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Die »andere« Provinz

Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er Jahren

0201
2014
978-3-8649-6418-3
978-3-8676-4363-4
UVK Verlag 
Heike Kempe

Die >>68er<< wurden in den vergangenen Jahren zum Ausgangspunkt emotionsgeladener Debatten. Fokussierte die Forschung bislang hauptsächlich die Studentenunruhen in den Universitätsstädten, so fragen die Autorinnen und Autoren dieses Buches nach den politischen, sozialen und kulturellen Aus- und Aufbrüchen in der Provinz seit den 1960er Jahren - rund um den Bodensee, aber auch angrenzend in St. Gallen, Liechtenstein, dem Allgäu sowie im überregionalen Vergleich in Starnberg, Graz und den italienischen Provinzen Trento und Bozen. Neben der Vorstellung von alternativen Gruppierungen, Projekten und Aktionen in einzelnen Orten werden insbesondere der Provinz- und Heimatbegriff sowie die Bedeutung von interregionaler Vernetzung in diesem Milieu in den Blick genommen. Darüber hinaus wird ein Überblick über die jeweilige Quellenlage gegeben, um zu erkennen, wo und in welcher Form Quellen zu diesen Vorgängen zu finden sind und was getan werden muss, um weitere Informationen zu dokumentieren. Der Band versammelt Beiträge von Historikern und Historikerinnen, Archivaren sowie Schul-Projektgruppen und wendet sich an ein regionalgeschichtlich interessiertes Publikum.

<?page no="1"?> Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz Hg. von Jürgen Klöckler Band 13 <?page no="2"?> Heike Kempe (Hg.) Die »andere« Provinz Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er Jahren UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-6554 ISBN 978-3-86764-363-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Idee: Heike Kempe; Gestaltung: Sylvia Baur (Abt. Audio-Visuelle Medien, Universität Konstanz) Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Heike Kempe Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Sven Reichardt Provinz als historisches und politisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Gert Zang Politische, soziale und kulturelle Aufbrüche Ende der 1960er Jahre Die APO-Rebellion von 1968 … und einige ihrer Folgen in der Region Bodensee-Oberschwaben-Westallgäu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Karl Schweizer »... eine der letzten Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Konstanz Ende der 1960er Jahre Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky 1968 in St. Gallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gesellschaftskritik zwischen Planungseuphorie und Überfremdungsangst Marcel Mayer »I like Gerard« oder »Freddy for ever« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .109 1968 in Liechtenstein Jürgen Schremser »nachhaltig weiter politisiert«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Dornbirn im Spannungsfeld um das 68er Jahr Werner Matt Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Alles in allem eine phasenverschobene Reaktion auf die 68er-Bewegung Thomas Klagian Provinz im Wandel Als die Wäldertanne Kopf stand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Das Ende der traditionellen Autorität im Bregenzerwald in den 1970er Jahren? Katrin Netter <?page no="5"?> 6 Inhalt Regionalentwicklung im Allgäu durch die Aussteiger der 70er und 80er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Eva Wonneberger Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell . . . . . . . . . . . . . . . 183 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus in Konstanz und der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Heike Kempe Und anderswo? Überregionaler Vergleich Peripherien und Epizentren von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Die norditalienischen Städte Trient und Bozen im Vergleich Hans Heiss 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .259 Karin M. Schmidlechner Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen . . . . . . 277 Paul Hoser Freiräume vom Provinzalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Jugendzentrumsinitiativen im ländlich-kleinstädtischen Raum in den 1970er Jahren David Templin Überlieferung und Dokumentation 1968 und die Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .329 Überlieferung und Erinnerung Gerhard Fürmetz Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .339 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 <?page no="6"?> Vorwort Protest, Demonstrationen, Rufe nach Veränderung. Tausende Studenten gingen in den späten 1960er Jahren auf die Straße - und unter der Chiffre »68« in die Geschichtsbücher ein. Der Bruch mit der Nachkriegszeit war offensichtlich, 1968 wurde zur gesellschaftlichen Zäsur. Zum Forschungsstand Fokussierte die Forschung bislang hauptsächlich die Studentenunruhen in den Universitätsstädten um das Jahr 1968, erfährt der historiographische Zugriff auf den Gegenstand in jüngster Zeit signifikante Erweiterungen: Neben der Einbettung in längerfristige gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die die gesamte Dekade der »langen 1960er« ebenso ins Visier nimmt wie das »rote Jahrzehnt« nach 1968, soll insbesondere eine wachsende Zahl an Regionalstudien der Vielfalt und Dynamik der »68er- Bewegung« gerecht werden. Gleichzeitig gewinnt der Gegenstand durch eine kulturgeschichtliche Erweiterung an historischer Tiefenschärfe: Jenseits punktueller Protestereignisse, spezifischer politischer Utopien oder einzelner Bewegungselemente wendet sich die Forschung nun grundsätzlicher dem lebensweltlichen Kontext der Akteure zu und fragt nach Alltagspraktiken, gegenkulturellem Habitus und Lebensstil. Auf dieser alltagskulturellen Ebene wird der zeitgenössischen Protestkultur denn auch ihre eigentliche gesellschaftliche Relevanz und langfristige Breitenwirkung attestiert (S. Reichardt). Trotz des geschärften Blickes für die Bedeutung lokaler Entwicklungen finden dennoch die im allgemeinen Sprachgebrauch als Provinz titulierten Kleinstädte und ländlichen Regionen weiterhin kaum Beachtung. »Die im kollektiven Bewusstsein mit der 68er-Bewegung verknüpfte Ereignisgeschichte findet weit entfernt von der Provinz in einem urbanen Umfeld statt, wo es eine kritische Masse an Gleichgesinnten gab« (K. Netter, Bregenzerwald). Dennoch haben die Studentenbewegung, die Neuen Linken und Neuen Sozialen Bewegungen keineswegs nur in den Metropolen deutliche Spuren hinterlassen. Bereits 1970 registrierte die Zeitschrift Pardon: »Bisher blieb es weitgehend unbemerkt: die Außerparlamentarische Opposition hat bei ihren langen Marsch durch die Institutionen endlich auch die Provinz erreicht. Überall zwischen Flensburg und Konstanz haben sich lokale APO-Gruppen <?page no="7"?> 8 Vorwort gebildet. Ihr Ziel: gesellschaftliche Veränderung durch konkrete Basisarbeit in den Dörfern und Städten.« Zu den Beiträgen Der vorliegende Band greift dieses bislang stark vernachlässigte Forschungsfeld auf. Neben der Vorstellung alternativer Gruppierungen, Projekte oder Aktionen in einzelnen Orten, die zum Teil bis heute Bestand haben, werden insbesondere der Begriff der Provinz und die Bedeutung interregionaler Vernetzung in diesem Milieu in den Blick genommen. Die Beiträge setzen sich mit den Fragen auseinander, inwiefern die »Aneignung der Provinz unter gegenkulturellen Vorzeichen« zu einer (positiven) Neuwahrnehmung derselben führte und ob diese Neuwahrnehmung auch wichtige Impulse für einen stärker werdenden Regionalismus und insbesondere für eine positive Neubesetzung des Heimatbegriffs lieferte. Mit einem regionalen Zugriff erkunden die Autorinnen und Autoren in 17 Beiträgen die Transformationsprozesse seit den späten 1960er Jahren im Bodenseeraum. Der Blick in die regionale Tiefe der vorarlbergischen (Beiträge W. Matt, Th. Klagian), liechtensteinischen (Beitrag J. Schremser) oder thurgauischen (Beitrag M. Mayer) Variante von 1968 erweist sich als durchaus lohnenswert, denn dadurch treten bislang noch nicht näher betrachtete örtliche Voraussetzungen, Akteure und Themen ans Licht, und so lassen sich eine Reihe von bis dahin vorherrschenden allgemeinen Annahmen überprüfen und korrigieren. Insofern kann der regionale Blickwinkel dazu beitragen, den in der öffentlichen Geschichtskultur fest gefügten Kanon der Bilder von 1968 aufzubrechen, und zeigen, dass der Schub gerade auch fernab von den Hauptschauplätzen der Revolte, in der Provinz eine ganz spezifische (Eigen-)Dynamik entfaltete, »nur eben wie es sich für die Provinz ›g’hört‹, verspätet, verwobenener, personalisierter aber nicht minder heftig« (W. Matt, Dornbirn). Auch im Bodenseeraum entwickelte sich ein alternatives Milieu, das in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur eine alternative Infrastruktur mit Vergemeinschaftungsräumen (Wohngemeinschaften, Frauenu. Jugendzentren, linke Kneipen), Läden (Ökologie, Dritte Welt, linke Bücher etc.) und alternativen Medien (Zeitungen, Radiosender) etablierten konnte. Vielmehr leisteten die einst häufig als »reing’schmeckte alternative Spinner« bezeichneten Akteure auch einen wesentlichen Beitrag zur Modernisierung der bis dato als »rückständig und verschlafen« verschrienen Provinz, wie die Beispiele Allgäu und Bregenzerwald anschaulich zeigen (Beiträge K. Netter u. E. Wonneberger). Vor dem Hintergrund von Jugendzentrumsbewegung und Landkommunen, aber vor allem auch des Aufschwungs der Anti-Atomkraft-Bewegung und einer zunehmenden Kritik <?page no="8"?> Vorwort 9 am Fortschritts- und Wachstumsparadigma kapitalistischer Industriegesellschaften kam in den 1970er Jahren innerhalb der Linken und des alternativen Milieus darüber hinaus ein spezifischer Provinzdiskurs auf, an dem sich auch Akteure aus dem Bodenseeraum beteiligten. Ein wichtiges Beispiel stellt der von Konstanzer Akteuren verfasste Beitrag »Provinz als politisches Problem« in dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch 39 von 1975 dar, das das Thema Provinz als Schwerpunkt wählte (Beitrag G. Zang). Aber auch jenseits des Bodenseeraums kam es zu vielfältigen Auf- und Ausbrüchen wie die Beispiele aus Graz (K. Schmidlechner), Südtirol (H. Heiss) und Starnberg (P. Hoser) zeigen. Am Beispiel der westdeutschen Provinz stellt David Templin schließlich die Entwicklung und die spezifischen Ausprägungen der Jugendzentrumsbewegung heraus. »Zeitgeschichtliche Forschung ohne Archiv-Quellen? « fragt im abschließenden Kapitel schließlich Gerhard Fürmetz (München) und gibt einen Überblick über die Bandbreite der archivischen Überlieferung zur 68er-Bewegung und ihrer Zeit, er spricht zentrale Fragen der Überlieferungsbildung an und stellt die Bedeutung der Archive als »Erinnerungsorte« heraus. Danksagung An dieser Stelle möchte ich allen danken, die am Zustandekommen dieses Bandes beteiligt waren - an erster Stelle den Referentinnen und Referenten, die vom 15. bis 17. März 2011 eine anregende Konferenz im Stadtarchiv Konstanz gestaltet haben, auf der die meisten der hier versammelten Beiträge in Vortragsform gehalten und diskutiert wurden. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge der Schülerinnen. Der Beitrag von Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter und Ines Gersky zu 1968 in Konstanz entstand im Rahmen ihrer Abiturprüfung am Robert-Gerwig-Wirtschaftsgymnasium in Singen. Für ihren gemeinsam verfassten Beitrag »Skandal in unserer Stadt! Der Abriss eines Denkmals« beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten »Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte« im Jahr 2011 erhielten Nicole Ehnert und Mirjam Kunz vom Friedrich-Hecker- Gymnasium in Radolfzell einen Förderpreis. Mein Dank gilt der Stadt Konstanz, insbesondere dem Stadtarchiv, sowie der Internationalen Bodenseekonferenz für die großzügige finanzielle Unterstützung für die Drucklegung des Bandes. Ebenfalls danken möchte ich den Projektpartnern - der Stadt St. Gallen, dem Historischem Verein des Kantons St. Gallen und der Landesregierung Vorarlberg in Bregenz -, deren <?page no="9"?> 10 Vorwort finanzielle Unterstützung die Konferenz erst ermöglichte sowie dem Zukunftskolleg der Universität Konstanz, das mir die Infrastruktur und einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Und schließlich hat sich die UVK Verlagsgesellschaft, vor allem Frau Uta Preimesser, in außerordentlicher Weise für das Entstehen dieses Sammelbands eingesetzt. Heike Kempe <?page no="10"?> Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu S ven R eichaRdt Wie alle Begriffe, so unterliegt auch das Wort »Authentizität« einem Bedeutungswandel. Geht man seiner Wortgeschichte nach, so zeigt sich, dass dieser Ausdruck in den 1970er Jahren eine ungeahnte Hochkonjunktur erlebte und zu neuer politischer Blüte gelangte. In unserem Alltagsverständnis meint der Begriff der Authentizität zunächst einmal eine Umschreibung von Wahrhaftigkeit, Unverfälschtheit und Eigenständigkeit einer Person. Der Begriff thematisiert somit Konfigurationen des Selbst und verweist über die Autonomie und Selbstbestimmung einer Person hinaus auf die weiter greifende Ebene seiner Selbstverwirklichung. In eben diesem umfassenderen Sinne wurde er auch im linksalternativen Milieu der undogmatischen radikalen Linken der 1970er und 1980er Jahre benutzt. 1 Nach einer kurzen Definition und Beschreibung der langen Geschichte des Begriffs der Authentizität seit dem 18. Jahrhundert soll darlegt werden, inwiefern die Linksalternativen auf diesen Bedeutungshorizont zurückgriffen, um sich ihrer politischen Identität zu versichern. Nicht zufällig, so soll anschließend gezeigt werden, war diese Suche in der historischen Phase der Entstehung und Entwicklung der postmodernen Gesellschaft eingebettet. Im Schlussteil werden daher Interpretationen vorgestellt, die an die hier vorgenommene Deutung des linksalternativen Milieus anschließen und seine historische Einbettung verdeutlichen. Definition und Geschichte des Begriffs Authentizität meint, gemäß dem Ursprung aus dem Griechischen αυδεντης, einen Gewalthaber, der etwas mit eigener Hand und aus eigener Kraft vollbringt. In der latinisierten Form bezeichnet authenticum eine Schrift oder Urkunde, die vom Verfasser selbst herrührt. In der Rechtswissenschaft ist diese Bedeutung noch aktuell, da die vom Gesetzgeber selbst im »Wortlaut« veröffentlichten Gesetzestexte als authentisch bezeichnet werden. Auch im Authentifizieren von Urkunden, Dokumenten oder Kunstgegenständen durch Rechtsanwälte, Notare, Historiker oder Kunstsachverständige ist diese Bedeutung erhalten geblieben. Authentizität und Authentifizierung meint in diesem ersten Sinne nicht bloß passives Ausweisen, sondern auch einen aktiven Gestaltungsakt. Durch 1 Zur Definition des Begriffs »linksalternatives Milieu« siehe Reichardt 2010, S.-5-28; Reichardt/ Siegfried 2010, S. 9-23. <?page no="11"?> 12 Sven Reichardt die Existenzphilosophie wurde unter authentisch zweitens das »eigentliche«, freie und unabhängige Dasein jenseits des Einflusses der Gesellschaft oder der Abhängigkeit von sozialer Akzeptanz verstanden. Die Begriffe »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« bei Martin Heidegger sowie »néant« und »mauvaise foi« bei Jean-Paul Sartre wurden in deren Nachfolge nicht nur auf menschliche Haltungen angewandt, sondern auch auf menschliche Produkte wie etwa das authentische Kunstwerk oder ein Ausstellungsstück bezogen. Die Subjekt- und Objektauthentizität werden dabei eng miteinander verbunden. (Röttgers/ Fabian 1971; Koepping 1987; Flynn 1992; Bendix 1997: 14-21; Saupe 2010). In der Frühen Neuzeit, so argumentiert der New Yorker Literaturkritiker Lionel Trilling in seiner klassischen Studie Sincerity and Authenticity aus dem Jahr 1972, wurde mit der Entstehung des Individuums und der Öffnung reflexiver Innenräume dem sozialen Wert der Authentizität zum gesellschaftlichen Durchbruch verholfen. Die neue Gattung der Autobiographie, das aufrichtige Tagebuch-Schreiben und der Wandel der Wohnarchitektur seien Zeugen dieser Entwicklung der Aufwertung der Aufrichtigkeit. Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (insbesondere durch die Schriften Jean-Jacques Rousseaus) entstand ein Begriff von Authentizität, der die Treue der Person zur eigenen inneren Natur und also der Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber thematisierte. Die Reflexion dieses aufrichtigen Selbstverhältnisses verweist auf einen kulturellen Umgestaltungsprozess im Hinblick auf die Ethik des modernen Subjekts, der mit politischen Veränderungen der »actes authentiques de la volonté générale« verbunden war und die individuelle Zustimmung der Staatsbürger zum politischen Gemeinwesen thematisierte. Die Kultur der Empfindsamkeit in der Frühromantik thematisierte dieses moderne Selbst-(Bewusstsein) in besonders expressiver Form (Trilling 1980; Engler 2009: 61-146; Assmann 2012; Noetzel 1999). Während Trilling Authentizität zum Schlüsselwort im Moraljargon der Moderne erhob (vgl. Ferrara 1998), bildete die zeitgenössische Aufwertung des Authentischen in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedenfalls den unmittelbaren Hintergrund für seine Studie. Seine polemische Schrift liest sich in Teilen wie ein Wiedergänger von Helmuth Plessners Studien aus den zwanziger Jahren. Trilling tritt, ähnlich wie Plessner fünfzig Jahre zuvor, für eine Kultur der Distanz und der zeremoniellen Höflichkeit ein. Die Vorstellung eines unverstellten Selbst sei nur eine Fiktion, denn menschliche Triebregungen ließen sich nur in der vermeintlichen Künstlichkeit sozialer Figurationen, das Psychische nur im Medium der symbolischen Ordnung ermessen. Individuen müssten sich somit der sozialen Maskerade und der Rituale bedienen. Der Moraljargon der Authentizität - so Trillings scharfe Polemik - habe lediglich <?page no="12"?> Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu 13 Gewalt, Extremismus und Dogmatismus befördert. Trillings zeitgenössischer Bericht liest sich in seiner polemischen Zuspitzung wie die Klage eines teilnehmenden Beobachters, der Teil des von ihm selbst Beklagten geworden ist (Trilling 1980; Lethen 1996: 218-222). Die neue Suche nach unverfälschter Authentizität wurde in den 1960er und 1970er Jahren, auch jenseits der Arbeit von Trilling, zu einem zentralen Thema. In einem historischen Moment, als sich einerseits die anonyme Medien-, Informations- und Konsumgesellschaft sozial breit durchsetzte, andererseits die scheinbar optionsoffene Postmoderne als kulturelles Leitmodell sich etablierte, entstand eine neue Sinnsuche nach dem Eigentlichen, die paradoxerweise durch die Konsumgesellschaft mit befeuert wurde, wie eine Bierreklame aus den siebziger Jahren mit dem Slogan »be yourself in the world today« exemplarisch verdeutlicht. Es etablierten sich Selbstfindungstechniken wie der US-amerikanische Therapiekult mit seinen Formeln »find and realize yourself« und »release your true self«. Zugleich verkaufte sich das neuromantische Authentizitätspathos als eine gegenkulturelle, befreiende Reaktion auf die postmoderne Optionsvielfalt und auf die im Zuge des ökonomischen Strukturwandels sich etablierende konsumptorische Dienstleistungsgesellschaft. Bereits Ende der siebziger Jahre geriet diese Entwicklung in die Kritik. Der Historiker Christopher Lasch entdeckte in der neuen Suche nach Selbsterfüllung, die sich im Boom von Fitness und Jogging, autogenem Training, Psycho-Sekten oder New-Age-Spiritualismus manifestierte, die egoistische Selbst-Bezogenheit einer narzisstischen Selbstdarsteller- Gesellschaft. Etwa zeitgleich beschrieb auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett die neue »Tyrannei der Intimität« als eine Art von Selbstoffenbarungszwang. In den neuen Selbstfindungstechniken drückte sich die Suche nach einem einheitlichen Identitätskern aus, der dem »flexiblen Mensch[en]« aufgrund der Mobilitätsanforderungen postmoderner Arbeitsverhältnisse abhanden gekommen war (Lasch 1980; Sennett 1986). Der bekannte kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor schließlich hat die sechziger Jahre als »Age of Authenticity« bezeichnet. Er meinte damit die Sinnlücke, also die Unsicherheiten und Selbstzweifel, welche durch moderne Individualisierungsprozesse und schlichte Freisetzungen in der Massengesellschaft hervorgerufen wurden. In einer entzauberten, säkularen Welt mit stumpfen Regeln und langweiligen Routinen waren die wichtigsten Funktionssysteme entmoralisiert worden. Diese entfremdete Welt aus Spezialisten ohne Geist und Hedonisten ohne Herz wurde durch den Bedeutungsrahmen der Authentizität mit neuem Sinn versehen. Die Suche nach einem kreativen und konstruktiven Nonkonformismus, nach sinnhafter Selbstbestimmung also, richtete sich gegen die <?page no="13"?> 14 Sven Reichardt formierenden Normalisierungen und Konformitätserscheinungen. Paradoxerweise wurden Kreativität und Individualität, die dem Verfall des Gesellschaftlichen entgegentreten sollen, jedoch gleichzeitig als Produktivitäts- und Konsumptionsressourcen genutzt (Taylor 1992 und 2007). Das linksalternative Milieu Als bei einer Umfrage, die Infratest 1981 unter Lesern von bundesdeutschen Alternativzeitungen durchführte, danach gefragt wurde, woran sich die Befragten orientieren, antworteten mit 24 Prozent Abstand zur nächstgegebenen Antwort die alternativen Leser: »Nur an mir selbst« (41 Prozent). Bezeichnenderweise lautete die nachfolgende Antwort, die auf 17 Prozent Zustimmung kam: »An Niemandem«. Diese Ergebnisse waren symptomatisch für das Selbstverständnis der Mitglieder des linkalternativen Milieus. Ihr Politikverständnis wurde durch die Ausbildung eines authentischen Selbst gesteuert, welches durch bestimmte Kommunikations- und Körpertechniken aufgerichtet wurde (Zitat nach Reichardt 2010: 33). Der Begriff der Authentizität wurde im linksalternativen Milieu in vierfachem Sinne verstanden. Erstens in der Betroffenenberichterstattung der alternativen Presse, in der Authentizität eine »politische Perspektive [bezeichnete], die von der antiautoritären Revolte ihren Ausgang« nahm: »Das ist die Hinwendung nach ›unten‹, zu den je individuellen Erfahrungen der Menschen, zu den Erlebniswelten der Betroffenen, die aus der traditionellen Politikperspektive meist ausgegrenzt und von ihr abgespalten werden« (Stamm 1988: 264). Zweitens wurden innerhalb dieses Milieus, neben Autonomie und Selbstverwirklichung, eine Art von unvermittelbarer und eigensinniger Sperrigkeit, eine angeblich natürliche Ursprünglichkeit hoch geschätzt. Gerade die mit Naturmetaphern operierende Authentizitätsversion der ökologisch orientierten Linksalternativen führt zu den Vorläufern in der Romantik und zu nostalgischen Vorstellungen von ebenso empfindsamen wie ganzheitlichen Menschen zurück. Selbstbestimmung wurde in Teilen der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, der Landkommunen und der Psycho- und Sensitivity-Bewegung als Ganzheitlichkeit verstanden. Drittens meint ein authentisches Leben die Aufhebung der Entfremdung in kapitalistischen Arbeitsverhältnissen, die durch Errichtung von selbstverwalteten Alternativbetrieben erreicht werden sollte. Rotationsprinzip, flache Hierarchien und die »ganzheitliche« Zusammenführung von Hand- und Kopfarbeit sollte die moderne Form der Arbeitsteilung überwinden. Die Identifikation mit dem Inhalt der Arbeit und die Abschaffung oder wenigstens Reduktion der Lohnarbeit sollte neue Formen der Selbstverwirklichung ermöglichen. Autonomie, Frei- <?page no="14"?> Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu 15 raum und Selbstbestimmung in den besetzten Häusern, den Frauenzentren oder dem Alternativbetrieb wurden als Möglichkeit zur Authentizität wahrgenommen (Reichardt 2010: 124-176). Viertens war es die unmittelbare personale Interaktion, die lebensweltliche Empathie und sozialräumliche Nähe, die unmittelbare Verbindung von Erkennen und Erleben, die im linksalternativen Milieu hoch geschätzt wurde. Dieser Wunsch nach Unmittelbarkeit, verbunden mit dem möglichst weitgehenden Verzicht auf gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen, manifestierte sich in der Basisdemokratie, Vollversammlungen, offenen Plena und direkten Aktionen. Die verdichtete, leibhaftige und kollektive Anwesenheitskommunikation wurde in dem Netzwerk aus diversen Kneipen, Wohngemeinschaften, Arbeitsprojekten und pädagogischen, sozialen oder Selbstfindungsgruppen erfahren und zur gelebten Praxis. Der ehemalige ID-Redakteur und alternative Zeitgenosse Karl-Heinz Stamm formulierte diesen Sachverhalt: »Hinsichtlich ihrer Kommunikationsvorstellungen ist die Alternativbewegung einem genuinen Verständnis unvermittelter, partizipatorischer face-to-face-Kommunikation verpflichtet. […] Gegenüber der Zunahme massenmedialer Kommunikation, gegen indirekte medienvermittelte Kommunikation setzt sie personale Kommunikation und Interaktion« (Stamm 1988: 131, 110). Die primäre Erfahrung in den unmittelbar und dezentral ausgerichteten Interaktionsnetzwerken wurde zum Ausdruck des Authentischen. Die Selbstbeschreibungskategorie der Authentizität oder authentischen Politik erhellt sich des Weiteren dadurch, dass die Linksalternativen sich diamentral gegen die als künstlich dargestellte Außenwelt in Stellung brachten. Authentisch zu sein war ein Distinktionsmerkmal, es unterstrich die eigene Besonderheit und konstruierte eine gegenkulturelle Identität. Die Kritik an den bürgerlichen Verblendungs- und Verschleierungsmedien, der konsumistischen Kulturindustrie und der kapitalistischen Produktionsweise lässt sich kulturwissenschaftlich auf eine Kritik an der Entfremdung in der Moderne zurückführen. Authentisches Verhalten werde, so lautete die Argumentation, durch die Verdinglichung des Menschen und die bürokratisch eingehegte Konsumgesellschaft verunmöglicht: Künstliches Verhalten und falsche Bedürfnisse würden durch den bürgerlichen Kapitalismus unweigerlich erzeugt. Dennoch probierten die linksalternativen Akteure ein anderes Leben jenseits dieser Zwänge aus, meinten ein Stück Freiheit im Alternativmilieu zu gewinnen, um gegebenenfalls von hier aus eine revolutionäre Perspektive aufzubauen. In der sich individualisierenden, postmodernen Gesellschaft der 1970er Jahre, die die Freisetzung aus alten Rollenmustern und neue Autonomien geradezu einforderte, bot gerade das linksalternative Milieu mit seinen Selbsterfahrungsformen und Selbstverwirklichungsgruppen <?page no="15"?> 16 Sven Reichardt die Möglichkeit, sich einer selbst gewählten Identität zu versichern. Eine ganze Infrastruktur von Institutionen und Medien (Projektarbeiten, selbstverwaltete Betriebe, politische Treffen, Wohngemeinschaften und Kommunen, Kleidung, linke Kneipen und Kulturinstitutionen, Zeitungen und Bücher) gaben die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Identitätsfindung. Hier gab man seine politischen Bekenntnisse ab, entwickelte Verhaltens- und Redeweisen bis hin zur Mode und Körperhaltung und studierte seinen vermeintlich authentischen, linken Habitus ein (Reichardt 2010). Nicht zufällig erinnerte dies in einigen Facetten an die Vorliebe mancher Bürgerbohemiens des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts für das Authentische, wenngleich sich die Distanzierungen vom Industrialismus deutlich von denen in der Postmoderne unterschieden. Die gezielte habituelle Negation der Bürgerlichkeit durch die europäische Bohème aber - von der schäbigen Unordnung der Wohnungen über die Verherrlichung krimineller Delinquenz - wurden ebenso wieder aufgegriffen wie die politische Affinität für den utopischen Radikalismus und Anarchismus. Auch die netzwerkartigen Organisationsformen, die Treffpunkte in bestimmten Lokalen des großstädtischen Lebens sowie Projekte des einfachen Landlebens wie auf dem Monte Verità wurden in veränderter Gestalt wieder belebt. Der Authentizitätsverweis fungierte im linksalternativen Spektrum, so lässt sich zusammenfassen, einerseits als trennender Abgrenzungsbegriff und umschrieb andererseits eine Selbstführungstechnik der Subjekte. Selbstexploration, Selbstmodellierung und Selbstexpression bekamen vor dem Hintergrund der Abgrenzung von den Rollenbildern des »Spießbürgertums«, des Leitbilds des integrierten Anpasslers und des seelenlosen Kapitalismus eine herausragende Bedeutung. Spontaneität und Erlebnisintensität wurden gegen soziokulturellen Konformismus in Szene gesetzt. Die Subjekte erzeugten sich hierbei performativ und waren in ihren praktischen Selbstschöpfungen und Selbststeuerungen in Ordnungen des Wissens (in diesem Falle der virulenten Identitätspolitik der Postmoderne der siebziger Jahre) eingebunden. Individuell, kreativ, provokativ, einzigartig, unvergleichbar oder befreit zu sein - alles wurde nicht nur zu einem Recht, sondern zur politischen Pflicht. Das Subjekt war hierbei weder Opfer noch Opponent von Machtinterventionen, weder lediglich willenloses Objekt von Einschreibungsprozessen noch vollkommen autonomer Akteur des eigenen Lebens. Programme des Regierens und Techniken des Sich-Selbst-Regierens der Subjekte gingen ineinander über. Man hatte im linksalternativen Milieu nicht nur das Recht, selbstverwirklicht zu leben, sondern die Pflicht, über sich Rechenschaft abzulegen und diese Selbsterkenntnisse anderen mitzuteilen. Zum Bekenntnis für ein <?page no="16"?> Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu 17 alternatives Leben gehörten das psychologisierende Geständnis eigener vermeintlicher Mängel und die Enthüllung derselben. Die Selbsttherapeutisierung war als Projekt zur Befreiung des entfremdeten Individuums angelegt, entfaltete sodann in der Praxis eine normierende Wirkung und wurde zum Management des Selbst. Die frei gewählte Selbstthematisierungskultur bedeutete daher keineswegs nur hedonistische Freiheit von, sondern auch der Zwang zu: Ein Zwang zur Selbstverpflichtung, authentisch gegenüber sich selbst und den anderen Milieumitgliedern zu sein (Reichardt 2008 und 2010). Einordnung in den wissenschaftlichen Interpretationshorizont Wie nun lässt sich dieser Wesenszug des linksalternativen Milieus in die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einpassen? Welche homologen Entwicklungen außerhalb dieses Milieus lassen sich beobachten? Sichtet man die Studien im Feld der Authentizitätsforschung, so fallen neben den klassischen Arbeiten zur ästhetischen Theoriebildung in Musik und Kunst (Adorno 1970; Davies 1987; Knaller/ Müller 2006) und den theaterwissenschaftlichen Studien zur Performanz (Fischer-Lichte/ Pflug 2000) vor allem die folgenden drei Deutungsmuster ins Auge. Erstens ist in den Medienwissenschaften der letzten Jahre eine verschärfte Untersuchung von den medialen Techniken der Inszenierung von Authentizität zu beobachten. Gerade im Fernsehen der letzten 10-15 Jahre lässt sich eine Tendenz nachweisen, nach der zunehmend intime Bereiche des menschlichen Lebens publikumswirksam in Szene gesetzt und ausgestrahlt werden. Dabei beschäftigt die Medienwissenschaft die Frage, welches Verhalten und welche Verfahren in TV-Sendungen und Fernseh-Dokumentationen den Effekt des Authentischen auslösen. Wie wird Echtheit und Aufrichtigkeit in Doku-Soaps, Dschungel-Camps, Casting-Shows, Big Brother-Sendungen, Talkshows und den diversen anderen Reality-Sendungen erzeugt? Wann wirken die jeweiligen Selbstdarstellungen glaubwürdig, wahrhaftig und eben nicht aufgesetzt oder inszeniert? Durch welche Techniken erhalten die Produzenten die Authentizitätsfiktion und Illusion der intentionslosen oder doch wenigstens nicht-instrumentellen Echtheit oder Augenzeugenschaft aufrecht? (Knieper/ Müller 2003; Saupe 2010; Straub 2012). Diese Fernsehsendungen erinnern an einen Beichtstuhl ohne Priester, inszenieren sich als Foren aufrichtiger Kommunikation und können insofern als populäre, unpolitische Verkümmerungen der linksalternativen Authentizitätspolitik der 1970er Jahre gelesen werden. Jüngst liegen auch Untersuchungen zu Selbstentwürfen und Selbstbespiegelungen in den sozialen Medien des Internets vor, die auf die pathologischen Qualitäten des Bekenntnisses zum eigenen <?page no="17"?> 18 Sven Reichardt Selbst und die narzisstischen Qualitäten von Internet-Selbstdarstellungen verweisen (Carr 2008; Lovink 2011). Die Verkümmerung der Authentizität zur Imagepflege und zur Selbststilisierung im Ich-Wahn, in der die Identität in den Narzissmus abgleitet, bricht mit der bürgerlichen Sorge um sich und dem durchaus gesellschaftsstabilisierenden Wunsch nach dem Für-sich-Sein (Engler 2009: 147-172). Zweitens ist in den letzten Jahren eine Reihe von Studien vorgelegt worden, die an Foucaults Arbeiten zur »Gouvernementalité« anschließen und das Aufkommen des Projektes der Selbstfindung durch Therapie und Beratung während der siebziger Jahre untersuchen. Die neuen Selbsttechnologien, die sich als Freiheitstechnologien ausgaben, artikulierten sich im Namen von Demokratisierung und Humanisierung und verbanden sich mit individuellen Heilsversprechen oder politischen Reformen. Zugleich ist das »beratene Selbst« Teil einer Selbstführungstechnologie, verbunden mit der verpflichtenden Erwartung sich selbst zu befreien. Selbstgestaltung ist Freiheit und Zwang zugleich und wird in diesen Studien als Teil der freigesetzten Kontrollgesellschaft gelesen (Wetzel 1985; Maasen 1998 und 2011). Drittens: In ähnlicher Weise wird das »unternehmerische Selbst« gedeutet, welches im neuen Kapitalismus der 1990er Jahre durch flache Hierarchien, die Abschaffung von Stechuhren, die eigenverantwortliche Einteilung der Arbeitszeit, die Selbstorganisation der Arbeitsabläufe und die Ermöglichung von Spontaneität geschaffen wurde. Gerade über diese neuen Freiheiten konnte die Intensität der Arbeitsbelastung gesteigert werden. Eine Belastung, die bei den Projektarbeitern als eigene Schuld und Resultat der eigenen Verantwortung verstanden und akzeptiert wurde. Dabei wird in diesen Untersuchungen auch erörtert, inwieweit dieser neue Kapitalismus seine Vorläufer in den selbst verwalteten Betrieben des Alternativmilieus der siebziger Jahre hatte (Boltanski/ Chiapello 1999; Bröckling 2001 und 2007; Neumann 2008). <?page no="18"?> Authentizität als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu 19 Literatur Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Aleida Assmann: »Authenticity - The Signature of Western Exceptionalism? «, in: Julia Straub (Hg.): Paradoxes of Authenticity. Studies on a Critical Concept. Bielefeld: transcript 2012, S. 33-50. Regina Bendix: In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies, Madison/ Wisconsin: University of Wisconsin Press 1997. Luc Boltanski/ Eve Chiapello: Le nouvel ésprit du capitalisme. Paris: Gallimard 1999. (Deutsche Ausgabe: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006. Ulrich Bröckling u. a. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. Nikolas Carr: Is Google Making Us Stupid? What the Internet is doing to our brains, in: The Atlantic magazine Juli/ August 2008. Stephen Davies: »Authenticity in musical performance«, in: British Journal of Aesthetics 27 (1987), S. 39-50. Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Berlin: Aufbau-Verlag 2009. Alessandro Ferrara: Reflective Authenticity. Rethinking the project of modernity, London/ New York: Routledge 1998. Erika Fischer-Lichte/ Isabel Pflug (Hgg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen / Basel: Francke 2000. Thomas R. Flynn: Authenticity, in: Lawrence C. Becker/ Charlotte B. Becker (Hgg.): Encyclopedia of Ethics, Bd. 1. London: Routledge 1992, S. 67-69. Klaus-Peter Koepping: Authentizität als Selbstfindung durch den anderen: Ethnologie zwischen Engagement und Reflexion, zwischen Leben und Wissenschaft, in: Hans Peter Dürr (Hg.