenhafften Johann Thenn allhier ehel. Sohn; Und die tugendsame Jungfr. Gertraud Mühlburgerin, auß dem Deferegger Thal, des bescheidenen Dionysii Mühlburgers Sel. hinterlaßene ehel. Tochter. 44 Für vier Defereggerinnen ab der zweiten Generation lässt sich innerhalb des Sozialgefüges sogar ein höherer Aufstieg in renommiertere Handwerksberufe nachvollziehen. Maria Bergler heiratete 1713 den Goldschmiedegesellen Daniel Beier, die Goldschlägerstochter Rosina Brugger 1738 den Silberarbeiter Friedrich Christian Langerbauer; 45 Susanna Regina Feldner, Tochter des Goldschlägers Andreas Feldner, ehelicht im selben Jahr den Galanterie- und Silberarbeiter Carl Friedrich Bendler aus Schrablau im Mansfeldischen - die Letztgenannten zählen zu den besten Goldschmieden ihrer Zeit. 46 Insgesamt zeigt die Partnerwahl der Deferegger Glaubensflüchtlinge in Augsburg also anfangs eine fast ausschließliche Binnenorientierung: Die Ehepartner rekrutierten sich aus den schon in der Heimat vielfach versippten Defereggerfamilien. 47 Ab der dritten Dekade richtete sich die Partnerwahl jedoch zunehmend auf die Augsburger Mitbewohner, wobei allerdings immer noch (bis 1731 nachweisbar) Angehörige der heimatlichen Sippen von auswärts als Ehepartner gesucht werden. Dennoch besteht kein Zweifel, dass sich die Deferegger als geschlossene Gruppe ihrem Heiratsverhalten nach langfristig in die Augsburger Gesellschaft hinein auflösen. In der sechsten Dekade (1736-1745) gibt es erstmals keine ›reine‹ Deferegger-Hochzeit mehr. 1751 Nr. 9; Soldatentochter TRU 1776 Nr. 12; Kürschner: Witwe TRK 1743 Nr. 3; Goldschlager: Nürnberger Witwe TRU 1710 Nr. 7; Jungfrau TRB 1747 Nr. 23. 43 Andreas Feldner TRU 1722 Nr. 4, Johann Martin Unteregger TRB 1727, S. 55. 44 TRB 1734 Nr. 4. 45 Der Galanteriearbeiter (1711-1787) ist Sohn von Martin Abraham Langerbauer aus Kaufbeuren, der ebenfalls Silberarbeiter war; s. H. S ELING , Goldschmiede (Anm. 31), Nr. 2301. 46 Maria Berglerin TRG 1713 Nr. 3, Rosina Bruggerin TRU 1738 Nr. 8, Susanna Regina Feldnerin TRU 1738 Nr. 17, Catharina Grünin TRB 1751 Nr. 14. Zu C. F. Bendler (1701- 1751) s. H. S ELING , Goldschmiede (Anm. 31), Nr. 2276. 47 Eine Besonderheit stellte die sogenannte ›Zadruga‹ dar, eine »patriarchalische Hausverfassung […] mehrerer, demselben Geschlecht angehöriger Familien unter der Leitung eines einzigen Oberhauptes, des Vorhausers«; A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 11. <?page no="138"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 139 5. Paten der Deferegger Angesichts der ausgeprägten Binnenorientierung der Deferegger Exulanten bei der Partnerwahl wäre ein entsprechendes Verhalten auch bei der Wahl der Paten zu erwarten. Überraschend deutlich ergibt sich jedoch ein anderer Befund. Schon in der ersten Dekade (1686-1695) finden sich bei 29 Taufen nur 10 mit einem Deferegger Paten. In der zweiten Dekade (1696-1705) sind es von 37 Taufen nur 8, bei denen (meist nur) ein Deferegger Pate steht, in der dritten Dekade (1706-1715) liegt das Verhältnis bei 21 : 13, in der vierten (1716-1725) bei 17 : 9, in der fünften (1726-1735) bei 6 : 4, in der sechsten (1736-1745) bei 13 : 1. Die nächsten zehn Jahre gibt es noch neun Taufen, jedoch nun alle ohne Paten aus der Deferegger Verwandtschaft. Paten aus Augsburger Verwandtschaft sind übrigens bei Einheiraten rar: lediglich drei in der 3. Dekade, je eine in der 4. und 6., nochmals drei in der 7. Dekade. Grafik 2: Patenwahl der Deferegger Dieser Befund ist aus dem Kräftespiel dreier Motive zu erklären. Zum Ersten macht sich in knapp einem Drittel der Fälle die Heimatorientierung mit noch einem Defereggerpaten bemerkbar. Zum anderen orientieren sich aber, wie schon <?page no="139"?> A NDR EA S L INK 140 am Beispiel des Kürschners Christian Blasing deutlich wurde, der für seine drei Kinder niemanden aus den Exulantenkreisen zum Gevatter bat, häufig gerade die Deferegger, die sich wirtschaftlich in die Stadtgesellschaft integrieren wollen, horizontal wie vertikal an Augsburger Bürgern aus ihrem beruflichen Umfeld. Dieses Verhalten zeigen auch der Lautenmacher Simon Rainer, 48 die Schuster Christian 49 und Jacob Brugger 50 sowie der Goldschlager Andreas Feldner. 51 In der Spätphase taucht weder bei den Goldschmieden Elias Gottfrid Brugger noch bei Carl Friderich Bendler und Friderich Christian Langbaur Deferegger Verwandtschaft unter den Paten auf. 52 Diese beiden einander im Blick auf die Integration entgegengesetzten Kräfte unter den Motiven der Exulanten verbinden sich zum Dritten mit einem ausgeprägten Patronageverhalten der Oberschicht des evangelischen Augsburg, das vorher schon für die ›Lendler‹ zu beobachten war und sich nun auf die Deferegger richtet. Betrachtet man nur die ersten beiden Dekaden bis 1705, also einen Zeitraum, den man für Augsburg frömmigkeitsgeschichtlich vielfach noch der lutherischen Orthodoxie und noch nicht dem Pietismus zurechnet, 53 so handelte es sich auch 48 TAJ 1703 Nr. 70. Sein lediger Bruder Sigmund war Pate beim Lautenmacher-Kollegen Johann Georg Blassing; TAU 1692 Nr. 16. 49 TAB 1704 Nr. 71, 1705 Nr. 106, 1709 Nr. 23, 1710 Nr. 61, 1711 Nr. 74, 1714 Nr. 49; erst 1719 bittet er Christian und Margarethe Brugger zu Gevattern - beim siebten Kind TAB 1719 Nr. 54. 50 TAJ 1714 Nr. 8, 1715 Nr. 2, 1716 Nr. 21, 1717 Nr. 35, 1718 Nr. 41. 51 TAU 1715 Nr. 46, 1718 Nr. 17, 1719 Nr. 42, 1721 Nr. 15. Ausnahme: Peter Brugger als Pate bei Israel Petrus TAU 1717 Nr. 10. 52 E. Brugger TAU 1751 Nr. 27, 1752 Nr. 44, 1753 Nr. 55, 1755 Nr. 6; C. F. Bendler TAU 1751 Nr. 46; F. C. Langpaur TAU 1753 Nr. 32. 53 Die divergierenden Einschätzungen von M. S IMON , Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 482, der durch Spitzels Wirken dem Pietismus »für immer« in Augsburg Eingang bereitet sah, und W ILHELM S CHILLER , Die St. Annakirche in Augsburg. Ein Beitrag zur Augsburger Kirchengeschichte, Augsburg 1938, S. 105, der erst »gegen Ende des 17. Jh.« dessen »erste Spuren« feststellte, hat bereits D IETRICH B LAUFUSS , Reichsstadt und Pietismus - Philipp Jacob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg, Neustadt/ Aisch 1977, S. 25, thematisiert. Für H ELMUT B AIER , Die evangelische Kirche zwischen Pietismus, Orthodoxie und Aufklärung, in: G UNTHER G OTTLIEB u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Augsburg, Stuttgart 1984, S. 519-529, hier 523, sind die 150 Jahre nach dem Westfälischen Frieden in Augsburg ganz pauschal »eigentlich eine Geschichte des Pietismus in der Reichsstadt«. H ORST W EIGELT , Pietismus, in: Handbuch der evanglischen Kirche in Bayern I, hg. von G ERHARD M ÜLLER u. a., St. Ottilien 2002, S. 511-544, hier 520, sieht im Anschluss an Blaufuß Spitzels Wirkung darin, dass er »der frühen pietistischen Bewegung […] zwar in der Bevölkerung ein gewisses Ansehen verschaffen [konnte], in der Pfarrerschaft aber kaum Unterstützung fand.« Tatsächlich ist in Augsburg das Ministerium orthodox geprägt und der Spenersche (Spitzelsche) Frühpietismus eher eine Laienbewegung. Klare Kontur - auch in den amt- <?page no="140"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 141 schon bei den ›Lendlern‹ als Paten nachweisbaren Kreise um ein breites soziales Spektrum vom Patrizier über den reichen Handelsherrn, den Goldschmied, die Pfarrer bis zu den Zechpfleger-Familien. So waren 1691 und 1692 bei den beiden ersten Söhnen von Thomas Brugger und Ursula Stößler in Heilig Geist Gevattern der Siegelschneider Marx Nepperschmidt, seit 1688 Mitglied des Großen Rats, der Kaufmann Philipp Jacob Miller, ab 1688 Zechpfleger in Heilig Kreuz, Rosina Sophia Baur, die Frau des Silberjuweliers Samuel Baur, und schließlich Anna Catharina Lamenit, in erster Ehe Frau des Patriziers und Mitglieds des Inneren Rats Melchior Langenmantel, die 1695 als Stifterin für St. Ulrich erscheint. 54 In dieser Kirche gehen die Pfarrer Johannes Baur und Johann Baptista Rentz mit guten Beispiel voran: Bei ihren sechs Gevatternschaften stehen ihnen mit Jacobina, der Frau des kaiserlichen Kammerjuweliers Christoph von Rad, ihrem Schwiegersohn und Rads Geschäftspartner Bartholomäus von Hösslin, Sabina Hueber, verehelicht mit Balthasar (III.) von Schnurbein, dem reichsten Steuerzahler der Jahre 1688- 1702, die zu Adel und Patriziat gelangten schwerreichen Aufsteiger des 17. Jahrhunderts zur Seite, dazu der Schnurbein-Schwager Johann Sigmund Schifflin. 55 Bei St. Jakob - wie Heilig Geist eher eine ›Arme-Leute-Kirche‹ - übernahmen die Damen aus dem Augsburger Geldadel weitere elf Patenschaften, so Sabina Schnurbein, Maria Jacobina Rad, Anna Barbara Schorer, deren Mutter Anna Barbara Gullmann, Frau des Silberhändlers Johann Balthasar Gullmann, und Susanna lichen Quellen - gewinnt dann der Hallesche Pietismus: »Pietistisch geprägte Laien ergriffen um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert die Initiative zu Gründung eines Armenkinderhauses«; M ARK H ÄBERLEIN , Vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Ende der Reichsfreiheit, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 75-96, hier 93. Insgesamt ist die historische Einschätzung abhängig vom Differenzierungsgrad des herangezogenen Quellenmaterials. 54 TAG 1691 Nr. 6, 1692 Nr. 12; zu Miller s. T HOMAS M. S AFLEY , Die Aufzeichnungen des Matheus Miller. Das Leben eines Augsburger Kaufmanns im 17. Jahrhundert (Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 4), Augsburg 2003, S. 62, 185; zu Baur s. H. S ELING , Goldschmiede (Anm. 31), Nr. 1768; zu Anna Catharina Lamenit s. A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S. 118. 55 Baur: TAU 1691 Nr. 49, 1692 Nr. 12, 1693 Nr. 7, 1964 Nr. 32; Rentz: 1695 Nr. 39, 1697 Nr. 49. Rentz hatte 1685/ 86 ein halbes Jahr bei dem Ulmer Superintendenten D. Elias Veiel verbracht, der gerade damals die Deferegger wegen ihrer Frömmigkeit als vorbildhaft für alle Christen herausstellte und dieses Urteil auch publizierte; vgl. R UDOLF L EEB , Die Wahrnehmung des Geheimprotestantismus in der evangelischen Territorien, in: D ERS ./ M ARTIN S CHEUTZ / D IETMAR W EIKL (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./ 18. Jahrhundert), Wien- München 2009, S. 503-519, hier 508. <?page no="141"?> A NDR EA S L INK 142 Magdalena Greiff. 56 Unter den Goldschmieden sind Andreas Wickart, später Zechpfleger bei St. Ulrich, und Andreas Priester in den Patenlisten zu finden. 57 Der Bankier Johann Köpf, Stifter für St. Ulrich, der reiche Isaac Hosenestel, der Gold- und Silberscheider Petrus (II.) Neuß, 1697-1699 Zechpfleger bei St. Ulrich, 1702 Zunftvorgeher und 1711 Bürgermeister, standen Pate bei Deferegger-Taufen in Heilig Geist. 58 Auch der aus der Leipziger ratsführenden Familie zugewanderte Benedikt Winkler auf Dölitz 59 stand zusammen mit seiner Frau Sabina Tomanin Gevatter bei dem Tagwerker Martin Brugger und Juliana Feldnerin. 60 Winklers Landsmann, der Rauhändler Adam Vogel, war schon als ›Lendler‹-Pate belegt; seine Ehefrauen Anna Elisabeth und Anna Catharina übernahmen 1691, 1695 bis 1703 Patenschaften bei Defereggern. 61 Man konzentrierte sich seitens der Augsburger Oberschicht dabei offensichtlich auf die sozial am meisten Gefährdeten unter den Glaubensflüchtlingen, die Tagwerker. Dass schließlich Hans Georg Reiser, Adjunkt der Oberkirchenpflege und des Kollegiums bei St. Anna, wie schon bei den ›Lendlern‹ auch bei den Defereggern als Pate auftrat, erscheint angesichts der vielen Stifter und Zechpfleger in der gesamten Augsburger Gevatternschaft fast selbstverständlich. 62 Denn zweifellos war es für die miteinander vernetzten kirchlichen wie gesellschaftlichen Führungskreise Ehrensache, eine derartige Patronage-Patenschaft zu übernehmen. Dahinter stand eine Solidaritätsmotivation aus den parallel verstandenen geschichtlichen Erfahrungen der Augsburger und der 56 Schnurbein: TAJ 1692 Nr. 47, 1694 Nr. 29; Rad: TAJ 1694 Nr. 29, 1695 Nr. 33, 1697 Nr. 44, 1701 Nr. 4, 1703 Nr. 45; Schorer: TAJ 1703 Nr. 70; Gullmann: TAJ 1692 Nr. 47; 1694 Nr. 29; Greiff: TAJ 1703 Nr. 70. 57 TAG 1701 Nr. 16: Andreas Priester, s. H. S ELING , Goldschmiede (Anm. 31), Nr. 2003; TAG 1705 Nr. 23: Andreas Wickart, Zechpfleger bei St. Ulrich 1716-1718, Stifter, s. A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S. 114, 133. 58 Köpf: TAG 1699 Nr. 20, Hosenestel: TAG 1701 Nr. 16, 1702 Nr. 9, Neuß: TAG 1698 Nr. 10, Mylius TAG 1698 Nr. 4. Zu diesem s. H. S ELING , Goldschmiede (Anm. 31), Nr. 1805; zu Köpf und Neuß s. A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S. 119-121. 59 Der Kaufherr (1621-1688) heiratet 1669 Sabina Thoman von Lindau, sein gleichnamiger Sohn 1671 Juliana, Tochter des Augsburger Ehegerichtsassessors und Bürgermeisters Marx Hueber; der wiederum gleichnamige Enkel heiratet 1711 Magdalena Welser, Tochter des Ratsherren und Spitalpflegers Marx Christoph Welser aus dem Patriziat. Benedikts Brüder Andreas (1623-1675) und Heinrich Winkler (1628-1704) sind Ratsherren zu Leipzig, der Jurist Georg Winkler (1650-1712) ist kursächsischer Rat und Bürgermeister von Leipzig. Benedikt Winkler steuert 1674 um 112 ½ fl. und hat Platz 20 der Augsburger Reichen erreicht; A NTON M AYR , Die großen Augsburger Vermögen in der Zeit von 1618 bis 1717, Augsburg 1931, S. 121. Vgl. T. M. S AFLEY , Matheus Miller (Anm. 54), S. 173. 60 TAB 1691 Nr. 116, S. 415; 1692 Nr. 113, S. 430. 61 TAU 1693 Nr. 7, 1695 Nr. 39; TAJ 1701 Nr. 4; 1703 Nr. 45. 62 TAJ 1695 Nr. 33, 1697 Nr. 44, 1701 Nr. 4, 1703 Nr. 45. Zu Reiser s. A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S.118. <?page no="142"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 143 Deferegger. Und leise beschleicht den Leser der Quellen bei den Namen der Schorer, Vogel, Gullmann, Holeisen, 63 Winkler, Schifflin und Hösslin eine vage Ahnung von einem breiten Vorfeld pietistischer Frömmigkeit, die mit der Gründung des Augsburger Armenhauses 1702 öffentlich wurde, der Sache nach sich aber bereits in derartigen Patenschaften deutlich manifestiert. Schon 1977 hatte Dietrich Blaufuß für die Zeit vor 1700 vorsichtig konstatiert: »Somit schält sich ein ›Augsburger Reformkreis‹ heraus«. 64 Er erwähnt zwar, dass 1685 »manche Exulanten eine neue Heimat in Augsburg gefunden hatten«, 65 jedoch ohne die Rolle dieses Reformkreises dabei in Erwägung zu ziehen. Blaufuß benennt als dessen Zentralfigur den weltläufigen und polyglotten Gewürzhändler, Ehegerichtsassessor und Bürgermeister Marx (III.) Hueber (1629- 1677), der auf Anraten des Spener-Vertrauten Gottlieb Spizel sein Haus D 57 »für das erste in Augsburg stattfindende Collegium Pietatis im Spenerschen Sinn zur Verfügung stellte«. 66 Tatsächlich erwähnt der Barfüßer-Pfarrer Philipp Heinrich Weber in seinem ›Ehren-Gedächtnuß‹, dem ›Christlich-geführte[n] Lebens-Lauff‹, Huber sei ein sonders eyfferiger Liebhaber deß Göttlichen Wortes gewesen […] der unverfälschten und ungeänderten Augstburgischen Confession zugethan […] wie Er auch seine ordenliche Bet- und Singstunden zu Haus gehalten habe. 67 Dass er den seeligen Abschied/ eines grossen Gönners/ und um Beförderung göttlicher Ehre treu-beflissen gewesenen Christen betraure, bekundet - mit einem fast dreiseitigen Gedicht - kein Geringerer als der Frankfurter Senior Philipp Jakob Spener, 68 der Begründer des lutherischen Pietismus. Und auch Gottlieb Spizel selbst tröstet mit zwei Gedichtseiten in seinem eigenen Hertzens- Kummer die nächsten Anverwandten. 69 Huebers Witwe Anna Barbara, geb. Berkenmair, heiratete 1681 Johann Balthasar Gullmann (1637-1714), eine Eheschließung, die in diesem Kreis durchaus nicht allen willkommen war und zu Widerständen führte. 70 Bereits 1676 hatte die 63 Paten bei dem Taglöhner Urban Gren TAJ 1701 Nr. 30 sind Christian Holeisen, Münzmeister und Zechpfleger bei den Barfüßern, und Philipp Jacob Holeisen, Gold- und Silberscheider. Letzterer ist Vater von Gottfried Holeisen (1708-1758), Theologiestudium in Helmstädt und Halle bei Francke, Arbeit am Waisenhaus in Glaucha, 1738 Pestilenziar, 1743 Diakon bei den Barfüßern, 1757 dort Pfarrer. 64 D. B LAUFUSS , Reichsstadt und Pietismus (Anm. 53), S. 187. 65 D. B LAUFUSS , Reichsstadt und Pietismus (Anm. 53), S. 35. 66 D. B LAUFUSS , Reichsstadt und Pietismus (Anm. 53), S. 182; vgl. A NTON W ERNER , Augsburger Häusergeschichte, Ms., Augsburg hist. Verein 1977, S. 90. 67 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 539 (Marx Hueber), S. 22. 68 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 539 (Marx Hueber), S. 50-52. 69 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 539 (Marx Hueber), S. 54-55. 70 Freundlicher Hinweis auf Gullmanns autobiographische Aufzeichnungen: Memmorial für mich, Johann Balthasar Gullmann vonn Nürnberg, SuStBA, 8 o Cod Aug 72, von <?page no="143"?> A NDR EA S L INK 144 Tochter Anna Barbara Hueberin die Ehe mit dem Handelsherrn Jacob Schorer (1647-1719) geschlossen, einem Sohn des Johann Baptist Schorer (1611-1662). Dieser, ebenfalls Handelsherr und zeitweilig in Venedig lebend, auch theologisch (d. h. lateinisch) belesen, 71 wiederum hatte seinem Vetter Gottlieb Spizel das ausgiebige Studium der Theologie ermöglicht und war selbst mit dem Nürnberger Professor und Hauptprediger Johann Michael Dilherr befreundet und wie dieser mit den Schriften Arndts vertraut. 72 Gottlieb Spizel wurde zum bedeutendsten und gelehrsamsten Theologen unter den Vorbereitern des Pietismus in Augsburg. Zu diesem Familiennetzwerk gehört auch Benedikt (I.) Winkler auf Dölitz (1621-1688), dessen gleichnamiger Sohn 1671 ebenfalls eine Tochter des Marx Hueber heiratete. 73 Der aus einem ratsführenden Leipziger Geschlecht stammende Vater hatte nach der Eheschließung mit Maria Magdalena Peller die ›Handlung‹ nach Nürnberg, nach der mit Anna Maria von Stetten (1662) seinen Wohnsitz 1668 nach Augsburg verlegt. Über seine Frömmigkeitshaltung gibt die gedruckte Leichenpredigt des Augsburger Seniors Johann Jakob Müller Aufschluss. Müller selbst gilt nicht als ausdrücklicher Pietist, hätte aber aufgrund seiner Stellung gegen den ›Reformkreis‹ einschreiten können; 74 diese Leichenpredigt und ihre Terminologie zeigen aber, dass seine Haltung über bloße Duldung hinausgeht: In dem üblichen Christliche[n] Lebens-Lauff des Benedikt Winkler heißt es nämlich, Wie Er dann auch eine absonderliche Dancksagung zu GOtt, für solche erlangte Bekehrungs-Gnad abgefasset, und Zweiffels-ohne täglich wird gesprochen haben; Daß Er Ihn durch seine grosse Gnad zu solchem Erkantnus seiner selb gelangen lassen, alle solche grosse und schwere Sünden vergeben, und alle seine Gebrechen geheilet; und wie die Wort ferner lauten. Aber da liesse es unser seel. Herr Winckler bey sothanem mündlichen Danck nicht bewenden, sondern stattete auch den würcklichen ab. Es gab sich die Beschaffenheit seiner auffrichtigen Bekehrung von allem eitlen Sinn, durch die Früchte deß Christlichen und Gottseeligen Lebens zu erkennen, indem er sich […] seines Christenthums mit grossem Dr. Barbara Rajkay, Stadtbergen. Vor allem die Schorer und Winkler sperrten sich gegen diese Alliance. 71 Vgl. D IETER W ACKERBARTH , Alte Theologische Bibliothek der ev. luth. Gemeinde Venedig, Göttingen 1984, der ihm in seinem Anhang: Besitzervermerke und Widmungen, E 14, Nr. 14: Bellarmin, De scriptoribus ecclesiasticis liber unus, Köln 1657/ Cocus, Censura […] scriptorum […], Helmstädt 1655, und E 22, Nr. 69: Descartes, Meditationes de prima philisophia […], Amsterdam 1663, eindeutig zuordnet. Durch Überprüfung der identischen Einbände können weitere theologische Bücher dieser Bibliothek Schorer zugeordnet werden. 72 Vgl. A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S. 115-117. 73 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 1412 (Benedict Winckler); vgl. SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 539 (Marx Hueber), S. 20. 74 D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 180. <?page no="144"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 145 Ernst und Eiffer angenommen seine unermüdete Gut- und Wohlthätigkeit gegen allerhand Arme, Elende, Noth-und Mangel-leidende Menschen. 75 Das aufrichtige ›Bekehrungserlebnis‹ und das ›würckliche‹ Tatchristentum sind Kernwörter pietistischer Frömmigkeit. Und hätte es noch eines Beweises für die klare Frömmigkeitsrichtung Wincklers bedurft, so ist er schwarz auf weiß manifestiert in den ›Epicedia‹: Die Trauer- und Trostgedichte, die der Freundeskreis üblicherweise zu solchen Anlässen beisteuerte, umfassen nicht nur illustre Namen wie die der Leipziger Professoren Johann Benedict Carpzov und D. Valentin Alberti, des Brandenburgischen Kirchen- und Schulinspektors Christian Scriver und des Nürnberger Sebaldpredigers Conrad Feuerlein, 76 sondern werden angeführt von dem umfänglichsten der lateinischen Gedichte überhaupt aus der Feder von keinem anderen als Philipp Jakob Spener. 77 Die Freundschaft Speners galt auch der folgenden Generation der Wincklers, zum einen dem gleichnamigen Sohn. Als Augsburger Kaufherr tätig, pflegte er seine italienischen Kontakte, nicht zuletzt durch eine Korrespondenz mit dem Herzog von Florenz. Diesem Benedikt (II.) Winkler (1646-1698) widmete auch der Rothenburger Superintendent Johann Ludwig Hartmann, einer der süddeutschen Spener-Vertrauten, Ende der 1670er Jahre zwei seiner Schriften. 78 Zum anderen wird Benedikts von Spener sehr geschätzter Bruder, der Theologe Tobias Winkler, später zu einem der führenden Pietisten in Nürnberg. 79 Zu den bedeutenden Laien in dem ›Augsburger Reformkreis‹ ist weiter der aus Frankfurt gebürtige Silberjuwelier Gerhard Greiff (1642-1699) zu zählen. 80 Die Patenliste seines fünften Kindes Johannes nennt Bürgermeister Christoph Hentschel, Johann Balthasar Gullmann, den Schwiegervater seines späteren Juniorpartners Johann Balthasar Rauner, und Frau Jacobina Spitzlin, die Ehefrau von Gottlieb Spizel. 81 75 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 1412, S. 37f. 76 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 1412, S. 47, 50, 53. Johann Benedikt II. Carpzov (1639-1699) übte Kritik an der Leipziger Bewegung A. H. Franckes und des Pietismus, jedoch bei Würdigung Philipp Jacob Speners; Valentin Alberti (1635-1697) bemühte sich ebenso um die Belebung der Frömmigkeit wie Christian Scriver (1629-1693), der klassische lutherische Erbauungsschriftsteller; Conrad Feuerlein (1629-1704) veröffentlichte vorwiegend Predigtliteratur. 77 SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 1412, S. 45-46. 78 D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 185, vgl. S. 39, 41. 79 D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 175, 185; vgl. H. W EIGELT , Pietismus (Anm. 53), bes. S. 518, 520, 528. 80 H ANS -W OLFGANG K UHN , Gerhard Greiff (1642-1699) und der Augsburger Silberwarenhandel im späteren 17. Jahrhundert, in: ZHVS 78 (1984), S. 117-158. Vgl. D. B LAU - FUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 185. 81 TAA 25. Juni 1681, fol. 122r, 1681 Nr. 43. <?page no="145"?> A NDR EA S L INK 146 Tatsächlich waren Mitglieder dieses sehr lockeren Kreises für die Sache der Deferegger engagiert, sowohl - wie gesehen - im christlichen Patenamt als auch durch ratspolitische Initiativen. Die geheimen Ratsbücher 1684-1687 vermerken unter dem 30. Januar 1685: Auf Herren Benedict Wincklers et cons. Ansuchen umb wegen etlicher auß der Windisch Mattereÿ des Thals deferig Salzburgischen Gebiets anhero gekomener gewester Underthanen Kinder halber ein Testimonium veritatis ihrer freÿen und ehelichen geburtt medicante Juramento zuertheilen, würdet besagtem Wincklern und cons: hirmit angezeigt; werden sye die in dem Memorial angezogne Passport und bescheinigungen von ihrer hochFürstl. Obrigkeit in originali produciren, so sollen selbige auf gemeiner Statt Canzley vidimirt, die originalia zuruckhgegeben, und daraufhin ferner geschehen, was rechtens ist, was offenbar eine Woche später aufgrund der jetzt erst realistisch eingeschätzten Lage der Exulanten dahingehend modifiziert wurde, die betroffenen Deferegger im Bürgermeisteramt unter Eid zu befragen und in Angelegenheit der fraye Geburtsbrieff schriftlich beim Pflegamt in Windisch Matterey anzusuchen. 82 Die Antwort des Pflegers Wolff Adam Lasser vom 21. Mai wurde Anfang Juni beratschlagt und Benedict Winckler und Cons: zu Ihrer Nachricht communicirt. 83 Der raschen Initiative beim Rat folgen die zahlreichen und nachhaltigen Taten der Patenschaften. Auffällig war angesichts der Patronage-Patenschaften das fast völlige Zurücktreten von Defereggern unter den Paten. Entsprechend findet in diesem Zusammenhang eine Verstädterung der Vornamensgebung statt. Die traditionellen spezifischen Defereggernamen wie Blasius, Ruprecht, Simon, Urban, Veit oder Agnes, Brigitta, Gertraut, Ursula sind bis auf Agnes völlig verschwunden. 84 Bei den insgesamt 187 Taufen wurde ein Mädchen nach dem Vornamen der Mutter benannt, 42 erhielten den Namen einer, 30 den Namen zweier Patinnen; fünfmal stimmten der Vorname der Mutter, der Patin und des Täuflings überein. Bei den Knaben war der Vorname in acht Fällen mit dem des Vaters identisch, in 50 Fällen mit dem eines Paten, zwölfmal hatten beide Paten ihre Namen dem Kind gegeben, sechzehnmal 82 StadtA Augsburg, Geheime Ratsbücher MR 7, S. 105, vgl. S. 109f. Das erwähnte Memorial (mit den Namen der Consorten) ist leider nicht erhalten. 83 StadtAAugsburg, Geheime Ratsbücher MR 7, Sitzungen vom 2. und 5. Juni, S. 179f, 181; fast zeitgleich, am 7. Juni werden noch zwischen Philipp Jacob Millern und denen von Sattleren wegen eines aus der Windisch Mattereÿ des Thals Deferigen anhero gekommenen Knabens gewechselte Schrifften aktenkundig (S. 182). Dann schweigen die Geheimen Ratsbücher von den Defereggern. - Philipp Jakob Miller ist Zechpfleger bei Heilig Kreuz. Dort amtiert Pfarrer Gustav-Adolph Jung. 84 Der Soldat Christoph Diener und Christina Oßmeirin haben zur Taufe ihrer Tochter auch ausnahmsweise zwei Deferegger von drei Paten: Urban Grün und Gertraut Oberwalterin; TAJ 1700 Nr. 29. Ein letzter Simon ist nach dem Augsburger (! ) Paten benannt; TAG 1700 Nr. 6. <?page no="146"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 147 ein Pate und der Vater. 23 ungeklärte Nachbenennungen machen 12,33 % aus. Die Nachbenennung nach den Paten mit 134 klaren Fällen (71,62 %) - 21-mal waren dazu der Name von Pate und Elternteil identisch (11,23 %) - überwog die nach den Eltern mit sieben klaren Fällen (gerade noch 4,82 %) in so erheblichem Maße, dass man die zahlreichen Sabinas, Euphrosinas, Reginas, Sabina Reginas, Sibyllas oder Maria Felicitas’ als lebendigen Beweis des Integrationswillens ihrer Eltern ansehen mag. 85 Tabelle 1: Nachbenennungen der Deferegger Kinder (insgesamt 187 Taufen) Mädchen nach Knaben nach Kinder insgesamt nach Mutter 1 Vater 8 den Paten 71,62 % 1. Patin 42 1. Pate 50 ungeklärt 12,33 % 1.+2. Patin 30 1. + 2. Pate 12 Pate + Elternteil 11,23 % Patin + Mutter 5 Pate + Vater 16 Eltern 4,82 % Zweifellos dokumentieren die Tauf-Patronagen der Augsburger Oberschicht eine Haltung der Solidarität mit den verfolgten Glaubensbrüdern, die - in ihrem beispielgebenden Charakter den hochrangigen Standespersonen sicherlich bewusst - zugleich die Integrationsbereitschaft der Augsburger Gesellschaft symbolisiert. Sie wurde gespeist aus einer kollektiven Identität des Augsburger Protestantismus als einer in vielen Konflikten gestählten ›streitenden Kirche‹, die sich aus ihren geschichtlichen Erfahrungen vornehmlich im Dreißigjährigen Krieg ableitete, den sie als ›Trangsaalszeit‹ erlebte. Bis heute fortbestehender Erinnerungsort ist dafür das Augsburger Friedensfest. Eine besondere Rolle spielten innerhalb der Augsburger Oberschicht die Mitglieder des frühpietistischen ›Reformkreises‹ um Marx (III.) Hueber, so wenig dieser auch fest institutionalisierte Formen angenommen hat, bzw. ihre meist untereinander verwandten und verschwägerten Nachkommen. So konnte die ausgeprägt pietistische Auffassung der Liebeswerke im 18. Jahrhundert mühelos anknüpfen an längst etablierte Haltungen und Verhaltensweisen. Die ›Gutthätigkeit‹ hatte Tradition: Dann je nicht bald ein Exulant, ein dürfftiger Student, und sonst ein Armer allhero kommen, der nicht an seiner Thür angeklopfft, und etwas empfangen hätte, rühmte man Johann 85 Sabina: TAB 1692 Nr. 113, 1704 Nr. 71; TAU 1716 Nr. 26; Euphrosina: TAB 1710 Nr. 61, 1744 Nr. 97; Regina: TAU 1702 Nr. 37, 1708 Nr. 10, 1710 Nr. 58; TAB 1736 Nr. 45, 1747 Nr. 75; Sabina Regina: TAU 1712 Nr. 22, TAB 1756 Nr. 63; Sibylla: TAB 1702 Nr. 108, TAU 1709 Nr. 8; Maria Felicitas: TAG 1714 Nr. 6. <?page no="147"?> A NDR EA S L INK 148 Baptist Schorer nach. 86 Die Kontinuität zeigte sich auch im Engagement mancher Familien über Generationen hinweg. Hatten, wie eingangs erwähnt, Andreas und Anna Meißgeyr Patenschaften bei dem Deferegger Kürschnerehepaar Christian Blasing und Catharina Rietmairin übernommen, so stellten die Nachkommen den ›Meyßgeurischen Garten‹ 1732 für die Salzburger Exulanten zur Verfügung. 87 Betrachtet man das Patenwesen längerfristig diachron, so ergibt sich ein durchaus bemerkenswerter Befund. Der Brauch, hochrangige Standespersonen um Patenschaften zu bitten, war ja in der besseren Augsburger Gesellschaft, also unter den ›Stubenfähigen‹, gang und gäbe. Auch viele der Taufen bei Exulantenfamilien erfolgten im Beisein von mindestens einer, zwei oder gar drei Standespersonen. Genau betrachtet zeigt sich dabei jedoch eine Entwicklung, bei der dieser hochrangige Anteil unter den Paten zurückgeht. Tabelle 2: Patenwahl bei Taufen der Deferegger Kinder Zeitraum 3 Standespersonen 2 Standespersonen 1 Standesperson nur bürgerlich Gesamtzahl der Taufen 1660-1669 17,7 % 47,0 % 11,8 % 23,5 % 17 1690-1700 13,6 % 38,7 % 18,2 % 29,5 % 44 1732-1741 13,0 % 30,5 % 26,0 % 30,5 % 46 1742-1751 8,2 % 25,0 % 26,0 % 39,7 % 68 1752-1761 16,2 % 16,2 % 23,5 % 44,1 % 68 In den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts waren - bei insgesamt nur 17 Taufen unter den Lendlern als Vorläufern der Deferegger - drei Standespersonen dreimal als Paten vertreten, zwei Standespersonen achtmal, eine Standesperson zweimal, keine Standesperson viermal. In Prozent ausgedrückt 17,7 % : 47 % : 11,8 % : 23,5 %. In der 90er Jahren ist das Verhältnis: 13,6 % : 38,7 % : 18,2 % : 29,5 % (bei 44 Taufen). Bei den Dekaden nach dem Eintreffen der Salzburger Emigranten ergibt sich folgendes Ergebnis: 1. Dekade (1732-1741): 13 % : 30,5 % : 26 % : 30,5 % (bei 46 Taufen); 2. Dekade (1742-1751): 8,2 % : 25 % : 26 % : 39,7 % (bei 68 Taufen); 86 SuStBA, 4 o Aug Leichenpredigten 302 (Joh. Bapt. Schorer), Ehrengedächtnuß und Lebens-Lauff; vgl. SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 539 (Marx Huber), S. 22: was Er so wohl Fremden, sonderlich vertribnen, als hiesigen Armen und dürfftigen Leuten, für Allmosen gegeben. 87 J OHANN W EIDNER , Zwey Haupt = Eigenschafften der Christl. Kirche Aus Psalm XCIII. v. 5. In einer ausserordentlichen Rede an die emigrirende Saltzburger An. 1732. d. 12. Aug. In der Kirche zu St. Anna gehalten, Augsburg 1732, Vorrede, o. p. (S. 12, 14). <?page no="148"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 149 3. Dekade (1752-1761): 16,2 % : 16,2 % : 23,5 % : 44,1 % (bei 68 Taufen). Während die wenigen Taufen mit jeweils drei Standespersonen geringfügig schwankten, nahmen die mit zwei Standespersonen kontinuierlich im Lauf der Jahrzehnte ab, die mit einer Standesperson nahmen demgegenüber zunächst zu, um dann auch im 18. Jahrhundert leicht zu schwinden. Dies bedeutet vor allem umgekehrt, dass die rein bürgerlichen Taufen über den gesamten Zeitraum sich fast verdoppelten von 23,5 % auf 44,1 % (jeweils ablesbar an der letzten Verhältniszahl). Dies heißt nichts anderes, als dass die Nachkommen der Exulanten sich von den Patronatspatenschaften im Laufe der Zeit emanzipierten zugunsten von Paten aus ihrem standesgemäß, nicht mehr lediglich ›bescheidenen‹, sondern bürgerlich ›ehrbaren‹ Umfeld. Die soziale ›Anschubfinanzierung‹ durch die Tauf-Patronagen hat sich sozusagen ›rentiert‹: Die diachrone Betrachtung ist ein klares Indiz für die Integration der Glaubensflüchtlinge. 6. Sozialstatus und Berufe Die Integration zeigt sich auch auf der sozialen und beruflichen Ebene. Betrachtet man die Herkunft der Exulanten, so war die wirtschaftliche Lage im Defereggental geprägt durch das Freistiftrecht, 88 also die jährliche Neuvergabe der Güter, das kein freies Eigen- und Erbbaurecht an Grund und Boden ermöglichte. Die Bewirtschaftungsgrößen waren durch Güterzersplitterung auf Bruchteile von Höfen (Gut), Schwaigen oder ›Söllgüteln‹ 89 geschrumpft. Auch Wohlhabendere verfügten oft nur über Streubesitz: Insgesamt 82 Auswanderer verkauften vier vollständige Güter und 25 Bruchteile davon, zwei Schwaigen und 47 Bruchteile, fünf ganze und drei halbe Gütl und acht ganze, ein halbes und ein drittel Söllhäusl mit Werten zwischen 90 fl. für ein ›Häusl mit Garten‹ und 2.204 fl. für einen Gemeinschaftsbesitz dreier Brüder Tegischer: ¼ Schwaig mit Behausung, ½ Schwaig, Schwaig mit Behausung, Gut und ein kleines Gütl; die Oberwalder-Brüder erzielten sogar 2.800 fl., von denen aber 560 fl. zunächst bis 1691 einbehalten wurden. 90 Im Durchschnitt betrug der Verkaufserlös 671 fl., die Gesamtsumme machte also mehr als 55.000 fl. aus. Freilich blieben davon beträchtliche Vermögenswerte zum Lebensunterhalt der zurückbehaltenen Kinder, auch zur Abzahlung der oft hohen Verschuldung der Höfe im Land. Erst ab 1691 gelangten 21.561 fl. zur Auszahlung 88 Vgl. A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 9-11. 89 Hof bzw. Gut bezeichnet ein Anwesen mit Feldbau und evtl. Vieh- und Waldwirtschaft, Schwaige ein (hier meist hochgelegenes) Anwesen mit reiner Viehwirtschaft, Sölde ein kleines Bauerngut, oft nur eine Behausung mit Garten. 90 A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 127-132, Nr. 45, 68, 50. Dort ist auch das folgende Zahlenmaterial belegt. <?page no="149"?> A NDR EA S L INK 150 an 116 Exulanten und ihre Nachkommen bzw. deren Bevollmächtigte, durchschnittlich 182 fl. Knapp ein Viertel der ›Ausgeschafften‹ gehörte also zu den Besitzenden. Die Gütler unter ihnen waren aber meist auf Zuverdienste angewiesen. Befragt nach dem bisherigen Erwerb, antworteten den Württembergischen Behörden beispielsweise der 50-jährige Christian Bergler mit Handarbeit, nebenbei Kramer, der 36jährige Jacob Teyscher mit Feldbau und ander Handgeschäfte, der 42-jährige Jacob Mellitzer mit Handarbeit, der 26-jährige Leonhard Schmidsreuter mit Bauernarbeit, Holzhauen, der 34-jährige Martin Aigner mit gedient und Taglöhner, und der 22-jährige Christian Brucker mit Weben, Holzhauen, Bauernwerk. 91 Jugendliche, jüngere Frauen und auch Alte konnten Vieh hüten. Neben der Landwirtschaft bot auch der Bergbau im Tal Arbeit, vornehmlich beim Holzeinschlag für das Grubenholz. Hochqualifizierte wie der 37-jährige Valentin Mühlburger als Kupferschmelzmeister bildeten die Ausnahme; 92 vielleicht ist die spätere Affinität der Deferegger für das Zainer- und Goldschlägerhandwerk jedoch in der Erzschmelze grundgelegt, die in Lienz betrieben wurde. Die Stuttgarter Befragungsakten belegen unter 176 Personen, von den 16 zu jung, acht zu alt und zwei zu krank zur Berufsarbeit waren, als Berufe zwei Wirte, einen Müller und Bäcker, einen Sägmüller, neun Weber, vier Spielleute (Berufsmusiker), zwei Schuhmacher, drei Kramer und einen Branntweinhändler sowie den erwähnten Kupferschmelzmeister. Also waren 80 % der ins Herzogtum Württemberg gelangten Deferegger in der Landwirtschaft tätig. Allerdings nannten nur 15 Personen explizit einen eigenen Hof und 17 Personen ein ›Gütl‹ zum Vollerwerb ihr eigen (21 %). Die anderen waren in Diensten bzw. Nebenerwerbslandwirte. Bei den Defereggern in Augsburg sind bis auf die Lautenmacher Georg Plassing und Simon Rainer und den ›Seylmesser‹ Ehenspacher, 93 der 1691 den Beisitz erlangte, in den 29 Beisitzaufnahmen der ersten beiden Dekaden nur 14 Tagwerker oder keinerlei Berufsangaben genannt. 94 Waren die Deferegger Zuwanderer von ihrer ländlichen Herkunft und geringen beruflichen Qualifikation her für den städtischen Arbeitsmarkt bis auf wenige Ausnahmen noch genötigt, sich als Tagwerker zu verdingen, so änderte sich ihre Berufssituation mit der nächsten Generation. Aus armen Exulanten wurden Handwerker. Die ›bescheidenen‹ Väter schickten ihre Söhne zu ›ehrbaren‹ und ›kunst- 91 HStASt, A 63 Religions- und Kirchensachen Bü 101, Gebundene Befragungslisten vom 15. Juni bis August 1685, Nr. 5, 13, 19, 21, 133, 152. 92 HStASt, A 63 Religions- und Kirchensachen Bü 101, Befragungslisten, Nr. 164. 93 Plassing TRU 1692 Nr. 1, Rainer TRJ 1699 Nr. 3. 94 Vgl. A NDREAS L INK , Lendler, Deferegger, Salzburger: arme Exulanten in Augsburg, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 35-83, hier 68. <?page no="150"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 151 reichen‹ Meistern in die Lehre. Jetzt finden sich Maurer und Zimmerleute, Goldschlager, Buchdrucker, Kürschner und Färber, 95 also eine dem städtischen Umfeld angepasste berufliche Differenzierung der zweiten Generation. Sowohl bei den Goldschlägern als auch bei den Schustern und Bauberufen konnten sie sogar kleine Netzwerke errichten, die innerhalb des Zunftwesens auch späteren Generationen hilfreich sein konnten. 96 Bemerkenswerter Weise sind im Zuge der Vermögensrestitution über die Verfachbücher des Pfleggerichts Windisch Matrei mit Silvester Jaggler, Franz Niederwalder, Christian, Joseph und Rupprecht Stemberger, Pankraz und Silvester Gasser sieben Defereggerfamilien auch in der Goldschlägerstadt Schwabach nachweisbar. 97 Dabei verweist die berufliche oder durch Heirat bedingte Migration auf eine zunächst unerwartete Mobilität der Landbewohner. Aber nicht nur die Spielleute und Hausierer aus dem Tal waren viel unterwegs, auch die ›Handgeschäfte‹ und das ›Bauernwerk‹ erforderten zumindest saisonale Mobilität. Eine Sonderstellung nahmen die auch überregional herausragenden Architekten und Baumeister der Schneidmannsippe und abgeschwächt Zimmerleute wie die Leipold oder Mayr ein, 98 die in zweiter Generation in die Reichsstadt zuwanderten und später übrigens allesamt auch Zechpfleger der Augsburger Kirchen stellten, während einfachere Deferegger es aber durchaus zum Vorsinger oder Mesner brachten. 99 Wirtschaftlich und damit hinsichtlich ihrer sozialen Platzierung hatten sich die ›Augsburger‹ Deferegger ab der zweiten, städtisch ausgebildeten Generation erfolgreich im Handwerkerstand etablieren können. Auch bei Einheiraten kam es zunehmend zu ›bürgerlichen‹ Ehen, da und dort zu einem Aufstieg in 95 Vgl. A. L INK , Lendler (Anm. 94), S. 69f.; A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), belegt Georg Hopfgartner, Färber in Augsburg (S. 134), sowie Christian Hopfgartner als Goldschläger (S. 135). 96 Vgl. A. L INK , Lendler (Anm. 94), S. 64, 66-72. 97 A. D ISSERTORI , Auswanderung (Anm. 1), S. 132-134. Mit Johann Christoph Meelführer, von 1673-1708 Dekan in Schwabach, ist ein wichtiger Korrespondenzpartner Speners im kirchenleitenden Amt. 98 Der Maurer Balthasar Schneidmann, der Vater des Baumeisters Andreas Schneidmann, der St. Anna 1747/ 48 renovierte, ist am 25. Juni 1727 auf dem Oberen Friedhof, verstorben im Alter von 56 Jahren, beerdigt worden, laut TOT 1727 mit dem Beisatz ›ein Deferecker‹. Die nach der Emigration zunächst in Regensburg wohnhafte Familie Schneidmann wird in der Literatur meist als ›Salzburger‹ Emigrantenfamilie bezeichnet, was der Augsburger Eintrag jedoch eindeutig präzisiert. Die zahlreichen Eheverbindungen und Patenschaften der Schneidmannsippe bestätigen die Herkunftsangabe. 99 Johann Conrad Eggel (1735-1772), Vorsinger bei Heilig Kreuz und den Barfüßern; Johann David Ludwig, Kaminkehrer (1746-1820), Vorsinger bei Heilig Kreuz; Johann Philipp Leybold (Leupold), Zimmer- und Werkmeister (gest. 13.6.1787), Kirchenpfleger Zu den Barfüßern; Christian Mayr, Zimmermeister (1725-1793), Zechpfleger bei St. Jakob. <?page no="151"?> A NDR EA S L INK 152 renommierte Handwerkerfamilien. Wenn es auch - abgesehen von Andreas Schneidmann - keine spektakulären Aufsteigerkarrieren zu vermelden gibt, so haben sich doch die Deferegger insgesamt gut integriert. 7. Die Glaubensflüchtlinge im ›Augspurgischen Zion‹: Integration oder Absorption? Auch die langfristigen Veränderungen im Patenwesen zeigen die Integrationsbereitschaft der Zuwanderer. Bürgerfleiß und Sittsamkeit kennzeichneten offensichtlich die Exulanten - nicht zufällig und lediglich rein formelhaft werden die Bräute aus den Flüchtlingskreisen als ›tugendsam‹, die Männer bald als ›ehrbar‹ bezeichnet. So notiert Christian Jakob Wagenseil noch 150 Jahre später: »Mit dem Jahr 1685 begannen die ersten Züge der auswandernden Salzburger […]. Mehrere dieser Ausgewanderten kamen auch nach Augsburg, ihre Glaubensbrüder nahmen sie bereitwillig auf und stellten sie als Dienstleute an, auch betrugen sie sich dergestalt treu und redlich, dass man keine Ursache hatte, über sie unzufrieden zu seyn«. 100 In einer Predigt betonte der Ulmer Superintendent D. Elias Veiel (1635-1706) die für die Evangelischen im Reich vorbildliche, ohne Prediger und Lehrer bewahrte Glaubensfestigkeit der Deferegger: Dergleichen Glaube bey vielen, die in dem evangelischen Israel das grosse Licht gehabt, nicht möge gefunden werden. 101 Der allgemein beliebte Münsterprediger, Professor, Direktor des Gymnasiums und der Bibliothek hatte sich persönlich in Geleitschreiben für die Deferegger auf ihrem Weg ins Württembergische eingesetzt und wohl auch ihre Unterbringung und Verpflegung auf der Ulmer Zwischenstation veranlasst. 102 Sein Urteil über die Rechtgläubigkeit der Exulanten beförderte gewiss auch deren Ansiedlung im Ulmer Land. Ziemlich in Vergessenheit geraten ist jedoch die überragende Rolle, die der Augsburger M. Gustav-Adolph Jung (1632-1689), seit 1684 Pfarrer bei Heilig Kreuz, für die unmittelbare Linderung der Not der Auswanderer, für ihre Ansiedlung in geeigneten Gebieten, für die reichsrechtliche Vertretung ihrer Rechtsansprüche und für das Zustandekommen der dafür nötigen politischen Allianzen spielte. Bereits am 14. Oktober 1684 - zehn Wochen vor (! ) dem Ausweisungsbeschluss - wandte er sich in einem förmlichen Schreiben an den Württembergischen Oberhofprediger, Konsistorialrat, Land- und Stiftprobst D. Christoph Wölflin in Stuttgart (1623-1688), um ihn bereits im Vorfeld der zu erwartenden 100 J ACOB C HR . W AGENSEIL , Versuch einer Geschichte der Stadt Augsburg 3, Augsburg 1821, S. 230f. 101 Zitiert nach R. L EEB , Wahrnehmung (Anm. 55), S. 508. 102 HStASt, A 63 Bü 101, zwei Schreiben vom 23. Mai 1685, ein Schreiben vom 15. Juni 1685. <?page no="152"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 153 Abb. 1: Anonym, Portrait Gustav-Adolph Jung, Kupferstich bei Joseph Friedrich Rein 1749. P. 15,8 x 10,5 cm. <?page no="153"?> A NDR EA S L INK 154 Exulantenwelle zu informieren und deren Ansiedlungsmöglichkeit im Herzogtum zu empfehlen. Aus diesem Brief gehen sowohl eine vorausgehende persönliche Bekanntschaft mit dem wichtigsten Theologen am Stuttgarter Hof hervor wie auch ein offizieller Auftrag des Augsburger evangelischen Ratsteils an Jung, sich der Defferegger Sache anzunehmen, die durch die Abgesandten Franz Oßmeyer und Martin Prümstetter in Augsburg bereits im April bekannt geworden war: Daß Ich mich unterstehe Euer Hochwürden und Magnificentz mit gegen wertigen Zeilen gantzdienstlich aufzuwarten, hatt mir nicht sowol Deroselben gegen meine Wenigkeit hiebevor hochgünstig Bezeügte gantz unverdiente Benevolenz zuversichtlich Erlauben und gestatten; sondern auch Nobilissim(us) noster Magistratus Aug. Confessionis Großg(ünstig) auftragen lassen; Ja ipsa causa pietatis befehlen wollen. 103 Aus der in Stuttgart erhaltenen Korrespondenz geht hervor, dass Gustav-Adolph Jung nicht nur mit dem herzoglichen Hof und dessen Ministerium in Verbindung stand, sondern ebenso eifrig den Ulmer Superintendenten Elias Veiel auf dem Laufenden hielt. 104 Seine Intervention hatte speziell in Stuttgart Erfolg: 105 Unsers gnädigsten Fürsten und Herren Administratoriÿ fr. Hht. Ist Untthst referirt und vorgetragen worden was an dero Consitorial Rath und Probsten D. Christophorum Wölfflin Von M. Gustav Adolph Jung Pfarrer zum H. Creutz in Augspurg, wegen derer Bedrangten, und der Religion halber angefochten Ertzbischoffl. Saltzburgl. Unterthanen im Teferegger Thal in zwey Schreiben, und beygelegter Relation angebracht worden. Wann dann höchstgedacht J: Frl: Hlt. Mit diesen bedrangten Leuthen Geistliches mitleiden tragen Alß wol von deroselben Consitorial räthe, hiebeykommende [unleserlich: Anfragen? , A. L.] in behöriger deliberation stillen, in dem fürstlichen Oberrath darauß referieren, und Ihr Unterth[änigs]tes Guettachten hierüber zum fürstl. Geheimen Rath gelangen lassen. Decretum Stuttgart 12. Febl. 1685. Zur positiven Entscheidung und dem schließlichen offizellen Aufnahmeerlass von Herzog Heinrich Karl zu Württemberg vom 26. Juni 1685 106 mag neben der betonten, nun auch im Lande erwiesenen Rechtgläubigkeit beigetragen haben, was Jung in der über Elias Veiel aus Ulm nach Stuttgart gelangten Relation (Bericht) vom 103 HStASt, A 63 Bü 101, eigenhändiges Schreiben Jungs vom 14./ 24. Okt. 1684. Verständlicherweise findet sich weder in den Geheimen Ratsprotokollen der Stadt Augsburg noch im ›Extract‹ der Signaturen des evangelischen Ratsteils ein Hinweis auf den geheimdiplomatischen Auftrag an Gustav-Adolph Jung. 104 HStASt, A 63 Bü 101, Jungs Relation an Elias Veiel vom 9. Febr. 1685 und sein Schreiben vom 11. März 1685, in dem er bereits auf das Herzogtum Württemberg als sicheres Aufnahmeland verweist. 105 HStASt, A 63 Bü 101. 106 HStASt, A 63 Bü 101, Handschriftlicher Entwurf des Erlasses mit Korrekturen vom 25. Juni 1685. <?page no="154"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 155 9. Februar 1685 bereits über die vorsondierten reichspolitischen Allianzen andeuten konnte: 107 […] wie dann zu solchem beÿtrag Hohenloh Neuenstein und Herr Feldmarschall Herr Graff Wolfgang Julius von Hohenloh, auch die Statt Augspurg Evangel Theils und die Statt Ulm, auch Nüremberg gantz geneigt. Und Es sich schon an Ihr Churfürstl Durchl. zu Sachsen welche zu allen dieser Leute die allhier zwar incognito sich befunden aber von hierauß suffician [Wasserfleck: ter ei] ne intimationem nacher dresden Gottlob gegeben; vermittelst eines bereits abgeschickhten unterthänigsten Memorialß dieser armen Leüte, zu gutem effect hofentlich in Regensburg zeigen werdt. Neben der erfolgreichen Geheimdiplomatie widmete sich Jung zugleich den Exulanten selber, an deren Vertreter in Stuttgart er schriftliche Empfehlungen für ein erfolgreiches politisches Vorgehen, für Sammlungen zu einer Beysteur und für ein nachtrukhliches Attestat ihrer Zugehörigkeit zur Augsburger Confession seitens der kirchlichen Obrigkeit richtete. 108 Seine Fürsorge ging so weit ins Detail, dass sich ein bezeichnender winziger Zettel erhalten hat: Die arme vertribene Saltzburger Leüte/ konnen sich in Stuttgart auf der hochfürstl. Cantzleÿ beÿ Tit. Herrn friderich Antonio Rößler Consist: Secretario anmelden/ M. Jung Pfarrer. 109 107 HStASt, A 63 Bü 101, Relation Jungs vom 9. Febr. 1685. 108 HStASt, A 63 Bü 101, handschriftliches Schreiben Jungs Denen sich in der Hochfürstlichen Haupt- und Residentz Statt Stuttgart aufhaltenden deß evangelii halben auß dem Ertzbistum Saltzburg vertriebenen Exulanten meinen geliebten Freünden vom 12. Juni 1685. 109 HStASt, A 63 Bü 101, Beilagenzettel ca 4,5 x 7 cm. Siehe Abbildung. Abb. 2: Handschriftlicher Zettel von Pfarrer Gustav- Adolph Jung vom 12. Juni 1685; 4,5 x 7 cm. <?page no="155"?> A NDR EA S L INK 156 Zweifellos war der Augsburger Pfarrer von Heilig Kreuz treibender Motor für die Aufnahme der Deferegger. Ihre Exulantentragödie, der winterliche Marsch ins Ungewisse, das erzwungene Zurücklassen ihrer Kinder und die materielle Enteignung (bis 1691) waren ihm eine Sache des Glaubens selbst, die nicht nur unmittelbare Soforthilfe erforderte, sondern weitreichende juristische und politische Aktivitäten auslöste. Jung war dafür in doppelter Weise prädestiniert: Zum einen entstammte er selbst einer Exulantenfamilie, war doch sein Vater der Ehren Veste, u. fürnehme Herr Michael Jung, auß der obern Pfaltz, Burger und Handelsmann alhier Ein Standhaffter bekenner der Einmal Erkannten Evangelischen Warheit biß in den Todt, 110 dessen Heimat nach dem böhmischen Abenteuer des Kurpfälzers Friedrich V. in die Hand des bayerischen Herzogs Maximilian I. gelangt war. Nach dessen Religionsmandat von 1628 mussten alle Untertanen den katholischen Glauben annehmen oder auswandern. Michael Jung aus Neuburg entschied sich für Letzteres und kam nach Augsburg. Seinem Sohn gab er in der Taufe am 1. Mai 1635 in bekennerhafter Deutlichkeit den Namen Gustav-Adolph. 111 Zum anderen hatte dieser Gustav- Adolph Jung schon im Studium Kontakte nach Württemberg geknüpft, wo er ab 1650 die Universität Tübingen besuchte, und über seine erste Dienststelle 1656 als Feldprediger bei Feldmarschall Graf Wolfgang Julius von Hohenlohe-Neuenstein (1622-1698) sich dessen Vertrauen und Zugang zu Offiziers- und Adelskreisen erworben. Nach Pfarrämtern im Hohenlohischen, wo er aber Kontakt nach Augsburg hielt, 112 wurde er 1682 Diakon bei St. Ulrich und im Februar 1684 Pfarrer in Heilig Kreuz. Seine Korrespondenzen belegen Vertrautheit mit den Abläufen von Verwaltungsentscheidungen, für die er rechtliche, wirtschaftliche und politische Argumentationen vorzulegen imstande war. Erwähnenswert für die Vernetzung der maßgeblichen Theologen untereinander und damit auch des Gustav-Adolph Jung ist die Tatsache, dass sie alle zum 110 DekA Augsburg, B 2 15b, Pfarrerbuch HS, Bd. 2, Nr. 157, S. 214, nach der Leichenpredigt von Johann Jacob Müller für Jung, SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 544, S. 17. 111 TAB 1632 Nr. 35, S. 63: Es sind aber von der Zeit [Beginn der Schwedenzeit 10. Apr. 1632] an bis fast mitten im Junium von dem Herrn Feldprediger folgende Kind(er) getauft, deren Tag zwar daran sie getauft word(en) ungewis, aber in den aufgehebten Taufzettlen haben sich die Namen der Eltern, Kinder und Gevattern folgend(er) massen befunden: […] S. 65: Kind: Adolphus, Eltern: Michael Jung/ Sabina, Paten: Adam Rauch, Anna Knöllin, Catharina Obermairin. Das in der Beurkundung fehlende ›Gustav‹ hat der spätere Pfarrer stets eigenhändig mit Bindestrich vor ›Adolph‹ gesetzt, der Tauftag ist schon bei Rein 1749 mit dem 1. Mai benannt. Auch die Leichenpredigt von Johann Jacob Müller auf Jung bestätigt diese Angaben; s. SuStBA, 2 o Aug Leichenpredigten 544, S. 17. 112 Als Beleg mag sein Sonett-Beitrag für die »Christmässige Bejammerung Über den traurigsten doch seligsten Todesfall Deß Edlen und Vesten Herren Joh: Baptistæ Schorers […]«, die Epicedia zur Leichenpredigt im Jahr 1662, dienen; SuStBA, 4 o Leichenpredigten 302 (Joh. Bapt. Schorer). <?page no="156"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 157 Korrespondentennetz des Frankfurter Theologen Philipp Jacob Spener, dem Verfasser der ›Pia desideria‹, gehörten. Dies erstreckt sich bis zu den Verbindungen des Ulmers Elias Veiel nach Schwabach zu Johann Christoph Meelführer, auch wenn dieser die spätere Entwicklung Speners nicht mitvollzog. 113 Gustav-Adolph Jung wird in Briefen an Gottlieb Spizel von Spener 1686 eigens gegrüßt wie auch Dnn. Rev. Collegae tui Müllerus, Laubius, Jungius, et si qui alij me amant, 114 deren Briefen gegenüber er 1687 noch Antwort schulde. Jung, der dezidiert, aber nicht ohne Kritikpunkte zu den ›Pia desideria‹ Stellung genommen hatte, 115 konnte wohl auch diese Verbindungen für die Sache der Deferegger einsetzen. Seine tragende Rolle wird noch im Augsburger Pfarrerbuch bei Friedrich Rein 1749 gewürdigt: Er hat »diese Aemter mit grossem Seegen verwaltet, und sich dabey der damaligen Emigranten aus dem Tefferegger-Thal vor andern angenommen«. 116 Seine Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass er der erste Geistliche war, der in der neu erbauten Gruft unter der Sakristei von Heilig Kreuz am 1. September 1689 bestattet wurde. Freilich ist auch in seiner eigenen Gemeinde die Erinnerung an den Pfarrer der Deferegger verblasst. Im ›christlichen Lebenslauf‹ von Jungs Leichenpredigt 1689 ist davon keine Rede, vielleicht deshalb, weil die rechtlichen Anlegenheiten der Deferegger bis zum kaiserlichen Befehl von 1691 noch ungeregelt, seine Bemühungen also noch nicht von Erfolg gekrönt waren. Die Pfarrbeschreibung von 1914 erwähnt diese außergewöhnliche Leistung Jungs mit keinem Wort. 117 Dieses Vergessen teilt M. Gustav-Adolph Jung mit seinen Schützlingen: Während die Hugenotten dem ›Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern‹ sieben Seiten wert sind 118 und auch die Exulanten aus der Oberpfalz 113 D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 50; erinnert sei an die sieben Defereggerfamilien in Schwabach. 114 Zitiert nach D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 180, Anm. 56. Gemeint sind Senior Johann Jacob Müller (1639-1706) und Georg Laub (1626-1686); vgl. zu Letzterem A. L INK , Augspurgisches Jerusalem (Anm. 31), S. 145-148. - Gegenüber dem Urteil Blaufußens, dass Müller wohl nicht direkt zu den Theologen gehörte, die dem Pietismus näher standen, deutet etwa die Leichenpredigt für Benedict Winckler doch darauf hin: Speners Einschätzung ist wohl kein Wunschdenken, sondern realistisch. 115 D. B LAUFUSS , Reichsstadt (Anm. 53), S. 140, Anm. 5, und S. 181. 116 J OSEPH F. R EIN , Das gesammte Augspurgische Ministerium in Bildern und Schrifften von den ersten Jahren der Reformation Lutheri bis auf Anno 1748, Augsburg 1749, Nr. 157. 117 Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Heilig Kreuz Augsburg Nr. 49, Senior Adolf Schott, Pfarrer bei Heilig Kreuz, Allgemeine Pfarrbeschreibung der Pfarrei Heilig Kreuz 1914, S. 161. 118 R OLF E NDRES , Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Alten Reiches, in: HBEKB I (Anm. 53), S. 475-490, hier 484-490. <?page no="157"?> A NDR EA S L INK 158 Erwähnung finden, 119 werden die Deferegger übergangen. Dabei haben sie durchaus einen Beitrag zur Kirchengeschichte Bayerns geleistet. Angeregt durch die Glaubensfestigkeit und Charakterstärke der Exulanten entwickelte sich auf der Seite der Augsburger Protestanten eine Unterstützermentalität, die bereits weit vor dem Auftreten von Samuel Urlsperger gemeindliche, auch bürgerliche Kreise im Sinne einer pietistischen Frömmigkeit zu nachhaltiger Liebestätigkeit motivierte und als eine frömmigkeitsgeschichtliche Vorform des im 19. Jahrhundert sich bildenden diakonischen Engagements der Kirche verstanden werden kann, 120 das heute die öffentliche Wahrnehmung wie Wertschätzung von Kirche maßgeblich bestimmt. 8. Kirchenbücher als Quelle- ein forschungsgeschichtlicher Ausblick Innerhalb der Migrationsforschung stellen die Glaubensexulanten einen durchaus ergiebig bearbeiteten Untersuchungsbereich dar, sowohl was die aus den heute österreichischen Gebieten des Erzbistums Salzburg und der habsburgischen Erblande Vertriebenen als auch was die Waldenser, die in Deutschland Aufnahme gefunden hatten, 121 anbelangt, von der reichhaltigen deutschen und vor allem französischen und englischen Literatur über die Hugenotten ganz zu schweigen. Trotz der intensiven Forschung gerade der österreichischen (Kirchen-)Historiker zu den Defereggern 122 und der grundsätzlichen Erkenntnis ihrer Bedeutung für die Kirchengeschichte Bayerns 123 und die fränkische Familienforschung 124 widmen sich in 119 W ILHELM V OLKERT , Konsolidierung des Evangelischen Kirchenwesens. Oberpfalz, Pfalz-Neuburg, Regensburg, in: HBEKB I (Anm. 53), S. 399-414, hier 403f. 120 In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass sowohl D. Elias Veiel in Ulm als auch der Stuttgarter Oberhofprediger und Konsistorialrat, Land- und Stiftsprobst Christoph Wölflin Korrespondenzpartner von Philipp Jacob Spener waren. Zeitweilig besetzten Gesinnungsfreunde Speners Schlüsselstellungen im Stuttgarter Konsistorium; vgl. J OHAN - NES W ALLMANN , Der Pietismus, Göttingen 2005, S. 209. 121 A LBERT DE L ANGE (Hg.), 1699-1999 Dreihundert Jahre Waldenser in Deutschland. Herkunft und Geschichte, 2. Aufl. Karlsruhe 1998. Vgl. die Berichte der Tagung ›Asyl in Württemberg: Waldenser, Hugenotten und Herrnhuter‹ (Bad Boll 2009), in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 110 (2010), S. 11-217. 122 Literaturangaben in Anm. 1, 5, 8, 21 und 55. 123 M. S IMON , Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 457f.; vgl. C.-J. R OEPKE , Protestanten (Anm. 3), 11. Kapitel, S. 295-335, hier 295-319; nur punktuell R UDOLF E NDRES , Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Alten Reiches. Staat und Kirche, in: HBEKB I, S. 475-490, hier 483. 124 Vgl. G EORG R USAM , Österreichische Exulanten in Franken und Schwaben, 2. Aufl. Neustadt/ Aisch 1989. Die Gesellschaft für Familienforschung in Franken e. V. hat fünf- <?page no="158"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 159 Schwaben und Baden-Württemberg »nur wenige lokalgeschichtliche Abhandlungen diesem Thema.« 125 »Wie man im Herzogtum Württemberg auf diese Situation reagierte, ist noch nicht erforscht, was vielleicht daran liegt, dass man bisher keine umfassenden Ansiedlungsmaßnahmen der herzoglichen Residenz dokumentieren konnte«, 126 konstatiert Eberhard Fritz und verweist auf die »Zerstreuung der Quellen« als mögliche Ursache des Forschungsdefizits. Tatsächlich ist man, wenn regierungsamtliche Quellen schweigen, vornehmlich auf lokale Quellen wie Verzeichnisse von Bürger- und Beisitzaufnahmen, Grundbücher, Handwerkerakten und vor allem auf die Kirchenbücher angewiesen. Der vernetzte Ansatz der für Einzelorte parallel betriebenen Familienforschung in Franken zeigt die Fruchtbarkeit solcher Quellen gerade für eine nicht auf die gesellschaftlichen Eliten ausgerichtete Untersuchung. Wenn die im Nürnberger Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern gesammelten Kirchenbücher der Einzelgemeinden erst vollständig für die Benutzer zugänglich sein werden, 127 ist mit noch reichhaltigeren Ergebnissen zu rechnen. Freilich bewahren viele Kirchengemeinden ihre historischen Kirchenbücher selbst auf, was die Recherche etwas mühsam gestaltet. Gewiss erreichen Kirchenbücher mit ihrem lokal begrenzten Interesse an Einzelpersonen und Kasualien als Quellen nicht die umfassende Aussagekraft wie das Aktenmaterial neuzeitlicher Territorialverwaltungen. Sowohl die von Alois Dissertori ausgewerteten Akten des Windisch Matreier Gerichtsarchivs wie die des Konsistorialarchivs Salzburg, jetzt im Konsistorialarchiv Brixen, als vor allem die von Eberhard Fritz herangezogenen Materialien im Hauptstaatsarchiv Stuttgart belegen die Effizienz der durchorganisierten und mit geschultem Personal nach standardisierten Verfahren vorgehenden Verwaltungen. So werden im Herzogtum Württemberg mit erstaunlicher Schnelligkeit einerseits die exakten Personenstandsdaten und wirtschaftlichen Verhältnisse der Exulanten samt ihrer beruflichen Möglichkeiten ebenso flächendeckend ermittelt wie die passenden Bedingungen in den einzelnen Bezirken, 128 andererseits die sie betreffenden religionspolitischen und reichsrechtlichen Fragen geklärt und im Austausch mit anderen Reichsständen zehn Exulantenbücher, darunter neun speziell für die Zuzugsgebiete in der Reihe ›Quellen und Forschungen zur Familiengeschichte in Franken‹ publiziert. 125 E. F RITZ , Christliche Nächstenliebe (Anm. 14), S. 243. 126 E. F RITZ , Christliche Nächstenliebe (Anm. 14), S. 243. 127 Manche Kirchenbücher werden gerade erst digitalisiert, so etwa die von Eldersdorf, sodass auf die Daten der dortigen Leipold-Zimmermannssippe derzeit kein Zugriff möglich ist. 128 HStASt, A 63 Bü 101, Hochfürstl: gdstes Decretum/ Visitations-rechenbanckhsRath Andreas Grammlich, solle mit Zueziehung deß Bebenhäusischen Pflegers, Johann Friederich Stiglers und Christian Reinwald deß Raths, die inspection über die ankommende Saltzburger haben, und Selbige auff Innvermelte 17. Ptn examiniren und Listam darüber halten und alßdann undtste Relation erstatten/ De dato 10.ten Junÿ ao: 1685. <?page no="159"?> A NDR EA S L INK 160 diplomatische Interventionen vorangetrieben. Allein schon Umfang und Art der historischen Archivierung sind ein Indiz für die wachsende politische Überlegenheit des neuzeitlichen Territorialstaats gegenüber den geistlichen Fürstentümern und noch deutlicher gegenüber den Reichsstädten. Kirchenbücher sind demgegenüber lokal und in ihrem Interesse sehr begrenzt. Dennoch reicht der Quellenwert von Kirchenbüchern weit über die individuelle Familienforschung und die Erstellung von Stammbäumen hinaus. Sie bieten zweifellos über Daten zu direkten Verwandtschaftsverhältnissen auch solche für Networkanalysen, wobei Patenschaften und Berufsangaben zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte überleiten. Auch Grabbücher und Friedhofsakten sind dabei heranzuziehen. Angesichts der Bedeutung, die die Zeitgenossen der Gevatternschaft beimessen, 129 ist diese als Verflechtungskategorie für das Verständnis frühneuzeitlicher Gesellschaften unverzichtbar. Sie vermag nicht nur die internen Vernetzungen von Elitegruppen zu erhellen, sondern auch - wie gesehen - deren Patronage gegenüber den armen Exulanten. Wie die Untersuchung der Patenschaften zeigt, können über die Vernetzungen, wenn über einzelne Personen - etwa anhand von veröffentlichten Leichenpredigten - vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen sind, weitere Schlüsse bis hin zu Frömmigkeitsrichtungen und Mentalitäten gezogen werden. Nicht nur einzelne, sondern ganze Gruppen lassen sich anhand solcher Quellen in wirtschaftlich und sozial relevanten Verhaltensweisen beobachten, vor allem auch im diachronen Vergleich. Kirchenbücher bieten die Datenbasis dafür. Angesichts der Fülle der Datenmengen und vor allem der Komplexität ihrer Vernetzungen ist derzeit der Mensch noch das leistungsfähigste Erfassungssystem. Weitere Mikroanalysen wären wünschenswert - nicht nur speziell in Bezug auf die Glaubensmigranten. Das Forschungsdesiderat für das Herzogtum Württem- 129 Vgl. T. M. S AFLEY , Matheus Miller (Anm. 54), S. 28f. 38, 43. Die verdienstvollen Networkanalysen von sozialen Eliten wie sie W OLFGANG R EINHARD , Freunde und Kreaturen. Verflechtung als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 14), München 1979, insgesamt richtungsweisend und K ATARINA S IEH -B URENS , Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618 Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 29), München 1986, für Augsburg beispielhaft vorgelegt haben, umfassen bereits im Ansatz die »künstliche Verwandtschaft durch Verschwägerung und die rituelle Verwandtschaft durch Taufpatenschaft« (S IEH -B URENS , Oligarchie, S. 15), wobei die Patenschaftsverhältnisse jedoch nicht zum Untersuchungsgegenstand werden. Da für die Verflechtungskategorien Familie und Verwandtschaft, rechtliche Interaktionen, Wirtschaftsbeziehungen und Nachbarschaft bei den Führungsschichten auch genügend aussagekräftige Daten verfügbar sind, ist die Patenschaft hier verzichtbar. Für nichtelitäre Bevölkerungsgruppen ist sie jedoch von enormer Bedeutung. <?page no="160"?