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 7-37. Susanne Knaller/ Harro Müller (Hgg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, Paderborn: Fink 2006. Thomas Knieper/ Marion G. Müller, (Hgg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten, Köln: von Halem 2003. Christopher Lasch: Das Zeitalter des Narzissmus, München: Hoffmann und Campe 1980. Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: Sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme/ Klaus R. Scherpe (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1996, S.-205-231. Geert Lovink: Anonymität und die Krise des multiplen Selbst, in: Oliver Leistert / Theo Röhle (Hgg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: transcript, 2011, S. 183-198. Sabine Maasen: Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Sabine Maasen u. a. (Hgg.): Das beratene Selbst. Zur Geneaologie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld: transcript 2011. Arndt Neumann: Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management, Hamburg: Edition Nautilus 2008. Thomas Noetzel: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung, Berlin: Akademia-Verlag 1999. <?page no="19"?> 20 Sven Reichardt H. Glenn Penny: »Elusive Authenticity: The Quest for the Authentic Indian in German Public Culture«, in: Comparative Studies in Society and History 48, Nr.-4 (2006), S. 798-818. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Das linksalternative Milieu vom Ende der sechziger bis zur Mitte der achtziger Jahre. Habilitationsschrift Konstanz 2010 (erscheint Berlin: Suhrkamp 2014). Sven Reichardt: »Authentizität und Gemeinschaftsbindung. Politik und Lebensstil im linksalternativen Milieu vom Ende der 1960er bis zum Anfang der 1980er Jahre«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 21, Heft 3 (2008), S.-118-130. Sven Reichardt/ Detlef Siegfried (Hgg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968- 1983, Göttingen: Wallstein, 2010. K. Röttgers/ R. Fabian: »Authentisch«, in: Joachim Ritter (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1971, Sp. 691-692. Achim Saupe: Authentizität, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, UR L: https: / / docupedia.de/ zg/ Authentizit.C3.A4? oldid=75505 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1986. Karl-Heinz Stamm: Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen, Frankfurt am Main/ New York: Campus 1988. Julia Straub (Hg.): Paradoxes of Authenticity. Studies on a Critical Concept, Bielefeld: transcript 2012. Charles Taylor: A Secular Age, Cambridge/ London: Belknap 2007. Charles Taylor: The Ethics of Authenticity, Cambridge: Harvard Univ. Press 1992. Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit, München/ Wien: Ullstein 1980. Klaus Michael Wetzel: Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstitution und Konfiguration von Subjektivität, Frankfurt am Main: Lang 1985. <?page no="20"?> Provinz als historisches und politisches Problem G eRt Z anG Das Thema hat als Gegenstand praktisch-politischen Interesses und wissenschaftlicher Bemühung eine vergleichsweise kurze Geschichte. Nach 1970 drang die Protestbewegung der »68er« auch in die Provinz vor. Die Gründung von Universitäten in mittelgroßen Städten wie beispielsweise Konstanz haben diese Ausbreitung in die Fläche befördert. Proteste zum Beispiel gegen geplante Atomanlagen in zentrenfernen Regionen haben das Ihre dazu beigetragen. Die Vielfältigkeit dieser Bewegung ist im Kursbuch »Provinz« ausführlich beschrieben. 1 Viele 68er kamen aus provinziellen, kleinstädtischen Honoratiorenfamilien. In der Regel hofften sie in den Zentren »das freiere Leben« zu finden. Ein diffuser Hass auf die spießbürgerlichen Verhältnisse zu Hause, auf die erstarrten, zurückgebliebenen Denk- und Lebensweisen der Eltern, Verwandten und Lehrer begleitete diesen Schritt. Man wollte endlich »modern sein«. Ein großer Teil tauchte nach dem Studium wieder in den Kreislauf der Selbstreproduktion der provinziellen Honoratiorenschaft ein, veränderte damit jedoch die Situation in der Provinz. Neue Denk- und Sichtweisen konnten dort ansatzweise heimisch werden. Viele engagierten sich nach 1970 zum Beispiel in der Produktion von Lokalzeitungen neuen Typs (»Neue Seeblätter« Konstanz, »Schelle« Überlingen, »Nebelhorn« Konstanz, »Motzer« Oberschwaben) und in Geschichtswerkstätten 2 , die bisher in der Provinz besonders tabuisierte Themen (Geschichte der NS-Zeit, der Juden, der Arbeiter und der Frauen) aufgriffen. Sie dürften weitgehend den psychologisierenden Begriff von Provinz im Kopf gehabt haben, wie ihn Adorno 3 benutzt hat: »Zur Bildung gehört Urbanität, und ihr geometrischer Ort ist die Sprache. Keinem Menschen ist es vorzuhalten, daß er vom Land stammt, aber auch keiner dürfte daraus sich ein Verdienst machen und dabei beharren. Die Pflicht zur Entprovinzialisierung [...] wäre von denen, die andere etwas lehren wollen, mit Nachdruck ins eigene Bewußtsein aufzunehmen.« Provinz galt als ein besonders hartnäckiger Bewußtseinsrest vergangener Zeiten, ein Hort autoritärtraditioneller Charakterstrukturen, der durch Selbst- und Fremderziehung (weiterführende Schulen für Landkinder, Abschaffung der Konfessionsschulen) aufzulösen ist. Provinz erschien als manchmal kurios-belustigender, manchmal schockierender »Geisteszustand«. <?page no="21"?> 22 Gert Zang »Provinz« - »Provinzialisierung« Der gängigste Begriff von Provinz war um 1970 sicher das ewige, unverrückbare und statische Gegensatzpaar Großstadt - Provinz, wie es Carl Amery in seiner Schrift »Der Provinzler und sein Schicksal« verwendet hat. 4 Wörtlich heißt es bei ihm: »Das (Handicup) des Provinzlers ist so alt wie die Stadt selbst; das heißt so alt wie die Großstadt, die Metropole. Der erste, der perfekteste und arroganteste Großstädter war wohl der Athener; und seine Witze über die Böotier sind bekannt. Mühelos verdrängte er dabei die Tatsache, dass die glitzernde Pracht seiner Kapitale im wesentlichen aus den Geldern eben jener Provinztrottel errichtet war [...] Auch daran hat sich nicht so sehr viel geändert; die Metropolen, das sind eben die Zentren, in denen Geld ausgegeben wird«. Eine dynamischere Vorstellung hatte sich dann in den neuen Bewegungen durchgesetzt, die sich gegen die Ansiedlung gefahrvoller Projekte in den Randregionen wandten (zum Beispiel die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in Niederbayern, das Atomkraftwerk in Whyl am Oberrhein und diverse Mülldeponieprojekte) 5 . »Regionalismus« und »Autonomismus« waren ihre Stichworte. Wir lassen uns nicht mehr als willfährige Objekte behandeln. Wir nehmen unser Schicksal in die eigene Hand. Zur Rechtfertigung wurden auch diverse echte und vermeintliche regionale demokratische Traditionen entdeckt (u.a. 1848, Bauernkrieg). 6 Manche redeten vom »inneren Kolonialismus« und verglichen den innerstaatlichen Vorgang mit dem globalen Auseinandertriften der Industrie- und Entwicklungsländer. 7 Man sah eine unmittelbare Parallele, einen ähnlich verlaufenden Prozess. In der Folgezeit wurde im Rahmen eines Projektes der Universität Konstanz 8 ein historisierter Provinzbegriff formuliert. Bei dem neueren Provinzproblem handelt es danach um einen eigentümlichen historischen Prozess, der in Deutschland im 19. Jahrhundert begann und nicht um einen zeitlosen, allen Gesellschaftsstrukturen immanenten Tatbestand. Moderne »Provinz« ist die Kehrseite der Industrialisierung und Nationalstaatsbildung. »Provinzialisierung« soll im Begriff die Dynamik zum Ausdruck bringen, die in diesem Prozess steckt. Die regionalen Unterschiede in der vorindustriellen Zeit waren relativ statisch. Das änderte sich mit Beginn der Industrialisierung. Die Ungleichheiten nahmen ganz andere Dimensionen an. Die Bevölkerungsverschiebungen (Verstädterung) sowie die Ausbreitung und Konzentration der Industrie sind die noch bekanntesten Aspekte dieses Prozesses. Eine differenzierte phänomenologische Beschreibung dieses historischen Prozesses liegt bis heute nicht vor. <?page no="22"?> Provinz als historisches und politisches Problem 23 QUELLE: ZUKUNFTSRAT DER BAYERISCHEN STAATSREGIERUNG FT-GRAFIK: DANIELA RUSSKAMP Bad Kissingen Schweinfurt Kitzingen Haßberge Aschaffenburg Coburg Kronach Kulmbach Lichtenfels Bayreuth Bamberg Erlangen- Höchstadt Erlangen Forchheim Würzburg Hof Nürnberg Regensburg Passau München Augsburg Ingolstadt nach Sachsen nach Hessen nach Österreich Stadt Umland Einzugsgebiet für Pendler künftiges Einzugsgebiet für Pendler keine Anbindung www.infranken.de Geradezu idealtypisch zeigt die von Sachverständigen entworfene Karte zur künftigen Entwicklung Bayerns was den Prozess der Provinzialisierung ausmacht. Ganze Regionen geraten durch die auf wenige Zentren konzentrierten Investitionen in einen forcierten Prozess der Marginalisierung. An den Rand der Entwicklung geschoben werden sie zu abhängigen Räumen, die als Reservoir (Arbeitskräfte, Erholung) dienen. Im extremen Fall, wie hier im Modell, werden einzelne Räume sogar abgekoppelt. Dieses Modell löste im Land einen Sturm der Entrüstung aus und führte bei der jüngsten Regierungsbildung Bayerns zur Errichtung eines sogenannten Heimatministeriums, das als Korrektiv zum Entwicklungsbild des Zukunftsrates für eine ausgeglichenere Entwicklung des Landes sorgen soll. »Provinzialisierung« - Prozess ungleicher Entwicklung <?page no="23"?> 24 Gert Zang Werner Sombart, einer der wenigen Wirtschaftshistoriker, der auf die regionalen Verschiebungen explizit eingegangen ist, beschrieb folgenden Fall: »Vor hundert Jahren betrug die Arbeiterschaft in der Eisenindustrie […], die in den Hauptproduktionsgebieten Schlesien, Westfalen und Rheinland beschäftigt war, nur zwei Drittel von der Gesamtheit, während heute fast die gesamte Eisenarbeiterschaft in den genannten drei Gebieten tätig ist. Wieder anders ausgedrückt: Im Anfang des Jahrhunderts wurde Eisen gewonnen und verarbeitet an vielen Stellen, an denen heute diese Industrie ganz ausgestorben ist. Diese hat sich an einzelnen Punkten konzentriert.« 9 Es ist für diesen Prozess kennzeichnend, dass die Unterschiede dazu tendieren, zwischen den Regionen immer größer zu werden. In neuerer Zeit versuchte man diesen anhaltenden Prozess durch strukturpolitische Maßnahmen abzuschwächen bzw. maßvoll auszugleichen. Solche Planungsprozesse wurden in den 1970er Jahren begonnen und sind bis heute Gegenstand von Auseinandersetztungen. Denn die Dynamik dieses Prozesses ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen. Das belegen die heftigen Wortgefechte, die das jüngst bekannt gewordene Gutachten eines sogenannten Zukunftsrates in Bayern ausgelöst hat. 10 Er hat dazu aufgefordert, die staatlichen Mittel nur noch in die zentralen Regionen zu investieren. Die Randregionen solle man sich selbst überlassen bzw. ihnen eine Orientierung auf benachbarte Regionen außerhalb der staatlichen Grenzen empfehlen. Innerhalb der staatlichen Grenzen sollten sie als Ausgleichs- und Erholungsräume eingestuft werden. Ihre Entwicklung sollte auf eine komplementäre, untergeordnete Funktion beschränkt werden. Ungeschminkter kann man das »Provinzilisierungsproblem« nicht zum Ausdruck bringen. Die Vertreter der Zentren, die in der Kommission zahlenmäßig absolut dominierten, ließen angesichts knapper werdender Kassen die Maske fallen. Würde dieses Konzept realisiert, wäre eine Verschäfung der Ungleichgewichte die Folge. Das führt zu einer weiteren These: Die peripheren, zurückbleibenden Regionen schaffen es immer weniger, den einmal entstandenen Unterschied auszugleichen. 11 Eine Skizze dieses historischen Prozesses im Bodenseeraum Hier trat die Entwicklung in einer spezifischen Form in Erscheinung. Im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts verlor der ursprünglich zentrale Raum seine Einheit. Die Teilräume sanken jeweils zur Provinz ihrer Staaten ab. Die Bildung der neuen Staaten von Napoleons Gnaden führte zu einer Desintegration im Bodenseeraum. 12 <?page no="24"?> Provinz als historisches und politisches Problem 25 Der Anschluss an Baden trat anfangs als ein Abbau zentraler Einrichtungen und Ämter beispielweise der bischöflichen Verwaltungen in Meersburg und Konstanz in Erscheinung. Sie hatten bis dahin Geld in den örtlichen und regionalen Wirtschaftskreislauf gebracht. Das Jahrhunderte alte Konstanzer Bistum wurde in verschiedene Teile »zerlegt«. In allen Anrainerstaaten entstanden Bistümer, die sich mit den Grenzen der neu entstandenen Staaten deckten. 1826/ 27 war das ursprünglich große Konstanzer Bistum auf das badische Gebiet reduziert, bevor es formell vom Papst aufgelöst wurde. Während man von einer wirtschaftlichen Integration von Konstanz in den badischen Staat noch weit entfernt war, lösten sich die alten wirtschaftlichen Verbindungen im Bodenseeraum tendenziell auf. Die neuen Staaten zogen - wenn auch zunächst niedrige - Zollmauern um ihre neugeformten Territorien. Zollgebiete grenzten sich nun im Bodenseeraum von einander ab. Baden folgte 1835 als letzter deutscher Staat am Bodensee. Drittens geriet der Konstanzer Raum verwaltungsmäßig an die Peripherie des neuen Staates. Auch der Lindauer Raum, Vorarlberg, das württembergische Nordufer und die gesamte badische Seeregion wurden auf die Zentren der neugebildeten Staaten ausgerichtet. Eingeschränkt gilt das für das Schweizer Ufer. Sie alle kehrten dem Bodensee künftig den Rücken zu. Die politischen Macht- und Verwaltungszentren in Stuttgart, Karlsruhe und München, ab 1847/ 48 bedingt auch Bern wurden für die Teilräume ausschlaggebend. Die neuen Verwaltungsstrukturen hatten schließlich Investitionsentscheidungen zur Folge, die für den Bodenseeraum nachteilig waren. Das neue Verkehrsmittel Eisenbahn wurde nicht zur Verbindung der Teilräume im Bodenseegebiet, sondern zur Verbindung mit dem jeweiligen Zentrum des Staates gebaut. Alle Eisenbahnen wurden zwischen 1845 und 1865 als Stichbahnen zum See und als Verbindungen zu den jeweiligen Zentren geplant und gebaut. Konstanz verlor in dem Zusammenhang seine zentrale Verkehrsfunktion für den Schweizer Thurgau. Die Schweizer Stichbahn zum See endete in Romanshorn und nicht im badischen Konstanz. Die Verbindung der Linien untereinander sollte die Dampfschifffahrt herstellen. Je bedeutsamer die Kostenfaktoren Menge, Zeit, Schnelligkeit und Pünktlichkeit wurden, umso mehr wurde diese Verkehrskombination zum Verkehrshindernis. Eine rings um den See laufende, alle Teile verbindende Gürtelbahn entstand sehr spät. Der Lückenschluss zwischen Baden, Württemberg und Bayern kam erst 1901 zustande! Gehen wir sozusagen optisch etwas näher an das Phänomen »Provinzialisierung« heran und betrachten Konstanz im 19. Jahrhundert. Warum wurde Konstanz nicht zu einem Zentrum? 13 Anfang des 19. Jahrhunderts war Baden als Staat und Wirtschaftsraum so gut wie nicht integriert. Grob gesprochen war alles Provinz und die noch zunftähnlich organisierten, <?page no="25"?> 26 Gert Zang für den lokalen und regionalen Markt produzierenden Handwerker und Händler von Konstanz hatten kaum ein Interesse an einer Integration in einen größeren Raum. Durch die Julirevolution von 1830 in Paris kam ein liberalerer Zug in die badische Wirtschaft und Gesellschaft und brachte auch das regulierte Konstanzer Gefüge von Wirtschaft und Gesellschaft ins Wanken. Das lässt sich an der Entwicklung der Bevölkerungszahlen ablesen. 1833 hatte Konstanz 5.089 Bewohner, 1836 5.749 und 1840 6.828. Es war also in kurzer Zeit um fast 2000 Personen gewachsen. Der Aufbruch in den 1830er und 1840er Jahren lässt sich stichwortartig beschreiben: • Neue Fabriken entstehen außerhalb des Zunftsystems. • Waren- Messen werden eingerichtet. • Der Immobilienmarkt kommt in Bewegung, die Preise steigen und Neubauten entstehen. • Das Großherzogtum Baden tritt dem Zollverein bei. • Ein regelmäßiger Dampfschiffverkehr beginnt. • Der Konstanzer Hafen wird ausgebaut. • Neue Zeitungsunternehmen werden gegründet. • Erste touristische Projekte werden gestartet (Ausflugsgaststätte Fürstenberg, Hotel im zollfreien Gebiet). • Eine Schule für Bürger (Realschule) wird eingerichtet. • Eine eigener, bürgerlicher Verein zur Bildung und Unterhaltung (»Bürgermuseum«) wird gegründet. • Eine »Gesangverein am Bodensee« (1834/ 36) mit einer egalitären und grenzüberschreitenden Zielsetzung wird gegründet. Die neben der alten Oberschicht entstehende Schicht eines neuen agilen Bürgertums sucht die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen und den Anschluss an die wirtschaftliche, technische und geistige Modernität in den Zentren zu halten. Die Vertreter dieser neuen Schicht sind es, die ein Interesse an größeren Märkten entwickeln und damit an einer politischen und wirtschaftlichen Integration des Landes. Noch liefen sie nicht hoffnungslos hinter der Entwicklung her. Sie entwarfen und forcierten nicht nur wirtschaftliche Projekte, sondern wurden auch politisch aktiv. Sie waren später eine führende Schicht in der 48er Revolution. Sie artikulierten offen die internen und externen Hindernisse, die der Entwicklung der Stadt entgegenstanden. In ihren Köpfen bildete sich zum ersten Mal Ende der 30er/ Anfang der 40er Jahre das Bewusstsein in den südlichen Landesteilen von der Zentralregierung benachteiligt zu werden. Tatsächlich wurde der Konstanzer Raum als letzter unter den Bodenseeanrainern an das Eisenbahnnetz angeschlos- <?page no="26"?