> D EF ER EGG ER IN A UG S B UR G 161 berg ist von Eberhard Fritz schon benannt und auch manche Fragen für das hohenlohische oder ansbachische, auch bayreuthische Territorium sind noch ungeklärt. Bei der Durchsicht der Augsburger Quellen stößt man mit dem einen oder anderen Seitenblick auf weitere, untersuchenswerte Migrantengruppen, seien es auffällig viele Goldschmiede aus Danzig, was für die Frage eines planvoll betriebenen handwerklichen Wissenstransfers durchaus bedeutsam erscheint, seien es die Soldaten der Augsburger Stadtgarde, die aus bestimmten ländlichen Gegenden einen überproportional starken Zulauf hatte. Lokalgeschichtliche Mikroanalysen von distinkten Bevölkerungsgruppen haben einen erheblichen Erkenntniswert auch für die jeweilige Gesamtgesellschaft und ihre Interaktionen. Kirchenbücher stellen dabei eine wichtige Quelle für derartige Untersuchungen dar. <?page no="162"?> 163 S ABINE U LLMANN Siedlungsgeschichte als Migrationsgeschichte. Zur Entwicklung der jüdischen Niederlassungen in Schwaben während des 16. und 17. Jahrhunderts 1. Antijüdische Privilegien als Quellen zur Siedlungsgeschichte Im Januar des Jahres 1542 reiste der Notar Wolfgang Zeller in den Ort Angelberg der gleichnamigen Reichsherrschaft, um den dort ansässigen Juden ein kaiserliches Privileg zu verkünden, das die Frundsberger bereits im Jahr 1537 von Kaiser Karl V. erwirkt hatten. Die Herren von Frundsberg, 1 die in ihrem Herrschaftsgebiet Mindelheim selbst keine Juden duldeten, versuchten damit die Handelskontakte ihrer eigenen Untertanen mit den jüdischen Händlern in den umliegenden Ortschaften zu beschränken. Angelberg, heute ein Ortsteil der Gemeinde Tussenhausen im Landkreis Unterallgäu, lag als Enklave inmitten der Herrschaft Mindelheim, 2 deren Gebiet mithin zum Handelsdistrikt der Angelberger Schutzjuden gehörte. Der Inhalt dieses Privilegs brachte für die Juden gravierende Einschränkungen in ihrer Handelstätigkeit mit sich. Künftig wurde ihnen bei Kreditgeschäften mit frundsbergischen Untertanen jede Pfandverschreibung und Hypothekensicherung auf Güterbesitz verboten, die bereits bestehenden Verträge für nichtig erklärt und damit die christlichen Untertanen von ihren Zahlungsverpflichtungen freigesprochen: […] das nun furo an khain Jud noch Jüdin den vnderthanen vnnd hindersäßen in obgemelter von Fronsberg hoche oder nider Gericht auff ainich oder mer, vnbeweglich oder Ligendt gutter auff wucher oder in ander weg, ferrer nichts Leichen noch Ainich pfandschafft verschreibung oder verweisung auff solche guetter fordern außsbringen oder annemen sol oder mag, in gar khain weise, Ob aber das hieruber bescheche in was schein das were […] das solches alles vnd iedes crafftlos nichtig vnd vnbindig sein solle. 3 1 Zur Genealogie der Frundsberg zu Mindelheim: R EINHARD B AUMANN , Georg von Frundsberg. Vater der Landsknechte. Feldhauptmann von Tirol. Eine gesellschaftsgeschichtliche Biographie, 2., erw. Aufl. München 1991, S. 368f. 2 Zu den Herrschaftsverhältnissen vgl. R UDOLF V OGEL , Mindelheim (HAB S 7), München 1970, S. 48-53 (Reichsherrschaft Angelberg), 88f. (Herrschaft Mindelheim). 3 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1534. Ediert in: R OLF K IESSLING (Hg.), Judenverordnungen in der Markgrafschaft Burgau (in Vorbereitung). Ich danke Rolf Kießling für die Möglichkeit zur Einsichtnahme der im Folgenden zitierten Quellen aus dieser Quellensammlung. <?page no="163"?> S A BINE U LLMANN 164 Dieser Vorgang ist in einem größeren regionalen Zusammenhang zu sehen: Während des 16. Jahrhunderts waren die Juden Schwabens nicht nur im Kleinkredithandel tätig, sondern auch in der Lage, größere Summen zu verleihen, die oft mit Liegenschaften abgesichert wurden. Ihre Kreditgeschäfte bewegten sich in Größenordnungen von bis zu 1.000 fl. und in Einzelfällen auch darüber. In diesem Bereich des über Hypotheken abgesicherten Kredits agierte nicht nur die jüdische Elite, sondern auch mehrere Händler in den zahlreichen kleinen Landgemeinden. 4 Für die nichtjüdischen Schuldner bargen diese Kreditbeziehungen die Gefahr in sich, ihre Güter an die jüdischen Händler zu verlieren und bei strittiger Einsetzung in dieselben bzw. bei säumigen Zahlungen am Reichskammergericht angeklagt zu werden. So führten die Juden Joseph zu Leipheim und Jakob zu Günzburg 1548/ 49 einen Prozess am Reichskammergericht wegen ihrer Ansprüche auf die Güter des Klaus Ziegler zu Thannhausen, 5 und Jakob Hirsch aus Schwaighausen hatte dort in den Jahren 1555 bis 1564 eine Klage gegen Christoph Keller wegen eines verpfändeten Hauses in Memmingen anhängig. 6 Die hohe Präsenz von Juden am Speyerer Reichsgericht bei Schuldklagen gegen Christen ist mittlerweile in verschiedenen Studien belegt. Sabine Frey und Filippo Ranieri zählten bei ihren Erhebungen zur Prozessfrequenz für das 16. Jahrhundert über 1.000 Verfahren, bei denen Juden als Kläger beteiligt waren, 7 und die Analysen für die Überlieferung der Akten des Reichskammergerichts im Münchner Hauptstaatsarchiv bestätigten diesen Trend. 8 Gegen diese Schuldverschreibungen 4 Vgl. die Zusammenstellung bei Doris Pfister nach den Akten des Reichskammergerichts: Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. I/ 2: Archivführer (Burgau - Ziertheim, Privatsammlungen), bearb. von D ORIS P FISTER , hg. v. P ETER F ASSL , Augsburg 1993, S. 975-1002. Vgl. zu jüdischen Liegenschaftskrediten in anderen Regionen des Reiches z. B. J ÖRG D EVENTER , Das Abseits als sicherer Ort? Jüdische Minderheit und christliche Gesellschaft im Alten Reich am Beispiel der Fürstabtei Corvey 1550-1807 (Forschungen zur Regionalgeschichte 21), Paderborn 1996, S. 125; J AN L OKERS , Die Juden in Emden 1530-1806. Eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studie zur Geschichte der Juden in Norddeutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zur Emanzipationsgesetzgebung, Aurich 1990, S. 142f.; T ILL S TROBEL , Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 11), Epfendorf 2009, S. 181f. 5 Dokumentation (Anm. 4), S. 982: BayHStA München, Reichskammergericht 5299. 6 Dokumentation (Anm. 4), S. 991: BayHStA München, Reichskammergericht 7497. 7 S ABINE F REY , Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisungen im 16. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe 30), Frankfurt/ Main 1983, S. 50-100; F ILIPPO R ANIERI , Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 17), Köln 1985, S. 233. 8 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht, Bd. 13: Nr. 5283-5568 (Buchstabe I und J) (Bayerische Archivinventare 50/ 13), bearb. v. M ANFRED H ÖRNER , München 2006. <?page no="164"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 165 und die damit verbundene Rechtspraxis versuchten zahlreiche Herrschaftsträger mittels kaiserlicher Privilegien vorzugehen. Dabei ging es nicht nur um den Schutz der eigenen Untertanen vor der Speyrer Spruchpraxis und deren Lösung aus den Kreditverpflichtungen, sondern auch um die Wahrung ihrer Gerichtsautonomie als Teil herrschaftlicher Gerechtsame. Das angesprochene Mindelheimer Privileg berührte mit dem Verbot der Liegenschaftskredite mithin einen zeitgenössisch aktuellen und zentralen Punkt in den Konfliktlinien der christlich-jüdischen Geschäftskontakte. Wie sehr die Frundsberger Herrschaft damit einem judenpolitischen Trend folgte, zeigen die von anderen Herrschaftsträgern ebenfalls erwirkten kaiserlichen Vollmachten mit vergleichbaren Handelsverboten. Für den Zeitraum zwischen 1541 bis 1597 lässt sich eine ganze Reihe antijüdischer Privilegien für den Raum Ostschwabens nachweisen. Mehrheitlich handelte es sich um Reichsstädte und geistliche Staaten, eine kleinere Gruppe gehörte dem niederen Adel an. So sind weitere kaiserliche Privilegien für Memmingen aus den Jahren 1541 und 1559, 9 für Ulm von 1561 und 1571, 10 für Augsburg von 1599 11 und ein weiteres für Mindelheim aus dem Jahr 1559 überliefert. 12 Die Reichsstifte Roggenburg, 13 Wettenhausen 14 und St. Ulrich und Afra 15 sowie das Kloster Heilig Kreuz, 16 letztere beide in Augsburg gelegen, erhielten ebenso sog. Judenfreiheiten 1552, 1555, 1569, 1570, 1577 und 1582 wie das Hochstift Augsburg. 17 Weiterhin verfügten einzelne Adelige für ihre jeweiligen Herrschaftsbereiche über restriktive Privilegien gegen den jüdischen Handel, wie die Vöhlin von Frickenhausen seit 1550 18 oder die Herren von 9 StaatsA Augsburg, Reichsstadt Memmingen 743; und StadtA Memmingen, Urkunden (1541). Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 10 StadtA Ulm, A 3907; A 3550 H, fol. 251r-253v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 11 StaatsA Augsburg, Augsburg Reichsstadt 861. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 12 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1895. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 13 StaatsA Augsburg, Roggenburg Urkunden 248. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 14 StaatsA Augsburg, Kloster Wettenhausen Urkunde 553, 761. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 15 Monumenta Boica 22, S. 685-689. Auch ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 16 StaatsA Augsburg, Kloster Augsburg Heilig Kreuz Urkunde 1120. Ediert in: R. K IESS - LING , Judenverordnungen (Anm. 3). 17 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA Akten 769. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 18 StaatsA Augsburg, Herrschaft Neuburg a. d. Kammel, Kopialbuch 1577-1621, fol. 12v- 14r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). <?page no="165"?> S A BINE U LLMANN 166 Pappenheim seit 1597. 19 Die Hochphase dieser antijüdischen Privilegienpolitik lag somit in den ersten beiden Dritteln des 16. Jahrhunderts und klang am Ende des Säkulums deutlich ab. Inhaltlich dokumentieren diese Quellentexte eine einstimmige, in die gleiche Richtung zielende Judenpolitik einer Gruppe von Herrschaftsträgern in Schwaben, die in dieser Phase selbst keine Schutzjuden aufnahmen und im Gegenzug die Schutzjuden aus den umliegenden Territorien abwehrten. Die Reichsstädte hatten dabei ihre Judengemeinden bis zum Beginn der Frühen Neuzeit ausgewiesen und damit die Verländlichung des Judentums einen entscheidenden Schritt vorangetrieben - ein keineswegs auf Schwaben begrenzter, sondern für das gesamte Reichsgebiet zu beobachtender Vorgang. 20 In gleicher Weise hielten die geistlichen Territorien in Schwaben bis zum Ende des Alten Reiches an ihrer judenfeindlichen Haltung fest und gewährten Juden keinen Schutz in ihren weltlichen Herrschaftsbereichen. Eine gewisse Ausnahme stellt das Hochstift Augsburg dar, das in den Vorstadtorten Oberhausen und Pfersee bei Augsburg vereinzelt und für einen kurzen Zeitraum Juden Schutz gewährte. In der Summe aber reihten sich der Augsburger Bischof und sein Domkapitel in die Linie der antijüdischen Kräfte in der Region ein. Dies hielt die geistlichen Herrschaftsträger freilich nicht davon ab, enge ökonomische Kontakte zu den Juden zu pflegen. So waren der bischöfliche Hof und die Domherrenhöfe Auftraggeber für die jüdischen Hoffaktoren und nahmen, wie die schwäbischen Reichsprälaten, jüdischen Kredit in Anspruch. 21 Die politische Strategie dieser Gruppe und ihr vielleicht koordiniertes Vorgehen am Kaiserhof bei der Erlangung der Privilegien ist zwar noch nicht systematisch untersucht, 22 aber die gemeinsamen Ziele und Argumente erschließen sich 19 J OSEF M INDLER , Geschichte und Statistik der baierischen Herrschaft Wertingen, Landshut 1803, S. 89-96. Auch ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 20 R OTRAUD R IES , Jüdisches Leben in Niedersachsen vom 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994, S. 471f; M ARKUS J. W ENNINGER , Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 14), Wien u. a. 1981; M ICHAEL T OCH , Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit, in: A LFRED H AVERKAMP / F RANZ -J OSEF Z IWES (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters (ZHF Beiheft 13), Berlin 1992, S. 20-40. 21 W OLFGANG W ÜST , Die Judenpolitik der geistlichen Territorien Schwabens während der Frühen Neuzeit, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (Colloquia Augustana 2), Berlin 1995, S. 128-153. 22 Vgl. die Hinweise zur Kooperation auf den Reichstagen bei R OSEMARIE M IX , »Wider der Juden und Jüdinen wuocherliche gesuoch, Conträct und handlungen«. Die kaiserlichen Privilegien für die Reichsstädte Ulm, Memmingen und Augsburg und die geistlichen Territorien Wettenhausen und Roggenburg als restriktive Maßnahmen gegen Juden der Mark- <?page no="166"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 167 aus den vorliegenden Texten. Mit fast wortgleich formulierten antijüdischen Stereotypen wurden die restriktiven Maßnahmen, die auf eine Beschränkung der jüdischen Handelstätigkeit mit den eigenen Untertanen zielten, immer wieder aufs Neue begründet und damit aktualisiert: Da die Juden ire mitbürger und inwohner […] durch ire wucherliche gesuch, conträct vnd andere in recht verpotten geschwinden und vnbillichen sachen vnd händeln an iren haab und güettern, mercklich beschweren und dermaßen in cost und schaden füeren und bringen […] dardurch zu gantzen verderben, armut und mit weib und kindt in das elend khomen, sei der Handel zu verbieten - so ein vielfach formuliertes Argument aus dem Privileg Kaiser Karls V. für die Reichsstadt Ulm aus dem Jahre 1541. 23 Das Wucherstereotyp, verbunden mit der Vorstellung, dass die jüdischen Händler mit betrügerischen Praktiken die eigenen Untertanen zu übervorteilen suchten und diese, nachhaltig geschädigt, an den Bettelstab gebracht werden würden, gehörte zu den gängigen zeitgenössischen Argumentationsweisen. Die Konkurrenz um Marktanteile vermischte sich also mit der Wirkungsmacht lang tradierter stereotyper Judenbilder. 24 Derart begründete und gerechtfertigte Verbote richteten sich gegen die in den vorderösterreichischen bzw. in reichsritterschaftlichen Besitzungen ansässigen Juden. Im schwäbischen Raum lässt sich daher zwischen den einzelnen Herrschaftsträgern während des 16. Jahrhunderts eine höchst widersprüchliche Haltung gegenüber dem jüdischen Handel beobachten: Während die Habsburger und zahlreiche Adelige ihren eigenen Schutzjuden Handelsfreiheiten gewährten, um ihre Nahrungsgrundlage und damit die fiskalische Abschöpfung sicherzustellen, versuchten andere ihnen diesen Spielraum zu beschneiden, um ihre eigenen Untertanen vor dem vermeintlichen Wucher der jüdischen Händler aus den benachbarten Territorien zu schützen. Die beim Kaiser eingeholten antijüdischen Privilegien geben allerdings nicht nur Aufschluss über die Ausrichtung territorialer Judenpolitik, sie sind zugleich eine zentrale Quelle für die jüdische Siedlungs- und damit Migrationsgeschichte dieses Raumes. Diese Erkenntnisperspektive eröffnet sich aus dem Verfahrensschritt der Insinuierung durch kaiserliche Notare, bei dem in ausführlichen Protokollen alle Orte sowie die dort anwesenden Juden namentlich festgehalten wurden, grafschaft Burgau in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Masch. Zulassungsarbeit, Augsburg 1993, S. 90. 23 StadtA Ulm, A 3550 H, fol. 251r-253v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 24 S TEFAN R OHRBACHER / M ICHAEL S CHMIDT , Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991; zuletzt auch unter einem historiographischen Blickwinkel S TEFAN R OHRBACHER , Über das Fortwuchern von Stereotypvorstellungen in der Geschichtswissenschaft, in: J OHANNES W EIL / B ERND W ACKER (Hg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition, München 1997, S. 235-252. <?page no="167"?> S A BINE U LLMANN 168 denen die Handelsverbote verkündet wurden. Rosemarie Mix hat im Rahmen des von Rolf Kießling initiierten Projekts zur Geschichte des Landjudentums in Schwaben diese Auswertungsmöglichkeit der Insinuierungsprotokolle verfolgt und danach ein Siedlungsmuster rekonstruiert, das im Folgenden weiter ausgebaut und interpretiert werden soll. 25 2. Siedlungsstrukturen und ihre Dynamik Die Verkündung eines kaiserlichen Privilegs war ein rechtskräftiger Vorgang im Rahmen eines normierten Verfahrens, bei dem die Protokollierung einen festen Bestandteil bildete. Mit dem Protokoll dokumentierte der jeweilige Notar die verfahrensrechtliche Richtigkeit seiner Handlungen. Erst die hierin beschriebene Übergabe der Verordnung an die Juden machte diese rechtswirksam. Die Bestandteile und Verfahrensschritte der Insinuation - das Verlesen, das Aufzeigen des kaiserlichen Siegels und das Überreichen einer Kopie des Privilegs an die Juden 26 - mussten akribisch fixiert werden. Daher enthalten die protokollarischen Aufzeichnungen der Notare sehr detaillierte Angaben über den Ablauf der Verkündung der Privilegien in den einzelnen Judensiedlungen. Genannt werden nicht nur die konkreten Orte der Insinuation sowie Namen und Anzahl der männlichen jüdischen Haushaltsvorstände, sondern auch deren Reaktionen, besonders wenn sich diese zu entziehen suchten und damit ihren Widerstand gegen die Verbote zum Ausdruck brachten. Diese Quellen geben uns daher einen anschaulichen Einblick in das Geschehen vor Ort. Zunächst versuchte der Notar, die Schutzjuden im Dorfwirtshaus, in den Amtsräumen der Obrigkeit oder in einem jüdischen Wohnhaus zu versammeln - was ihm keineswegs immer gelang. In vielen Gemeinden waren die Notare daher gezwungen, die jüdischen Händler einzeln in ihren Häusern aufzusuchen. Einige verweigerten dennoch die Annahme der Kopie des Privilegs oder verschlossen bei der Verlesung Türen und Fenster ihrer Häuser. 27 Auf heftigen Widerstand in einer ganzen Reihe von Dörfern stieß der Notar z. B. bei der Verkündigung eines Privilegs für das Stift Roggenburg: In Binswangen ließen sich die Schutzjuden auch nach mehrmaligen Befehlen nicht dazu bewegen, die Abschriften entgegenzunehmen; in Ichenhausen verweigerte sich der Hochwanger Jude Samuel der Verkündigung, weil diese nicht an seinem Wohnort geschehen sollte. Der Notar notierte dazu: Dieweyl er aber aus lautterm Mutwillen das privilegium anzuhören sich verwaigert, Vnnd vermeldet, do Ich etwas bey Ime Zuverrichten, das Ich zu Ime gehen Hohenwang kommen sollte. 25 R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22). 26 R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), S. 44f. 27 R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), S. 44-48. <?page no="168"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 169 Als der Notar nach Hochwang kam und in Samuels Haus niemanden antraf, verlas er kurzer Hand das Privileg zwischen Zwölff und Ein uhren Nachmittag vor seinem hauß und hinterließ die Copi darvon an sein haus thür mit Nageln affiziert und angehefftet. 28 Der im Jahr 1542 für die Verkündigung des Mindelheimer Privilegs beauftragte Notar war dagegen mit derartigen Widerständen nicht konfrontiert. In allen Orten hatte er den Juden das Privileg under augen eroffnet, verkhindt vnnd verlesen, Vnd inen den Artickel sy betreffend auch vberanttwurtt, welches sy von mier angenomen. Unter Anwesenheit von jeweils zwei christlichen Zeugen insinuierte er das Mindelheimer Privileg meist in den Wohnungen der Juden, z. B. in Angelberg in Sießkhinds des Juden behaußung in seiner gewonlichen stuben oder in Thannhausen, in Joseph des Juden behawßsung in seiner stuben. Nur die Schutzjuden in Krumbach und in Weilbach versammelten sich im Wirtshaus und in Neuburg an der Kammel in irer gewonlichen schul - ein früher Hinweis auf die Existenz einer Synagoge in dieser Gemeinde. Bis auf den Juden Josse aus Eisenburg, dem während seiner Abwesenheit solche Freyhaitt seiner Hawsfrawen anzaigt, erschienen die Juden persönlich. 29 Aus diesen Protokollen lassen sich demnach detaillierte Momentaufnahmen vom Alltagsleben in den Gemeinden und ihren Verhaltensweisen gegenüber den Restriktionen der christlichen Obrigkeiten gewinnen. Die Aufzeichnungen des Notars beschreiben auch seine Route (vgl. dazu Karte 1): Von Angelberg aus reiste er weiter nach Thannhausen, wo er um ein Uhr mittags den Text vor insgesamt acht Juden verlas: Neben dem Besitzer Joseph waren anwesend Borach Jeckle, Joseph Kalma, Moses Ensle, der junge und der alte Salma sowie zwei Juden namens David. Anschließend fuhr er nach Neuburg an der Kammel und nach Krumbach. Hier erfolgte die Verkündigung im Wirtshaus, wo sich drei Juden, Gimpel, Salma und Leo, eingefunden hatten. Danach kam er nach Amendingen, Eisenburg, Schwaighausen, Grönenbach und schließlich nach Neuenried und Weilbach. 30 18 Jahre später, 1560, war Wolfgang Zeller nochmals für die Herren von Frundsberg unterwegs, um das kaiserliche Privileg von 1559 zu verlesen. Der Inhalt der Verordnung hatte sich nur wenig verändert, er war vor allem um die Bestimmung ergänzt worden, dass auch die Kreditvergabe über dritte christliche Personen unterbunden werden sollte: Auch das hierinne gantz khain verporgner list vnnd betrug gebraucht vnnd an die hand genomen werde, als ob das darleichen durch ain dritte person als durch ain Christen gescheche. 31 Offensichtlich hatten die jüdischen 28 Alle Zitate nach StaatsA Augsburg, Roggenburg Urkunden 248. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 29 Alle Zitate nach BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1534. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 30 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1534. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 31 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1895. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). <?page no="169"?> S A BINE U LLMANN 170 Karte 1: Die bei der Insinuierung der Mindelheimer Privilegien von 1542 und 1560 bereisten Siedlungen <?page no="170"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 171 Karte 2: Die bei der Insinuierung der Memminger Privilegien von 1541 und 1559 bereisten jüdischen Siedlungen <?page no="171"?> S A BINE U LLMANN 172 Kredithändler das Verbot der Liegenschaftskredite auf diesem Wege zu umgehen gesucht - eine ›Gesetzeslücke‹, die nun geschlossen wurde. Geändert hatte sich aber die Route des Notars, die nun weiter nach Norden bis nach Günzburg und Leipheim reichte. Neu hinzu kamen auch Burgau und Scheppach, wie Günzburg als Kameralorte der Markgrafschaft Burgau, Ebersbach, wo das Kloster Wettenhausen - allerdings nur kurzfristig - zwei Juden in den Schutz aufgenommen hatte, Haldenwang, das als burgauisches Lehen seit 1525 im Besitz der Herren von Freyberg war, Münsterhausen, welches ebenfalls unter der Oberhoheit der Markgrafschaft Burgau mit wechselnden Lehensverhältnissen stand, Ichenhausen sowie das bereits genannte Leipheim, dessen territoriale Zuordnung zwischen der Reichsstadt Ulm und der Markgrafschaft Burgau strittig war. 32 Andere Orte besuchte er dagegen 1560 nicht mehr, wie Eisenburg, Neuenried und Weilbach. Diese hatten die Juden 18 Jahre nach der Insinuierung von 1542 bereits wieder verlassen müssen, in den anderen hingegen hatten sie sich neu niedergelassen. 33 Während sich also über das Mindelheimer Insinuierungsprotokoll von 1542 insgesamt zehn jüdische Siedlungen fassen lassen, war die jüdische Bevölkerung nach dem Protokoll des Jahres 1560 in diesem Raum auf insgesamt 16 Orte verteilt. Es war also zu einer deutlichen Zunahme in nur 20 Jahren gekommen. Vergleicht man diese Angaben mit denen der bereisten Ortschaften zur Bekanntgabe zweier Privilegien für die Reichsstadt Memmingen, die ebenfalls in einem Abstand von fast 20 Jahren erlassen wurden, zeigen sich ähnliche Verschiebungen (vgl. dazu Karte 2). So bereiste der Notar 1559 erstmals auch Burgau, Ebersbach, Günzburg, Haldenwang, Hürben, Ichenhausen und Leipheim - diese Stationen fehlen auf der Insinuationsroute des Jahres 1541. Andere Ortschaften, wie Amendingen, Eisenburg, Neuenried, Schwaighausen und Weilbach, wurden dagegen 1559 nicht mehr besucht, obwohl sie bei der ersten Insinuation verzeichnet waren. 34 Dagegen zeigt die - in den Karten nicht mehr erfasste - Verlesung der Ulmer Privilegien in den Jahren 1561 und 1571 eine deutliche Konzentration der Siedlungen: Das erste Privileg wurde in 28 Ortschaften verkündet, zehn Jahre später reiste der Notar nur noch durch 18 Orte. 35 In den dazwischen liegenden zehn Jahren waren zehn jüdische Siedlungsplätze offensichtlich wieder verlassen worden. Aufschlussreich sind auch die Größen dieser jüdischen Siedlungen, die ebenfalls anhand der Insinuierungsprotokolle erschlossen werden können. So zeigen die 32 W OLFGANG W ÜST , Günzburg (HAB S 13), München 1983, S. 41-47, 140, 163-180. 33 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1895. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 34 Vgl. dazu die Übersicht für das Memminger Privileg bei R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), S. 122f. 35 R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), S. 122f. <?page no="172"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 173 Aufzeichnungen für das Mindelheimer Privileg von 1560, dass nur in einigen wenigen Orten, wie in Burgau und Thannhausen, sieben bzw. neun jüdische Familien lebten, in den meisten Dörfern dagegen nur zwei bis vier Familien. Den Juden zu Scheppach in Michel Gaien des Gastwirts behaußung in der gewonlichen stuben mit namen Raphael vnnd Isac auch verkhindt oder die Freyhait zu Leipham im Schloß in der gewonlichen stuben […] den hernach benanten juden mit namen Joseph Lemlin vnnd Siessens witib auch verkhindt - so lauten die entsprechenden protokollarischen Angaben. Freilich ist es denkbar, dass die Notare nur die am Wohnort zu diesem Zeitpunkt anwesenden Juden namentlich protokollierten, aber ein Annäherungswert lässt sich daraus wohl doch erschließen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Stationen, in denen der kaiserliche Notar nur einen Juden aufsuchte, wie in Grönenbach oder in Heimertingen. In Heimertingen gab der einzige Jude Mosse zu Protokoll: Er hab sein Kawff vnnd Register nit bey handen, welle sich darumen ersechen, vvnd Er ainich schuld in der herschafft [Mindelheim, S.U.] hab, so welle Er das selbig uff das Beldest anzaigen. Der einzige Grönenbacher Jude legte im Beisein des dortigen Vogtes zwei Schuldbriefe aus den Jahren 1547 und 1549 vor, in denen Liegenschaftskredite mit Christen aus Unterkammlach über 950 fl. und 21 fl. verzeichnet waren. Diese Briefe sind nicht zuletzt auch ein Beleg dafür, dass Kreditgeschäfte über Hypothekensicherungen oftmals sehr lange Laufzeiten umfassen konnten. 36 Die von Rosemarie Mix durchgeführte Zählung und kartographische Verzeichnung aller jüdischen Wohnorte, die im Zuge der Verkündung der antijüdischen Privilegien der Städte Augsburg, Memmingen, Mindelheim und Ulm sowie des Reichsstifts Roggenburg in den Jahren 1541 bis 1599 bereist wurden, ergab schließlich ein Siedlungsbild mit den folgenden spezifischen Strukturen: 37 Insinuiert wurden diese Privilegien in insgesamt 49 verschiedenen Ortschaften. Eine kontinuierliche Besiedelung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lässt sich allerdings nur in wenigen Orten belegen. Nur die Städte Burgau und Günzburg sowie die Märkte Hürben, Ichenhausen, Krumbach, Neuburg an der Kammel und Thannhausen wurden bis zum Ende des Jahrhunderts verzeichnet. Unter diesen Orten finden sich zudem solche mit vergleichsweise vielen namentlich genannten Juden. In Thannhausen, Burgau, Günzburg und in Neuburg an der Kammel lassen sich größere Gemeinden mit bis zu acht Haushaltsvorständen fassen, dagegen zählten gerade die Siedlungsorte, die am Ende des Jahrhunderts von den Notaren nicht mehr bereist wurden, oft nur ein bis drei Mitglieder, wie Eisenburg, Grönenbach oder Heimertingen. An vielen Orten sind die jüdischen Niederlassungen folglich nur für wenige Jahre belegt. 36 Alle Angaben und Zitate nach BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1895. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 37 Vgl. dazu R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), Kartenbeilage. <?page no="173"?> S A BINE U LLMANN 174 Auch wenn vielleicht einige Juden der Verkündung der Privilegien fernblieben - entweder, weil sie auf Reisen waren, oder vielleicht aus Protest gegen die Behinderung ihrer Geschäfte -, die Notare vielleicht nicht alle Orte erfasst haben oder aber die eine oder andere Siedlung übersehen wurde, so dokumentieren diese Aufzeichnungen doch eine spezifische Dynamik der jüdischen Siedlungen im 16. Jahrhundert: hohe Fluktuationen in zahlreichen Orten und einige wenige, dann offensichtlich größere, stabile Gemeinden. Die ansonsten nur punktuell, von Ort zu Ort sichtbare oder indirekt über den Wechsel von Ansiedlung und Vertreibung fassbare sehr instabile Siedlungssituation wird aus dieser empirischen Perspektive in einem größeren Blickwinkel offenkundig. 38 Auffällig ist weiterhin die starke Vereinzelung in vielen Orten, an denen nur zwei bis drei, manchmal nur eine jüdische Familie lebte. Atomisierte Siedlungsstrukturen, wie sie in Teilen Hessens 39 oder Frankens 40 noch im 18. Jahrhundert bestanden, waren zunächst auch charakteristisch für die Situation in Schwaben. Die Siedlungskonzentrationen in Form der sog. Judendörfer in Ichenhausen, Fischach, Binswangen oder Buttenwiesen sind erst ein Phänomen der zweiten Hälften des 17. und dann vor allem des 18. Jahrhunderts. Diese zerstreute und instabile Siedlungsweise im Hinterland der Reichsstädte Augsburg, Ulm und Memmingen ist in erster Linie das Resultat einer höchst wechselhaften Judenpolitik der jeweiligen territorialen bzw. lokalen Obrigkeiten. Der fortschreitende Übergang des Judenschutzes an zahlreiche, meist kleinere Orts- und Territorialherren nach den Vertreibungen aus den Städten und größeren Herrschaftsgebieten führte dazu, dass auch die grundsätzliche Frage der Ansiedlung nun auf dieser Ebene weitgehend entschieden wurde. Dabei konnte ein Besitz- oder schon ein persönlich motivierter Kurswechsel einer Ortsherrschaft in der Judenpolitik für die stets nur auf wenige Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung einer jüdischen Familie entscheidend sein. 41 Die regional unterschiedliche Ausprägung der Siedlungsmuster ist demnach eine Folge der verschiedenen Haltungen zahlreicher auf diesem politischen Feld agierender Obrigkeiten. In den von kleinen und kleinsten Herrschaftsgebieten geprägten Landschaften wie in Schwaben wurde 38 R OLF K IESSLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation - Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit, in: D ERS ., Judengemeinden in Schwaben (Anm. 21), S. 154-180, hier 166-169. 39 J. F RIEDRICH B ATTENBERG , Strukturen jüdischer Bevölkerung in Oberhessen im 17. Jahrhundert, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 6 (1996), S. 267-299. 40 K LAUS G UTH (Hg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topographisches Handbuch (Jüdische Landgemeinden in Oberfranken 1), Bamberg 1988. 41 Vgl. zusammenfassend J. F RIEDRICH B ATTENBERG , Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), München 2001, S. 76f. <?page no="174"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 175 diese Komplexität durch das Einwirken konkurrierender Herrschaftsebenen verstärkt. Bestimmend für die Ausbreitung und Ausgestaltung jüdischen Existenz waren hier neben der territorialen Ebene auch die lokale Herrschaft sowie Kaiser und Reich im Sinne einer übergeordneten Schutzherrschaft. 42 In den dabei auftretenden Konflikten gewann der Judenschutz, das Recht zur Ansiedlung und Besteuerung von Juden, auch eine weitere politische Dimension. Als verfassungsrechtliches Merkmal von Landeshoheit konnten Schutzjuden so zu einem machtpolitischen Prestigeobjekt werden, mit dem man die eigenen landesherrlichen Befugnisse gegenüber konkurrierenden Herrschaftsträgern demonstrierte. Diese politische Komplexität sorgte dafür, dass das Siedlungsgefüge von Wandel und Brüchen bestimmt war und insgesamt in Bewegung blieb. Charakteristisch dafür ist etwa der über die antijüdische Privilegienpolitik fassbare Siedlungsvorgang in Weilbach: In den Insinuierungsprotokollen für Memmingen 1541 und für Mindelheim 1542 ist jeweils ein Jude namens David erwähnt: Am 14. Januar 1541 einem Sabbat, der die Juden zur Ruhe verpflichtete (! ) wurde ihm umb Mittag Zeitt, In des Wierts behawßung in seiner underen stuben die hernach volgende Freyhaitt auch vnnder augen eröffnet und verkhindt in beysein Lenthen Jacobs unnd Jörgen Kärlers baid zu Weilbach als getzeugen dartzu Erpetten. 43 Und ein Jahr später wiederholte sich dieser Vorgang unter Mitwirkung der gleichen beiden christlichen Zeugen. 44 Danach verschwindet der Ort von der jüdischen Landkarte. 1540 war das Gut Weilbach noch im Besitz der Herren von Hund zu Lauterbach, die dem Juden offensichtlich ein Wohn- und Aufenthaltsrecht eingeräumt hatten. Als Georg Hund jedoch das Schloss und Dorf Weilbach 1544 an Anton Fugger verkaufte, verlängerte der neue Besitzer den Schutzbrief des Juden nicht mehr. 45 Die Fugger haben auch in anderen Dörfern Schwabens eine rigorose antijüdische Politik verfolgt. Sie erlangten nicht nur 1541 und 1566 antijüdische kaiserliche Privilegien, sondern wiesen auch vielfach die anwesenden Juden bei dem Erwerb einer Ortschaft aus, etwa bei der Übernahme der Herrschaft Wellenburg die jüdische Familie in Leitershofen 1596. 46 Anton Fugger führte zudem in den vierziger Jahren eine ganze Reihe von Klagen am Reichskammergericht, mit denen er die Ansprüche jüdischer Gläubiger gegenüber seinen Untertanen in Prettelshofen, Olgishofen, 42 Vgl. zu dieser Perspektive besonders R OLF K IESSLING u. a. (Hg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800 (Colloquia Augustana 25), Berlin 2007. 43 StadtA Memmingen, Urkunde 1541. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 44 BayHStA München, Gerichtsurkunden Mindelheim 1534. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 45 R. V OGEL , Mindelheim (Anm. 2), S. 140. 46 D ANA V. K OUTNÁ , Juden in fuggerischen Herrschaften, in: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN (Hg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit (Colloquia Augustana 10), Berlin 1999, S. 80-96, hier 92. <?page no="175"?> S A BINE U LLMANN 176 Babenhausen, Hegelhofen und Beblinstetten abzuwehren suchte. 47 Rigoros forderte er auch die Kennzeichnungspflicht der Juden ein. So klagte er gegen den Juden Joß zu Eisenburg, weil dieser ohne das Zeichen des gelben Ringes in Babenhausen gefasst worden war. 48 Konsequent dieser Linie folgend, ließ Anton Fugger in Weilbach, wo er nach dessen Erwerb das Schloss umbauen ließ und einen Vogt einsetzte, keine Schutzjuden mehr zu. Diesen Zusammenhang zwischen Herrscherwechseln und damit einhergehenden neuen Kursen in der Judenschutzpolitik zeigt auch die Entwicklung der Herrschaft Eisenburg, zu der die Orte Amendingen und Schwaighausen gehörten. Die Geschichte dieser Orte war durch einen fortwährenden Kauf und Verkauf einzelner Güter und Rechte geprägt, bei dem die Memminger Bürgerschaft immer wieder in Erscheinung traten. Eisenburg war offensichtlich ein zentrales Objekt der Gütererwerbspolitik im Umland der Reichsstadt. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis um 1540 - der Übergang ist nicht genau datierbar - war die Herrschaft im Besitz der Familie Sättelin, danach ging sie an Sebastian Reichlin über, der den dort anwesenden Juden ihren Schutz später offensichtlich wieder aufkündigte. 49 Eisenburg, Schwaighausen und Amendingen wurden daher bei der Insinuierung der Privilegien am Ende des 16. Jahrhunderts durch das Reichsstift Roggenburg 1582 und durch Augsburg 1599 nicht mehr berücksichtigt. 50 Für eine gewisse Stabilität sorgte allerdings die Regierung der vorderösterreichischen Linie der Habsburger, die besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zahlreiche Judenfamilien im Herrschaftsgebiet der Markgrafschaft Burgau ansiedelte. Insgesamt 29 der auf der Siedlungskarte von Rosemarie Mix verzeichneten jüdischen Siedlungen lagen innerhalb dieses Territoriums. Der Zuwachs an Siedlungsorten zwischen 1540 und 1560, den die Insinuierungsprotokolle des Mindelheimer und des Memminger Protokolls dokumentieren, lässt sich folglich in den Kontext der Habsburger Territorialpolitik stellen. Sie verstärkte sich seit 1559 mit dem Ende der Pfandschaft und der Begründung der Innsbrucker Nebenlinie. 51 Der damit verbundene Anspruch in diesem Raum, die nur partiell vorhandenen und widersprüchlichen landeshoheitlichen Rechte über die burgauischen Besitzungen auszubauen, motivierte offensichtlich auch zur verstärkten Inanspruchnahme des Judenregals als einem Merkmal der Territorialhoheit. Die Entstehung von Judengemeinden in den burgauischen Kameralorten, in denen die Habsburger über 47 Dokumentation (Anm. 4), S. 982f: BayHStA München, Reichskammergericht 5505, 5506, 5508, 5509, 5513. 48 Dokumentation (Anm. 4), S. 982: BayHStA München, Reichskammergericht 5510. 49 P ETER B LICKLE , Memmingen (HAB S 4), München 1967, S. 226f. 50 R. M IX , Wider der Juden (Anm. 22), S. 122f. 51 W. W ÜST , Günzburg (Anm. 32), S. 47f.; S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999, S. 66-74. <?page no="176"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 177 ausreichende Herrschaftsrechte in diesem ansonsten territorial ungeschlossenem Gebiet verfügten, geht darauf zurück. Da Vorderösterreich aber im burgauischen Territorium mit dem konkurrierenden Herrschaftsanspruch der insässischen adeligen und geistlichen Herrschaftsträger konfrontiert war, konnte es seine Prämissen in der Judenpolitik nicht im ganzen Herrschaftsgebiet umsetzen - auch dies erklärt die Wechsellagen in der Judenpolitik und damit in der jüdischen Migrationsgeschichte. 3. Juden als Akteure der Migrationsgeschichte Die jüdische Siedlungskarte war allerdings nicht ausschließlich das Ergebnis obrigkeitlichen Handelns der herrschaftlichen Entscheidungsträger. Neben den verschiedenen Territorial- und Ortsherren dieses Raumes haben die Juden selbst, manchmal mehr, manchmal weniger erfolgreich, diese Siedlungskarte mitgestaltet. Anna C. Fridrich hat in ihrer Untersuchung zu den jüdischen Siedlungen im Nordwesten der heutigen Schweiz zuletzt auf die jüdische Eigeninitiative bei der Konstituierung neuer Siedlungen aufmerksam gemacht und dabei u. a. auf die zentrale Bedeutung von Verwandtschafts- und Heiratsverbindungen verwiesen. Darüber hinaus war die Migration geprägt durch die Suche nach günstigen Siedlungsbedingungen und das Ergebnis einer Kommunikation zwischen zuziehenden und bereits ansässigen Juden. Weiterhin fielen wohl entscheidend die Haltungen der christlichen Gemeinden vor Ort ins Gewicht, deren Rolle im Ansiedlungsakt bisher allerdings noch kaum erforscht ist. 52 Diese Überlegungen sollen im Folgenden für den Untersuchungsraum Schwaben aufgegriffen werden. Dabei wird auch der zeitliche Blickwinkel auf das 17. Jahrhundert erweitert. Aufschlüsse für eine akteurszentrierte Perspektive der jüdischen Siedlungsgeschichte gewährt eine Amtsbuchserie der vorderösterreichischen Regierung in Innsbruck, in der der Schriftverkehr zwischen der Zentrale und den Behörden der Markgrafschaft Burgau sowie den insässischen Adelsherrschaften festgehalten wurde. In diesen Kopialbüchern findet sich eine ganze Reihe von Schutzaufnahmen, die die Innsbrucker Räte an die untergeordneten burgauischen Ämter in Schwaben kommunizierte. Fallweise wurden dabei auch immer wieder der Kontext des Vorgangs sowie weitere Bedingungen der Ansiedlungserlaubnis erläutert. Als im Juni 1605 die beiden Juden Lazarus und Nathan in Steppach in den Schutz genommen wurden, geschah dies, nachdem sie in vnderthenigkhait Supplicando darum 52 A NNA C. F RIDRICH , Zur Entstehung von Landjudengemeinden im Nordwesten der heutigen schweizerischen Eidgenossenschaft (16.-18. Jahrhundert), in: R. K IESSLING u. a. (Hg.), Räume und Wege (Anm. 42), S. 23-45, hier 43. <?page no="177"?> S A BINE U LLMANN 178 nachgesucht hatten. 53 Und als Samuel von Günzburg für eine begrenzte Zeit in der Markgrafschaft Burgau zur Eintreibung seiner Schulden und zur Abwicklung anderer Geschäfte eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt, hatte er darum zuvor selbst gebeten. 54 Auch die Söhne des Großfinanziers Simon von Günzburg, Jakob und Salomon, wurden vom Rat der Stadt auf ihr Ansuchen hin im Herbst 1586 in den Schutz genommen, nachdem ihr Vater 1585 verstorben war. 55 Dabei finden sich immer wieder Formulierungen, die aufdecken, dass den Bescheiden Suppliken und folglich Initiativen von jüdischer Seite vorausgingen. Hinweise geben Sätze wie demnach vns Samuel Jud von Günzburg gehorsamlich zuerkhennen geben 56 oder vff Ir vnnderthenig und hochfleißig pit. 57 Da die Innsbrucker Regierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Ansiedlung von Juden forcierte, wurden diese jüdischen Bittschreiben mehrheitlich positiv beschieden. Vergleichbare Vorgänge lassen sich auch noch im 17. Jahrhundert beobachten. In einem Eintrag im Emersacker Amtsprotokoll aus dem Jahre 1689 ist vermerkt: Erscheint Moses Polackh Jud von Budenwisen, bittet ihne gegen Jährlicher recognition in den Fleckhen herein zunemmen. 58 Buttenwiesen war am Ende des 17. Jahrhunderts dabei, sich zu einer großen Siedlung mit meist armen Juden zu entwickeln, die unter den strukturellen Folgen einer starken Peuplierungspolitik zu leiden hatte und somit deutlich überbesetzt war. 59 Die Judengemeinde in Emersacker war dagegen seit den 1660er Jahren im Aufschwung begriffen - ein Aufschwung, der allerdings 1700 mit dem Übergang des Dorfes an die Fugger ein jähes Ende fand, als die Juden vertrieben wurden. 60 Diese Entwicklung konnte Moses Polack freilich nicht 53 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 543r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 54 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 654, fol. 50v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 55 StadtA Günzburg, Ratsprotokolle 1584-1640, S. 39, Eintrag vom 16. Okt. 1586. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). Zur Person Simon von Günzburg und zu seinem Todesdatum: S TEFAN R OHRBACHER , Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: R. K IESSLING , Judengemeinden in Schwaben (Anm. 21), S. 80-109, hier 84-87. 56 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 654, fol. 50v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 57 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 654, fol. 646r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 58 StaatsA Augsburg, Adel Fugger-Laugna Lit. 21, S. 15, Eintrag vom 11. Aug. 1689. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 59 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 51), S. 349f. 60 D ANA K OUTNÁ -K ARG , Emersacker im späten 17. Jahrhundert. Bemerkungen zur der jüdischen Gemeinde, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Dillingen 93 (1991), S. 404-419, hier 405f. <?page no="178"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 179 abschätzen. Er erhoffte sich 1689 offensichtlich bessere Lebensbedingungen in Emersacker als in Buttenwiesen und supplizierte daher um eine dortige Schutzaufnahme. Anderen Juden gelang es wiederum, im Zuge des Ansiedlungsaktes günstige Bedingungen nach ihren individuellen Wünschen zu erwirken, die über die üblichen Bestimmungen in den Schutzbriefen hinausgingen. Als der Rat der Stadt Günzburg 1536 acht weiteren jüdischen Familien ein Wohnrecht einräumte, war unter diesen auch der Jude Hirslin, dessen Schwiegermutter Sarah bereits in der Stadt lebte. Sarah erschien vor dem Rat und bekannte, dass sy Hirsslin Juden Iren tochtermann bey Ir in Ire behawsung halten wöll. Zugleich ließ sie sich aber ihren Handlungsspielraum und ihre familiären Machtbefugnisse gegenüber ihrem Schwiegersohn verbriefen: doch soll sys gewaltig vnd maister in Irem hauss sein, vnd soll Er sy fir ain schwiger halten, wan aber sach wer das Hirsslin Jud gedachter seiner schwiger uber vnd sy vngeburlich halten wurd, das ain Ratt erkhennen möchte das Ir unlittenlichen wer, alss dan mag ain burgermaister vnd Ratt ain einsehen thuen, vnd Ir vergönnen ain andern an sein statt zu Ir zu nehmen. 61 Auf diese Weise behielt die Jüdin Sara nicht nur die häusliche Gewalt inne, sondern konnte - falls das Zusammenleben mit dem Schwiegersohn sich schwierig gestaltete - diesen wieder aus ihrem Haus weisen und dafür einen anderen Juden bei sich wohnen lassen. Diese Schutzaufnahme belegt die jüdische Eigeninitiative sowie die Relevanz der verwandtschaftlichen Netzwerke bei den Ansiedlungsakten. Offensichtlich stand der Günzburg Rat 1536 dem Zuzug von Juden positiv gegenüber, sonst wäre man kaum zu derartigen Zugeständnissen bereit gewesen. Es bedurfte folglich des Zusammentreffens verschiedener Komponenten: einer ansiedlungsbereiten städtischen oder territorialen Schutzherrschaft, einer jüdischen Gemeinde vor Ort, die neue Mitglieder aufnahm, und Juden, die um diese Aufnahme mittels Suppliken nachsuchten. André Holenstein hat am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) für das 18. Jahrhundert untersucht, welche Bedeutung die jüdischen »Bitten um den Schutz« für den sozialen Status der Schutzjuden hatten. 62 Und Johannes Mordstein analysierte das Einwirken jüdischer Supplikationsverfahren auf die Ausgestaltung landesfürstlicher Judenpolitik in den Oettinger Grafschaften. 63 Beide Arbeiten 61 StadtA Günzburg, Ratsprotokolle 1519-1627, S. 261, Eintrag vom 13. Juni 1536. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 62 A NDRÉ H OLENSTEIN , Bitten um den Schutz: Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert, in: R. K IESSLING / S. U LLMANN (Hg.), Landjudentum (Anm. 46), S.97-153. 63 J OHANNES M ORDSTEIN , Selbstbewusste Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2), Epfendorf 2005. <?page no="179"?> S A BINE U LLMANN 180 kommen zu der überzeugenden Feststellung, dass die Judenschaften über die verbreitete Praxis des Supplizierens und die ausgiebige Nutzung dieser frühneuzeitlichen Verfahrenswege die rechtlichen Rahmenbedingungen des landesherrlichen Schutzes sowie die jeweilige ›Judenpolitik‹ entscheidend mitgestalteten. Im Anschluss daran lassen sich die hier eruierten Befunde in zweierlei Hinsicht bewerten: Zum einen dokumentieren sie die ›lange Dauer‹ dieser Praxis des Supplizierens bis in das 17. und 18. Jahrhundert und zum anderen erweitern sie den Blick auf die Wirkungsweise und Bedeutung dieses Phänomens. Die jüdischen Akteure haben dabei mit den Suppliken nicht nur versucht, ihre Lebenswege selbst in die Hand zu nehmen und sich auf eine Migration einzulassen, sie haben damit auch die Siedlungslandschaften mitgestaltet, indem sie selbst immer wieder die Initiative ergriffen, um unter gesicherten Bedingungen ansässig zu werden. Die Situation, die wir auf struktureller Ebene über die Siedlungsentwicklungen in der Markgrafschaft Burgau nach 1559 fassen - den zunehmenden Ausbau der Judensiedlungen -, lässt sich somit auch durch die konkrete Vorgehensweise der Juden erklären. Sie haben sich diese Region als Siedlungsraum durch ihre Gesuche mit erschlossen. Wie die Schutzjuden dabei im Einzelnen vorgingen, wie sie untereinander Informationen über mögliche attraktive Siedlungsorte oder ansiedlungswillige Schutzobrigkeiten austauschten und dazu Wissensbestände aufbauten und kommunizierten, bleibt freilich spekulativ. Dennoch ist es naheliegend, dass die Höhe der zu zahlenden Schutzgelder oder günstige Rahmenbedingungen für die jüdische Handelstätigkeit ebenso Entscheidungskriterien sein konnten wie die religiös-kultischen Siedlungsqualitäten eines Ortes, so z. B. seine Entfernung zum nächsten jüdischen Friedhof oder die Existenz einer Synagoge. Für die erste Ansiedlung in Oberhausen bei Augsburg 1556 hat Stefan Rohrbacher zudem Handelsbeziehungen als Migrationsmotiv offenlegen können. 1553 erlangte Simon von Günzburg beim Augsburger Bischof die Vollmacht, zwei [jüdische] Hausväter in ihren Flecken Oberhausen, welche auch immer mir [ihm] gelegen und dazu geeignet seien, anzusiedeln. 64 Das war ein ›Blankoprivileg‹ für eine Schutzaufnahme, wie es in vergleichbarer Weise auch die oben erwähnte Jüdin Sarah für ihr Haus in Günzburg 1536 erhalten hatte. Simon von Günzburg nutzte dieses Privileg, um seinem Geschäftspartner Nathan Schotten und dessen Frau in Oberhausen ein Wohnrecht auf zunächst drei Jahre zu verschaffen. Diese Ansiedlung ist umso bemerkenswerter, als das Hochstift Augsburg ansonsten eine rigorose antijüdische Politik verfolgte und keine Juden in seinen Ortschaften duldete. So war zwischen dem Domkapitel und Kardinal Otto Truchsess von Waldburg 1557/ 58 vereinbart worden, dass die Juden aus Dillingen 64 Zitiert nach S TEFAN R OHRBACHER , Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: R. K IESS - LING / S. U LLMANN (Hg.), Landjudentum (Anm. 46), S. 192-219, hier 195. <?page no="180"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 181 ausgeschafft werden sollten. Die vollständige Judenausweisung aus dem hochstiftischen Territorium, zu der sich der Nachfolger Bischof Johann Eglof von Knöringen in seiner Wahlkapitulation verpflichtet hatte, erfolgte schließlich 1602. 65 Nathan Schotten verließ allerdings Oberhausen schon wieder im Jahre 1564 - nach einem Zerwürfnis mit seinem Geschäftspartner, das in der Folge sowohl das Frankfurter Rabbinatsgericht als auch das Reichskammergericht beschäftigte. Eine geschäftliche Partnerschaft hatte somit ein Ansiedlungsprojekt motiviert. Dahinter stand offensichtlich die Strategie von jüdischer Seite, den Geschäftsfreund in unmittelbarer Nähe Augsburgs anzusiedeln, um so am Handelsgeschehen eines der bedeutendsten oberdeutschen Wirtschaftszentren des 16. Jahrhunderts zu partizipieren. Inwieweit dabei finanzielle Verflechtungen zwischen dem jüdischen Familienverband des Simon von Günzburg und den Augsburger Finanziers und Kaufleuten eine Rolle spielten, wäre weiter zu prüfen. Anhaltspunkte dafür liefert die Bürgschaft des Augsburger Patriziers und Bankiers David Baumgartner für einen Kredit Nathan Schottens und Simons von Günzburg an Heinrich Truchsess von Höfingen über 4.750 fl. 66 Die Baumgartner-Gesellschaft machte 1565 bankrott, ein Jahr nachdem Nathan Schotten nach dem Zerwürfnis mit Simon von Günzburg aus Oberhausen geflohen war. Diese Ansiedlungsinitiative Simons von Günzburg war zweifelsohne spektakulär und sicher seinem besonderen Status geschuldet. Simon, der bis zu seinem Tode 1585 in Günzburg residiert hatte, war in Schwaben das Oberhaupt einer ebenso wohlhabenden wie einflussreichen und überdies zahlreichen jüdischen Familie. So war der Familienverband nicht nur im Besitz einer einzigartigen Pariser Talmudhandschrift von 1342, sondern ihm werden auch die meisten der hebräischen Manuskripte, die aus diesem Raum für das 16. Jahrhundert überliefert sind, als Auftragsarbeiten zugeschrieben. Bei Simon und seinen Söhnen waren zudem verschiedene Adels- und Klosterherrschaften hoch verschuldet, wie das Stift Roggenburg oder die Herren von Roth und nicht zuletzt der Augsburger Bischof. 67 Obwohl dies als ein Sonderfall zu begreifen ist, belegen die anderen hier zitierten Einträge in den Innsbrucker Amtbüchern ebenso wie die dörflichen Aufzeichnungen der Adelsherrschaften, dass auch weniger wohlhabende Juden von sich aus die Initiative ergriffen und Schutzgesuche einreichten. 65 W. W ÜST , Judenpolitik der geistlichen Territorien (Anm. 21), S. 133. 66 S. R OHRBACHER , Ungleiche Partnerschaft (Anm. 64), S. 202. 67 S. R OHRBACHER , Ungleiche Partnerschaft (Anm. 64), S. 198f. Vgl. weiterhin seine Schuldprozesse am Reichskammergericht; Dokumentation (Anm. 4), S. 978-983: BayHStA München, Reichskammergericht 3712, 4166, 4922, 5513, 5530, 5531, 7222, 9839, 9930, 13278, 13293, 13715. <?page no="181"?> S A BINE U LLMANN 182 Dokumentiert ist hier allerdings nicht nur das Bemühen um die Erschließung neuer Siedlungsmöglichkeiten, sondern auch die verzweifelten Versuche der Judenschaften, an den einmal gewonnenen Wohnorten festzuhalten und angedrohte Ausweisungen zu verhindern. Am 25. Juni 1588 verfassten die in der Stadt Burgau ansässigen Juden eine Supplik an Erzherzog Ferdinand, in der sie ihn über die Pläne von Rat und Gemeinde informierten, ihre Ausschaffung zu bewerkstelligen. 68 Das Gesuch der Burgauer Judengemeinde, dagegen einzuschreiten, war offensichtlich erfolgreich: Die Judenfamilien konnten sich noch 30 Jahre lang in der Stadt halten; erst 1618, unter Markgraf Karl von Burgau, wurde die Gemeinde aufgelöst. Vergleichbare Vorgänge lassen sich für das Dorf Pfersee vor den Toren Augsburgs rekonstruieren. In den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts war es Simon von Günzburg auch hier gelungen, ein Ansiedlungsprojekt für zwei seiner Söhne, Lazarus und Leo, zu realisieren. Es liegt auf der Hand, dass für den jüdischen Großfinanzier die Ansiedlung seiner Söhne erneut eine geschäftsstrategisch gut überlegte Entscheidung war. Denn Pfersee verfügte, wie Oberhausen oder Steppach, über besonders attraktive Bedingungen durch die unmittelbare Nähe zum reichsstädtischen Markt. Als allerdings das Dorf, das im wechselnden Besitz verschiedener Augsburger Familien war, 1579 von Martin Zobel aufgekauft wurde, versuchte dieser die Söhne Simons von Günzburg auszuweisen. Der letztlich erfolgreiche Kampf der beiden Juden um ihr Aufenthaltsrecht lässt sich bis in das Jahr 1604 verfolgen: Als Martin Zobel im Sommer 1601 an die Innsbrucker Regierung unter Verweis auf ein Interimsmitteln - einem Vergleich zwischen den Insassen und der vorderösterreichischen Regierung über die Handhabe des Judenschutzes aus dem Jahre 1587 - um das Recht zur Ausweisung appellierte, 69 erwirkten im Gegenzug Leo und Lazarus von Günzburg einen kaiserlichen Schutzbrief, um für weitere zehn Jahre in Pfersee zu wohnen. 70 Zwei Jahre später und nochmals im Februar 1604 reichte Martin Zobel weitere Gesuche wegen der Ausschaffung der Pferseer Juden in Innsbruck ein. 71 Die Juden beschwerten sich jedoch abermals und baten darum, ihr Schutzprivileg um weitere zwanzig Jahre zu verlängern. 72 Dies wurde ihnen auch gewährt, und zwar mit langfristigen Folgen: In Pfersee konnte sich bis 68 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 650, fol. 152v-153r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 69 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 116r-116v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 70 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 137v-139v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 71 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 149r-149v, und Vorderösterreich Lit. 652, fol. 424v-425r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 72 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 445v-446r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). <?page no="182"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 183 zum Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich die Vorstadtgemeinde mit der Wiederzulassung in die Städte schrittweise aufzulösen begann, eine jüdische Gemeinde halten. Ähnliches lässt sich für Steppach bei Augsburg beobachten. Hier war es der Ortsherr Ferdinand von Baumgarten, der eine Ausweisung zwar anstrebte, aber sich gegen die intervenierenden Juden nicht durchsetzen konnte: So baten im Juni 1605 Lazarus und Nathan aus Steppach, dass sie unter österreichischem Schutz und Schirm verbleiben und nicht weiter bedrängt werden möchten. 73 Wenige Tage darauf erging der Bescheid an Ferdinand von Baumgarten, dieses zu unterlassen, da die Juden Schutz- und Schirmgeld an das burgauische Rentmeisteramt zahlten. Die burgauischen Beamten wurden sogar eigens angewiesen, die beiden Juden vor weiteren Anfeindungen zu schützen. 74 Ein besonders spektakulärer Fall ereignete sich schließlich in den Jahren 1617/ 18, als sich mit dem Regierungsantritt Markgraf Karls von Burgau auch der judenpolitische Kurs in der Markgrafschaft Burgau änderte. Auf Drängen der Bürgerschaft in Günzburg sowie des Augsburger Bischofs Heinrich V. von Knörringen erließ der Markgraf 1617 einen Ausweisungsbefehl für alle Judengemeinden in der Markgrafschaft innerhalb einer Jahresfrist. Erneut wehrten sich die jüdischen Gemeinden unter der Federführung des Juden Samuel aus Pfersee erfolgreich. Sie erwirkten 1618 einen Schutzbrief von Kaiser Matthias, der zwar nicht die Auflösung der Gemeinden in Burgau und Günzburg verhindern konnte, aber doch das Wohnrecht in den Orten der insässischen Adelsherrschaften, in Neuburg an der Kammel, Thannhausen, Hürben, Binswangen, Ichenhausen und Pfersee, sicherstellte. 75 In all diesen Fällen nutzten die Juden den Handlungsspielraum, der sich ihnen durch die folgenden konkurrierenden Herrschaftsebenen eröffnete: Einerseits war es die vorderösterreichische Landeshoheit, die einen Teil des Judenschutzes für sich beanspruchte, andererseits agierten die im Vergleich zu den Habsburgern weitaus weniger politisch potenten Ortsherren aus dem reichsstädtischen Bürgertum. Hinzu kam das für diese Region charakteristische Wirken kaiserlicher Schutzfunktionen, die sich aus der besonderen Nähe zu Kaiser und Reich ergaben. 76 Die supplizierenden Schutzjuden wiederum wirkten gleichfalls auf das Siedlungsbild mit ein, indem sie für eine Stetigkeit dieser Gemeinden sorgten. Denn in der Folge 73 StaatsA Augsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 543r-543v. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 74 StaatsAAugsburg, Vorderösterreich Lit. 652, fol. 541v-542r. Ediert in: R. K IESSLING , Judenverordnungen (Anm. 3). 75 Vgl. dazu ausführlich S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 51), S. 72f. 76 R OLF K IESSLING , Under des Römischen Adlers Flügel … Das Schwäbische Judentum und das Reich, in: R AINER A. M ÜLLER (Hg.), Bilder des Reiches (Irseer Schriften 4), Sigmaringen 1997, S. 221-254. <?page no="183"?> S A BINE U LLMANN 184 entwickelten sich diese Ortschaften als Rückzugsmöglichkeit für Juden, die andernorts ausgewiesen wurden, und wuchsen entsprechend an. 4. Fazit Wie lassen sich nun diese Beobachtungen zu Schwaben in den Zusammenhang der jüdischen Siedlungsgeschichte bzw. Mobilitätsgeschichte im Reich einordnen? Der jüdischen Bevölkerung wurde mehrfach eine insgesamt hohe Mobilität in der vormodernen Gesellschaft zugesprochen - innerhalb der einzelnen Siedlungsregionen, im Inneren des Reiches sowie zu den anderen europäischen Zentren des Judentums, nach Prag oder in die Niederlande. 77 Die Absicherung des alltäglichen Lebensunterhalts, die Erfüllung religiöser Pflichten sowie weit gespannte Familienverbindungen waren Motive für eine ausgeprägte Mobilität. Diese Situation war zunächst schlicht eine Konsequenz der zerstreuten Siedlungsweise, sodass Juden notwendigerweise über größere Entfernungen hinaus Kontakte aufrechterhalten mussten. Zudem prägten zahlreiche erzwungene Migrationen die jüdische Existenz im frühneuzeitlichen Reich. So war besonders der Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit von komplexen Wanderungsphänomen geprägt, das durch die Vertreibungen der Judengemeinden aus den Städten und den größeren Territorien während des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgelöst wurde. Diese Ausweisungen, etwa aus Augsburg 1438/ 40, aus Ulm 1499, aus Nördlingen 1507, zehn Jahre später aus Donauwörth 1517, dann aus den beiden bayerischen Teilherzogtümern 1442 sowie aus Württemberg 1498, 78 hatten in ihrer Gesamtheit erhebliche Rückwirkungen auf die Siedlungsentwicklung im schwäbischen Raum. Sie lösten eine schrittweise Verdrängung der Judengemeinden aus den großen urbanen Zentren aus und waren somit für diese zerstreute, instabile Siedlungsweise auf dem Lande verantwortlich. 77 J. F RIEDRICH B ATTENBERG , Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriss, in: R. K IESSLING u. a. (Hg.), Räume und Wege (Anm. 42), S. 207-217. 78 F RIEDRICH B ATTENBERG , Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich, in: M ONIKA R ICHARZ / R EINHARD R ÜRUP (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Insituts 56), Tübingen 1992, S. 9-35; R. K IESSLING , Judendörfer in Ostschwaben (Anm. 38), S. 158f.; für Württemberg vgl. nun S TEFAN L ANG , Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im »Land zu Schwaben« (1492-1650) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 63), Ostfildern 2008, S. 40-53. <?page no="184"?> S IEDL UNG S GE S C HIC HT E AL S M IG R ATION SG ES CHI CH TE 185 Aus ›Stadtjuden‹ wurden allerdings keineswegs in einer Generation ›Landjuden‹, vielmehr lassen sich schrittweise Übergänge beobachten: Die Herkunftsnamen, die im Rahmen des Projekts der ›Germania Judaica‹ für Augsburg nach der Ausweisung dort 1438/ 40 zusammengetragen wurden, belegen umfassend, dass die Augsburger Juden zunächst in anderen Städten Zuflucht suchten und fanden; einzelne wanderten nach Günzburg, Bamberg, Mainz, Nördlingen und nach Ulm weiter. In all diesen Städten lassen sich beispielsweise zwischen 1438 bis 1449 Juden mit dem Herkunftsnamen ›von Augsburg‹ urkundlich belegen. 79 Um den restriktiven Maßnahmen und Verfolgungen der christlichen Obrigkeiten immer wieder ausweichen zu können und sich neue Siedlungsorte zu erschließen, bedurfte es aber weitgespannter Kommunikationsnetze. Die erzwungenen Migrationen und die dadurch gesteigerte Mobilität intensivierten daher wohl auch die Austauschprozesse über die wechselnden Erfahrungswelten. Die ausgeprägte Mobilitätspraxis und der daraus gewonnenen Erfahrungswert qualifizierte die Juden vielleicht zudem immer mehr, selbst als Akteure der Siedlungsentwicklungen in Erscheinung zu treten. Die Migrationen waren dabei zweifelsohne vielfach durch die christlichen Obrigkeiten erzwungen, aber die darauf folgenden Neuansiedlungen wurden durchaus von den Juden mitgesteuert. Daneben gelang es ihnen an einigen Orten durch die erfolgreiche Aktivierung übergeordneter Schutzinstanzen, an einmal gewonnenen Wohnorten im 16. und dann vor allem zu Anfang des 17. Jahrhunderts festzuhalten. Insofern ist diese Siedlungskarte nicht nur das Ergebnis einer spezifischen Ansiedlungs- und Judenpolitik der jeweiligen Herrschaftsträger, sondern auch mit das Ergebnis der Erschließung einer Siedlungsregion durch jüdische Initiative. Künftigen Forschungen, die Juden stärker als Akteure in Migrationsprozessen in den Blick nehmen, stehen dabei eine ganze Reihe Quellen zur Verfügung, wenn man diese nicht mehr allein nach den Inhalten der Aufnahmebedingungen befragt, sondern auch die dort dokumentierten Verfahrenswege der Schutzaufnahme und damit die Vorgeschichte der Ansiedlungsakte betrachtet. Wie sehr die jüdische Bevölkerung die Auswahl ihrer neuen Wohnorte auf dem Lande mitsteuern konnte und wie erfolgreich sie v. a. bei ihren Bemühungen war, an den einmal gewonnenen Orten festzuhalten, könnte schließlich auch nochmals ein anderes Licht auf ihren sozialen Status in der frühneuzeitlichen Gesellschaft werfen. Dabei sollten künftig v. a. die Gemeinden stärkere Berücksichtigung finden, als das bisher geschehen ist. So haben Mark Häberlein und Martin Zürn grundsätzlich auf die zentrale Rolle der Gemeinden als »Kristallisationspunkte der Integration von Minderheiten« hinge- 79 A RYE M AIMON / M ORDECHAI B REUR / Y ACOV G UGGENHEIM (Hg.), Germania Judaica III/ 2, 1350-1519, Tübingen 1995, S. 788, 978, 1498; A RYE M AIMON (Hg.), Germania Judaica III/ 1, 1350-1519, Tübingen 1987, S. 74, 479. <?page no="185"?> S A BINE U LLMANN 186 wiesen 80 - dieser Ansatz könnte, erweitert um die ebenso entscheidende Funktion der jüdischen Gemeinden vor Ort, die Entwicklungslinien und Strukturen der Siedlungskarte des ländlichen Judentums weiter erhellen. 80 M ARK H ÄBERLEIN / M ARTIN Z ÜRN (Hg.), Minderheiten als Problem der historischen Forschung. Einleitende Überlegungen, in: D IES . (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Ausgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001, S. 9-39, hier 13f.; Vgl. dazu auch A NDRÉ H OLENSTEIN / S ABINE U LLMANN (Hg.), Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 12), Epfendorf 2004, S. 9-29. <?page no="186"?> 187 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Illegale Migration als Lebensform: ›Zigeuner‹ zwischen Arlberg und Bodensee im 18. Jahrhundert Die Vorarlberger Landesgeschichte hat sich seit jeher der Erforschung der Migration angenommen. 1 So liegen mittlerweile zu einer Reihe von Wanderungsformen Untersuchungen vor. Aus der Fülle der Forschungsthemen seien lediglich die religiös bedingten Migrationen während und nach der Reformationszeit, 2 die Arbeitsmigration der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts 3 mit ihren Sonderformen der Soldwanderung, 4 der Kindermigration der so genannten ›Schwabenkinder‹ 5 und des Hausierhandels, 6 die Auswanderungen nach Nord- 7 und Südamerika, 8 die 1 Einen Überblick für das 19. Jahrhundert bietet M ARKUS W. H ÄMMERLE , Glück in der Fremde? Vorarlberger Auswanderer im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Rheticus- Gesellschaft 25), Feldkirch 1990. 2 H ILDEGUND G ISMANN -F IEL , Das Täufertum in Vorarlberg (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 4, der ganzen Reihe 11), Dornbirn 1982; M ANFRED T SCHAIKNER , Ein Brief aus Sabatisch (1642) - Walgauer Täufer in Mähren und Oberungarn, in: Bludenzer Geschichtsblätter 104 (2013), S. 75-80. 3 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Arbeit in der Fremde. Bemerkungen zur Vorarlberger Arbeitsmigration vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, in: Montfort 48 (1996), S. 105-117; H ANNELORE B ERCHTOLD , Die Arbeitsmigration von Vorarlberg nach Frankreich im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 42), Feldkirch 2003. 4 R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, passim; M ANFRED T SCHAIKNER , Die Bemühungen um den Freikauf der 1552 von den Türken in Ungarn gefangenen Vorarlberger, Liechtensteiner und Klettgauer, in: Montfort 58 (2006), S. 13-38; D ERS ., Söldner aus den Gerichten Simmerberg und Grünenbach in Ungarn (1552), in: Jahrbuch des Landkreises Lindau 21 (2006), S. 98-100; H ERIBERT K ÜNG , Glanz und Elend der Söldner. Appenzeller, Graubündner, Liechtensteiner, St. Galler und Vorarlberger in fremden Diensten vom 15. bis 19. Jahrhundert, Disentis 1993. 5 O TTO U HLIG , Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg (Tiroler Wirtschaftsstudien 34), 3. Aufl. Innsbruck 1998; R EGINA L AMPERT , Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864-1874 (Das volkskundliche Taschenbuch 9), Zürich 2010. 6 K ARL H EINZ B URMEISTER , Heimischer und fremder Hausierhandel in Vorarlberg, in: U RSUS B RUNOLD (Red.), Gewerbliche Migration im Alpenraum (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer), Bozen 1994, S. 569-585; M ONIKA V OLAUCNIK -D EFRAN - CESCO , Arme und Hausierer in der jüdischen Gemeinde von Hohenems 1800-1860 (For- <?page no="187"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 188 Zuwanderung aus dem Trentino und aus Reichsitalien im 19. und 20. Jahrhundert 9 oder die verschiedenen Zuwanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg 10 genannt. Auch für die frühe Neuzeit liegen einschlägige Studien vor. Untersucht wurden u. a. Emigrationen aus den südlichen Landesteilen vornehmlich in den Schwarzwald und nach Oberschwaben, 11 aus der Reichsgrafschaft Hohenems 12 und dem Reichshof Lustenau. 13 Die ›fahrenden Leute‹, zu denen ebenfalls etliche einschlägige schungen zur Geschichte Vorarlbergs 12), Dornbirn 1993; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Fremde Wanderkrämer und Keßler in der Grafschaft Hohenems und im Reichshof Lustenau, in: M ARK H ÄBERLEIN / M ARTIN Z ÜRN (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001, S. 233-267. 7 Von den zahlreichen Veröffentlichungen Meinrad Pichlers zu diesem Thema sei lediglich verwiesen auf: M EINRAD P ICHLER , Auswanderer. Von Vorarlberg in die USA 1800-1938, Bregenz 1993; D ERS ., Neue Heimat Illinois/ Iowa. Amerikanische Schicksale zweier Oberländer Auswanderer, in: Rheticus. Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft 27 (2005), S. 5-13; D ERS ., »Dort ist ein armes, dahier ein reiches Land«. Auswandererbriefe aus den USA am Beispiel eines Vorarlberger Bestandes, in: C HRISTA H ÄMMERLE / E DITH S AURER (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute (L’ Homme Schriften 7), Wien u. a. 2003, S. 163-185. 8 W ERNER D REIER , Colónia Áustria Bairro da Seda. Vorarlberger Auswanderer nach Brasilien (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs, Sonderbd.), Bregenz 1996. 9 K ARL H EINZ B URMEISTER / R OBERT R OLLINGER (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino - Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/ 80 bis 1919, Sigmaringen 1995. 10 E RIKA T HURNER , Der »Goldene Westen«? Arbeitszuwanderung nach Vorarlberg seit 1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 14), Bregenz 1997; W ERNER M ATT , »Ich hab mich in den Zug gesetzt und nicht einmal gewußt, wo Vorarlberg überhaupt ist«. Arbeitsmigration nach Vorarlberg von 1945 bis 2000 am Beispiel Dornbirn, in: Österreich in Geschichte und Literatur 54 (2010), S. 316-330; O LIVER H EINZLE , Die ersten türkischen »Gastarbeiter« in Lustenau, in: Neujahrsblätter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau 3 (2012), S. 107-124. 11 M ANFRED T SCHAIKNER , Zur Auswanderung aus dem südlichen Vorarlberg im 16. Jahrhundert, in: Bludenzer Geschichtsblätter 24-26 (1995), S. 324-346; E BERHARD F RITZ , Von Vorarlberg nach Oberschwaben - Auswanderungen nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Bludenzer Geschichtsblätter 93 (2009), S. 74-97; D ERS ., Auswanderer aus Vorarlberg in den Raum Altshausen. Namensliste und Quellen zu den Auswanderungen nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Bludenzer Geschichtsblätter 94 (2009), S. 43-77. 12 L UDWIG W ELTI , Ins Schwäbisch-Fränkische ausgewanderte Vorarlberger aus Hohenems und Umgebung im 17. Jahrhundert, in: Blätter für Württembergische Familienkunde 8 (1939), S. 38-42. 13 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Mobilität und Migrationen in der Geschichte des frühneuzeitlichen Reichshofes Lustenau, in: Neujahrsblätter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau 3 (2012), S. 15-68. <?page no="188"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 189 Untersuchungen vorliegen, 14 wurden in diesem Kontext bislang allerdings nicht thematisiert. 1. Zur Begrifflichkeit In jüngeren Forschungen zur Migrationsgeschichte finden auch die Wanderungen Vagierender, darunter die der ›Zigeuner‹, Berücksichtigung. Sie werden meist unter der so genannten ›Subsistence-Migration‹, der gemeinhin Menschen zugerechnet werden, die »so arm« gewesen seien, »dass sie fortziehen müssten, um nicht in Armut den Hungertod zu sterben«, 15 subsumiert oder zusammen mit Bettlern, Betteljuden, arbeitslosen Söldnern usw. unter dem Schlagwort »illegale Mobilität« zusammengefasst. 16 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass durch die »Trennung« der in den Quellen als ›Zigeuner‹ oder ›Landstreicher‹ titulierten Menschen »von anderen Migranten […] moralische Assoziationen« befördert und damit die zeitgenössische »Vorstellung, diese Menschen hätten hauptsächlich vom Betteln und Stehlen gelebt und eine Subkultur gebildet, in der andere Normen und Werte herrschten«, verstärkt werden können und dass es überaus problematisch ist, ein »unterschiedliches Migrationsverhalten« von Handwerkern oder Wanderarbeitern und Vagierenden zu implizieren. Es kann nämlich mittlerweile als gesichert gelten, dass die Ausübung mehrerer Berufe in der frühen Neuzeit - abgesehen von Kaufleuten und zünftigen Handwerkern - eher die Normalität als eine Ausnahme darstellte und dass Betteln »ein vorübergehender Status in Zeiten der Arbeitslosigkeit sein« konnte. 17 Dies wurde auch für die aus Vorarlberg stammenden frühneuzeitlichen Wanderhandwerker gezeigt. So übte beispielsweise der aus St. Gallenkirch im 14 L UDWIG W ELTI , Fahrendes Volk im Reichshof Lustenau, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 114 (1970), S. 145-148; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Armut und Not als soziales Problem. Aspekte der Geschichte vagierender Randgruppen im Bereich Vorarlbergs vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Innsbrucker Historische Studien 12/ 13 (1990), S. 69-96; D ERS ., Zigeuner im Reichshof Lustenau, in: Neujahrsblätter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau 1 (2010), S. 77-105; D ERS ., Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg, in: Österreich in Geschichte und Literatur 54 (2010), S. 283-297. 15 J AN L UCASSEN / L EO L UCASSEN , Alte Paradigmen und neue Perspektiven in der Migrationsgeschichte, in: M ATHIAS B EER / D ITTMAR D AHLMANN (Hg.), Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert (Migration in Geschichte und Gegenwart 1), Essen 2004, S. 17-42, hier 25. 16 A NNETTE H ENNIGS , Gesellschaft und Mobilität. Unterwegs in der Grafschaft Lippe 1680 bis 1820 (Sonderveröff. des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe 66), Bielefeld 2002, S. 202-239. 17 J. L UCASSEN / L. L UCASSEN , Alte Paradigmen (Anm. 15), S. 26f. (Zitat). <?page no="189"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 190 Montafon stammende Quirin Mangard, der geradezu als »Prototyp des Arbeitsmigranten« gelten kann, eine ganze Palette verschiedener Tätigkeiten aus: Sein angestammter Beruf war der des Zimmermanns. Als solcher zog er im Sommer 1778 nach Davos. Dort errichtete er für das Haus des Dorfvorstehers einen Dachstuhl. Nachdem diese Arbeit erledigt war, kehrte er ins Montafon zurück. Im Herbst finden wir ihn dann in Schwaben, in Augsburg und Donauwörth, wo er jeweils als Krauthobler arbeitete. Danach kehrte er erneut ins Montafon zurück. Bald darauf ging er nach Füssen. Als er im Dezember schließlich »über Reutte, Leermos, Nassereith, Imst, Landeck, das Paznaun und die Bielerhöhe wieder nach St. Gallenkirch« zurückkehrte, »bettelte er«. Gleichzeitig arbeitete seine Gattin als Spinnerin im Schwabenland. Nur die zehnjährige Tochter der beiden blieb währenddessen zu Hause im Montafon. Sie war übrigens »das einzige überlebende von sechs Kindern«. 18 Quirin Mangard war alles andere als ein Einzelfall. Auf ähnliche Überlebensstrategien verweisen auch immer wieder Einträge in den frühneuzeitlichen Sterbebüchern. 19 Die im frühneuzeitlichen Vorarlberg weit verbreitete Arbeitsmigration wurde in vielen Fällen freilich auch zu einem » ›Eingangstor‹ in die Randständigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit«. 20 Hier zeigt sich, dass wir Migration als einen »ergebnisoffenen« Prozess begreifen müssen, bei dem »Wanderungsintention und Wanderungsergebnis nicht selten deutlich auseinandertraten«. 21 Dass dabei die Grenze zwischen den einzelnen Migrationskategorien, etwa zwischen der ›subsistance migration‹ und der Arbeitsmigration, aber auch zwischen ›legaler‹ und ›illegaler‹ Migration häufig verschwimmen, braucht wohl nicht eigens betont werden. 22 Wenn diese Begriffe im Folgenden wenigstens teilweise übernommen werden, so geschieht das ausschließlich im Sinne wissenschaftlicher Vereinbarung. Ausdrücklich soll damit kein 18 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Montafoner Schatzgräberei, in: Bludenzer Geschichtsblätter 24-26 (1995), S. 156-164, hier 158-159. 19 Beispiele für den Reichshof Lustenau bei: W. S CHEFFKNECHT , Mobilität und Migrationen (Anm. 13), S. 49. 20 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Zwischen Randgruppendasein und Teilintegration. Fremde in der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Der Reichshof Lustenau als Beispiel, in: P ETER M AURITSCH / C HRISTOPH U LF (Hg.), Kultur(en). Formen des Alltäglichen in der Antike. FS für Ingomar Weiler zum 75. Geburtstag (Nummi et Litterae 7), Graz 2013, S. 733-758, hier 753. 21 J OCHEN O LTMER , Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 5-27, hier 11. 22 Beim Terminus »illegale Mobilität« gilt es zu berücksichtigen, dass es sich dabei um »eine stark normative Kategorie« handelt, die einseitig »die Perspektive der Obrigkeit« wiedergibt. J OHANNES A RNDT , Rezension von: A. H ENNIGS , Gesellschaft und Mobilität (Anm. 16), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.6.2003], URL: http: / / www.sehepunkte.de/ 2003/ 06/ 2558.html (abgerufen am 4.1.2013). <?page no="190"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 191 grundsätzlich anderes Migrationsverhalten als bei anderen Gruppen angedeutet werden. Auch die Verwendung des Terminus ›Zigeuner‹ bedarf einer Erklärung. ›Zigeuner‹ ist ein Quellenbegriff, dessen Geschichte bis ins Spätmittelalter zurückreicht. 23 Es handelt sich primär um eine Fremdbezeichnung, die im Laufe der Zeit auch von den so Benannten übernommen wurde. Sie wirkte bereits in der frühen Neuzeit stigmatisierend. Spätestens seit der NS-Zeit ist sie so negativ besetzt, dass sie mittlerweile fast völlig durch »die ethnische Gruppenbezeichnung Sinti und Roma« ersetzt wurde. 24 Dennoch gibt es Gründe, in einer Untersuchung über die frühneuzeitlichen Verhältnisse am Terminus ›Zigeuner‹ festzuhalten. In diesem Zusammenhang wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Begriff »von den Angehörigen dieser Minderheit auch selbst verwendet wurde«. 25 Dem wird entgegengehalten, dass »Fremdbild und Selbstbild«, auch wenn sie »konträr zueinander stehen, im individuellen wie kollektiven Bewusstsein […] so eng wie widersprüchlich miteinander verschränkt sein« können. »Dass auch einmal ein Angehöriger der Minderheit den stigmatisierenden Begriff auf sich anwendet, womit wiederum sein Gegenüber aus der Mehrheitsbevölkerung seinen Sprachgebrauch legitimiert«, belege lediglich, »dass hier wie dort Klärungsbedarf besteht«. Die »unreflektive Sprachpraxis der Mehrheitsgesellschaft« setze sich so über das »minoritäre Selbstverständnis« hinweg, das durch die Verwendung der Begriffe »Sinti« oder »Roma« »den Anspruch auf eine eigene Perspektive zum Ausdruck« bringe. 26 Es ist allerdings festzuhalten, »daß die Bezeichnungen ›Sinti‹ oder ›Roma‹ in den historischen 23 Er wird wohl 1424 zum ersten Mal von Andreas von Regensburg in seinem Diarium Sexennale verwendet. Er schreibt von einer gens Ciganorum, volgariter Cigäwnär vocitata, die unter anderem auch in der Gegend um Regensburg aufgetaucht sei. Bemerkenswert ist, dass Andreas eine volkssprachliche Version nennt. Offensichtlich war seine Darstellung »bereits durch eine mündliche Meinungsbildung vorgeprägt«; R EIMER G RONEMEYER , Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Giessen 1987, S. 19, 21. 24 L EO L UCASSEN , Zigeuner im frühneuzeitlichen Deutschland: neue Forschungsergebnisse, -probleme und -vorschläge, in: K ARL H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 235-262, hier 238. 25 A CHIM L ANDWEHR , Norm, Normalität, Anomale. Zur Konstitution von Mehrheit und Minderheit in württembergischen Policeyordnungen der Frühen Neuzeit: Juden, Zigeuner, Bettler, Vaganten, in: M. H ÄBERLEIN / M. Z ÜRN (Hg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft (Anm. 6), S. 41-74, hier 56, Anm. 52. 26 U LRICH F. O PFERMANN , »Seye kein Zigeuner, sondern kayserlicher Cornet«. Sinti im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung anhand archivalischer Quellen (Dokumente - Texte - Materialien 65), Berlin 2007, S. 31-38, Zitat 32. <?page no="191"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 192 Quellen nicht auftreten«. 27 Auch Ulrich Friedrich Opfermann, der für eine Verwendung des Begriffs ›Sinti‹ für die frühe Neuzeit plädiert, musste einräumen, dass dieser Terminus als »Selbstbezeichnung in den Quellen nicht verwendet [wird], gleich wer spricht«. 28 Er rechtfertigt seine Anwendung jedoch damit, dass es sich um die Vorfahren der heutigen ›Sinti‹ handle. 29 Auch wenn Familien, über deren Familiennamen Opfermann eine Verbindung zu den frühneuzeitlichen ›Zigeunern‹ herstellen zu können glaubt, im 19. Jahrhundert die Bezeichnung ›Sinti‹ verwendeten, sagt das mit Verlaub nichts darüber aus, dass dies auch dem Verständnis ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Vorfahren in früheren Jahrhunderten entsprochen hat. Dazwischen liegt eine Entwicklung, die, wie für die Darstellung der ›Zigeuner‹ in deutschsprachigen Lexika gezeigt werden konnte, »aus der primär sozialen eine ethnische Kategorie« werden ließ. 30 In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, dass »der indische Ursprung der Zigeuner« erst um 1780 »entdeckt wurde«. 31 Diese Einwände wiegen m. E. schwer. Wir müssen zumindest damit rechnen, dass wir es hier mit einer Art ›invented tradition‹ zu tun haben. 27 T HOMAS F RICKE , Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand südwestdeutscher Quellen (Geschichtswissenschaft 40), Pfaffenweiler 1996, S. 10-12, Zitat 11. 28 U LRICH F. O PFERMANN , Die Situation der »Zigeuner« in den Territorialstaaten zwischen Main, Lahn und Sieg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Drei Fälle im Vergleich, in: U DO E NGBRING -R OMANG / W ILHELM S OLMS (Hg.), »Diebstahl im Blick? « Zur Kriminalisierung der »Zigeuner« (Beiträge zur Antiziganismusforschung 3), Seeheim 2005, S. 64-115, hier 64. Tatsächlich kann er für die Zeit vor 1750 keine Belege dafür bringen, dass sich Angehörige der genannten Minderheit selbst als »Sinti« oder »Roma« bezeichnet hätten. Er verweist lediglich auf zwei isolierte Belege aus den Jahren 1753 und 1755: Im ersten Fall hat ein ›Zigeuner‹ seine Frau in einem Brief als »Romi«, wobei dieses Wort hier in der Bedeutung »Frau« verwendet wurde (vgl. T H . F RICKE , Zigeuner [Anm. 27], S. 544, wo der entsprechende Brief ediert ist), und seine Gruppe als »Manush« bezeichnet, im zweiten wurde im englischen Sprachraum der Terminus »romney« für die Sprache der ›Zigeuner‹ ( = »Gypsies«) verwendet. Für seinen eigenen Untersuchungsraum stammen die frühesten Beispiele für die Bezeichnung ›Sinti‹ aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 31-38. 29 U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 36-38. 30 V ERA K ALLENBERG , Von »liederlichen Land-Läuffern« zum »asiatischen Volk«. Die Repräsentation der ›Zigeuner‹ in deutschsprachigen Lexika und Enzyklopädien zwischen 1700 und 1850. Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung (Zivilisationen & Geschichte 5), Frankfurt/ Main u. a. 2010, S. 131. 31 T HOMAS F RICKE , Zur Sozialgeschichte der Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus, in: U DO E NGBRING -R OMANG / D ANIEL S TRAUSS (Hg.), Aufklärung und Antiziganismus (Beiträge zur Antiziganismusforschung 1), Seeheim 2003, S. 101-117, hier 102. <?page no="192"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 193 Überdies meldet ein Teil der jüngeren Forschung Zweifel daran an, »daß es sich bei dieser Gruppe um eine eindeutig ethnisch zu bestimmende handelte«. 32 Achim Landwehr hat darauf hingewiesen, dass durch die württembergischen Policeyordnungen »vordergründig« der Eindruck erweckt wird, dass es sich bei den ›Zigeunern‹ »um eine ethnisch abgeschlossene Gruppe handelt […], da sie dort immer als eigene Gruppe neben anderen genannt wurden«, dass dieser Eindruck »auf der anderen Seite jedoch nie positiv bestätigt wird«. In den Ordnungen werden nämlich weder ihr Herkommen, noch ihr Aussehen, ihre Kleidung oder Sprache als Unterscheidungskriterien angeführt. »Vielmehr werden die Zigeuner in den Policeyordnungen in den meisten Fällen im Zusammenhang mit den Vaganten und Bettlern genannt, wodurch eine Gemeinsamkeit mit diesen Gruppen wahrscheinlicher wird.« Sie dürften daher auf Grund anderer, nämlich »sozialer Kategorien« - gemeint sind »ihr Verhalten, ihr Auftreten und ihre Lebensweise, die sich vor allem durch familial organisierte Mobilität auszeichnete« - klar identifizierbar gewesen sein. 33 Dieser Befund lässt sich auch an den Mandaten für das Gebiet Vorarlbergs gewinnen. Solange aber Zweifel daran bestehen, dass es sich bei den ›Zigeunern‹ im 18. Jahrhundert um eine ethnische Kategorie handelt, erscheint die Verwendung des Begriffspaars ›Sinti und Roma‹ für diese Gruppe zumindest problematisch, weil es sich um eine ethnische Gruppenbezeichnung handelt. Bei ihrer Verwendung im historischen Kontext droht, wie Leo Lucassen betont hat, die Gefahr, dass »das ethnologische Paradigma« verstärkt wird. 34 Und selbst wenn es sich bei den frühneuzeitlichen ›Zigeunern‹ um eine ethnische Gruppe handeln würde, wäre die Verwendung des modernen Begriffs ›Sinti und Roma‹ problematisch. Mit Recht wurde darauf verwiesen, dass sich die Kultur einer Migrantengruppe unter dem Eindruck der Mehrheitsgesellschaft, in der sie sich aufhält, innerhalb von nur wenigen Generationen verändert. Es wäre daher »unwahrscheinlich, daß eine mobile Randgruppe wie die Zigeuner über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten in demographischer und sozio-kultureller Hinsicht im Kern unberührt blieb«. 35 2. Migrationsregime: Mandate - ›Illegale‹ Migration Die Zuweisung der ›Zigeunermigration‹ zum Bereich des Illegalen zwingt uns, zunächst einen Blick auf deren »Migrationsregime« zu werfen. Jochen Oltmer fasst mit diesem Terminus die »für die Rahmung und Gestaltung von Migrationsprozessen relevante[n] weltanschauliche[n] und politische[n] Prinzipien, obrigkeitlich bzw. 32 A. L ANDWEHR , Norm, Normalität, Anomale (Anm. 25), S. 56. 33 A. L ANDWEHR , Norm, Normalität, Anomale (Anm. 25), S. 57. 34 L. L UCASSEN , Zigeuner im frühneuzeitlichen Deutschland (Anm. 24), S. 238f. 35 L. L UCASSEN , Zigeuner im frühneuzeitlichen Deutschland (Anm. 24), S. 239. <?page no="193"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 194 staatlich gesetzte[n] Regeln, institutionelle[n] Gefüge und administrative[n] Entscheidungsprozeduren« zusammen. Migrationsregime sind »einem steten Wandel« unterworfen und abhängig von der »staatlichen Selbstzuschreibung von Verantwortungsbereichen und Aufgabestellungen sowie den damit verbundenen Zielvorstellungen«. 36 Auch für den Bereich des heutigen Vorarlbergs lässt sich seit dem 16. Jahrhundert die Entwicklung »neue[r] Formen der sozialen Diskriminierung« konstatieren, 37 die sich in einer »neuartigen obrigkeitlichen bzw. staatlichen Ordnungsgesetzgebung« artikulierte, deren Ziel »die Herstellung der ›guten Ordnung‹ eines als sesshaft, geschlossen und diszipliniert gedachten Gemeinwesens« war. 38 Für den Zeitraum von 1500 bis 1800 konnten mehr als ein Dutzend gegen verschiedene vagierende Gruppen gerichtete Mandate und Verordnungen ermittelt werden. 39 In den Nachbarterritorien lässt sich eine ganz ähnliche Entwicklung beobachten. 40 Im Großen und Ganzen ergibt sich damit dasselbe Bild, das von Karl 36 J. O LTMER , Einführung (Anm. 21), S. 12. 37 E RNST S CHUBERT , Duldung, Diskriminierung und Verfolgung gesellschaftlicher Randgruppen im ausgehenden Mittelalter, in: S IGRID S CHMITT / M ICHAEL M ATHEUS (Hg.), Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit (Mainzer Vorträge 8), Stuttgart 2005, S. 47-69, hier 48. 38 K ARL H ÄRTER , Kriminalisierung, Verfolgung und Überlebenspraxis der »Zigeuner« im frühneuzeitlichen Mitteleuropa, in: Y ARON M ATRAS / H ANS W INTERBERG / M ICHAEL Z IM - MERMANN (Hg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache - Geschichte - Gegenwart, Berlin 2003, S. 41-81, hier 45. 39 1551: Verordnung Ferdinands I. für die vorderösterreichsichen Lande; 1557: Entwurf einer Bettler- und Vagantenordnung der Vögte der Herrschaften vor dem Arlberg; 1582: Bludenzer Polizeiordnung; 1651: Bludenzer Polizeiordnung; 1656: Polizeiordnung für Stand und Gericht Montafon; 17. Jh.: Mandat Kaiser Leopolds I. für Innsbruck und die gesamten ober- und vorderösterreichischen Lande; 1689/ 90: Bregenzer Bettelordnung; 1710: Mandat für die vorder- und oberösterreichischen Lande; 18. Jh.: Mandat für die Herrschaften Bregenz und Hohenegg; 1766: Patent der vorderösterreichischen Regierung; 1769: Patent für die vorder- und oberösterreichischen Lande; 1771: Bettelordnung der Vogteiverwalter und Oberbeamten der Grafschaft und Herrschaft Feldkirch; 1776: Mandat für die Herrschaften Bregenz, Hohenegg und Hohenems; 1792: Hofrecht des Reichshofs Lustenau. W. S CHEFFKNECHT , Armut und Not, S. 76f. Außerdem: VLA, HoA 51,31: Undatiertes Mandat (18. Jahrhundert); VLA, HoA 66,12: Mandat der gräflich hohenemsischen Oberamtskanzlei betreffend fremde Bettler und Landstreicher, 19.4.1761. 40 Ähnliche Verordnungen lassen sich für den ganzen Bodenseeraum in großer Zahl finden. Beispielsweise: St. Gallen: 1497 (Fürstabtei), 1524 (Stadt), 1525 (Fürstabtei), 1543 (Fürstabtei), 1550 (Fürstabtei), 1572 (Fürstabtei), 1602 (Fürstabtei), 1603 (Stadt), 1641 (Stadt), 1673 (Stadt), 1761 (Fürstabtei), 1789 (Fürstabtei) (A NDREAS N IEDERHÄUSER , Am Rand der Gesellschaft: Fahrende in der Frühen Neuzeit, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 4: Frühe Neuzeit: Bevölkerung Kultur, St. Gallen 2003, S. 147-166, hier passim); Reichsabtei <?page no="194"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 195 Härter auf breiter Datenbasis für das Alte Reich gewonnen wurde, nämlich eine »[s]eit dem 16. Jahrhundert […] nahezu stetige - und nur durch den Dreißigjährigen Krieg signifikant unterbrochene - Intensivierung der diesbezüglichen obrigkeitlichen Gesetzgebung«. 41 In den erwähnten Mandaten und Verordnungen findet sich keine einheitliche Bezeichnung für die Menschen, denen der Aufenthalt in den jeweiligen Territorien verboten wird. Neben Walchen, Sapfoyr, Gartknechten, Landfahrern, Landstreifern, fremden, starken und jungen Bettlern, Stückbettlern, fremden Krämern, Hausierern, Harzern, Störzern, Kesslern, Jakobsbrüdern, Pilgern, Diebesgesindel, herrenlosem Gesindel, fechtenden reisenden Handwerksburschen, fremden Pfannenflickern, Spielleuten, fremden Juden, falschen Briefträgern, Leuten, die sich fälschlich für Adelspersonen oder abgedankte Offiziere ausgeben, fahrenden Schülern, Leuten, die in betrügerischer Weise für Brandsteuern, Kirchen oder Schulen sammeln, vorgeblichen Geistlichen oder Ordensleuten, verruchte[n] Jauner[n] usw. ist auch von ›Zigeunern‹ die Rede. 42 Diese zählten zu jenen »mehr oder weniger ständig wandernden Gruppen«, die »pauschal als verdächtig, deviant oder kriminell« diskriminiert wurden. 43 Von den das Gebiet Vorarlbergs betreffenden Mandaten werden sie ausdrücklich in der Verordnung Ferdinands I. für die vorderösterreichischen Lande von 1551, im Entwurf einer Bettler- und Vagantenordnung von 1557, in der Bludenzer Polizeiordnung von 1651 sowie in einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden Mandat für die Herrschaften Bregenz und Hohenegg 44 und einem undatierten Hohenemser Druck aus dem 18. Jahrhundert genannt. 45 Auch hier trifft die Feststellung Achim Landwehrs zu, dass »die Salem: 1531, 1573, 1574, 1623, 1691, 1735, 1741 und 1783 (C LAUDIA S CHOTT , Armenfürsorge, Bettelwesen und Vagantenbekämpfung in der Reichsabtei Salem [Veröff. des Alemannischen Instituts Freiburg/ Br. 41], Bühl/ Baden 1978, passim); Wolfegg-Waldburg: 1757 (A DALBERT N AGEL , Armut im Barock. Die Kehrseite einer glanzvollen Epoche, 2. Aufl. Ravensburg 1989, S. 27). 41 K ARL H ÄRTER , Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Reglementierung - Diskriminierung - Verrechtlichung, in: R OSMARIE B EIER - DE H AAN (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005, Berlin-Wolfratshausen 2005, S. 50-71, hier 63. 42 W. S CHEFFKNECHT , Armut und Not (Anm. 14), S. 76-77. Dazu allgemein: K. H ÄRTER , Recht und Migration (Anm. 41), S. 63. 43 K. H ÄRTER , Recht und Migration (Anm. 41), S. 63. In den Quellenbegriffen werden zeitgenössische Wert- und Ordnungsvorstellungen greifbar. Dies wird besonders deutlich beim Terminus »herrenloses Gesindel«, der in der frühen Neuzeit zum Synonym für unerwünschte Fremde wurde; vgl. E. S CHUBERT , Duldung, Diskriminierung und Verfolgung (Anm. 37), S. 49. Im Englischen gibt es zeitgleich den synonymen Begriff »masterless men«; A. L. B EIER , Masterless Men. The Vagrancy Problem in England 1560-1640, London u. a. 1985. 44 W. S CHEFFKNECHT , Armut und Not (Anm. 14), S. 76-77. 45 VLA, HoA 51,31: Patent, Hohenems, undatiert. <?page no="195"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 196 Umgangsweise mit den Zigeunern nach policeylichen Vorstellungen […] durch eine sehr wörtlich zu verstehende Aus-Grenzung geprägt« war. 46 Diese Gesetze und die dadurch erzeugte latente Verfolgungssituation »zwang[en] den ›Zigeunern‹ ein Wanderverhalten auf, mit dem sie sich der Fahndungspraxis der Behörden anpaßten«. 47 Die Nähe von Grenzen ermöglichte es freilich, sich gegebenenfalls dem Zugriff der Behörden durch Flucht in ein benachbartes Territorium zu entziehen. 48 Das Gebiet Vorarlbergs erwies sich diesbezüglich in der frühen Neuzeit als relativ günstig, denn wir haben es hier keineswegs mit einem einheitlichen Land zu tun. Die österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg zerfielen in 24 Gerichte, drei städtische und 21 bäuerliche. 49 Dazu kamen noch reichsunmittelbare Territorien: die Reichsgrafschaft Hohenems und der Reichshof Lustenau, die zusammen den Reichsstand Hohenems ausmachten, und die dem Reichsgotteshaus Weingarten gehörende Reichsherrschaft Blumenegg. 50 Diese von zahlreichen Grenzen durchzogene Kleinräumigkeit machte in Kombination mit der Grenzlage zur Eidgenossenschaft sowie zum ›vielherrigen‹ Schwaben das Gebiet zwischen Arlberg und Bodensee zu einem attraktiven Aufenthaltsgebiet für die oben genannten Gruppen. Dies bot auch deshalb einen gewissen Schutz vor Verfolgung, da die kleinen ›staatlichen‹ Einheiten in der Regel nicht über einen entsprechenden Polizeiapparat verfügten. 51 Zudem lockten die zahlreichen Messen, 46 A. L ANDWEHR , Norm, Normalität, Anomale (Anm. 25), S. 58. 47 A. H ENNIGS , Gesellschaft und Mobilität (Anm. 16), S. 229. 48 W OLFGANG VON H IPPEL , Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutsche Geschichte 34), 2. Aufl. München 2013, S. 43. 49 Dazu: A LOIS N IEDERSTÄTTER , Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Vorarlbergs (14. bis 16. Jahrhundert), in: Montfort 39 (1987), S. 53-70; D ERS ., Bürger und Bauern - Die Vorarlberger Stände, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Landschaften und Landstände in Oberschwaben. Bäuerliche und bürgerliche Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 5), Tübingen 2000, S. 119-131. 50 Dazu: W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Reichsfreie Territorien im frühneuzeitlichen Vorarlberg: Blumenegg, St. Gerold, Hohenems und Lustenau, in: M ANFRED T SCHAIKNER (Hg.), 200 Jahre Blumenegg bei Österreich. Beiträge zur Regionalgeschichte (Bludenzer Geschichtsblätter 72-74), Bludenz 2004, S. 110-144. 51 A NDREAS B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden in Schwaben und in der Schweiz, an Bodensee und Rhein im 18. Jahrhundert, in: H ARALD S IEBENMORGEN (Hg.), Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden (Volkskundliche Veröff. des Badischen Landesmuseums 3), Sigmaringen 1995, S. 57-64, hier 60; A NDREAS B LAUERT / E VA W IEBEL , Gauner- und Diebslisten. Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert. Mit einem Repertorium gedruckter südwestdeutscher, schweizerischer und österreichischer Listen sowie einem Faksimile der Schäffer’schen oder Sulzer Liste von 1784 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/ Main 2001, S. 59. Kleinräumigkeit, Unwegsamkeit und Grenznähe sind auch Kennzeichen anderer Gebiete, die eine hohe Präsenz <?page no="196"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 197 Märkte und Wallfahrten - nicht zuletzt wohl auch die damit verbundenen stark frequentierten Verkehrsverbindungen - im Bodenseeraum mit der Chance auf Beschäftigung und Verdienst. 52 Besonders südlich des Sees erwiesen sich die topographischen Verhältnisse als günstig für ›illegale‹ Migranten, da vor allem die »Gebirgslandschaften, Alpengebiete wie Mittelgebirgsgegenden, […] sich als Schlupfwinkel« anboten. 53 Das Gebiet Vorarlbergs lag geradezu im Schnittfeld zweier von ›Banden‹ bevorzugter Wanderrouten, die Andreas Blauert auf der Basis von gedruckten Gauner- und Diebslisten rekonstruieren konnte. Die eine führte vom Elsass ausgehend entlang des Rheins flussaufwärts bis zum Bodensee, dann entlang des Alpenrheins bis nach Graubünden, die andere entlang der Donau quer durch den Schwäbischen Kreis zum Bodensee und dann ebenfalls entlang des Alpenrheins bis nach Graubünden. 54 Innerhalb des heutigen Vorarlbergs war vor allem das Rheintal für Vagierende attraktiv. Hier lagen nicht nur die bevölkerungsreichsten Siedlungen, hier kreuzten sich auch wichtige Verkehrswege und hier war die Grenze zur Eidgenossenschaft in unmittelbarer Nähe. 3. Das erste Auftreten der ›Zigeuner‹ im Gebiet Vorarlbergs Im Gebiet zwischen Arlberg und Bodensee setzen die Nachrichten über das Auftreten von ›Zigeunern‹ in den 1570er Jahren ein und reißen dann bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr ab. 55 Die Nennungen zeigen eine merkwürdige Häufung von Vagierenden im Allgemeinen und ›Zigeunern‹ im Besonderen aufweisen; vgl. E RICH R ENNER , Zur Geschichte und Beheimatung der Pfälzer Zigeuner, in: Pfälzer Heimat 39 (1988), S. 113-122, hier 121; T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 174-189; D ERS ., Sozialgeschichte (Anm. 31), S. 110. 52 A. B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden (Anm. 51), S. 57; B IRGIT H EINZLE , »Allein hat mich jezuweilen nicht meine bosheit, sondern […] die gröste noth darzu getrieben«. Räuber(banden) des 18. Jahrhunderts am Fall des Georg Meier, in: A NDREA G RIESEBNER / G EORG T SCHANNETT (Hg.), Ermitteln, Fahnden und Strafen. Kriminalitätshistorische Studien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Wien 2010, S. 115-140, hier 135. 53 K ARL S. B ADER , Kriminelles Vagantentum im Bodenseegebiet um 1800, in: Schweizer Zeitschrift für Strafrecht 78 (1962), S. 292-333, hier 294. 54 A. B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden (Anm. 51), S. 57. 55 Die bisher bekannt gewordenen Nennungen von ›Zigeunern‹ im frühneuzeitlichen Vorarlberg sind in chronologischer Reihenfolge: 1576: Klostertal, 1585: Göfis, 1602-1604: Lustenau, 1614: Altach, 1638: Lustenau, 1688: Dornbirn, 1721: Dornbirn, 1722: Herrschaften Feldkirch, Bludenz und Sonnenberg, 1724: Vandans, 1728: Hohenems, 1730: Lustenau, 1734/ 35: Lustenau, 1746/ 47: Hohenems, 1748/ 49: Lustenau und Hohenems, 1771: Bludenz, 1794: Rheintal; W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im Reichshof Lustenau (Anm. 14), S. 77-105; D ERS ., Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg (Anm. 14), S. 283-297; außerdem: VLA, HoA 80,6: Urgicht des Hansen Ferners Ullis Hannslin aus der Altach, 24. und <?page no="197"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 198 in den reichsunmittelbaren Herrschaften im Rheintal, im Reichshof Lustenau und in der Reichsgrafschaft Hohenems. Ein wesentlicher Aspekt war sicherlich die günstige Verkehrslage sowohl in der Nord-Südals auch in der West-Ost-Achse: Reichshof und Reichsgrafschaft lagen unmittelbar am Rhein, der hier von mehreren Fähren gequert wurde. Angesichts der Aufenthaltsverbote für Fahrende spielte sicherlich auch die Grenzlage eine wichtige Rolle: Im Norden und im Osten stieß der Herrschaftskomplex der Grafen von Hohenems an österreichisches Gebiet, an Höchst bzw. an Dornbirn, und im Westen an die Eidgenossenschaft. Es war also relativ leicht möglich, sich im Bedarfsfall dem Zugriff der lokalen Obrigkeiten durch die Flucht über eine Grenze zu entziehen. Überhaupt - und das dürfte ein weiteres nicht unwesentliches Moment sein - begünstigte die lockere und offene Siedlungsstruktur vor allem Lustenaus die ›fahrenden Leute‹ im Falle von Streifen. 56 Dass die topographischen Verhältnisse eine wichtige Rolle spielten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch innerhalb des Komplexes Lustenau - Hohenems mehrere Ortsteile in Zusammenhang mit ›Vaganten‹ besonders häufig genannt werden: Es sind dies von Norden nach Süden die Lustenauer Ortsteile Hag, unmittelbar an der Grenze zum österreichischen Höchst, Weiler und Grindel - hier befand sich der wichtigste Fährübergang, das so genannte Oberfahr -, Wiesenrain, der am dünnsten besiedelte und vom Zentrum am weitesten entfernte Teil, in dessen Nachbarschaft sich ebenfalls ein Fährübergang befand, und am südlichen Ende der Reichsgrafschaft Hohenems die Siedlung Bauern. Bauern war der Grenzort zum österreichischen Altach. Hier befand sich nicht nur ein relativ stark frequentiertes Gasthaus, hier wurden um 1700 die Waren von den Rheinschiffen auf Fuhrwerke umgeladen. 57 26.6.1614; VLA, Vogteiamt Bludenz, Schachtel 19, Nr. 91: Verhörsprotokoll, 13.6.1724; M AX E NGEL , Räuber »Schwarzenbeck« und die Morde auf dem Ried zu Hohenems 1728, in: Montfort 49 (1997), S. 236-240, hier 237; VLA, HoA Hs 264: Rentamtsrechnung 1746/ 47, fol. 90’. 56 Die ›lockere‹ Siedlungsstruktur wird noch in dem 1810 im Auftrag der königlich-bayerischen Behörden angefertigten, ersten maßstabgetreuen Ortsplan deutlich; StaatsA Augsburg, Regierung 3084a. 57 Dies ist deutlich auf der Blasius-Hueber-Karte von 1783 zu erkennen: Provincia Arlbergica Sequentes Comitatus, aliquosque Dominatus Austriacos, Brigantinum nempe, Hoheneckensem, Veldkirchensem, Bludentinum, et Sonnenbergensem in se Complectens, una cum Intermixtis pro parte etiam Feudo Austriacis Territoriis Imperialibus Alto-Amisiensi, et Lustnaviensi, item Blumeneckensi, ac sanct Geroldiensi/ Secundum Chartam a Blasio Hueber. Chronographice confectam accuratissime delieatat per Joannem Antonium Pfaundler. Eine digitale Version der Karte findet sich unter: http: / / vlb-portal.vorarlberg.at / karten/ 420000159529.jpg (Abfrage: 28.1.2013). <?page no="198"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 199 Abb. 1: Vorarlbergkarte um 1783. <?page no="199"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 200 Bauern und Lustenau werden in überregionalen Gaunerlisten oder Steckbriefsammlungen wiederholt auch als Standorte von ›Unterschlaufgebern‹ genannt, wo gesuchte Räuber Quartier, Lebensmittel und Hehler finden konnten. 58 All das dürfte dazu beigetragen haben, dass die Bewohner Lustenaus im Laufe des 19. Jahrhunderts von ihren Nachbarn den Spitznamen ›Zigünar‹ erhalten haben bis heute übrigens ein liebevoll gehegtes und emsig vermarktetes Klischee! 59 Wie bereits angedeutet, wurde den als ›Zigeuner‹ Bezeichneten seit Mitte des 16. Jahrhunderts auch im Gebiet Vorarlbergs durch Mandate und Verordnungen der Aufenthalt verboten. Etwa seit derselben Zeit lassen sich tatsächlich immer wieder Verurteilungen und Bestrafungen von ›Zigeunern‹ zwischen Arlberg und Bodensee nachweisen. Dabei lässt sich feststellen, dass wir für Vorarlberg aus der Zeit vor 1600 bislang keinen einzigen Hinweis darauf besitzen, dass jemand ausschließlich wegen seiner Zugehörigkeit zu den ›Zigeunern‹ verurteilt oder des Landes verwiesen worden wäre. 60 1638 erhalten wir zum ersten Mal eine Nachricht darüber, dass die in den obrigkeitlichen Geboten geforderte Ausweisung der ›Zigeuner‹ im Bereich Vorarlbergs tatsächlich auch exekutiert wurde. Der Lustenauer Hofammann Hans Hagen verrechnete am 13. Oktober Zehrungskosten in Höhe von 38 Kreuzern dafür, dass er »mit dem Waibel und Hänsli Grabher die ›Ziginer‹ zum vierten Mal« weggeboten hatte. 61 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die Jahreszahl. In den Jahren nach 1632 lässt sich nämlich die Anwesenheit einer großen Anzahl von Flüchtlingen aus Süddeutschland im Land zwischen Arlberg und Bodensee beobachten. Insbesondere unter den Juden Ostschwabens hatte das Vordringen der Schweden eine Massenflucht ausgelöst. Es kam geradezu »zu einer Konzentration jüdischer Flüchtlinge im Raum Vorarl- 58 W. S CHEFFKNECHT , Armut und Not (Anm. 14), S. 90-91. 59 W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im Reichshof Lustenau (Anm. 14), S. 77-79. Die Ursprünge dieses Klischees reichen weiter zurück, als bisher angenommen. Es entstand nicht erst im späten 19. Jahrhundert, sondern war bereits an dessen Anfang präsent, wie eine Bemerkung im Jahresbericht des Generalkommissariats des Illerkreises von 1808/ 09 zeigt. Dort heißt es über die Bewohner der Pfarre Lustenau: Ihre Angehörigen scheinen eine besondere, wohl gar eine Zigeuner Abstammung zu haben; StaatsA Augsburg, Regierung 5117: Jahresbericht des Generalkommissariats des Illerkreises 1808/ 09. 60 Aus dem 16. Jahrhundert besitzen wir lediglich vereinzelte Hinweise dafür, dass ›Zigeuner‹ wegen Diebstahls oder des Verdachts auf Diebstahl verhaftet und bestraft wurden. Zwischen 1602 und 1604 wurden in Lustenau dann fünf Personen insgesamt sechsmal zu Geldstrafen verurteilt, weil sie Hayden beherbergt und mit diesen Handel getrieben und damit ein herrschaftliches Gebot übertreten hatten. Über das Schicksal der ›Zigeuner‹ ist in diesem Fall nichts bekannt; vgl. W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg (Anm. 14), S. 286. 61 L UDWIG W ELTI , Vom karolingischen Königshof zur größten österreichischen Marktgemeinde, in: Lustenauer Heimatbuch, Bd. 1, Lustenau 1965, S. 82-537, hier 115. <?page no="200"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 201 bergs«. 62 Außer in Hohenems ließen sich damals vorübergehend auch in Gaißau (1636), Fußach (1636-1640), Mäder (1636), Götzis (1636), Rankweil (1638-1640), Tisis (1637-1640), Blumenegg (Thüringen/ Ludesch 1637-1644) und Frastanz (1636-1639) Juden nieder. Etwa um 1638 begann die Ausweisung der Juden aus den genannten Gemeinden. Gleichzeitig kam es zu einer ersten Verschärfung des Hohenemser Schutzbriefes. 63 Wir dürften es hier wohl in erster Linie mit einer allgemein zunehmenden Abschließung der Territorien zu tun haben, von der die Juden und ›Zigeuner‹ in gleicher Weise betroffen waren. In der Folge wurden auch im Bereich Vorarlbergs die Mandate schärfer und vor allem immer häufiger auch umgesetzt. Ein gewisser Höhepunkt war mit einem Mandat für die Herrschaften Bregenz und Hohenegg aus dem Jahr 1720 erreicht. In diesem werden etwa zwanzig Personengruppen aufgezählt, deren Aufenthalt fortan verboten war. Detailreich werden außerdem die Strafen beschrieben, mit denen Verstöße gegen das Mandat geahndet werden sollten. Dabei wurden den ›Zigeunern‹ die weitaus härtesten Sanktionen angedroht. Während fremden Bettlern die Todesstrafe erst drohte, wenn sie das dritte Mal aufgegriffen wurden, geschah dies beim gottlose[n] und verruchte[n] Jauner und Zigeuner Volk bereits beim ersten Mal. Die Angehörigen dieser Gruppe sollten ohne weitläuffige Untersuchung und langwierigen Proceß und nur auf einig vorläufiges Examen zum Rad condemnirt werden und zwar unabhängig davon, ob sie auf einer Missethat ergriffen, oder in andere Weeg kundtbar gemacht wurden. Frauen und Kinder über 18 Jahre, die sich solcher leichtfertigen Bande angeschlossen und sich von Raub und diebstal erneret hatten, sollten durch den Strang hingerichtet werden. 64 Strafen, wie sie hier angedroht wurden, wurden in der Folge tatsächlich vollstreckt, wenn auch nur in Einzelfällen. 65 62 M ARKUS E RATH , Die Juden in Vorarlberg und Tirol im Dreißigjährigen Krieg, in: Montfort 57 (2005), S. 328-345, hier 329. 63 M. E RATH , Juden (Anm. 62), S. 328-335; K ARL H. B URMEISTER , Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 31), Feldkirch 1993, S. 43-72; D ERS ., Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden in Schwaben und Vorarlberg vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: P ETER F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. 2: Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte (Irseer Schriften 5), Stuttgart 2000, S. 217-228. 64 VLA, Patente, Schachtel 1: Mandat für die Herrschaften Bregenz und Hohenegg, 2.10.1720. Dazu: W. S CHEFFKNECHT , Armut und Not (Anm. 14), S. 77-81; D ERS ., Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg (Anm. 14), S. 286. 65 Nach Gerhard Fritz waren die Mandate des Schwäbischen Reichskreises gegen die ›Zigeuner‹ »verbalradikal«. Die »Praxis« habe dagegen »nicht selten andere Züge« getragen. Er konnte zeigen, dass »sowohl bei den gelehrten Juristen als auch bei den unmittelbar mit der Vernehmung befassten Beamten vor Ort Unsicherheit [herrschte], ob es die Edikte wirklich so drastisch meinten, wie sie formuliert waren«, dass in der Regel auch gegen diese Gruppe »Verfahrensmechanismen, die mehr oder minder denen glichen, die in regulären <?page no="201"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 202 4. Zyklische Migration? - Vier Fälle aus dem 18. Jahrhundert Ulrich Friedrich Opfermann weist zu Recht daraufhin, dass »[d]as allgemeine Duldungsverbot gegen ausländische Arme […] ein Arbeitsverbot« bedeutete und »dass die Betroffenen [dadurch] daran gehindert waren, legal und also bei einigermaßen gesicherten Bedingungen und über längere Zeiträume, Lohnarbeitsverhältnisse einzugehen«. 66 Vagierende wie die ›Zigeuner‹ mussten daher besondere Strategien entwickeln, um trotz der geschilderten Verbote überleben zu können. Dazu gehörte eine spezifische Form der zyklischen Migration, die auf vielfältigen »nachweisbaren ›prosozialen‹ Kontakten und Interaktionen zwischen Zigeunern und seßhafter ländlicher Bevölkerung, aber auch dem tatsächlichen (oft abmildernden und inkonsequenten) Verhalten der Behörden und Amtspersonen gegenüber den Zigeunern und deren Überlebensstrategien« fußte. 67 Ulrich Opfermann konnte beispielsweise für die Grafschaft Sayn-Hachenburg nachweisen, dass eine Gruppe von sechs ›Zigeunern‹, die wegen etlicher Diebstähle vor Gericht gekommen war, »überall in der Region Kontakte zur eingesessenen Bevölkerung« hatte und dass sich diese keineswegs auf den »gesellschaftliche[n] Rand« beschränkten. 68 Das »den gängigen Vorstellungen« von den ›Zigeunern‹ entsprechende Bild, wonach diese »abseits der etablierten Gesellschaft« lebten und »sich von Rechtsbrüchen« ernährten, findet seine scheinbare Bestätigung lediglich bei einer oberflächlichen Betrachtung von Quellen wie den Verhörsprotokollen. Ihre genauere Betrachtung - liest man die Quellen gewissermaßen ›gegen den Strich‹ 69 - ergibt ein weit differenzierteres Bild, 70 das es berechtigt erscheinen lässt, von einem »gewissen Grad an Integration« oder einer »temporär[en]« Integration »in eine sesshafte Gesellschaft« zu sprechen. 71 Auch für den Bereich Vorarlbergs lässt sich dies beobachten. Vier Kri- Prozessen üblich waren«, zur Anwendung kamen; G ERHARD F RITZ , Sicherheitsdiskurse im Schwäbischen Kreis im 18. Jahrhundert, in: K ARL H ÄRTER / G ERHARD S ÄLTER / E VA W IEBEL (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/ Main 2010, S. 223-269, hier 231. 66 U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 281. 67 W. VON H IPPEL , Armut, Unterschichten, Randgruppen (Anm. 48), S. 101. 68 U LRICH O PFERMANN , »Zigeuner« im Verhör bei Marienthal im Jahre 1696. Zur Situation der »Zigeuner« in der Grafschaft Sayn-Hachenburg, in: Nassauische Annalen 107 (1996), S. 111-117. 69 Dies fordert beispielsweise W. VON H IPPEL , Armut, Unterschichten, Randgruppen (Anm. 48), S. 100. 70 U. O PFERMANN , »Zigeuner« im Verhör (Anm. 68), S. 112. 71 G ERHARD A MMERER , Die »Betteltour« - Aspekte der Zeit- und Raumökonomie nichtsesshafter Armer im 18. Jahrhundert, in: G ERHARD A MMERER u. a. (Hg.), Armut auf dem <?page no="202"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 203 minaluntersuchungen an ›Zigeunern‹, die sich 1724 in Bludenz 72 und 1730, 1734/ 35 bzw. 1748/ 49 im Reichshof Lustenau aufhielten, können dies verdeutlichen. 73 Vandans (1724) Im Juni 1724 war man im Vogteiamt Bludenz darauf aufmerksam geworden, dass sich in Vandans einiges Zigainer gesündt aufhalte. Am 11. Juni ließ man dieses dann durch Musketiere ausheben und zur Inquisition auf das Schloss nach Bludenz bringen. Es handelte sich um 14 Personen: Die etwa 50 Jahre alte Anna Maria Rosenberger gab an, Ihre Voreltern seyen aus Egypten. Sie war mit dem ›Zigeuner‹ Sylvester Hirschhorn verheiratet. Dieser gab an, 52 Jahre alt zu sein und in Schännis im heutigen Kanton St. Gallen geboren zu sein. Das Ehepaar konnte durch mitgeführte Schriften beweisen, dass es in Chur geheiratet hatte und dass seine fünf Kinder dort getauft worden waren. Vier von ihnen begleiteten sie und drei wurden ebenfalls verhört: die 16-jährige in Kreuzlingen geborene Maria Regina Hirschhorn, die 12-jährige Maria Magdalena und die 11-jährige Anna Maria. Das vierte Kind war wohl noch zu jung, um befragt zu werden. Eine weitere, nicht anwesende Tochter war nach Aussage ihrer Mutter mit einem Zigainer verehelicht. Sie hielt sich - so vermutete ihr Vater - bei Freiburg oder in der Gegend von Solothurn auf. Josef Rosenberger war mit einer gewissen Jadele, deren Familiennamen er nicht angeben konnte, verheiratet und hatte mit dieser ein Kind. Maria Helena Winter war etwa 25 Jahre alt und zu Freiburg im Üchtland zur Welt gekommen. Sie war mit Josef Ignaz Rosenberger verheiratet und hatte mit diesem ein gemeinsames Kind. In erster Ehe war sie mit einem Hans Jörg Löwenberger verheiratet gewesen, der im Schwabenland gestorben sei. Ignaz Rosenberger seinerseits war etwa 25 Jahre alt und in Rottweil in Schwaben zur Welt gekommen. Er gab an, getauft und seit etwa acht Jahren mit Maria Helena Winter verheiratet zu sein. Catharina Hirschhorn war gut 30 Jahre alt und Witwe des Mathias Löwenberger, von dem sie drei Kinder hatte, zwischen zweieinhalb und elf Jahre alt und ihrer Aussage nach alle an katholischen Orten getauft. Anna Mentschin war 73 Jahre alt und in Pünten geboren worden. Sie wurde von einer Tochter und einem Sohn begleitet und hatte Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Wien u. a. 2010, S. 37-62, hier 40, 46. 72 VLA, Vogteiamt Bludenz, Schachtel 19, Nr. 91. 73 Die Lustenauer Kriminalfälle wurden ausführlich an anderer Stelle beschrieben und sollen hier nur knapp, soweit das für das Verständnis des Folgenden notwendig ist, referiert werden; vgl. W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im Reichshof Lustenau (Anm. 14), S. 86-93; D ERS ., »Arme Weiber«. Zur Rolle der Frau in den Unter- und Randschichten der vorindustriellen Gesellschaft, in: A LOIS N IEDERSTÄTTER / W OLFGANG S CHEFFKNECHT (Hg.), Hexe oder Hausfrau. Das Bild der Frau in der Geschichte Vorarlbergs, Sigmaringendorf 1991, S. 77-109, hier 97-99. <?page no="203"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 204 noch drei weitere Kinder, die sie aber eigenen Angaben zufolge seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie vermutete, dass diese sich in der Schweiz oder im Weltschland aufhielten. Alle Genannten bezeichneten sich selbst als ›Zigeuner‹. Sie gaben an, arme Leuth zu sein und dem Allmuesen nach[zugehen] (Anna Maria Rosenberger, Maria Helena Winter, Catharina Hirschhorn, Anna Mentschin, Maria Regina Hirschhorn, Ignaz Rosenberger), als Kellen- und Leffelmacher (Sylvester Hirschhorn) zu arbeiten und Mittel gegen Gelbsucht herzustellen und zu verkaufen (Sylvester Hirschhorn). In ihren Aussagen zeichnete sich auch der Weg der Gruppe ab: Einhellig gaben sie an, aus der Eidgenossenschaft zu kommen und auf dem Weg über das Prättigau in das Veltlin bzw. durch Pünten ins Welschland zu sein. Nach Aussage der Maria Veronika Hirschhauer waren sie vor acht Tagen unweit von Bauern aus der Eidgenossenschaft über den Rhein gekommen. Bei der Gruppe wurden mehrere Bündel bzw. Säcke gefunden, in denen sich nichts Verdächtiges fand. Da auch keine Anzeige wegen eines Diebstahls vorlag, sie über authentische Pässe verfügten und überdies bereits im Begriff gewesen waren, in das Prättigau abzureisen, wurden sie über Brand an die bündnerische Grenze gebracht. Hier wurden sie mit dem Ernstlichen und großen Zuspruch entlassen, dass man, sollten sie über kurz oder lang wieder in diesen Herrschaften angetroffen werden, ohne einige gnad und barmherzigkeith mit Ihnen verfahren würde. 74 Lustenau (1730) Ende August 1730 kam es im Reichshof Lustenau zu einer Prügelei zwischen zwei Hofmännern und zwei ›Zigeunern‹, in deren Verlauf ein Lustenauer namens Anton Vogel durch einen Messerstich verletzt wurde. Ausgangspunkt des Konflikts war ein Kartenspiel um Geld gewesen, das im Haus des Sebastian Bösch am Wieserain stattgefunden hatte. Im Verlauf der Prügelei bedrohte Anton Vogel einen der ›Zigeuner‹ mit einem Messer und fügte ihm mit einem Gamshorn eine Verletzung im Gesicht zu. Dieser konnte dem Angreifer das Messer schließlich entwenden und stieß es ihm in die Seite. Die beiden ›Zigeuner‹ ergriffen daraufhin die Flucht. Die folgende Untersuchung zeigte schließlich, dass Anton Vogel und die anderen Beteiligten die beiden ›Zigeuner‹ seit längerer Zeit kannten. Sie hatten schon häufiger im Haus des Sebastian Bösch zusammengesessen und getrunken, allerdings nie um Geld gespielt. 75 Der durch den Messerstich verletzte Anton Vogel und einige andere Lustenauer, unter ihnen Hofammann Gabriel Hollenstein, konnten die beiden am Streit beteiligten Haidt[en] nicht nur genau beschreiben, sondern auch ihre Namen mit Joseph bzw. Bummele angeben. 76 Wie aus einem undatierten, 74 VLA, Vogteiamt Bludenz, Schachtel 19, Nr. 91: Verhörsprotokoll, 13.6.1724. 75 W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im Reichshof Lustenau (Anm. 14), S. 86-88. 76 VLA, HoA 95,11: Verhörsprotokoll, 28.8.1730. <?page no="204"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 205 zeitgenössischen Eintrag auf dem Aktenumschlag klar hervorgeht, handelte es sich bei Joseph und Bummele um ›Decknamen‹. Ihre richtigen Namen waren Mathias Rosenberger und Johannes Leimberger. 77 Beide sollten spätestens 1734 wieder im Reichshof auftauchen. Lustenau (1734) Im Dezember 1734 wurde im Reichshof Lustenau eine Gruppe von ›Zigeunern‹ festgenommen und zur Kriminaluntersuchung nach Hohenems gebracht. Ihren Kern bildeten die beiden bereits 1730 in Lustenau bezeugten Mathias Rosenberger und Johannes Leimberger mit ihren Familien. Diese ›Zigeuner‹ und andere ›Fahrende‹ hielten sich offensichtlich bereits etliche Wochen hier auf. Einzelne Mitglieder, vor allem Männer, verließen - aus ›geschäftlichen‹ Gründen - den Reichshof mehrfach für ein paar Tage und kehrten danach aber immer wieder zu ihren Angehörigen zurück. Die ›Zigeuner‹ verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit einer Vielzahl verschiedener Tätigkeiten, mit Musizieren, Stricken, Hausieren u. Ä. Freilich wurden sie auch einiger krimineller Delikte beschuldigt, die alle in einem gewissen ›Respektsabstand‹ von Lustenau begangen wurden. Es handelte sich um etliche Diebstähle und um einen brutalen Raubüberfall in Sommeri im Thurgau, bei dem die Bewohner eines abgelegenen Hofes aufs Schrecklichste misshandelt und gefoltert worden waren, um von ihnen die Preisgabe der Verstecke von Wertgegenständen und Geld zu erpressen. Diese Tat löste eine ›grenzübergreifende‹ Strafverfolgung aus, die schließlich zur Verhaftung der genannten Personen führte. 78 In Verdacht war die Gruppe in Lustenau schließlich deswegen geraten, weil sie nicht wie bettelleuth, sondern wohl oder ybermessig in Essen und trinkhen leben, auch wohl gekhleidt, dann die Menner mit gewehr versehen weren. 79 Zwischen dem 20. Dezember 1734 und dem 17. Mai 1735 wurde in Hohenems eine umfangreiche und genau dokumentierte Untersuchung durchgeführt. 80 Außerdem holte man beim fürstäbtisch-sanktgallischen Malefizgericht Auskünfte über die zum Raub von Sommeri durchgeführten Untersuchungen ein. 81 Das ganze Verfahren gipfelte schließlich in drei Hinrichtungen, die im April und Mai 1735 in Hohenems vollstreckt wurden. 82 Die genannten Quellen erlauben uns einen Einblick in die Zusammensetzung und die Lebenswelt der damals vor Gericht Gestellten. Magdalena Hirschhorn sagte aus, sie [h]abe kein Landt, ihre Vorelteren weren aus Egipte, Ziggeiner, Sie gehen bettln und Haischen und machen, wie sie sich Erhalten können. 77 VLA, HoA 95,11. 78 W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im Reichshof Lustenau (Anm. 14), S. 88-93. 79 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Maria Winter, 20.12.1734. 80 Die Protokolle finden sich in: VLA, HoA 83,6. 81 VLA, HoA 95,9. 82 PfA Hohenems, Sterbe- und Trauungsbuch 1722-1770, S. 40f. <?page no="205"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 206 Nach eigenen Angaben war sie etwa 60 Jahre alt und mit dem ›Zigeuner‹ Franz Rosenberger verheiratet gewesen, der aber in dem Schwabenlandt gestorben sei. Außerdem behauptete sie, sieben Kinder mit Namen Ignaz, Joseph, Matheysle, Anthoni, Catharin Sabina, Maria Anna und Maria Anthonia zu haben, die sich zum Teil in dem Schweitzerlandt und zum Teil in Hohenems-Lustenau aufhielten. 83 Sie hatte einen Bruder mit Namen Silvester, der sich ihren Angaben zufolge vor einiger zeith […] zue Lustnaw bey den Zessinger aufgehalten habe. Dort habe er mit dem Juden Causchle Moos Handel getrieben, dem er Silberlöffel verkauft habe. 84 Unter den Verhafteten befanden sich zwei Söhne, Mathias und Josef Rosenberger, und zwei Schwiegersöhne von ihr, der Cronegger und Johannes Leimberger. Magdalena Hirschhorn wurde als Ein alte Magistra aller Diebereyen und schelmen Possen bezeichnet. Sie konnte schlussendlich aus dem Gefängnis in Hohenems entfliehen, wobei nach Ansicht der Untersuchungsbeamten der Teufel seine Hand im Spiel hatte. 85 Mathias (Matheys) Rosenberger hatte sich, wie bereits gezeigt, schon 1730 in Lustenau aufgehalten. Auch er sagte von sich, er Seye ein Ziggeiner, könne sonsten nichts sagen, woher er seye. Er war nach eigener Angabe 21 oder 22 Jahre alt und mit Margaretha verheiratet, über deren Herkunft er nichts wisse. Die Ehe sei im Sommer 1734 in Einsiedeln geschlossen worden. Damals habe er gemeint, sie were eine Jungfraw, es habe sich dann aber herausgestellt, dass Margaretha verwitwet sei. 86 Im Laufe der Verhöre gestand er eine Reihe von Diebstählen, die er hauptsächlich zusammen mit seinem Kronegger genannten Schwager begangen habe. Er begründete diese Taten mit ihrer jeweiligen Notlage. So sagte er aus, wann sie etwann gahr hungerig gewesen, hätten sie geschwindt ein schefle genommen. Zusammen mit seiner Begleitung hatte er sich wiederholt in Rankweil aufgehalten. 87 In Meiningen bei Feldkirch stahlen diese ein Schwein. 88 Mathias Rosenberger war einer der am Raub in Sommeri Beteiligten. 89 Außerdem war er Mittäter bei einigen weiteren Diebstählen im Schweizerland, im Glarner Land, auf dem Schellenberg bei Ruggel, in Koblach, in Berneck, in Sulz sowie in der Umgebung von Göfis. 90 Mathias Rosenberger wurde schließlich schuldig gesprochen und am 22. April 1735 in Ems zusammen mit Johannes Löwenberger durch den Strang gerichtet. Einen Tag vorher war hier sein erst zwei Wochen altes Kind gestorben. 91 83 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Magdalena Hirschhorn, 20.12.1734. 84 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Magdalena Hirschhorn, 11.2.1735. 85 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Magdalena Hirschhorn, undatiert (ca. 1735). 86 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 20.12.1734. 87 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 11.2.1735. 88 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 4.3.1735. 89 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 23.3.1735. 90 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 26.3.1735. 