> Provinz als historisches und politisches Problem 27 sen (Württemberg: 1847 - Bayern: 1854 - Schweiz: 1855 - Baden 1863). Diesen Protagonisten war immer klar, dass ohne eine transversale, internationale Linie kein wirklicher wirtschaftlicher Durchbruch, keine Integration in die wachsenden Märkte zu erwarten ist. Die verlorengegangene Revolution von 1848/ 49 und die anschließende wirtschaftliche Depression hatten dann alle Hoffnungen und Pläne zunichte gemacht. Viele lokale Aktivisten hatten resigniert, waren tot oder geflohen. Erst der liberale Umschwung von 1860 eröffnete für die Integration eine grundlegend neue Perspektive. Alle Teile des Landes sollten nun durch die verstärkte Selbstverwaltung und die Einschränkung der »Verwaltung von oben«, also der staatlichen Bürokratie, stärker in die Politik und Ökonomie einbezogen werden. Der größere politische Einfluss der Bürger machte den Staat im Norden und im Süden intensiver als bisher zu ihrem Staat. Es kam zu einer breiteren positiven Identifikation und Integration. Aber die wirtschaftliche Integration der südöstlichen Landesteile am See ließ weiterhin auf sich warten. In dieser Zeitspanne erreichte zwar die Eisenbahn 1863 den Konstanzer Raum, doch der große wirtschaftliche Durchbruch blieb aus. 14 Aus diesem Grund kam es zu zwei neuen Frontstellungen. Zunächst wurde die liberale Zentralregierung zur Zielscheibe der örtlichen Liberalen. Um die inneren Widerstände und die Beharrungskräfte vor Ort zu brechen, fehle den örtlichen Liberalen das politische Instrumentarium. Die Liberalen in der Karlsruher Regierung seien zu zögerlich im Kampf und würden die südlichen Teile, die besonders mit den alten Strukturen zu kämpfen hätten, durch fehlende gesetzliche Regelungen im Stich lassen. Sie würden damit die Angleichung der Landesteile und die wirtschaftliche Integration des Südens behindern. Die radikaleren Liberalen suchten die Schuld für das Ausbleiben des wirtschaftlichen Aufbruchs aber nicht nur beim Gesamtstaat, sondern auch bei den Mitbürgern. Sie würden die Chancen verschlafen. Symptomatisch dafür sei die schleppende Einführung der Gewerbefreiheit, das heißt die ausbleibende Aufhebung aller Hindernisse für die freie Gewerbetätigkeit am Ort. Nicht zufällig wurde der stadtintern schwelende Konflikt durch die bevorstehende Entscheidung der Zentralregierung über den Ort der Alpentunnels für die Eisenbahn zum offenen Feuer. 15 Die Kritiker, die forsch ihren Blick auf die Zukunft richteten, warfen der zögerlichen, konservativliberalen Stadtregierung vor, sich gegenüber der Zentralregierung nicht vehement genug für den Lukmanierpass als Ort der Alpenüberquerung einzusetzen. Es zeichne sich ab, dass Karlsruhe sich für den Gotthard entscheide. Der Verkehr werde dann aber an Konstanz und am Bodenseeraum vorbeigehen. <?page no="27"?> 28 Gert Zang Es folgte ein langer und zäher Kampf im Innern der Stadt um die Macht, in dem sich die radikaleren Liberalen nur teilweise, doch in entscheidenden Punkten durchsetzen konnten. Tatsächlich wurden viele Probleme von ihnen angegangen und gelöst: Dazu zählen unter anderem die Bildungsreform (Simultanschule, Erhöhung der Lehrerzahlen) und eine aktive Investitionspolitik der Stadt in Form finanzieller Vorleistungen für zahlreichen Schlüsselprojekte einer Entwicklung. An vielen hatte man sich direkt beteiligt, so am Bau eines großen Hotels und am Bau von Eisenbahnlinien. Durch großzügige Aufschüttungen am See versuchte man neuerlich die Voraussetzungen für Luxusquartiere direkt am See zu schaffen, um damit auswärtiges Kapital in den städtischen Kreislauf zu bringen. Man wollte den großen Durchbruch durch aktives Eingreifen geradezu erzwingen. Der Sieg über Frankreich 1870/ 71 schien diese Strategie der Entwicklung aus eigener Kraft zu begünstigen. Einige Jahre ging es gut. Doch die Gründerkrise erreicht auch den Konstanzer Raum und ließ die Projekte wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Der Versuch, mit eigenen Mitteln eine Angleichung an den Norden und in einem Kraftakt eine wirtschaftliche Integration zu erreichen, endet im Desaster. 16 »Provinz«, das beinhaltete bis in die jüngste Geschichte zwei konträre Dinge, zum einen die materielle und mentale Zurückgebliebenheit, auf einen Nenner gebracht, eine allseitige Beharrungskraft, zum anderen aber auch den oft verzweifelten Kampf um den Anschluss an die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Zentren, an die wegweisenden Ideen der Zeit, kurz an die Modernität. Beide Aspekte waren in der Außen-, aber auch Selbstwahrnehmung negativ besetzt. Fraglos galt das für die Zurückgebliebenheit, die sprichwörtliche »Provinzialität«. Es traf aber auch auf all die Versuche zu, diesen Zustand zu überwinden, denn in der Regel wurden sie assoziativ mit Scheitern, Isolierung und Ausgrenzung in der Provinz und Leiden an der Provinz verbunden. Schon frühzeitig wurde die Provinz aber auch zum positiv besetzten Rückzugsraum. In der Phase der Hochindustrialisierung und Verstädterung vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie zum geschätzten Fluchtpunkt, eine Entwicklung, die im Bodenseeraum besonders durch den Zuzug überdurchnittlich vieler Maler und Dichter in Erscheinung trat. Die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse der ungleichen Entwicklung laufen in der Gegenwart, bei schrumpfender Bevölkerungszahl noch beschleunigter ab als zuvor. Periphere Regionen verlieren Einwohner, Versorgungseinrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Ärzte, Läden), optimale Verkehrsverbindungen, qualifizierte Arbeitsplätze und Betriebe. Die entleerten Räume werden zu Durchleitungsräumen (ICE- und Hoch- <?page no="28"?> Provinz als historisches und politisches Problem 29 spannungstrassen, Warteräume für Flugzeuge) und zu Deponieräumen (Atom- und Industriemüll). Die Grundmechanismen und Folgen des Provinzialisierungsprozesses sind bis in die Gegenwart konstant geblieben. Geändert hat sich im Tableau aber ein zentraler Punkt. Die mentale Seite provinzialisierter Räume wie das Vorherrschen traditionalistischer Anschauungen, die Beharrung in alten Formen (Rolle des Manns, der Kinder usw.), die schlechte Informiertheit, das geringere Maß höherer Bildung gibt es in der früher verbreiteten Form nicht mehr. Das gilt auch für die ursprüngliche Kehrseite der Medaille, das Leiden an den geistigen, kulturellen und sozialen Defiziten der »Provinz«. Das gibt es sicher noch in Einzelfällen oder als individuelle Erinnerung, aber nicht mehr als eine die Gegenwart prägende Macht. Zeitlich nacheinander haben die Verbreitung des Radios, des Telefons, des Fernsehens, des Handys und des Internets diese mentalen Trutzburgen geschleift. Die »Provinz« ist Teil einer Welt, in der Jeder bei allen Ereignissen fast zeitgleich dabei ist. Der Kampf um die Befreiung aus einer besonders hartnäckigen Kenntnislosigkeit und drückenden sozialen Verhältnissen, der Kampf um die Aufhebung von Tabus aller Art, die auch im Bodenseeraum den zentralen Kern der 68er Bewegung bildeten und Gegenstand der meisten Beiträge in diesem Band sind, sind für die jüngere und jüngste Generation eher Geschichte. Das gilt nicht für die Bewegungen, die sich auf die Planung und Durchführung aktueller Großprojekte in den marginalen Räumen beziehen. Diese werden eher verstärkt auftreten. Die gegenwärtige Diskussion über den Bahnhofsumbau in Stuttgart (Stuttgart 21) und dessen vermutete negative Auswirkung auf das »flache Land« und den dort dringend notwendigen Ausbau der Strecken in Richtung Süden (Südbahn, Gäubahn und Rheintalbahn) sind nur ein Beispiel. Laufen die Kosten bei Stuttgart 21 aus dem Ruder, bleiben keine Finanzmittel mehr für den Ausbau der drei Strecken jenseits des zentralen Raumes übrig, so die Befürchtung. 17 Anmerkungen 1 Hans Magnus Enzensberger, Karl Markus Michel, Harald Wieser (Hrsg.), Kursbuch 39 »Provinz« Berlin 1975. 2 Gert Zang, Erfahrungen beim Abstieg vom Turm der Aufklärung. Historische Aufklärungsarbeit in einer Region, in: Bernd Jaspert (Hrsg.), Hofgeismarer Protokolle 274, Geschichte von Unten. Modelle alternativer Geschichtsschreibung Hofgeismar 1990, S. 91- 115. 3 Th. W. Adorno, Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/ M. 1963,S. 46/ 47. 4 Carl Amery (Hrsg.), Die Provinz. Kritik einer Lebensform, München 2.Aufl. 1966, S. 7. Siehe auch: »Unter Denkmalschutz« in: taz.die Tageszeitung vom 31.08.2013 5 Walter Mossmann, »Die Bevölkerung ist hellwach! « in: Kursbuch »Provinz«, a.a.O. S. 129 - 153. <?page no="29"?> 30 Gert Zang 6 Als erste dazu: Wolfgang Dreßen (Hrsg.), 1848-1849 Bürgerkrieg in Baden. Chronik einer verlorenen Revolution, Berlin 1975 und Thomas Lehner, Die Salpeterer. »Freie keiner Obrigkeit untertane Leut auf dem Hotzenwald«, Berlin 1977. 7 Wolfgang Hein, Zur Theorie der regionalen Differenzierung kapitalistischer Gesellschaften in der industriellen Revolution, in: Gert Zang (Hrsg.), Provinzialisierung einer Region, s. Anm. 8, S. 31-133 8 »Politische und gesellschaftliche Verhältnisse in der Provinz«. Die Ergebnisse sind in den Band Gert Zang (Hrsg.), Provinzialisierung einer Region. Zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz. Regionale Unterentwicklung und liberale Politik in der Stadt und im Kreis Konstanz im 19. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 1978 eingegangen. 9 Wernere Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 3. Aufl. 1913, S.-28/ 29. 10 Stellvertretend Coburger Tageblatt 22./ 23. Januar 2011, auch neben vielen Artikeln zur Sache: »Zukunftsrat weckt Franken auf«, in: Neue Presse Coburg 9.3.2011. 11 Gert Zang, Die innerstaatlich ungleiche Entwicklung als Problem der historischen Forschung, in: Gert Zang (Hrsg.), Provinzialisierung einer Region, s. Anm. 8, S. 15-29. 12 Gert Zang, Die Integration des Konstanzer Raums in den badischen Staat nach 1806, in: Carl A. Hoffmann, Rolf Kießling (Hrsg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert Konstanz 2007, S. 71-90. 13 Gert Zang, Konstanz in der Großherzoglichen Zeit. Restauration - Revolution - Liberale Ära (Geschichte der Stadt Konstanz 4.1), Konstanz 1994 Gert Zang, Konstanz in der Großherzoglichen Zeit. Aufschwung im Kaiserreich (Geschichte der Stadt Konstanz 4.2), Konstanz 1993. 14 Gert Zang, Eine Region wird peripher. Stadt und Kreis Konstanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Pankraz Fried (Hrsg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat, Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayrisch-Schwabens Bd. 2, Sigmaringen 1982 S. 217-231. 15 Gert Zang, Der Griff nach dem Weltverkehr. Der wiederholt gescheiterte Versuch der Konstanzer Bürger, die Stadt im 19. Jahrhundert an den internationalen Verkehr anzuschließen, in: Horst Matzerath, Stadt und Verkehr im Industriezeitalter, Köln 1996, S. 79- 108. 16 Gert Zang, Geschichte der Stadt Konstanz 4.2.(wie Anmerkung 13), S. 44 ff. 17 Stellvertretend für zahllose Artikel zu dem Thema: »Ton im Gäubahn- Streit wird schärfer« in: Südkurier Konstanz 12.10.2011 <?page no="30"?> Politische, soziale und kulturelle Aufbrüche Ende der 1960er Jahre <?page no="32"?> Die APO-Rebellion von 1968 … und einige ihrer Folgen in der Region Bodensee-Oberschwaben-Westallgäu K aRl S chweiZeR Wo das »Gschpäßige« schon für Charakter gehalten wird Es lohnt ein Blick in die offiziellen Darstellungen der Region zwischen Bodensee, Pfänderrücken, Iller, Donau und Schwäbischer Alb aus der Zeit vor und während des großen Aufbruchs der Jahre ab 1967/ 68, um zu verstehen, wie schlecht die regionalen Machteliten sich zunächst auf diesen vorbereitet hatten, auch wenn einzelne unter ihnen das einsetzende Vibrieren des gesellschaftlichen Bodens durchaus wahrnahmen. Dabei gaben sich die hiesigen Darstellungen von »Land und Leuten« nicht anders als jene in anderen Landschaften zwischen Alpen und Nordsee. Betont wurde in der Regel das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre, die (noch) verbliebene Idylle der Landschaft, eine über alle Zweifel erhobene Elitestellung des Unternehmertums, der Industrie und ein schon leicht trotziges Bestehen auf einen angeblich besonderen kulturellen Reichtum durch die Provinzialität. Dieser wurde allerdings auch damals schon durch vielfältige wirtschaftliche Kontakte »in alle Welt« mitfinanziert. Andererseits enthalten diese Texte auch Strukturdaten, die zum Verständnis der einsetzenden Ereignisse hilfreich sind. So schrieb Landrat Dr. Kurt Diez im 1969 veröffentlichten Buch über den damals noch existierenden Landkreis Tettnang und die Stadt Friedrichshafen u.a. wie folgt: »Wenn die Tettnanger den württembergischen Bodenseekreis für den liebenswertesten unter allen südwestdeutschen Landkreisen halten, so mag man das als lokalpatriotische Heimatliebe abtun, wie sie auch anderswo vorkommt. Indessen ist der Tettnanger Stolz gar nicht so unberechtigt […]. Er ist zwar mit seinen 260 Quadratkilometern der kleinste unter den Landkreisen von Südwürttemberg-Hohenzollern, dafür ist er aber mit rund 85.000 Einwohnern dichter besiedelt als die meisten von ihnen. Das würde man ihm mit seinen Obst- und Hopfengärten, mit Wäldern und Wiesen, mit den, in der vielfältig gegliederten Drumlinlandschaft verstreuten Einzelhöfen, nicht ansehen; ebenso wenig freilich, dass der mit seinen landwirtschaftlichen Sonderkulturen im Land obenan stehende Kreis Tettnang auch als Industriekreis in Oberschwaben die Spitze vor Ravensburg und Biberach hält, und dass der Anteil der Indus- <?page no="33"?> 34 Karl Schweizer triebeschäftigten an der Kreisbevölkerung mit 20 Prozent höher ist als im Durchschnitt des Landes. Fast die Hälfte der Kreisbewohner lebt in Friedrichshafen […]«. 1 Aus der Feder von Landrat Fritz Fugmann im bayerisch-schwäbischen Nachbar-Landkreis Lindau hörte sich dies ebenfalls 1969 wie folgt an: »Im Gegensatz zur kleinen Fläche unseres Landkreises steht der Bevölkerungsreichtum. Unser Landkreis gehört zu den am dichtesten besiedelten Landkreisen im Regierungsbezirk [… so] kam es in unserem Landkreis zu einer weiteren überaus beachtlichen Bevölkerungszunahme, so dass man 1952 schon 39.357 Einwohner zählte. Das wirtschaftliche Gleichgewicht blieb bei uns erhalten. Neue Industrien siedelten sich bei uns an. Die meisten Landkreisgemeinden verloren ihre rein landwirtschaftliche Struktur und entwickelten sich zu gemischtwirtschaftlichen Gemeinden mit beachtlichem Industrieaufkommen. Der Arbeitskräftebedarf war also im Zusammenhang mit dem konjunkturellen Aufschwung der Bundesrepublik sehr groß. 1965 hatte unser Landkreis schon 42.910 Einwohner, am 30. Juni 1968 44.056.« 2 Sich auf ganz Oberschwaben beziehend, formulierte Stefan Ott im Jahre 1971 in Weingarten entsprechend aufschlussreiche Betrachtungen: »Während sich anderswo Lärm und Luftverschmutzung ausbreiten, wird Oberschwaben immer mehr zur geschätzten Erholungslandschaft, und seine Moorbäder bringen Jahr für Jahr Tausenden Linderung und Heilung […]. Dieses Buch […] enthüllt diese Landschaft, gewiss zum Erstaunen vieler, als eine Provinz besonders reichen Kunstschaffens.« 3 Die eigentlichen Herren der Region saßen in den Chefetagen und waren sich ihrer Macht auch völlig sicher. Auf vielfältige Weise waren sie mit Staat, Politik, Kultur und den anderen gesellschaftlichen Institutionen verbunden. Zu diesen zählen auch die Handwerkskammern sowie die Industrie- und Handelskammern IHK der Region. Dr. jur. Paul Weiß, seit 1949 Hauptgeschäftsführer der IHK Oberschwaben, goss dies 1967 in folgende Worte: »Die im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung für regionale Wirtschaftsräume entstandenen Industrie- und Handelskammern sind Organisationen der Unternehmer der gewerblichen Wirtschaft. Ihre geschichtliche Entwicklung zeigt, dass Kaufleute und Kammern wie Wirtschaft und Politik miteinander eng verknüpft sind.« 4 Dabei sollte entgegen aller Beteuerung des »größeren Ganzen« eindeutig bleiben, wem diese spezielle Art des Lobbyismus zu dienen habe: »Entscheidend ist weiter, dass sich innerhalb der Kammer eine unternehmerische Willensbildung vollzieht und die Kammermeinung Unternehmermeinung bleibt« 5 , so Paul Weiß. Den damals aktuellen Forderungen der Gewerkschaften, der Sozialdemokraten und der 1956 illegalisierten Kommunisten nach Arbeitnehmer-Mitbestimmung auf allen gesellschaftlichen und <?page no="34"?> Die APO-Rebellion von 1968 35 betrieblichen Ebenen wurde selbstverständlich widersprochen, denn »die Kammern [seien] für den Einbau jeder Art von überbetrieblicher Mitbestimmung ungeeignet.« 6 Änderungen des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses passten nicht in das Weltbild der hiesigen Oberschicht. Fortschritt und Wandel wurden im Kern auf den technischen und technokratischen Sektor eingegrenzt, so beispielsweise in den Worten des IHK-Präsidenten Eugen Schwab, 1967 gleichzeitig Direktor der Firma Escher Wyss GmbH in Ravensburg: »Heute stehen wir wieder an der Wende eines neuen Zeitalters industrieller, technischer und sozialer Umwälzungen, so vor allem der Automation, der Atom-Energie und der Raumfahrt ins All.« 7 In solcherart skizzierten Vorstellungen über die südschwäbische Provinz spielte die große Mehrheit, die »unteren Dreiviertel« der Gesellschaft, in der Regel höchstens eine beiläufige, oft nur folkloristische Rolle. IHK-Präsident Eugen Schwab erwähnt kurz die »fleißigen, ethisch gesunden Arbeitskräfte« 8 der Region. Landrat Dr. Kurt Diez formulierte dazu folgende romantisierende Beschreibung: »Auch sind die Menschen im Kreis Tettnang lebensfroh, sie pflegen Musik und Gesang, sie halten etwas vom guten Essen und Trinken, und dies nicht nur an den sommerlichen Heimatfesten oder während der traditionellen, farbenfrohen Fasnet zum Ausgang des Winters.« 9 Dabei hatten die lohnabhängig Arbeitenden auch hier immer wieder bewiesen, dass sie nicht nur Feste genießen konnten, sondern gelegentlich auch den Klassenkampf zu führen wagten. Am 11. Mai 1957 hatten sich in der damals rund 19.000 Einwohner zählenden Stadt Biberach etwa 17.000 gewerkschaftliche Metallarbeiterinnen und Arbeiter zu einer Demonstration mit Kundgebung versammelt. Diese Massenkundgebung diente der Arbeitersolidarität mit den bis dahin sich seit über zehn Wochen im Streik befindenden über 200 Arbeitern bei den Biberacher Vollmer-Werken. Für diese war das arrogante Herren-Verhalten des dortigen Produktionsleiters unerträglich geworden, so dass sie für ihre Forderung nach einem Vorgesetztenverhalten, das ihre Würde achtet, in Streik traten. 