91 PfA Hohenems, Sterbe- und Trauungsbuch 1722-1770, S. 40f. <?page no="206"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 207 Auch Anna Margaretha Winter bezeichnete sich als ›Zigeunerin‹. Über ihre Herkunft wusste sie Folgendes zu berichten: Sie sei in der Nähe von Nürnberg ([b]ey Nierenberg) geboren worden. [I]hr Vatter seye ein Zikheiner gewesen. Als Alter gab sie 22 oder 23 Jahre an. Sie hatte noch eine Schwester mit Namen Marianna gehabt, die aber schon gestorben sei. Anna Maria Winter war bereits vor einiger Zeit in Schmiechen im Württembergischen, 4 Stundt von Schwebischgmündt, gebrandmarkt worden, [w]eilen es alldorthen verbotten gewesen, daß sich Ziggeiner sollen aufhalten mithin, und da sie sollches Verbott zum 3ten mahl ybertretten. Pfingsten 1734 hatte sie Mathias Rosenberger geheiratet. Sie bestritt die Aussage ihres Mannes, dass sie als Witwe in die Ehe gegangen sei, gestand aber, eine voreheliche Beziehung gehabt zu haben. Sie sei mit einem Kerle Nahmen Johannes herum gezogen, welcher so viehl sie wisse, Soldath worden seye. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie nach eigener Aussage größtenteils mit betlen, dann mit auf machen. 92 Im Laufe des Verhörs musste sie Diebstähle in einem Feldkircher Haus, 93 in dem Schweitzer und Glarner Landt (zusammen mit Ursula, der Frau ihres Schwagers Joseph) sowie am Eschnerberg (zusammen mit ihrer Schwiegermutter) zugeben. 94 Als Heimliche Diebin wurde sie am 20. Mai 1735 in Ems durch das Schwert hingerichtet. 95 Johannes Leimberger hatte sich, wie bereits gezeigt, ebenfalls schon 1730 in Lustenau aufgehalten. Auch er bezeichnete sich als ›Zigeuner‹ und wusste dies noch zu präzisieren: Sein Vatter seye ein Zigeiner gewesen, von der Mutter hero. Johannes Leimberger war angeblich 22 Jahre alt und verdiente sich seinen Lebensunterhalt hauptsächlich als Spielmann auf dem Hackbrett. Er hatte noch einen Bruder namens Hans Georg, der sich seiner Aussage nach in dem Schweitzerlandt aufhalte. Johannes Leimberger war mit Maria Antonia, einer Schwester des Mathias Rosenberger, verheiratet und zog mit seinem Schwager und dessen Frau. Weiter gab er an, sie alle seyen den Winter hier im Landt gewesen. 96 Zusammen mit seiner Schwieger - gemeint ist seine Schwiegermutter - und sein[em] Waib war er vor etwa einem Jahr in Sargans arrestiert gewesen. Man habe sie damals in der Aw under Baltzers verhaftet, weil man sie verdächtigte, in einen Krämerladen in Ragaz eingebrochen zu haben. Ein Teil ihrer Gruppe konnte sich der Verhaftung durch Flucht entziehen. Unter den Flüchtigen waren angeblich sein Bruder Hans Georg und sein Vater gewesen. Als sie versuchten, den Rhein zu durchschwimmen, sei sein Vater ertrunken. Die Verhafteten seyen mit der Ruethen unschuldiger weis ausgeschlagen worden, obwohl der Bestohlene sie in der Gefangenschaft als unschuldig bezeichnet hatte. Außerdem gestand Johannes Leimberger einen Leinwanddiebstahl und zwei Schweinedieb- 92 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Margaretha Winter, 20.12.1734. 93 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Margaretha Winter, 30.12.1734. 94 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Margaretha Winter, 26.3.1735. 95 PfA Hohenems, Sterbe- und Trauungsbuch 1722-1770, S. 41. 96 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 20.12.1734. <?page no="207"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 208 stähle in Rankweil und Brederis, die er zusammen mit anderen durchgeführt hatte. Den Leinwanddiebstahl rechtfertigte er damit, dass man ihm und seinen Kameraden gesagt habe, die von ihnen Bestohlenen seien Schelmen […], mithin haben sie solche Leinwath ihne lieber als denen Bauren genommen. Unter Androhung der Folter gestand er schließlich auch noch die Beteiligung an einem Diebstahl von zwei Schafen in dem Schweitzer Landt und die Mitwirkung am Raub in Sommeri. 97 Johannes Leimberger hatte sich bereits im Winter 1733 in Lustenau bey der Zessingerin aufgehalten. Damals hatte er zusammen mit dem Leonhardt, dem Kronegger und dem Peter zu Berneck viehl und gedigen Rindtfleisch gestohlen, das sie im Reichshof under einander verbraucht. Im vorangegangenen Sommer hatte er außerdem zusammen mit dem Kronegger in Sulz ein Schwein entwendet. 98 Eine gewisse Anna Maria bezeichnete sich ebenfalls als ›Zigeunerin‹. Sie hatte sich zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung etwa drei Wochen lang in Lustenau und Hohenems aufgehalten, die meiste Zeit davon in Ems. Über ihre Herkunft ist nichts Näheres bekannt. Offensichtlich war sie der Anna Margaretha Winter begegnet, als diese den Reichshof für einige Tage in Richtung Vorarlberger Oberland verlassen hatte, und war von ihr nach Lustenau mitgenommen worden. Hier traf sie nach eigener Aussage einiche Zigkeiner Leuth an, welche sie ihr Lebtag niemahl gesehen. Diesen gegenüber behauptete sie, aus Welschlandt und […] aus dem Ungerlandt zu kommen. 99 Von Anna Margaretha Winter, Johannes Leimberger und Mathias Rosenberger wurde sie als Zigkeiner Mensch bzw. als frembde Zigkeinerin, die aus Ungerlandt stamme und Ungrisch und Grichisch rede, bezeichnet. Bei der Beschreibung ihres Äußeren betonten diese stets ihre dunkle Hautfarbe. Anna Margaretha Winter sagte aus, sie sei in dem Gesicht gantz Schwartz, Johannes Leimberger bezeichnete sie als ein khleins Mensch, recht Schwartz und tipflet und Mathias Rosenberger als in angesicht Schwartz. 100 Leonhardt Teybel/ Deibel bezeichnete sich im Unterschied zu den meisten anderen Verhafteten selbst nicht als ›Zigeuner‹. Er gab an, in Bamberg zur Welt gekommen zu sein. Nach eigener Aussage war er etwa 25 Jahre alt und ein Strumpfstrikher und Spihlmann, auch ein betler darbey. Weiter gestand er, zusammen mit seiner Ehefrau einmal in Wolfegg verhaftet worden zu sein, weil ihme einer gestochen und er selben widerumb. Sie seien aber wieder freigelassen worden. Er gab außerdem zu, sich zusammen mit seiner Frau längere Zeit in Lustenau aufgehalten zu haben. Er habe aber während dieser Zeit den Ort wiederholt verlassen und sei das Land auf und 97 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Johannes Leimberger, 29.12.1734, 4.3.1735 und 23.3.1735. 98 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 15.4.1735. 99 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Maria, 29.12.1734. 100 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Anna Margaretha Winter und des Johannes Leimberger, 29.12.1734, und des Mathias Rosenberger, 30.12.1734. <?page no="208"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 209 abgangen. Dabei sei er bisweilen 8, 10 bis 14 tag […] von Lustnow ausgeblieben und bis in das Bündtner Land gangen. Mehrfach sei er auch in Laterns gewesen, wo er jeweils mit der Geige aufgespielt habe. Er habe sich dabei aber nichts zuschulden kommen lassen, [e]r seye vielmehr mit Ehren allzeith hinein und mit ehren wider heraus kommen. Leonhardt Teybel bestritt, die mitinhaftierten ›Zigeuner‹ zu kennen und gab lediglich zu, dass seine Frau mit diesen Handel getrieben hatte. 101 Es gelang ihm, aus der Haft in Hohenems auszubrechen. 102 Seine Ehefrau Martha Schilgrin stammte angeblich aus Peißenberg in Bayern und war 39 Jahre alt. Auch sie bezeichnete sich selbst nicht als ›Zigeunerin‹. Sie gab an, ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit strümpf, Ermel und Handschuch strikhen zu verdienen. Sie gestand, vor etwa zwei Jahren zusammen mit ihrem Ehemann in Wolfegg festgenommen worden zu sein, weil sie mit einem nichtsnutzugen Kerl [einen] gefährlich Handl gehabt, seyen aber vor unschuldig erkand worden. Vor ihrer aktuellen Verhaftung hätten sie sich [b]aldt in dem Schweitzer Landt, baldt zue Lustnaw oder in der Meder, Götzis und Hechst aufgehalten. 103 Im Zuge der weiteren Untersuchungen stellte es sich jedoch heraus, dass sie in Wolfegg an den Pranger gestellt worden war und Urfehde geschworen hatte, das Gebiet des Schwäbischen Kreises nicht mehr zu betreten. Ihre Anwesenheit in Lustenau und Hohenems entschuldigte sie damit, sie hätte gemeint, der Boodensee seye die Schiedtmarkh und hiesige Grafschaft kein Reichs Herrschaft. 104 Im Verhör beharrte sie darauf, dass ihr und ihrem Mann die verhafteten ›Zigeuner‹ - sie sprach in diesem Zusammenhang von den Haiden Leuth - vorher nur flüchtig bekannt gewesen seien. Sie insistierte darauf, mit ihnen keine Cammoradtschaft gehabt [zu] haben und sie lediglich theils zu Lustnaw, theils in Oberlandt wohl gesehen, aber mit solchen keine Bekhandtschaft gehabt zu haben. Die Teilnahme ihres Gatten am Raub in Sommeri schrieb sie der Verführung durch die ›Zigeuner‹ zu. 105 Neben den eben Beschriebenen waren vor allem an den Viehdiebstählen und am Raub in Sommeri noch mehrere Männer beteiligt. Von ihnen liegen keine Verhörsprotokolle vor. Sie wurden aber von den Verhafteten und auch von einigen der Herberggeber in Lustenau beschrieben und sie fanden teilweise Eingang in eine in der Hohenemser Kanzlei angefertigte handschriftliche Beschreibung Eines in Hiesiger Revier Herumbvagierenden höchstschädlichen und geföhrlichen Zügginer, Jauner und Diebs Gesindl: 106 Am häufigsten wurde in diesem Zusammenhang ein gewisser Kronegger genannt. In der Hohenemser Beschreibung wird sein ›richtiger‹ Name mit Johannes Lewenberger des Josephen angegeben. Es soll außerdem der Catzen schinder genannt 101 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Leonhardt Teybel, 10.1.1735. 102 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Leonhardt Deibel [ = Teybel], undatiert (1735). 103 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Schilgrin, 10.1.1735. 104 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Schilgrin, 15.4.1735. 105 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Schilgrin, 15.4.1735. 106 VLA, HoA 103,25. <?page no="209"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 210 worden und 1735 32 Jahre alt gewesen sein. Er wird den Ziggeiner[n] zugerechnet. 107 Johannes Löwenberger soll an den Viehdiebstählen, bei denen im Vorarlberger Oberland Schweine gestohlen wurden, und am Raub in Sommeri mitgewirkt haben. 108 Er hat sich zeitweise auch in Lustenau aufgehalten oder hier wenigstens seine Gefährten aufgesucht. Dies wird durch die Aussagen der Maria Alge, 109 der Barbara Hagen 110 und des Anton Schmid 111 bestätigt. Nach Angaben der Hohenemser Beschreibung wurde er von seiner etwa 32-jährigen Frau Katharina, einem etwa achtjährigen Sohn Leopold und einer etwa zehnjährigen Tochter Katharina begleitet. 112 Der ›Kronegger‹ wurde von Mathias Rosenberger als Schwager 113 und von Magdalena Hirschhorn als Schwiegersohn bezeichnet. 114 Er müsste daher mit einer Schwester des Mathias Rosenberger verheiratet gewesen sein. 115 In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, dass Mathias Rosenberger mit Anna Margaretha Winter verheiratet war. Auch unter den 1724 in Vandans verhafteten ›Zigeunern‹ befand sich eine Maria Helena Winter, die in erster Ehe mit einem Hans Jörg Löwenberger und in zweiter mit einem Josef Ignaz Rosenberger verheiratet war. 116 Möglicherweise bestand auch von dieser Seite eine verwandtschaftliche Verbindung. Johannes Löwenberger wurde am 22. April 1735 zusammen mit Mathias Rosenberger in Ems mit dem Strang hingerichtet. 117 Auch sein Bruder Josef Rosenberger 118 wirkte an den Viehdiebstählen und am Raub in Sommeri mit. 119 Seine Anwesenheit in Lustenau ist mehrfach bezeugt. 120 In der Hohenemser Beschreibung von ca. 1735 wird er als bey 40 Jahr alt[er] Züggeiner Langer Postur, Langlechter schwartzen ahn gesichts, der gleichen Hahren und Bartes, der nur ein aug, welches groß und schwartz ist, habe, während das linckhe hin gegen […] ihme vor 107 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Johannes Löwenberger, undatiert (ca. 1735). 108 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Mathias Rosenberger, 11.2.1735, und des Johannes Leimberger, 4.3.1735 und 26.3.1735. 109 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. 110 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. 111 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Schmid, 7.1.1735. 112 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Catharina, undatiert (ca. 1735). 113 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 11.2.1735. 114 Vgl. oben. 115 Nach Aussage seiner Mutter hatte dieser tatsächlich eine Schwester mit Namen Catharin Sabina. Vgl. weiter oben. 116 Vgl. weiter oben. 117 PfA Hohenems, Sterbe- und Trauungsbuch 1722-1770, S. 41. 118 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. 119 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Mathias Rosenberger, 11.2.1735, und des Johannes Leimberger, 4.3.1735 und 26.3.1735. 120 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Maria Alge, 23.12.1734, und der Barbara Hagen, 7.1.1735. <?page no="210"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 211 dem Kopf heraussen [stehe] und […] allberaith zue gedeckht sei. 121 Nach Aussage seines Bruders war er mit einem Messer bewaffnet und hatte ein waib mit Namen Agath, die ein Kindt, [ein] khleines bieble, hatte und schwanger war. 122 Josef Rosenberger war schon 1724 in Vandans festgenommen worden. Damals hatte er angegeben, verheiratet zu sein und ein Kind zu haben. 123 Dies deckt sich mit den Angaben in der Hohenemser Personenbeschreibung. Als Sohn des Josef Rosenberger wird hier der 16-jährige Michl angegeben. Dieser ist möglicherweise als Spielmann aufgetreten. Als besonderes Kennzeichen wird jedenfalls angeführt, dass er stets eine Geige mit sich trage. 124 Auch dieser war am Raub in Sommeri beteiligt. Er muss somit auch in Lustenau gewesen sein, denn hier hatte man sich zu dieser gemeinsamen Unternehmung zusammengefunden. 125 Als Frau des Josef Rosenberger wird 1735 eine gewisse Ursula angegeben - ein Familiennamen wird nicht genannt -, die etwa 34 Jahre alt und aus Meersburg gebürtig sein soll. Außer dem Michel hatte sie angeblich noch vier weitere Kinder. 126 Johannes das Metzerly genandt, 127 Johannes ein Metzlerr, 128 der Metzkerle, 129 Johannes, Metzkerle genanndt 130 oder Johannes, der Metzkerle 131 war zumindest am Raub in Sommeri beteiligt und hielt sich ebenfalls gelegentlich in Lustenau auf. Er war 1735 ungefähr 24 Jahre alt und mit einer etwa 30 Jahre alten Frau namens Agatha verheiratet, die ein etwa dreiviertel Jahre altes Büeble hatte. 132 Johannes der Steurer 133 oder der Stewrer 134 nahm zumindest am Raub in Sommeri teil und hat sich ebenfalls zeitweise in Lustenau aufgehalten. Wie aus der Hohenemser Personenbeschreibung hervorgeht, rührte sein Name daher, dass er in der Steiermark geboren worden war. Sein Alter wird mit etwa 34 Jahren angegeben. Er gab vor, Rosenkränze zu fertigen oder sich als armer Bettler durchzuschlagen, war aber offensichtlich ein Spezialist für Einbrüche, denn er führte entsprechende 121 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Josef Rosenberger, undatiert (ca. 1735). 122 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 16.4.1735. 123 Vgl. weiter oben. 124 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Michl Rosenberger, undatiert (ca. 1735). 125 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 26.3.1735. 126 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Ursula, undatiert (ca. 1735). 127 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Johannes, undatiert (ca. 1735). 128 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. 129 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. 130 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 26.3.1735. 131 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Teybler [ = Martha Schilgrin], 15.4.1735. 132 VLA, HoA 103,25: Beschreibungen des Johannes und der Agatha, undatiert (ca. 1735). 133 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Johannes, undatiert (ca. 1735). 134 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Barbara Hagen, 7.1.1735, des Johannes Leimberger, 26.3.1735, und des Mathias Rosenberger, 16.4.1735. <?page no="211"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 212 Werkzeuge mit sich. 135 Er wurde von einer etwa 36 Jahre alten Frau namens Susanna und einer 14-jährigen Tochter begleitet. 136 Ein gewisser Caspar war am Diebstahl der Schweine in der Gegend um Rankweil und am Raub in Sommeri beteiligt 137 und hielt sich ebenfalls gelegentlich in Lustenau auf. 138 Er war etwa 30 Jahre alt und trat gewöhnlich als Knopfmacher auf. 139 Er wurde von seiner ebenfalls etwa 30-jährigen Frau Apolonia und zwei Töchtern im Alter von etwa acht und gut einem Jahr begleitet. 140 Ein weiterer Mann namens Johannes, von dem kein Familienname angegeben ist, war am Diebstahl der Schweine in der Gegend um Rankweil beteiligt 141 und hielt sich zeitweise in Lustenau auf. 142 Er war zwischen 35 und 40 Jahre alt, galt als fahrender Krämer und hatte den Spitznamen Weiß Kopf. 143 Er wurde von seiner etwa 36-jährigen Frau Dorothea sowie einer 15-jährigen Tochter und einem 12jährigen Sohn begleitet. 144 Bei Magdalena Hirschhauer, Mathias, Josef und Michl Rosenberger, Anna Margaretha Winter, Johannes Löwenberger und Johannes Leimberger haben wir es wie bei der nicht näher bezeichneten Anna Maria ohne Zweifel mit ›Zigeunern‹ zu tun. Sie ordneten sich alle selbst ausnahmslos dieser Gruppe zu, und auch die befragten Lustenauer Hofleute und die Untersuchungsbeamten in Hohenems sahen in ihnen ›Zigeuner‹. Bei Leimberger und Rosenberger handelt es sich überdies um »typisch zigeunerische Familiennamen«, wie sie im südwestdeutschen Raum vielfach bezeugt sind. 145 Auch der Familienname Hirschhorn ist unter ›Zigeunern‹ - freilich nicht so häufig wie Rosenberger oder Leimberger - bezeugt. 146 135 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Johannes (der Steurer), undatiert (ca. 1735). 136 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Susanna, undatiert (ca. 1735); VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 16.4.1735. 137 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Johannes Leimberger, 4.3.1735 und 26.3.1735. 138 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. 139 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Caspar, undatiert (ca. 1735). 140 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Apolonia, undatiert (ca. 1735); VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Teybler [ = Martha Schilgrin], 15.4.1735. 141 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Teybler [ = Martha Schilgrin], 15.4.1735. 142 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. 143 VLA, HoA 103,25: Beschreibung des Johannes, undatiert (ca. 1735); VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Teybler [ = Martha Schilgrin], 15.4.1735 (Zitat). 144 VLA, HoA 103,25: Beschreibung der Dorothea, undatiert (ca. 1735). 145 G ERHARD F RITZ , »Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt«. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches (Stuttgarter historische Studien zur Landes- und Wirtschaftsgeschichte 6), Ostfildern 2004, S. 239 (Zitat). Belegstellen: Ebd., S. 336, Anm. 301, 351 mit Anm. 382, 378, 385-386, Anm. 167, 674, 702 mit Anm. 251, 744, 820 (jeweils für Rosenberger), 138, <?page no="212"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 213 Bei den anderen in Hohenems inhaftierten Personen muss eine Zugehörigkeit zu den ›Zigeunern‹ offen bleiben. Leonhardt Teybel und seine Gattin distanzierten sich in ihren Aussagen ausdrücklich von den ›Zigeunern‹. 147 Auch die Lustenauer Hofleute unterschieden 1734/ 35 ausdrücklich zwischen ›Zigeunern‹ und anderen Vagierenden. Anton Schmid sprach ausdrücklich von 8 Kerl, 4 Zigkeiner und 4 Weiße, die wegen gestohlener Leinwand in einen Streit geraten waren. 148 Wir haben es hier ganz eindeutig mit einem Fall zu tun, in dem ›Zigeuner‹ und andere Vagierende zusammenarbeiteten. 149 Lustenau und Hohenems 1748/ 49 Im November 1748 und im Januar 1749 wurden zu Lustnau und in Hohenems, in des Scharfrichters Haus am Rhein mehrere Jauner und Zigeuner-Persohnen gefangen genommen. 150 Einige von ihnen waren durch ihren Lebenswandel aufgefallen. Auslöser für den behördlichen Zugriff war möglicherweise ein Einbruch in die obere Mühle bei Balzers gewesen, der, wie sich herausstellen sollte, von Mitgliedern dieser Gruppe im Frühherbst 1748 begangen worden war. Die zentrale Figur dieser ›Zigeunergruppe‹ war ein Baltus Hafner, auch Kronegger genannt. Zu ihrem Kern gehörten außerdem mehrere seiner Geschwister, seine verwitwete Mutter und weitere Verwandte. Sie alle werden mehrfach eindeutig als ›Zigeuner‹ bezeichnet. 151 Dazu kamen noch einige andere Vagierende, die sich dieser Gruppe angeschlossen 152, 248, 252, auch Anm. 640 und 641, 270, Anm. 704, 271, Anm. 705, 282, 318 und 371 und 756 (jeweils für Leimberger); außerdem: A. N AGEL , Armut im Barock (Anm. 40), S. 63 (für Rosenberger); G ERHARD F RITZ , Quellen zur Geschichte der öffentlichen Sicherheit in Südwestdeutschland (historegio Quellen 8), Remshalden 2006, beigelegte CD-Fallsammlung, S. 9, 11, 16, 18f., 31f., 36, 63, 90f., 149 (jeweils für Rosenberger), 75f., 94 (jeweils für Leimberger). 146 G. F RITZ , Quellen (Anm. 145), beigelegte CD-Fallsammlung, S. 47. 147 Beispielsweise: VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Schilgrin, 10.1.1735. 148 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Schmid, 7.1.1735. 149 Dazu allgemein: T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 390-407. 150 VLA, HoA Hs 267: Rentamtsrechnungen 1748/ 49, fol. 128. 151 In einem Bonndorfer Urteil vom Sommer 1744 werden Baltus, seine Mutter, seine Geschwister und sein Sohn als aus dem verruchten und gottlosen Zigeuner Geschlecht stammend bezeichnet; VLA, HoA 160,6: Urteil Bonndorf, 18.7.1744. In einem Lindauer Urteil vom März 1748 wurde der Mutter des Baltus und seiner Schwester Christina u. a. vorgeworfen, dass sie Ihrer Zigeuner und Diebs-Gesellschaft jmmer forth angehangen, und für den Fall, dass sie sich noch einmal im Gebiet des Schwäbischen Kreises aufhalten würden und in dem verdammlichen müssigen Bettler, und Zigeunerleben sich würden betretten lassen, die Todesstrafe angedroht; VLA, HoA 160,6: Urteil, Lindau, 26.3.1748. <?page no="213"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 214 hatten. 152 Die in der Folge wiederum in Hohenems durchgeführte gerichtliche Untersuchung gewährt uns erneut einen gewissen Einblick in die Struktur der Gruppe und in die Biographien der einzelnen Mitglieder: Leopold (Boldus oder Poldus) Hafner war damals etwa 20 Jahre alt. Seiner eigenen Angabe nach war er in Mäder bei Altach zur Welt gekommen und im benachbarten Koblach getauft worden. Er bezeichnete sich noch als ledig. 153 Seine Schwester Christina war etwa 22 oder 23 Jahre alt und in Bischofszell, im heutigen Kanton Thurgau, zur Welt gekommen. 154 Sie war bereits in Zug, Oberriet und Bonndorf vermietels Abschneidung der Haaren, Staupenschlag und Landtsverweisung bestraft worden. Da sie ihr Leben nicht geändert hatte, sondern Ihrer Zigeuner und Diebs-Gesellschaft jmmer forth angehangen, von wüssentlich gestohlnen Sachen mit genossen, auch in ihren gerichtlichen Verhören ville falschheiten und betrug vermessener weis vorgegeben, wurde sie im März 1749 in Lindau dazu verurteilt, vom Scharfrichter eine halbe Stunde lang an den Pranger gestellt zu werden. Danach sollte sie am rechten Ohr gestimmelt und auf die Schulter gebrandmahlet, ihr anschließend die Haare öffentlich abgeschnitten und verbrannt und sie empfindlich mit Ruten ausgehauen werden. Außerdem wurde sie auf ewig aus dem Schwäbischen Reichskreis und besonders dieses Reichsfürstentums auf drei Meilen verwiesen. 155 Leopolds jüngerer Bruder Caspar konnte weder sein Alter noch seinen Geburtsort nennen. Aus der für ihn wiederholt verwendeten Bezeichnung Casparle ist wohl zu schließen, dass er noch ein Kind war. 156 Zur Gruppe gehörte auch noch die Mutter des Leopold Hafner, Catharina Rosenberger (Löwenberger), auch Tannerin genannt. Sie war etwa 60 Jahre alt und Witwe. Ihr Ehemann Johannes Löwenberger, genannt Kronegger, war 1735 in Hohenems hingerichtet worden. 157 Sie hatte ihn damals begleitet 158 und hielt sich folglich an der Jahreswende 1748/ 49 bereits zum wiederholten Male im Reichshof auf. Katharina Rosenberger war außerdem im Juli 1744 zusammen mit ihren Kindern, einem Enkel und einem Johann, der als Kronegger bezeichnet wurde, aber nicht sicher identifiziert werden kann, in Bonndorf im Schwarzwald ins Gefängnis gekommen. Da ihr die Beteiligung an mehreren Einbrüchen und diebische[n] Angriffe[n] zu Stühlingen und in der Schweiz, Brandmarkungen in Zug, Frauenfeld und Uznach sowie die Bestrafung durch Staupenschlag wegen Urfehdebruchs in Frauenfeld nachgewiesen werden konnten, wurde sie zusammen mit ihrer Tochter zum Tod durch den Strang verurteilt, danach aber begnadigt, eine Stunde an den 152 W. S CHEFFKNECHT , »Arme Weiber« (Anm. 73), S. 97. 153 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Baltus Hafner, Jan. 1749. 154 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Christina Hafner, 27.1.1749. 155 VLA, HoA 160,6: Urteil, Lindau, 26.3.1748. 156 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Caspar Hafner, Jan. 1749. 157 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Katharina Rosenberger/ Tanner, 27.1.1749. 158 Siehe weiter oben. <?page no="214"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 215 Pranger gestellt, am rechten Ohr merklich ›gestümmelt‹ und nach dem Abschwören einer Urfehde auf ewig aus den vorderösterreichischen Herrschaften verbannt. 159 Im März 1748 kam sie zusammen mit ihrer Tochter Christina in Lindau vor Gericht, wo sie zu derselben kumulativen Ehren- und Körperstrafe wie diese verurteilt und ebenfalls auf ewig aus dem Schwäbischen Kreis ausgewiesen wurde. 160 Einige weitere Gruppenmitglieder waren mit den eben genannten ›Zigeunern‹ verwandt: Ein etwa neunjähriger Junge, der Clos geheißen wurde und der seinen Familiennamen nicht nennen konnte, gab an, der Sohn einer Schwester der Katharina Löwenberger zu sein. 161 Die 14 oder 15 Jahre alte Apolonia Löwenberger könnte eine Schwester des Clos gewesen sein. Sie gab an, die alte seye Constitutins Mutter Schwester. Sie bezeichnete Leopold und Christina daher als ihren Vetter und ihre Baas. 162 Johannes Kleemann, ein 18-Jähriger, der sich selbst als Soldatenkind aus Flandern bezeichnete und seit etwa einem halben Jahr bei den ›Zigeunern‹ war, 163 gehörte ebenfalls zu der Gruppe. Er war angeblich mit der oben genannten Christina verheiratet. 164 Außerdem sollen noch zwey kleine Bueben mit der Gruppe gezogen sein. 165 Die in Hohenems durchgeführte Kriminaluntersuchung förderte zutage, dass die Gruppe u. a. Viehdiebstähle, Einbrüche, darunter ein nächtlicher Einbruch in die obere Mühle bei Balzers, und Überfälle auf Alleinreisende durchgeführt hatte. Die weiblichen Mitglieder und die Kinder waren vor allem für eine Reihe von Diebstählen auf verschiedenen Märkten verantwortlich, bei denen neben Esswaren auch Schuhe, Kleider und Strümpfe entwendet worden waren. 166 Schlussendlich wurden Leopold Hafner, Katharina Tanner (Rosenberger), Johannes Kleemann und ein Johannes Gotthard zum Tode verurteilt und am 7. Februar 1749 in Hohenems hingerichtet, Leopold Hafner mit dem Rad durch Zerstessung seiner glieder von oben herab, Johannes Gotthard mit dem Schwert und die beiden anderen mit dem Strang. Der Leichnam des Leopold Hafner wurde danach in vier gleiche Theille zerhauen, und zerschnitten und die Stückhe auf die vier Gemaine Landes Strassen ofentlich aufgehengen und gestekhet. 167 Die Vollstreckung dieser Urteile diente als Vorbild für einen Holzschnitt, der eine in Bregenz bei Ferdinand Caspar Daschek im Auftrag des 159 VLA, HoA 160,6: Urteil, Bonndorf, 18.7.1744. 160 VLA, HoA 160,6: Urteil, Lindau, 26.3.1748. 161 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Clos, 25.1.1749. 162 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Apolonia Löwenberger, Januar 1749. 163 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Kleemann, 29.1.1749. 164 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussgage der Apolonia Löwenberger, Jan. 1749. 165 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussgage der Apolonia Löwenberger, Jan. 1749. 166 W. S CHEFFKNECHT , »Arme Weiber« (Anm. 73), S. 97. 167 VLA, HoA 160,6: Urteil, 7.2.1749; VLA, HoA Hs 267: Rentamtsrechnungen 1748/ 49, fol. 133-133’. <?page no="215"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 216 gräflich hohenemsischen Oberamts in einer Auflage von 400 Exemplaren gedruckte Steckbriefsammlung zierte. 168 5. Das Verhalten der Ansässigen Die beschriebenen Beispiele bergen eine Reihe von Hinweisen dafür, dass die Migration der ›Zigeuner‹ keineswegs planlos oder zufällig war. So zeigt sich ganz deutlich, dass diese bei ihren Wanderungen auf ein regelrechtes Netz von Unterkunftgebern zurückgreifen konnten. Besonders im Zuge der Untersuchung von 1734/ 35 konnte für den Reichshof Lustenau eine ganze Reihe von Hofleuten identifiziert werden, bei denen ›Zigeuner‹ und andere ›Fahrende‹ Herberge fanden: Martha Bösch, eine Zimmermannswitwe, 169 gewährte dem Leonhardt Teybel und dessen Frau Martha Unterkunft. Maria Bösch, die Frau des Leibeigenen Hans Alge, genannt ›Fischer‹ 170 hatte nach eigener Aussage wider des Manns willen mehrere, namentlich nicht genannte ›Zigeuner‹ für eine Nacht - es handelte sich um dieselbige Nacht, Ehe sie gefangen worden - in die Herberg aufgenommen. 171 Dieselben fanden außerdem Aufnahme im Haus eines Franz Bösch. 172 Anna Maria Hagen, die Ehefrau des Jakob Hämmerle, 173 hatte einem Zigkeiner, den sie als den ainaugende[n] Joseph - 168 VLA, HoA 78,2: Beschreibung Des im Lande herum vagirenden Diebs = und Jauners = Gesindes/ Mann = und Weiblichen Geschlechts/ welches mit der zu Hohenems eingezogen/ und zum Theil den 7. Februarii 1749. daselbst durch das Rad/ den Strang/ und das Schwerdt hingerichteten Räuber = Zigeuner = und Diebs = Rotte in Complicität gestanden/ oder sonsten als Jauner/ Spitzbuben/ und Diebes = Pursche angegeben worden. Bregentz gedruckt durch Ferdinand Caspar Daschek; VLA, HoA Hs 267: Rentamtsrechnungen 1748/ 49, fol. 133. Dazu: W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Armut - Mobilität - Kriminalität. Zwei in Vorarlberg gedruckte Gaunerlisten als sozialgeschichtliche Quellen, in: Biblos 39 (1990), S. 219-229; D ERS ., Scharfrichter. Eine Randgruppe im frühneuzeitlichen Vorarlberg. Konstanz 1995, S. 52-54; D ERS ., Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg (Anm. 14), S. 286f. 169 Es dürfte sich um die am 10.1.1679 geborene und am 17.5.1740 gestorbene Witwe des bei einem Fährunglück im Rhein ertrunkenen Zimmermanns Jakob Alge (* 28.5.1673, † 22.7.1720) handeln. F RANZ S TETTER / S IEGFRIED K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch, 3 Bde., Konstanz 2012, hier Bd. 2, S. 16, al60. 170 Wohl Maria Bösch († 25.3.1765), die am 28.9.1725 den leibeigenen Hans Alge, »Fischers« (* 29.3.1696, † 8.12.1773), geheiratet hatte; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 16, al66. 171 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Bösch, 23.12.1734. 172 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Leonhardt Teybel, 10.1.1735. 173 Wohl Anna Maria Hagen (* 20.1.1688, † 9.5.1755), seit dem 14.6.1728 mit Jakob Hämmerle (* 24.7.1696, † vor 1756) verheiratet; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 401, he149. <?page no="216"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 217 gemeint war Josef Rosenberger - bezeichnete, beherbergt. 174 Katharina Hagen, die Ehefrau des Sebastian Bösch, 175 dessen Haus bereits 1730 als Treffpunkt von ›Zigeunern‹ und Hofleuten gegolten hatte, 176 hatte nach eigener Aussage einen Mann mit Nahmen Mathies, dann ein Waib nahmen Margareth eine Zeith lang beherberget, welche sich für Haiden ausgethon haben. 177 Ein Jakob Alge scheint mehrere ›Zigeuner‹ beherbergt zu haben. 178 Jedenfalls wurden in seinem Keller gestohlene Kleidungsstücke gefunden, die zwei der Verhafteten hier vergraben hatten. 179 Die ledige Barbara Hagen 180 gab an, zwei ›Zigeunern‹ und ihren Frauen Unterkunft gegeben zu haben. Die Frau eines weiteren ›Zigeuners‹ hatte sie als eine acht tägige Kindtbetterin aufgenommen, während sich ihr Mann für einige Tage von Lustenau wegbegeben hatte. 181 Ein Anton Hagen 182 beherbergte den Kronegkher mit seiner Frau und seinem Kind. 183 Beim Büngen Würth sollen außerdem zeitweise 10 Kerle im Quartier gewesen sein. 184 Auffallenderweise behaupteten die meisten verhörten Unterkunftgeber, die Fremden lediglich einige wenige Tage beherbergt zu haben. In einem gewissen Gegensatz zu diesen Angaben stehen ihre weiteren Aussagen, die auf einen längeren 174 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Maria Hagen, 23.12.1734. 175 Wohl Katharina Hagen (* 14.5.1689, † 5.1.1756), seit dem 20.9.1716 mit Sebastian Bösch, genannt »Schneider« (* 20.1.1694, † nach 1755), verheiratet; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 73, bo171. 176 Vgl. dazu weiter oben. 177 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Katharina Hagen, 23.12.1734. Mathias Rosenberger gibt dagegen den Ehemann der Katharina Hagen, Sebastian Bösch am Wiesenrohn, als Quartiergeber an; VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 20.12.1734. 178 Er kann aufgrund der vielen Namensgleichheiten nicht sicher identifiziert werden. 179 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Jakob Alge, 23.12.1734. 180 Wahrscheinlich Anna Barbara Hagen (* 7.10.1696, † 13.4.1769, ledig). In Frage kommen aufgrund der ungenauen Angaben auch Anna Barbara Hagen (* 29.9.1705, † 14.12.1752), seit dem 6.10.1737 verheiratet mit Anton Grabher (* 31.3.1712, † 19.4.1779), Barbara Hagen (* 1.7.1714, † 22.6.1747), seit dem 4.10.1738 verheiratet mit Magnus Alge, »Bohlas«, Barbara Hagen (* 3.4.1713, † 14.12.1785), seit dem 8.10.1740 verheiratet mit Franz Gallus Grabher (* 16.10.1693, † 9.11.1771); F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 328, ha39/ 1; 240, gr144; 18, al74 und 74/ I; 241, gr151. 181 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Barbara Hagen, 7.1.1735. 182 Er kann aufgrund von Namensgleichheiten nicht sicher identifiziert werden. In Frage kommen: der »Kapellenmeßmer« Anton Hagen, »Klauses« (* 25.2.1678, † 18.10.1746), der Hofrichter, Stabhalter und spätere Ammannamtsverweser Anton Hagen (* 25.5.1687, † 12.3.1741) und Anton Hagen, genannt »Läuber« (* 12.2.1686, † 4.1.1742); F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 329-331, ha43, ha45 und ha51. 183 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Hagen, 4.3.1735. 184 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Hagen, 4.3.1735. <?page no="217"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 218 oder auf einen wiederholten Aufenthalt der ›Zigeuner‹ und der anderen ›Fahrenden‹ in der Gemeinde schließen lassen: Martha Bösch berichtete beispielsweise über Leonhardt Teybel und seine Frau Martha, denen sie angeblich nur für drei Nächte Herberge gewährt hatte, dass diese im letzten Frühling einmal 3 stükhl tuech gebracht und vorgeben, sie hette sollches in dem Oberlandt Spinnen und würkhen Lassen und dass ihre Tochter vor drei oder vier Wochen mit der Martha umb den Lohn auf Sultz gangen, um Leinwand zu verkaufen. 185 Ihre Tochter Maria Alge 186 sagte am 23. Dezember 1734 aus, dass sie für die von ihrer Mutter Beherbergten und andere, die mit diesen in Kontakt gestanden hätten, mehrfach Botengänge zu einem Juden nach Sulz durchgeführt habe. Einmal sei dies vor acht oder 14 Tag[en] geschehen, einmal im vergangenen Herbst und einmal im vergangenen Sommer. 187 Dies spricht dafür, dass die Fremden wiederholt oder über längere Zeit Aufnahme im Reichshof gefunden haben. Es ist freilich auch denkbar, dass die ›Zigeuner‹ zeitweise auf freiem Feld kampierten, während sie sich in Lustenau aufhielten. Von einzelnen der im Dezember 1734 im Reichshof Verhafteten ist jedenfalls bekannt, dass sie sich anderswo so verhielten. Mathias Rosenberger sagte beispielsweise aus, dass er zusammen mit seiner Gruppe in der Nähe von Balzers in der Aw gelagert habe. 188 Auch die zum Jahreswechsel 1748/ 49 verhaftete Gruppe hatte im Sommer 1748 unweit der Zollbrugg in Pünten in einer Aw bey einem Feuer übernachtet. 189 Thomas Fricke konnte jedenfalls für die ›Zigeuner‹ Südwestdeutschlands ein entsprechendes Verhalten nachweisen. Diese »campier[t]en« häufiger als andere Vagierende und »hielten sich in den seltensten Fällen lange bei Bauern auf, meist nur für eine Nacht und allerhöchstens für einige Tage«. 190 So ließe sich auch die Aussage der Barbara Hagen verstehen, die behauptete, [e]s haben sich vor einicher Zeith gros und Khlein, Waib und Manns Persohnen Zigkeiner und andere bey 40 stuckh ahn dem Wiesenrohn aufgehalten. 191 Die Quartiere in Lustenau waren für die ›Zigeuner‹ und ›Fahrenden‹ weit mehr als einfache Schlafstellen. Hier konnten sie auch Verwandte und Freunde empfangen, Geschäfte abwickeln etc.: Anna Maria Hagen, die 1734 dem ainaugende[n] Joseph [ = Josef Rosenberger] Quartier gegeben hatte, berichtete beispielsweise, dass einmal viehle Mann zue ihro in das Haus gekhommen und hetten miteinander Gelt getheilt. 185 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Bösch, 23.12.1734. 186 Maria Alge (* 26.9.1708, † 17.5.1744); F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 16, al60/ 1. 187 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. 188 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 30.12.1734. 189 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Clos, 25.1.1749. 190 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 360. 191 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. <?page no="218"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 219 Außerdem habe Josef Rosenberger hier auch nasse Leinwand um den ofen getrukhnet. 192 Barbara Hagen wusste im Verhör zu berichten, dass einmal acht Männer - zwei davon waren bei ihr im Quartier - in Streit um 4 Stumpen Leinwand geraten waren und in dero Deponentin Hofstatt ein ander yberrumplet und blutriss gemacht. 193 Im Keller des Hauses von Jakob Alge vergruben 1734 zwei ›Zigeuner‹ gestohlene Kleider, um diese zu verbergen, 194 und im Haus der Maria Bösch versteckten die von ihr Beherbergten hinder der Schafreuthi Geld, das mutmaßlich aus einem Einbruch stammte. 195 Das relativ enge Zusammenleben zwischen Hofleuten und den ›Zigeunern‹ führte offensichtlich zu einem gewissen Vertrauensverhältnis. Die 1734/ 35 durchgeführten Verhöre zeigen deutlich, dass die sesshafte Bevölkerung, die mit den ›Zigeunern‹ in Kontakt kam, von deren Rechtsbrüchen gewusst haben muss und an diesen teilweise partizipierte. 196 Wenn die Herberggeber beobachteten, dass ihre ›Gäste‹ Schweineviertel, an denen noch die Borsten vorhanden waren, oder große Mengen von geräuchertem Schweinefleisch mitbrachten, 197 dass sie untereinander größere Geldsummen teilten und dass sie noch nasse Leinwand zum Trocknen aufhängten und dergleichen, so musste ihnen zwangsläufig der Verdacht kommen, dass diese Dinge nicht ausschließlich ›ehrlich‹ erworben worden waren. Einige der verhörten Lustenauer gaben im Verhör schließlich zu, dass ihnen das alles zumindest verdächtig vorgekommen sei. Andere, beispielsweise der Bauer Anton Schmid, 198 gestanden auch, von verschiedenen Diebeszügen der Verhafteten gewusst zu haben. 199 In einzelnen Fällen weihten die ›Zigeuner‹ ihre Quartiergeber auch in ihre Rechtsbrüche ein. Katharina Hagen berichtete beispielsweise, die von ihr beherbergte ›Zigeunerin‹ habe ihr einsmahlen in beysein Anthoni Hemmerle gesagt, wie sie in dem Schweitzerlandt in einem khleinen Heysle 130 fl. Gelt, dann 6 Silber Leffel und 5 fl. an 192 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Maria Hagen, 23.12.1734. Nach ihrer Angabe handelte es sich bei den Besuchern um Joseph de[n] Zigkheiner, Sein[en] Sohn de[n] Kronegger, de[n] Tiesle, de[n] Leonhardt, Item de[n] Johannes, so auf dem Schloss, sowie einige andere, deren Namen sie nicht kannte. 193 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Barbara Hagen, 7.1.1735. 194 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Jakob Alge, 23.12.1734. 195 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Bösch, 7.1.1735. 196 Ulrich Opfermann hat für die Grafschaft Sayn-Hachenburg ganz ähnliche Ergebnisse ermittelt; U. O PFERMANN , »Zigeuner« im Verhör (Anm. 68), S. 112f. 197 Jakob Alge sprach von Schwein Fleisch mit sambt dem Hahr, Anton Schmid sprach von vier oder fünf Schweineviertel geraucht Fleisch; VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Jakob Alge, 23.12.1734, und des Anton Schmid, 7.1.1735. 198 Es dürfte sich um Franz Anton Schmid (* um 1710, † 15.7.1788) handeln; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 3 (Anm. 169), S. 390, xs172. 199 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Schmid, 7.1.1735. <?page no="219"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 220 Schweitzer Sechser gestohlen. 200 Anzeige hat - nach allem, was wir wissen - dennoch niemand erstattet. In Einzelfällen begründeten Hofleute ihre Zusammenarbeit mit den ›Zigeunern‹ mit ihrer Angst. Jakob Alge behauptete, er habe es nur deswegen zugelassen, dass Diebesgut in seinem Keller vergraben worden sei, weil die alte Zikheinerin ihme Deponenten mordt und brandt ahngetrohet, wann er ein worth sage, deswegen er sollches auch seinem Brueder nicht getrawt hette zue eröffnen. 201 Maria Bösch rechtfertigte sich auf ähnliche Weise dafür, dass sie dem gräflichen Hausmeister zunächst das in ihrem Haus von den ›Zigeunern‹ versteckte Geld nicht gezeigt hatte. Sie habe gefürchtet, von der alten zigheinerin gleich umbs Leben gebracht zu werden, wenn sie das Versteck verrate. 202 Anton Hagen wiederum sagte aus, er habe eine[n] mit Nahmen Kronekher […] aus Forcht, er Deponenten ahnsonsten die Gäns Stehlen möchte, beherbergt. 203 Es ist durchaus möglich, dass Furcht in einzelnen Fällen eine gewisse Rolle spielte, nicht zu übersehen ist allerdings, dass zwischen den ›Zigeunern‹ und den Sesshaften keineswegs eine einseitige Beziehung bestand. Vielmehr handelte es sich um eine Beziehung, aus der beide Seiten Gewinn ziehen konnten. Zum einen deckten die von den ›Zigeunern‹ und ›Fahrenden‹ angebotenen Dienstleistungen den dörflichen Bedarf. Diese ernährten sich durch verschiedene Tätigkeiten. Nach Angabe der Martha Bösch waren die von ihr 1734 Beherbergten Strumpf Stricker. Sie brachten zwar auch andere Waren in ihr Haus - beispielsweise ungebleichtes Tuch -, die sie aber nach eigener, von Martha Bösch nicht hinterfragter Aussage, mit Strumpfstrikhen gewunnen hatten. 204 Leonhardt Teybel bezeichnete sich selbst als Strumpfstrikher und Spihlmann, auch ein betler darbey, 205 was durch die Aussage des Bauern Anton Schmid bestätigt wurde. Dieser wurde noch konkreter und führte aus, Leonhard Teybel [k]önne strimpf strikhen, geigen und Hakhbretlen. Er habe sich redlich und unredlich aufgeführt, denn er sei einmal mit anderen in das Oberlandt […] zuem Stehlen gegangen. 206 Seine Ehefrau Martha Schilgrin antwortete auf die Frage nach ihrer Beschäftigung: Sie könne strümpf, Ermel und Handschuch strikhen. 207 Die 60-jährige ›Zigeunerin‹ Magdalena Hirschhauer sagte auf die Frage, was der Zigeiner ihr Handtwerkh seye: Sie bettlen bey den Clöster, Stetten und Flekhen herum und graben Wurtzen, lösen da und dorth etwas gelt, wordurch sie sich Ernehren kennen. 208 Johannes Leimberger gab 200 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Katharina Hagen, 23.12.1734. 201 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Jakob Alge, 23.12.1734. 202 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Bösch, 7.1.1735. 203 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Hagen, 4.3.1735. 204 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Bösch, 23.12.1734. 205 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Leonhardt Teybel, 10.1.1735. 206 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Schmid, 7.1.1735. 207 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Martha Schilgrin, 10.1.1735. 208 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Magdalena Hirschauer, 20.12.1734. <?page no="220"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 221 an, ein Spill Mann auf geigen und Hakhbreth zu sein. 209 Mathias Rosenberger spielte nach Aussage seiner Frau Anna Margaretha Winter die bassgeigen. Sie selbst trug zum Familieneinkommen [d]as mehrste mit betlen und außerdem mit auf machen bei. 210 6. Merkmale des ›Zigeunerlebens‹ Insgesamt spiegelt sich in den zitierten Aussagen, die ohne weiteres noch ergänzt werden könnten, ein für die ›Zigeuner‹ des 18. Jahrhunderts typisches Bild: Die genannten Beschäftigungen lassen sich auch in anderen Regionen besonders oft belegen. Dies gilt vor allem für das Musizieren, das - zumindest im südwestdeutschen Raum - »nach dem Soldatenberuf, die am häufigsten in den Quellen erwähnte berufliche Tätigkeit« der ›Zigeuner‹ war. Für »sehr viele« Mitglieder dieser Gruppe stellte es »eine wichtige Erwerbsquelle dar«, so dass man »mit Fug und Recht von einer Tradition sprechen« kann. 211 Gerade die in den zitierten Quellen genannten Instrumente könnten als typisch für ›Zigeuner‹ gelten: Die Geige war schon im 18. Jahrhundert »[d]as bevorzugte, vorherrschende Instrument«, neben dem das Hackbrett und die Bassgeige ebenfalls immer wieder genannt werden. 212 Darin sieht Ulrich Friedrich Opfermann einen »Hinweis auf die Verwendungssituation«, denn »[d]ie Geige war ein beliebtes Instrument in der ländlichen Festkultur«. 213 Besonders häufig wird in Zusammenhang mit ›Zigeunern‹ auch »die Herstellung von bestimmten Holzartikeln« erwähnt, darunter nicht zuletzt die Erzeugung von Löffeln. Dies geschah, wie Thomas Fricke für Südwestdeutschland belegen konnte, nicht selten in Form von Taglöhnerarbeit für Bauern. 214 Typisch ist zudem, dass die meisten der 1734/ 35 verhörten ›Zigeuner‹ mehrere Tätigkeiten angaben, darunter fast immer das Betteln oder Almosensuchen. Thomas Fricke hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass »[k]aum ein Landfahrer bzw. Wandergewerbetreibender […] im 18. Jahrhundert existieren [konnte], ohne wenigstens von Zeit zu Zeit auf das Betteln zurückzugreifen«. 215 Durchaus typisch ist es auch, dass 209 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 20.12.1734. 210 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Margaretha Winter, 20.12.1734. 211 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 440. Ulrich Friedrich Opfermann kommt für seinen Untersuchungsraum zu einem ganz anderen Ergebnis. Er konnte feststellen, dass »[i]n den Quellen […] die Handlesekunst und andere magische Praktiken […] und die Musik als Einnahmequelle kaum eine Rolle« spielten; U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 289. 212 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 441. 213 U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 289. 214 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 425f., Zitat 426. 215 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 460. Für Beispiele für Vorarlberg: A. N IEDERSTÄT - TER , Schatzgräberei (Anm. 18), S. 158f.; W. S CHEFFKNECHT , Randgruppendasein (Anm. 20), S. 751. <?page no="221"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 222 »so gut wie keiner der verhörten Zigeunerinnen und Zigeuner einen Hehl« daraus machte, »zu einem bedeutenden Teil vom Betteln [zu leben]«. 216 Die Kombination mehrerer Tätigkeiten war für Vagierende ganz allgemein charakteristisch. Eva Wiebel und Andreas Blauert haben eindrucksvoll deutlich gemacht, dass das Überleben auf der Straße »nur [durch] die Ausübung mehrerer Berufe« gesichert werden konnte und dass sich dabei ein »saisonale[r] Wechsel verschiedener Tätigkeiten« abzeichnete, zu denen auch das Betteln sowie »kleinere und größere Diebstähle« zählten. 217 Dies traf nach Thomas Fricke auf die ›Zigeuner‹ in besonders starkem Maße zu, weil diese weniger häufig »teilseßhaft« waren als andere Vagierende. Sie waren daher gezwungen, »[j]ede auch noch so kurzfristige und begrenzte Verdienstchance zu nutzen«. 218 Zum anderen boten ›Zigeuner‹, wie gerade das Beispiel von 1734/ 35 zeigt, Sesshaften auch Verdienstmöglichkeiten. Die damals in Lustenau Verhafteten konnten auf verschiedene Dienste von Hofleuten zurückgreifen. Sie verschafften diesen gewissermaßen Beschäftigung: Maria Alge, die damals etwa 25-jährige Tochter der Martha Bösch, 219 gab an, sie sei denen Heyden 2 oder 3 Mahl zue den juden gegangen. Gemeint waren Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Sulz. Sie tat das jeweils um den Lohn. Das eine Mal hatte sie Martha Schilgrin begleitet, die einem der dortigen Juden Leinwand verkaufte. Das andere Mal war sie zue dem Juden Leb geschikht worden, um ihm auszurichten, dass er hinunder kommen und ein pahr tutzent Duplon mit nemmen solle. Im Verlauf des Verhörs musste sie weitere, teilweise länger zurückliegende Botengänge nach Sulz und nach Altstätten zugeben. In einem Falle hatte sie im Auftrag des Leonhardt Teybel den Sulzer Juden Leb auf das Riedt gefordert, wo ein Handl stattgefunden habe. 220 216 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 460f. Auch Ulrich Friedrich Opfermann hat für seinen Untersuchungsraum feststellen können, dass »[d]ie Erklärung, ›nehre sich vom Betteln‹, […] eine ständige Antwort im Verhör auf die Frage nach der Existenzsicherung« war; U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 283. 217 E VA W IEBEL / A NDREAS B LAUERT , Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staats, in: M ARK H ÄBERLEIN (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert) (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 2), Konstanz 1999, S. 67-96, hier 79. Auch die Angehörigen der sesshaften Unterschichten waren in der frühen Neuzeit in der Regel »gezwungen, mehrere Erwerbstätigkeiten nebeneinander zu betreiben«; U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 285. Dazu allgemein: H EINZ R EIF , Vagierende Unterschichten, Vagabunden und Bandenkriminalität im Ancien Régime, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 11/ 1 (1981), S. 27-37, hier 29. 218 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 461f. 219 Maria Alge (* 26.9.1708, † 17.5.1744); F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch 2 (Anm. 169), S. 16, al60/ 1. 220 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. <?page no="222"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 223 Doch die Lustenauer Hofleute waren nur Teil eines personellen Netzwerks in der Region. Auch in der jüdischen Gemeinde von Sulz hatten die 1734 verhafteten ›Zigeuner‹, wie angedeutet, ihre Kontaktpersonen. Ein gewisser Leb - es handelte sich wohl um Leb Levi (* 1683), einen Sohn des Pferdehändlers Abraham Levi (* 1651) 221 - stand nicht nur mit Leonhardt Teybel und seiner Frau in geschäftlichem Kontakt, er kaufte auch dem Mathias Rosenberger, seiner Frau und seinem Bruder zu verschiedenen Gelegenheiten Silbergeschirr, Löffel, Silberbecher, Rosenkränze, Goldborten und Hüte ab, wobei in einem Fall die Kaufsumme zwischen 80 und 90 fl. betragen haben soll. 222 Auch der Bruder der Magdalena Hirschhorn soll einige Jahre vor 1734 in Lustenau einem Juden namens Causchle Moos Silberbecher verkauft haben. 223 Außerdem unterhielten einige der 1734 Verhafteten geschäftliche Beziehungen zu einem Bleicher in Altstätten. Maria Alge trug, wie sie aussagte, mindestens einmal für den Leonhardt Teybel Tuche, welche dieser angeblich im Vorarlberger Oberland hatte spinnen lassen, auf die Bleichen gehen Altstetten. 224 Die Nutzung eines derartigen Netzwerks setzte unzweifelhaft eine Planung der Migration voraus. Die Wanderung der ›Zigeuner‹ dürfte darüber hinaus auf ihre oben geschilderten verschiedenen Tätigkeiten und Verdienstmöglichkeiten abgestimmt gewesen sein. Nicht zuletzt dürfte sie sich am Rhythmus der Jahrmärkte und Messen orientiert haben. 225 Die Bedeutung der Märkte für den Wanderrhythmus der ›Zigeuner‹ und ›Fahrenden‹ äußert sich nicht zuletzt darin, dass sie ihre Zeitangaben mitunter daran ausrichteten. Johannes Leimberger sagte beispielsweise aus, der Schweinediebstahl bei Brederis habe um den St.-Michaels-Tag stattgefunden, als in Feldkirch Markt war. 226 Die Ausrichtung des Wanderrhythmus an den Marktterminen war besonders für jene Gruppen naheliegend, die sich wie die 1748/ 49 in Lustenau verhafteten ›Zigeuner‹ und Vaganten u. a. auf Marktdiebstähle verlegten. Aber sie machte auch deswegen Sinn, weil sich hier Spielleuten Beschäftigungsmöglichkeiten eröffneten, stellte doch das Musizieren eine der wichtigsten ›Dienstleistungen‹ dar, welche von ›Zigeunern‹ angeboten wurden. So betonte Johannes Leimberger 1734, dass sie hin wider auf denen Kirchwey Hochzeithen aufgemacht hatten. 227 Kirchweihen waren für die ›Zigeuner‹ in Südwestdeutschland die 221 B ERNHARD P URIN , Die Juden von Sulz. Eine jüdische Landgemeinde in Vorarlberg 1676-1744 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 9), Bregenz 1991, S. 26, 123. 222 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Mathias Rosenberger, 20.12.1734 und 26.3.1735, der Anna Margaretha Winter, 20.12.1734 und 30.12.1734, der Maria Alge, 23.12.1734. 223 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Magdalena Hirschauerin, 11.2.1735. 224 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Maria Alge, 23.12.1734. 225 A. B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden (Anm. 51), S. 60. 226 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 4.3.1735. 227 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 30.12.1734. <?page no="223"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 224 beste Gelegenheit, um mit Musizieren Geld zu verdienen. Außerdem spielten sie gelegentlich in Gasthäusern und bei privaten Festlichkeiten auf. 228 Wenn wir davon ausgehen, dass die ›Zigeuner‹ ihre Dienstleistungen und Waren hauptsächlich im bäuerlichen Milieu der frühen Neuzeit anboten, so müssen wir damit auch die wirtschaftlichen Bedingungen dieses Milieus in unsere Betrachtungen mit einbeziehen. Die Versorgung der bäuerlichen Haushalte erfolgte weitgehend nach den Gesetzen der Subsistenzwirtschaft. Im Großen und Ganzen lieferten die ›Zigeuner‹ und andere Vagierende nur jene Waren, welche die Bauern nicht selbst produzieren konnten. Sie waren damit für diese Gesellschaft auf der einen Seite unverzichtbar, auf der anderen Seite konnte ihnen diese Welt eben nur für einen relativ eng begrenzten Zeitraum Arbeit bieten. Wenn die Bedürfnisse gestillt waren, »dann hatten sich bis auf weiteres die Möglichkeiten erschöpft. Das nächste Dorf oder Gehöft wurde angesteuert. Nichts anderes galt für die kurzfristig vereinbarten Lohnarbeitsverhältnisse«. 229 Allem Anschein nach beeinflusste das den Wanderrhythmus entscheidend. Es dürfte sicher kein Zufall sein, dass sich die ›Zigeuner‹ in den Sommermonaten tendenziell eher nach Süden, in Richtung Graubünden oder in Richtung Veltlin orientierten. Die im Juni 1724 in Vandans verhaftete Gruppe befand sich auf dem Weg dorthin. Auch Mathias Rosenberger und seine Angehörigen waren im Sommer 1734 nach Einsiedeln gezogen und danach im Herbst nach Lustenau gekommen. 230 Mitglieder dieser Gruppe hatten sich unmittelbar vorher in Sargans, in der Umgebung von Balzers, in Feldkirch und in der Schweiz, u. a. in Glarus und Berneck, aufgehalten. 231 Ähnliches lässt sich für die 1748/ 49 Verhafteten beobachten: Sie waren um den Jahreswechsel in Lustenau. Im Sommer 1748 hatten sie sich im Pünten, 232 in der Umgebung von Chur, 233 und im Frühherbst 1748 in Balzers aufgehalten. 234 In beiden Fällen scheint sich für den Herbst das Bild einer Wanderung von Süden nach Norden abzuzeichnen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die ›Zigeuner‹ ihre Dienste und Produkte in den Sommermonaten in jenen Gebieten gewinnbringend anbieten konnten, in denen Alpwirtschaft betrieben wurde. Birgit Heinzle konnte ein derartiges Verhalten für andere Vagierende im Bereich Vorarlbergs nach- 228 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 441f. 229 U. F. O PFERMANN , Sinti (Anm. 26), S. 288f. 230 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Mathias Rosenberger, 11.2.1735. 231 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Johannes Leimberger, 30.12.1734, des Mathias Rosenberger, 30.12.1734, und der Margaretha Rosenberger, 26.3.1735. 232 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Clos, 25.1.1749. 233 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Katharina Rosenberger/ Tanner, 27.1.1749. 234 VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Christina Hafner und der Katharina Rosenberger/ Tanner, 27.1.1749. <?page no="224"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 225 weisen. 235 Ob die ›Zigeuner‹ im Herbst auch bei Lustenauer Bauern als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft tätig wurden, wie das für Südwestdeutschland gezeigt wurde, 236 konnte bisher nicht belegt werden, ist aber durchaus denkbar. Thomas Fricke hat am südwestdeutschen Beispiel herausgearbeitet, dass »Spinnen, Stricken und Nähen […] die Arbeiten [waren], die die Zigeunerfrauen für die Bauern verrichteten«, und zwar »dem bäuerlichen Arbeitsrhythmus entsprechend vor allem im Winter«. 237 Dies würde mit den Aufenthaltszeiten der oben beschriebenen Gruppen und den von ihren Mitgliedern ausgeübten Berufen übereinstimmen. Wichtig für die ›Zigeuner‹ - wie für alle anderen Vagierenden auch - war es aber vor allem, für die Wintermonate eine Unterkunft zu finden. Wie Gerhard Ammerer eindrucksvoll nachgewiesen hat, war das »Leben auf der Straße« gerade zu dieser Jahreszeit äußerst prekär. Er verweist darauf, dass im Frühjahr immer wieder halb verweste Leichen von Fahrenden gefunden wurden, die offensichtlich erfroren waren. 238 Die nahende Winterzeit konnte Vagierende durchaus beunruhigen. So scheint auch der Raub von Sommeri im November 1734 nicht zuletzt dadurch motiviert gewesen zu sein, dass eine der Frauen in der Lustenauer ›Zigeunergruppe‹ die Männer dazu drängte, für entsprechende ›Reserven‹ zu sorgen. So sagte der Lustenauer Bauer Anton Schmid aus, er habe gehört, [d]ie Martha habe selbsten bekhendt, sie müsse bey Sacrment gelt haben. Der Winter sey lang, und sie kommen dorth drunnen bey der Diehle yber. 239 Ein entsprechendes Quartier für den Winter zu finden, war für alle Gruppen von Vagierenden geradezu überlebenswichtig. Bezeichnenderweise erfolgte die Verhaftung der ›Zigeuner‹ in Lustenau nach bereits mehrwöchigem Aufenthalt im Dezember 1734. Mehrere von ihnen hatten sich schon im Winter 1733 hier aufgehalten. 240 Für eine höhere ›Zigeunerpräsenz‹ in der Region sprechen auch Aussagen wie die des Johannes Leimberger, der betonte, sein Schwager und seine Schwiegermutter seyen den Winter hier im Landt gewesen. 241 Wenn wir alle nachgewiesenen Aufenthaltsorte der oben genannten ›Zigeunergruppen‹ in unsere Betrachtung mit einbeziehen, 242 so ergibt sich ein Bild, das mit 235 B. H EINZLE , Räuber(banden) (Anm. 52), S. 122-126, 134f. In diesem Fall ging es freilich hauptsächlich um die Gelegenheit zum Diebstahl und Einbruch. 236 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 424f. 237 T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 425. 238 G. A MMERER , »Betteltour« (Anm. 71), S. 45. 239 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Anton Schmid, 7.1.1735. 240 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen des Mathias Rosenberger, 26.3.1735, und des Johannes Leimberger, 15.4.1734. 241 VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Johannes Leimberger, 30.12.1734. 242 Leonhardt Teybel und Martha Schilgrin, hatten sich, ehe sie nach Lustenau gekommen waren, [b]aldt in dem Schweitzer Landt, baldt zue Lustnaw oder in der Meder [ = Mäder, Vorarl- <?page no="225"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 226 den von Andreas Blauert ermittelten und bereits erwähnten Hauptrouten der Vagierenden im Bodenseeraum in Einklang gebracht werden kann. Die geschilderten Beispiele zeigen überdies, dass die vagierenden ›Zigeunergruppen‹, deren Kern wenigstens über längere Zeit zusammenblieb, wiederholt dieselben Orte aufsuchten und dass dies, wie etwa das Beispiel der Rosenberger und Lustenaus belegt, generationenübergreifend geschah. 243 Auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den ›Zigeunergruppen‹, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, 244 setzte eine Planung der Migration voraus, denn nur so konnten die Gruppen, die sich gelegentlich vorübergehend teilten, wieder zueinander finden. Unsere Quellen bieten - bei genauem Hinsehen - eine Fülle von Hinweisen darauf, dass die Wanderungen der ›Zigeuner‹ einem gewissen Rhythmus folgten. Auch für die im 18. Jahrhundert im Gebiet Vorarlbergs präsenten Gruppen gilt eine Feststellung Heinz Reifs, dass es »irrig [wäre], von einer totalen Desorientierung« auszugehen. Vielmehr zwang »[d]ie Daseinssicherung […] eine, wenn auch äußerst flexible, räumliche und zeitliche Ordnung des Vagierens. Es galt zur rechten Zeit an Orten zu sein, wo sich kleine Verdienstchancen eröffneten. Das zwang zur Bindung an den agrarisch bestimmten Zeitrhythmus der Ernte, der Jahrmärkte, der kirchlichen und privaten Feste (z. B. Hochzeiten und Geburten), zur Berücksichtigung des Klimas (Winterquartiere) und zur Entwicklung optimaler Wege des berg], Götzis und Hechst [ = Höchst, Vorarlberg] aufgehalten. Vor etwa zwei Jahren waren sie in Wolfegg gewesen, wo sie verhaftet wurden, weil sie mit einem nichtsnutzugen Kerl gefährlich Handl gehabt, letztlich seien sie aber vor unschuldig erkand worden; VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Martha Schilgrin, 10.1.1735 (Zitat), und des Leonhardt Teybel, 10.1.1735. Während seine Gattin die meiste Zeit in Lustenau blieb, ging Leonhardt Teybel das Land auf und ab, wobei er bisweilen 8, 10 bis 14 tag von Lustenau abwesend war. Auf diese Weise kam er bis ins Bündnerische; VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage des Leonhardt Teybel, 10.1.1735. Anna Margaretha Winter, die sich vor ihrer Verhaftung mehrerntheil zur Lustnaw aufgehalten hatte, gab als frühere Aufenthaltsorte Schmiechen im Württembergischen, nach ihrer Aussage 4 Stundt von Schwebischgmündt an. Außerdem war sie in Lindau gewesen; VLA, HoA 83,6: Verhörsprotokoll, Aussage der Anna Margaretha Winter, 20.12.1734. Katharina Rosenberger/ Tanner aus der 1748/ 49 verhafteten Gruppe gab Zug, Frauenfeld und Vaduz als weitere Aufenthaltsorte an, ihre Tochter Christina ebenfalls Vaduz und Savoyen; VLA, HoA 160,6: Verhörsprotokoll, Aussagen der Katharina Rosenberger/ Tanner und der Christina Hafner, 27.1.1749. 243 Dies konnte jüngst für Lustenau und andere Vagierende nachgewiesen werden; vgl. W. S CHEFFKNECHT , Randgruppendasein (Anm. 20), S. 741-754. 244 Sie unterschied sich nicht wesentlich von der bei anderen Vagierenden. Dazu: W. S CHEFFKNECHT , »Arme Weiber« (Anm. 73), S. 96-99; T H . F RICKE , Zigeuner (Anm. 27), S. 426-428, 462-464, 476-515; A. B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden (Anm. 51), S. 60f. <?page no="226"?> I LLEGALE M IGRATION ALS L EBENSFORM 227 Vagierens«. 245 Wenn wir weiter in Rechnung stellen, dass Migrationen in der frühen Neuzeit in weit geringerem Maße kontinuierlich durchgeplant waren, 246 als lange angenommen wurde, verschwimmen die oft einfach vorausgesetzten Unterschiede zwischen den Wanderungen der Vagierenden - unter ihnen der ›Zigeuner‹ - und der normsetzenden sesshaften Bevölkerung noch weiter. 6. Schlussbemerkung: Waren die ›Zigeuner‹ eine Ethnie? Ob es sich dabei allerdings um das Vagieren einer Ethnie handelte, kann auf der schmalen Vorarlberger Quellenbasis nicht schlüssig beantwortet werden. Auf den ersten Blick ist man versucht, der Ansicht von Gerhard Fritz zuzustimmen, wonach sich die ›Zigeuner‹ Südwestdeutschlands in der Zeit vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert »als sprachlich-ethnische Gruppe definierten«. Er führt dafür fünf Gründe an: eine »von allen anderen vagierenden Gruppen stark abweichende Praxis der Namensgebung«, eine eigene Sprache, ihr Aussehen, »gewisse kulturelle Eigenarten« sowie »das Selbstverständnis, Zigeuner - und nicht etwa Jauner und Vaganten im allgemeinen - zu sein«. 247 Im Einzelnen sind dagegen Zweifel angebracht, die weitere Forschungen provozieren. So führen zwar die in Vorarlberg fassbaren ›Zigeuner‹ wie jene Südwestdeutschlands, neben ihren Tauf- und Familiennamen - über letztere kann, wie am Beispiel der Rosenberger, Leimberger und Hirschhauer gezeigt wurde, ein Anschluss an die südwestdeutschen Gruppen hergestellt werden - auch »Zigeunernamen«. 248 Ähnliches lässt sich jedoch auch für andere Vagierende belegen. 249 Hinweise auf eine eigene Sprache konnten bislang aus dem Gebiet Vorarlbergs für das 18. Jahrhundert nicht erbracht werden. Möglicherweise verweist aber ein aus dem thurgauischen Sommeri stammendes Verhörsprotokoll in diese Richtung: Im November 1734 hatten dort, wie oben angedeutet, einige der sich damals im Reichshof Lustenau aufhaltenden ›Zigeuner‹ zusammen 245 H. R EIF , Vagierende Unterschichten (Anm. 217), S. 35. 246 J. O LTMER , Einführung (Anm. 21), S. 6. 247 G. F RITZ , Öffentliche Sicherheit (Anm. 145), S. 238. 248 G. F RITZ , Öffentliche Sicherheit (Anm. 145), S. 238. 249 So wurde beispielsweise die 1749 im Reichshof Lustenau hingerichtete Barbara Waldnerin auch Bohnen Tenne genannt; vgl. W. S CHEFFKNECHT , »Arme Weiber« (Anm. 73), S. 97; D ERS ., Die Hinrichtung der Barbara Waldnerin 1749 in Lustenau, in: Jahresbericht des Bundesoberstufen-Realgymnasiums Lauterach 1987/ 88, S. 55-59. Ähnliche Beispiele ließen sich aus den verschiedenen Steckbrieflisten in großer Zahl beibringen; vgl. A. B LAU - ERT / E. W IEBEL , Gauner- und Diebslisten (Anm. 51), S. 80f. Auch in der sesshaften Bevölkerung war die zusätzliche Verwendung von Spitznamen während der frühen Neuzeit weit verbreitet; vgl. N ORBERT S CHINDLER , Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main 1992, S. 80-120. <?page no="227"?> W OLFGANG S CHEFFKNECHT 228 mit anderen Vagierenden einen Raub begangen. Die Opfer dieses Verbrechens sagten im Verhör u. a. aus, dass die Täter mehrheitlich die hiessige sommer sprach geredt, dass alle geredt, wie sie die Sommerer, dass sie ein Sproch wie die Sommerer gesprochen und lediglich das Ein und das andere worth […] wie die Costantzer dabei gewesen sei und dass nur die 2 lange dieben […] Etwas frembdes geredt. 250 Bei der Beschreibung des Äußeren der ›Zigeuner‹ dominiert auch im Gebiet Vorarlbergs die Betonung ihrer dunklen Hautfarbe. 251 Die Zuschreibungen der schwarzen Hautfarbe hat eine lange Tradition. Sie begegnet uns bereits in Texten des frühen 15. Jahrhunderts. 252 Wir müssen auch darüber nachdenken, inwieweit es sich bei den eben zitierten Beschreibungen des 18. Jahrhunderts wirklich um die Wiedergabe realer Beobachtungen oder um die Reproduktion von Gelesenem oder Gehörtem handelte, das einfach auf Personen übertragen wurde, die als ›Zigeuner‹ galten. Trifft Letzteres zu, so müssten wir auch die angebliche Dunkelhäutigkeit dieser Menschen hinterfragen. Wie wir wissen, bezeichneten im Mittelalter Farben in Zusammenhang mit Personenbeschreibungen »nicht nur Hautpigmente, sondern waren Kategorien der mittelalterlichen Signaturenlehre«. 253 »Die mittelalterlichen Farben weiß, rot, schwarz waren keine Hautfarben in unserem Sinn, sondern Körperfarben, die sich auf weitere Eigenschaften der Person und ihrer Komplexion bezogen.« 254 Aus der jüngeren Gehirnforschung wissen wir, dass die menschliche Wahrnehmung weitgehend über die Ausbildung von Prototypen funktioniert. Für unser Thema angewendet: Wenn die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts davon ausgingen, dass ›Zigeuner‹ schwarz oder dunkel seien, müssen wir dann nicht damit rechnen, dass sie diesen Prototyp auf Menschen übertrugen, die sie dieser Gruppe zurechneten? 250 VLA, HoA 95,9: Verhörsprotokoll Obersommeri, 22.11.1734. Bezeichnenderweise hat keine der in Sommeri verhörten Personen die Verdächtigen als ›Zigeuner‹ bezeichnet. 251 W. S CHEFFKNECHT , Zigeuner im frühneuzeitlichen Vorarlberg (Anm. 14), S. 297. 252 Als Beispiel mag die »Saxonia« des Albertus Krantzius dienen; R. G RONEMEYER , Zigeuner im Spiegel früher Chroniken (Anm. 23), S. 25f. 253 V ALENTIN G ROEBNER , Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S. 86. 254 V. G ROEBNER , Der Schein der Person (Anm. 253), S. 95. So wurden Ende des Mittelalters »Sklavinnen, Zigeuner oder die deutschen Söldner des Papstes« als »Schwarz« beschrieben. Auch der Herzog Albrecht III. von Habsburg hatte nach Enea Silvio Piccolomini »ein ›schwarzes furchteinflößendes Gesicht‹ «; ebd., S. 86. <?page no="228"?> 229 M ARCEL M AYER Immigration nach St. Gallen zur Zeit der Stickereiblüte 1870-1914 Wie viele Ausländer sollen in der Schweiz leben? Die Angehörigen welcher Staaten sollen zu einer Wohnsitznahme in der Schweiz ermuntert oder davon abgehalten werden? Was heißt Integration von Ausländern, und wie weit soll sie gehen? Derartige Fragen prägen die gegenwärtige politische Diskussion in der Schweiz stark. Dabei wird oft vergessen, dass die Schweiz bereits im Verlaufe des 19. Jahrhunderts von einem Auszu einem Einwanderungsland wurde. Die Tagung ›Migration in der Region‹ des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte gab Gelegenheit zum Versuch, die große Einwanderungswelle in die Nordostschweiz, namentlich in die Stadt St. Gallen, während der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zusammenfassend darzustellen und Forschungslücken aufzuzeigen. 1. Bevölkerungszunahme zwischen 1860 und 1910 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wuchs die Bevölkerung der Stadt St. Gallen und ihrer beiden Nachbargemeinden Tablat und Straubenzell rasant an. Innerhalb der fünfzig Jahre zwischen 1860 und 1910 nahm sie um mehr als das Dreifache zu, und die drei genannten Gemeinden zählten am Ende dieser Zeitspanne rund 75.500 Einwohner und Einwohnerinnen. 1 Eine Folge dieses markanten Wachstums war, dass St. Gallen, Straubenzell und Tablat im Jahr 1918 zur Stadt St. Gallen in ihrem heutigen territorialen Umfang fusionierten, nachdem sie baulich bereits weitgehend zusammengewachsen waren. 2 1 Die Bevölkerungszahlen basieren auf den Ergebnissen der eidgenössischen Volkszählungen. 1860: Schweizerische Statistik, Bd. I, Bern 1862, S. 238-239; 1910: Schweizerische Statistik, Bd. 195, Bümpliz-Bern 1915, S. 182-183. Eine weitere Quelle bilden die kommunalen Fortschreibungen der Einwohnerzahlen durch die Einwohnerkontrollen von St. Gallen, Straubenzell und Tablat. 2 Der Einfachheit halber bezeichnet der Name ›St. Gallen‹ im vorliegenden Artikel auch für die Zeit vor 1918 das ganze Gebiet, also unter Einschluss der Territorien von Straubenzell und Tablat. Nur wenn die Entwicklung in den drei Gemeinden unterschiedlich verlief, wird entsprechend differenziert. <?page no="229"?> M AR CEL M AY ER 230 Tabelle 1: Bevölkerung der Stadt St.Gallen (inkl. Straubenzell und Tablat), 1860 und 1910 1860 1910 Bevölkerung (abs.) 23.111 75.482 Bevölkerung (Index) 100 327 Schweizer/ innen (abs.) 20.405 50.582 Schweizer/ innen (in %) 88 67 Ausländer/ innen (abs.) 2.706 24.900 Ausländer/ innen (in %) 12 33 Der allergrößte Teil dieses Zuwachses ist auf Zuwanderung zurückzuführen, und sie veränderte die Bevölkerungsstruktur der drei Gemeinden nachhaltig. St. Gallen war bis 1798 eine unabhängige Reichsstadt gewesen, von ihrer wirtschaftlichen Ausrichtung her eine Handels- und Gewerbestadt, deren Einwohner reformiert waren. Demgegenüber waren Tablat und Straubenzell bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ländlich-agrarisch geprägt und als ehemalige Untertanengebiete des Fürstabts von St. Gallen streng katholisch. Seit der territorialen und staatlichen Neuordnung der Schweiz in napoleonischer Zeit bildeten die drei Gemeinden Teile des 1803 gegründeten Kantons St. Gallen. Ihre Bevölkerungen verloren die noch Ende des 18. Jahrhunderts recht homogene Struktur - eine Entwicklung, die sich mit der markanten Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich verstärkte. Dass die Einwohnerschaft im Vergleich zum Ancien Régime heterogener zu werden begann, zeigte sich bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der in der Stadt oder deren Nachbargemeinden lebenden Schweizer. Von ihnen war 1860 nur mehr ein gutes Viertel Ortsbürger, hatte also das angestammte Gemeindebürgerrecht von St. Gallen, Straubenzell oder Tablat. Fast drei Viertel der dort lebenden schweizerischen Wohnbevölkerung hingegen besaß das Bürgerrecht in einer Gemeinde der Region oder außerhalb des Kantons St. Gallen. Der Anteil der Ortsbürger verminderte sich in den folgenden fünfzig Jahren nochmals stark und sank, trotz zahlreicher Einbürgerungen, auf 10 Prozent. Weit eindrücklicher als diese schweizerische Binnenwanderung aber war die Immigration von Ausländern. Stellten sie 1860 noch 12 Prozent der Einwohnerschaft von St. Gallen, Straubenzell und Tablat, so vergrößerte sich ihr Anteil bis 1910 auf 33 Prozent; in Tablat hatten vor dem Ersten Weltkrieg sogar zwei von fünf Personen eine ausländische Staatsbürgerschaft. (Zum Vergleich sei angeführt, dass die Stadt St. Gallen Ende 2010 knapp 73.000 Personen zählte, von denen <?page no="230"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 231 28 Prozent keinen Schweizer Pass besaßen. 3 ) Mit der Zuwanderung veränderte sich auch das konfessionelle Verhältnis im Sinne eines Ausgleichs, indem im ehemals reformierten St. Gallen die Katholiken und umgekehrt in den traditionell katholischen Gemeinden Straubenzell und Tablat die Evangelischen eine immer namhaftere Bevölkerungsgruppe bildeten. 2. Die ›Stickereiblüte‹ Was die Menschen in großer Zahl nach St. Gallen zuwandern ließ, war die Hochkonjunktur der Stickereiindustrie, die so genannte Stickereiblüte, des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und der ›Belle Epoque‹. 4 Sie erweist sich damit als der eigentliche Pull-Faktor und übte dank eines wachsenden Stellenangebots eine Sogwirkung in die Nordostschweiz aus. Die Stickerei hatte sich in diesem Gebiet im mittleren 18. Jahrhundert aus bescheidensten Anfängen als Handstickerei entwickelt. Verglichen mit anderen textilen Tätigkeiten, dauerte es verhältnismäßig lange, bis im Zeitalter der Industrialisierung Maschinen bereitstanden, mit denen sich konkurrenzfähige Stickereien herstellen ließen. Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts war es dann allerdings so weit, die Zeit der Maschinenstickerei begann. Der industrielle Produktionsapparat stand in St. Gallen somit genau in jener Zeit zur Verfügung, als die Nachfrage nach Stickereien erheblich zu wachsen begann. Dem Zeitgeschmack gemäß nahmen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts Ausschmückungen und Verzierungen nicht nur an kunstgewerblichen Gegenständen, sondern auch an Alltagsobjekten immer üppigere Formen an. So wurden auf die Ober- und Unterkleider der Frauen, aber auch auf Heimtextilien wie Tischtücher, Servietten oder Vorhänge, welche die gehobene bürgerliche Wohnkultur repräsentierten, immer reichhaltiger Stickereien appliziert. Der dadurch ausgelöste konjunkturelle Aufschwung setzte nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs (1861-1865) und den damals wachsenden Möglichkeiten des Stickereiexports in die USA ein. Zwar handelte es sich bei der Stickerei um eine krisenanfällige Luxusindustrie, und es waren immer wieder, wie etwa in den frühen 1890er Jahren, empfindliche Einbrüche bei der Nachfrage und damit verbundene Phasen mit Überproduktion zu verzeichnen. Aber dennoch zeigten die Konjunkturkurven in der Tendenz bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs steil aufwärts. Das Rekordjahr innerhalb dieser etwa ein halbes Jahrhundert dauernden 3 Statistisches Jahrbuch der Stadt St. Gallen, hg. von der Stadt St. Gallen, St. Gallen 2011, S. 22. 4 A NNE W ANNER -J EAN R ICHARD / M ARCEL M AYER , Vom Entwurf zum Export, in: Sankt- Galler Geschichte 2003, Bd. 6, St. Gallen 2003, S. 143-168. <?page no="231"?> M AR CEL M AY ER 232 Blütezeit bildete das Jahr 1911, als rund 9.000 Tonnen dieser leichten und luftigen Produkte exportiert wurden. Damit gehörte die Stickerei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu den bedeutendsten Exportindustrien der Schweiz. Die wichtigsten Abnehmerländer waren die USA, Großbritannien samt seinem Empire, Frankreich und Deutschland. St. Gallen war insofern das Zentrum der Stickereiindustrie, als der Rohstoffbezug, die Produktion und der Vertrieb hauptsächlich von hier aus gesteuert wurden. Die Produktion, der eigentliche Stickvorgang, fand hingegen meistens außerhalb St. Gallens statt. Sie verteilte sich zum größten Teil auf die ganze Nordostschweiz und auf Vorarlberg. Die beiden Gebiete bildeten einen zusammengehörenden Wirtschaftsraum, wobei Vorarlberg als Billiglohnland fungierte das sich im Laufe der Zeit allerdings zunehmend von St. Gallen emanzipierte. Gestickt wurde in Fabriken und in Heimarbeit - sowohl in größeren Ortschaften als auch auf dem Land. Die Stickerei nahm in St. Gallen und seinem Umland ein Ausmaß an, dass zu Recht von einer wirtschaftlichen Monokultur gesprochen wird. Solange sie florierte, nahmen auch andere Wirtschaftszweige am Aufschwung teil. Zunächst waren es die Betriebe, die als Zulieferer (Spinnereien, Zwirnereien) oder als Veredler (z. B. Bleichereien, Färbereien) unmittelbar mit der Stickerei in Kontakt standen. Aber auch andere Gewerbe, namentlich das Bauwesen, dann aber auch Dienstleistungsbetriebe wie Banken und Versicherungen erlebten einen steilen Aufstieg. So wirkten im Gefolge der Stickerei diese Branchen ebenfalls als Pull- Faktoren, indem sie Arbeitskräfte nach St. Gallen zogen. 3. Liberale Gesetzgebung für Niederlassungswillige In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Gesetzgebung hinsichtlich der Niederlassung von Ortsfremden Schritt um Schritt liberalisiert. Aufgrund der Bundesverfassung von 1848, gewissermaßen der Gründungsakte der modernen Eidgenossenschaft, genossen die Schweizer, zunächst allerdings nur jene christlicher Konfession, im ganzen Land die Niederlassungsfreiheit. Zudem schloss die Eidgenossenschaft Abkommen mit zahlreichen Ländern ab, namentlich mit den Nachbarstaaten, die die Niederlassung der jeweiligen Staatsbürger regelten. 5 Wie unkompliziert die Zuwanderung zu Ende des 19. Jahrhunderts war, belegt etwa das kantonale Gesetz über Fremdenpolizei und Niederlassung von 1899. Darin heißt es lapidar: Wer in einer Gemeinde des Kantons, in welcher er nicht Bürger ist, 5 S ANDRO G UZZI , Art. Niederlassungsfreiheit, in: Historisches Lexikon der Schweiz 9, Basel 2010, S. 257f. <?page no="232"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 233 Wohnsitz nehmen will, bedarf hiezu einer Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung. 6 Dabei spielte es grundsätzlich keine Rolle, ob die Leute, die in St. Gallen zu wohnen gedachten, schweizerischer oder ausländischer Herkunft waren. Sie alle hatten sich nur mit wenigen Formalitäten abzumühen. Schweizer Bürger hatten einen Heimat- oder Familienschein zu hinterlegen, Ausländer jene Bescheinigungen, die die oben erwähnten Verträge der Schweiz mit den jeweiligen Herkunftsländern vorsahen. Für die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung war die bescheidene Gebühr von zwei Franken zu entrichten. Wer von Vornherein vorhatte, nur kurze Zeit in St. Gallen wohnen zu bleiben, also etwa Bauarbeiter, die nur während der Sommermonate hier arbeiten konnten, hatte die Möglichkeit, den Status eines ›Aufenthalters‹ zu erlangen, wofür eine Gebühr von lediglich einem Franken anfiel. 7 Die wenigen Vorgaben, die das Recht auf Niederlassung regelten, und ihre unkomplizierte Handhabung ermöglichten ganz im Sinne des liberalen Unternehmertums die Einwanderung von Personen aus der Schweiz und aus dem Ausland, je nach dem Bedarf, den der Arbeitsmarkt hatte. Der Grenzverkehr im Bodenseeraum war rege und einfach, da Schlagbäume an den Grenzübergängen noch unbekannt waren. Von der einfachen Art, in St. Gallen Niederlassung oder Aufenthalt zu nehmen, machten zur Zeit der Stickereiblüte denn auch viele Ausländer Gebrauch. Über die Angehörigen der meisten Herkunftsländer liegen bisher keine Forschungsergebnisse vor. Das gilt etwa für die aus Österreich, Frankreich, Belgien, den USA oder Großbritannien eingewanderten Personen. Aufgrund einer umfassenden Erschließungsarbeit im Stadtarchiv St. Gallen 8 erhält man allerdings den Eindruck, bei den aus den grenznahen Gebieten stammenden Österreichern und vor allem Österreicherinnen habe es sich zu einem großen Teil um Dienstboten gehandelt, während die Westeuropäer und Amerikaner oft in leitenden Positionen der Textilindustrie gestanden seien. Das sind aber, wie erwähnt, keine wissenschaftlich erarbeiteten Befunde. Besser sind wir über die aus dem habsburgischen Galizien und über die aus Russland bzw. dem russischen Polen eingewanderten Juden orientiert. Sie gelangten ab 1900 und oft nach ihrer Flucht vor den Pogromen in Russland in größerer Zahl nach St. Gallen und arbeiteten zunächst mehrheitlich als Händler, Reisende und Hausierer. 9 Die weitaus größten Einwanderergruppen bildeten in 6 Gesetz über Fremdenpolizei und Niederlassung vom 17.5./ 19.6.1899, in: Kanton St. Gallen, Gesetzessammlung, NF 8, St. Gallen 1902, S. 39-47, Zitat: Art. 4. 7 Gesetz über Fremdenpolizei und Niederlassung (Anm. 6), Art. 8 und 24. 8 Diese Erschließungsarbeit besteht in der Erstellung einer Datei, die alle von 1804 bis 1918 niedergelassenen Personen auflistet und auf den sie betreffenden Eintrag im jeweiligen Niederlassungsregister verweist. 9 S ABINE S CHREIBER , Hirschfeld, Strauss, Malinsky. Jüdisches Leben in St. Gallen 1803 bis 1933 (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz 11), Zürich 2006, hier v. a. S. 53-56, 59-61. <?page no="233"?> M AR CEL M AY ER 234 St. Gallen, Straubenzell und Tablat jedoch die Deutschen und Italiener, denen deshalb die beiden folgenden Abschnitte gewidmet sind. Tabelle 2: Anteile ausgewählter Ausländergruppen an der Bevölkerung von St.Gallen (1914) sowie von Straubenzell und Tablat (1910) St. Gallen, 1914 Straubenzell und Tablat, 1910 Ausländer/ innen 10.065 = 100 % 13.136 = 100 % Deutsche 67% Österreicher/ innen 19% Deutschsprachige 52% Italiener/ innen 8% Italienischsprachige 45% Andere 6% 3% 4. Die sprachverwandten Deutschen Bei der Analyse der Herkunft der Ausländer müssen die Stadt St. Gallen auf der einen sowie die Gemeinden Straubenzell und Tablat auf der anderen Seite getrennt betrachtet werden, weil sich die uns überlieferten Erhebungsmethoden und Erhebungsjahre voneinander unterscheiden. In der Stadt St. Gallen machten die Deutschen an der Gesamtheit der ausländischen Wohnbevölkerung im Jahr 1914 einen Anteil von 67 Prozent, die Österreicher von 19 Prozent aus. 10 Damit bildeten die deutschsprachigen Ausländer eine deutliche Mehrheit von weit über 80 Prozent. Hinter dieser Zahl mögen sich einige Personen verstecken, die aus der Donaumonarchie stammten und nicht Deutsch als Muttersprache hatten, aber sie dürften mengenmäßig nur wenig ins Gewicht fallen. In Tablat und Straubenzell indes zählte man die Ausländer nicht nach Nationalität, sondern nach Sprachgruppen. Die Deutschsprachigen waren hier markant schlechter vertreten als in St. Gallen, belief sich ihr Anteil 1910 doch nur auf gut die Hälfte. 11 10 Berechnung aufgrund der Zahlenangaben in: StadtA St. Gallen, Geschäftsbericht des Stadrates der Stadt St. Gallen über das Jahr 1914, S. 8. 11 Berechnung aufgrund der Zahlenangaben in: Die Ergebnisse der eidgenössischen Volkszählung vom 1. Dezember 1910 (Schweizerische Statistik 195), Bümpliz-Bern 1915, S. 181 (Straubenzell), 185 (Tablat). <?page no="234"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 235 An die Anwesenheit von Deutschen war man in St. Gallen seit Jahrhunderten gewöhnt. Junge Frauen aus der schwäbischen und bayerischen Nachbarschaft hatten seit je als Dienstmägde in noblen St. Galler Haushalten gearbeitet. Ebenso hatten deutsche Wandergesellen immer wieder in städtischen Handwerksbetrieben für einige Tage oder Wochen Station gemacht. Nach den gescheiterten Revolutionen von 1848/ 49 hatten politische Flüchtlinge hier Zuflucht gefunden, wie beispielsweise der Erfurter Hermann Alexander von Berlepsch (1814-1883), dem wir eine der ausführlichsten und anschaulichsten Beschreibungen der Stadt aus dem mittleren 19. Jahrhundert verdanken. 12 Viele St. Galler Bürgerfamilien verbanden alte, bis ins Mittelalter zurückgehende Handelsbeziehungen mit Deutschland. 13 Aus diesen Geschäftsverbindungen entstanden durch Heiraten nicht selten auch verwandtschaftliche Beziehungen, insbesondere zu evangelischen Gebieten Süddeutschlands. Deutsche Familien erwarben zudem immer wieder das St. Galler Bürgerrecht. Zu nennen ist hier etwa der aus Lindau stammende Jacob Bartholome Rittmeyer, der sich 1835 in St. Gallen einbürgerte. Die Rittmeyers sollten dann über Jahrzehnte und bis heute in wirtschaftlichen, technischen, akademischen und künstlerischen Berufen sowie in der Politik eine wichtige Rolle spielen. So war es Jacob Bartholomes Sohn Franz Elisäus, welcher mit der Verbesserung der Handstickmaschine wesentlich zur erfolgreichen Industrialisierung dieses Wirtschaftszweigs beitrug und 1854 in Straubenzell die erste große Stickereifabrik mit über 100 derartigen Maschinen einrichtete. 14 Die Rittmeyers sind nur ein Beispiel für deutsche Einwanderer, die in der ostschweizerischen Textilindustrie eine Chance für ihr eigenes Fortkommen sahen und umgekehrt wesentlich zur Entwicklung dieses Wirtschaftszweigs beitrugen. Von allen St. Galler Stickerei-Exportfirmen, die 1905 in ausländischer Hand waren, gehörten rund zwei Fünftel deutschen Geschäftsleuten. Unter den deutschen (und amerikanischen) Stickereiexporteuren figurierten überdurchschnittlich viele Juden. 15 12 H ERMANN A. VON B ERLEPSCH , St. Gallen und seine Umgebungen für Einheimische und Fremde, St. Gallen 1859. 13 H ANS C. P EYER , Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520, Bd. II, St. Gallen 1960, S. 30-33; M ARCEL M AYER , Textilwirtschaft in der Bodenseeregion. Die Beziehungen zwischen St. Gallen und den »überseeischen« Gebieten, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 31, Sonderheft 2008: Oberschwaben und die Schweiz I, S. 46-53. 14 D ORA F. R ITTMEYER , Geschichte der alten Stickereifabrik in Bruggen, in: Straubenzeller Buch, hg. vom Bürgerrat der Ortsgemeinde Straubenzell, St. Gallen 1986, S. 172-180; M ARCEL M AYER , Art. Rittmeyer, in: Historisches Lexikon der Schweiz 10, Basel 2011, S. 353; P ETER M ÜLLER , Art. Franz Elisäus Rittmeyer, in: ebd., S. 353f. 15 A. W ANNER -J EAN R ICHARD / M. M AYER , Entwurf (Anm. 4), S. 148-150. <?page no="235"?> M AR CEL M AY ER 236 Die Juden waren in der Schweiz länger als in vielen anderen europäischen Staaten rechtlich benachteiligt. 16 Das gilt sowohl für die ausländischen wie auch für die schweizerischen Juden. Letztere durften seit den Tagen des Ancien Régime nur in den beiden aargauischen Gemeinden Endingen und Lengnau dauernden Wohnsitz haben. Noch die Bundesverfassung von 1848 gewährte ihnen die Niederlassungsfreiheit nicht. Unter dem Druck zum einen der Juden selbst, die hartnäckig um das Aufenthaltsrecht in verschiedenen Gemeinden kämpften, zum andern ausländischer Mächte, welche die Benachteiligung ihrer jüdischen Bürger in der Schweiz auf diplomatischem Weg zu beseitigen suchten, weichte die harte Haltung der Schweiz allmählich auf. Im Kanton St. Gallen kam 1863, auf Bundesebene 1866 ein Gesetz zustande, welche beide die Niederlassungsfreiheit für Juden brachten. 17 Diese machten von den neuen Möglichkeiten, die sich ihnen in der Schweiz boten, Gebrauch und wanderten auch in die Ostschweiz ein. Dabei spielten die aus Deutschland (sowie dem vorarlbergischen Hohenems und den USA) immigrierenden Juden weniger aufgrund ihrer Zahl als vielmehr ihrer Bedeutung im Textilhandel eine wichtige Rolle. 18 Als Beispiel dafür seien die drei aus Hamburg stammenden Brüder Leopold, Ernst und Adolph Iklé genannt, die in St. Gallen eine der führenden Firmen für Stickereiproduktion und -export sowie 1880 die erste Fabrik mit den damals neuartigen Schiffli-Stickmaschinen aufbauten. Die Iklés gehörten zu jenen jüdischen Deutschen, die sich durch die Erlangung des St. Galler Bürgerrechts und durch die Einheirat in alte städtische Familien rasch und entschieden in die einheimische Gesellschaft integrierten. 19 Allerdings ist hier festzuhalten, dass die jüdische Gemeinschaft in St. Gallen zahlenmäßig stets klein war. Die Juden, und zwar jene mit schweizerischer und ausländischer Staatsbürgerschaft zusammengezählt, machten zwischen 1900 und 1910 lediglich 1 bis 2 Prozent der Stadtbevölkerung aus. 20 16 A ARON K AMIS -M ÜLLER , Antisemitismus in der Schweiz 1900-1930, Zürich 1990, S. 21; R OBERT U. K AUFMANN , Art. Judentum (Der Weg zur Emanzipation 1798-1879), in: Historisches Lexikon der Schweiz 6, Basel 2007, S. 831. 17 S. S CHREIBER , Jüdisches Leben (Anm. 9), S. 25-45. Allerdings gewährte erst die revidierte Bundesverfassung von 1874 nichtchristlichen Schweizern die Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit. Dieser widerspricht bis heute das durch eine Volksabstimmung eingeführte Schächtverbot von 1893. 18 Zur Berufsstruktur der Juden vgl. S. S CHREIBER , Jüdisches Leben (Anm. 9), S. 57-64. 19 M ARCEL M AYER , Art. Iklé, in: Historisches Lexikon der Schweiz 6, Basel 2007, S. 575. Wie folgenreich die Integration der Iklés in die städtische Gesellschaft war, zeigte sich in der Karriere von Adolphs Enkelin Elisabeth Kopp-Iklé, die 1984 als erste Frau in den schweizerischen Bundesrat, d. h. die Landesregierung, gewählt wurde. 20 A. W ANNER -J EAN R ICHARD / M. M AYER , Entwurf (Anm. 4); ebd., Bd. 9 (Register und Dokumentation), S. 73, Anm. 10. <?page no="236"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 237 Abb. 1: Paul von Bongardt (1871-1957), 1907-1914 und 1923-1928 Direktor des Stadttheaters St. Gallen und deutscher Immigrant mit großem Einfluss auf das kulturelle Leben St. Gallens. <?page no="237"?> M AR CEL M AY ER 238 Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Geistesleben war der deutsche Einfluss bedeutend. Auch hier sei nur ein Beispiel angeführt, jenes des Norddeutschen Eduard Otto Schulze, dem an der 1899 gegründeten Handelshochschule St. Gallen die ›Hauptprofessur für Volkswirtschaftslehre und Handels- und Industriegeschichte‹ anvertraut wurde. Schulze war von 1903 bis 1920 auch der erste eigentliche Rektor dieser merkantilen Akademie. 21 Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Sankt Gallern ist zudem der Umstand nicht zu unterschätzen, dass viele Ostschweizer, die eine akademische Laufbahn einschlugen, einige Semester oder gar ihre ganze Studienzeit an deutschen Universitäten absolvierten. Die Erfolgsgeschichten der Rittmeyer, Iklé und Schulze dürfen nicht zur Annahme verleiten, alle deutschen Immigranten hätten es vermocht, sich in einflussreiche Spitzenpositionen hinaufzuarbeiten. Deutsche waren vielmehr auf der ganzen sozialen Stufenleiter der St. Galler Gesellschaft anzutreffen. Leider fehlt eine systematische, mit Statistiken untermauerte Untersuchung über die soziale Lage der Deutschen in der Ostschweiz vorerst noch. Mit Sicherheit aber lebten und arbeiteten in St. Gallen viele deutsche Handwerker. Sie begehrten schon früh gegen die Gefahr der Proletarisierung auf, der ihr Berufsstand als Folge der Industrialisierung und der Verdrängung ihrer Arbeitsplätze durch Maschinen mehr und mehr unterworfen war. Es waren namentlich die noch wenig sesshaften deutschen Handwerksgesellen, die einen ›Deutschen Arbeiterverein‹ gründeten, der 1863 zu einer Lokalsektion des ›Deutschen Arbeiterbildungs-Vereins‹ wurde. In den Frühformen der ostschweizerischen Gewerkschaftsbewegung und einer allmählich sozialistisch ausgerichteten Politik spielte diese Gruppe deutscher Immigranten eine wichtige Rolle. 22 Deutsche schlossen sich überdies zu landsmannschaftlichen Gruppierungen zusammen. So zählt das ›Offizielle Adressbuch der Stadt St. Gallen‹ für das Jahr 1910 zwölf in der Stadt aktive ›Geselligkeitsvereine‹ auf. Darunter figurierten neben dem ›Circulo Español‹, dem ›Englishclub‹, dem ›Glarnerverein‹ u. a. auch der ›Bayern- Verein‹ und der ›Württemberger-Verein‹. Die wohl regelmäßig zu geselliger Runde versammelten Bayern wurden von Johannes Leising, einem aus Trippstadt gebürtigen Rechtsanwalt präsidiert, während die Württemberger damals Ignaz Bernhard Weishaupt, einen Coiffeur aus einer Ortschaft Berg, zu ihrem Obmann hatten. 23 21 G EORG T HÜRER , Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1899-1974, St. Gallen 1974, S. 29-30; K ARL H. B URMEISTER , 100 Jahre HSG. Geschichte der Universität St. Gallen, Bern 1998, S. 47-73, 266. 22 Vgl. dazu L OUIS S PECKER , »Links aufmarschieren«. Aus der Frühgeschichte der Ostschweizer Arbeiterbewegung, Zürich 2010, S. 217-224. 23 Offizielles Adressbuch der Stadt St. Gallen, St. Gallen 1910, IV. Abt., S. 531. Zu Leising und Weishaupt vgl. StadtA St. Gallen, digitalisierte Einwohnerkartei, 1918-1956. <?page no="238"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 239 Die Anfänge der Stickereiblüte sind zeitlich nur kurz vor dem Beginn der Gründerjahre in Deutschland anzusetzen. Angesichts des damaligen Aufstiegs des nördlichen Nachbarlandes in den verschiedensten Bereichen machte sich nicht nur in St. Gallen, sondern in der ganzen Deutschschweiz eine allgemeine Deutschland- Begeisterung breit. Sie erstreckte sich auch auf den preußischen Militarismus, wie die lebhafte Anteilnahme und der Jubel der Bevölkerung an den so genannten Kaisermanövern von 1912 belegen, als Kaiser Wilhelm II. Truppenübungen der Armee in der Ostschweiz beiwohnte. 24 Diese Begeisterung führte während des Ersten Weltkriegs zu einer starken Zerreißprobe in der Schweiz, waren die Deutschschweizer doch ebenso entschiedene Anhänger der Mittelmächte wie die Romands und Tessiner auf Seiten der Entente standen. 5. Die ›unruhigen‹ Italiener Zwischen den drei Gemeinden, die sich 1918 zur Stadt St. Gallen in ihrem heutigen Umfang zusammenschlossen, bestanden hinsichtlich ihres Anteils an italienischer Wohnbevölkerung erhebliche Unterschiede. Für St. Gallen weist die Statistik aus, dass 1914 nur 8 Prozent der in der Stadt lebenden Ausländer italienischer Nationalität waren. Demgegenüber waren 1910 in Straubenzell und Tablat zusammen 45 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung italienischsprachig, in Tablat war es sogar die Hälfte. 25 Der Unterschied ist eklatant. Er erklärt sich daraus, dass in St. Gallen die Bodenpreise und damit auch die Mietzinsen im schweizerischen Vergleich sehr 24 M AX L EMMENMEIER , Stickereiblüte und Kampf um einen sozialen Staat, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 6, St. Gallen 2003, S. 75. Das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen zeigte im Winter 2012/ 13 unter dem Titel ›… der Kaiser kommt! ‹ eine viel beachtete Ausstellung über diese Kaisermanöver. 25 Die sankt-gallische Zahl von 8 Prozent muss möglicherweise etwas höher veranschlagt werden, weil die damals zur Donaumonarchie gehörigen, teils italienischsprachigen Südtiroler darin nicht inbegriffen sind. Vgl. dazu E RNEST M ENOLFI , Die italienische Einwanderung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 7, S. 120. Andererseits sind bei den Italienischsprachigen Straubenzells und Tablats die Tessiner als Schweizer Staatsbürger mitinbegriffen. - Bei den Zahlen, die den eidgenössischen Volkszählungen entnommen sind, ist überdies zu berücksichtigen, dass sie jeweils am 1. Dezember erhoben wurden. Damit fielen jene vielen Italiener aus der Statistik, die als Saisonniers im Baugewerbe arbeiteten und im Spätherbst bereits wieder nach Italien zurückgekehrt waren. - Vgl. zu den Italienern in Tablat zusammenfassend M ARCEL M AYER , Von der Bauerngemeinde zum Stadtteil. Zur Geschichte Tablats im 19. und 20. Jahrhundert, in: Tablat und Rotmonten. Zwei Ortsgemeinden der Stadt St. Gallen, hg. von E RNST Z IEGLER , St. Gallen 1991, S. 63-65. <?page no="239"?> M AR CEL M AY ER 240 hoch waren. 26 In den flächenmäßig ausgedehnten Gemeinden Straubenzell und Tablat hingegen, die lange Zeit über große Landreserven verfügten, waren die Mieten trotz oft übler Bauspekulation insgesamt doch niedriger. Neben diesen rein wirtschaftlichen Aspekten mag auch das Bedürfnis der Einwanderer mitgespielt haben, in der fremdartigen, kalten Ostschweiz in der Nähe von Ihresgleichen zu leben sowie »die gesuchte heimatliche Nähe und Geborgenheit des Vertrauten im engen Zusammenleben in einem abgesonderten Quartier« 27 zu finden. Baulich und sozial führte dieses Bedürfnis dann allerdings zu einer eigentlichen Ghetto-Bildung, die in Tablat in der Umgebung des Bahnhofs St. Fiden besonders ausgeprägt war und dem dortigen Gebiet im Volksmund zum Namen ›Klein-Venedig‹ verhalf. Die Verhältnisse waren im Urteil der Behörden derart katastrophal, dass in Tablat 1909 das erste Wohnungsinspektorat der Schweiz gegründet wurde. Wie sehr diese Institution für die Ausübung einer sowohl hygienischen als auch moralischen Kontrolle gedacht war, zeigt sich in einem Bericht des Wohnungsinspektors Karl Kern: 28 Hatte man nun das zweifelhafte Vergnügen, einmal […] das Buchwaldquartier zu durchgehen, so brauchte man beinahe Mut dazu, denn die Unordnung, die einem überall entgegentrat, auf Strassen und Plätzen, in Hausfluren und besonders in den Häusern, war eine geradezu himmelschreiende. Ueberall schmutzige Papierfetzen, Lumpen, Kot und Schmutz überhaupt; vor allen Fenstern glotzende und stinkende nasse Wäsche […] In jedem Haus, ja in fast jeder Wohnung eine eigene Wirtschaft mit gewaltigem Bier-, Wein- und Schnapsgenusse. Tag und Nacht, zu jeder Stunde schlafende und wandernde Gäste, oft genug beiderlei Geschlechts; von einem Zimmer in das andere eine sittenverdorbene, zankende und trinkende, fluchende und, wie leicht begreiflich, unzufriedene Gesellschaft. Junge Italienerinnen, oft erst 14 bis 16 Jahre alt, lebten nicht selten in Mädchenheimen und waren dort einem streng geregelten Tagesablauf unterworfen. Ein derartiges Heim unterhielt beispielsweise auch die erwähnte Stickereifabrik Rittmeyer. Es befand sich in der Nähe der Fabrik, beherbergte bis zu 120 Mädchen sowohl schweizerischer als auch ausländischer Herkunft und wurde von einem evangelischen Basler Pfarrer geleitet. 29 26 J OST K IRCHGRABER , Zur Baugeschichte der Jahrhundertwende, in: St. Gallen. Antlitz einer Stadt, hg. von der St. Gallischen Creditanstalt, St. Gallen 1979, S. 115. 27 E. M ENOLFI , Einwanderung (Anm. 25), S. 126. 28 K ARL K ERN , Wohnungsinspektorate in der Schweiz, mit spezieller Berücksichtigung von Erfahrungen im Wohnungsinspektorat der Gemeinde Tablat (St. Gallen) (Sozialpolitische Zeitfragen der Schweiz 23), Zürich 1912, S. 11f. 29 D. F. R ITTMEYER , Stickereifabrik (Anm. 14), S. 178. <?page no="240"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 241 Abb. 2: Holzhaus an der heutigen Oststraße 13 in Tablat, vor 1916. Das Gebäude mit unübersichtlich ineinander verschachtelten Wohnungen, die von 13 Eingängen erschlossen wurden, stellt ein besonders krasses Beispiel für die armselige und ghettoartige Wohnsituation vieler Italiener in der ehemaligen Gemeinde Tablat dar. 1909 bewohnten 86 Personen diese Liegenschaft; P. S TAHLBERGER , Mitten am Rand (Anm. 37), S. 7-23. <?page no="241"?> M AR CEL M AY ER 242 Der Anteil der Frauen innerhalb der italienischen Bevölkerung war in der Ostschweiz generell überdurchschnittlich hoch. Er steht im direkten Zusammenhang mit der die ganze Wirtschaft beherrschenden Textilindustrie, waren die Italienerinnen doch mehrheitlich als Fabrikarbeiterinnen in dieser Branche tätig, die traditionell viele Frauen beschäftigte. In einem Großteil der ostschweizerischen Textilfabriken galt vor dem Ersten Weltkrieg noch immer der im eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877 verankerte 11-Stunden-Tag, während andere Wirtschaftszweige die Arbeitszeit schon deutlich verkürzt hatten. 30 Die aus Italien eingewanderten Männer arbeiteten überwiegend im Baugewerbe, oft als Saisonniers vom Frühling bis in den Spätherbst. Als Folge der Hochkonjunktur der Stickereiindustrie boomte auch der Bausektor. Die Bevölkerungszunahme rief nach mehr Wohnraum und nach Fabrikgebäuden. Aber sie erforderte auch einen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, die Errichtung von Schulen und Kirchen, die Anlegung von Straßen in den Neubauquartieren sowie 1897 die Einführung der Straßenbahn zur Überwindung der größer werdenden Distanzen innerhalb des Siedlungsgebiets. Und nicht zuletzt mussten die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung gesichert werden. Jenes geschah 1895 durch das Filtrieren und Heraufpumpen von Bodenseewasser, dieses durch die Erstellung der Schwemmkanalisation ab 1905; beide Projekte erzwangen umfangreiche Bauarbeiten für das lange und weit verzweigte Leitungsnetz. Bereits mit dem Eisenbahnbau in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Italiener temporär in die Schweiz eingewandert. In der Ostschweiz verlangte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein weiteres großes Eisenbahnprojekt nach einer Unzahl von Bauarbeitern, nämlich die Erstellung der Bodensee-Toggenburg- Bahn, die den südöstlichen Bodenseeraum mit der Innerschweiz und damit mit der Gotthardlinie verband. Die neue Bahnstrecke erforderte den Bau zahlreicher Tunnels. Wie gefährlich das für die Arbeiter werden konnte, zeigte sich, als die Baugrube des Bruggwaldtunnels zwischen St. Gallen und Wittenbach im Juni 1909 auf einer Länge von rund 30 Metern einstürzte und sechs Italiener tötete. 31 Hinsichtlich der Unterbringung der Bahnbauarbeiter drang der Tablater Gemeinderat darauf, dass deren Unterkunftsbaracken ganz an den Ostrand der Stadt außerhalb des damaligen Siedlungsgebiets zu stehen kamen, um eine leichtere und bessere Kontrolle über sie ausüben zu können. 32 30 E. M ENOLFI , Einwanderung (Anm. 25), S. 123; M. L EMMENMEIER , Stickereiblüte (Anm. 24), S. 49. 31 H ANS -M ARTIN H ABICHT , Probleme der italienischen Fremdarbeiter im Kanton St. Gallen vor dem Ersten Weltkrieg, Herisau 1977, S. 117-123. 32 M. M AYER , Bauerngemeinde (Anm. 25), S. 64. <?page no="242"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 243 Angespornt durch die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, organisierte sich die italienische Arbeiterschaft in verschiedenen Interessenvereinigungen wie etwa im ›Sindacato Muratori‹, hingegen gelang der Aufbau einer umfassenden italienischen Gewerkschaft nie. 33 Prominente Unterstützung erhielten die italienischen Arbeiter und namentlich die Arbeiterinnen von Angelica Balabanoff (1876- 1965), einer Marxistin aus einer ukrainischen Intellektuellenfamilie. Sie war selbst Emigrantin, zwischen 1902 und 1904 ehrenamtliche Leiterin des Arbeitersekretariates St. Gallen, enge Mitarbeiterin Benito Mussolinis in dessen sozialistischer Phase, später Sekretärin der III. (kommunistischen) Internationale in Moskau und zuletzt ›grand old lady‹ des italienischen Sozialismus. 34 Von ihr stammt das Urteil: Diese italienischen Arbeiter, die eigentlich Emigranten waren, schienen mir nach dem russischen Volke die Erniedrigtsten, Enterbtesten, Ausgebeutetsten und deshalb Hilfsbedürftigsten zu sein. Ihnen durch sozialistische Propaganda das Gefühl für persönliche und Klassenwürde beizubringen, das war das Ziel, zu dem ich mich nach St. Gallen begab. 35 Die schlimmen Lebensbedingungen bestätigte der für Tablat zuständige Bezirksarzt mit seinen Zahlen zur Säuglingssterblichkeit in Italienerfamilien. Von deren lebend geborenen Kindern starben 1909 ganze 36 Prozent im ersten Lebensjahr, während sich die entsprechende Zahl bei der übrigen Bevölkerung lediglich auf 13 Prozent belief. 36 Die aus Italien in die Ostschweiz eingewanderten Menschen stammten aus Norditalien, zunächst aus den grenznahen Gebieten um Como und aus dem Veltlin. Auch die Tessiner, obwohl sie Schweizer Bürger waren, trugen zur Italianità in St. Gallen bei. Inwieweit das für die damals österreichischen Südtiroler galt, die eine wichtige, wenn auch nur teilweise italienisch sprechende Immigrantengruppe bildeten, muss vorerst offen bleiben. Mit zunehmendem Arbeitskräftebedarf dehnte sich das Rekrutierungsgebiet aus, wobei neben der Lombardei und dem Piemont Venetien eine große Bedeutung zukam. So wird in den Einwohnerregistern des Stadtarchivs St. Gallen als Herkunftsregion der Einwandernden im späten 19. Jahrhundert zum Beispiel auffallend häufig die Provinz Belluno in Venetien genannt. Diese Konzentration auf einzelne Dörfer und Provinzen weist darauf hin, dass die Informationen und Empfehlungen von Verwandten und Bekannten, von Agenten, Pfarrern und lokalen Honoratioren die Wahl des Zielortes der Auswandernden maßgeblich beeinflussten. 37 33 E. M ENOLFI , Einwanderung (Anm. 25), S. 127f. 34 Zu Angelica Balabanoff und ihrem Wirken in der Ostschweiz L. S PECKER , Arbeiterbewegung (Anm. 22), S. 431-436. 35 A NGELICA B ALABANOFF , Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 13. 36 E. M ENOLFI , Einwanderung (Anm. 25), S. 126f. 37 E. M ENOLFI , Einwanderung (Anm. 25), S. 120f.; P ETER S TAHLBERGER , Mitten am Rand. Das »Fidesgärtli« - ein Stück St. Galler Sozialgeschichte, St. Gallen 2011, S. 14f. <?page no="243"?> M AR CEL M AY ER 244 Wie die oft ghettoartigen Wohnverhältnisse bereits gezeigt haben, lebten die italienischen Immigranten weitgehend isoliert unter sich. Bei dieser ersten Einwanderergeneration scheint die Integration in die einheimische Gesellschaft nur in Einzelfällen gelungen zu sein. Die 1906 eröffnete und 1911 erweiterte Italienerschule, deren Trägerin die Schulgemeinde Katholisch-Tablat war und die unter der Leitung eines romanisch und italienisch sprechenden Bündner Lehrers stand, 38 verdankte ihre Entstehung zwar pädagogisch nachvollziehbaren Überlegungen, leistete aber der Isolierung der Immigrantenkinder zusätzlich Vorschub. Für die der Förderung der italienischen Sprache und Kultur verpflichtete ›Società Dante Alighieri‹, die seit 1911 auch in St. Gallen aktiv war, galt es, mit den Erwachsenen zu arbeiten und »a tutelare […] la nostra Lingua Materna contro l’Idioma Straniero e contro l‘Analfabetismo, assai manifesto fra i 15’000 Italiani«. 39 Das Zitat weist darauf hin, dass viele Einwanderer nicht nur des Lesens und Schreibens unkundig waren, sondern auch einen Dialekt sprachen, der sich vom Hochitalienisch deutlich unterschied. In der Wahrnehmung der Einheimischen zeichnete sich ›der Italiener‹ durch klar definierte Merkmale aus. Eine Untersuchung zeigt, dass diese Vorurteile und Typisierungen durch die Presse gefördert wurden. So schrieben die stadt-sanktgallischen Zeitungen, unabhängig von ihrer politischen Couleur, einmal über braune Söhne des Südens, dann über braune Gesellen. Dass sich das Adjektiv ›braun‹ nicht nur auf die Hautfarbe bezog, sondern wohl auch als Anspielung auf Unsauberkeit zu verstehen war, wird aus der Bemerkung einer anderen Zeitung ersichtlich, die zu rapportieren wusste, dass die Südländer nur selten das Bedürfnis nach einem Bad zu empfinden schienen. Der Italiener, heißt es in einem anderen Presseartikel, sei eine Mischung aus Feigheit und Prahlerei, der unter dem Einfluss von Alkohol und Zank zum Messer als letztem Argument greife usw. Überhaupt empfanden die Schweizer die Italiener als lärmige Leute. Das zeige sich etwa beim Bocciaspiel, das von den Spielern lautstark kommentiert werde. Die Behörden von Straubenzell sahen darin eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und schränkten das Spiel ein, während es die Gemeinde Tablat auf ihrem Territorium geradewegs verbot. Auf ein anderes bei den Immigranten beliebtes Spiel, die Morra, bei der die Zahl ›cinque‹ mit lauter Stimme gerufen werden muss, geht das bis in jüngste Zeit in der Schweiz gebräuchliche Schimpfwort ›Tschingg‹ für Italiener zurück. Äußerten sich die Zeitungen positiver 38 A LFRED S CHLEGEL , Schulgeschichte der Stadt Sankt Gallen, St. Gallen 1959, S. 29f. 39 »[…] unsere Muttersprache vor der fremden Mundart und dem Analphabetismus zu schützen, der unter den 15’000 Italienern sehr offenkundig ist«. Arnaldo Menegoni, zitiert in R ENATO M ARTINONI , La nascita della »Dante Alighieri« di San Gallo (1911), in: 1911- 2011 La Società »Dante Alighieri« di San Gallo. Un secolo di storia e di cultura italiana nella Svizzera orientale, St. Gallen 2011, S. 10; vgl. Zum Analphabetismus auch H.-M. H ABICHT , Fremdarbeiter (Anm. 31), S. 124. <?page no="244"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 245 über die südländischen Fremdarbeiter, lobten sie ihre oft vom Akkordeon begleitete Sangeskunst oder attestierten ihnen sonnigen Frohmut. 40 Sollten schriftliche Zeugnisse von Immigranten erhalten sein, wäre es aufschlussreich zu erfahren, wie sie ›den St. Galler‹ beurteilten … 6. Stickereikrise und Abwanderung Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geriet das ganze nordostschweizerische Stickereigebiet in eine tiefe Krise, die sich schon kurz vor Kriegsbeginn abgezeichnet hatte und über dreißig Jahre anhalten sollte. 41 Zunächst war es die von der Kriegs- und Nachkriegszeit geschwächte Wirtschaft der traditionellen europäischen Abnehmerländer von St. Galler Stickereien, bis zu einem gewissen Grad auch die aufkommende US-amerikanische Konkurrenz, die zu einem fast vollständigen Zusammenbruch der Nachfrage nach dem Luxusprodukt Stickerei führten. Am folgenschwersten aber wirkte sich längerfristig das fundamental veränderte ästhetische Empfinden aus, das sich von opulenten Ausschmückungen hin zur neuen Sachlichkeit entwickelte. Wo die üppig dekorierte Robe vom einfachen Charleston- Kleidchen abgelöst wurde, war für Stickereien kein Platz mehr. Die die sankt-gallische Wirtschaft vollständig dominierende Stickereiindustrie geriet in eine existenzielle Krise und zog alle anderen Branchen mit in den Abgrund. Es verschwanden tausende Arbeitsplätze. Die Stadt St. Gallen verlor zwischen 1910 und dem Zweiten Weltkrieg über 17 Prozent ihrer Bevölkerung, die 1941 mit rund 62.300 Personen ihren Tiefststand im 20. Jahrhundert erreichte. 42 Viele der als Immigranten ins Land gekommenen Ausländer und Ausländerinnen emigrierten nun wieder. Zunächst zogen junge Männer weg, weil sie wegen der Mobilisierung der Armeen zum Kriegsdienst in ihren Heimatländern eingezogen wurden. Dann verließen aber auch viele ihrer Landsleute die Stadt, in der sie keine Arbeit mehr fanden und teilweise wohl auch nie besonders verwurzelt gewesen waren. Die Folge war, dass der Ausländeranteil in der Stadt zwischen 1910 und 1941 von 33 Prozent auf knapp 12 Prozent sank. Die drastische Verkleinerung der in der Stadt lebenden Ausländerkolonien reiht 40 R OLANDO F ERRARESE , La »colonia italiana« nella Svizzera orientale ai primi del 1900, in: 1911-2011 La Società »Dante Alighieri« (Anm. 39), S. 39-42. Zitate auf S. 39 (braune Söhne des Südens), 40 (braune Gesellen; die Südländer nur selten das Bedürfnis nach einem Bad zu empfinden schienen; Gefährdung der öffentlichen Sicherheit), 41 (sonnigen Frohmut). 41 M ARCEL M AYER , Das erste Jahrzehnt von »Gross-St. Gallen«. Stadtgeschichte 1918-1929, in: Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen 136 (1996), S. 11-21. 42 StadtA St. Gallen, Bevölkerungs- und Wirtschafts-Statistik der Stadt St. Gallen 1941, Heft 23, S. 9. <?page no="245"?> M AR CEL M AY ER 246 sich in eine damals allgemeine schweizerische Entwicklung ein, die schon als »nationalisation du peuple suisse« auf demographischer Ebene bezeichnet wurde. 43 Erst mit der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Bevölkerung namentlich dank der neu einsetzenden Immigration von Ausländern erneut zu wachsen. 7. Zusammenfassung Die Stadt St. Gallen und ihre Nachbargemeinden Straubenzell und Tablat verzeichneten zwischen 1860 und 1910 aufgrund einer starken Zuwanderung ein rasantes Bevölkerungswachstum. Ihre Einwohnerzahl nahm in dieser Zeitspanne von etwas über 23.000 auf knapp 75.500 Personen zu, was 1918 die Fusion dieser drei Gemeinden zur Stadt St. Gallen in ihrem heutigen Territorium zur Folge hatte. Ursache des Wachstums war die Stickereiindustrie, die kurz vor 1850 erfolgreich mechanisiert wurde und vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine eigentliche Blütezeit erlebte. In ihrem Gefolge nahmen auch andere Wirtschaftszweige wie etwa das Bauwesen einen starken Aufschwung. Eine liberale Gesetzgebung begünstigte die Immigration, so dass nicht nur schweizerische, sondern auch ausländische Zuwanderungswillige recht unkompliziert Wohnsitz in der Stadt St. Gallen und deren Umgebung nehmen konnten. Davon machten viele Ausländer und Ausländerinnen Gebrauch, die aus Österreich, Frankreich, Belgien, den USA, Großbritannien, Russland bzw. dem russischen Polen stammten. Die weitaus größten Einwanderergruppen bildeten aber die Deutschen und die Italiener. Obwohl die Anwesenheit von Deutschen in St. Gallen eine jahrhundertelange Tradition hatte, nahm deren Zuwanderung im Verlaufe der Stickereiblüte doch deutlich größere Dimensionen an. So lebten 1914 in der Stadt St. Gallen (ohne Straubenzell und Tablat) etwas über 6.700 Deutsche, die damit einen Anteil an den Ausländern von 67 Prozent und an der Gesamtbevölkerung von 19 Prozent bildeten. Sie verteilten sich auf alle sozialen Schichten und organisierten sich teilweise in eigenen Vereinen. Das Verhältnis zu den Schweizern scheint in der Regel unkompliziert gewesen zu sein, bewunderten diese doch das nördliche Nachbarland, das seit der Gründerzeit einen so fulminanten Aufschwung genommen hatte. 43 G ÉRALD A RLÉTTAZ / S ILVIA A RLÉTTAZ , La Première Guerre mondiale et l’émergence d’une politique migratoire interventionniste, in: P AUL B AIROCH / M ARTIN K ÖRNER (Hg.), Die Schweiz in der Weltwirtschaft (15.-20. Jh.) - La Suisse dans l’économie mondiale (15e-20e s.) (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 8), Zürich 1990, S. 324. <?page no="246"?> I MMIG R ATI ON NA CH S T . G ALLEN 247 Die Italiener und Italienerinnen, die wegen des Wirtschaftsbooms in die Nordostschweiz einwanderten, ließen sich weniger in St. Gallen als vielmehr in den kostengünstigeren Nachbargemeinden Straubenzell und Tablat nieder. In Tablat lebten 1910 rund 4.500 Italiener, deren Anteil an der dortigen ausländischen Bevölkerung sich auf 50 Prozent und an der gesamten Einwohnerschaft auf 20 Prozent belief. Die Frauen arbeiteten in der Regel als Arbeiterinnen in den Stickereifabriken, die Männer auf dem Bau. Damit gehörten sie der schlecht entlohnten Unterschicht an, und entsprechend einfach war ihre Lebensweise. Sie wohnten in wenigen Quartieren eng gedrängt zusammen, so dass sich eigentliche Italienersiedlungen mit ghettoartigem Charakter entwickelten. Die dortigen Zustände widersprachen den Reinlichkeits- und Ordnungsvorstellungen der Einheimischen, was nicht nur die Behörden immer wieder zum Einschreiten veranlasste, sondern auch das Bild ›des Italieners‹ in der Bevölkerung negativ prägte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Luxusprodukte herstellenden Stickereiindustrie geriet St. Gallen wie die ganze Ostschweiz in eine über dreißig Jahre anhaltende Wirtschaftskrise. Ein großer Teil der Immigranten und Immigrantinnen verließ die Stadt wieder. <?page no="248"?> 249 M ANFRED H EERDEGEN Zwangsmigration als Folge des Zweiten Weltkriegs: Wanderschicksale und Integration von Vertriebenen Das 20. Jahrhundert gilt als ein Jahrhundert der Zwangsmigrationen. 1 Als Folge des von Adolf Hitler begonnenen Zweiten Weltkriegs verloren auch mehr als zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat, die unter dem Sammelbegriff ›Vertriebene‹ zusammengefasst werden - er wird auch im Folgenden ohne weitere Differenzierung verwendet. Er steht für alle deutschen Staatsbürger und Volkszugehörigen, die aus den Gebieten des Deutschen Reichs östlich von Oder und Neiße sowie aus zahlreichen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas fliehen mussten oder vertrieben wurden. Dieses Schicksal traf in erster Linie Frauen, Kinder und Senioren, während die wehrfähigen Männer zur Zeit von Flucht und Vertreibung oft fern der Heimat oder in Kriegsgefangenschaft waren. Die entwurzelten Menschen strömten in ein Land, das nicht nur vollständig besiegt und in vier Besatzungszonen aufgeteilt, sondern auch durch die Verbrechen des Nationalsozialismus weitgehend diskreditiert war. Die Aufnahme der Zwangsmigranten gestaltete sich in der Zeit der Not und des allgemeinen Mangels unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schwierig. Konflikte zwischen den Vertriebenen und der einheimischen Bevölkerung um die Verteilung des knappen Wohnraums und anderer Güter waren an der Tagesordnung. Unterkunft fanden die Vertriebenen vor allem in unzerstörten Kleinstädten und Landgemeinden, die nicht selten in strukturschwachen Regionen lagen. 1 M ATHIAS B EER , Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, S. 13-22, 99-112; M ICHAEL VON E NGELHARDT , Die Bewältigung von Flucht und Vertreibung. Zum Verhältnis von Lebensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte und biographisch-historischer Identität, in: R UDOLF E NDRES (Hg.), Bayerns vierter Stamm. Die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945 (Bayreuther Historische Kolloquien 12), Köln u. a. 1998, S. 215-251, hier 218-224; K. E RIK F RANZEN , Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974 (Veröff. des Collegium Carolinum 120), München 2010, S. 37-44. <?page no="249"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 250 1. Vertriebene im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben nach 1945 Der Freistaat Bayern nahm bis zum Herbst 1950 insgesamt 1,9 Millionen Vertriebene auf, was seinerzeit einem Bevölkerungsanteil von 21,1 % entsprach. 2 Mit einer Million Menschen und einem Anteil von 53,1 % bildeten die Deutschen aus der Tschechoslowakei (Sudetendeutsche) vor den Deutschen aus Schlesien und Südosteuropa die größte Vertriebenengruppe im Freistaat. Die für Bayern zuständige amerikanische Besatzungsmacht forderte in den ersten Nachkriegsjahren keine bloße Eingliederung (Integration), sondern die unumkehrbare Assimilierung der Vertriebenen, d. h. sie sollten unter Auflösung ihrer bisherigen landsmannschaftlichen Bindungen und Traditionen vollständig in der einheimischen Bevölkerung aufgehen. 3 Diese klare Vorgabe prägte auch das bayerische Flüchtlingsgesetz von 1947, das die rechtliche Gleichstellung der sogenannten ›Neubürger‹ festschrieb. Der von den Amerikanern ausgeübte Assimilierungsdruck ließ erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 spürbar nach. Seit den fünfziger Jahren galt freilich nicht mehr die Assimilierung, sondern die Integration der Vertriebenen in die einheimische Bevölkerung durch Annäherung und Akkulturation als angestrebtes Ziel der bayerischen Politik. Der Freistaat übernahm 1954 sogar die Schirmherrschaft über die vertriebenen Sudetendeutschen, die symbolisch zum ›vierten Stamm Bayerns‹ neben den Altbayern, Franken und Schwaben erhoben wurden. 4 Ob es sich bei diesem Schritt um einen bewussten Rückgriff auf das Integrationskonzept des 19. Jahrhunderts handelte, das den Franken und Schwaben 2 A LFRED B OHMANN , Das Sudetendeutschtum in Zahlen. Handbuch über den Bestand und die Entwicklung der sudetendeutschen Volksgruppe in den Jahren von 1910 bis 1950. Die kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Spiegel der Statistik, München 1959, S. 212; Statistisches Jahrbuch für Bayern 1952, hg. vom Bayerischen Statistischen Landesamt, o. O. o. J. [München 1952], S. 490. 3 M. B EER , Flucht und Vertreibung (Anm. 1), S. 102-105, 116f.; M ARITA K RAUSS , Die Integration Vertriebener am Beispiel Bayerns Konflikte und Erfolge, in: D IERK H OFF - MANN / M ICHAEL S CHWARTZ (Hg.), Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/ DDR (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernr.), München 1999, S. 47-56, hier 47; W ALTER Z IEGLER , Der Beitrag der Vertriebenen zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, in: C HRISTOPH D AXELMÜLLER / S TEFAN K UMMER / W OLFGANG R EINICKE (Hg.), Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2009 (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 57), Augsburg 2009, S. 146-159, hier 152-154. 4 M. K RAUSS , Konflikte und Erfolge (Anm. 3), S. 52, 56; K. E. F RANZEN , Schirmherrschaft (Anm. 1), S. 308-322. Zur Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat: C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007. <?page no="250"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 251 seinerzeit das Hineinwachsen in den bayerischen Staat erleichtern sollte, bleibt in der Forschung durchaus umstritten. Während im Herbst 1950 jeder fünfte Einwohner Bayerns zur Bevölkerungsgruppe der Vertriebenen zählte, war dies im Regierungsbezirk Schwaben sogar bei jedem vierten Einwohner der Fall. 5 Laut Zensus vom 13. September 1950 lebten hier insgesamt 319.070 Vertriebene, darunter 225.680 Sudetendeutsche. Zum damaligen Zeitpunkt stellten die ›Neubürger‹ 25,5 % der Wohnbevölkerung des Regierungsbezirks. Der Anteil der Sudetendeutschen fiel im bayernweiten Vergleich der Bezirke mit 70,7 % weit überdurchschnittlich hoch aus. In den Landkreisen Markt Oberdorf (ab 1953: Marktoberdorf), Wertingen, Neu-Ulm, Kaufbeuren, Krumbach, Nördlingen, Illertissen und Günzburg zählten jeweils mehr als 30 % der Einwohner zur Bevölkerungsgruppe der Vertriebenen. Die Gesamtbevölkerung der kreisfreien Stadt Kaufbeuren mit dem von Sudetendeutschen gegründeten Stadtteil Neugablonz bestand in den fünfziger Jahren zeitweilig sogar zu über 50 % aus ›Neubürgern‹. 6 Die tiefgreifenden demographischen Veränderungen in Bayerisch-Schwaben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lassen sich bestenfalls noch mit dem Dreißigjährigen Krieg und seinen Folgen im 17. Jahrhundert vergleichen. Staatliche Maßnahmen wie die Soforthilfe- und Lastenausgleichsgesetze förderten ab 1949 die Eingliederung der ›Neubürger‹. 7 Auch in Bayern galt die Integration der Vertriebenen bereits um 1960 als geglückt und abgeschlossen. Diese recht oberflächliche Einschätzung beruhte vor allem auf der erfolgreichen Versorgung der ›Neubürger‹ mit Wohnungen und Arbeitsplätzen. Die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen verlief jedoch deutlich langsamer als ihre vergleichsweise rasche 5 A. B OHMANN , Sudetendeutschtum (Anm. 2), S. 213f. Die kreisfreie Stadt Lindau und der gleichnamige Landkreis, die bis 1956 zur französischen Besatzungszone gehörten, sind in den statistischen Angaben zum Regierungsbezirk Schwaben nicht enthalten; R OLF K IESS - LING , Kleine Geschichte Schwabens, Regensburg 2009, S. 187; Statistisches Jahrbuch 1952 (Anm. 2), S. 490, 498, 500. 6 M ANFRED H EERDEGEN , Das Ende der kleinstädtischen Idylle. Überlegungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Kaufbeurens nach 1945, in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN D IETER / J ÖRG W ESTERBURG (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 3: Sozialgeschichte, Wirtschaftsentwicklung und Bevölkerungsstruktur, Thalhofen 2006, S. 156-169, hier 157-159; R. K IESSLING , Geschichte Schwabens (Anm. 5), S. 184f. Zur Demographie Ostschwabens im 17. Jahrhundert: W ERNER L ENGGER , Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, 2 Bde. (Historische Migrationsforschung in Bayerisch-Schwaben 2), Augsburg 2002. 7 M. B EER , Flucht und Vertreibung (Anm. 1), S. 118-127; M. VON E NGELHARDT , Bewältigung (Anm. 1), S. 225-232; J OHANN H ANDL , War die schnelle Integration der Vertriebenen ein Mythos? , in: R. E NDRES (Hg.), Vierter Stamm (Anm. 1), S. 183-214, hier 184, 186f. <?page no="251"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 252 Eingliederung in das Wirtschafts- und Berufsleben, die mitunter um den Preis eines spürbaren sozialen Abstiegs erkauft wurde. Laut einer bundesweiten Umfrage aus dem Jahre 1985 fühlten sich gerade in Bayern überdurchschnittlich viele Vertriebene nicht als voll anerkannte Mitglieder der Gesellschaft. 