10 Im Oktober 1959 traten rund 2.900 Lohnabhängige in der Zahnradfabrik Friedrichshafen ZF für vier Tage in den Streik. Der Grund war die bisher strikte Ablehnung ihrer Forderung um Erhöhung der Stundenlöhne von 10 Pfennigen für Zeitlöhner und 6 Pfennigen für Akkordarbeiter durch die Firmenleitung. 11 Andererseits sperrten die Friedrichshafener Firmen Maybach Motorenbau GmbH, heute MTU, und die ZF ab dem 30. April 1963 ihre Belegschaften aus den Fabriken aus, nachdem in den Metall-Tarifbezirken Nordwürttemberg und Nordbaden rund 100.000 Metallarbeiter/ -innen für 8% Lohnerhöhung und gegen eine Lohnpause in den Streik getreten <?page no="35"?> 36 Karl Schweizer waren. Im für Oberschwaben zuständigen Tarifbezirk Südwürttemberg- Hohenzollern hingegen wurde gar nicht gestreikt. 12 Wer hier mit seinen Überzeugungen und seiner Lebensgestaltung nicht in die offiziellen bürgerlichen Schablonen passte und trotzdem sein »Anders sein« durchzuhalten versuchte, wurde gelegentlich sogar als Beweis für eine Liberalität »der Offiziellen« verwendet, die so in der Regel jedoch nicht existent war. Dies hörte sich dann wie folgt an: »Dass eine eigenwillige Landschaft auch eigenwillige Köpfe hervorbringt, versteht sich eigentlich von selbst.« 13 Joachim Hoßfeld, einer der bedacht-rebellischen Lehrerstudenten in der Pädagogischen Hochschule auf dem Weingartner Martinsberg während der noch kommenden Jahre des großen Aufbruchs, charakterisierte solcherart Toleranz-Reservate mit wenigen zutreffenden Worten: »Wenn Provinz sich noch als Lebensraum mit eigener Masse und Schwerkraft versteht, dann hier, wo keine nahegelegene Kapitale ihre Fangarme ausstreckt, wo das bäurisch-kleinstädtische Element immun bleibt gegen den großstädtischen Erreger. Wenn Provinz noch einen Fundus unverbrauchter Ameryscher Zwitter bereithält, dann hier, wo die geschrumpfte bundesdeutsche Glucke auf sehr alten Genisten brütet, wo man geschmäcklerisch verfährt und wo das ›Gspäßige‹ schon für Charakter gehalten wird.« 14 Die Streikenden der Belegschaft der Zahnradfabrik Friedrichshafen treffen sich am 20. Oktober 1959 zur Streikversammlung in der Festhalle. Auf dem Transparent steht gegen die Unternehmensleitung gerichtet: »Sie wollen kein Recht, sondern sie demonstrieren ihre Macht«. Foto: Archiv der Industriegewerkschaft Metall, Verwaltungsstelle Friedrichshafen. <?page no="36"?> Die APO-Rebellion von 1968 37 Hoßfeld konnte sich auch zehn Jahre nach der Zeitenwende von 1968 noch daran erinnern, welche Vorsicht damals linksliberale Köpfe der Region vor dem Beginn der Rebellion walten lassen mussten. »Der Autor Josef W. Janker erzählte: Wie es ist, von einer diffamierenden Kritik in Schach gehalten zu werden. Wie es ist, morgens die Gefangenen im Ravensburger Knast hinter Gittern stehen zu sehen. Um diese Stadt zieht Janker nur noch misstrauisch seine Gedankenkreise. Übervorsichtig, von der bewussten Missdeutung der eingesessenen Kulturkritik angegriffen, zumindest enttäuscht. Sensible Erfahrungen im Einsteckenmüssen. Wenn ich ihn besuche, muss ich ins westliche Hinterland und finde ihn im Schutz des Gehrenberges, wie wenn er weghört. Denn sich in diesen Städten wohl fühlen wollen, bedeutet einen endlosen Katalog an Konventionen anzunehmen.« 15 Insgesamt kann der strukturelle Zustand unserer landschaftlich schönen Region auch mit den 1967 erstmals auf Deutsch veröffentlichten Sätzen zur »formierten Gesellschaft« von Herbert Marcuse, einem der Köpfe der »Kritischen Theorie«, treffend beschrieben werden: »Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem ›Pluralismus‹ von Parteien, Zeitungen, und ›ausgleichenden Mächten‹ durchaus verträgt.« 16 Welche zwischenmenschlichen Zerstörungen diese kapitalistische Warengesellschaft zusammen mit Unaufgeklärtheit und Religion bis in die idyllischsten ländlichen Winkel auch der Region Südschwaben hinein bewirken konnte, schilderte Maria Beig für den Raum Tettnang in ihren Büchern treffend realistisch: »Auf vielen Höfen der Pfarrei lebten schon wegen der Kriege ledige Mädchen. Bei manchen war nicht der Krieg schuld, sie hatten Kröpfe und Warzen […]. Von manchen Höfen wusste man, dass eine Tochter, meist die älteste, Aussteuer und Vermögen bekam, den weiteren Töchtern aber eine Heirat strikt verboten wurde. Sogar Mütter gönnten nur Söhnen sowie dem Sach Wohlergehen. In verschiedenen Familien ging es zeitweise schlimm zu, weil eine Tochter einen Fabrikler oder Evangelischen heiraten wollte. Meist gaben sie solchen Frevel auf. Etliche Mädchen waren aber da, die waren über die Maßen fleißig und von großer Herzensgüte. Sie halfen der Mutter zwischen drei und sieben Buben aufziehen, einen Großteil von ihnen fürs Vaterland. Manchmal war auch ein dauernd krankes Geschwister zu betreuen, der alte Großvater, die hinfällige Mutter zu pflegen. Sie hatten keine Möglichkeit, sich um Männer zu kümmern, und waren dann der Frau eine rechte Hilfe, sogar ein richtige Freundin. Das waren die besten Fälle. Tanten waren sie allesamt gute. Meist war die ledige dem Bruder Knecht, hatte ihrer Lebtag <?page no="37"?> 38 Karl Schweizer Kreuzweh oder Rheumatismus. Aus vielen Häusern sind sie zwar diesem Schicksal entflohen, aber sie schufteten in Klöstern weiter. Einige nahmen ihr Leben selbst in die Hand; sie putzten die Kirche, arbeiteten in der Anstalt oder in der nahen Fabrik. Und nicht nur eine lag auf der Lauer, endlich mit dem Erbvetter rosenkranzen und ihn beerben zu können.« 17 Wurde gegen die engen Grenzen des offiziellen Pluralismus kulturell oder gar politisch verstoßen, konnten durchaus auch zwischen Donau und Bodensee drakonische Maßnahmen der staatlichen Gewalt erfolgen. Zwei Beispiele mögen dafür genügen. Im Oktober 1960, Franz Josef Strauß (CSU) hatte das Amt des Bundesverteidigungsministers inne, meldete die Lindauer Zeitung: »Zu große Ähnlichkeit. Das Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹ berichtet in seiner Ausgabe vom 19. Oktober unter ›Personalien‹: ›Jens H. Johannsen, 20, Maler, der zur Zeit in Meersburg am Bodensee eine Lehre als Textilentwerfer abschließt, bangt staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen entgegen, nachdem Lindauer Polizeibeamte ein Gemälde seiner Produktion als unvereinbar mit der Staatsräson erachteten. Johannsen hatte sein Malwerk ›Typ Schlachter 1960‹ im Lindauer Tanzkeller ›Zur Fischerin‹ ausgestellt, dessen Besitzer in drei kleinen Gewölben eine Art Kunstgalerie unbekannter Junger Maler unterhält. Das Bild wurde von der Kriminalpolizei sichergestellt, weil die dargestellte Person eine zu auffallende Ähnlichkeit mit dem Verteidigungsminister der Bundesrepublik aufweise. Der mutmaßliche Majestätsbeleidiger gibt an, diese Ähnlichkeit könne nur rein zufällig entstanden sein.« 18 Noch zwei Stufen härter wurde mit jenen wenigen Kommunisten in der Region verfahren, welche sich trotz dem Verbot ihrer längst stalinistisch beschädigten Partei KPD im Jahre 1956 weiterhin trafen, um zu beraten, wie sie auch aus der Illegalität heraus für ihre politischen Ideen werben könnten. Im Februar 1966 führte die Staatsschutz-Polizei im Rahmen ihrer »Aktion Schneehase« gegen Kommunistinnen und Kommunisten zeitgleich wie in ganz Württemberg auch in Oberschwaben Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Verhaftungen durch. Gegen einen Teil von ihnen wurden Gerichtsprozesse eröffnet, so auch im Januar 1967 gegen den 36-jährigen Maschinenschlosser Robert Jung, dem vorgeworfen wurde, er sei seit 1965 der Regionsbetreuer der KPD für das Gebiet von Ulm bis zum Bodensee gewesen. Die Schwäbische Zeitung berichtete darüber, dass ihm »die Bundesanwaltschaft vorwirft, als Mitglied und Rädelsführer der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands gegen das KPD-Verbot des Bundesverfassungsgerichtes verstoßen zu haben […]. Jung, der sich seit dem 11. Februar 1966 in Untersuchungshaft befindet, vertrat vor Gericht die Überzeugung, dass die KPD seiner Meinung nach <?page no="38"?> Die APO-Rebellion von 1968 39 auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. Das Verbot betrachtete er als ›undemokratische Maßnahme‹, die im Laufe von zehn Jahren überholt sei […]. Nach dem Ablehnungsbeschluss erklärte Jung, zur Sache befragt, nochmals, dass er zu allem, was seine Tätigkeit betreffe, keine Aussagen machen wolle. Er betonte jedoch, dass seine ›Forderungen und Bestrebungen, sein Kampf für den Frieden‹ zutiefst verfassungsmäßig seien.« 19 Am dritten Verhandlungstag wurde das bezahlte Denunzianten- Ehepaar des Staatsschutzes, das nun als Zeugen der Anklage auftrat, das Ravensburger Ehepaar Slodczyk, durch Verteidigung und Staatsanwaltschaft (! ) demaskiert. Am 1. Februar 1967 verurteilte das Landgericht Stuttgart Franz Jung trotzdem »wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot und wegen Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht« 20 zu 18 Monaten Gefängnis. Worin diese »Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht« in Oberschwaben konkret bestand, wurde auch im Laufe eines ähnlich gelagerten Prozesses gegen den Handelsvertreter Karl Weber ab 6. Dezember 1967 dargelegt. Weber, der die Jahre von August 1935 bis April 1945 in Ge- StaPo-Haft und in Konzentrationslagern verbringen musste, hat darüber 1968 eine Büchlein angefertigt, in welchem aufschlussreiche Informationen beispielsweise aus der Anklageschrift und dem Verhandlungsprotokoll enthalten sind. »Der Angeklagte hat zumindest seit Dezember 1962 der verbotenen KPD als gehobener Funktionär angehört. Seit mindestens Herbst 1965 war er führender Funktionär der Bezirksleitung Württemberg der KPD. In dieser Eigenschaft hat er am 23. und 24. Oktober 1965 eine geheime Wochenendtagung der Kreisorganisation Ravensburg und Tettnang der KPD in einer Hütte in Schetteregg, Gemeinde Großdorf, bei Egg im Bregenzer Wald (Österreich) geleitet. So berichtete auch Kriminaloberwachtmeister Haberer aus Reutlingen über die Hausdurchsuchung am 11. Februar 1966 bei Alois Thoma in Baienfurt bei Ravensburg: ›Die Tagung (auf der Hütte in Schetteregg, K.S.) wurde von Thoma gegen 9.00 Uhr eröffnet […] nach der Begrüßung übergab Thoma die Leitung der Versammlung dem Angeschuldigten Weber . Der Angeschuldigte hielt zunächst ein Grundsatzreferat über die politische Lage nach der Bundestagswahl und deren Auswirkungen auf die KPD […]. Er setzte sich in diesem Vortrag vor allem mit dem für die KPD enttäuschenden Abschneiden der DFU [Deutsche Friedensunion, K.S.] bei der Bundestagswahl auseinander und betonte, dass in Zukunft die Zusammenarbeit mit der SPD und die legale, d.h. offene Arbeit in den Gewerkschaften sowie die Unterstützung der Ostermarschbewegung und der Aktionen gegen die geplanten Notstandsgesetze im Vordergrund der Tätigkeit der KPD stehen müssten […]. Im Rahmen der Diskussion legte Thoma eine Art <?page no="39"?> 40 Karl Schweizer Rechenschaftsbericht über den organisatorischen Stand und die Tätigkeit der Kreisorganisation Ravensburg und Tettnang während des Bundestagswahlkampfes ab. An diesem Rechenschaftsbericht beteiligte sich auch Jung in maßgeblicher Weise […]‹.« 21 Das Verfahren gegen Karl Weber wurde im Juli 1968 auf Antrag der Staatsanwaltschaft (! ) ohne Urteil eingestellt. Die gesellschaftliche Situation begann sich nun auch zwischen Donau und Bodensee zu ändern, bundesweit standen überfällige Gesetzesänderungen vor der Tür. Die unter anderem beim illegalen KPD-Hüttenwochenende benannten Themen hatten inzwischen innerhalb der Bevölkerung eine enorme Politisierung bewirkt. 1967 begann, was ein Vertreter der nun auftretenden neuen linken Aktivistengeneration, der 1946 in Weingarten geborene Peter Renz, dreizehn Jahre später als »die große Zeit« 22 bezeichnete. »Ein Staat selbstgefälliger Kleinbürger« Vorboten für die »Revolte der 1968er« hatte es auch in der Region württembergisches und bayerisches Südschwaben gegeben. Im Jahre 1961, in welchem John F. Kennedy US-Präsident wurde, Kongos antiimperialistischer Ministerpräsident Patrice Lumumba in Zusammenarbeit mit der CIA und dem belgischen Geheimdienst ermordet wurde, die SED- Regierung der DDR in Rücksprache mit Leonid Breschnew der UdSSR rund um Westberlin die tödliche »Berliner Mauer« errichten ließ und der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch ins Weltall flog, ereignete sich beispielsweise im Lindauer Bodensee-Gymnasium ein kleiner schulpolitsicher Paukenschlag. Karl Furmaniak, Dachdeckersohn und Abiturjahrgangsbester, hielt am 19. Juli im festlich dekorierten Stadttheater erstmals eine die Schulverhältnisse intelligent und frontal kritisierende Abiturientenrede. Furmaniak hatte sich als Schüler umfassende Kenntnisse zur Zeitgeschichte, über die Verfassungen verschiedener Länder, insbesondere der USA, sowie aus den Schriften von Karl Marx angeeignet und als CIS-Reise-Stipendiat der Schule die kämpferische Gewerkschaftsbewegung sowie die rebellischen Ideen der katholischen Arbeiterpriester in Nordfrankreich studiert. Seine von der Lindauer Zeitung als »Heustockbrand« titulierte Rede hatte das Schulsystem in Deutschland und dessen autoritäre Strukturen zum Thema. Sie war differenzierend und legte trotzdem den Finger in die Wunden des Systems: »Unsere Dankbarkeit hat uns nicht kritiklos gemacht. Wir haben einen Gewinn von unserem Schulbesuch, aber es hätte in dieser Zeit viel mehr erreicht werden können […]. Macht verdirbt bekanntlich den Charakter. Mancher wird nicht glauben, dass die Macht des Lehrers fast schrankenlos sein soll, aber sie ist sehr groß. Die Schule ist als Dikta- <?page no="40"?> Die APO-Rebellion von 1968 41 tur aufgebaut. Schon im Verhältnis Lehrer-Direktor zeigt sich das. Es ist nicht gerade ein Vorbild für Zivilcourage, wie sich manche Lehrer gegenüber dem Direktor geben […].« 23 An dieser Stelle wurde die Rede durch Studiendirektor Eugen Hümmer unterbrochen. Er nahm dem Festredner die Manuskriptblätter aus den Händen, beendete die Abschiedsfeier und ließ so den Eklat offen aufbrechen. 24 Der im Gymnasialjahrgang des nächsten Jahres als ebenfalls kritischer Freigeist bekannte Christof Wolfart durfte dann 1962 die Abitursrede nicht halten. Die große Mehrheit der Lehrerschaft aber, die Schulleitung und das Ministerium weigerten sich noch viele Jahre hartnäckig, beispielsweise aus den programmatischen Reformvorschlägen der Lindauer Furmaniak-Rede zu lernen. Dies ist nicht verwunderlich, war doch mit dem bis 1945 heftig bekennenden ehemaliger Nazi-Hochschullehrer Theodor Maunz von 1957 bis 1964 ein offener Reformbremser Kultusminister der verschiedenen CSU-geführten bayerischen Landesregierungen. Ebenfalls 1961 veröffentlichte der 1927 in Wasserburg am Bodensee geborene und zwischenzeitlich in Friedrichshafen lebende Martin Walser, damals vorübergehend noch auf dem Weg zum linksliberalen Schriftsteller, anlässlich der anstehenden Bundestagswahl, bei welcher die CDU/ CSU unter Konrad Adenauer ihre eigene Bundestagsmehrheit verlieren sollte, als Herausgeber das rororo-Taschenbuch »Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung? « 25 . Mitautoren waren auch die damals noch in Ulm lebenden Inge Aicher-Scholl, Schwester von Sophie Scholl, Mitgründerin und Leiterin der Ulmer Volkshochschule und der 1922 in Ulm geborene Otl Aicher, ehemaliger Wehrmachts-Deserteur 26 , Mitbegründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung und bis 1959 dortiger Graphik-Dozent, bevor sie 1972 nach Rotis bei Leutkirch zogen. Ihre klare Skizze der bundesdeutschen Realität war ernüchternd. »Es geht uns wieder gut. Aber den Staat, den wir heute haben, hätte nur ein selbstgefälliger Kleinbürger erfinden können, dessen Horizont und Format bestimmt wird durch die Problemlosigkeit, die der um seiner selbst willen gesuchte Wohlstand verschafft. Die kommerzielle Gesellschaft ist indessen nicht nur typisch für eine bestimmte Schicht. Sie ist total geworden. Auch die Oppositionspartei ist auf sie eingeschwenkt. Ihr politisches Programm unterscheidet sich von dem der Regierungspartei wie die Wahlslogans: Wohlstand für alle, heißt es bei der CDU, und: Wohlstand ist für alle da, bei der SPD. Trotzdem ist ein allgemeines Unbehagen erkennbar. Zum mindesten zur Beruhigung des Gewissens hört man mit wenigstens einem Ohr hin, wenn jemand dieser Gesellschaft gewisse schizophrene Züge nachweist. Das öffentliche Bewusstsein ist, zwar etwas grotesk, aber deshalb nicht ungenau in unseren Zeitungen <?page no="41"?> 42 Karl Schweizer und Zeitschriften nachgebildet, mit ihren unablässigen und aufwendigen Kaufappellen für Autos, Kühlschränke, Alkoholika, Waschmittel, Zigaretten und Fernsehgeräten, mit ihren Fürstenhochzeiten, dem Klatsch der Filmschauspielerinnen und einem in nationales Prestige eingewickelten Fußball […]«. 27 Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB und seine Einzelgewerkschaften, schwankend zwischen betrieblichem und außerparlamentarischen Kampf einerseits sowie sozialdemokratischer Angepasstheit anderseits, entwickelte auch in unserer Region bereits früh oppositionelle Aktivitäten gegen die von der Adenauer-Regierung seit 1960 geplanten demokratiefeindlichen Notstandsgesetze von CDU/ CSU und FDP. So erklärte beispielsweise Franz Fiala, DGB-Kreisvorsitzender im Landkreis Lindau im Oktober 1962 im Westallgäuer Heimenkirch die Ablehnung dieser Gesetzespläne durch die Gewerkschaften. »Sie lassen sich dabei von der berechtigten Sorge leiten, dass die Bundesregierung dieses Notstandsgesetz in erster Linie gegen die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerschaft anwenden wird. Alle beruhigenden Erklärungen können darüber nicht hinwegtäuschen. Des Weiteren sind sie der Auffassung, dass ein solches Notstandsgesetz ein Misstrauen gegen die Bevölkerung der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre politische Reife bedeutet. Und letztlich sind sie der Auffassung, dass die jetzt im Grundgesetz festgelegten Möglichkeiten ausreichend sind, sodass kein Grund dazu bestehe, Sondervollmachten für die Bundesregierung zu schaffen, die durch diese zweckentsprechend angewandt werden […]. Die Gewerkschaften sind bereit, als demokratische Organisation für den Bestand der Demokratie einzutreten, denn ohne unabhängige Gewerkschaften gibt es auf die Dauer keine Demokratie. Sie wollen aber dabei die Gewissheit haben, dass nicht durch Willkürakte der Weg zu einer diktatorischen Regierung einer Minderheit geebnet wird […]«. 28 »Das war halt in der heißen Zeit« Aufbegehren gegen die verhärteten Strukturen der »formierten Gesellschaft« wurde Mitte der 1960er-Jahre zum Bestandteil eines Teils der mitteleuropäischen Jugendkultur. Dies wurde unter anderem durch den Wandel des Musikgeschmacks von immer mehr Jugendlichen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig verstärkt. Beispielhaft blitzt dabei auch die Notwendigkeit sowie der wechselseitige Einfluss von Kontakten heraus aus der Provinz, hinein in die größeren Städte und wieder zurück in die Region südlich von Ulm auf. Die Zauberworte hierfür waren nicht der biedere Rock ’n Roll eines Elvis Presley oder Bill Haley, sondern die »Beat-Musik« und, neben dem leicht elitären Jazz, der Blues, aus welchen <?page no="42"?> Die APO-Rebellion von 1968 43 sich später Rock- und Pop-Musik entwickelten. Der Begriff »Freiheit« enthielt dabei vorübergehend auch einen sozialen, die westdeutschen Verhältnisse kritisierenden Inhalt. Julian Aicher, Sohn von Inge Aicher- Scholl und Otl Aicher und in den 1980er-Jahren der südschwäbische Rockmusik-Chronist, widmete dieser Zeit in seinem Standartwerk »Da läuft was« in zwei Kapiteln etliche informative Zeilen. Kommentierend zitiert er darin sein Gespräch mit dem Schlagzeuger der ehemaligen Leutkircher Beat-Band »Early Birds«, dem späteren Adrazhofener Gastwirt Walter Schneider. »Das war halt in der heißen Zeit. Da hast du mit der Musik praktisch gelebt […]. Da war das so toll, weil die Alten immer was dagegen gehabt haben […]. Das hat mit der Frisur angefangen und hat bei dem ›komischen Krach‹, der aus der Box kam, aufgehört. Gemeint sind die zweieinhalb Jahre vom Januar 1966 bis zum Juli 1968, in denen die vier Musiker der Early Birds ihre Wohngemeinde Leutkirch zu einer kleinen, aber trotzigen Brutstätte für Beatrock in Oberschwaben ausgebaut haben […]. ›Du warst praktisch damals das, was heute die Punker sind‹, sagt Schneider. Um aufzufallen, reichten zu dieser Zeit allerdings noch schlichte ›Pilzkopf‹-Frisuren aus: ›Im Verhältnis zu heute war das ein seriöser Schnitt.‹ Außerdem sei die neuere Rockmusik der 60er-Jahre von der Musikindustrie anfangs nicht so stark beachtet worden […]. Die Early Birds schlugen sich zunächst mit ganz anderen Widrigkeiten herum. Von der Rockmusik der 60er-Jahre waren die vier Westallgäuer dennoch so begeistert, dass sie dafür einige Mühen hinnahmen. Sie selber spielten ›weniger Beatles, mehr Jimi Hendrix, Cream, Spencer Davis‹ […] Da gab es vor allem Bekannte in Freiburg, München und Stuttgart, ›und die Platten hast du immer gleich gehabt‹. Manchmal wussten die Leute hinter den Ladentischen allerdings noch nicht, dass sie zum Beispiel Scheiben von einer Combo namens Rolling Stones im Regal führten. Die jungen Early Birds achteten umso genauer darauf, denn von ihren geliebten Sounds hörten sie in deutschen Radio-Sendern ›ganz selten‹ etwas. Pop-Programme, wie Ö 3, SWF 3, S 3, Bayern 3 oder DRS 3 ließen sich auf den Empfangsgeräten zu dieser Zeit nicht finden. Im US- Soldatensender sei vor allem nicht-britischer, alter Rock ’n Roll aufgelegt worden. Erst der Saarländische Rundfunk ist damals so eingestiegen […], und zwar bloß abends auf Mittelwelle hast du das halt reingekriegt‹, weiß Walter noch. Auch Radio Luxemburg wurde schon gehört, und einer der ersten war ja Radio Caroline […]. Das war der erste Piratensender, der sich da in der Nordsee verirrt hat […]. ›Geübt haben wir am Anfang auf [einem] Radio. Ein Freund von uns, der Fernsehtechniker, der hat uns also [das] Radio umgebaut, dass man <?page no="43"?> 44 Karl Schweizer da Gitarren einstecken konnte, dass man da, gegenüber einem Schlagzeug ein bisschen Sound gehabt hat‹.« 29 Einer der jungen Bad Schussenrieder Musik-Fans von damals, der spätere Mitbegründer und Musiker der beiden legendären Bands »Grachmusikoff« (seit 1978) und »Schwoisfuaß« (1979 - 1986), der 1951 geborene Georg Köberlein, erinnerte sich ebenfalls gegenüber Julian Aicher an die hiesigen Anfänge der Beat-Musik. »Die ›Early Birds‹ und ›Power Play‹ waren meine Vorbilder‹, weiß Köberlein noch. ›Da bist du noch mit dem Anzügle rum, hast die ersten Frauenkontakte gehabt. Das war so am Sonntagnachmittag. Da hat man so den ersten Hauch von Freiheit gespürt‹. Außerdem lernte er in größeren Städten der Umgebung Leute kennen, die sich zur ›Außerparlamentarischen Opposition‹, zur ›APO‹ zählten. ›Da waren viele Anarchos‹. Wer wusste, wohin, habe damals in größeren Städten eine lebhafte Szene getroffen. ›Das war traumhaft‹, schwärmt Georg und weist auf eine der ersten Wohngemeinschaften hin, die damals in Biberach entstand. Dass er mit seiner biederen Sonntagskleidung nicht mehr so ganz in solche Kreise passte, merkte der Schussenrieder, als er 1969 oder ’70 sein erstes Konzert, John Mayall, in Ulm besuchte. ›Da war ich der einzige mit Anzug in der Halle - noch von der Kirche. […] Da hast du die ersten Drogenerfahrungen gemacht‹. Zurück zum Geburtsort, fiel ihm immer öfter auf: ›Das waren schon zwei Welten. Ich war damals der Oberhippie: die Nacht auf dem Open- Air in Konstanz und am nächsten Morgen zum Fußball.‹ Der Verein begegnete den Köberlein-Zwillingen mit Unverständnis: ›Wir haben uns da schon isoliert. Georg: ›Ich und der Alex, wir haben uns einfach die Haare wachsen lassen. Und weil die Eltern dagegen waren, haben wir auch Pelzmäntel und Hüte angezogen […]. Die Leute haben mit den Fingern auf uns gezeigt, wie auf die Punks heute‹. Kein Wunder, dass es auch bei Köberleins Krach gab und vom Vater Schläge für seine aufsässigen Buben verteilt wurden. ›Irgendwann haben wir gesagt: Entweder ihr lasst uns die Freiheit, oder wir reisen hier ab‹.« 30 Das Aufbegehren der »1968er« gedieh und blühte inzwischen längst auch in Südschwaben und stand in vielfältigen politisierenden Wechselwirkungen, beispielsweise zwischen den Metropolen und der Provinz. »Steht Ihr auf der Seite von Mördern? « Wichtige Themen dieser »großen Zeit« waren u. a. Protest und Widerstand gegen den von der US-Regierung seit 1964 geführten Krieg gegen Nordvietnam, der Protest gegen die weltweite Atombewaffnung sowie <?page no="44"?> Die APO-Rebellion von 1968 45 gegen Militär und Militarismus grundsätzlich, der Widerstand gegen die nun von der Großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD geplanten Notstandsgesetze, gegen jegliche Form von Neofaschismus, insbesondere gegen die 1965 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) und für eine freie, selbstbestimmte Sexualität im Gegensatz zur zwanghaften und unglaubwürdigen »öffentlichen Moral«. Der Umbruch begann. Anlässlich des 40. Todesjahres der Ermordung des argentinischen Arztes und Revolutionärs Ernesto Che Guevara durch die CIA in Bolivien und der Erschießung des demonstrierenden Westberliner Studenten Benno Ohnesorg durch den Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras, beides im Jahre 1967, veröffentlichte Dr. Peter Schmid 2007 eine der bisher wenigen Erinnerungsarbeiten zur Oberschwäbischen APO, hier speziell zu deren Anfängen in Biberach/ Riß 31 . »Die Biberacher A.P.O. war eine spontane Oppositionsbewegung, die gewaltfrei, ideenreich und politisch provokativ war. 1968 herrschte im Deutschen Bundestag eine Große Koalition von CDU und SPD. Sie verfügte über eine Zweidrittelmehrheit und strebte die Einführung einer Notstandsverfassung an, die der Regierung unter anderem den Einsatz der Bundeswehr bei Unruhen im Inneren erlauben sollte. Eine eigentliche politische Opposition bestand nicht. Vor diesem Hintergrund formierte sich bundesweit eine oppositionelle Bewegung, die sogenannte Außerparlamentarische Opposition (APO). Geburtsstunde der Biberacher APO war der 15. März 1968. An diesem Tag fand eine Kundgebung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) zur Landtagswahl in der Gigelberg-Turnhalle statt. Hauptredner war deren Bundesvorsitzender Adolf von Thadden. Neben NPD- Anhängern fanden sich zahlreiche Bürger ein, die sich gegen den zunehmenden Rechtsradikalismus im Land wandten. Die Rede des Bundesvorsitzenden wurde wiederholt von Zuhörern durch Zwischenrufe und Trillerpfeifen gestört. NPD-Saalordner entfernten daraufhin gewaltsam einen der Pfeifer wegen ›Hausfriedensbruch‹. Adolf von Thadden fing an, die Protestierenden mit ›Idioten‹, ›jugendlicher Pöbel‹ und ›maoistische Sklaven‹ zu beschimpfen. Daraufhin gruppierte sich spontan eine Anzahl junger Leute, unter ihnen Martin Heilig und Eckart Leupolz. Sie stürmten Richtung Podium und skandierten ›Nazis raus! ‹ und ›Adolf bleibt Adolf! ‹. Den Saalordnern riefen sie ›Gestapo‹ entgegen. Die Ordner versuchten, die Anstürmenden vom Podium zurückzudrängen, es kam zu einem Tumult, wobei die Saalordner vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckten. Nach der Wahlveranstaltung traf sich eine handvoll der Protestierenden mit Martin Heilig und Eckart Leupolz im Nebenzimmer der Gaststät- <?page no="45"?> 46 Karl Schweizer te ›Goldener Rebstock‹. Unter dem Eindruck der erlebten rechtsradikalen Hetzkampagne mit Gewalt sowie des Erfolges, die NPD-Kundgebung gesprengt zu haben, beschlossen sie, sich der außerparlamentarischen Bewegung anzuschließen und in Biberach eine eigene APO-Gruppierung zu gründen. Sie benannten sich, um ihre Eigenständigkeit herauszuheben, A.P.O. Es war eine eher ›junge‹ Oppositionsbewegung, ihre Mitglieder waren überwiegend zwischen 16 und 30 Jahren alt. Sie setzte sich aus Schülern, Lehrlingen, Studenten, Künstlern und Arbeitern zusammen. Größer als der Kern von 50 bis 60 Aktivisten waren die Sympathisanten, die sie unterstützten. Sie setzten sich innenpolitisch für eine Entnazifizierung und weiterführende Demokratisierung der Gesellschaft ein. Außenpolitisch waren der Vietnamkrieg und die Hungersnot in Afrika die beherrschenden Themen. Die Biberacher A.P.O. zeigte sich politisch sehr rege. In ihren Protesten und Aktionen war sie sehr aktiv, ideenreich und teils künstlerischprovokativ. Die Biberacher standen der A.P.O. überwiegend ablehnend gegenüber. Die Bezeichnung ›A.P.O.-Sympathisant‹ wurde abwertend von diesen verwendet. Eckart Leupolz galt als ›Bürgersschreck‹ und ›Oberrevoluzzer‹. Ihm wurde vorgeworfen, er habe die anderen wie der Rattenfänger von Hameln zur A.P.O. verführt.« Der Protest gegen das Wirken ehemaliger NS-Faschisten und neuer »Neo-Nazis« fand auch beispielsweise in Friedrichshafen seinen Ausdruck. Wolfgang Eckert kann sich noch recht gut daran erinnern, wie die ersten Werbeveranstaltungen der NPD im Frühjahr 1968, beispielsweise in der Festhalle, durch die örtliche »Schüler-APO« gestört wurden. »Da gab es in der Tat vor dem Eingang das Tonband mit den Hitlerreden, da gab es aber auch einige Paletten mit Eiern, gestiftet von einem Eierhändler ›Charly‹. ›Selbstbedienung‹ hatte er auf einem Schild dazugeschrieben, und wer Lust hatte, der nahm davon welche mit in den Saal. Dort wollte der NPD-Landesvorsitzende und Landtagskandidat Martin Mußgnug (aus Tuttlingen, meine ich) eine Rede halten, kam jedoch nicht dazu: Zuerst wurde die Bühne von einigen Aktivisten mit ausgesprochen phantasievollen Plakaten gestürmt (unter dem rund ausgeschnittenen und beweglich aufgehängten NPD-Emblem war das Hakenkreuz montiert und bei jedem Schwenken der Plakate sichtbar), und nachdem die NPD-Saalordner die Bühne geräumt hatten, klatschten die mitgebrachten Eier an Rednerpult und Vorhang. Sprechchöre verhinderten, dass Mußgnug zu Wort kam, und als er nach einer halben Stunde entnervt und schwitzend zum Wasserglas griff, sang man ironisch ›Ein Prosit der Gemütlichkeit‹. Daraufhin wurde die Veranstaltung abgeblasen. Ein zweiter Versuch der NPD, im Saal des ›Goldenen Hirsch‹ (Ecke Charlotten-/ Riedleparkstraße) wurde von der Polizei und NPD-Ord- <?page no="46"?> Die APO-Rebellion von 1968 47 nern abgeschirmt, so dass junge Besucher mit längeren Haaren gar nicht erst in die Veranstaltung gelangten, wohl aber einige ältere Nazi-Gegner vom DGB, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (V VN) und der Deutschen Friedensunion (DFU). Die Veranstaltung kam trotzdem nicht zustande, weil ein technisch begabter NPD-Gegner über die Ventilatoren aus einer Seitengasse Buttersäure in den Saal blasen ließ und man deshalb im Saal nicht mehr tagen konnte. Daraufhin gab es eine Wurfsendung der NPD an alle Friedrichshafener Haushaltungen ›Das sind die Methoden unserer politischen Gegner‹.« 32 Die NPD erhielt bei den baden-württembergischen Landtagswahlen vom 28. April 1968 trotzdem 9,8% der Wahlstimmen. Einer der politischen Höhepunkte der außerparlamentarischen Opposition war der Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze am 11. Mai 1968 in Bonn. 33 Punktuell fand hierzu eine, allerdings fragile, Zusammenarbeit von APO und DGB-Gewerkschaften statt. Beispielsweise in Ravensburg organisierte der DGB-Kreisvorstand unter Karl Schädler zusammen mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) für den 21. Mai 1968 eine von rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besuchte Demonstration gegen die Notstandsgesetze. Die Schwäbische Zeitung berichtete darüber leicht spöttisch mit Bildern und Text wie folgt: »Als schließlich Marscherlaubnis erteilt wurde, bildete eine Gruppe Sargträger mit Schärpe und Zylinder die Spitze des Zuges. Nichtorganisierte Studenten der PH Weingarten waren auf diese makabre Idee gekommen, die ihrer Ansicht nach unserem Grundgesetz durch die Notstandsgesetze drohende Gefahr auf drastische Weise darzustellen. ›Heim ins Reich‹ stand auf dem Transparent, das dem Sarg vorangetragen wurde. Die Gegnerschaft gegen das Notstandsgesetz kam auf etwa zwei Dutzend Transparenten in allen verbalen Variationen zum Ausdruck. Auf ihnen konnte man u.a. lesen: ›1933 Ermächtigungsgesetz, 1968 Notstandsgesetz‹ - ›Gleichgültigkeit gegenüber dem Notstandsgesetz ist etwa so, als wenn man auf der Demonstration gegen die drohenden Notstandsgesetze der Bonner »Großen Koalition« aus CDU/ CSU und SPD am 21. Mai 1968 in Ravensburg. Foto: Sammlung Karl Schweizer. <?page no="47"?> 48 Karl Schweizer eigenen Beerdigung lacht‹ - ›Deutschland, wo steuerst du hin? ‹ - ›Wir bleiben Notstandsgegner, weil wir Demokraten sind‹.« 34 Hauptredner war der Konstanzer Oberstudiendirektor Venedey. Der SHB war bundesweit 1960 auf Anregung des SPD-Parteivorstandes als folgsame Konkurrenz zum linken Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS gegründet, der SDS, zwischen 1966 und 1969 der politische und organisatorische Kern der Studentenbewegung, im Jahre 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden. 35 Für Lindenberg im Westallgäu hielt der DGB-Kreisvorsitzende Franz Fiala gegen die Notstandsgesetze folgende Aktionsplanung fest: »Im DGB-Kreisbereich habe sich bisher nur eine einzige Gruppe von Kollegen aus dem Betrieb Liebherr in Lindenberg entschlossen, nochmals öffentlich zu demonstrieren. Die Aktion werde am 28.5. 68 in Lindenberg beginnen und über die umliegenden Orte laufen. Nach dem Autokorso werde in der Stadthalle eine öffentliche Kundgebung stattfinden […]«. 36 Die entsprechende »Forderung des DGB-Landesbezirkes Hessen nach einem Generalstreik wurde dargelegt« 37 , aber nicht in die Tat umgesetzt. Am 30. Mai beschlossen CDU/ CSU und SPD im Bundestag zusammen die Notstandsgesetze. Trotz dieser und weiterer Niederlagen dauerten die Aktivitäten der APO an. Beispielsweise in Lindau bildete die Empörung über den nach Monaten übler Hetze durch die Medien des Westberliner Springer-Konzerns erfolgten Mordanschlag auf den prominenten »Studentenführer« Rudi Dutschke am 11. April 1968 und dessen Hintergründe für die dortige APO ein wichtiges Thema. Hier hatte sich, hervorgegangen aus dem bereits 1965 gegründeten kulturkritischen »Forum«, im März 1968 das Republikanische Forum (RF) mit bis zu 70 Mitgliedern gebildet: »Es sind Dinge in Bewegung geraten, die jetzt ihr eigenes Gewicht bekommen […]. Die Träger dieser echten Bürgerinitiative kommen aus verschiedenen politischen Lagern und unterscheiden sich in ihren weltanschaulichen Überzeugungen. Einig sind sie sich jedoch in der Auffassung, dass eine demokratische Republik in Freiheit und Gerechtigkeit nur bestehen kann, wenn ihre Bewohner sich nicht als unpolitische Untertanen, sondern als politisch wache Bürger fühlen.« 38 Als Antwort auf den Mordanschlag gegen Rudi Dutschke starteten die RF-Mitglieder Hermann Dorfmüller, Christian Petri, Jörg Drews, Klaus Kennel, Dirk Zimmer, Jürgen Zimmer, Rudolf Wipperfürth und Heide Gralla am Ostermontag eine Flugblatt- Aktion im Stadtzentrum: »Steht Ihr auf der Seite von Mördern? Mord an Martin Luther King - Mordanschlag auf Rudi Dutschke! Beide Anschläge sind zwar Taten von einzelnen. Aber für beide war der politische Boden bereitet. Für das Attentat auf Rudi Dutschke machen wir mitverantwortlich: <?page no="48"?