8 Dies legt die Vermutung nahe, dass der Eingliederungsprozess bei Teilen der ›Neubürger‹ selbst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch keineswegs abgeschlossen war. Ein durch Zwangsmigration verursachter Bruch in der persönlichen Biographie konnte sich auf die individuelle Integration eines Vertriebenen offenbar sehr unterschiedlich auswirken. Da die ›Neubürger‹ aus der Tschechoslowakei die weitaus größte Vertriebenengruppe im Regierungsbezirk Schwaben bildeten, stehen die Wanderschicksale von drei Sudetendeutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs 59, 36 und 28 Jahre alt waren, im Mittelpunkt dieses Beitrags. Das entscheidende Auswahlkriterium bildete dabei der Umstand, dass sich die Lebenswege dieser Männer zwischen Böhmen und Bayerisch-Schwaben durch die Auswertung einschlägiger Quellen aus verschiedenen Archiven etwas näher beleuchten ließen. 9 Einige Exkurse in die böhmische und österreichische Geschichte sollen die jeweiligen biographischen Hintergründe etwas heller ausleuchten. 2. Der Publizist und Versammlungsredner: Emil Stecker Emil Stecker wurde am 18. Januar 1886 in Braunau (tschechisch: Broumov) geboren. 10 Der Vater arbeitete zwar seinerzeit als Webmeister in einem der vielen 8 K. E. F RANZEN , Schirmherrschaft (Anm. 1), S. 59f. 9 Zu einem Ansatz, der die Forschung in Archiven mit der Befragung noch lebender Zeitzeugen verbindet: M ARITA K RAUSS / S ARAH S CHOLL -S CHNEIDER / P ETER F ASSL (Hg.), Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert - grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013. 10 Zu den Stationen des Lebens- und Berufswegs von Emil Stecker bis 1939: StadtA Kempten, Einwohnermeldekartei Kempten: Meldekarte Emil Stecker; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Kempten, 14.11.1952, 17.11.1952; Festrede des Herrn Emil Stecker anläßlich des Heimattreffens des Saazer Landes in Ansbach am 6. Juni 1948, o. O. o. J. [Ansbach 1948]; R UDOLF H EMMERLE , Sudetenland. Wegweiser durch ein unvergessenes Land, Augsburg 1996, S. 70, 125f., 332-334. Zur Zäsur des Jahres 1918: M ANFRED A LEXANDER , Kleine Geschichte der böhmischen Länder, Stuttgart 2008, S. 387-398. Zum Verbandswesen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei: D ETLEF B RANDES , Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938 (Veröff. des Collegium Carolinum 107), München 2008, S. 4, 12, 85; W ALTER Z IEGLER , Politische Entwicklungen in der Habsburgermonarchie und in der Tschechoslowakei, in: D ERS . (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, <?page no="252"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 253 Textilbetriebe dieser nordostböhmischen Bezirksstadt, stammte aber ebenso wie die Mutter ursprünglich aus Gablonz an der Neiße (Jablonec nad Nisou). Die prosperierende nordböhmische Heimatstadt seiner Eltern bot Emil Stecker die Möglichkeit zum Aufbau einer ersten beruflichen Existenz in der dortigen Glas- und Schmuckwarenindustrie. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in der Kaiserstadt Wien im Jahre 1912 bestärkte den jungen Mann in seiner positiven Einstellung zum alten Österreich. Kurz nach seiner Eheschließung im Mai 1914 in Gablonz brach der Erste Weltkrieg aus, in dem er Militärdienst leisten musste. Als der Krieg im Herbst 1918 mit der Niederlage und dem Zerfall der Habsburger-Monarchie endete, fand Emil Stecker sich ebenso wie alle anderen deutschsprachigen Einwohner Böhmens praktisch über Nacht als Angehöriger einer nationalen Minderheit, für die allmählich der Sammelbegriff ›Sudetendeutsche‹ üblich wurde, in der neu gegründeten Tschechoslowakei wieder. Nach dem Besuch einer Wiener Rednerschule arbeitete Stecker ab 1923 als Sekretär beim Verband der Forst- und Güterbeamten in der nordböhmischen Industriestadt Reichenberg (Liberec), einem Zentrum der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei. Zudem war Stecker im Bund der Deutschen in Böhmen sowie im Deutschen Kulturverband aktiv. Beide Organisationen galten als bedeutende ›nationale Schutzverbände‹ der deutschen Minderheit im ›Volkstumskampf‹. Politisch und publizistisch stand Emil Stecker nach 1918 im Lager der ›Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei‹ (DNSAP) in der Tschechoslowakei. 11 Die Anfänge dieser Gruppierung reichten bis in die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurück. Am Beginn der Entwicklung stand das gegen die liberalen Eliten der österreichischen Monarchie gerichtete ›Linzer Programm‹ von 1882. 12 Mit seinen deutschnationalen und sozialpolitischen Forderungen beeinflusste es nicht nur die Entwicklung der sozialdemokratischen und der christlich-sozialen Partei Österreichs, sondern bildete auch den Ausgangspunkt einer deutschnationalantislawischen und tendenziell antisemitischen ›völkischen‹ Arbeiterbewegung. Bei der mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung im stark industrialisierten Nordböhmen fand diese politische Richtung einen gewissen Anklang, denn sie wandte sich gegen die Zuwanderung tschechischsprachiger Arbeitskräfte, die als Lohndrücker galten. Nach diversen organisatorischen Anläufen kam es schließlich 1903 Erfahrung 2 (Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge 5), München 1999, S. 526-551, hier 541. Eine Foto von Emil Stecker liegt nicht vor. 11 Zur politischen Ausrichtung von Emil Stecker bis 1933: BayHStA München, StK 14841: Emil Stecker an Ministerpräsident Dr. Goegner [richtig: Hoegner], 20.11.1946; E MIL S TE - CKER , Sudetendeutsches Grenzland. Auf dem Wege zur Selbstbehauptung? , Görlitz 1931. 12 M. A LEXANDER , Böhmische Länder (Anm. 10), S. 355-357; B RIGITTE H AMANN , Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 342-346, 366-374; M ICHAEL W LA - DIKA , Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie, Wien u. a. 2005, S. 146-158, 348-352, 516-530. <?page no="253"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 254 zur Gründung der ›Deutschen Arbeiterpartei‹ (DAP), die in scharfer Konkurrenz zur übernational ausgerichteten Sozialdemokratie im österreichischen Vielvölkerstaat agierte. Die DAP benannte sich im Frühjahr 1918 in ›Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei‹ (DNSAP) um. 13 Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns firmierte der böhmische Teil der Partei ab Herbst 1919 zwar als ›DNSAP der Tschecho-Slowakei‹, lehnte den neuen Staat aber strikt ab und forderte Autonomierechte für die deutschen Siedlungsgebiete Böhmens sowie als Fernziel die Zusammenfassung der deutschen Siedlungsgebiete in Europa zum demokratischen, sozialen und alldeutschen Reiche. 14 Die DNSAP knüpfte bereits 1919 Verbindungen nach München zu einer damals noch völlig unbedeutenden Splittergruppe, die sich wie der DNSAP-Vorläufer zunächst ›Deutsche Arbeiterpartei‹ (DAP) und schließlich ›Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei‹ (NSDAP) nannte. 15 Im Unterschied zur NSDAP Adolf Hitlers galt die DNSAP jedoch als echte Arbeiterpartei, in der antisemitische Tendenzen zunächst nur eine untergeordnete Rolle spielten. Sie kannte auch kein ›Führerprinzip‹ und regelte ihre inneren Angelegenheiten nach demokratischen Grundsätzen. Die DNSAP war seit 1920 mit Abgeordneten im tschechoslowakischen Parlament vertreten, doch ab etwa 1927 verschärfte sie ihren Kurs gegen den ungeliebten Staat und radikalisierte ihren Antisemitismus. 16 Damit passte die DNSAP sich immer mehr der NSDAP im Deutschen Reich an, was schließlich im Herbst 1933 zum Verbot der Partei führte. Die Mitglieder und Funktionäre der DNSAP schlossen sich daraufhin mehrheitlich der neu gegründeten ›Sudetendeutschen Partei‹ (SdP) an, die unter der Führung Konrad Henleins bis 1938 alle politischen Gruppierungen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei mit Ausnahme der Sozialdemokraten und der Kommunisten aufsaugte. Ein Kreis ehemaliger DNSAP-Mitglieder um den Parlamentsabgeordneten Hugo Simm aus Nordböhmen und den früheren Senator Adam Fahrner trat jedoch 13 R ALF G EBEL , »Heim ins Reich! « Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938- 1945) (Veröff. des Collegium Carolinum 83), 2. Aufl. München 2000, S. 27-30; M. W LA - DIKA , Hitlers Vätergeneration (Anm. 12), S. 577-590, 615; W. Z IEGLER , Politische Entwicklungen (Anm. 10), S. 540f. 14 E. S TECKER , Sudetendeutsches Grenzland (Anm. 11), S. 11. 15 H UGO S IMM , Um Schule, Scholle, Arbeitsplatz. Erinnerungen eines sudetendeutschen Parlamentariers, Bayreuth 1968, S. 60f., 64-67, 81; M. W LADIKA , Hitlers Vätergeneration (Anm. 12), S. 565f., 599, 618-623. Der Titel der Erinnerungen von Hugo Simm greift eine alte Wahlparole der DNSAP auf; D. B RANDES , Krisenjahr 1938 (Anm. 10), S. 2. 16 D. B RANDES , Krisenjahr 1938 (Anm. 10), S. 1-4, 61-65; H. S IMM , Um Schule, Scholle, Arbeitsplatz (Anm. 15), S. 70, 72; M. W LADIKA , Hitlers Vätergeneration (Anm. 12), S. 608. Zu Konrad Henlein sowie zur Entstehung der SdP: R. G EBEL , »Heim ins Reich! « (Anm. 13), S. 25-50. <?page no="254"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 255 1933 nicht zur SdP über. 17 Beide Politiker hatten stets die eigenständige Tradition der DNSAP betont und die zunehmende Anpassung an die NSDAP Adolf Hitlers deshalb mit großer Skepsis verfolgt. Weder Simm noch Fahrner, der bereits 1929 aus der DNSAP ausgeschieden war, wollten die SdP unter dem Vorsitz von Konrad Henlein als Einheitspartei der deutschsprachigen Bevölkerung akzeptieren. Nach Gesprächen zwischen Simm und Vertretern der tschechoslowakischen Regierung entstand im Frühjahr 1935 eine neue politische Gruppierung unter dem alten Namen ›Deutsche Arbeiterpartei‹ (DAP), der auf den Ursprung der verbotenen DNSAP verwies. In diesem politischen Umfeld finden wir auch Emil Stecker: Er übernahm das Amt des DAP-Landessekretärs für Böhmen. Die neue DAP mit Sitz in Gablonz gab sich politisch gemäßigt und stand in scharfem Gegensatz zur SdP, blieb aber völlig unbedeutend, da sie selbst unter den ehemaligen Mitgliedern der DNSAP nur wenige Anhänger gewinnen konnte. Nach der Eingliederung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich im Herbst 1938 und der Überführung der SdP in die NSDAP bekamen die früheren Kritiker aus den Reihen der erfolglosen DAP das Missfallen der neuen Machthaber zu spüren. 18 Hugo Simm und seine Mitstreiter sahen sich politischen Anfeindungen bis zum Vorwurf des ›Volksverrats‹ ausgesetzt. Emil Stecker wurde sogar zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er von November 1939 bis 1941 in der Haftanstalt Bautzen verbüßte. Anschließend fand er eine neue Anstellung beim ›Reichsinnungsverband der Installateure 17 BayHStA München, StK 14841: Emil Stecker an Ministerpräsident Dr. Goegner [richtig: Hoegner], 20.11.1946; M ADS O. B ALLING , Von Reval bis Bukarest. Statistisch-Biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1945, Bd. 1, Kopenhagen 1991, S. 300f., 370; Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Teil IV: Vom Vorabend der Machtergreifung in Deutschland bis zum Rücktritt von Präsident Masaryk 1933-1935, Auswahl, Einleitung und Kommentar von H EIDRUN D OLEZEL / S TEFAN D OLEZEL (Veröff. des Collegium Carolinum 49/ IV), München 1991, S. 217f., 241, 243f.; H. S IMM , Um Schule, Scholle, Arbeitsplatz (Anm. 15), S. 66f., 79-91. Zur politischen Tätigkeit von Emil Stecker in diesen Jahren: ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kempten, 17.11.1952. Zur Entwicklung der Tschechoslowakei zwischen 1935 und 1938: M. A LEXANDER , Böhmische Länder (Anm. 10), S. 438-451; D. B RANDES , Krisenjahr 1938 (Anm. 10), S. 311-319; R. G EBEL , »Heim ins Reich! « (Anm. 13), S. 51-60. 18 BayHStA München, StK 14841: Emil Stecker an Ministerpräsident Dr. Goegner [richtig: Hoegner], 20.11.1946; H. S IMM , Um Schule, Scholle, Arbeitsplatz (Anm. 15), S. 109, 117. Zu den Stationen des Lebens- und Berufswegs von Emil Stecker zwischen 1939 und 1945: BayHStA München, OMGB 10/ 108-3/ 022: Politisches Gutachten über die Tätigkeit des Emil Steker [richtig: Stecker] von SPD-Kreissekretär Kudernatsch (Markt Oberdorf), 13.1.1948; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kempten, 14.11.1952; ›Der Lichtblick‹, Mitte November 1948; R. H EMMERLE , Sudetenland (Anm. 10), S. 340. Zur Überführung der SdP in die NSDAP: R. G EBEL , »Heim ins Reich! « (Anm. 13), S. 128-136. <?page no="255"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 256 und Klempner‹ in Reichenberg. Mit seiner Ehefrau lebte er in Röchlitz (Rochlice), das bis zur Eingemeindung nach Reichenberg 1939 eine selbstständige Kleinstadt gewesen war. Während der Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/ 46 bemühte Hugo Simm sich bei den tschechoslowakischen Behörden um Aussiedlungserleichterungen für seine Freunde aus der ehemaligen DAP. 19 Tatsächlich konnte auch Emil Stecker das Land unter vergleichsweise günstigen Bedingungen mit einem Sondertransport verlassen, da er wegen seiner zeitweiligen Inhaftierung als politisch Verfolgter des Nationalsozialismus galt. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt im örtlichen Flüchtlingslager bezog das Ehepaar Stecker Mitte Dezember 1946 eine Wohnung in Kempten, der größten Stadt des Allgäus. 20 Noch im Lager verfasste Emil Stecker ein Schreiben an den bayerischen Ministerpräsidenten Hoegner. Darin übertrieb er fernab jeder historischen Realität die Bedeutung der Splitterpartei DAP als Stimme der politischen Mäßigung, während die SdP willig den Parolen der NSDAP gefolgt sei. Das Deutsche Reich habe alle Ansätze zu einer Verständigung zwischen den Sudetendeutschen und der Regierung in Prag torpediert. Die Aussiedlung sei daher letztlich auch eine unmittelbare Folge der Hitler’schen Wahnsinnspolitik. 21 Bayern müsse den Vertriebenen nun Betreuung und Zukunftsperspektiven bieten, damit das Aufnahmeland zu einer neuen Heimat werden könne. Andernfalls drohe eine politische Radikalisierung der Sudetendeutschen. Die ›Neubürger‹ sollten sich ihrerseits aufbauwillig und konstruktiv zeigen. Stecker schrieb, er habe bereits mit etlichen vertriebenen Landsleuten über den möglichen Anschluss an eine bestimmte politische Richtung diskutiert. Er selbst trat schließlich der ›Christlich-Sozialen Union‹ (CSU) bei. 22 Allerdings war die CSU damals weithin eine 19 BayHStA München, OMGB 10/ 108-3/ 022: Politisches Gutachten über die Tätigkeit des Emil Steker [richtig: Stecker] von SPD-Kreissekretär Kudernatsch (Markt Oberdorf), 13.1.1948; H. S IMM , Um Schule, Scholle, Arbeitsplatz (Anm. 15), S. 117f. Hugo Simm konnte erst im Juni 1948 nach Bayern ausreisen und wirkte später als Kommunalpolitiker im Regierungsbezirk Oberfranken; ›Fränkische Presse‹, 20.2.1965; M. O. B ALLING , Von Reval bis Bukarest (Anm. 17), S. 300. 20 StadtA Kempten, Einwohnermeldekartei Kempten: Meldekarte Emil Stecker; BayHStA München, StK 14841: Emil Stecker an Ministerpräsident Dr. Goegner [richtig: Hoegner], 20.11.1946. 21 BayHStA München, StK 14841: Emil Stecker an Ministerpräsident Dr. Goegner [richtig: Hoegner], 20.11.1946. 22 BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 035: Aktenvermerk von Alfred Kiss (ICD Augsburg), 2.10.1947; ebd., OMGB 10/ 083-3/ 003: Vierteljahresbericht der OMGB- Außenstelle Kaufbeuren, 1.10.1947-31.12.1947; ebd., SdA, B 3, 75: Dipl.-Ing. Baumgartl an Herlinger (Hauptausschuß der Flüchtlinge und Ausgewiesenen in Bayern), 25.4.1948; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren, 27.2.1956; K. E. F RANZEN , Schirmherrschaft (Anm. 1), S. 96-98. <?page no="256"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 257 Partei der Einheimischen, die nur geringes Verständnis für die Belange der Vertriebenen aufbrachte. Das Einwohnermeldeamt Kempten führte Emil Stecker in seiner Kartei unter der Berufsbezeichnung ›Journalist‹. 23 Tatsächlich entwickelte Stecker sich rasch zu einem bei den ›Neubürgern‹ sehr bekannten Publizisten und Versammlungsredner. Öffentlich trat er erstmals in Erscheinung, als im Januar 1947 in der Tageszeitung ›Der Allgäuer‹ ein Kommentar erschien, der das Unbehagen der einheimischen Bevölkerung über die große Zahl der Vertriebenen im Allgäu mit deutlichen Worten zum Ausdruck brachte. 24 Stecker sah darin einen Angriff auf die unfreiwilligen ›Neubürger‹ und reagierte höchst empört. Sein eigentliches Tätigkeitsfeld fand er jedoch erst, als ein Kreis vertriebener Troppauer um den Rechtsanwalt Dr. Alfred Hampel und den Oberbaurat Adolf Kühnel im Frühjahr 1947 von Memmingen aus den Zusammenschluss der Sudetendeutschen nach dem landsmannschaftlichen Prinzip auf der Basis der gemeinsamen Heimat propagierte. 25 Das Ziel dieses ›Memminger Arbeitskreises‹ lautete: Im Gedanken an eine ev[entuelle] Heimkehr dürfen wir nicht in Lethargie u[nd] Stagnation verfallen u[nd] müssen uns auf alle Fälle zur Selbsthilfe eine Organisation schaffen, die imstande ist, unsere Interessen zu vertreten u[nd] zu wahren. 26 Nach dieser Vorgabe entstanden in Schwaben schrittweise bis Anfang 1949 etliche Kreisverbände und der Bezirksverband der ›Sudetendeutschen Landsmannschaft‹ (SL). Im Süden des Regierungsbezirks Schwaben war der Aufbau der SL eng mit dem Wirken Emil Steckers verknüpft. 27 Von Kempten aus warb Stecker ab Mitte 1947 bei den Sudetendeutschen im Allgäu und teilweise darüber hinaus für die Bildung landsmannschaftlicher Strukturen. Bei einer Veranstaltung in Kaufbeuren erklärte er im September 1947, die Sudetendeutschen wollten sich wenigstens durch den Zusammenschluß das Gefühl ihrer alten Zusammengehörigkeit und die Erinnerung an die Heimat erhalten. 28 Bis 1949 sprach er auf vielen Versammlungen immer wieder über 23 StadtA Kempten, Einwohnermeldekartei Kempten: Meldekarte Emil Stecker. 24 StadtA Kaufbeuren, A 103390: Emil Stecker an Bürgermeister Dr. Volkhardt (Kaufbeuren), 5.2.1947, Bürgermeister Dr. Volkhardt (Kaufbeuren) an Emil Stecker, 8.2.1947; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Kempten, 25.1.1947, 5.2.1947. 25 M ANFRED H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft. Entstehung und Entwicklung sudetendeutscher Interessengruppen im Regierungsbezirk Schwaben 1945- 1960, in: P ETER F ASSL (Hg.), Beiträge zur Nachkriegsgeschichte von Bayerisch-Schwaben 1945-1970. Tagungsband zu den wissenschaftlichen Tagungen von 2006, 2007 und 2008 (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 2), Augsburg 2011, S. 117-148, hier 133-138, 141-145. 26 BayHStA München, SdA, Heimatberichte 1515: Protokoll über die Zusammenkunft der Sudetendeutschen in Memmingen am 22.03.1947. 27 M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 138-142; Festrede von Emil Stecker in Ansbach (Anm. 10). 28 ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 10.9.1947. <?page no="257"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 258 Themen wie ›Die Heimat in Vergangenheit und Gegenwart‹, ›Gebt uns unsere Heimat wieder‹, ›Das Recht auf unsere alte Heimat‹, ›Der Kampf um unsere Lebensrechte‹ oder ›Unser Recht auf Raum und Brot‹. Stecker sah die Sammlung der Sudetendeutschen in einer Landsmannschaft lediglich als notwendigen ersten Schritt, dem möglichst rasch die Rückkehr in die alte Heimat folgen sollte. Nur dort besaßen die Sudetendeutschen nach seiner wiederholt geäußerten Ansicht überhaupt eine Zukunft, keinesfalls aber im zerstörten und überbevölkerten Deutschland. Eine erfolgreiche Eingliederung seiner Landsleute etwa in Bayern hielt er für völlig unwahrscheinlich. Steckers zahlreiche Vorträge, in denen er der Verbitterung vieler ›Neubürger‹ über ihr Schicksal eine Stimme verlieh und Hoffnungen auf eine schnelle Rückkehr in die Heimat weckte, riefen bei manchen Vertriebenen begeisterte Zustimmung, bei anderen jedoch entschiedene Ablehnung hervor. 29 In Markt Oberdorf gelang es ihm, sudetendeutsche Sozialdemokraten, die als anerkannte ›Antifaschisten‹ in das Allgäu ausgesiedelt worden waren, für die landsmannschaftliche Idee zu begeistern. Nach seinem Auftritt im September 1947 reichten der dortige Flüchtlingskommissar Wundrak, der ebenfalls aus dem Sudetenland stammte, sowie der Kreisverband der ›Sozialdemokratischen Partei Deutschlands‹ (SPD) Beschwerden bei der amerikanischen Militärregierung für Bayern (›Office of Military Government for Bavaria‹, OMGB) ein, weil Stecker in seiner Rede Gewalt bei der Rückgewinnung der alten Heimat nicht ausgeschlossen und den Tschechen Vergeltung für die Vertreibung angedroht habe. 30 Die Eingliederung der ›Neubürger‹ werde durch derartige Äußerungen ganz erheblich erschwert. Die OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf erteilte Stecker daraufhin eine Verwarnung. Seine Aktivitäten wurden von der Besatzungsmacht fortan aufmerksam verfolgt. Alfred Hampel vom ›Memminger Arbeitskreis‹ plädierte deshalb für Zurückhaltung gegenüber Stecker, der als äußerst scharfer Redner bekannt ist […]. Als verantwortlicher Funktionär muß man vorsichtiger sprechen, weil mit Brandreden unserem Verband nur geschadet werden kann. 31 29 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Kempten, 25.9.1948, 5.10.1948; ›Der Lichtblick‹, Mitte November 1948; M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 141. 30 BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 035: Flüchtlingskommissar Wundrak (Markt Oberdorf) an die Informationskontrolle Augsburg, 30.9.1947; ebd., OMGB 10/ 108-3/ 022: Politisches Gutachten über die Tätigkeit des Emil Steker [richtig: Stecker] von SPD-Kreissekretär Kudernatsch (Markt Oberdorf), 13.1.1948; IfZ-Archiv München, POLAD 805/ 17: Aktenvermerk von Vizekonsul Delmar R. Carlson (US-Generalkonsulat München), 16.2.1948. 31 BayHStA München, SdA, Heimatberichte 1515: Protokoll über die Zusammenkunft der Sudetendeutschen in Memmingen am 20.12.1947. Den Verzicht auf Rache und Vergeltung erklärte die Charta der deutschen Heimatvertriebenen am 5.8.1950; M ATTHIAS S TICKLER , Die deutschen Vertriebenenverbände - Interessengruppen mit gesamtnationalem Anspruch, in: Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte <?page no="258"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 259 Ein Artikel Steckers im Mitteilungsblatt der ›Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung‹ (WAV) vom Februar 1948 mit scharfen Angriffen auf die Tschechoslowakei führte zu einem zeitweiligen Verbot dieses Mitteilungsblatts durch die Besatzungsmacht. 32 Stecker nutzte zudem die von der WAV-Flüchtlingsabteilung herausgegebene Zeitschrift ›Der Lichtblick‹ (erschienen in München) als Forum für seine Veröffentlichungen. Weitere Beiträge publizierte er, teilweise als Bevollmächtigter der ›Deutschen Liga für Menschenrechte‹, in anderen Vertriebenen-Periodika wie etwa in ›Sudetenland Heimatland‹ (Detmold), im ›Sudetendeutschen Heimat- Dienst‹ (Kulmbach) und im ›Isergebirgs-Heimatbrief‹ (Kaufbeuren). 33 Ferner veröffentlichte Stecker ohne Genehmigung der Besatzungsmacht etwa 20 Mitteilungsblätter. Während Stecker unmittelbar nach seiner Ankunft in Bayern noch Ansätze zu einer realistischen Sichtweise des Vertriebenenproblems gezeigt hatte, wirkten seine Publikationen nunmehr wie ein Echo seiner Zeit in der ›völkischen‹ Arbeiterbewegung Böhmens. Inhaltlich dominierten Themen wie die Verklärung des alten Österreich, die Kritik an der Tschechoslowakei und ihrem Präsidenten Edvard Beneš, die Rolle der Sudetendeutschen als Bollwerk gegen Panslawismus und Kommunismus, die Verurteilung der Vertreibung sowie die Notwendigkeit einer baldigen Rückkehr in die Heimat. Ein offizieller Antrag Steckers auf Erteilung einer Presselizenz wurde von der zuständigen OMGB-Dienststelle abgelehnt, weil seine propagandistische Tätigkeit als unerwünscht galt. 34 Vor der ersten Bundestagswahl 1949 warb Emil Stecker in etlichen Versammlungen für die ›Freie Demokratische Partei‹ (FDP), die sich in ihrem Programm für das Recht der Vertriebenen auf Heimkehr einsetzte. 35 Dabei betonte er jedoch, dass die FDP für ihn lediglich ein Instrument im Kampf um die Rückgewinnung der alten Heimat sei. Danach wurde es zunehmend ruhig um Stecker, der in Bayern weder beruflich noch politisch Fuß fassen konnte. Zuletzt führte er die der Bundesrepublik Deutschland, hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bonn-Bielefeld 2006, S. 144-153, hier 145. 32 IfZ-Archiv München, POLAD 805/ 17: Aktenvermerk von Vizekonsul Delmar R. Carlson (US-Generalkonsulat München), 16.2.1948, Konsul E. Tomlin Bailey (US-Generalkonsulat München) an Warren M. Chase (Büro des OMGUS-Direktors für politische Angelegenheiten), 26.3.1948; ›Der Lichtblick‹, April 1948, August 1948, Oktober 1948. 33 IfZ-Archiv München, POLAD 805/ 17: Konsul E. Tomlin Bailey (US-Generalkonsulat München) an Warren M. Chase (Büro des OMGUS-Direktors für politische Angelegenheiten), 26.3.1948; ›Sudetenland - Heimatland‹, 1.11.1948, 1.12.1948; ›Sudetendeutscher Heimat-Dienst‹, Dezember 1948, März 1949; ›Isergebirgs-Heimatbrief‹, März 1949. Im IfZ- Archiv München befindet sich unter der Signatur ED 707 ein Bestand zur Deutschen Liga für Menschenrechte, der jedoch erst 1956 einsetzt. 34 BayHStA München, SdA, B 3, 216: Bernhard Eichler (Schwäbische Landeszeitung) an den Hauptausschuß der Flüchtlinge und Ausgewiesenen in Bayern, 2.6.1948. 35 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Markt Oberdorf, 4.8.1949, 13.8.1949. <?page no="259"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 260 Berufsbezeichnung ›Schriftsteller‹. Auch in der Sudetendeutschen Landsmannschaft spielte er keine Rolle mehr, nachdem er sich Anfang 1949 gegen die Wahl Rudolf Lodgmans von Auen zum Vorsitzenden des SL-Landesverbands Bayern ausgesprochen und ihn als Mann kritisiert hatte, der in der alten Heimat von einer politischen Katastrophe in die andere sprang […]. 36 Emil Stecker starb am 12. November 1952 im Alter von 66 Jahren in Kempten. 37 Die Todesanzeige fasste für die Nachwelt zusammen: Sein Leben nach der Vertreibung war ein unermüdlicher Kampf um die Wiedergewinnung der verlorenen Heimat. 38 Dennoch ist seine Person im Allgäu heute so gut wie vergessen. 3. Der Wirtschaftsjurist und Verbandsfunktionär: Dr. Fritz Enz Etwa eine Generation liegt zwischen Emil Stecker und Dr. Fritz Enz, der am 25. September 1908 in Holschitz (Holešice) im nordwestböhmischen Bezirk Komotau (Chomutov) geboren wurde. 39 Seinen eigentlichen Vornamen Friedrich verwendete der Sohn eines Bürgerschulrektors im späteren Leben nur noch selten. Fritz Enz besuchte zunächst das Humanistische Gymnasium in Komotau, wechselte dann aber zur Höheren Staatsgewerbeschule für Elektrotechnik, die er 1928 als graduierter Ingenieur verließ. Danach legte er am Humanistischen Gymnasium die Matura (Reifeprüfung) ab und begann ein Studium an der Juristischen Fakultät der Deutschen Karlsuniversität in Prag, das er 1933 mit der Promotion zum Doktor der Rechts- und Staatswissenschaften beendete. Auf den Studienabschluss folgte der Wehrdienst in der tschechoslowakischen Armee. 36 BayHStA München, SdA, B 20, 29: Emil Stecker an Rudolf Lodgman von Auen, 20.1.1949. Rudolf Lodgman von Auen, der in der Tschechoslowakei als Politiker gescheitert war, kam über die sowjetische Besatzungszone 1947 als Vertriebener nach Bayern, entwickelte sich hier zur führenden Persönlichkeit der Sudetendeutschen und wurde 1950 zum ersten Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft in der Bundesrepublik Deutschland gewählt; M. O. B ALLING , Von Reval bis Bukarest (Anm. 17), S. 328; M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 136, 143; R UDOLF O HLBAUM , Bayerns vierter Stamm - die Sudetendeutschen. Herkunft - Neubeginn - Persönlichkeiten, 2. Aufl. München 1981, S. 60. 37 StadtA Kempten, Einwohnermeldekartei Kempten: Meldekarte Emil Stecker. 38 ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kempten, 14.11.1952. 39 Zu den Stationen des Lebens- und Berufswegs von Dr. Fritz Enz bis 1938 ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1958], Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; R. O HLBAUM , Die Sudetendeutschen (Anm. 36), S. 93; S USANNE R ÖSSLER / G ERHART S TÜTZ (Hg.), Neugablonz. Stadtteil der ehemals Freien Reichsstadt Kaufbeuren im Allgäu. Entstehung und Entwicklung (Gablonzer Bücher 50), Schwäbisch Gmünd 1986, S. 572. <?page no="260"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 261 Abb. 1: Dr. Fritz Enz (1908-1990). Aufnahme von 1958. <?page no="261"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 262 Der Eintritt ins Berufsleben verzögerte sich dadurch bis zum Jahre 1936. Nach einer kurzzeitigen Anstellung bei der Stadt Komotau wechselte Fritz Enz als Steuerreferent zum ›Deutschen Hauptverband der Industrie in der Tschechoslowakei‹ in Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov). Nach der Eingliederung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich im Herbst 1938 wurde der Deutsche Hauptverband der Industrie als Abteilung in die neu geschaffene ›Wirtschaftskammer Sudetenland‹ mit Sitz in Reichenberg überführt. 40 Diese Institution besaß den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und fungierte als Dachverband der Industrie- und Handelskammern und als zentrale Wirtschaftsorganisation in den Sudetengebieten. Mit dem Deutschen Hauptverband der Industrie kam auch der junge Wirtschaftsjurist Fritz Enz nach Reichenberg zur Wirtschaftskammer und übte dort von 1938 bis 1945 verschiedene Tätigkeiten aus. 41 In Reichenberg heiratete er und gründete eine Familie. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem er keinen Militärdienst leisten musste, war Enz stellvertretender Geschäftsführer der Industrieabteilung der Wirtschaftskammer sowie in Personalunion auch Geschäftsführer der Wirtschaftsgruppen Lebensmittel- und Bekleidungsindustrie im Sudetenland. Nach eigenen Angaben gehörte er der NSDAP als Parteianwärter an. 42 Eine vorherige Mitgliedschaft in der SdP Konrad Henleins ist sehr wahrscheinlich. Als im Frühjahr 1945 die ersten Maßnahmen der tschechoslowakischen Behörden zur Entrechtung der Sudetendeutschen einsetzten, war auch Fritz Enz unter den unmittelbar Betroffenen. 43 Nach dem Verlust seiner Wohnung in Reichenberg 40 R. G EBEL , »Heim ins Reich! « (Anm. 13), S. 239f.; V OLKER Z IMMERMANN , Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (Veröff. der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 9), Essen 1999, S. 142, 190f. Der Deutsche Hauptverband der Industrie hatte sich bereits im Frühjahr 1938 offen auf die Seite Konrad Henleins und der SdP gestellt; D. B RANDES , Krisenjahr 1938 (Anm. 10), S. 76. 41 Zu den Stationen des Lebens- und Berufswegs von Dr. Fritz Enz bis zum Frühjahr 1945: ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1958], Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; ebd., Schriftgut Dipl.-Ing. Erich Huschka: Gedenkansprache von Dipl.-Ing. Huschka, 11.1.1990; F RITZ E NZ , Der Wille, aus Trümmern Neues zu schaffen, in: P ETER P. N AHM (Hg.), Nach zwei Jahrzehnten. Erlebnisberichte über Flucht, Vertreibung und Eingliederung, 3. Aufl. o. O. o. J. [Wolfenbüttel 1966], S. 85-87, hier 85. 42 ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Gablonzer Industrieverein: Aufstellung der Allgäuer Glas- und Schmuckwaren-Genossenschaft, 2.11.1946. Viele Mitglieder der SdP wurden nach 1938 nur als Parteianwärter in die NSDAP aufgenommen; V. Z IMMERMANN , Die Sudetendeutschen im NS-Staat (Anm. 40), S. 131-135. 43 Zur Biographie von Dr. Fritz Enz zwischen Frühjahr 1945 und Herbst 1945: ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1958], Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 85. Zum <?page no="262"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 263 und der vorübergehenden Einweisung in ein Arbeitslager betrieb er selbst aktiv seine Aussiedlung, da mir unter den waltenden Umständen ein weiteres Verbleiben in der Heimat sinnlos erschien. 44 Das Schicksal seiner Familie, die er kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei Verwandten untergebracht hatte, blieb zunächst ungeklärt. Enz verließ Reichenberg daher am 1. September 1945 ohne seine Angehörigen in einem Sammeltransport, der ihn über Furth im Wald nach Bayern brachte. Vage Hoffnungen auf eine neue Existenz in der Lebensmittelindustrie führten Enz zunächst in die niederbayerische Stadt Landshut, wo er schließlich Verbindung zur Sudetendeutschen Hilfsstelle in München aufnahm. Die ›Hilfsstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten‹, wie der Name dieser Selbsthilfeorganisation offiziell lautete, entstand bereits im Juli 1945 durch die Privatinitiative zweier Brüder, der Rechtsanwälte Dr. Hans Schär und Dr. Gustav Schär, sowie des Bankkaufmanns Roman Herlinger. 45 Zu den Gründern gesellten sich etliche sudetendeutsche Wirtschaftsfachleute und Politiker. Das gemeinsame Schicksal der Vertreibung überbrückte dabei die Gräben zwischen Männern, die in der alten Heimat früher Gegner gewesen waren. Unter den Mitarbeitern der Hilfsstelle befanden sich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie die Sozialdemokraten Peter Stark und Emil Werner, die christlich-sozialen Politiker Hans Schütz und Edmund Leukert sowie Dr. Walter Becher, ehemaliges SdP- und NSDAP-Mitglied. Die Sudetendeutsche Hilfsstelle kann als Vorläufer der späteren Sudetendeutschen Landsmannschaft gelten. Allerdings zeigten die führenden Mitarbeiter der Hilfsstelle in ihrer Einschätzung des Vertriebenenproblems ein hohes Maß an Realismus, denn sie gingen schon im Sommer 1945 davon aus, dass die meisten Sudetendeutschen dauerhaft in Bayern bleiben würden. Fritz Enz entschied sich für eine Tätigkeit bei der Sudetendeutschen Hilfsstelle. 46 Er übersiedelte nach München und baute dort ab Oktober 1945 die Wirtschaftsabteilung auf. Für diese Aufgabe war Enz durch seine frühere Tätigkeit bei der Wirtschaftskammer Sudetenland bestens qualifiziert. Unter seiner Federführung stellte die Wirtschaftsabteilung der Hilfsstelle im Dezember 1945 eine umfangreiche Denkschrift fertig, die eine planvolle und geordnete Umsiedlung von Deutschen aus der Tschechoslowakei nach Bayern sowie die gezielte Aufnahme Ablauf von Entrechtung und Vertreibung 1945: D ETLEF B RANDES , Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, in: Flucht, Vertreibung, Integration (Anm. 31), S. 62-73, hier 69-72. 44 F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 85. 45 S TEFAN G RÜNER , Geplantes »Wirtschaftswunder«? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 58), München 2009, S. 108f.; M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 122-124. 46 Zur Tätigkeit von Dr. Fritz Enz für die Sudetendeutsche Hilfsstelle in den Jahren 1945/ 46: ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1958], Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 85. <?page no="263"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 264 bestimmter sudetendeutscher Gewerbezweige propagierte. 47 Die Ausarbeitung wurde Anfang Januar 1946 bei persönlichen Vorsprachen allen wichtigen bayerischen Ministerien überreicht und stieß dort auf großes Interesse. Das Ziel der Planungen lautete: Der bayerischen Wirtschaft sollte keine Konkurrenz erwachsen. Also zum Beispiel sudetendeutsche Porzellanfacharbeiter in die oberfränkische keramische Industrie, dafür aber eine geschlossene Ansiedlung und Wiederbelebung der Gablonzer Industrie, die es bisher in Bayern nicht gab. 48 Die Denkschrift sah die Ansiedlung der Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie in den Landkreisen Kaufbeuren und Markt Oberdorf des Regierungsbezirks Schwaben vor. Der Initiator dieses Vorhabens, der ehemalige Luftwaffen-Ingenieur Erich Huschka, hatte sich bereits im Juli 1945 bei der Hilfsstelle registrieren lassen. 49 Nach eigenen Angaben war Huschka sogar der erste dort gemeldete Sudetendeutsche. Fritz Enz kam durch die Arbeit an der Denkschrift erstmals persönlich mit Huschka und dessen Plänen für einen Wiederaufbau der Gablonzer Industrie in Kontakt. Vielfältige Verbindungen zu einheimischen Politikern und Wirtschaftsfachleuten sowie zu staatlichen Behörden ergaben sich durch die Mitarbeit von Enz in der ›Volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Bayern‹ unter der Leitung des Nationalökonomen Adolf Weber, der schon frühzeitig Experten aus den Reihen der Vertriebenen in sein informelles Netzwerk bayerischer Führungseliten integrierte. 50 Die Arbeitsgemeinschaft bildete auf Anregung der Sudetendeutschen Hilfsstelle im Januar 1946 einen Ausschuss für Umsiedlungsprobleme, der im Juli 1946 eigene Vorschläge für die Eingliederung der Vertriebenen in Bayern vorlegte. Fritz Enz leitete den Unterausschuss für Industrie, Handel und Gewerbe. Die im Rahmen der Sudetendeutschen Hilfsstelle und der Volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft angebahnten politischen und persönlichen Kontakte nutzten ihm auch später noch. 47 BayHStA München, LFlüV 6: Denkschrift. Vorschläge betreffend die Unterbringung der deutschen Flüchtlinge aus der CSR und deren Einbau in den Sozial- und Wirtschaftsorganismus Bayerns, undatiert [Dezember 1945]; ebd., StK 14873: Herlinger und Dr. Schär (Hilfsstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten) an Ministerpräsident Dr. Hoegner, 4.1.1946. 48 F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 85. 49 E RICH H USCHKA , Der Beginn, in: S. R ÖSSLER / G. S TÜTZ (Hg.), Neugablonz (Anm. 39), S. 61-88, hier 63, 86. 50 BayHStA München, LFlüV 1828: Adolf Weber (Volkswirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Bayern) an Staatssekretär Dr. Jaenicke (Bayerisches Innenministerium), 15.1.1946, Bericht über die Sitzung der volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Bayern am 22.1.1946; S. G RÜNER , Wirtschaftswunder (Anm. 45), S. 67-72; A DOLF W EBER (Hg.), Seßhaftmachung Heimatloser in Bayern. Auf der Grundlage der in der Volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Bayern gehaltenen Referate, München 1947, S. 1-12. <?page no="264"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 265 Zunächst stand für Enz jedoch eine berufliche Neuorientierung an, denn Ende März 1946 verkündete die amerikanische Militärregierung für Bayern, der Alliierte Kontrollrat habe die Auflösung aller Hilfsstellen und sonstigen Interessengruppen der Vertriebenen angeordnet. 51 Zwischen der Sudetendeutschen Hilfsstelle und der bayerischen Flüchtlingsverwaltung war es seit Anfang 1946 zu ganz erheblichen Spannungen gekommen, da beide Institutionen um die Betreuung der Sudetendeutschen konkurrierten. Die amerikanische Besatzungsmacht unterstützte in diesem Konflikt die von ihr beaufsichtigte Staatsbehörde gegen die nur schwer kontrollierbare Selbsthilfeorganisation der Vertriebenen. Zudem lehnte sie die Pläne der Hilfsstelle für geschlossene Ansiedlungen von Sudetendeutschen in Bayern entschieden ab. Das bedeutete das Ende der Sudetendeutschen Hilfsstelle, doch ihre Abwicklung zog sich noch bis Ende September 1946 hin. Mit dem nahenden Ende seiner Arbeitsstelle konfrontiert, nahm Fritz Enz ein Angebot der Gablonzer Aufbaugruppe um Erich Huschka an und wirkte ab 1. Juli 1946 als Geschäftsführer des kurz zuvor gegründeten Dachverbands der Gablonzer Industrie in Kaufbeuren. 52 Für Enz war der Wechsel ins Allgäu nur konsequent: Hier bot sich für mich die Möglichkeit, die allgemeine Planung im Beispiel eines typischen sudetendeutschen Industriezweiges, wie er sich eindeutiger und klarer nicht besser anbieten konnte, in die Tat umzusetzen. 53 Mittlerweile wieder vereint, übersiedelte die Familie Enz im Herbst 1946 von München nach Kaufbeuren. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand am 31. Mai 1978 leistete Fritz Enz als Geschäftsführer (ab 1951 mit dem Titel Direktor) des Dachverbands der Gablonzer Industrie einen bedeutenden Beitrag zu Wiederaufbau und Wachstum dieses Gewerbezweigs im Allgäu. 54 Die 51 M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 124-127. 52 Zum Wechsel von Dr. Fritz Enz zur Gablonzer Industrie nach Kaufbeuren im Jahre 1946 ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Gablonzer Industrieverein: Protokoll der Gründungsversammlung der Genossenschaft Allgäuer Glas- und Schmuckwarenerzeugung am 12.6.1946; ebd., Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; ebd., Schriftgut Dipl.-Ing. Erich Huschka: Gedenkansprache von Dipl.-Ing. Huschka, 11.1.1990; E. H USCHKA , Der Beginn (Anm. 49), S. 84, 86. 53 F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 86. 54 Zur Biographie von Dr. Fritz Enz zwischen 1946 und 1978: ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; ebd., Schriftgut Dipl.- Ing. Erich Huschka: Gedenkansprache von Dipl.-Ing. Huschka, 11.1.1990; R. O HLBAUM , Die Sudetendeutschen (Anm. 36), S. 93; S. R ÖSSLER / G. S TÜTZ (Hg.), Neugablonz (Anm. 39), S. 572. Zur Entwicklung der Gablonzer Industrie sowie des Kaufbeurer Stadtteils Neugablonz: F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 86f.; M ANFRED H EERDEGEN , Der kommunale Aufbruch. Die Entwicklung der Doppelstadt Kaufbeuren/ Neugablonz (1948 bis 1972), in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN F ISCHER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. 1: Politische Geschichte und Gegenwart einer Stadt, Thalhofen 1999, S. 186-195, hier 186-194; M. H EERDEGEN , Das Ende der Idylle (Anm. 6), S. 156-167. <?page no="265"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 266 Gablonzer Industrie, die zeitweise fast die Hälfte des gesamten Gewerbesteueraufkommens der Stadt Kaufbeuren erwirtschaftete, profitierte besonders in den Kredit- und Finanzfragen der Aufbaujahre vom anerkannten Fachwissen sowie von den ausgezeichneten wirtschaftlichen und politischen Kontakten ihres Geschäftsführers. Die meisten Unternehmer der Gablonzer Industrie, die ab 1946 in das Allgäu kamen, siedelten sich in den Trümmern eines gesprengten Rüstungsgeländes bei Kaufbeuren an. Daraus entstand der heutige Kaufbeurer Stadtteil Neugablonz, der neben Geretsried, Neutraubling, Traunreut und Waldkraiburg zu den fünf großen ›Flüchtlingsstädten‹ in Bayern zählt. Kaufbeuren und Neugablonz, das allein schon wegen seiner Größe kein Stadtteil wie jeder andere ist, bilden faktisch eine Doppelstadt mit zwei verschiedenen Identitäten. Da die Behörden der alten Reichsstadt Kaufbeuren die geschlossene Ansiedlung der Gablonzer Industrie gegen alle äußeren Widerstände unterstützt hatten, befürwortete Fritz Enz stets die Zugehörigkeit von Neugablonz zu Kaufbeuren. Er engagierte sich deshalb auch in der Kommunalpolitik seiner neuen Heimat. Von 1956 bis 1972 gehörte er dem Kaufbeurer Stadtrat an und profilierte sich dort vor allem als Haushaltsexperte sowie als Fraktionssprecher der Freien Wähler, die in Kaufbeuren weitgehend eine Gruppierung der Vertriebenen waren. Neben zahlreichen anderen Ehrenämtern fungierte er zwischen 1955 und 1961 als Wirtschaftsreferent des SL-Kreisverbands Kaufbeuren. Obwohl Enz 1973 bei einem schweren Verkehrsunfall ein Bein verloren hatte, trat er in den Jahren 1975/ 76 energisch dafür ein, in Neugablonz nicht nur ein Museum zur Erinnerung an die alte Heimat, sondern auch eines über den Aufbau des Stadtteils und der Gablonzer Industrie nach 1945 zu planen. Die gezielte Sammlung von Exponaten führte 1976 zur Errichtung des Neugablonzer Industrie- und Schmuckmuseums (seit 2003 Teil des Isergebirgs-Museums Neugablonz). Im Jahre 1972 erhielt Fritz Enz den Bayerischen Verdienstorden, dem 1977 noch das Bundesverdienstkreuz folgte. Eine Bilanz seiner Tätigkeit in Kaufbeuren hatte er bereits 1966 gezogen: Ich hatte das seltene Glück, das Schicksal eines sudetendeutschen Industriezweiges und seiner Menschen an maßgeblicher Stelle mit zu beeinflussen und zu gestalten. 55 Im Ruhestand verschrieb Enz sich ab 1978 vor allem der Sammlung schriftlicher Überlieferungen zur Vertreibung der Sudetendeutschen aus dem Raum Gablonz, zum Wiederaufbau der Gablonzer Industrie sowie zur Geschichte des Kaufbeurer Stadtteils Neugablonz. 56 Damit legte er den Grundstein für das heutige Archiv des Neugablonzer Industrie- und Schmuckmuseums mit seinen zahlreichen 55 F. E NZ , Aus Trümmern (Anm. 41), S. 87. 56 Zur Biographie von Dr. Fritz Enz zwischen 1978 und 1990: ANIM Kaufbeuren, Schriftgut Dr. Fritz Enz: Lebenslauf Dr. Fritz Enz, undatiert [1983]; ebd., Schriftgut Dipl.- Ing. Erich Huschka: Gedenkansprache von Dipl.-Ing. Huschka, 11.1.1990; ›Allgäuer Zeitung‹, Ausgabe Kaufbeuren, 24.9.1988. <?page no="266"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 267 historischen Quellenbeständen. Außerdem verfasste er drei ausführliche und detailreiche Beiträge über den Wiederaufbau und die weitere Entwicklung der Gablonzer Industrie aus seiner Sicht als ehemaliger Geschäftsführer. 57 Dr. Fritz Enz starb nach langer Krankheit am 6. Januar 1990 mit 81 Jahren in Kaufbeuren. 58 Sein Andenken wird im Stadtteil Neugablonz auch heute noch gepflegt. 59 4. Der Flüchtlingskommissar und Parteifunktionär: Heinrich Wundrak Acht Jahre jünger als Fritz Enz war Heinrich Wundrak, der am 1. Februar 1917 in Proschwitz an der Neiße (Prose nad Nisou) im nordböhmischen Bezirk Gablonz das Licht der Welt erblickte. 60 Da sein Vater den gleichen Vornamen trug, verwendete der Sohn in jungen Jahren meist die Kurzform Heinz. Heinrich Wundrak senior stammte aus Gablonz. 61 Der 1894 geborene Textilarbeiter und Gewerkschafter trat 1915 der österreichischen Sozialdemokratie bei. Nach dem Zerfall Österreich- Ungarns lehnten die deutschsprachigen Sozialdemokraten die Tschechoslowakei zunächst strikt ab. Auch Heinrich Wundrak senior wandte sich auf Kundgebungen in seiner nordböhmischen Heimat gegen die Eingliederung der deutschen Siedlungsgebiete Böhmens in den neuen Staat. Der böhmische Teil der österreichischen Sozialdemokratie gründete schließlich im Herbst 1919 die ›Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei‹ (DSAP, offiziell ›Deutsche Sozialdemokratische 57 F RITZ E NZ , Die Allgäuer Glas-, Metall- und Schmuckwaren-Genossenschaft. Gründerjahre, in: S. R ÖSSLER / G. S TÜTZ (Hg.), Neugablonz (Anm. 39), S. 132-151; F RITZ E NZ , Die Allgäuer Glas-, Metall- und Schmuckwarengenossenschaft. Aufbaujahre, in: S. R ÖSSLER / G. S TÜTZ (Hg.), Neugablonz (Anm. 39), S. 271-301; F RITZ E NZ , Der Gablonzer Industrieverein und die Gablonzer Industrie 1955 bis 1985, in: Ebd., S. 302-339. 58 ›Allgäuer Zeitung‹, Ausgabe Kaufbeuren, 9.1.1990. 59 ›Allgäuer Zeitung‹, Ausgabe Kaufbeuren, 25.9.2008. 60 BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 028: Bericht über die Lage im Kreise Markt Oberdorf, 29.8.1946 (hier fälschlich Buschwitz statt Proschwitz als Geburtsort); ›Allgäuer Tagblatt‹, 21.9.1967. 61 Zur Biographie von Heinrich Wundrak senior bis 1938: ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 30.11.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 22.7.1954, 16.5.1959; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, Leitung/ Bearbeitung von W ERNER R ÖDER / H ER - BERT A. S TRAUSS , München u. a. 1980, S. 835 (hier fälschlich Wondrak statt Wundrak). Zu den deutschsprachigen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei: M. A LEXANDER , Böhmische Länder (Anm. 10), S. 393, 408, 426f.; W. Z IEGLER , Politische Entwicklungen (Anm. 10), S. 540f. Zu den Landesvertretungen (Landtagen) in der Tschechoslowakei: A. B OHMANN , Sudetendeutschtum (Anm. 2), S. 85. <?page no="267"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 268 Arbeiterpartei in der tschechoslowakischen Republik‹) und fand nach der Abspaltung der Kommunisten 1920 langsam ein positives Verhältnis zum neuen Staat. Von 1929 bis 1938 stellte die DSAP sogar einen Minister in der tschechoslowakischen Regierung. Der junge Heinrich Wundrak wuchs ab 1920 in der westböhmischen Bezirksstadt Karlsbad (Karlovy Vary) auf, wo sein Vater als hauptamtlicher Parteisekretär und Mitarbeiter der Zeitung ›Volkswille‹ für die DSAP tätig wurde. 62 Geprägt durch sein sozialdemokratisches Elternhaus, durchlief Wundrak sämtliche Kinder- und Jugendorganisationen der DSAP, während sein Vater sich um den Aufbau der Parteiorganisation in Westböhmen verdient machte und 1935 in die böhmische Landesvertretung (Landtag) einzog. Wundrak besuchte die Bürger- und die Handelsschule in Karlsbad. Ab 1931 arbeitete er als kaufmännischer Angestellter und Buchhalter bei der Konsumgenossenschaft der Karlsbader Nachbarstadt Chodau (Chodov). Schon mit 16 Jahren wurde Wundrak Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend des Bezirks Karlsbad. Zudem gehörte er der staatstreuen ›Republikanischen Wehr‹ (von den Parteigängern Konrad Henleins auch ›Rote Wehr‹ genannt) an. Als bekennende Gegner der NSDAP geriet die gesamte Familie Wundrak im Herbst 1938 durch die Eingliederung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich in große Gefahr. Heinrich Wundrak verlor seine Arbeitsstelle und wurde im Oktober 1938 von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet, während seinen Eltern im letzten Moment noch die Flucht nach England glückte. Nach der Haftentlassung wurde er 1939 sofort zur Wehrmacht eingezogen und musste trotz seiner antimilitaristischen Einstellung bis 1945 Kriegsdienst leisten. Im Jahre 1941 heiratete er die 1915 in Karlsbad geborene Anny Barth, die er bereits aus der sozialdemokratischen Jugendbewegung kannte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Wundrak zwar noch einmal in seine Heimatstadt zurück, wurde aber Anfang November 1945 ausgewiesen. Seine Ehefrau durfte die Tschechoslowakei als anerkannte ›Antifaschistin‹ unter günstigeren Bedingungen verlassen. 62 Zur Biographie von Heinrich Wundrak bis zum Herbst 1945: BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 028: Bericht über die Lage im Kreise Markt Oberdorf, 29.8.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 9.10.1946, 30.11.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 7.9.1964, 21.9.1967. Zur Republikanischen Wehr: D. B RANDES , Krisenjahr 1938 (Anm. 10), S. 82, 180. Zu Anny Wundrak (geborene Barth): ›Allgäuer Tagblatt‹, 21.9.1967; C HRISTA B ERGE u. a., Kaufbeurer Frauenlexikon, Mering 2011, S. 126 (hier fälschlich 1945 statt 1941 als Jahr der Eheschließung). <?page no="268"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 269 Abb. 2: Heinrich Wundrak (1917-1967). Aufnahme um 1965. <?page no="269"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 270 Nach einem kurzen Aufenthalt in Nordwürttemberg meldete Wundrak sich bei den Hilfsorganisationen und dem bayerischen Innenministerium in München, um seinen vertriebenen Landsleuten als Helfer beizustehen. 63 Innenminister Seifried ernannte den damals erst 28 Jahre alten Wundrak daraufhin am 29. November 1945 zum Flüchtlingskommissar für den Landkreis Günzburg. Wundrak ließ sich jedoch umgehend in das Allgäu nach Markt Oberdorf versetzen, weil er dort bereits Freunde besaß. Das Flüchtlingskommissariat war im Schlossgebäude oberhalb der Marktgemeinde untergebracht. Mitte Dezember 1945 begann Wundrak mit seiner Tätigkeit. Wenig später wandte er sich über die Tageszeitung ›Der Allgäuer‹ mit einem Aufruf an die Bevölkerung des Landkreises Markt Oberdorf: Wir erwarten die Deutschen, die nun nach Beendigung dieses Krieges noch einmal Opfer des nationalsozialistischen Wahnsinns geworden sind. […] Die Flüchtlinge, die uns […] zugewiesen werden, müssen untergebracht werden. Sie unterscheiden sich von den Evakuierten der Kriegszeit, daß sie für immer bei uns bleiben. 64 Auch später betonte er stets, eine Rückführung der Vertriebenen in ihre Heimatgebiete sei ausgeschlossen. 65 Als die ›Neubürger‹ im Landkreis Markt Oberdorf Anfang 1947 durch Kettenbriefe die Aufforderung erhielten, Petitionen für eine mögliche Rückkehr in die Heimat zu verfassen, wies Wundrak die Gemeindeverwaltungen an, die Vertriebenen seien auf das unsinnige dieser Aktion hinzuweisen. Unterschriften hätte man sicher vor der Aussiedlung gesammelt, wenn damit den Sudetendeutschen die Heimat hätte erhalten werden können. 66 Während die Aufnahme, Betreuung und Unterbringung der Vertriebenen allein der bayerischen Flüchtlingsverwaltung oblag, übte die amerikanische Besatzungsmacht ein Überwachungs- und Kontrollrecht aus. 67 Als Flüchtlingskommissar 63 BayHStA München, LFlüV 222: Regierungsflüchtlingskommissar Vohland (Augsburg) an den Staatskommissar für das Flüchtlingswesen, 3.1.1946; StadtA Marktoberdorf, EAP 465/ 461/ 462: Herbert Brückner an das Gemeindeamt Markt Oberdorf, 13.6.1946; StaatsA Augsburg, ungeordneter Bestand Regierungsflüchtlingsamt, Personal der Flüchtlingsämter: Dienstleistungszeugnis (Entwurf) für Heinz Wundrak, 20.3.1950; ›Mitteilungsblatt für den Landkreis Markt Oberdorf‹, 21.12.1945; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Marktoberdorf, 7.9.1964; ›Allgäuer Tagblatt‹, 21.9.1967; M ANFRED H EERDEGEN , Heimat verloren - Zuhause gewonnen. Dokumentation über die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen im Ostallgäu, Marktoberdorf o. J. [1995], S. 50f. 64 ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 28.12.1945. 65 ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 28.5.1946. 66 StadtA Marktoberdorf, EAP 465/ 461/ 462: Flüchtlingskommissar Wundrak (Markt Oberdorf) an den Bürgermeister von Markt Oberdorf, 14.2.1947; M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 130f. 67 BayHStA München, OMGB 09/ 152-3/ 001: Hauptmann Seymour D. Lubin (Leiter der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf) an den Flüchtlingskommissar des Landkreises Markt Oberdorf, 23.9.1946, Hauptmann Seymour D. Lubin (Leiter der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf) an den Flüchtlingskommissar des Landkreises Markt Oberdorf, 27.11. 1946; M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 126. <?page no="270"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 271 musste Heinrich Wundrak teilweise zweimal pro Woche zu Besprechungen bei der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf erscheinen. Zwischen Februar und November 1946 trafen insgesamt 25 Transporte mit mehr als 11.000 Vertriebenen in Markt Oberdorf ein. 68 Der Landkreis, der vor dem Zweiten Weltkrieg rund 25.000 Einwohner zählte, nahm bis Ende 1946 etwa 14.000 Vertriebene auf, davon allein über 10.000 Sudetendeutsche. Darunter befanden sich drei ›Antifaschisten‹-Transporte mit Möbeln und Hausrat. Die amerikanische Besatzungsmacht wünschte, dass die Vertriebenen nach einem möglichst kurzen Lageraufenthalt grundsätzlich in beschlagnahmten Privatquartieren untergebracht werden sollten. Als zuständiger Flüchtlingskommissar löste Wundrak die Aufnahme und Unterbringung der ›Neubürger‹ durch energisches und effizientes Handeln. Der Landrat von Markt Oberdorf fühlte sich jedoch übergangen, da Wundrak in Flüchtlingsfragen auf seiner alleinigen Zuständigkeit beharrte. Klagen des Landrats und der Bürgermeister über eine zu starke Belegung einzelner Gemeinden mit Vertriebenen ließ er nicht gelten, da auch die Einheimischen einen Teil der Kriegsfolgen tragen müssten. Wegen etlicher dienstlicher Eigenmächtigkeiten entging Wundrak allerdings im September 1946 nur knapp einer Versetzung. 69 Neben seiner Tätigkeit als Flüchtlingskommissar ergriff Heinrich Wundrak die Initiative zur Wiederbelebung der SPD in seiner neuen Heimat. 70 Die Gründung des SPD-Kreisverbands Markt Oberdorf erfolgte am 24. März 1946. Den Vorsitz des Kreisverbands übernahm zwar ein einheimischer Sozialdemokrat, aber im Hintergrund agierte Heinrich Wundrak als treibende Kraft der SPD. 71 Im Herbst 1946 bezeichnete die OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf die SPD sogar als 68 StaatsA Augsburg, ungeordneter Bestand Regierungsflüchtlingsamt, Personal der Flüchtlingsämter: Regierungsflüchtlingskommissar Vohland (Augsburg) an den Staatskommissar für das Flüchtlingswesen, 9.8.1946; BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 028: Bericht über die Lage im Kreise Markt Oberdorf, 29.8.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren- Markt Oberdorf, 28.5.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Markt Oberdorf, 24.7.1948; M. H EER - DEGEN , Heimat verloren (Anm. 63), S. 56-58, 64-78, 149-151. 69 StaatsA Augsburg, ungeordneter Bestand Regierungsflüchtlingsamt, Personal der Flüchtlingsämter: Regierungsflüchtlingskommissar Vohland (Augsburg) an den Staatskommissar für das Flüchtlingswesen, 4.9.1946; BayHStA München, LFlüV 222: Aktenvermerk von Wilhelm Glade (Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen), 7.9.1946. 70 ›Mitteilungsblatt für den Landkreis Markt Oberdorf‹, 22.3.1946, 5.4.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Marktoberdorf, 21.9.1967. 71 BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 028: Bericht über die Lage im Kreise Markt Oberdorf, 29.8.1946; ebd., OMGUS CO 455/ 02: Nachrichtendienstlicher Wochenbericht der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf, 8.11.1946; ebd., OMGB 10/ 083-3/ 006: Allgemeiner Monatsbericht der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf, November 1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Kaufbeuren-Markt Oberdorf, 9.10.1946, 30.11.1946, 4.12.1946; K. E. F RANZEN , Schirmherrschaft (Anm. 1), S. 94-96; Statistisches Jahrbuch für Bayern 1947, hg. vom Bayerischen Statistischen Landesamt, o. O. o. J. [München 1948], S. 344f. <?page no="271"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 272 reine Vertriebenenpartei, die von Flüchtlingskommissar Wundrak und einer Gruppe sudetendeutscher Sozialdemokraten dominiert werde. Die Markt Oberdorfer SPD stellte Wundrak dann auch als Kandidaten für die erste bayerische Landtagswahl nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 1. Dezember 1946 auf. Da viele Vertriebene aber noch nicht wahlberechtigt waren, kamen Wundrak und die SPD in dem von der CSU dominierten Landkreis nur auf 14,6 % der gültigen Stimmen. Der Flüchtlingskommissar (seit September 1947 offiziell Kreisbeauftragter für das Flüchtlingswesen) blieb dennoch ein Mann, der im SPD-Kreisverband Markt Oberdorf großen Einfluss besaß. 72 Zeitweise bekleidete er dort das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden. Wundrak konnte jedoch nicht verhindern, dass sudetendeutsche Sozialdemokraten, die als anerkannte ›Antifaschisten‹ in das Allgäu ausgesiedelt worden waren, sich im Herbst 1947 durch Emil Stecker für die Gründung einer Sudetendeutschen Landsmannschaft im Landkreis Markt Oberdorf begeistern ließen. 73 Der Versuch Wundraks, mit dem ›Förderungsverband zur Eingliederung der Flüchtlinge‹ (FEF) eine Interessenvertretung für Vertriebene ohne landsmannschaftliche Ausrichtung zu schaffen, kam über erste organisatorische Ansätze nicht hinaus. Die Befürworter der SL aus den Reihen der SPD kandidierten bei der Kommunalwahl im Frühjahr 1948 für die Wählergruppe ›Notgemeinschaft‹, die bei den Vertriebenen auf Kosten der SPD einen großen Erfolg erzielte. Die Notgemeinschaft erhob zudem seit dem Sommer 1948 eine Reihe schwerer Vorwürfe gegen Mitarbeiter der Markt Oberdorfer Flüchtlingsverwaltung und gegen Wundrak persönlich. 74 Obwohl sämtliche Anschuldigungen gegen ihn später widerlegt werden konnten, musste Wundrak Mitte Dezember 1948 seine Dienststelle räumen und erhielt kurz darauf die fristlose Kündigung. 75 Nach einem langwierigen Verfahren erreichte er im Juni 1950 vor dem Arbeitsgericht München seine vollständige Rehabilitierung. 76 Auch der Schiedsausschuss seiner Partei konnte ihm keine ehrenrührigen Handlungen nachweisen. 72 BayHStA München, OMGB 10/ 083-3/ 006: Allgemeiner Vierteljahresbericht der OMGB-Außenstelle Markt Oberdorf, 1.10.1947-31.12.1947; ›Mitteilungsblatt für den Landkreis Markt Oberdorf‹, 10.9.1947. Im Jahre 1948 waren 87 % der 628 Mitglieder des SPD-Kreisverbands Markt Oberdorf Sudetendeutsche; D AVID J. S IRCH , Der politische Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg in Marktoberdorf. Facharbeit im Leistungskurs Geschichte am Gymnasium Marktoberdorf 2003 (ungedrucktes Typoskript), S. 10. 73 M. H EERDEGEN , Von der Hilfsstelle zur Landsmannschaft (Anm. 25), S. 132f., 141; D. J. S IRCH , Der politische Neubeginn (Anm. 72), S. 11, 13. 74 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Markt Oberdorf, 24.7.1948, 30.10.1948, 6.11.1948. 75 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Markt Oberdorf, 21.12.1948, 28.12.1948, 29.6.1950. 76 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Markt Oberdorf, 20.2.1950, 29.6.1950. <?page no="272"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 273 Heinrich Wundrak lebte mit seiner Ehefrau Anny weiterhin in Markt Oberdorf und baute sich eine neue Existenz als Handelsvertreter auf. 77 Seit 1946 bestand wieder Kontakt zu Wundraks Eltern, die als Emigranten in England lebten. 78 Ein Jahr später holte Wundrak sie zu sich nach Markt Oberdorf. Heinrich Wundrak senior fungierte von 1948 bis 1954 als hauptamtlicher Geschäftsführer der Gewerkschaft Textil und Bekleidung für die Landkreise Kaufbeuren, Markt Oberdorf, Füssen und Mindelheim sowie von 1948 bis 1953 als Vorsitzender des SPD-Kreisverbands Markt Oberdorf. 79 Nach einem kurzen Intermezzo folgte ihm sein Sohn von 1954 bis 1961 im Vorsitz des SPD-Kreisverbands. 80 Dieses Amt gab er auf, als er 1961 hauptamtlicher Parteisekretär des SPD-Unterbezirks Ingolstadt wurde. Später leitete er den SPD-Unterbezirk Augsburg. Von 1956 bis 1964 gehörte Heinrich Wundrak auch dem Kreistag von Marktoberdorf an. 81 Das Ehepaar Wundrak übersiedelte im Herbst 1964 nach Kaufbeuren. 82 Heinrich Wundrak war dort noch im SPD-Ortsverein aktiv, bis er Ende 1966 wegen einer schweren Krankheit alle haupt- und ehrenamtlichen Tätigkeiten aufgeben musste. Er starb am 19. September 1967 im Alter von nur 50 Jahren in Kaufbeuren. 83 Seine Ehefrau Anny überlebte ihn um mehr als drei Jahrzehnte. 84 Sie starb erst 1999 in Kaufbeuren, wo sie wegen ihres vielfältigen politischen und sozialen Engagements eine bekannte und geachtete Persönlichkeit war. Die Erinnerung an ihren Ehemann hingegen ist heute sowohl in Marktoberdorf wie auch in Kaufbeuren weitgehend verblasst. 77 ›Mitteilungsblatt für den Landkreis Marktoberdorf‹, 13.3.1956; ›Allgäuer Tagblatt‹, 21.9.1967. 78 StadtA Marktoberdorf, EAP 465/ 461/ 462: Herbert Brückner an das Gemeindeamt Markt Oberdorf, 13.6.1946; BayHStA München, OMGB 10/ 066-1/ 028: Bericht über die Lage im Kreise Markt Oberdorf, 29.8.1946; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Marktoberdorf, 22.7. 1954. 79 BayHStA München, OMGB 10/ 083-3/ 006: Allgemeiner Jahresbericht der OMGB- Außenstelle Markt Oberdorf, 1.7.1947-30.6.1948; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 16.6.1953, 22.7.1954, 16.5.1959. Heinrich Wundrak senior starb 1959 in Marktoberdorf; ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Marktoberdorf, 19.5.1959. 80 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 20.7.1954, 30.3.1955, 7.9.1964. 