> Die APO-Rebellion von 1968 49 Die systematische Hetze der Springer-Presse gegen die studentische Minderheit - Die Verteufelung politischer Gegner durch die Bundesregierung und die Parteien - Die durch den Westberliner Senat erzeugte, organisierte und gebilligte Pogromstimmung. Nach Benno Ohnesorg ist Rudi Dutschke das zweite studentische Opfer dieser Hetzkampagne. Wie reagierten Regierung und Springer-Presse auf das Attentat? Nach bewährter Methode wurde das Opfer zum Schuldigen erklärt. Ein toter und ein niedergeschossener Student führten lediglich zu heuchlerischer Anteilnahme der Politiker und zu offener Androhung von weiteren Unterdrückungsmaßnahmen durch den Bundeskanzler. Wie viele tote Studenten muss es geben? Bis die Diskussion unserer Forderungen nach Demokratisierung unserer Gesellschaft an die Stelle von blinder und gewalttätiger Reaktion tritt? Lindauer! Auch Ihr werdet von Eurer Zeitung in die Irre geführt! Chrystostomos Zodel verdreht in seinem Leitartikel in der ›Lindauer Zeitung‹ (13.4. 68) den wahren Sachverhalt folgendermaßen: ›Die Bild- Zeitung als […] Erzeugerin einer gegen Studenten gerichteten Stimmung zu brandmarken, überschreitet jedes vernünftige Maß der Kritik.‹ - Hier wird die anti-studentische Hetze als Vernunft ausgegeben, die Kritik an ihr als Unvernunft denunziert. Lasst Euch das nicht gefallen! Schreibt kritische Leserbriefe! Unterstützt die Außerparlamentarische Opposition! Organisiert Euch im ›Republikanischen Forum‹ Lindau! « 39 Polizeiliche Ermittlungen folgten, hatten aber keine Anzeige zur Folge. Heftiger waren die negativen Folgen des Einmarsches von Truppen des Warschauer Paktes, ohne Beteiligung der DDR, im August 1968 in die CSSR, um die dortigen Versuche der Kommunistischen Partei »zum Sprung voller Wagnis auf eine andere Stufe des Sozialismus« (Franz Josef Degenhardt) zu unterdrücken. Peter Renz, damals linker studentischer Aktivist an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Weingarten, skizzierte die politisch-militärische Stimmung in und vor Weingartens Kaserne in jenen Tagen. »Prag 68. Die Bundeswehroffiziere probten schon Mobilmachung, unsere Kaserne in permanentem Alarmzustand gegen Warschauer Pakt und Flugzettel verteilende Studenten vor den Kasernentoren. Ahnungslos und ohne das Geschick von wehrdienstverweigernden Abiturienten begriffen wir zum ersten Mal den verheerenden Sinn der monatelangen Schikanen auf Parade- und Übungsplätzen: Verstärkung der Südostflanke. In der Aufregung dieser Tage hatte einer der Unteroffiziere beim nächtlichen Wachdienst scharf geschossen, nur in die Luft, aber scharf […]«. 40 Auch an der 1962 gegründeten Weingartner PH hatten Studierende inzwischen begonnen, deren Ausbildungsbetrieb und ihre gesellschaft- <?page no="49"?> 50 Karl Schweizer liche Rolle für angehende Grund- und Hauptschullehrer/ -innen kritisch zu hinterfragen und sich der Studentenbewegung anzuschließen. Rudolf Meissner, 1962 selbst Absolvent der PH und von 1970 bis 1974 dortiger wissenschaftlicher Assistent, seit 1984 Professor sowie ab 1994 Rektor der PH, erinnerte sich im Jahre 2000 daran: »Die 68er Bewegung war in die Pädagogische Hochschule eingedrungen und der Sturm und Drang dieser Jahre beherrschte auch Lehre, For- Bericht über die studentische Forderung nach Verwirklichung der drittelparitätischen Besetzung der Beschlussgremien der Pädagogischen Hochschule Weingarten in den »Nachrichten - Wochenzeitung für Oberschwaben«, Ausgabe vom 18. Dezember 1970. Foto: Sammlung Karl Schweizer. <?page no="50"?> Die APO-Rebellion von 1968 51 schung und studentisches Leben in den schönen altehrwürdigen Räumen des Schlossbaus […]. Die Fronten zwischen Lehrenden und Studierenden waren zuweilen hart. Auf der einen Seite die ›älteren‹ Kollegen und Kolleginnen, auf der anderen Seite eine junge, durchaus auch mit Zügen der Radikalität versehene, vorwärts drängende Studentenschaft und dazwischen die jungen, frisch ernannten bzw. frisch berufenen Professorinnen/ Professoren und wir Assistenten, alle zusammen damals im Alter von 32 - 34 Jahren. Der Rhythmus der Jugend bestimmte die Hochschule. Es herrschte eine linke Atmosphäre in der Hochschule, punktuell radikal, im Allgemeinen jedoch gemäßigt. Leitworte der damaligen Zeit waren Curriculum und Curriculum-Revision, Sozialisation, vor allem aber Emanzipation und antiautoritäre Erziehung. Wie auch immer, ich meine heute, dass damals eine aufgeschlossene Jugend mit Theorieinteresse und großer Lesebereitschaft an unserer Hochschule studierte […]«. 41 Peter Renz formulierte in seinen romanhaften Erinnerungen das damalige studentische Engagement für Emanzipation etwas präziser. »Es geht um das Programm eines alternativen, sozialistischen Studiums, Pläne werden gemacht, Lehrinhalte diskutiert und verabschiedet, fast die gesamte Gruppe ist anwesend […]. Das ist die Phase, in der wir jeden Studenten zur Mitarbeit auffordern, da es ja um ihre eigenen Angelegenheiten geht: Ausbildungsordnung, studentische Rechte, Verbreiterung der gesellschaftskritischen Grundausbildung, Politische Ökonomie, Lehrerrolle, Schule im Kapitalismus, jedes Thema eine Aufgabe für Generationen, aber wir haben genügend Optimismus.« 42 Auch die oft doppelköpfige, teilweise sogar schäbige Rolle einiger wissenschaftlicher Assistenten gegenüber radikalen Aktivisten benennt er kurz. »Dass man Mut haben kann, ohne gleich zuhauen zu müssen, das ist so eine Erfindung der Intelligenzler. Einfach paar Sprüche ablassen, von wegen Sexfront und so […]. Neulich klotzt Schmucki auf progressiv; immer was mit Sexualität. Aber bloß philosophisch. Seminar über sexuelle Befreiung, zusammen mit Walter, dem Watschi aus Berlin, frischgebackener Psychologe, Holzkamp-Fan und bei uns jetzt Assistent, der hat die Testpsychologie drauf und Schmucki hat die Filme besorgt, alles geheim, nur mit ausgesuchten Leuten, privat soll das laufen, bei Försters in der Wohnung, Projektor alles da und so. Schon irgendwie spannend, hab ja auch noch nie nen Porno gesehen. Schmucki kennt da ne Menge Sachen, sagt er […]. Watschi will Reaktionen testen. Was man so denkt und fühlt dabei. Und wie Gerd Förster schon die Leinwand aufgebaut hat und eine Flasche Valpollicella rumgeht, da steht Schmucki an der Tür und will sich verdrücken. Er als Beamter, schwätzt der daher, das könne er nicht machen, wenn das rauskomme, sei er dran, mit Studenten Pornos angucken, das läuft nicht, wir sollen mal alleine gucken, mit Watschi, der <?page no="51"?> 52 Karl Schweizer könne das psychologisch rechtfertigen, aber er, wir müssten schon verstehen.« 43 »Schulnoten sind mehr als nur persönliches Unglück« Sehr früh hatten sich neben der »Studentenbewegung« eine »Schülerbewegung« und eine »Lehrlingsbewegung« als Teil der bundesdeutschen APO herausgebildet. Der SDS-Verlag »Neue Kritik« brachte 1969 extra das aus dem Dänischen übersetzte »Kleine rote Schülerbuch« in konsequenter Kleinschrift und in Massenauflagen heraus: »Der kampf wird von vielen verschiedenen menschen an vielen verschiedenen plätzen geführt. Doch es ist derselbe kampf.« 44 Bernhard Brugger erinnert sich, ähnlich wie weiter oben bereits Wolfgang Eckert, an die Friedrichshafener Anfänge, Ziele und Aktionen. »Frühjahr 1968, Festhalle Friedrichshafen, Wahlveranstaltung der NPD, drei Jugendliche am Eingang, einer hielt ein Tonband, von dem Hitlerreden herunterkrächzten als Protest gegen die Nachfolger der NSDAP. Als 16jähriger Schüler hatte ich mich aufgemacht mal zu hören, was die NPD denn so sagt […]. In den folgenden Monaten bildete sich wie in anderen Städten auch, ein Kreis von Schülern, denen einzelnes Gemecker über Lehrer und Elternhaus nicht ausreichte, die es ablehnten, alles so zu machen, weil man es halt so macht, die in den Schulnoten mehr sahen als nur ein persönliches Unglück, die nicht alle zwei Wochen auf elterlichen Befehl zum Friseur wollten, und die die ›Urwaldmusik‹ als ihre Musik empfanden. Wir wollten Gerechtigkeit, deshalb keine Schulnoten und niemanden, der was zu bestimmen hat, nur weil er älter ist. Dass da böser Ärger in der Schule nicht ausblieb, versteht sich von selbst. Flugblätter gegen Rektor und Lehrer wurden bald nur noch von Studenten aus Konstanz verteilt. Denen es auch vorbehalten blieb, vor allen Schülern die Lehrer zu duzen. Zeitweise breitete sich der Schülerunmut stark aus, ein sogenannter Numerus Clausus wurde an den Universitäten eingeführt, auf Deutsch eine nach Noten bemessene Zulassungsbeschränkung für bestimmte Studienfächer. Drei Tage wurde an den Friedrichshafener Gymnasien gestreikt (nach Wolfgang Eckert nur am Graf-Zeppelin-Gymnasium GZG, nicht am Karl-Maybach-Gymnasium KMG, K.S.) und es gab sogar eine Demonstration mit fünfhundert Schülern. Für uns sogenannte antiautoritäre Schüler waren andere Fragen aber wichtiger. Wie kommen wir von einer Schülermitverwaltung, die gerade mal ein Schulfest ausrichten darf, zu wirklichem Einfluss an der Schule, wie können wir uns überhaupt durchsetzen. Schulmodelle wie die antiautoritäre Schule von Neill 45 , in der die Lehrer und Schüler gleichberechtigt <?page no="52"?> Die APO-Rebellion von 1968 53 waren und die Lehrer absolut keinen Zwang ausübten, fanden wir faszinierend. Dabei ging der Blick nicht nur in deutsche Städte, sondern auch in andere Kontinente: Aufstände der Schwarzen in Ghettos in den USA, Bombenterror der US-Armee gegen die Vietnamesen, Che Guevara, der vor kurzem in Bolivien umgelegt wurde, die Roten Garden, denen eine Revolution nicht genügte. Jedes neue Buch von Guevara, Fanon oder Dutschke, vom einzigen Verlag, der so etwas zu drucken schien (Rowohlt), in der einzigen Buchhandlung, die so was in der Stadt verkaufte (See-Verlag), war ein Blick auf aufwühlende, leidenschaftlich engagierte Menschen. Bevorzugter Diskussionsort war das ›Café Didi‹, längst plattgewalzt, heute steht dort der Betonklotz der Sparkasse (später K42 Stadtbücherei und RavensBuch, K.S.). Nichts mehr von fadem Geschichtsunterricht, volle Hoffnung auf eine umfassende Veränderung auf der Welt. Als die evangelische und katholische Kirche zum Thema Dritte Welt ein Seminar mit Dampferfahrt machte, ging es eigentlich nur noch um die Frage, welches der richtige Weg zur Befreiung, für Essen, Trinken und Gerechtigkeit für alle war. Dass dieses Ziel in kürzester Zeit zu erreichen war, schien uns allen klar. Die Geister schieden sich, nachdem die kirchlichen Dritte-Welt-Gruppen dazu aufforderten, in einen Briefkasten die erhaltenen abgestempelten Briefmarken zu tun. Der Erlös war für die Hilfe in der Dritten Welt bestimmt. Das war uns doch etwas zu wenig […]«. 46 Welche vielfältigen Einflüsse und Umwege damals die Politisierung junger Menschen umfasste, schilderte der 1952 in Friedrichshafen geborene, seit 1962 in Oberteuringen lebende Manfred Dietenberger. »Die Anfänge von ›1968‹ aber erlebte ich als Schüler in der Schule und dem Schülerheim Salvator-Kollegs in Lochau in Vorarlberg. Davon erfuhr ich meist über die Medien, wenn ich nach Wochen wieder einmal nach Hause kam, Zeitung las oder Radio hörte. Oder wenn zuhause ein Auto vorbeifuhr, mit dem gerade für die ›Aktion Demokratischer Fortschritt‹ ADF eine Propagandafahrt durchgeführt wird. Damals hatte ich selbst nur ein Fahrrad, wollte dem Auto aus Neugierde nachfahren, konnte es aber nicht einholen. Heute weiß ich, dass darin Alois Thoma, Sanitärmeister aus Baienfurt, und Karl Richter, Angestellter für Lichtpausen in der Zahnradfabrik Friedrichshafen ZF, saßen, die damals 1968 Werbefahrten für die ADF in Oberschwaben durchführten. Beide waren Mitglieder der 1956 in Westdeutschland verbotenen Kommunistischen Partei KPD. Den Karl Richter nannte man damals den ›Abgesägten‹, weil er so klein war. Er hatte ein eigenes neues Lichtbogenverfahren entwickelt. Das war die Zeit, als wegen dem bis heute anhaltenden KPD-Verbot die Vorbereitungen für die Neugründung ei- <?page no="53"?> 54 Karl Schweizer ner Deutschen Kommunistischen Partei DKP zwar in Gange waren, aber Kommunistinnen und Kommunisten noch über die ADF legale demokratische Politik machten. Damals fand ich an einem Sonntagmorgen in unserem Briefkasten ein Flugblatt, in dem darüber informiert wurde, warum Beate Klarsfeld dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) am 7. November 1968 wegen dessen Nazi-Vergangenheit in aller Öffentlichkeit eine Ohrfeige verpasst hatte. Meine Mutter sagte dazu damals ›Gott sei Dank‹ und mein Vater fand dies empörend. Ich fand das aber klasse, dass jemand sich traute, einem dieser ›Großen‹ von damals eine Ohrfeige zu verpassen. Dass Kiesinger ein Alt-Nazi war, stand auch in dem Flugblatt. Meine Eltern waren in jener Zeit schon ›Wechselwähler‹, obwohl diese Bezeichnung noch gar nicht erfunden war. Die stimmten nach jeder Wahlperiode, die zwangsläufig verglichen mit den früheren Wahlversprechungen enttäuschend verlief, dann immer für die jeweils andere Partei. Sie wechselten also zwischen SPD und CDU. Mein Vater war außerdem so politisch, dass er, als die katholische Kirche verkündet hatte, dass man als Christ auch Mitglied in einer nichtchristlichen Gewerkschaft sein könne, aus dem Christlichen Metallarbeiterverband aus und in die DGB- Gewerkschaft IG Metall in Friedrichshafen eintrat […]. Ich sog das Flugblatt über Beate Klarsfelds Tat gegen das ehemalige NSDAP-Mitglied Kiesinger förmlich auf. Darin enthalten waren aber auch Forderungen nach einer demokratischen Schulreform, nach mehr Mitbestimmung in den Betrieben, nach einer friedlichen Außenpolitik der BRD und nach einer endlich zu erfolgenden Anerkennung der Ergebnisse des 2. Weltkrieges in der Form der Deutschen Demokratischen Republik DDR und der »Oder-Neiße-Grenze« hin zu Polen sowie der Grenze zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik CSSR. Mein Vater sagte damals spontan, dies könne nur der Speidel verteilt haben. Das war ein Kommunist in Friedrichshafen, der meinem Vater viel bei handwerklichen Dingen geholfen hatte. Der war mir sympathisch und hatte eine Baskenmütze auf. Wahrscheinlich trage ich deshalb heute auch eine. Aus den Informationen in jenem Flugblatt schmiedete ich selbst ein einfacheres eigenes Flugblatt und mit diesem tauchte ich nach dem Wochenende wieder im Salvator-Kolleg in Lochau auf. Dort sagte ich zu einigen Mitschülern, ›So etwas müssen wir auch machen‹. Dort waren wir zwischen fünf und sieben Jugendliche, die sich etwa alle zehn Tage zu sogenannten ›Bunkergesprächen‹ in einem damals noch erhaltenen betonierten MG-Nest aus dem 2. Weltkrieg vor unserer Schule trafen. Wir nannten uns ›Club Demokratischer Fortschritt‹. Aus diesen Diskussionen entwickelte sich unter anderem, dass wir uns sagten, wir brauchen <?page no="54"?> Die APO-Rebellion von 1968 55 eine Schulzeitung. Die Schule verfügte auch über ein hauseigenes Radio- Kabelnetz in die Zimmer. Über die ließ uns unser Rektor eine von ihm zusammengestellte Hitparade für die Sonntage hören. Darüber ließen wir gelegentlich auch etwas von uns Gewähltes hören. Wir waren damals ja bei den Bundestagswahlen vom September 1969 noch nicht wahlberechtigt, verhielten uns aber nach der Parole ›Aktiv wählen! ‹. Dies taten wir in der Form, dass wir offizielle Plakate der CDU/ CSU und der NPD nachts heimlich durch wenige Worte so veränderten, dass ein erträglicher Sinn entstand. Einmal verfolgten uns dabei in Lindau Neonazis und ich rannte dabei sicher fast so schnell wie der Sprinter Armin Harry. Dort in Lindau gab es das ›Republikanische Forum‹ RF und die Gaststätte ›Zur Fischerin‹ von Eitel-Fritz ›Tada‹ Scheiner. Dort traf man auch Mitglieder des RF und der Wirt zeigte seinen Nonkonformismus damals schon mit seinen verschiedenen Bartfarben. Auch aus den dortigen mit Schreibmaschine geschriebenen und auch öffentlich ausgehängten Texten bezogen wir in Lochau Teile unseres politischen Wissens. Das war nicht viel, aber wie wolltest du als ›Klosterschüler‹ damals sonst zu deinem Wissen kommen? Dies waren zunächst die einzigen praktischen Konsequenzen. Ich schrieb einmal auch an die ADF, allerdings erfolglos. Irgendwie erhielt ich in Friedrichshafen ein Flugblatt zum Berliner Kongress vom Februar 1968 gegen den Vietnamkrieg in die Finger. Da man damals ja noch überhaupt nicht diese Kopiermöglichkeiten hatte wie heute, schrieb ich dieses Flugblatt selbst wieder ab, hektographierte den Text über Wachsmatrizen und verteilte das Flugblatt. In diesen Tagen machte der Südwestfunk eine Telefonaktion unter seinen Hörern. Ich rief an und redete nicht zur vorgegebenen Rätselfrage, sondern rief zum Berliner Vietnamkongress auf, bis die mich aus der Sendung warfen. Ich selbst konnte aber als Schüler nicht zu dem Kongress nach Berlin fahren. Als Lehrling traf ich mich einmal auch mit rebellischen Häfler (Friedrichshafener K.S.) Gymnasiasten vom Graf-Zeppelin-Gymnasium GZG und vom Karl-Maybach-Gymnasium KMG im Hinterhof des Hauses meines Chefs, heute das IG-Metall-Haus in der Riedleparkstraße 13, und malte dort mit denen Transparente. Ich glaube, das war damals zum landesweiten Streik der Schülerinnen und Schüler im April 1970 gegen die Bildungspolitik und gegen den scharfen Numerus Clausus zur Einschränkung der Studierendenzahlen. Eines von deren Transparente hatte die Parole ›Heute bleibt die Küche kalt - Haut den Hahn in die Pfanne! ‹. Baden-Württembergs Kultusminister hieß damals Wilhelm Hahn und die ›Wienerwald‹-Gaststättenkette machte zu jener Zeit mit dem Spruch Reklame ›Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald‹.« 47 <?page no="55"?> 56 Karl Schweizer Besonders öffentlichkeitswirksame Formen ihres Protestes fanden damals Schülerinnen und Schüler des Biberacher Wieland-Gymnasiums, ganz in der Tradition des jungen Christoph Martin Wieland selbst, welchen Johann Wolfgang von Goethe in seinem Nachruf u.a. wie folgt charakterisierte: »Er lehnte sich auf gegen alles, was wir unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik […]«. 