81 ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 22.8.1964, 7.9.1964; ›Mitteilungsblatt für den Landkreis Marktoberdorf›, 29.3.1956. 82 ›Der Allgäuer‹, Ausgabe Kaufbeuren, 4.7.1966; ›Der Allgäuer‹, Ausgaben Marktoberdorf, 7.9.1964, 21.9.1967. 83 ›Allgäuer Tagblatt‹, 21.9.1967. 84 C. B ERGE u. a., Kaufbeurer Frauenlexikon (Anm. 62), S. 126. <?page no="273"?> M ANFR ED H E ERD EGEN 274 5. Drei Wanderschicksale - drei Lebenswege Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede weisen die Biographien der drei vorgestellten Sudetendeutschen, die als Zwangsmigranten aus Böhmen nach Bayern kamen, jenseits des Vertreibungsschicksals auf? Während die Eltern von Fritz Enz zum Bürgertum zählten, entstammte Emil Stecker ebenso wie Heinrich Wundrak einer Familie von Industriearbeitern. Im Gegensatz zu den deutlich jüngeren Enz und Wundrak gehörte der ›völkische‹ Politiker Stecker allerdings noch einer Generation an, die vollständig durch das alte Österreich der Zeit vor 1918 geprägt war. Offene Ablehnung und Distanz charakterisierten Steckers Verhältnis zur neuen tschechoslowakischen Republik. Der Sozialdemokrat Wundrak stand der Tschechoslowakei hingegen grundsätzlich positiv gegenüber. Enz blieb vor 1938 politisch unauffällig und kümmerte sich in erster Linie um seine berufliche Karriere. Im Unterschied zu Enz, der seinen Lebens- und Berufsweg nach der Eingliederung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich durch flexible Anpassung an das neue politische System nahtlos fortsetzen konnte, erlitten Stecker und Wundrak bereits in den Jahren 1938/ 39 einen ersten Bruch in ihrer persönlichen Biographie. Wundrak wurde von den Nationalsozialisten als Gegner eingestuft und verfolgt. Stecker teilte trotz seiner Herkunft aus der ›völkischen‹ Bewegung dieses Schicksal. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Vertreibungsmaßnahmen durch die Tschechoslowakei durfte allerdings nur Stecker als anerkannter politisch Verfolgter 1946 unter vergleichsweise günstigen Bedingungen ausreisen, während der Sozialdemokrat Wundrak ebenso wie der NSDAP-Anwärter Enz bereits 1945 das Sudetenland verlassen mussten. Sie kamen dadurch allerdings ein Jahr früher als Stecker in Bayern an und genossen so möglicherweise einen gewissen Startvorteil. Stecker verweigerte sich der Integration im Aufnahmeland Bayern und propagierte als Versammlungsredner die Rückkehr der Sudetendeutschen in die alte Heimat. Allein schon wegen seines zum Zeitpunkt der Vertreibung bereits vorgerückten Alters fehlte es ihm wahrscheinlich an der für eine erfolgreiche Integration notwendigen Anpassungsfähigkeit. 85 Seine Ersatzheimat fand er in der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Im Gegensatz zu Stecker ließen Enz und Wundrak bereits in den Jahren 1945/ 46 ein hohes Maß an Realismus und Pragmatismus erkennen. Eine Rückkehr in die Heimat erschien ihnen offensichtlich schon damals 85 M ICHAEL VON E NGELHARDT , Generation und historisch-biographische Erfahrung - Die Bewältigung von Flucht und Vertreibung im Generationenvergleich, in: D IERK H OFF - MANN / M ARITA K RAUSS / M ICHAEL S CHWARTZ (Hg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernr.), München 2000, S. 331-358, hier 331-344. <?page no="274"?> Z WANG S MIG R ATI ON AL S F OLGE DES Z WEIT EN W E LTKR IEG S 275 äußerst unwahrscheinlich. Sie richteten sich daher frühzeitig auf ein dauerhaftes Verbleiben in Bayern ein. Die aktive Mitgestaltung wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen ermöglichte es sowohl dem Verbandsjuristen Enz als auch dem SPD-Funktionär Wundrak, sich letztlich erfolgreich im Allgäu zu integrieren. <?page no="276"?> 277 P HILIP Z ÖLLS München - Weltstadt mit Migrationshintergrund München war in den 1960er und 1970er Jahren eine Stadt in Bewegung. Die Zerstörungen des Weltkrieges waren aus dem Stadtbild verschwunden, die meisten Gebäude wieder aufgebaut oder renoviert und die Stadt blickte einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs entgegen. Auch gesellschaftspolitisch veränderte sich die Stadt. München sah sich selber als Weltstadt, wähnte sich modern und international, war geprägt von einer Binnen- und internationalen Migration aus vielen verschiedenen Ländern. Schon 1962 galt sie mit 100.000 Migrantinnen und Migranten als »Ausländergroßstadt«. 1 Migration prägte die Stadt so stark, dass ihr Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel schon 1972 der Ansicht war: München […] ist Einwanderungsstadt. Das mag manche erschrecken, aber es ist die Wahrheit. 2 Dieses Bewusstsein widersprach nicht nur der bundesdeutschen Migrationspolitik, die bis in die 1990er Jahre an der Einsicht, die BRD sei kein Einwanderungsland, festhielt, sondern hat bisher auch nicht den Weg in die Forschung der Stadtgeschichte gefunden. 3 Dabei waren Städte schon immer von Migration geprägt, wie es Erol Yildiz kurz und präzise in dem Satz »Stadt ist Migration« dargestellt hat. 4 1 E GON D HEUS , München. Strukturbild einer Großstadt, München 1968, S. 45. 2 H ANS -J OCHEN V OGEL , Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre, München 1972, S. 320. 3 Dies zeigt sich u. a. in der Dauerausstellung ›Typisch München‹ im Stadtmuseum. Dort ist nur ein sehr kleiner Bereich der Migrationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Siehe dazu: A NGELA K OCH , München un/ typisch, in: N ATALIE B AYER u. a. (Hg.), Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München 2009, S. 32-35. Doch in den letzten Jahren werden immer mehr Bemühungen vor allem des Kulturreferates sichtbar, der Migrationsgeschichte der Stadt gerecht zu werden; vgl. hierzu: A NGELA K OCH , Xenopolis: von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden in München, Metropol 2005; und F RANZISKA D UNKEL u. a. (Hg.), Zur Gechichte der Gastarbeiter in München. »Für 50 Mark einen Italiener«, München 2000; N ATALIE B AYER u. a. (Hg.), Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München 2009. Auch das Stadtarchiv München widmet diesem Thema größere Aufmerksamkeit; vgl. hierzu: Migranten in München. Archivische Überlieferung und Dokumentation, Dokumentation zum Kolloquium vom 20. Juli 2010 im Stadtarchiv München, hg. vom Stadtarchiv München, München 2010. Zahlreiche neuere Veröffentlichungen zur Migrationsgeschichte bleiben stark auf den nationalen Rahmen fokussiert; vgl. hierzu: K AREN S CHÖNWÄLDER , Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Grossbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er <?page no="277"?> P HILIP Z ÖLLS 278 Im Folgenden soll die Entwicklung der Migrationsbewegungen von den späten 1940er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre untersucht werden, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit der ›Gastarbeit‹. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf das Verhältnis von Migrationsbewegungen und den unterschiedlichen Formen des städtischen Regierens der Migration. 5 Einzuordnen ist dieser Beitrag dabei in neuere Untersuchungen, die die Kämpfe und Forderungen der Migrationsbewegungen an die deutsche Gesellschaft und Politik in den Vordergrund stellen und betonen. 6 Eine solche Sichtweise soll dazu beitragen, Migration nicht mehr als ›Problem‹ zu analysieren oder als kulturelle Differenz-Erfahrung zu beschreiben. 7 Vielmehr ist es das Ziel, das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen, von Migrationsbewegungen, städtischen Migrationspolitiken und Gesellschaftspolitik zu analysieren, denn »Subjekte, Formen und Wege der Migration verändern sich«, wie Serhat Karakayali ausführt, »ebenso wie die Formen, in denen staatliches Handeln Migration zu lenken und kontrollieren versucht.« 8 Erkennbar werden so vielfältige städtische Reaktionen auf eine »Permanenz der Migration«, 9 auf eine Migration, die letztlich der Motor der Stadtentwicklung war, wie es eine Studie der Stadt darlegte: Daher ist es verständlich, daß sich eine Stadt, die ihre Entwicklung steuern will, mit der Frage der Ausländerproblematik schon im allgemeinen auseinandersetzen muß. Denn die bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; B ARBARA S ONNENBERGER , Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung, Darmstadt 2003; D OUGLAS B. K LUSMEYER / D EMETRIOS G. P APADEMETRIOU , Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. Negotiating Membership and Remaking the Nation, Oxford 2009; J OCHEN O LTMER (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003. 4 E ROL Y ILDIZ , Urban recycling. Migration als Grossstadt-Ressource, Gütersloh 2009, S. 4; in Bezug auf München vgl. hierzu: A NGELA K OCH , Xenopolis (Anm. 3). 5 Vgl. hierzu Forschungsgruppe Transit Migration (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007; M ICHEL F OUCAULT , Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Bd. II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt am Main 2006. 6 M ANUELA B OJADZIJEV , Geschichte der Migration neu schreiben. Erkundungen und Entdeckungen jenseits der Grenzen nationaler Geschichtsschreibung, in: N. B AYER u. a. (Hg.), Crossing Munich (Anm. 3), S. 102-105. 7 S ABINE H ESS , Migration als Teil der Stadtgeschichte. Lehren aus einem Ausstellungsprojekt zur Geschichte der Migration in München, in: Migranten in München (Anm. 3) S. 9- 20, hier 10-13. 8 S ERHAT K ARAKAYALI , Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 258. 9 H ARALD K LEINSCHMIDT , Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historische Migrationsforschung, Göttingen 2002, S. 17. <?page no="278"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 279 ›türkischen Straßen‹ und die ›griechischen Viertel‹ der Münchner Innenstadt bestimmen eben unter anderem in Wirklichkeit die Entwicklung dieser Stadt. 10 1. Die Anfänge Eine ›Stunde Null‹ in der Migrationsgeschichte der Nachkriegszeit gibt es nicht. 11 Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich in der amerikanisch besetzten Zone der Großteil der jüdischen Displaced Persons (DPs), 12 München entwickelte sich zu deren Zentrum. 13 Viele von ihnen warteten in München auf ihre Ausreise. Zahlreiche Menschen waren auf die Hilfe der jüdischen Hilfsorganisationen angewiesen, die in der Möhlstraße in Bogenhausen ansässig waren. Im Umgang der deutschen Behörden mit den DPs spiegelten sich langlebige Feindbilder aus der Zeit des Nationalsozialismus wider. Ohne sich der historischen Schuld bewusst zu sein, empfanden viele Politiker deren Anwesenheit in München als lästig und diffamierten sie als kriminell und asozial. 14 Man war sogar der Ansicht, dass unter den nach Bayern zuwandernden Ausländern der strukturell und soziologisch schwierigste Teil zu finden ist. 15 Der Münchner Stadtrat Fischer sah und damit gab er eine 10 Kommunalpolitische Aspekte des wachsenden ausländischen Bevölkerungsanteils in München, hg. von der Landeshauptstadt München (Arbeitsberichte zur Fortschreibung des Stadtentwicklungsplans), München 1972, S. 6. 11 Zu den Kontinuitäten vom NS-Migrationsregime zur BRD vgl. R OBERTO S ALA , Vom »Fremdarbeiter« zum »Gastarbeiter«. Die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft (1938-1973), in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, München 2007, S. 93-120. Eine weitere Kontinuität bestände bei Migranten aus Osteuropa, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, während des Zweiten Weltkrieges vor der Roten Armee flüchteten und von München aus Aktionen gegen die kommunistischen Regime planten. 12 Unter DPs werden in der Forschungsliteratur alle ehemaligen KZ-Häftlinge sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gezählt. Bei den Debatten in München richteten sich die, häufig auch offen antisemitischen, Vorurteile und Beschwerden der Politik aber ausschließlich auf jüdische DPs. Zur Definition und Begriff des DPs vgl. W OLFGANG J ACOBMEYER , Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 16. 13 M ARTIN W. R ÜHLEMANN , »Mir zaynen do«. Die Möhlstraße als Schauplatz jüdischer Proteste, in: Z ARA P FEIFFER (Hg.), Auf den Barrikaden, Proteste in München seit 1945, München 2011, S. 31-38, hier 31. 14 Zitiert nach K. S CHÖNWÄLDER , Einwanderung (Anm. 3), S. 221; sowie D IES ., Ist nur Liberalisierung Fortschritt? Zur Entstehung des ersten Ausländergesetzes der Bundesrepublik, in: J AN M OTTE (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung, Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 1999, S. 127-144, hier 133. 15 Zitiert nach K. S CHÖNWÄLDER , Einwanderung (Anm. 3), S. 224. <?page no="279"?> P HILIP Z ÖLLS 280 weit verbreitete Meinung wieder in der Migration vor allem eine Gefährdung der Sicherheit, da die Zuwanderung zweifelsohne die Kriminalität steigere. 16 Gefordert wurde eine Verschärfung der Ausländerpolizeiverordnung, damit Bayern und München nicht zu einem Dorado für anderswo mißliebig gewordene Elemente werde. 17 In den Stadtratsdebatten wird zudem deutlich, wie selbstverständlich über ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Inhaftierte verfügt werden sollte. Als die US-Militärregierung 1950 die Räumung der Will-Kasernen forderte, in denen Displaced Persons bisher gesammelt untergebracht waren, sahen die Münchner Stadtabgeordneten die Möglichkeit diese geschlossen aus München auszuweisen. Dafür stellte die CSU-Fraktion einen Dringlichkeitsantrag, in dem sie den Stadtrat aufforderte, bei der Bayerischen Staatsregierung und Bundesregierung darauf hinzuwirken, die Menschen, die bisher in den Kasernen lebten, über das ganze Bundesgebiet, mindestens aber in Bayern zu verteilen. 18 Damit stieß die CSU parteiübergreifend auf große Zustimmung. Der Antrag verwies aber auch auf den geringen Handlungsspielraum der kommunalen Politik, denn er beinhaltete lediglich eine Aufforderung an höhere Instanzen. Eine eigene rechtliche Möglichkeit der Einflussnahme bestand nicht. Münchner Politiker, die, eingedenk des erlittenen Unrechts durch die Nationalsozialisten, eine gemäßigtere Form im Umgang mit den DPs einforderten, finden sich in den Akten nicht. Vielmehr lassen sich die Beschwerden über die vermeintliche ›Belastung‹ der Stadt durch die DPs bis in das Jahr 1955 verfolgen. In einer Rede im Stadtparlament reproduzierte Stadtrat Dölker alle damals verbreiteten Vorurteile gegenüber DPs: Es bestehe die Gefahr einer erhöhten Kriminalität, es entwickelten sich Schwarzmarktgeschäfte, außerdem gewähre die angeblich gesetzliche Bevorzugung der DPs durch die Alliierten weitestgehende Rechtsfreiheit. Anscheinend stieß auch diese Rede auf Zustimmung, denn in den Akten lässt sich keine Widerrede finden. 19 Die Debatten über DPs nehmen ab Mitte der 1950er Jahre deutlich ab. Dies hing sicherlich mit der geringer werdenden Zahl zusammen. Schon 1952 lebten nur noch 12.000 jüdische DPs in Deutschland. Diejenigen, die in der BRD blieben, sammelten sich im Lager Föhrenwald in der Nähe von München, bis schließlich 1957 auch dieses Lager geschlossen wurde. 16 K. S CHÖNWÄLDER , Einwanderung (Anm. 3), S. 220. 17 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 728/ 16. 18 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 723/ 5. 19 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 728/ 16. <?page no="280"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 281 2. Das Anwerbeabkommen Die ersten größeren Debatten über eine städtische Migrationspolitik begannen erst Anfang der 1960er Jahre. Zwar schloss die BRD schon 1955 nach längeren Verhandlungen eine Anwerbevereinbarung mit Italien ab. Auswirkungen auf die städtische Politik hatte das Anwerbeabkommen aber zunächst einmal nicht, denn auf Grund der staatlichen Zuständigkeit hatte die Stadt zum einen nur geringe gesetzliche Möglichkeiten der Einflussnahme, zum anderen sah die Stadtregierung sowohl Bundesinstitutionen wie die ›Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‹ (BAVAV) als auch die Arbeitgeber in der Pflicht. Nicht zuletzt spielte die geringe Zahl der Migranten in den ersten Jahren eine Rolle, wie in der Tabelle sichtbar wird. 20 Tabelle 1: Zahl der ausländischen Beschäftigen in Südbayern von 1954-1960 Jahr Zahl der ausländischen Beschäftigten jeweils am 31. Juli Zunahmen absolut Zunahmen in VH 1954 8.187 - - 1955 8.285 98 1,2 1956 9.451 1.166 14,1 1957 9.792 341 3,6 1958 10.965 1.173 12,0 1959 14.445 3.480 31,7 1960 29.899 15.454 107,0 StaatsA München, Landesarbeitsamt Südbayern 4978. Die Anzahl der Migrantinnen und Migranten stieg in den ersten Jahren in nur kleinen Schritten an. Ein großer Sprung ist in den Jahren 1959 und 1960 zu verzeichnen. Dies lag an der stärker wachsenden Wirtschaft, an der Wehrpflicht für junge Männer und an der von der Gewerkschaft durchgesetzten Arbeitszeitverkürzung. Einschränkend sei hier noch darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Zahlen nur um Migranten handelte, die über den Ersten Weg, d. h. über die offiziellen Anwerbeabkommen, in die BRD einreisten. Migrantinnen und Migranten, die über das sogenannte Sichtvermerksverfahren oder als Touristen einreisten und erst im 20 StaatsA München, Landesarbeitsamt Südbayern 4978. Einschränkend sei erwähnt, dass es sich bei diesen Zahlen um Arbeitsplätze in Südbayern handelte. Doch der größte Teil der Migranten arbeitete in München. <?page no="281"?> P HILIP Z ÖLLS 282 Nachhinein eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung anforderten, wurden statistisch nicht erfasst. 21 Interessanter werden diese Zahlen, wenn man sie mit einer Tabelle aus dem Jahr 1960 vergleicht, die nach Herkunftsländern aufgeschlüsselt ist. 22 Tabelle 2: Herkunftsländer der ausländischen Beschäftigten im Jahr 1960 Staatsangehörigkeit Insgesamt Männer Frauen Österreich 11.397 6.787 4.610 Italien 11.110 10.401 709 Griechenland 1.425 1.296 129 außereuropäische Länder 1.190 997 193 Jugoslawien 631 488 143 Schweiz 474 312 162 Frankreich 364 223 141 Spanien 318 229 89 Staatenlos oder ungeklärte Staatsangehörigkeit 951 652 299 StaatsA München, Landesarbeitsamt Südbayern 4978. Ersichtlich wird, dass die meisten Migranten aus dem benachbarten Österreich kamen. Interessant ist die hohe Anzahl von Personen aus Griechenland, Jugoslawien und den außereuropäischen Ländern, darunter fielen vor allem Migranten aus der Türkei, mit denen die BRD zu diesem Zeitpunkt noch kein Anwerbeabkommen abgeschlossen hatte. Schon hier zeigt sich, dass Migration auch jenseits staatlicher Strukturen stattfand, wie weiter unten noch einmal gezeigt werden wird. 23 Auswirkungen auf die städtische Migrationspolitik zeigten die Migrationsbewegungen erst Anfang der 1960er Jahre, initiiert durch eine Befragung zur bisherigen Betreuungsarbeit durch den ›Deutschen Städtetag‹. Ziel war die Erstellung einer Informationsstudie für die künftigen migrationspolitischen Aufgaben der Städte. 21 Zu den verschiedenen Formen der Einreise vgl. B. S ONNENBERGER , Nationale Migrationspolitik (Anm. 3) S. 67-98; S. K ARAKAYALI , Gespenster der Migration (Anm. 8), S. 100-149. 22 StaatsA München, Landesarbeitsamt Südbayern 4978. 23 Weiterführende Literatur zur autonomen Migration: Y ANN M OULIER B OUTANG , De Lèsclavage au salariat. Economie historique du salariat bridé, Paris 1998; M ANUELA B O - JADZIJEV / S ERHAT K ARAKAYALI , Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: Forschungsgruppe Transit Migration (Hg.) Turbulente Ränder (Anm. 5), S. 203-210. <?page no="282"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 283 Migration sollte dabei, so der Tenor des Städtetages, nicht mehr als vorübergehende Erscheinung, sondern als Dauerphänomen begriffen werden. 24 Die Anfrage nahm das Münchner Schulamt zum Anlass, sich über die bestehenden Betreuungsangebote der Stadt zu informieren und lud die verschiedenen Vertreter zu einer gemeinsamen Sitzung ein. Zustande kam dabei eine recht große Runde. Präsent waren folgende Referate und Institutionen: »Schulreferat der Stadt München, Stadtamt für Leibesübungen, Stadtjugendamt, Kulturreferat, Presse- und Informationsamt, Sozialreferat, Arbeitsamt München, Landesarbeitsamt Südbayern, Caritasverband der Erzdiözese München-Freising, Arbeiterwohlfahrt, Innere Mission, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutscher Gewerkschaftsbund, Europa-Union, Carl-Duisberg-Gesellschaft, Italienisches Generalkonsulat, Italienisches Kulturinstitut, Italienischer Sozialbetreuer beim Arbeitsamt, Missione Cattolica Italiana, Spanisches Konsulat, Spanischer Sozialbetreuer beim Arbeitsamt, Griechisches Generalkonsulat, Griechische Kommission beim Arbeitsamt, Türkisches Generalkonsulat, Türkischer Sozialbetreuer beim Arbeitsamt, Bayerischer Jugendring, Pax-Christi Bewegung, Landesverein Bayern der Freundinnen junger Mädchen e. V., Spieler-Vereinigung der ausländischen Gastarbeiter, Verband der Filmverleiher, Vereinigung der Arbeitgeberverbände, Volkshochschule.« 25 Bei dem Treffen vereinbarten die Vertreter die Bildung eines Kuratoriums und beauftragten die Stadtregierung, ein Grundstück zur Verfügung zu stellen, um dort eine zentrale Begegnungsstätte für ausländische Arbeitskräfte zu schaffen. 26 Im Stadtparlament entbrannte daraufhin eine Diskussion, ob die Betreuung städtische Aufgabe sei und wie hoch der Zuschuss für diese Arbeit ausfallen solle. Die CSU vertrat in der Diskussion die Ansicht, dass die veranschlagten 50.000 DM für die 49.000 Migrantinnen und Migranten in München zu hoch seien, und sah die Betreuung als Aufgabe der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der BAVAV. Dagegen wehrte sich allerdings die SPD-Mehrheit im Stadtparlament. Der zuständige Referent des Schulausschusses unterstrich deren Beitrag für die Münchner Wirtschaft. Durch sie, so seine Analyse, sei die Münchner Wirtschaft erst richtig leistungsfähig geworden. Sein Plädoyer bestand daher im Folgenden: Zusammengefasst ist zu sagen, daß die Betreuung der Gastarbeiter nicht nur eine menschliche und sozialpädagogische, sondern auch eine kommunale Aufgabe darstellt. 27 Doch die Übernahme der Kosten für die Betreuung ist nicht nur auf humanitäre Gründe zurückzuführen. Ein wichtiges Motiv für die SPD-Stadtratsfraktion zur Zustimmung zu einem zentralen Betreuungszentrum waren die zunehmenden Beschwerden der Münchner Bevölkerung gegen die Präsenz von Migranten an 24 StadtA München, Schulamt 7468. 25 StadtA München, Schulamt 7468. 26 StadtA München, Schulamt 7468. 27 StadtA München, Schulamt 4884. <?page no="283"?> P HILIP Z ÖLLS 284 öffentlichen Plätzen, insbesondere am Hauptbahnhof. 28 Gründe für diese Aneignung des Bahnhofes gab es viele. Der Bahnhof war als Ort bekannt. Zudem kamen täglich Züge aus den Herkunftsländern an und fuhren auch von dort wieder ab. Freunde, Verwandte und Bekannte konnten begrüßt werden, Informationen gesammelt und Geschenke für die Familien zu Hause mitgegeben werden. Ein Treffen am Bahnhof kostete zudem kein Geld. Außerdem mangelte es an Alternativen, da eine sinnvolle Freizeitgestaltung in den Wohnheimen am fehlenden Platz oder an den rigiden Besuchsvorschriften scheiterte. 29 Ein weiterer wichtiger Grund war die Möglichkeit internationale Presse kaufen zu können und sich so über die Ereignisse im Herkunftsland zu informieren. Gegen die sichtbare, öffentliche Präsenz von Migranten regte sich bald Widerstand von Seiten der Münchner Bevölkerung, der von der Presse aufgegriffen wurde. Zeitungen sprachen von einer Balkanisierung des Hauptbahnhofes und sahen die Sicherheit in Gefahr. So titelte etwa der ›Münchner Stadtanzeiger‹: Die Gastarbeiter im Münchner Hauptbahnhof. Sind sie tatsächlich so gefährlich oder sehen sie nur so aus? 30 Doch die Migrantinnen und Migranten verteidigten ihren Freizeitort auch gegen behördliche Schikanen. In einem Interview mit dem ›Münchner Merkur‹ meinte der Leiter der Bahnpolizei München: Wir bemühen uns nach Kräften, den Bahnhof ›rein‹ zu halten, aber für einen Ausländer oder unliebsamen Gastarbeiter, den wir endlich nach langer Beobachtung loswerden, kommen zehn andere. Weiter fährt er fort: Der Ärger, den wir ständig mit den Ausländern haben, steht uns bis obenhin, aber schließlich sind sie keine Untermenschen, und wir können doch nicht SS-Methoden anwenden, um das Problem zu lösen. 31 28 Dabei stellt der Münchner Hauptbahnhof bis heute einen wichtigen Ort für die Erinnerungspolitik der Migration dar, denn dort kamen alle Migranten - mit Ausnahme der Portugiesen und Spanier - an, die über die offiziellen Anwerbeabkommen in die BRD einreisten. Die Züge aus Portugal und Spanien trafen in Köln/ Deutz ein. 29 Zur Wohnsituation vgl. A NNE VON O SWALD / B ARBARA S CHMIDT , »Nach Schichtende sind sie immer in ihr Lager zurückgekehrt …«, Leben in »Gastarbeiter«-Unterkünften in den sechziger und siebziger Jahren, in: J. M OTTE (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik (Anm. 14), S. 184-214; A NNE VON O SWALD , Volkswagen, Wolfsburg und die italienischen ›Gastarbeiter‹ 1962-1975. Die gegenseitige Verstärkung des Provisoriums, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 55-80. 30 ›Münchner Stadtanzeiger‹ vom 3.10.1969, S. 4. Vgl. hierzu auch F RANZISKA D UNKEL / G ABREIELLA S TRAMAGLIA -F AGGION , Gastarbeiter - »Wir waren da und von Gott verlassen«, in: A. K OCH (Hg.), Xenopolis(Anm. 3), S. 335-350, hier 341. 31 ›Münchner Merkur‹ vom 6.7.1966, S. 11. <?page no="284"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 285 3. Planen, planen, planen Die Debatten über die Betreuung waren nur der erste Schritt hin zu einer aktiven Migrationspolitik der Stadt. Eine entscheidende Wendung nahm sie unter der Amtsführung von Hans-Jochen Vogel, mit 34 Jahren der bis dahin jüngste Bürgermeister der Stadt München. Vogel war der Ansicht, dass man bisher zu wenig über die Stadt wisse, um sie regieren zu können, und forderte eine stärkere Grundlagenforschung. Am prägnantesten formulierte er dies in seiner Rede beim Deutschen Städtetag 1971. In seinem Referat, das den Titel ›Rettet unsere Städte jetzt! ‹ trug, sagte er: Der Stadtbegriff dynamisiert sich mehr und mehr. Stadt ist nicht länger mehr ein Zustand, sondern ein Prozeß. […] Heute verändern sich unsere Städte unaufhörlich. Alles ist mobil geworden. Millionen wechseln alljährlich ihre Wohnorte. Anders als noch in früheren Zeiten könnte dieser Prozeß Stadt aber aktiv gestaltet werden. 32 Die neuen Zauberformeln zur Lösung sozialer gesellschaftlicher Probleme waren Planung und eine intensivere Stadtforschung. 33 Diese Überlegungen führten zu der Einrichtung des Stadtentwicklungsreferats, das sich durch seine interdisziplinäre Zusammensetzung auszeichnete. Dadurch sollte der Komplexität der Gesellschaft Rechnung getragen werden und zugleich wurden neue Fragen und Anforderungen an die Planungen gestellt: 34 Früher bedeutete Planung die geistige Vorwegnahme eines einzelnen Aktes, der dann in der Realität nachvollzogen wurde. Mit Hilfe des geplanten Aktes, etwa des Baus eines Hauses oder eines Palastes, wurde ein statischer Zustand durch den anderen ersetzt. Heute muß jedenfalls die Stadtplanung eine schier nicht mehr zu übersehende Fülle von Zusammenhängen bedenken und wird dabei selbst zum Prozeß. Sie muß sozusagen der tatsächlichen Stadtentwicklung in ihrer ganzen Breite in einem hinlänglichen Abstand vorauslaufen. Damit wurde implizit auch an den früheren Planungsaktivitäten Kritik geübt, die Gesellschaft als ein technisches Konstrukt aufgefasst und die soziale Komponente vernachlässigt hatten. 35 Mit der Planung und Stadtforschung als neue Technik des Regierens 36 folgte die Stadt einem nationalen Trend, den Michael Ruck als einen »kurzen Sommer der 32 StadtA München, Schulamt 7481. 33 StadtA München, Schulamt 7481. 34 StadtA München, Schulamt 7481. 35 Vgl. hierzu G ERHARD G ROSS , Bürgernahe Stadtentwicklungsplanung gescheitert? Untersuchungen am Beispiel München. München 1978, S. 45. Kritik wurde dabei am 1962 erschienenen ›Jensenplan‹ geübt, der vor allem Verkehrskonzepte für die Stadt entwickelte. 36 BundesA Koblenz B 102/ 93226: Teil II des Protokolls der 86. Sitzung des wiss. Beirats am 26./ 27.10.1962, S. 8. <?page no="285"?> P HILIP Z ÖLLS 286 konkreten Utopie« beschrieb. 37 Bundesweit konnten sich die Planungsvorstellungen erst durchsetzen, als der Kalte Krieg sich nach der Kuba-Krise eine Atempause gönnte und es zu weitreichenden Annäherungen zwischen Ost und West kam. Aufgrund der veränderten politischen Voraussetzungen konnten die Planungsaktivitäten von liberaler Seite nicht mehr unter sozialistischen Generalverdacht gestellt werden, auch wenn sich die Befürworter eigentlich von Anfang an von den Planungen im Ostblock distanziert hatten. So hatte Carlo Schmid schon 1956 auf dem SPD-Parteitag erklärt: Wir stellen uns […] die Planung und Lenkung nicht vor, wie sie im sowjetischen Herrschaftsbereich gehandhabt werden. Wir wollen auch auf diesem Gebiet keine Kommandowirtschaft. 38 Größter Abgrenzungspunkt gegenüber den Planungen des Ostblocks war die Stellung der Freiheit des Individuums. So erklärte Dr. Hubert Abreß, Stadtentwicklungsreferent der Stadt München, dass die neuen Planungsideen an den einzelnen Individuen interessiert seien und eine optimale Voraussetzung für eine freie und freiheitliche Entwicklung und Entfaltung schaffen sollten. Unter individueller Freiheit verstand er dabei die subjektive und objektive Möglichkeit, das Leben entsprechend den individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten einzurichten […]. Das sei aber in der heutigen städtischen Lebensform weitestgehend realisiert. 39 Doch auch wenn der individuellen Freiheit eine wichtige Stellung innerhalb der Planungen eingeräumt wurde, so akkumulierte der neue Politikstil vielfältige Formen des Wissens über die eigene Bevölkerung. Die Gefahr, die von einem Staat ausging, der über zu viele Informationen über seine Bevölkerung verfügte, war den Planungsbefürwortern durchaus bewusst. Dennoch glaubte man, diese Gefahr durch die neueren Planungsideen bannen zu können. Auch als Seitenhieb gegen die liberalen Befürchtungen vor einem Staatsdespotismus vertrat Karl Schiller von der SPD die Ansicht: Wir müssen und können mit dieser Synthese zugleich auch die historisch überlieferte Gefahr aller übertriebenen Staatsverantwortung bannen, die den Vater Staat 37 M ICHAEL R UCK , Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie - Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 1960er Jahre, in: A XEL S CHILDT (Hg.), Dynamische Zeiten, Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 362-401, hier 362. 38 C ARLO S CHMID , Menschen und Technik, Die sozialen und kulturellen Probleme im Zeitalter der 2. industriellen Revolution, Bonn 1956, S. 10; zitiert nach G ABRIELE M ETZ - LER , »Geborgenheit im gesicherten Fortschritt«. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: M ATTHIAS F RESE (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 777-800, hier 780. 39 StadtA München, Bürgermeister und Rat 3980: Sonderdruck H UBERT A BRESS , Stadtentwicklung und Stadtplanung, dargestellt am Beispiel der Landeshauptstadt München, in: Zeitschrift für Politik. Organ der Hochschule für politische Wissenschaften München, S. 186, 191. <?page no="286"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 287 nur allzuleicht und allzuoft zum Despoten hat entarten lassen. 40 Die Neupositionierung des Planungsbegriffs fand sich in griffigen Formeln wie »Planung ohne Planwirtschaft« oder »Planung innerhalb der Marktwirtschaft«. 41 Ein Ziel der nationalen Planungsaktivitäten war es, die wirtschaftliche Hochphase für die Zeit nach dem Ende des Wiederaufbaus zu sichern. Besonderer Wert wurde auf die Hilfe einer kritischen Öffentlichkeit gelegt, die den Planungsprozess aktiv steuern und beeinflussen sollte. 42 Zweites Ziel war die langfristig aktive Gestaltung der Gesellschaftspolitik, denn in Abgrenzung zu den Vorstellungen im Liberalismus galt eine sich selbst überlassene Gesellschaft als unmodern und nicht regierbar. Der neue Politikstil sollte hingegen zu einem gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohl führen, das durch den Liberalismus und seine ›Laissez-faire‹- Politik nie erreicht werden könnte. 43 Bei den bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen über den Zusammenhang von Planung und Gesellschaft spielte Migration keine Rolle. Dies überrascht umso mehr, als es die Migrationsbewegungen waren, die die Frage nach dem Subjekt des Regierens, d. h. der Gesellschaft, immer wieder hinterfragte und neu definierte. Die Konsequenzen der Migrationsbewegungen wurden vor allem für die Kommunen sichtbar, da ihnen die gesetzlichen Möglichkeiten fehlten, aktiv in die Gesellschaftspolitik einzugreifen und das, so eine Studie der Stadt, obwohl die Folgen der bisherigen liberalen Politik sich insbesondere in den Großstädten zeigten. Ziel der neuen Planungspolitik sei es daher, Lösungsvorschläge für eine künftige Migrationspolitik zu formulieren, auch wenn die Gemeinden relativ schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stießen, insbesondere bei Fragen zur allgemeinen Gesellschafts- und Sozialpolitik. 44 Doch bis man zu dieser Erkenntnis gelangte, war es noch ein weiter Weg. Zuerst einmal versuchte die Stadt sich einen Überblick über die Zuwanderung zu verschaffen, um aus dem gewonnenen Material eine zukunftsweisende Migrationspolitik zu entwickeln. 40 K ARL S CHILLER , Vorwort, in: A NDREW S HONFIELD , Geplanter Kapitalismus, Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln 1968, S. IX-XXII, hier XXI. 41 G EORG A LTMANN , Vollbeschäftigung durch Planung? Das Reformprojekt ›Vorausschauende Arbeitsmarktpolitik‹ in den 1960er Jahren, in: M. F RESE , Demokratisierung, S. 283 - 304, hier 299. 42 M. R UCK , Kurzer Sommer (Anm. 37), S. 362. 43 G. M ETZLER , Geborgenheit (Anm. 38), S. 793. 44 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 193. <?page no="287"?> P HILIP Z ÖLLS 288 4. Das Stadtentwicklungsreferat Die konkrete Umsetzung der neuen Planungsvorstellungen Hans-Jochen Vogels ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nachdem München 1966 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 erhalten hatte, gründete die Stadt ein Koordinierungsbüro für die Olympiade, aus dem später das Stadtentwicklungsreferat hervorging. Das Referat - das erste seiner Art in der BRD - zeichnete sich durch eine interdisziplinäre Zusammensetzung aus, denn neben Statistikern und Stadtplanern waren auch Soziologen vertreten. Die Bedeutung des Referates und der daraus resultierenden Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sogar der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher ließ sich auf Kompetenzstreitigkeiten mit dem Arbeitsministerium ein, um die Migrationspolitik der Bundesregierung nach dem Vorbild des Münchner Stadtentwicklungsreferates neu auszurichten und umzugestalten. Er schrieb an den Arbeitsminister: 45 Für die Weiterentwicklung einer Gesamtkonzeption der Ausländerpolitik wäre ein weiteres Arbeitspotential erforderlich, zu dem Volkswirte, Soziologen und Statistiker entscheidende Beiträge zu liefern hätten. Vorbildlich ist m. E. hierfür das Stadtentwicklungsreferat der Stadt München, das in einer Stärke von 12 Personen eine Problemstudie »Kommunalpolitische Aspekte des wachsenden ausländischen Bevölkerungsanteils in München« erarbeitet hat, die einem Bundesministerium gut anstünde. Der Output des neu gegründeten Referates war enorm. Innerhalb kürzester Zeit veröffentlichte man eine Vielzahl von Studien, eine davon behandelte die Migrationsbewegungen nach München. 46 Hintergrund der Studie war die wachsende Anzahl von Migrantinnen und Migranten in der Stadt. Waren 1952 36.000 Zugewanderte in München tätig, so erhöhte sich die Zahl in den folgenden Jahren schnell. 1959 lebten und arbeiteten schon 61.000 in der Stadt und 1970 wohnten dort fast 200.000. Damit lag München statistisch gesehen an der Spitze der deutschen Großstädte. 47 In dem Stadtratsantrag zur Erstellung der Studie wurden folgende Punkte aufgelistet, die untersucht werden sollten: Erstens sollte die bisherige Entwicklung des Ausländeranteils in München aufgezeigt sowie eine mittelfristige Vorschau für die kommenden Jahre erstellt werden. Besondere Beachtung galt der Eingliederung im Wohnbereich. Zweitens sollte die Integration im Arbeitsbereich genauer analysiert werden, drittens die Akzeptanz öffentlicher Einrichtungen und zuletzt sollten die Auswirkungen der Migrationsbewegung auf die Umgebung von 45 BundesA Koblenz, B 106/ 69844. Zu den Streitigkeiten zwischen Arbeits- und Innenministerium vgl. BundesA Koblenz, B 149/ 76198. 46 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 6. 47 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 743/ 9. <?page no="288"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 289 München untersucht werden. 48 Die Untersuchungsergebnisse der Studie waren als Grundlage für ein ›Ausländerprogramm‹ gedacht. Bei der Präsentation der Studie jedoch zeigte sich, dass die Mitarbeiter bedeutend umfassendere Themengebiete untersucht und erschlossen hatten und dabei - aus heutiger Sicht - zu überraschenden Schlussfolgerungen gelangt waren. 5. Autonomie der Migration In ihrer Analyse der bisherigen Migration nach München kamen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die Stadt die Migrationsbewegung weder stoppen noch kontrollieren könne. Mit dieser - auch für die damalige Zeit - überraschenden Feststellung verbanden sich für die Befürworter einer Planungspolitik weitreichende Probleme, denn eine vorausschauende Planung der Gesellschaft war nur auf Grundlage einer vernünftigen Datengrundlage möglich, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden war. Diese setzte aber eine sich nicht verändernde, quasi immobile Bevölkerung voraus. Doch durch die Beständigkeit der Migrationsbewegungen entpuppte sich diese Vorstellung als Schimäre. Dessen war sich auch das Stadtentwicklungsreferat bewusst und wählte einen erstaunlichen Weg zur Lösung des Problems. So orientierten sich die Vorschläge für eine künftige Migrationspolitik der Stadt nicht an der Vorstellung von einer absoluten Kontrolle der Migration, sondern folgten der vorgefundenen Realität. In einem ersten Schritt benannte man die Gründe für eine nicht zu stoppende Migrationsbewegung. Der erste Akteur war die liberale Gesetzgebung, denn laut Studie machten die Liberalisierungen im Reiseverkehr, die stärkere Integration der BRD in die Europäische Gemeinschaft, wie auch die fehlende Möglichkeit, die ›grüne Grenze‹ ausreichend zu sichern, eine umfassende Kontrolle unmöglich. 49 Diese Ansicht wurde auch in den Stadtratsdebatten vertreten. 50 Die fehlenden Handlungsmöglichkeiten sah die Stadt auch bei der ›illegalen‹ Einwanderung, denn eine Vielzahl der zunächst ›illegal‹ eingereisten Migrantinnen und Migranten wurde anschließend ›legalisiert‹. Auch hier kam man zu dem Schluss, daß es schwierig ist, den Zustrom von Arbeitssuchenden an der Staatsgrenze zu kontrollieren. 51 Als weiterer Akteur galt die Migrationsbewegung selbst mit ihren eigenen Netzwerken und Verbindungen. Hierzu zählte unter anderem der Familiennachzug. 52 Als Konsequenz dieser Einsichten forderte die Stadt den Gesetzgeber auf, die 48 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 743/ 9. 49 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 5. 50 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 3. 51 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 196. 52 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 3. <?page no="289"?> P HILIP Z ÖLLS 290 bisherige Koppelung von Aufenthaltstitel und Arbeitsmarkt aufzuheben, denn Migration sei ein Dauerzustand, der unabhängig von konjunkturellen Wechsellagen stattfinde. 53 Der Familiennachzug aus den ›Anwerbeländern‹ stellte aber nicht den einzigen Migrationsweg dar. Häufig gaben eigene Informationswege den Ausschlag für die Migration nach München, wie diverse Zeitungsartikel über eine Migrationsbewegung aus Pakistan nach München aufzeigten: Eigentlich war das Migrationsziel vieler Pakistaner Großbritannien, der Grenzübertritt scheiterte aber an den verschärften Einreisebestimmungen. Über eigene Netzwerke hatte man daraufhin erfahren, dass Arbeitskräfte für die Olympiabauten in München benötigt wurden. Nach Angaben eines Journalisten war für die 5.000 bis 7.000 Migranten die Tulbeckstraße 12 im Westend der zentrale Anlaufort. Die Adresse war nach Presseberichten bis nach Islamabad als ein Ort bekannt, an dem Migranten ohne gültige Arbeitspapiere morgens auf Arbeitgeber warten konnten, um auf den zahlreichen Baustellen arbeiten zu können. 54 Nachdem pakistanische Medien von Armuts- und Elendsvierteln in München berichteten, sorgte die Migrationsbewegung für kurze Zeit sogar im Bundesinnenministerium für Gesprächsstoff. 55 Auch den Mitarbeitern der Münchner Studie waren die unterschiedlichen Migrationsbewegungen nicht entgangen, sie vermuteten sogar, dass sich der Prozess der Migration weiter verstärken und auf weitere Regionen wie z. B. Afrika ausweiten würde. 56 Als dritter Akteur untergruben die Firmen die Möglichkeiten der Kontrolle. Sie wandten sich aktiv gegen eine stärkere Kontrolle am Arbeitsplatz oder gegen eine Kontingentierung. So bezog die Industrie- und Handelskammer in München in kämpferischen Worten Stellung: 57 Wir sehen eigentlich keinen Anlaß, irgendwelche Überlegungen anzustellen, aus diesem Grunde das Wachstum der Münchner Wirtschaft im Verlauf der nächsten Jahre zu dämpfen oder zu verlangsamen. Für den Fall, daß das Stadtentwicklungsreferat auf seinem Standpunkt beharren sollte, eine Politik des gedämpften wirtschaftlichen Wachstums zu verfolgen, sei folgendermaßen angeführt: Weder bietet unsere Rechtsordnung hierzu Handhaben noch ist aufgrund unserer marktwirtschaftlichen Ordnung von den am Produktionsprozeß beteiligten Personen ein vom ökonomischen Prinzip völlig abweichendes Verhalten zu erwarten. 53 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 198. 54 ›Münchner Merkur‹ vom 10.12.1970, S. 4: »Menschenhandel im toten Winkel des Gesetzes«; ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 9.12.1970, S. 11: »Üble Geschäfte mit illegalen Gastarbeitern«. 55 BundesA Koblenz, B 106/ 60275. 56 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 31. 57 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 3. <?page no="290"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 291 Doch hegte die Stadt eigentlich keine Sympathien für eine Kontingentierung, da sie die Nachteile größer als den Nutzen einschätzte. So erläuterte Stadtrat Sigmar Geiselberger, dass die Festsetzung von Kontingenten keine Wirkung zeige. Als Beleg führte er die Migrationsbewegung aus der Türkei an, die schon vor dem Zustandekommen der Anwerbevereinbarung stattgefunden hatte. Zudem bestehe ein besonderes Interesse an diesen illegalisierten Migranten, da sie für die Unternehmen billiger seien. 58 6. München als integrative Einwanderungsstadt Zweiter Meilenstein der Untersuchung war die Feststellung, dass München Einwanderungsstadt sei. 59 Diese Einsicht führte man nicht zuletzt auf die lange Aufenthaltsdauer der Migranten zurück. Sie betrug 1972 im Durchschnitt 7,7 Jahre und nach einer Umfrage des ›Münchner Stadtanzeigers‹ beabsichtigte ein Viertel mindestens zehn Jahre bzw. dauerhaft in der BRD zu bleiben. So kam die Zeitung zu dem Schluss: 60 Die Zusammenhänge, die bei der Entwicklung der Aufenthaltsdauer zu beobachten sind, widerlegen eines der wesentlichen Argumente der offiziellen Ausländerpolitik; diese betrachtet die Beschäftigung großer Zahlen von Ausländern als vorübergehende Erscheinung und - darauf aufbauend - ausländische Zuwanderer als vorübergehende Gäste. Das ist unrealistisch. Die Benennung Münchens als Einwanderungsstadt zog eine ganze Reihe von Verschiebungen in der Migrationspolitik nach sich. Als erstes forderte man eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Migrantinnen und Migranten. 61 Dazu zählten Maßnahmen im Wohnbereich, aber auch Integrationsvorstellungen, die sich erstmals ab Anfang der 1970er Jahre als politisches Konzept in der kommunalen Politik finden lassen. Den Begriff der Integration definierte man in der Studie nicht als einseitigen Vorgang, bei dem Migranten sich an deutsche Verhältnisse anpassen. Vielmehr nähern beide Gruppen ihr Verhalten und ihre Einstellung wechselseitig aneinander an. Um Integration als wechselseitigen Prozess zu gestalten, sollte eine differenziertere Berichterstattung zum Abbau von Vorurteilen und größeren Verständnis für andere Verhaltensweisen 58 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 9. 59 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 31; vgl. hierzu auch ›Münchner Stadtanzeiger‹ vom 21.7.1972, S. 14; H. V OGEL , Amtskette (Anm. 2), S. 320. 60 ›Münchner Stadtanzeiger‹ vom 11.7.1972, S. 11. 61 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 196. <?page no="291"?> P HILIP Z ÖLLS 292 in der deutschen Bevölkerung beitragen. 62 Ziel der Maßnahmen war es Migranten zu ermöglichen gleichberechtigt in der BRD zu leben und alle Rechte wahrzunehmen. 63 Verbesserungsbedarf sah man daher in den gesetzlichen Bestimmungen zu Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, denn die Angst vor einer möglichen Abschiebung oder Probleme bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels behinderten eine langfristige Zukunftsplanung und damit letztlich eine Integration in die deutsche Gesellschaft. Die Stadt sah es als ihre Aufgabe an, für Chancengleichheit zu sorgen, und forderte ein angemessenes Angebot an Leistungen und Möglichkeiten bereitzustellen, das ihn vor der Gefahr sozialer Isolation bewahrt und ihm Chancengleichheit mit der deutschen Bevölkerung in allen wichtigen Bereichen der Daseinsvorsorge eröffnet. 64 Kritik an diesen Vorstellungen kam von Seiten der CSU. Sie lehnte eine Integrationspolitik ab und forderte im Gegenzug eine stärkere Trennung von Migranten und Deutschen, auch außerhalb der Arbeitszeit. Stadtrat Reichel formulierte die Ansichten seiner Partei im Stadtrat folgendermaßen: 65 Man tut nach dieser Auffassung den Menschen keinen Gefallen, weder den Ausländern bei uns noch uns selbst, wenn wir Ungleichheiten in dieser Weise in unserer Bevölkerung schaffen oder begünstigen, mit denen zu leben für keinen der Beteiligten glücklich ist. Es ist besser getrennt zu halten, was getrennt gewachsen ist, statt mischen zu wollen, was Schwierigkeiten schafft. Als Gegenvorschlag zur SPD-Politik setzte sich die CSU für die konsequente Durchsetzung des Rotationsprinzips ein, aus dem sich Vorteile für alle Beteiligten ergäben. 66 Bedingt durch den kurzen Aufenthalt in der BRD komme es weder zu einer Entwurzelung der Migranten, noch schmälere es deren Rückgliederung und Rückkehrbereitschaft in das Herkunftsland. Außerdem gäbe es eine Steigerung der Lebensqualität für alle, denn der Wohnungsmarkt würde entlastet und die Kosten für die Betreuung könnten gesenkt werden. 67 Unterstützung fand die Münchner CSU bei der bayerischen Landesregierung. Sie kritisierte vor allem das Argument, Migration sei nicht zu stoppen. Dadurch werde die Einwanderung in das Belieben der ausländischen Arbeitnehmer gestellt und die 62 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 3. 63 Kommunalpolitische Aspekte (Anm. 10), S. 181f. 64 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 746/ 78. 65 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 745/ 3. 66 Das Rotationsprinzip sollte den befristeten Aufenthalt von Migrantinnen und Migranten in der BRD durchsetzen. Nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung, sollten andere Migrantinnen und Migranten zum Arbeiten kommen. Dagegen sprachen sich neben der SPD, die das Prinzip aus humanitären Gründen ablehnte, vor allem die Arbeitgeber aus, die darin nur Nachteile für ihre Firmen sahen. 67 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 747/ 9. <?page no="292"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 293 Handlungsfähigkeit des Staates unnötig eingeschränkt. 68 Der richtige Ansatz, im Sinne der Staatsregierung, wäre eine Verstärkung der Kontrollen, um der Vorstellung entgegenzuwirken, die BRD sei ein Land, das sich ungesteuert und unkontrolliert der Einwanderung öffnet. Das wäre staatspolitisch absurd. Ein Staat, der die Einwanderung nicht steuert und kontrolliert, gefährdet seine politische Existenz, abgesehen von nachteiligen gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitischen, ethnologischen und kulturellen Auswirkungen. Mit den nachteiligen Auswirkungen war eine Verschlechterung der Lebensqualität gemeint, denn in der Logik der Staatsregierung bedeuteten mehr Migranten nicht nur mehr Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser usw., sondern z. B. auch mehr Kraftfahrzeuge (Luftverschmutzung, Phon-Zahl, Autoschlangen, Verkehrsflächenbedarf), mehr Müll, mehr Abwässer, usw. 69 7. Im Ghetto Auch in der Münchner SPD kamen Zweifel hinsichtlich der Integrationsvorschläge der Studie auf. Zwar hielt man weiterhin an dem Konzept fest, sah aber dessen Umsetzung nur durch eine Begrenzung der Migrationsbewegungen möglich. So fasste der Stadtrat am 23. November 1972 den Beschluss, dass die Grenze der Aufnahmefähigkeit ausländischer Arbeitnehmer im Stadtgebiet München jetzt und in absehbarer Zeit erreicht, wenn nicht sogar überschritten ist. 70 Die Grenze der Aufnahmefähigkeit zeigte sich insbesondere am Wohnungsmarkt. Seit den 1960er Jahren zogen Migranten aus verschiedenen Gründen in bestimmte Stadtviertel. Es gestaltete sich für sie schwierig, Wohnungen in sozial besser gestellten Stadtteilen zu erhalten, die Innenstadt und die Innenstadtrandgebiete hingegen boten billigeren Wohnraum. Zudem spielte die Kettenmigration eine wichtige Rolle. Neuankommende erfuhren durch Verwandte und Bekannte Hilfe bei der Arbeitssuche und den verschiedenen Behördengängen. Außerdem erleichterte eine Community die Eingewöhnung in München und half bei ersten Sprachschwierigkeiten weiter. Viele Wohnungen in diesen Vierteln waren allerdings in schlechtem Zustand, hatten Gemeinschaftsbäder und Toiletten auf dem Gang. Häufig wurden einzelne Zimmer in den Wohnungen zu hohen Preisen an Migrantinnen und Migranten vermietet. Ab Ende der 1960er Jahre lassen sich zahlreiche Artikel in der Presse finden, die Kritik an der schlechten Unterbringung und den hohen Mieten übten. Schon 1969 sprach sich der CSU-Fraktionsvorsitzende Stützle gegen eine Überbele- 68 Archiv der sozialen Demokratie Bonn, 5 DGAZ 000487. 69 Archiv der sozialen Demokratie Bonn, 5 DGAZ 000487. 70 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 746/ 37. <?page no="293"?> P HILIP Z ÖLLS 294 gung von Wohnräumen mit Gastarbeitern aus. 71 In anderen Zeitungen wurde über krasse Mißstände in Gastarbeiterwohnungen berichtet oder Gegen Mietwucher bei Gastarbeitern protestiert. 72 Doch verbunden mit der zunehmenden Zahl und Präsenz von Migrantinnen und Migranten in der Stadt kam es ab 1972 zu einer Diskursverschiebung. Zeitungen berichteten plötzlich von ethnischer Kolonienbildung, Ausländerwohngebieten und städtischen Ghettos. Die Beschreibungen in der Presse evozierten Bilder von zerfallenden und konfliktträchtigen Stadtteilen, die ohne steuernde Gegenmaßnahme den sozialen Frieden der Stadt gefährden würden. Die ›TZ‹ berichtete von Gastarbeiter Gettos und der ›Münchner Merkur‹ schrieb in Anlehnung an den Olympia-Slogan ›Weltstadt mit Herz‹: München - bald Weltstadt mit Gettos? 73 Auf besonders reißerische Art und Weise versuchte ›Der Spiegel‹ die Situation in den deutschen Großstädten darzustellen, als er einen Artikel mit dem Titel ›Eine Millionen Türken‹ veröffentlichte: 74 Fast eine Million Türken leben in der Bundesrepublik, 1,2 Millionen warten zu Hause auf die Einreise. Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen: Es entstehen Gettos, und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Verelendung wie in Harlem […]. An den Erosionsstellen deutscher Städte wächst ein neues Subproletariat heran, keimt die Saat sozialer Krankheitsherde. Ein Türke bleibt nicht lange allein. Auch die Stadtabgeordneten stimmten in den neuen Diskurs mit ein, der die bis heute gängige semantische Verknüpfung von Desintegration, Ghetto und ›Ausländer‹ als gesellschaftlichen Fremdkörper herstellt. Gefordert wurde eine stärkere Steuerung des Zuzugs in die Stadt, denn schon jetzt drohten ganze Stadtviertel umzukippen. 75 Sichtbar wird die Diskursverschiebung auch an der Sprache. Die bis dato unproblematische, hohe Zahl von Migrantinnen und Migranten in bestimmten Vierteln wandelte sich zur Entstehung krimineller Herde und führte plötzlich zu einer Desintegration, denn durch die nationale Separation fehlt vor allem der Anreiz, die fremde Sprache zu erlernen. 76 Der Diskurs über die Entstehung von Ghettos blieb aber nicht auf einer sprachlichen Ebene stehen, vielmehr diente die Etikettierung bestimmter Viertel und Räume als Ghettos der lokalen, repressiven Intervention. Schon am 1. April 71 ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 25.9.1969, S. 14: »Hitzige Debatte um die Wohnungsnot«. 72 Vgl. hierzu ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 3.3.1970, S. 9. 73 ›Münchner Merkur‹ vom 20./ 21.11.1971, S. 9. 74 ›Der Spiegel‹ vom 30.7.1973: »Die Türken kommen - rette sich, wer kann«, S. 24-34, hier 24. 75 ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 14.12.1973, S. 13: »Sperrkreise für Ausländer«. 76 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 746/ 37. <?page no="294"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 295 1975 verhängte die Stadt sogenannte Zuzugssperren über bestimmte Stadtteile. Diese sahen vor, Nicht-Deutschen den Um- oder Zuzug in Viertel, in denen der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung 12 % überstieg, zu verwehren. 77 Wie die Zuzugssperren auszusehen hätten und wer unter das Verbot fallen sollte, darüber gab es im Stadtparlament unterschiedliche Auffassungen. Rechtlich gesehen waren EG-Angehörige davon ausgenommen, die große Gruppe der Italiener war von dieser Regelung also nicht betroffen. Andererseits wären Migranten aus Österreich, der Schweiz und Liechtenstein unter dieses Zuzugsverbot gefallen, da die Staaten nicht Mitglieder in der EG waren. Dagegen verwehrten sich aber einige Abgeordnete, weil sie einen Imageschaden für die Stadt befürchteten, und erließen für diese Staaten sowie für US-Amerikaner eine Ausnahmegenehmigung. 78 Stephan Lanz ist zuzustimmen, wenn er in seiner Analyse festhält, dass es bei den Zuzugssperren demnach nicht um Ausländer an sich ging, sondern »um einen gesellschaftlich konstruierten Typus des Anderen.« 79 Den Nutzen der Zuzugssperren konnte die Stadt nie nachweisen und das nicht nur, weil sie mit diesem Konzept Neuland in der BRD betreten hatte. 80 Vielmehr stellte eine Studie der Technischen Universität klar, dass die Gefahr einer Ghetto-Bildung nicht gegeben und die Zuzugssperren aufzuheben seien. 81 Weitere Diskussionen über die Zuzugssperren erübrigten sich, da sie 1977 vom Gesetzgeber aufgehoben wurden. Sie verstießen gegen EG-Regelungen. 82 In der Diskussion über die Zuzugssperren spielten die zuvor beschriebenen Debatten über den Stellenwert der individuellen Freiheit der Menschen in der neuen Planungspolitik keine Rolle mehr. Vielmehr ist eine Beschränkung der persönlichen Freiheit der Migrantinnen und Migranten zu erkennen, die es in diesem Ausmaß zuvor noch nicht gegeben hatte und die im Besonderen gegen die Personenfreizügigkeit verstieß. Dabei schien die von Karl Schiller abgetane Angst vor einem Staatsdespotismus doch noch zuzutreffen, denn erst durch die umfängliche Akkumulation des generierten Wissens über die Bevölkerung entstanden neue Machtdiskurse, die bestimmte Phänomene wie den Ghettodiskurs hervorbrachten und in eine repressive Form der Stadtpolitik münden ließen. Zudem wurden 77 Landesarchiv Berlin, Nachlass Städtetag, 4/ 44-49/ 8. Bei den 12 % handelte es sich um sogenannte »Muss-Zonen«. Aber auch bei einem Anteil von unter 12 % konnten Zuzugssperren erlassen werden. Hier handelte es sich um sogenannte »Kann-Zonen«. 78 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 747/ 66, 746/ 3. 79 S TEPHAN L ANZ , Berlin aufgemischt. Abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, Bielefeld 2007, S. 72. 80 StadtA München, Ratssitzungsprotokolle 746/ 37. 81 Siehe dazu: ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 14.1.1975, S. 9. Grund für die hohen Zahlen in bestimmten Vierteln war die ungenügende Unterscheidung zwischen »Gastarbeitern« und übrigen »Ausländern«. 82 S. L ANZ , Berlin aufgemischt (Anm. 79), S. 71. <?page no="295"?> P HILIP Z ÖLLS 296 Migranten demonstrativ für die sozialen Engpässe und Vernachlässigungen der Stadt im Wohnungsbau verantwortlich gemacht, ohne dass man die öffentlichen Folgen der Denunziation bedacht hatte. 83 Seit Mitte der 1970er Jahre verebbte die Planungseuphorie in München. Dies hatte mehrere Gründe. Einer kann sicherlich in der bundesweiten Entwicklung gesehen werden. Spätestens mit dem Wirtschaftsabschwung 1973/ 74 kamen auch dort die Planungsideen zu einem plötzlichen Ende. Durch die Ölkrise und die wirtschaftliche Rezession gelangte immer weniger Geld in die öffentlichen Kassen und immer weniger Planungsprojekte konnten realisiert werden. Schnell wurden die Grenzen der Planung erkennbar, als klar wurde, was man sich leisten konnte und was nicht. 84 Gleiches kann für die Planungspolitik der Stadt München geltend gemacht werden. Darüber hinaus können personelle Entscheidungen im Stadtentwicklungsreferat angeführt werden. 1972 kandidierte Hans-Jochen Vogel nach Meinungsunterschieden innerhalb der Partei kein weiteres Mal für den Posten des Oberbürgermeisters in München. Sowohl sein Nachfolger Georg Kronawitter als auch der neue Stadtentwicklungsreferent Detlef Marx verfolgten in ihrer Amtszeit andere Ziele. Anstelle des ›Münchner Modells‹ der Planung wurde ein Konzept der Stadtentwicklung verfolgt, dass Gerhard Gross als »technokratische Gegenkonzeption« beschrieb. 85 Ziel des neuen Modells war es nicht mehr, gesellschaftliche Missstände anzuprangern, sondern zu versuchen »unter den gegebenen gesellschaftspolitischen Verhältnissen Zielvorstellungen zu entwickeln, die sich mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten verwirklichen lassen.« 86 Der bundesweit verhängte Anwerbestopp bewirkte zudem, dass Debatten über den Familiennachzug und die schulische und berufliche Bildung der zweiten und dritten Generation die Politik der 1980er Jahre prägten. 7. Zusammenfassung In diesem Aufsatz wurde versucht, einen Blickwinkel auf die Migrationsbewegungen zu wählen, der die Auseinandersetzungen und Forderungen der Migration in den Mittelpunkt stellt und diese mit den unterschiedlichen Formen des Regierens der Migration konfrontiert. Erkennbar wird, in welchen verschiedenen Spannungsfeldern Migration verhandelt wurde. 83 K. S CHÖNWÄLDER , Einwanderung (Anm. 3), S. 565. 84 W INFRIED S ÜSS , »Wer aber denkt für das Ganze? « Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: M. F RESE , Demokratisierung (Anm. 38), S. 349-378, hier 374. 85 G. G ROSS , Bürgernahe Stadtentwicklungsplanung (Anm. 35), S. 106. 86 G. G ROSS , Bürgernahe Stadtentwicklungsplanung (Anm. 35), S. 107. <?page no="296"?> M ÜNCHEN - W ELTSTADT MIT M IGRATIONSHINTERGRUND 297 Die Migrationspolitik Münchens drehte sich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem um die Gruppe der jüdischen Displaced Persons. Dabei dominierte eine ablehnende, teilweise antisemitische, rassistische Haltung, die in der Argumentationsweise zahlreiche Kontinuitäten zum Nationalsozialismus aufwies. Eine zweite Phase der Migrationspolitik begann Mitte der 1960er Jahre mit der zunehmenden Anzahl und sichtbaren Präsenz von Migranten aus Südeuropa im Stadtbild. Die Münchner Stadtpolitik sah Migration dabei als elementaren Bestandteil der Stadtentwicklung und versuchte sie mittels neuer Planungsaktivitäten zu regieren. Die meisten Quellen zur Migrationsgeschichte lassen sich deshalb auch in den Akten des Stadtentwicklungsreferates finden. Diese Quellen sagen jedoch nichts über die individuellen Erfahrungen der Migrantinnen und Migranten im Umgang mit den behördlichen Kontroll- und Regulationsmaßnahmen aus oder spiegeln sie nur indirekt über behördliche Beschreibungen. Dennoch geben sie einen Einblick in das städtische Migrationsregime, denn ohne die »Politik, ohne die Maßnahmen, ohne die Repräsentationen und ohne die öffentlichen Debatten und Diskurse, die Migration als solche erst hervorbringen«, wäre das Phänomen Migration nur halb verstanden, wie es Sabine Hess richtig beschreibt. 87 Mit dieser Phase der Migrationspolitik endet dieser Beitrag, auch wegen der verfügbaren Quellenlage. Das Kapitel der Migrationspolitik in München ist dabei aber nicht beendet. Als kleiner Ausblick seien hier noch zwei weitere Phasen erwähnt: Ab Ende der 1970er Jahre tauchte das Thema Asyl vermehrt in Politik und Presse auf. Wie eine erste Untersuchung der Printmedien zeigte, brachte die Stadt München das Thema bundesweit immer wieder auf die politische Tagesordnung und setzte sich für einen repressiveren Umgang mit Asylsuchenden ein. Eine vierte Phase der Migrationspolitik lässt sich ab Anfang der 2000er Jahre feststellen, als die neue Art des Regierens Migration als Bereicherung für die multikulturelle Stadt auffasste, diese neue Offenheit aber vermehrt mit Integrationsanforderungen an Migrantinnen und Migranten verknüpfte. 88 87 S. H ESS , Migration (Anm. 7), S. 16. 88 Aufsätze, Texte und Ideen entstehen nie durch eine Person allein, so auch dieser Text. Zahlreiche Diskussionen und Ideen fanden während der Recherchen zu dem Ausstellungsprojekt ›Crossing Munich. Orte, Bilder und Debatten der Migration in München‹ statt. Für zahlreiche Hinweise und Diskussionen möchte ich mich zudem bei Katharina Ruhland, Gabi Fischer und insbesondere Simon Goeke bedanken. <?page no="298"?> 299 S ABINE A LBRICH -F ALCH Südtiroler Arbeitsmigration der 1950/ 60er Jahre 1 mit einem genaueren Blick auf das Zielgebiet Vorarlberg Migration ist ein Kennzeichen unserer Zeit: einerseits positiv, als Ausdruck von Freiheit, Mobilität und durchlässigen Grenzen; andererseits aber auch negativ, als Ausdruck von Not und Bedrohung, die unzählige Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen und sich in einem fremden Umfeld unter oft schwierigen Bedingungen einen neuen Lebensraum zu schaffen. Südtirol ist als eine der blühendsten Regionen Europas Migrationsanziehungspunkt und kennt das Problem heute nur von der Seite des Aufnahmelandes. Das war nicht immer so: In den 1950er und 1960er Jahren standen Tausende in Südtirol auf der anderen Seite und zogen als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter vor allem nach Deutschland, in die Schweiz und nach Österreich, weil sie in der Heimat keine Zukunft für sich sahen. Welchen Umfang diese Massenmigration erreichte, kann nur vage umrissen werden. Zu viele unterschiedliche Interessen - von ganz individuellen bis zu handfesten politischen in dieser heißen Zeit des Südtiroler ›Volkstumskampfes‹ - standen einer seriösen Dokumentation entgegen. Nicht zu beweisende Schätzungen sprechen von 15.000 bis 18.000 Betroffenen um 1970, mindestens 8.000 dürfen jedoch als gesichert gelten. Das Ausmaß der Wanderungsbewegung ist auch deshalb kaum näher bestimmbar, weil die Mehrzahl der Abgewanderten über kurz oder lang wieder nach Südtirol zurückkehrte. Nicht wenige allerdings blieben im Ausland hängen, ohne das je beabsichtigt zu haben. Von diesen wird im Folgenden die Rede sein. Für die außerhalb des Landes (d. h. auch in ›Altitalien‹) lebenden Südtirolerinnen und Südtiroler hat sich die Bezeichnung ›Heimatferne‹ eingebürgert. Obwohl der Zeit der Massenmigration entstammend, ist der Begriff ungebrochen aktuell, denn er umreißt nicht nur das damalige Selbstbild der Betroffenen, sondern entspricht auch heute noch der Eigendefinition des größten Teils der Deutschen, Österreicher und Schweizer mit Südtiroler Migrationshintergrund. Die mittlerweile Jahrzehnte im Ausland und die dort in aller Regel gelungene Integration werden von ihnen nicht als Auswanderung eingeordnet, sondern nach wie vor als Leben ›fern der wahren Heimat‹ Südtirol empfunden. 1 Ausführlich dazu: S ABINE F ALCH , Heimatfern. Die Südtiroler Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 17), Innsbruck u. a. 2002. <?page no="299"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 300 Das Hauptaugenmerk des vorliegenden Beitrags gilt der Wanderungsbewegung selbst, den kollektivbiographischen Merkmalen der Langzeit-Heimatfernen, sowie einem genaueren Blick auf das Zielgebiet Vorarlberg. 1. Push-Faktoren der Südtiroler Arbeitsmigration Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Anfang der 1970er Jahre verließen also zahlreiche Südtirolerinnen und Südtiroler ihre Heimat, vorwiegend auf der Suche nach Arbeit, wobei das Jahrzehnt von 1955 bis 1965 den zentralen Zeitraum dieser Migration darstellt. Schuld daran waren vor allem die sozioökonomischen Gegebenheiten des Landes, 2 während die politischen Verhältnisse in Südtirol erstaunlicherweise nur in geringem Ausmaß den Entschluss zur Abwanderung mitbestimmten, obwohl die Entwicklung in jener Zeit ihren dramatischen Höhepunkt erreichte: 3 Das nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugeschlagene Südtirol hatte nach 1945 vergeblich auf eine Rückkehr zu Österreich gehofft. Die minderheitenfeindliche Politik Roms, nicht zuletzt die staatlich geförderte Zuwanderung von Italienern nach Südtirol, ließ die Spannungen ständig wachsen und Kanonikus Michael Gamper Ende 1953 das Schlagwort vom ›Todesmarsch‹ der deutschen Volksgruppe in Südtirol prägen. 1960 und 1961 reagierte die UNO auf Österreichs Initiative hin mit zwei Resolutionen auf das Südtirol-Problem, 1961 sprengten Aktivisten des ›Befreiungsausschusses Südtirol‹ (BAS) in der ›Feuernacht‹ zahlreiche Strommasten. Der wachsende Südtirol-Terrorismus wies dann in den folgenden Jahren immer mehr österreichische und bundesdeutsche Beteiligte mit rechtsradikalem Hintergrund auf. Folterungen inhaftierter Südtiroler durch die italienische Polizei und die Prozesse gegen die Südtirol-Attentäter erregten und verunsicherten die Öffentlichkeit. Ende 1969 gelang es dann der Diplomatie zwischen Rom, Wien und Innsbruck, zwei Jahrzehnte zäher Verhandlungen mit dem sogenannten ›Südtirolpaket‹ abzuschließen, auf dessen Basis 1972 das neue Autonomiestatut in Kraft trat. Weitere zwei Jahrzehnte später wurde der Konflikt um 2 Eine aktuelle Gesamtdarstellung der Südtiroler Wirtschaftsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg fehlt; die Monographien zum Thema stammen durchwegs aus der Zeit der Südtiroler Arbeitsmigration, während sich spätere Studien nur mit Teilaspekten befassen. Einen Überblick aus jüngerer Zeit bietet der Sammelband von A NDREA L EONARDI (Hg.), Die Region Trentino-Südtirol im 20. Jahrhundert, 2. Wirtschaft: Die Wege der Entwicklung, Trient 2009, doch geht er hinsichtlich der Südtiroler Arbeitsmigration nicht über die Informationen und Erkenntnisse der älteren Literatur hinaus. 3 Vgl. R OLF S TEININGER , Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947-1969, 3 Bde., Bozen 1999; D ERS ., Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, 4. Aufl. Innsbruck-Wien 2004; zur ›Feuernacht‹: H ANS K. P ETERLINI , Feuernacht. Südtirols Bombenjahre. Hintergründe, Schicksale, Bewertungen, Bozen 2010. <?page no="300"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 301 Südtirol mit der Streitbeilegungserklärung Österreichs und Italiens vor der UNO im Juni 1992 offiziell für beendet erklärt. Die Politik beeinflusste die Arbeitsmigration eher indirekt, v. a. über die Rahmenbedingungen, die sie für die Wirtschaft im Lande schuf bzw. was sie in dieser Hinsicht zu fördern oder zu verhindern trachtete. Bis in die 1960er Jahre ließen Angst vor italienischer ›Überfremdung‹ und der Verbreitung sozialistischer oder kommunistischer Ideen durch eine wachsende Industriearbeiterschaft die führenden politischen Kreise Südtirols eine bodenständige Industrialisierung des Landes erfolgreich verhindern. Erst die massenhafte Abwanderung junger Arbeitskräfte führte schließlich auch in der ›Südtiroler Volkspartei‹ (SVP) zu einem Kurswechsel. In den 1950er Jahren war die deutsche Volksgruppe in Südtirol nach wie vor bäuerlich geprägt. Ungeachtet der Bedeutung der Bozner Industriezone für die Rüstungsindustrie während des Zweiten Weltkrieges, 4 verdienten 1945 immer noch rund 70 % der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft. 5 Option und Umsiedlung während des Zweiten Weltkrieges - von denen später noch die Rede sein wird - hatten dazu beigetragen, denn es waren kaum Bauernfamilien, sondern fast nur Arbeiter- und Angestelltenfamilien ausgesiedelt, »womit auch im Hinblick auf den Aufbau einer lokalen Industriekultur eine wesentliche Komponente der Bevölkerung ausfiel«. 6 Die Industriebetriebe waren größtenteils in Bozen angesiedelt »und boten dort fast ausschließlich Arbeitsplätze für italienischsprachige Männer«. 7 1951 beschäftigten Land- und Forstwirtschaft in Südtirol 42,6 % aller Erwerbstätigen - einschließlich der in diesem Bereich massiv unterrepräsentierten Italiener. Im Trentino betrug diese Quote 40 %, im österreichischen Bundesland Tirol 37 %, 8 und in stark industrialisierten Gebieten wie z. B. Vorarlberg drastisch weniger. Die 4 K ARL S EEBACHER , Industrie und Industrielle in Südtirol. Werden, Wachsen und Wandel eines wichtigen Wirtschaftszweiges, Bozen 1996, S. 22. Seebacher, langjährig im Südtiroler Industriellenverband tätig, u. a. 1978-1991 Schriftleiter der ›Industriezeitung‹, bietet einen informativen Überblick, verzichtet aber leider auf Fußnoten und führt nur summarisch die verwendete Literatur an. 5 O THMAR P ARTELI , Südtirol (1918 bis 1970) (Geschichte des Landes Tirol 4/ 1), Bozen 1988, S. 643. 6 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 24. Vgl. auch K ARL S TUHLPFARRER , Die defekte Umsiedlung, in: K LAUS E ISTERER / R OLF S TEININGER (Hg.), Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 5), Innsbruck 1989, S. 275-297, hier 293, und A DOLF L EIDLMAIR , Bevölkerung und Wirtschaft in Südtirol, Innsbruck 1958, S. 76. 7 M ICHAELA R ALSER / M ARTHA V ERDORFER , Die Arbeitsplätze der Frauen: überall und nirgends, in: A NTON H OLZER u. a. (Hg.), Nie nirgends daheim. Vom Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen in Südtirol, Bozen 1991, S. 99-127, hier 122. 8 A. L EIDLMAIR , Bevölkerung (Anm. 6), S. 104. <?page no="301"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 302 Südtiroler Landwirtschaft war damals noch vorwiegend auf Selbstversorgung ausgerichtet und durch althergebrachte Bewirtschaftungsformen gekennzeichnet. Das bedeutete geringe oder gar keine Mechanisierung, ergo Vorherrschen von Handarbeit und damit hohe Arbeitsintensität. 9 Folglich glaubten viele Eltern, auf die Arbeitskraft ihrer Kinder nicht verzichten zu können und verwehrten ihnen daher eine Berufsausbildung oder den Besuch einer weiterführenden Schule. Andererseits war der hohe Beschäftigtenstand in der Südtiroler Landwirtschaft auch dem Umstand geschuldet, dass viele junge Leute lediglich mangels Alternativen am Hof verblieben, ohne dass dort ihre volle Arbeitskraft tatsächlich benötigt worden wäre. 10 Die Möglichkeiten der schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung waren nämlich in Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst begrenzt. Seit den 1920er Jahren hatte der italienische Faschismus das deutsche Schulwesen im Land völlig zerstört, auch die nach österreichischem Muster eingerichteten Gewerbeschulen waren ersatzlos gestrichen worden. Hier musste nach 1945 gänzlich neu begonnen werden. 11 Auch die Lehrlingsausbildung lag im Argen. Erst 1955 wurde ein Lehrlingsgesetz erlassen, 12 aber der vielfachen Willkür der Lehrherrn damit nur begrenzt Einhalt geboten. Der Meister konnte beispielsweise immer noch entscheiden, ob der Lehrling nach drei oder erst nach fünf Jahren zur Gesellenprüfung antreten durfte. 13 Angesichts dieser Umstände verwundert es nicht, dass Mitte der 1950er Jahre lediglich 8 % der Südtiroler Jugendlichen in einer Lehre standen. 14 Und von den Schülern mit deutscher Umgangssprache besuchten gerade einmal 11,8 % eine weiterführende Schule, während es bei jenen mit italienischer Umgangssprache 35,6 % und in Nordtirol 29,1 % waren. 15 Zwar fanden ungelernte Kräfte vor allem im Bereich des Fremdenverkehrs Anstellung, doch wurde ab Mitte der 1950er Jahre die Arbeitsmarktlage für diese Kategorie zunehmend schwieriger. Dagegen wanderten nach wie vor staatliche Beamte und qualifizierte Industriearbeiter aus ›Altitalien‹ nach Südtirol zu, weil das Land nicht imstande war, den Eigenbedarf zu decken. 16 9 H ELGA U NTERTHURNER G ASSER , Die Veränderungen in der Agrarlandschaft in Südtirol unter besonderer Berücksichtigung der Flurbereinigung, Diss. Innsbruck 1979, S. 14. 10 H ERMANN A TZ , Verschobene Grenzen. Strukturwandel und ethnische Arbeitsteilung, in: A. H OLZER u. a. (Hg.), Nie nirgends daheim (Anm. 7), S. 155-164, hier 157. 11 Vgl. dazu R AINER S EBERICH , Südtiroler Schulgeschichte. Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz, Bozen 2000; K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 38. 12 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 29. 13 L ORE T OEPFER , Die Abwanderung deutschsprachiger Bevölkerung aus Südtirol nach 1955 (Beiträge zur alpenländischen Wirtschafts- und Sozialforschung 159), Innsbruck 1973, S. 48. 14 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 29. 15 H ERBERT F IEBIGER , Bevölkerung und Wirtschaft Südtirols, Bergisch Gladbach 1959, S. 50. 16 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 30f. <?page no="302"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 303 Die Entlohnung war in allen Wirtschaftszweigen schlecht, soziale Absicherung nur rudimentär oder überhaupt nicht vorhanden, und in der ausgeprägt paternalistischen Struktur wurden die Rechte und Ansprüche der Arbeiterschaft weitgehend ignoriert. 17 Diesem System wandten von Jahr zu Jahr mehr junge Südtirolerinnen und Südtiroler den Rücken, um in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und in Österreich besseren Verdienst, soziale Sicherheit sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu finden. Für manche mochte auch die friedlichere innenpolitische Lage in diesen Staaten einen zusätzlichen Anreiz zur Abwanderung geboten haben, obwohl das nur ein sehr kleiner Teil der heute noch Heimatfernen explizit als Motiv nannte. 2. Ausmaß und Verlauf der Abwanderung aus Südtirol Die Südtiroler Arbeitsmigration wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg laufend an und erreichte, wie erwähnt, von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre ihren Höhepunkt. Nicht zuletzt als Reaktion darauf erfuhren die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten sowie die Ausbildungsmöglichkeiten in Südtirol nachhaltige Verbesserungen, und der Abschluss des Südtirolpakets Ende 1969 brachte politische Entspannung. So ging ab Anfang der 1970er Jahre die Abwanderung sukzessive zurück. Die Migrationsbewegung war nicht organisiert. Die Vermittlung ins Ausland erfolgte kaum über offizielle Stellen, sondern vielmehr über Feriengäste, Zeitungsinserate, direkte Anwerbung durch Werber ausländischer Firmen und nicht zuletzt Freunde und Verwandte, die andere mit oder nach sich ins Ausland zogen. »Daß in manchen Fällen Kopfgeld gezahlt wurde und viel Illegales geschah, sei nicht verschwiegen«, 18 heißt es in einer Publikation der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne 1976 anlässlich ihres 20-jährigen Bestehens. Hier wurde auch rückblickend ein Teil der Abgewanderten nach bestimmten Merkmalen zusammengefasst: Den Beginn der von Südtirol aus organisierten Bemühungen um die Heimatfernen markiert der Katholische Mädchenschutz, der die zahlreichen Südtiroler Mädchen betreute, die schon in den 1950er Jahren als Haushaltshilfen in die italienischen Großstädte zogen. Ende der 1950er Jahre arbeiteten allein in Rom 400 Südtirolerinnen. Eine andere charakteristische Gruppe von Mädchen bzw. jungen Frauen waren jene, die z. B. nach Innsbruck oder anderweitig ins Ausland gingen, 17 F RANZ G. F UCHS , Die sozialen Verhältnisse Südtirols, in: C HRISTOPH P AN , Die wirtschaftliche und soziale Lage Südtirols und ihre Entwicklungsmöglichkeiten (Schriftenreihe des Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstituts 3), Bozen 1963, S. 33-36. 18 20 Jahre Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne, hg. von der Arbeitsstelle für Heimatferne, als Manuskript veröffentlicht, Bozen 1976, S. 11. <?page no="303"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 304 um Krankenschwestern zu werden, weil sie das in Südtirol für diese Ausbildung erforderliche Mittelschuldiplom nicht besaßen. 19 Die Lebensgeschichte einer Frau, die im Interview ganz anonym bleiben wollte, ist ein Beispiel dafür: 1935 in Kaltern in einer Wein- und Obstbauernfamilie geboren, verlor sie schon mit neun Jahren den Vater durch eine Reben-Spritzmittel-Vergiftung. Nach den acht Klassen Volksschule arbeitete sie zuerst daheim in der Landwirtschaft, dann im Gastgewerbe und danach als Kindermädchen bei einem italienischen Rechtsanwalt, wo sie auch für dessen bäuerliche Klienten dolmetschte. 1958 konnte sie zwar in Brixen einen Krankenpflegekurs besuchen und fand Arbeit in einem Spital, die Ausbildung zur Krankenschwester blieb ihr aber mangels entsprechendem Schulabschluss verwehrt. So ging sie nach dem Tod ihrer Mutter 1959 nach Hall in Tirol und absolvierte bis 1962 die Krankenpflegeschule. In Vorarlberg wurden Schwestern gesucht, also zog sie dorthin weiter und blieb trotz heftigem Heimweh dort, weil damals in Südtirol das österreichische Diplom nicht anerkannt wurde. Sie bildete sich fachlich weiter und erlangte Mitte der 1970er Jahre sogar ein international anerkanntes englisches Diplom, das aber in Südtirol genauso wenig galt wie das österreichische. Erst 1977 akzeptierte sie, dass eine dauerhafte Rückkehr nach Südtirol für sie nicht durchführbar war, kaufte in Vorarlberg eine Wohnung und nahm die österreichische Staatsbürgerschaft an. 20 Der Wunsch nach Ausbildung führte auch viele Lehrlinge ins Ausland. Mit der so genannten Lehrlingsaktion ab 1957/ 58 vermittelte die ›Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne‹ nicht nur zahlreiche Lehrlinge vor allem nach Deutschland, sondern kümmerte sich auch um ihre praktische und seelsorgerische Betreuung und sorgte dafür, dass Heimatverbundenheit und Bereitschaft zur Rückkehr nach Südtirol bei den Jugendlichen nicht erloschen. 21 Südtiroler Männer kamen Mitte der 1950er Jahre in größerer Zahl in die Zechen des Ruhrgebietes. Holzarbeiter aus dem Pustertal fanden Anfang der 1960er Jahre im Schwarzwald Arbeit als Holzschläger oder in holzverarbeitenden Betrieben. 22 Der weitaus größte Teil der Migration erfolgte jedoch ganz individuell und lässt sich nicht nach Gruppen oder Typen charakterisieren. Der Umfang der Migration war und ist weder insgesamt noch in einem enger umrissenen Zeitfenster näher bestimmbar, auch der Anteil der Langzeit-Heimatfernen, also jener, die bis heute im Ausland leben, bleibt im Dunkeln. Diesem Problem liegen mehrere Faktoren zugrunde: Die gesetzliche An- und Abmeldepflicht in der Heimatgemeinde wurde von den Abwandernden aus verschiedensten 19 20 Jahre Arbeitsstelle (Anm. 18), S. 7; und Gespräch mit Dr. Johannes Meßner, Brixen, 27. Februar 1998. 20 S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 148f. 21 Vgl. S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 69-71. 22 20 Jahre Arbeitsstelle (Anm. 18), S. 7f. <?page no="304"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 305 Gründen weitgehend ignoriert, v. a. weil die Abwanderung von den allermeisten nur als vorübergehend gedacht war und sie sich auf jeden Fall den Rückweg nach Südtirol offenhalten wollten. 23 Die Südtiroler Landesregierung war in der heißen Zeit des ›Volkstumskampfes‹ in den 1950er und 1960er Jahren nicht daran interessiert, den Wanderungsverlust der deutschen Volksgruppe mittels offizieller Statistiken zu dokumentieren. Das hätte nämlich ihre Position gegenüber den römischen Zentralstellen hinsichtlich einer Proporzregelung, 24 wie sie dann im Südtirolpaket verankert wurde, möglicherweise empfindlich geschwächt. Die Zahlengaben diverser mit dem Heimatfernen-Problem befasster Organisationen beruhen zum Teil nur auf Schätzungen und gehen stark auseinander. 25 Unbewiesen bleiben die Maximalangaben, die für die Zeit um 1970 etwa 15.000 bis 18.000 Heimatferne behaupten, also mindestens 10 % der erwerbstätigen Südtiroler Bevölkerung im Ausland sehen. 26 Als gesichertes absolutes Minimum sind die 8.000 Personen anzusehen, die im März 1971 in der Kartei der Arbeitsstelle für Heimatferne erfasst waren. 27 Leider wurde die Kartei einem langjährigen Spitzenfunktionär der Arbeitsstelle zufolge später »aus Platzmangel vernichtet«, 28 sodass diese potentiell zentrale Quelle nur mehr in Form ihrer Auswertung in der schon zitierten Publikation von Lore Toepfer aus dem Jahr 1973 29 erhalten ist. Die Wirtschafts- und Wanderungsstatistiken der Zielländer bieten auch keinen Aufschluss, da die Südtiroler nirgends als eigene Kategorie, sondern ihrer Staatsangehörigkeit gemäß natürlich als Italiener aufscheinen. Unzweifelhaft kehrte aber der überwiegende Teil der Heimatfernen über kurz oder lang wieder nach Südtirol zurück. Ein größerer dauerhafter Wanderungsverlust der deutschen Volksgruppe hätte sonst in Kombination mit der Zuwanderung aus ›Altitalien‹ 30 das ethnische Kräfteverhältnis in Südtirol beeinflussen müssen. Dieses blieb jedoch bei rund zwei Dritteln deutschsprachiger Südtiroler und 23 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 16. 24 Zum Proporz vgl. O SKAR P ETERLINI , Der ethnische Proporz in Südtirol, Bozen 1980. 25 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 10-19. 26 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 15. 27 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 17. 28 Gespräch mit Dr. Johannes Meßner, Brixen, 27. Februar 1998. Der Priester und Professor für Theologie Dr. Johannes Meßner war ab 1961 Diözesanassistent des KVW, jahrzehntelang führender Funktionär der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne und von ihrem ersten Erscheinen im April 1969 bis 1993 Chefredakteur der Heimatfernen-Zeitschrift ›Heimat und Welt‹. 29 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13). 30 Zur italienischen Zuwanderung nach Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg (auch zur Problematik der diesbezüglichen Zahlenangaben) vgl. G IORGIO M EZZALIRA , Der »ethnisch fremde Süden«, in: A. H OLZER u. a. (Hg.), Nie nirgends daheim, S. 201-220. <?page no="305"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 306 Ladiner zu einem Drittel Italiener. Der italienische Anteil ging sogar leicht zurück, 31 und der Sprachgruppenproporz verschob sich von 1971 bis 1981 überall (auch in den Städten Bozen und Meran) zum Nachteil der Italiener. 32 Folglich kann nur eine Minderheit der Abgewanderten schlussendlich zu Langzeit-Heimatfernen geworden sein. Am Höhepunkt der Massenmigration jedoch, von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, war noch nicht abzusehen, wie sie sich weiterentwickeln würde und wie viele der Abgewanderten nun tatsächlich der Heimat für immer den Rücken gekehrt hatten. Wie bedrohlich die Südtiroler politisch Verantwortlichen die Lage für die deutsche Volksgruppe einschätzten, zeigt eine drastische Formulierung von Peter Brugger, 33 einem führenden Funktionär der Südtiroler Volkspartei, im Jahr 1958: Ein uns verlorengegangener Südtiroler ist für uns gleich schädlich wie ein zugewanderter Italiener. 34 Die ersten, die auf das Problem reagierten, waren jedoch nicht Politiker, sondern kirchliche Stellen und christliche Organisationen. Sie gründeten 1956 in Bozen das ›Patronat zur Betreuung der Südtiroler außerhalb ihres Heimatortes‹. 35 Ende 1961 übernahm der ›Katholische Verband der Werktätigen‹ (KVW) alleine die bis heute aktive, parteipolitisch unabhängige nun so genannte ›Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne‹ mit dem Hauptziel, der Abwanderung durch die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie der Bildungsmöglichkeiten in Südtirol entgegenzuwirken, für bereits Abgewanderte die Verbindung mit der Heimat aufrechtzuerhalten und ihnen sowohl im Ausland als auch bei einer Rückwanderung nach Südtirol behilflich zu sein. 36 1970 wurde die Arbeitsstelle staatlich anerkannt. 37 31 Vgl. C HRISTOPH P AN , Die Südtiroler Wirtschafts- und Sozialstruktur von 1910 bis 1961 (Schriftenreihe des Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstituts 2), Bozen 1963, S. 72; D ERS ., Südtirol als volkliches Problem. Grundriß einer Südtiroler Ethno-Soziologie (Ethnos. Schriftenreihe der Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachenfragen 9), Wien-Stuttgart 1971, S. 61; und Südtirol-Handbuch, hg. von der Südtiroler Landesregierung, Bozen 1984, S. 156. 32 Südtirol-Handbuch (Anm. 31), S. 157. 33 Dr. Peter Brugger war von 1952 bis 1967 Mitglied des Südtiroler Landtags, ab 1968 Vertreter der SVP im Senat in Rom. 34 Zit. nach A LBIN P IXNER , Industrie in Südtirol. Standorte und Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg (Innsbrucker Geographische Studien 9), Innsbruck 1983, S. 35. 35 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 97. 36 Ausführlich zur Geschichte der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 41-78. 37 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 106. <?page no="306"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 307 3. Auswirkungen der Abwanderung auf Südtirol Um 1960 wurde schließlich auch dem konservativen offiziellen Südtirol, insbesondere der damals noch gänzlich unangefochtenen Einheitspartei SVP mehrheitlich klar, dass die althergebrachten Wirtschafts- und Sozialstrukturen ausgedient hatten und durch zukunftsorientierte Konzepte abgelöst werden mussten. In breiten Bevölkerungskreisen waren angesichts der wachsenden Probleme die alten Vorurteile gegen eine Industrialisierung des Landes weitgehend geschwunden. Mehr noch: die fehlende Industrialisierung wurde den Politikern als Versäumnis angelastet, ergab 1960 eine Umfrage des neuen Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstituts. 38 Ausdruck und Motor dieses Wandels war im Jahr darauf auch die Gründung der vor allem von Wirtschaftskreisen getragenen Gruppe ›Aufbau‹ 39 innerhalb der SVP, die die Südtiroler Einheitspartei vorübergehend sogar an den Rand der Spaltung brachte. Zwar existierte die Gruppe ›Aufbau‹ nicht lange, ihr Entwicklungskonzept wurde jedoch parteiintern weitgehend übernommen. 40 Aus der Einsicht, dass nur die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Südtirol die Migration bremsen konnte, erwuchsen verschiedene Maßnahmen wie ein verbessertes Kursangebot, Wohnungsbau, Arbeitsplatzbeschaffung, Einrichtung einer Arbeiterbetreuungsstelle usw., die das Südtiroler Wirtschaftsleben ab Mitte der 1960er Jahre »wesentlich reger« werden ließen 41 . Die bereits Abgewanderten wurden von der Arbeitsstelle für Heimatferne in der schon angesprochenen Kartei erfasst, und 1962 begannen gezielte Rückführungsversuche. 42 Die Berufsschulen wurden ebenfalls ausgebaut und 1963 die Einheitsmittelschule eingeführt, »die das Südtiroler Schulwesen revolutionierte«. 43 Außerdem warb der Landesausschuss Bozen (Amt für Wirtschaftsförderung) teilweise in Zusammenarbeit mit der Handelskammer nun gezielt - und erfolgreich - für Industrieansiedlung im Land. 44 Von 1959 bis 1972 entstanden in Südtirol 38 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 34. Diese Umfrage im Detail: Südtirol und die soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftliche und soziale Lage in Südtirol (Schriftenreihe des Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstituts 1), als Manuskript veröffentlicht o. O. 1962, S. 55-103. 39 Zum ›Aufbau‹ siehe R. S TEININGER , Südtirol zwischen Diplomatie 2 (Anm. 3), Kap. 5.3: »Die Gruppe Aufbau - die SVP vor der Spaltung? «, S. 584-597. 40 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 35. 41 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 41. 42 H ARALD J OHANNES , Die Sozialarbeit des K. V. W. (Beiträge zur alpenländischen Wirtschafts- und Sozialforschung 47), Innsbruck 1969, S. 68. 43 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 39. 44 M ANFRED K ERSTING , Aspekte der Industrialisierungspolitik, in: C HRISTOPH P AN / G ER - HARD M ARINELL (Hg.), Wirtschafts- und Sozialforschung in Tirol und Vorarlberg. FS für Ferdinand Ulmer, Wien 1972, S. 115-122, hier 120. <?page no="307"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 308 84 neue Industriebetriebe, je zur Hälfte einheimische und ausländische. Drei Viertel der neu geschaffenen Arbeitsplätze waren für Männer bestimmt. 45 Die neuen Betriebe riefen jedoch nicht nur Begeisterung hervor. »Einige bodenständige Industriebetriebe und einige Gastwirte und Hoteliers klagten, dass ihnen dadurch die Arbeitskräfte abhanden kämen und der Südtiroler Arbeitsmarkt leergefegt, ausgetrocknet und verstopft« sei. 46 Die Massenmigration trug also wesentlich zum Strukturwandel der Südtiroler Wirtschaft bei, einerseits, weil der Bevölkerungsschwund zu einem Umdenken hinsichtlich der Industrialisierung im Lande führte, andererseits, weil die Heimatfernen aufgrund ihrer Erfahrungen mit Arbeitsbedingungen in anderen Ländern aufklärend wirkten. Je besser die Arbeitskräfte in Südtirol über die ›europäischen Maßstäbe‹ informiert waren, desto weniger akzeptierten sie Paternalismus der Arbeitgeber, niedrigste Entlohnung und vorenthaltene soziale Sicherung. In der Folge gewannen die Arbeitsplätze in Südtirol nach und nach an Attraktivität, was ebenfalls zur Eindämmung der Abwanderung beitrug. 47 Mit dem massiv wachsenden Fremdenverkehr, der Industrialisierung in den 1960er Jahren, der Ausweitung des Stellenangebots, den verbesserten schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten und der politischen Entspannung infolge des Südtirolpakets schwanden in Südtirol nicht nur die Push-Faktoren der Arbeitsmigration. Diese Neuerungen entwickelten sich auch zu Pull-Faktoren für im Ausland tätige, mittlerweile gut ausgebildete Südtiroler Arbeitskräfte, die nun vermehrt zurückkehrten und den wirtschaftlichen Aufbau und die Modernisierung des Landes weiter vorantrieben. In lediglich zwei Jahrzehnten hatte sich die Wirtschafts- und Sozialstruktur Südtirols radikal gewandelt: Im Landwirtschaftssektor waren 1951 noch 43 % der Erwerbstätigen (inklusive Italienern) beschäftigt, 1961 nur mehr 31 % und 1971 lediglich 20 %. Im produzierenden Gewerbe wuchs der Anteil von 23 % im Jahr 1951 auf 28 % 1961 und 31 % 1971. Am stärksten legte der Dienstleistungssektor zu, bedingt v. a. durch starken Zuwachs in der öffentlichen Verwaltung, im Tourismus und im Handel. Hier waren 1951 erst 34 % der Erwerbstätigen beschäftigt, 1961 schon 41 % und 1971 dann 49 %. 48 45 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 39-42; M ANFRED K ERSTING , Industrie und Industriepolitik in Südtirol (Beiträge zur alpenländischen Wirtschafts- und Sozialforschung 165), Innsbruck 1973, S. 58-70. Die ausländischen Betriebsgründungen in Südtirol von 1955- 1971 behandelt ausführlich A. P IXNER , Industrie (Anm. 34), S. 38-48, die inländischen S. 48-53. 46 M. K ERSTING , Aspekte (Anm. 44), S. 121. 47 L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), Kap. V: »Gibt es Dämme gegen die Abwanderung? «, S. 109-130. 48 K. S EEBACHER , Industrie (Anm. 4), S. 51. <?page no="308"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 309 Der Strukturwandel brachte auf allen Gebieten eine Verschiebung zugunsten der deutschen Sprachgruppe in Südtirol. »Im Grunde stellte dieser Prozeß nichts anderes dar, als eine Normalisierung gegenüber dem vorherigen Zustand ausgeprägter ethnischer Arbeitsteilung. Die italienischsprachigen Berufstätigen wurden nicht verdrängt, doch sie verloren ihre ehemalige Vormachtstellung. Insbesondere gilt das natürlich für den öffentlichen Dienst, wo die Proporzbestimmungen genau auf eine solche Entwicklung abzielten.« 49 Zwar »waren die Italiener auch noch 1981 in allen nicht landwirtschaftlichen Wirtschaftszweigen, mit Ausnahme von zweien (Gastgewerbe, Sonstiges verarbeitendes Gewerbe)« im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Südtiroler Bevölkerung überproportional vertreten, 50 ihre jahrzehntelange Hegemonie außerhalb des bäuerlichen Bereiches war aber überwunden - und das ironischerweise über die Modernisierung und Industrialisierung des Landes, die im deutschsprachigen Südtirol aus Furcht vor eben dieser italienischen Hegemonie so lange und so folgenreich abgelehnt und hinausgezögert worden war. 4. Kollektivbiographische Merkmale der Langzeit-Heimatfernen 51 Die meisten Abgewanderten kehrten über kurz oder lang wieder nach Südtirol zurück, doch blieb ein nicht unerheblicher Teil bis heute im Ausland ›hängen‹. Die auf Fragebogenaktionen um das Jahr 2000 beruhende quantitative Analyse der Lebensstationen und Motive dieser Langzeit-Heimatfernen wurde qualitativ durch lebensgeschichtliche Interviews ergänzt. 52 Im Folgenden die wichtigsten Ergebnisse im Überblick: Die Langzeit-Heimatfernen um das Jahr 2000 setzten sich aus rund 60 % Männern und 40 % Frauen zusammen, während bei den Heimatfernen um 1970, als es aufgrund der zeitlichen Nähe noch keine Unterscheidung in Kurzzeit- und Langzeit-Heimatferne gab, der Frauenanteil etwas niedriger war. Anscheinend blieben also im Verhältnis mehr Frauen als Männer endgültig im Ausland. Drei Viertel der Langzeit-Heimatfernen wurden in den Jahren 1931 bis 1945 geboren. Knapp die Hälfte hat mindestens fünf Geschwister, kam also aus einer relativ großen Familie. 60 % der Männer, aber nur 40 % der Frauen stammten aus einem bäuerlichen Haushalt. 29 % der Männer und über 44 % der Frauen hatten zum Zeitpunkt ihrer Abwanderung bereits den Vater oder die Mutter oder sogar beide Elternteile verloren. 49 H. A TZ , Verschobene Grenzen (Anm. 10), S. 161. 50 H. A TZ , Verschobene Grenzen (Anm. 10), S. 162. 51 Vgl. S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 79-118, 217-222. 52 Vgl. S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 119-210. <?page no="309"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 310 46 % der Männer und 39 % der Frauen gaben an, dass Freunde oder Bekannte schon vor ihnen oder gleichzeitig mit ihnen abgewandert waren. Fast alle - Frauen wie Männer - gingen als Ledige fort. Die meisten heirateten nach der Abwanderung, mehr als die Hälfte davon eine(n) in der neuen Heimat Einheimische(n). Über 90 % der Langzeit-Heimatfernen hatten zumindest losen Kontakt mit anderen Heimatfernen. Graphik 1: Geburtsjahrgänge der Langzeit-Heimatfernen um 2000 in Prozent Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Ausbildung gibt es gravierende Unterschiede bei den heute noch heimatfernen Frauen und Männern: 55 % der Männer gegenüber 69 % der Frauen besuchten nur die achtklassige Volksschule. 25 % der Männer absolvierten im Ausland ein Universitäts- oder Fachhochschulstudium, von den Frauen keine einzige! 5,1 2,5 5,1 29,1 22,8 21,5 11,4 2,5 0 7,7 1,9 15,4 30,8 30,8 7,7 5,8 3,1 4,6 3,8 23,7 26 25,2 9,9 3,8 0 10 20 30 40 1911-1920 1921-1925 1926-1930 1931-1935 1936-1940 1941-1945 1946-1950 1951-1960 Männer% Frauen% gesamt% <?page no="310"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 311 Graphik 2: Schule/ Studium 41 % der Frauen sind heute noch ohne Berufsausbildung, von den Männern dagegen nur 14 %. Von denen, die in Südtirol einen Beruf erlernt hatten, wechselten ihn rund 60 % nach der Abwanderung, der Frauenanteil unter diesen ist höher als jener der Männer. Graphik 3: Berufsausbildung Der weitaus größte Teil der Abwanderungen erfolgte, wie erwähnt, von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, auch hier mit deutlichen Unterschieden bei Frauen und Männern: Von 1956 bis 1960 gingen 40 % der Männer und 27 % der Frauen weg, von 1961 bis 1965 dann 26 % der Männer und 31 % der Frauen. 0% 5% 10%15%20%25%30%35%40%45%50%55%60%65%70%75%80%85%90%95%100% Männer Frauen nur Volksschule mehr als Volksschule Studium 0% 5% 10%15%20%25%30%35%40%45%50%55%60%65%70%75%80%85%90%95%100% Männer Frauen keine ja (in Südtirol) ja (in Italien) ja (im Ausland) ja (unbekannt wo) <?page no="311"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 312 Graphik 4: Abwanderungsjahre der Langzeit-Heimatfernen um 2000 in Prozent Fast 80 % der Langzeit-Heimatfernen waren bei der Abwanderung jünger als 27 Jahre. Die Frauen gingen jedoch nicht nur mehrheitlich später als die Männer, sie waren zum Zeitpunkt ihrer Abwanderung im Durchschnitt auch älter als die Männer - neben den beschriebenen Bildungsunterschieden zwei weitere deutliche Hinweise auf die patriarchalisch-konservative Struktur der Südtiroler Gesellschaft, die für Frauen und Männer sehr unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen schuf. Graphik 5: Abwanderungsalter der Langzeit-Heimatfernen um 2000 in Prozent 5 16,3 40 26,3 8,8 3,8 7,7 7,7 26,9 30,8 15,4 11,5 6,1 12,9 34,8 28 11,4 6,8 0 10 20 30 40 50 60 1945-1950 1951-1955 1956-1960 1961-1965 1966-1970 1971-1980 Männer% Frauen% gesamt% 0 19,2 37,2 28,2 6,4 5,1 1,3 2,6 2 12 34 26 14 8 2 2 0,8 16,4 35,9 27,3 9,4 6,3 1,6 2,3 0 10 20 30 40 unter 15 15-18 19-22 23-26 27-30 31-35 36-40 älter Männer% Frauen% gesamt% <?page no="312"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 313 Aufschlussreich sind auch die Motive, die diese Heimatfernen zur Abwanderung bewogen. Die Gewichtung und die Rangfolge der Gründe (Mehrfachnennungen möglich) differiert deutlich bei Frauen und Männern, auch wenn ›Arbeit‹ insgesamt das am häufigsten genannte Motiv war (78,1 % der Männer und 63,3 % der Frauen). Bei den Männern kam an zweiter Stelle ›Aus- und Fortbildung‹ (41,1 %), an dritter Stelle ›Politik‹ (15,1 %) und zuletzt (5,5 %) ›Heirat‹ gleichauf mit ›Militär‹, d. h. dem Wunsch, den Dienst im italienischen Heer zu vermeiden. Bei den Frauen stand an zweiter Stelle der Beweggrund ›Heirat‹ (32,7 %), an dritter ›Aus- und Fortbildung‹ (20,4 %) und an letzter ›Politik‹, die praktisch keine Rolle hinsichtlich des Entschlusses zur Abwanderung spielte. Graphik 6: Abwanderungsgründe der Langzeit-Heimatfernen um 2000 in Prozent (Mehrfachnennungen möglich) Das erste Zielland ihrer Abwanderung war für 59 % Deutschland, für 18 % die Schweiz, für 15 % Österreich und für 8 % ein anderes Land. Bei beiden Geschlechtern zog die absolute Mehrheit nach Deutschland. Bei den Männern stand an zweiter Stelle die Schweiz, an dritter Österreich, bei den Frauen hingegen an zweiter Stelle Österreich und an dritter die Schweiz. Diese drei Hauptzielländer waren nicht während der gesamten hier untersuchten Zeit der Südtiroler Arbeitsmigration gleich bedeutsam: Bis 1950 ging die Wanderung praktisch nur in die Schweiz - einleuchtend, wenn man sich die Wirtschaftslage und die alliierte Besetzung sowohl Österreichs als auch Deutschlands in 41,1 78,1 15,1 5,5 5,5 11 20,4 63,3 2 0 32,7 18,4 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Aus-/ Fortbildung Arbeit Politik Militär Heirat Sonstige Männer Frauen <?page no="313"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 314 diesen ersten Nachkriegsjahren vor Augen hält. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre holten diese beiden Staaten zunehmend auf, und ab Mitte der 1950er Jahre dominierte die Bundesrepublik Deutschland eindeutig das Bild. Aufschlussreich ist auch die chronologische Analyse des Wanderungsstromes. Das Gros der Südtiroler Arbeitsmigration in die Schweiz, nämlich mehr als 65 %, fällt erwartungsgemäß in das erste Nachkriegsjahrzehnt. Die Migration nach Österreich zeigt ein um fünf Jahre verschobenes Bild, hier wanderten rund 65 % in den 1950er Jahren zu. Der Schwerpunkt des Wanderungsstromes in die Bundesrepublik erfolgte um weitere fünf Jahre versetzt: 70 % entfielen auf die Zeit von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, die ja auch insgesamt den Hauptzeitraum der Südtiroler Arbeitsmigration bildete. Die Beweggründe für die Abwanderung und die Wahl des ersten Ziellandes scheinen bei Männern und Frauen in unterschiedlicher Weise zusammenzuhängen: Für die zuerst nach Österreich abgewanderten Männer hatte das Motiv ›Aus- und Weiterbildung‹ die größte Bedeutung, für alle anderen das Motiv ›Arbeit‹, wobei es den höchsten Stellenwert bei den in die Schweiz Abgewanderten einnimmt. Bei den Frauen war überall ›Arbeit‹ der wichtigste Grund, bei den nach Österreich und in die Schweiz Abgewanderten gefolgt von ›Aus- und Weiterbildung‹ und an dritter Stelle ›Heirat‹. Bei den nach Deutschland abgewanderten Frauen stand hingegen ›Heirat‹ an zweiter Stelle, was durch ihre große Zahl dazu führt, dass in der Gesamtstatistik der weiblichen Langzeit-Heimatfernen der Abwanderungsgrund ›Heirat‹ vor ›Aus- und Weiterbildung‹ auf dem zweiten Platz rangiert. Als ›Bildungsland‹ hatte Deutschland für die Frauen die geringste Bedeutung, als ›Heiratsland‹ hingegen die größte. Insgesamt waren die Frauen mobiler als die Männer, was sich nicht nur an ihrem vergleichsweise höheren Anteil unter den Weitergewanderten zeigt: Während 70 % der Männer entweder nur innerhalb ihres ersten Ziellandes weiterwanderten oder schlussendlich wieder dorthin zurückkehrten, waren es bei den Frauen lediglich 48 %. Am wenigsten sesshaft waren die Langzeit-Heimatfernen mit dem Zielland Österreich: über 70 % von ihnen nahmen nach der Abwanderung noch mindestens einen Ortswechsel vor. An zweiter Stelle folgen diejenigen mit dem Zielland Schweiz, hier wanderten über 58 % weiter, und von den ›Sesshaftesten‹, mit Zielland Bundesrepublik Deutschland, waren es immerhin auch noch über 53 %. Zwei Drittel der heute noch heimatfernen Südtirolerinnen und Südtiroler empfinden nach wie vor sehr starke Heimatgefühle und 58 % haben darüber hinaus immer noch den Wunsch, nach Südtirol zurückzukehren - die Frauen allerdings weniger als die Männer. <?page no="314"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 315 5. Diskriminierung und Abwanderung 53 Neben den vor allem ökonomischen Push- und Pull-Faktoren konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen erlebter Diskriminierung und Abwanderung sowohl statistisch festgemacht als auch mittels der lebensgeschichtlichen Interviews belegt werden. Besonders deutlich wird der Konnex zwischen Ausgrenzung und Migration anhand zweier Außenseitergruppen in der Südtiroler Nachkriegsgesellschaft, die bezeichnenderweise in der Studie von 1973 nicht angesprochen werden: einerseits die ›Volkstumsverräter‹, die in einer deutsch-italienischen Partnerschaft, einer sogenannten ›Mischehe‹, lebten, andererseits die im Zweiten Weltkrieg um- und danach wieder rückgesiedelten Deutschlandoptanten, auf die hier näher eingegangen werden soll. Ein Abkommen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien hatte 1939/ 40 rund 235.000 deutschsprachige Südtiroler gezwungen, sich für einen der beiden Staaten zu entscheiden. Zwischen 76 und 82 % hatten für Deutschland optiert, 54 rund 75.000 waren tatsächlich ins Deutsche Reich umgesiedelt, 55 drei Viertel davon ins ehemalige Österreich, hauptsächlich in den Reichsgau Tirol-Vorarlberg. 56 Gegen Kriegsende kamen zahlreiche Umsiedler aus dem übrigen Deutschen Reich und aus von diesem besetzten Gebieten ebenfalls zurück in den Gau. Viele zogen illegal nach Südtirol weiter, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Dennoch lebten im Mai 1947 etwa 49.000 Südtiroler Umsiedler in Österreich, dazu rund 10.000 Südtirolerinnen und Südtiroler, die schon vor der Option hierher gekommen waren. 57 Österreich war in den ersten Nachkriegsjahren insgesamt ein Durchzugs-, aber auch Asylland für Displaced Persons (DPs), Flüchtlinge und Vertriebene. 58 53 Vgl. S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 93-113. 54 K. S TUHLPFARRER , Die defekte Umsiedlung (Anm. 6), S. 293. 55 H ELMUT A LEXANDER , Die Umsiedlung der Südtiroler 1939-1945, in: D ERS ./ S TEFAN L ECHNER / A DOLF L EIDLMAIR , Heimatlos. Die Umsiedlung der Südtiroler, Wien 1993, S. 43-179, hier 99. 56 K. S TUHLPFARRER , Die defekte Umsiedlung (Anm. 6), S. 293. 57 S TEFAN L ECHNER / H ELMUT A LEXANDER , Die Rücksiedlung, in: H ELMUT A LEXAN - DER / S TEFAN L ECHNER / A DOLF L EIDLMAIR , Heimatlos. Die Umsiedlung der Südtiroler, Wien 1993, S. 181-271, hier 246. 58 Vgl. T HOMAS A LBRICH , Asylland wider Willen. Die Problematik der »Displaced Persons« in Österreich 1945-1948, in: G ÜNTER B ISCHOF / J OSEF L EIDENFROST (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945-1949 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 4), Innsbruck 1988, S. 217-244; G ABRIELA S TIEBER , Die Lösung des Flüchtlingsproblems 1945-1960, in: T HOMAS A LBRICH u. a. (Hg.), Österreich in den Fünfzigern (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 11), Innsbruck 1995, S. 67-93. <?page no="315"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 316 Aufgrund seiner eigenen Probleme, nicht zuletzt wegen der prekären Versorgungslage, wollte Österreich all diese Menschen möglichst rasch loswerden. Mit der angestrebten Repatriierung der Südtiroler sollte auch die dortige deutsche Volksgruppe wieder vergrößert und gestärkt werden. Umgekehrt hatte Italien daran denkbar wenig Interesse und gestaltete daher die legale Rücksiedlung und die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft zu einem hürdenreichen Unterfangen. So war die Rücksiedlung von insgesamt etwa 20.000 bis 25.000 Umsiedlern (die Hälfte davon illegal) 59 für Südtirol kurzfristig eine drängende politische Frage, langfristig aber ein großes, bis heute wenig aufgearbeitetes soziales Problem, das sich einerseits um die Verteilung knapper Ressourcen, andererseits um Ausgrenzung und Wiedereingliederung drehte. Die Rücksiedler waren nämlich die lebende Mahnung an die im Zuge von Option und Umsiedlung aufgerissenen tiefen Gräben, die quer durch Dorfgemeinschaften und Familien gingen, und die in der Südtiroler Nachkriegsgesellschaft ansonsten recht erfolgreich verdrängt wurden. Ein Aspekt dieses Problems ist der in der Studie ›Heimatfern‹ erstmals aufgezeigte frappierende Zusammenhang zwischen Um- und Rücksiedlung auf der einen und späterer Abwanderung auf der anderen Seite. Während in Südtirol in den 1950er Jahren also etwa jeder Zehnte der Gruppe der Rücksiedler angehörte, ist dieser Anteil unter den späteren Langzeit-Heimatfernen doppelt so hoch. Ein Fünftel von ihnen war im Kindes- oder Jugendalter mit der Familie um- und rückgesiedelt. Bemerkenswert ist der große Unterschied zwischen den Geschlechtern: während bei den heimatfernen Männern ›nur‹ jeder achte aus einer Rücksiedlerfamilie stammt, ist es bei den heimatfernen Frauen jede dritte! Eindrücklich ist das Beispiel der Familie Herbst, die im Zuge der Option nach Vorarlberg umgesiedelt und 1951 nach Südtirol zurückgekehrt war. Schlussendlich wurden - neben den Eltern - lediglich drei der 13 Kinder wieder in Südtirol sesshaft. 60 6. Pull-Faktoren der Migration: Situation der Zielländer - Beispiel Österreich/ Zielgebiet Vorarlberg Neben den beschriebenen Push-Faktoren wirkten starke Pull-Faktoren aus dem deutschsprachigen Ausland auf die jungen Südtirolerinnen und Südtiroler. In den ersten Nachkriegsjahren war natürlich die vom Zweiten Weltkrieg verschont 59 S TEFAN L ECHNER , Rückoption und Rücksiedlung nach Südtirol, in: K LAUS E ISTERER / R OLF S TEININGER (Hg.), Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 5), Innsbruck 1989, S. 365-384, hier 380. 60 Vgl. die Lebensgeschichte von Rosa Herbst in: S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 128-137. <?page no="316"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 317 gebliebene Schweiz das attraktivste Zielland, wozu auch das eng mit der Schweiz verbundene Liechtenstein zu zählen ist. Die meisten Südtiroler Heimatfernen zog es freilich in den folgenden Jahren in das ›Wirtschaftswunderland‹ Bundesrepublik Deutschland, wo sie quasi den Auftakt der großen Gastarbeiterströme ab Beginn der 1960er Jahre bildeten. 61 Ebenfalls gegenüber der Schweiz etwas zeitverschoben zog auch Österreich Südtiroler Migranten an - nachdem Österreich noch kurz zuvor bestrebt gewesen war, möglichst viele im Zuge von Option und Umsiedlung hier gestrandete Südtirolerinnen und Südtiroler wieder loszuwerden. Wie in Deutschland bildeten die Heimatfernen auch in Österreich schon in den 1950er Jahren die Vorhut der späteren großen Gastarbeiterströme ab den 1960er Jahren aus Jugoslawien und der Türkei. In Österreich bevorzugten die Südtiroler Heimatfernen die Bundesländer Tirol (d. h. eigentlich Nordtirol, nicht Osttirol) und Vorarlberg, einerseits wohl wegen der geographischen Nähe, andererseits weil das Gros der nicht rückgesiedelten Optanten hier lebte und nun so manchen als erste Anlaufstelle diente. Darüber hinaus war Wien mit seinem großen Bildungsangebot ein wichtiges Zielgebiet der Südtiroler Migration. 62 Die erste Nachkriegskonjunktur in Österreich dauerte von 1953 bis 1955, die zweite begann 1959/ 60. Dazwischen lag jedoch keine Rezession, »sondern höchstens eine konjunkturelle Atempause, in der die Wirtschaft auf hohem Niveau verharrte«. 63 Die österreichische Wirtschaft zeigte in den 1960er Jahren einen stabilen Aufwärtstrend. 1968 erfolgte noch einmal ein kräftiger Konjunkturschub, den erst die große Rezession von 1975 beendete. 64 Österreichs Arbeitslosenrate lag 1953 noch bei rund 8 %, in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre durchschnittlich bei 4,7 %, in den 1960er Jahren bei 2,7 % und in den 1970er Jahren nur mehr bei 1,9 %. Die Verlängerung der Schulpflicht, die Tendenz zu höherer Schulbildung, ab 1970 die Erhöhung des Mindesturlaubes, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Ausweitung des Dienstleistungssektors und eine expansive Wirtschaftspolitik waren die Gründe. 65 Schon 1960 wurde von einer »ungewöhnlich hohe[n] Ausschöpfung der verfügbaren Arbeitskraftreserven« gesprochen. 66 In den westlichen Bundesländern war 61 Vgl. S. F ALCH , Heimatfern (Anm. 1), S. 21-27. 62 Vgl. L. T OEPFER , Abwanderung (Anm. 13), S. 75. 63 F RANZ N EMSCHAK , Aspekte der österreichischen Konjunkturpolitik im Herbst 1960 (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Vorträge und Aufsätze 13), Wien 1960, S. 6f. 64 H ILDEGARD H EMETSBERGER -K OLLER , 1945 bis zur Gegenwart, in: D IES ./ K ARL B ACHINGER / H ERBERT M ATIS , Grundriß der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Wien 1987, S. 84-118, hier 93f. 65 H. H EMETSBERGER -K OLLER , 1945 bis zur Gegenwart (Anm. 64), S. 92. 66 F. N EMSCHAK , Aspekte (Anm. 63), S. 8. <?page no="317"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 318 das Stellenangebot »in fast allen Berufen«, in den östlichen »in wichtigen Schlüsselbereichen größer als die Zahl der voll einsatzfähigen Arbeitskräfte«. 67 Zudem wanderten hochqualifizierte österreichische Techniker und Facharbeiter in die westlichen Nachbarländer ab. 68 1961 waren in ganz Österreich erst 16.000 ausländische Arbeitskräfte registriert, das entsprach 0,7 % der unselbstständig Erwerbstätigen. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs die Zahl auf das über Zehnfache, nämlich 165.000 oder rund 6 % der unselbstständig Beschäftigten des Jahres 1971 an. 1973 wurde der Höchststand von 226.800 Personen bzw. 8,7 % der unselbstständig Beschäftigten erreicht 69 und wie in Deutschland die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte gestoppt. Die Vorarlberger Wirtschaft war bis in die 1970er Jahre von der Textilindustrie geprägt. 70 Der bäuerliche Sektor spielte hier schon viel länger als in Nord- und erst recht als in Südtirol nur mehr eine untergeordnete Rolle. Schon 1934 hatten nur noch 26,5 % der Bevölkerung in diesem Bereich gearbeitet, und 1951 betrug der Anteil der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen überhaupt nur noch 10,9 %. 71 Im Zweiten Weltkrieg war die Vorarlberger Wirtschaft relativ glimpflich davongekommen, sodass es 1945 weder an funktionierenden Betrieben noch Maschinen fehlte. Allerdings mangelte es an Rohstoffen, Arbeitskräften 72 und intakten Verkehrsverbindungen. Schon im Sommer 1949 konnte die erste ›Export- und Musterschau Dornbirn‹ abgehalten werden. Seither findet jedes Jahr die ›Dornbirner Messe‹ statt. 73 Die zahlreichen Ausländer, die bei Kriegsende 16 % der Vorarlberger Wohnbevölkerung stellten, waren vor allem ›Reichsdeutsche‹, Südtiroler Umsiedler und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion. Teils durch Abwanderung, teils durch Einbürgerungen ging der Ausländeranteil in den folgenden Jahren laufend zurück. 1961 war mit 10.102 Personen der tiefste Stand erreicht, was 4,3 % der damaligen Wohnbevölkerung entspricht. Danach stieg die Quote wieder an. 74 67 F. N EMSCHAK , Aspekte (Anm. 63) , S. 11. 68 H. H EMETSBERGER -K OLLER , 1945 bis zur Gegenwart (Anm. 64), S. 85f. 69 H. H EMETSBERGER -K OLLER , 1945 bis zur Gegenwart (Anm. 64), S. 92. 70 S TEPHAN H. L INDNER , Makroökonomische Entwicklung, in: F RANZ M ATHIS / W OLF - GANG W EBER (Hg.), Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit (Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945/ Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 6/ 4), Wien u. a. 2000, S. 77-91, hier 88. 71 B ERND L OCHER , Struktur und Strukturveränderungen der Industrie, in: Wirtschafts- und Sozialforschung in Tirol und Vorarlberg, S. 474-479, hier 474. 72 S. L INDNER , Makroökonomische Entwicklung (Anm. 70), S. 81. 73 Vgl. W ERNER M ATT , Dornbirner Messe, in: Vorarlberg Chronik, hg. vom Land Vorarlberg, 2. Aufl. Dornbirn 2000, S. 260-262. 74 Peter H ELFER , Bevölkerungsentwicklung, in: F. M ATHIS / W. W EBER (Hg.), Vorarlberg (Anm. 70), S. 27-74, hier 63f. <?page no="318"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 319 1947 lebten noch rund 8.200 Südtiroler Umsiedler in Vorarlberg, von denen lediglich ein gutes Viertel von vornherein nicht mehr nach Südtirol zurückkehren wollte. Wegen der italienischen Verschleppungstaktik bei der Wiederverleihung der italienischen Staatsbürgerschaft und dem mangelnden Bemühen in Südtirol, für die Rücksiedler Wohnraum und Arbeitsplätze zu schaffen, konnte bis Ende 1955 jedoch nur ein gutes Zehntel der Umsiedler den Heimkehrwunsch in die Tat umsetzen. Ungeachtet dieser Probleme folgte jedoch auch das Land Vorarlberg der gesamtösterreichischen Linie, diese Personengruppe möglichst wieder loszuwerden. Bis 1953 wurden nur 1.660 Umsiedler eingebürgert. Erst ab Mitte der 1950er Jahre änderte sich dann diese Politik. 75 Fast 63 % der Südtiroler Umsiedlerinnen und Umsiedler in Vorarlberg zählten zur Arbeiterschicht und wurden weitgehend als Menschen zweiter Klasse behandelt, bis mit der Zuwanderung der so genannten Innerösterreicher eine neue Gruppe von Underdogs entstand. »Aufgewertet wurden die Südtiroler erst, als man Kärntner und Steirer in die Fabriken holte,« 76 die ab der Aufhebung der Rationierungen 1948/ 49 bis Ende der 1960er Jahre nach Vorarlberg kamen. 77 Allerdings reichte dieser Zustrom von Arbeitskräften in den 1960er Jahren längst nicht mehr aus, sodass zunehmend Ausländer angeworben werden mussten. 78 1960 hatte Vorarlberg erst 1.755 ausländische Beschäftigte. Im März 1971 waren es mehr als zehnmal so viele, nämlich rund 18.000, was 20 % der damals unselbstständig Erwerbstätigen und die relativ höchste Ausländerbeschäftigung in Österreich bedeutete. 79 1973 wurde der Höhepunkt mit 24.513 Personen (22,7 %) erreicht. 80 Von der Zuwanderung der ausländischen Arbeitskräfte profitierten nun wiederum die Innerösterreicher und wurden nach und nach von einer Randgruppe zu einem Teil der Vorarlberger Gesellschaft. 81 Als die Südtiroler Heimatfernen der 1950er und 1960er Jahre nach Vorarlberg kamen, war die Diskriminierung ihrer im Zweiten Weltkrieg umgesiedelten Landsleute jedenfalls Vergangenheit, und sie selbst wurden vor dem Hintergrund der anderssprachigen Zuwanderer kaum als Fremde wahrgenommen. Wie die Lebensstationen in Vorarlberg sesshaft gewordener Südtiroler Arbeitsmigranten aussahen, illustrieren die Angaben dreier Männer, die sich an der anonym durchgeführten Fragebogenaktion um das Jahr 2000 beteiligten. Alle drei - 75 Vgl. Wilfried H ANSER , Die Steirer und Kärntner sowie Gastarbeiter in Vorarlberg nach 1945, Hausarbeit Innsbruck 1984, S. 7. 76 W. H ANSER , Die Steirer (Anm. 75), S. 8. 77 W. H ANSER , Die Steirer (Anm. 75), S. 13-15. 78 S. L INDNER , Makroökonomische Entwicklung (Anm. 70), S. 77. 79 W OLFGANG I LG , Wirtschaftsgeschichte Vorarlbergs, Bregenz 1972. 80 W ERNER B UNDSCHUH , Mentalität, Identität, Integration, in: F. M ATHIS / W. W EBER (Hg.), Vorarlberg (Anm. 70), S. 201-219, hier 211. 81 Vgl. W. B UNDSCHUH , Mentalität (Anm. 80), S. 211. <?page no="319"?> S ABINE A LBRICH -F ALCH 320 A, B und C genannt und nach dem Jahr ihrer Abwanderung aus Südtirol geordnet - stammen aus Laas im Vinschgau. A kam 1937 zur Welt, der Vater war Steinmetz, die Mutter Hausfrau. In der Familie gab es insgesamt sechs Kinder. A absolvierte in Südtirol die Volksschule und zog 1954, also mit 17 Jahren, nach Schruns in Vorarlberg zur Berufsausbildung als Gipser und Maurer. Später vollzog er einen Berufswechsel zum Metallarbeiter. Zwischendurch arbeitete er ein Jahr in Deutschland, kehrte aber wieder nach Vorarlberg zurück, wo er eine Kärntnerin heiratete. A verspürt keinen Wunsch nach Südtirol zurückzukehren, ordnet aber trotzdem seine auf Südtirol bezogenen Heimatgefühle im Bereich ›mittel bis stark‹ ein. Er gehört dem Südtiroler Verein an, hat Kontakte zu anderen Heimatfernen und zu umgesiedelten Optanten. B könnte ein älterer Bruder von A sein, da auch sein Vater Steinmetz, die Mutter Hausfrau und in der Familie sechs Kinder waren. Jahrgang 1935, hatte B in Südtirol Volksschule, Berufsschule und eine Schneiderlehre absolviert. Als er 1960 mit 25 Jahren nach Vorarlberg zog, war er bereits verheiratet und gehört damit einer Minderheit unter den Langzeit-Heimatfernen an, die zum größten Teil als Ledige ins Ausland gingen. Als Grund für die Abwanderung nannte er in der Heimat zu wenig Verdienst, und auch die Politik spielte eine Rolle. 1965 unternahm er einen Rückkehrversuch, blieb aber dann doch als Vorarbeiter in einer Textilfabrik in Vorarlberg. Er empfindet heute noch starke Heimatgefühle für Südtirol, ist im Südtiroler Verein, hat Kontakte zu anderen Heimatfernen und zu umgesiedelten Optanten. C wurde 1943 in eine Arbeiterfamilie mit 11 Kindern geboren. Als er 1961 als 18-Jähriger auf Arbeitssuche nach Deutschland ging, war sein Vater bereits verstorben. 1963 zog C nach Österreich weiter und wurde Metallangestellter in Vorarlberg. Er ist im Südtiroler Verein, hat Kontakte zu anderen Heimatfernen und zu umgesiedelten Optanten. Er hat nicht den Wunsch, nach Südtirol zurückzukehren und ordnet seine Heimatgefühle für Südtirol im mittleren Bereich ein. 7. Zusammenfassung und Einordnung der Südtiroler Arbeitsmigration Die Südtiroler Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre unterscheidet sich von der internationalen Arbeitsmigration in Europa bzw. von Europa nach Übersee durch ein wesentliches Kriterium: Sie führte größtenteils ins deutschsprachige, also muttersprachliche Ausland. Wenn auch der Dialekt mancher Gegenden, v. a. im alemannischen Bereich, anfangs fast einer Fremdsprache gleichkommen mochte, waren die kulturellen und sprachlichen Barrieren im neuen Umfeld insgesamt sehr überschaubar. Im Unterschied zu den Südtiroler Umsiedlern des Zweiten Weltkriegs erlebten die Heimatfernen der Nachkriegszeit wenig Diskriminierung. <?page no="320"?> S ÜDTIROLER A RBEITSMIGRATION DER 1950/ 60 ER J AHRE 321 Mancherorts wurden ihnen wegen der politischen Turbulenzen in Südtirol in dieser Zeit sogar besondere Sympathien entgegengebracht. Daher kann diese Wanderbewegung, obwohl über Staatsgrenzen hinweg, als ein Sonderfall der Binnenmigration gesehen werden. Sie ähnelt weit eher der Arbeitsmigration der Innerösterreicher aus Kärnten und der Steiermark in industrielle Ballungszentren Westösterreichs, insbesondere Vorarlbergs, oder dem enormen Strom italienischer Arbeiter aus dem unterentwickelten Süden in den wohlhabenden Norden des Landes, 82 als etwa der italienischen Arbeitsmigration ins Ausland, die in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre dritte Hochblüte erlebte und Millionen in europäische Länder und nach Übersee führte. 83 Nicht nur die grundsätzliche Offenheit und der geringe Anpassungsdruck des Aufnahmelandes gegenüber den Südtiroler Heimatfernen (im Unterschied zu anderssprachigen Zuwanderern) stützt die These von der Binnenmigration, sondern auch die Bedingungen der Akkulturation und Integration der Langzeit-Heimatfernen in ihrem neuen Umfeld. Einerseits erleichterte die sprachliche und kulturelle Verwandtschaft die Anpassung enorm, andererseits ermöglichte sie es gerade, dass die aus Südtirol Abgewanderten nicht ihre gesamte Herkunftskultur hinter sich lassen mussten, um im Aufnahmeland als zugehörig und nicht mehr fremd akzeptiert zu werden. Sie konnten ohne Anstoß zu erregen und sich selbst auszugrenzen hergebrachte Sprach- und Lebensgewohnheiten beibehalten und ungeachtet der zunehmenden Verwurzelung in der neuen Heimat Südtirolerinnen und Südtiroler bleiben. 82 Zur Problematik der italienischen Binnenwanderung dieser Zeit vgl. z. B. U LRIKE E GGER , Italienische Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprozesse in der Ausländerpolitik - ökonomisch-soziale Hintergründe, Diss. Innsbruck 1990, S. 13f. 83 Zu den italienischen Massenauswanderungen vgl. P ETER K AMMERER , Probleme von Entsendeländern im internationalen Vergleich: das Beispiel der Mittelmeerländer, in: K LAUS J. B ADE (Hg.), Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Ostfildern 1984, S. 734-757. <?page no="322"?> 323 Autorenverzeichnis Dr. Sabine Albrich-Falch Historikerin, Innsbruck Dr. Reinhard Baumann Historiker, München Prof. Dr. Mark Häberlein Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Bamberg Manfred Heerdegen, M. A. Historiker, Kempten Prof. i. R. Dr. Rolf Kießling ehem. Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, Universität Augsburg PD Dr. Frank Kleinehagenbrock Akad. Oberrat am Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Würzburg PD Dr. Thomas Krüger Akad. Rat am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Universität Augsburg Pfarrer Dr. Andreas Link Balthasar-Neumann-Berufsbildungszentrum Augsburg Dr. Marcel Mayer Stadtarchiv St. Gallen Dr. Wolfgang Scheffknecht Historiker, Lehrtätigkeit am Bundesgymnasium Bregenz-Blumenstraße und an der PH Feldkirch, LA an der Universität Innsbruck, Gemeindearchivar Lustenau Prof. Dr. Stephan Selzer Professur für Mitelalterliche Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr, Hamburg Prof. Dr. Sabine Ullmann Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Philip Zölls, M. A. Historisches Seminar der Universität Zürich <?page no="324"?> 325 Nachweis der Abbildungen Beitrag von S TEFAN S ELZER Abb. 1 Staatsarchiv Zürich C I, Nr. 607 Abb. 2 Schweizerisches Nationalmuseum, Landesmuseum Zürich IN-7011, DIG-1695 Karte Erstellung: Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, Medienzentrum Beitrag von R EINHARD B AUMANN Abb. 1 Anonym (um 1555): Landsknecht und Trosserin: Hans Guldemund der Ältere. Nürnberger fliegendes Blatt; aus: Georg L IEBE , Soldat und Waffenhandwerk. Das Buch vom bunten Rock, Leipzig 1899, S. 25. Abb. 2 Niklas Stör, Einzelblatt einer Landsknechtserie, um 1535; aus: Max G EISBERG , The German single-leaf woodcut, 1500-1550, Revised and edited by Walter L. S TRAUSS , 4., Bd. IV, New York 1974, S. 1318. Abb. 3 Federzeichnung von Urs Graf, 1519; aus: Urs G RAF , Die Zeichnungen im Kupferstichkabinett Basel, bearb. von Christian M ÜLLER , Katalog der Graf-Ausstellung in Basel 2001/ 2002, Basel 2001, S. 183. Beitrag von M ARK H ÄBERLEIN Abb. 1 SuStBA, 2 o Cod. Aug. 489, fol. 40v/ 41r Abb. 2 SuStBA, 4 o Cod. Aug. 263, fol. 23r Beitrag von A NDREAS L INK Abb. 1 Dekanatsarchiv Augsburg Abb. 2 Vorlage und Aufnahme HStASt, A 63, Bü. 101 Beitrag von W OLFGANG S CHEFFKNECHT Abb. 1 VLA, Karten 01/ 012 Beitrag von M ARCEL M AYER Abb. 1 StadtA St. Gallen, Stadttheater-Archiv Abb. 2 Kantonsbibliothek St. Gallen, Sammlung Zumbühl, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen Beitrag von M ANFRED H EERDEGEN Abb. 1 ANIM, Kaufbeuren Abb. 2 Anny Wundrak, Kaufbeuren