48 »Im Oktober 1969 kam es am Biberacher Wielandgymnasium zu einem Schulstreik. […] Die Abiturklasse 9b kam der Aufforderung ihres Englischlehrers Rolf Neidlein nicht nach, die hufeisenförmige Sitzordnung aufzulösen, um eine benotete Übungsarbeit zu schreiben. Die Schüler verweigerten die Übungsarbeit, da sie ihrer Meinung nach ›zu nichts anderem dienen soll als das vorhandene Nichtwissen zu reproduzieren‹. Der Englischlehrer verließ das Klassenzimmer, weil er ›gegen das Kollektiv der Feindseligkeit keine Schulordnung durchsetzen konnte‹. Die Schüler erklärten darauf, dass sie in ›aktiven Streik‹ treten und zukünftig den Unterricht kollektiv bestreiken, um sich das für das Zeugnis notwendige Wissen selbst zu erarbeiten. Schuldirektor Hofele bestand darauf, dass die Schüler die Übungsarbeit nachschreiben […]. Wegen der hartnäckigen Weigerung der Klasse beschloss der einberufene Lehrerkonvent die Aussperrung der gesamten Klasse vom Unterricht - ohne die Eltern vorher informiert zu haben. […] Die Klasse 9b bemühte sich weiter aktiv ›für einen besseren Unterricht‹. Die Schüler organisierten äußerst medienwirksam einen Schulunterricht auf dem Biberacher Marktplatz. Unter den Augen vorbeigehender Passanten unterrichtete ein Schüler die anderen in Englisch und Mathematik. Dabei wiesen sie mit Transparenten und Flugblättern auf die schulischen Missstände und ihren Schulstreik hin. […] Fünf Tage nach der Aussperrung werden die Schüler der Klasse 9b wieder zum Unterricht zugelassen. Krankheitsbedingt nimmt der Englischlehrer den Unterricht allerdings nicht wieder auf. Für ihn unterrichtete sein Kollege Oberstudienrat Butscher die Klasse 9b in Englisch.« 49 »Durchstoßt das Sexualtabu« und »aktion tierschutz« gegen Strauß An verschiedenen Orten Südschwabens versuchten inzwischen die Aktiven nicht mehr nur durch Flugblätter, sondern auch mit preisgünstig vervielfältigten Zeitschriften ihre Gegeninformationen und Ansichten in die bisher medial weitgehend kontrollierte Öffentlichkeit zu tragen. Die Biberacher A.P.O. gab beispielsweise 1969 insgesamt fünf Ausgaben ihres Magazins VENCER EMOS heraus. An der vierten Ausgabe mit dem Titel <?page no="56"?> Die APO-Rebellion von 1968 57 »Durchstoßt das Sexualtabu« entzündete sich innerhalb der heimischen und benachbarten »Philister mit ihrer kümmerlichen Sitte« 50 der bis dahin heftigste Aufschrei. Die Autoren schrieben darin u.a.: »So weist jede familiensoziologische Untersuchung nach, dass Eltern ihre Kinder nach ihren eigenen Erfahrungen auf- und erziehen. Und eben diese Eltern stellen ein verkleinertes Abbild unseres autoritären Staates dar und eben in dieser ›Familie‹ werden die Kinder zum ›guten Staatsbürger‹ dressiert. Jede hierarchische und antagonistische (in sich widersprüchliche) Gesellschaft bedarf eines solchen oder eines ähnlich gearteten Erziehungssystems. […] Wie irrsinnig sich die bürgerliche Erziehung einer freien Sexualität entgegenstemmt, ergibt sich glasklar aus der Sexualstruktur der ›sittenreinen Jungfrau‹ oder des ›moralisch sauberen Jünglings‹. Symptomatisch sind die Ekel- und Angstgefühle, die die menschlichen Geschlechtsteile bei diesen Idealtypen der bürgerlichen Gesellschaft auszulösen vermögen […]«. 51 Derartige und weitere öffentliche Kritik in die Mitte der bürgerlichen Seelenzustände hinein hatte Folgen. »Auf der Frontseite war ein erigierter Penis sowie eine Karikatur eines wollüstigen Teufels und eines nackten Papstes abgebildet. Am 2. und 3. Mai 1969 wurde diese Ausgabe am Biberacher Wieland-Gymnasium ver- Das Titelbild »Durchstoßt das Sexualtabu« der Ausgabe Nr. 4 der Biberacher APO-Zeitschrift »Venceremos« vom Mai 1969. Foto: Karl Schweizer, Sammlung Christa Lauber. <?page no="57"?> 58 Karl Schweizer kauft. Verantwortlich hierfür zeichnete ein Autorenkollektiv, bestehend aus Eckart Leupolz, Künstler, sowie Ulrich Weitz und Oswald Schmid, beide Schüler am Gymnasium. […] Einige Tage danach ließ die Lehrerkonferenz des Wieland-Gymnasiums die Verbreitung von ›Venceremos‹ verbieten und schränkte die freie Meinungsäußerung ihrer Schüler ein, indem sie das Verteilen von Druckschriften und Flugblättern in der Schule untersagte. Der Elternbeirat des Gymnasiums wetterte gegen die ›perversen Schweinereien einer Schülerclique‹ und verlangte ›äußerste Härte‹ bis hin zum Schulausschluss […]. Die katholischen Geistlichen des Dekanats Biberach zeigten sich ›durch das die Menschenwürde und den christlichen Glauben pornographisch beschimpfende Machwerk […] zutiefst empört‹. […] Die Staatsanwaltschaft Ravensburg stufte die Zeitschrift als ›unzüchtige Schrift‹ ein […]« 52 und erhob Anklage. Doch der folgende Prozess gegen die drei presserechtlich Verantwortlichen vom 13. bis zum 20. Januar 1970 endete mit Freisprüchen für diese. Nach geschickter Verteidigung durch Rechtsanwalt Dr. Martin Bangemann, später FDP-Bundeswirtschaftsminister und EU-Kommissar, urteilte Amtsgerichtsrat Merker auf Freispruch vom Vorwurf der Herstellung und Verbreitung unzüchtiger Schriften. Während der Endphase des Wahlkampfes zu den Bundestagswahlen 1969 kam es von Seiten der regionalen APO immer wieder zu Protestaktionen gegen prominente Vertreter des autoritären Konservatismus. Dazu zählten auch die Aktionen gegen den Auftritt von Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß (CSU) in der Ravensburger Oberschwabenhalle. CDU-Saalordner sowie 250 Polizisten schirmten den damaligen Lieblingseinpeitscher der politischen Reaktion vor den rund 250 Protestierenden ab, welchen rund 6.000 oberschwäbische Strauß-Fans gegenüber standen. Die Ravensburger Schüler-APO verteilte ein in konsequenter Kleinschreibung verfasstes Flugblatt und begab sich in Zehnergruppen in die Halle: »stoppt strauß - heute mittag spricht strauß um 16 uhr in der oberschwabenhalle, was soll‹s? strauß sprach schon viel. vor 5 wochen z.b. (telegramm an goppel): ›die außergesetzlichen der apo benehmen sich wie tiere, auf die die anwendung der für menschen gemachten gesetze nicht möglich ist […]‹. schön, was soll ’s? […] nach der wahl kann folgendes sein: z.b. die konzentration von vermögen und produktionsmitteln in den händen weniger wächst weiter (z. zt. kontrollieren 1,7% der familien 30% des privaten vermögens und 70% der produktionsmittel (spiegel, nr. 31/ 69) […]. dem strauß […] muss gezeigt werden, dass immer noch ›alle staatsgewalt vom volke ausgeht‹.- das volk seid ihr! - stoppt strauß! fordert diskussionen! […] aktion tierschutz.« 53 <?page no="58"?> Die APO-Rebellion von 1968 59 Doch Zwischenrufer wurden während der Veranstaltung durch Saalordner entfernt. Und Strauß, welcher 1937 dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps beigetreten und beim Sturm 23/ M6 in München ›weltanschaulicher Referent‹ geworden war, konnte ungestört agitieren: »Die Methoden der APO unterscheiden sich in nichts von denjenigen der SA und SS im Reiche Adolf Hitlers, der solche APO-Typen sicher mit Stolz in seine Reihen aufgenommen hätte […]. Der Linksradikalismus, so Strauß abschließend zu diesem Thema, reiche weit in die Reihen der SPD hinein […]«. 54 Die Katholische Jungmännergemeinschaft Weißenau, welche ebenfalls ein Flugblatt gegen Strauß verteilt hatte, (»beschwindelt nicht den deutschen arbeiter, versucht nicht durch nationale phrasen die wirklichen interessen des volkes zu verschleiern«) und nicht in die Halle gelassen worden war, wurde in Folge dieser Ereignisse durch die Amtskirche aufgelöst. 55 »Sie nennen sich mit Begeisterung und Ernst nun Kommunisten« Die Bundestagswahlen von 1969 beendeten die Große Koalition und ermöglichten die Sozialliberale Koalition von SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Der Sozialistische Deutsche Studentenbund SDS, die wichtigste orientierende Kraft der bisherigen APO, löste sich im März 1970 auf. Dies in einer Situation, »als die Arbeiter in den Stahlwerken und im Kohlebergbau der Bundesrepublik im September 1969 wilde Streiks durchführten […] als rund 1.000.000 neue Mitglieder unter 35 Jahren in die SPD eintraten und die Jungsozialisten sich politisierten und radikalisierten« 56 , wie beispielsweise auch in Wangen/ Allg., Ravensburg/ Weingarten und Lindau. Bundesweit hatte bereits die Zeit der Neugründungen verschiedener kleiner sozialistischer und kommunistischer Organisationen begonnen, die sich größtenteils als »marxistisch-leninistisch« definierten, sich politisch von der UdSSR, der DDR sowie dem Warschauer Pakt distanzierten und sich meist an der Politik der Kommunistischen und Arbeiterparteien der Volksrepublik China und der Sozialistischen Volksrepublik Albanien orientierten. 57 Die zwei einflussreichsten dieser Gruppierungen wurden in Friedrichshafen zunächst die Kommunistische Partei Deutschlands/ Marxisten-Leninisten KPD/ ML und im mittleren Schussental der Kommunistische Bund Westdeutschlands KBW. Hinzu kam im Schussental ab 1971 zeitweise ein Zirkel der trotzkistischen Gruppe Internationaler Marxisten GIM, an welcher sich auch Aktivisten des Roten Schüler Komitees Ravensburg von 1974 orientierten. Als Konkurrenz hierzu war die strikt an der Politik von DDR und UdSSR orientierte Deutsche Kommunistische Partei DKP aktiv. Bei- <?page no="59"?> 60 Karl Schweizer spielsweise ihre Ravensburger Sommerfeste wurden zeitweise von 30 bis 40 Menschen besucht, Parteimitgliedern und engen Sympathisanten/ -innen. Die Ravensburger Stadtzeitung »Profil« und das Lindauer »Leuchtfeuer« der DKP versorgten jeweils einen kleinen oppositionellen Leserstamm mit Einsichten in andere gesellschaftliche Zusammenhänge, als dies die herrschenden Lokal- und Regionalmedien zuließen. Manfred Dietenberger erinnert sich wie folgt an jene Zeit, als ein bedeutender Teil der außerparlamentarischen Oppositionsarbeit von diesen diversen Kleinparteien und Organisationen getragen bzw. mit geprägt wurde: »Zur marxistischen Weltanschauung kam ich, weil einer meiner Mitlehrlinge in der Berufsschule immer wieder Aussagen vom Pfarrer als ›abstrus‹ kritisierte. Ich kannte den Sinn dieses Wortes noch nicht und fragte ihn danach. So kamen wir zusammen. Er erzählte mir später, er habe Kontakte zur illegalen KPD. Das gefiel mir. ›Illegal‹ hörte sich nicht schlecht an. Also stellte er den Kontakt für mich her. Er selbst brach später die Lehre ab und ging nach Berlin. Er hatte mich in Kontakt mit Leuten der ›ML-AO‹ gebracht. Dies war damals speziell im Bodenseegebiet die ›Marxisten-Leninisten-Aufbauorganisation‹. Diese ging von der Universität in Konstanz aus. Dazu gehört auch ein Genosse, der später in den 1980er-Jahren in der VSP (Vereinigte Sozialistische Partei) aktiv war. Der war mein Kontaktmann. Er kam mit der Fähre von Konstanz herüber und ich holte ihn im Meersburg mit dem ›Velo-Solex‹ ab und nach Friedrichshafen. Treffpunkt war damals u.a. die Gastwirtschaft ›Klostermühle‹ gegenüber dem Werk I der ZF. Dort suchten wir, bevor wir begannen uns politisch zu unterhalten, immer zuerst alles nach Abhörgeräten ab. Man durfte auch nichts liegen lassen, eben recht konspirativ. Dies war wegen des Verfassungsschutzes notwendig, machte aber auch Spaß. Dort lehrte uns beispielsweise Otto Harz, Künstler und zeitweiliger Seemann aus Friedrichshafen, die Grundlagen des Marxismus. Otto war eine imponierende und interessante Persönlichkeit, die mit uns immer sehr deutliches Hochdeutsch sprach und Pfeife rauchte. Zusammen mit ihm wollte ich im Seewald östlich von Friedrichshafen mit Hilfe eines Wetterballons einen illegalen Radiosender in Betrieb nehmen. Doch leider kam es nicht dazu. Wir trafen uns damals auch im ›Studio B‹ an der Mötteli-Straße südlich der Eisenbahnschienen. Dort war ein Mordslärm, aber die Tische hatten Löcher, um die Getränkegläser hinein zu stecken, so dass diese beispielsweise bei heftigen Diskussionen nicht umfielen. Kaum war ich bei der MLAO dabei, gab es eine Sitzung in Tübingen. Nebenan tagte der damalige KAB Tübingen (Kommunistischer Arbeiterbund, heute MLPD, Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands). Die MLAO hatte in sich zwei Strömungen, eine mehr an Theoriearbeit und <?page no="60"?> Die APO-Rebellion von 1968 61 eine mehr als Betriebsarbeit orientierte. Die Mehrheit von uns, darunter ich, neigten zur Betriebspraxis.« 58 Das strategische Ziel all dieser Parteiaufbauprojekte, oft auch als »K- Gruppen« bespöttelt, formulierte beispielsweise die »Arbeiterstimme«, Stadt- und Betriebszeitung der Basisgruppe M-L Isny 1972 wie folgt: »Wir brauchen eine echte Alternative zu den Parteien des Kapitals. Schließen wir uns zusammen und legen wir unsere ganze Kraft in den Aufbau einer starken Arbeiterpartei.« 59 Für einen Teil der Aktivistinnen und Aktivisten der »Roten Zellen« an der Weingartner PH benannte Peter Renz den damit verbundenen Wandel mit den Worten, »die Biberacher nennen sich jetzt häufiger ›Kommunisten‹. Sie tun das mit einer Begeisterung und mit einem Ernst, gegen den man mit seinen Bedenken nicht ankommt.« 60 Und Joachim Hossfeld notierte dazu für das Jahr 1972: »das unwohle gefühl, einerseits angst zu haben vor den konsequenzen einer organisation in einer kommunistischen partei […] andererseits drückt mich immer mehr die notwendigkeit, mich zu organisieren.« 61 Rückblickend auf dieses knappe Jahrzehnt marxistisch-leninistischer Kleinorganisationen in Oberschwaben skizzierte deren unübersehbares Wirken am Beispiel des KBW einer ihrer damaligen Betriebs- und Gewerkschaftsaktivisten 1981 u.a. wie folgt: »Der KBW hatte von allen K-Gruppen mit Abstand den größten politischen Einfluss in Oberschwaben. Bis 1976 gab es Sympathisantengruppen in Ravensburg/ Weingarten und Friedrichshafen. In seiner größten Zeit, 1976/ 77 war der Bezirk Oberschwaben/ Bodensee des KBW in allen größeren Städten wie Ulm, Biberach, Ravensburg, Weingarten, Friedrichshafen und Sigmaringen aktiv. Ansätze gab es in Wangen/ Allg., Überlingen, Saulgau und Ehingen […]. Die Politik des KBW war darauf ausgerichtet, in Betrieben, Stadtteilen, Schulen, Hochschulen und Kasernen (Ulm, Weingarten, Stetten a.k.M. und Mengen) den ausbeuterischen und unterdrückerischen Charakter des kapitalistischen Systems aufzudecken und Kämpfe gegen die schlechten Lebensbedingungen zu führen, z.B. für Festgeldforderungen in den Tarifkämpfen, Lohnfortzahlung für die Soldaten, gegen Fünfen und Sechsen in den Schulen, gegen Fahrpreiserhöhungen usw. Diese Kämpfe waren eingebettet in das Ziel, den Kapitalismus von Grund auf abzuschaffen, das Volk für den Sturz der kapitalistischen Ausbeuterordnung zusammenzuschließen und den Boden für den Aufbau einer neuen, gerechteren Gesellschaft, den Sozialismus zu bereiten […]. Ein Hauptgewicht in der praktischen Arbeit des KBW lag in der Betriebsarbeit. Trotz großer Hindernisse und schwieriger Bedingungen konnte der KBW bei ZF und MTU in Friedrichshafen, bei Escher Wyss <?page no="61"?> 62 Karl Schweizer in Ravensburg und in der Maschinenfabrik Weingarten über längere Zeit regelmäßig Betriebszeitungen herausbringen. Auch in Biberach bei Thomae, in der Gießerei Laucherthal bei Sigmaringen und bei AEG-Telefunken und Käsbohrer in Ulm erschienen Betriebszeitungen des KBW. Vereinzelt gelang es kommunistischen Kollegen vom KBW als Vertrauensleute bzw. Betriebsräte gewählt zu werden. Auf Initiative des KBW wurden 1975 die Komitees gegen den § 218 gegründet. Mehrere tausend Unterschriften wurden in Oberschwaben für die ersatzlose Streichung dieses Klassenparagraphen gesammelt […]. Aktiv beteiligt war der KBW in verschiedenen Jugendhausbewegungen in einigen Städten. Die stärksten Auseinandersetzungen fanden in Ravensburg statt. 1976 besetzte die Jugendhausbewegung das damals leerstehende, heutige Jugendhaus in der Möttelinstraße. 80 Bullen bot die Staatsgewalt auf, um 64 Besetzer brutal zu verhaften. Zwei Tage später verschafften sich über 300 Menschen, überwiegend Jugendliche, Eintritt in eine Gemeinderatssitzung im Ravensburger Rathaus. Angesichts eines 100-köpfigen, mit Schlagstöcken ausgerüsteten Polizeiaufgebotes wurde das Rathaus nach drei Stunden geräumt. In den über 20 folgenden Prozessen wurden ausschließlich KBW-Mitglieder, und solche, die die Staatsgewalt für welche hielt, herausgegriffen […] In der internationalen Solidarität lag das Hauptgewicht in der Unterstützung des Befreiungskampfes des Volkes von Zimbabwe. Über 25.000 DM sowie zwei Kleidertransporte sammelte der Bezirk Oberschwaben in ca. drei Jahren für verschiedene Projekte in Zimbabwe (Lastwagen, Waffen, Druckausrüstung u.a.). […] Sammlungen gab es auch für den Widerstand in Chile und die Befreiungskämpfe im Oman und in der Westsahara (Frente Polisario).« 62 Der Einfluss der »ML-Bewegung« bestand bis zu ihrer weitgehenden Auflösung am Beginn der 1980er-Jahre nie auf der Ebene von Wahlergebnissen. Es waren ihre radikal vorgetragenen Argumente und Aktionen, welche politisches Bewusstsein weit über ihre unmittelbaren Sympathisantenkreise hinaus beeinflussten. So führten beispielsweise ihre mit langem Atem in Gewerkschaften und Betrieben propagierten Argumente für eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich in den 1980er-Jahren mit zu den entsprechenden erfolgreichen Kämpfen der DGB-Gewerkschaften. Ihr Scheitern als revolutionäre Organisationen erklärte der oben zitierte Aktivist u.a. wie folgt: »Die relativ schnell wachsende Bewegung, verbunden mit den ersten Erfolgen in der Betriebsarbeit, erforderte zu schnell einen sehr großen Überblick von der jungen, im langjährigen Klassenkampf noch unerfahrenen Organisation. Die Folgen waren politische Fehler in Form von Dogmatismus und Sektierertum und ein Überschätzen der eigenen Kraft.« 63 <?page no="62"?> Die APO-Rebellion von 1968 63 In den 1980er-Jahren waren in Südschwaben nur noch wenige Ortsgruppen bzw. Mitglieder der DKP einerseits und der MLPD andererseits politisch aktiv. Hinzu kam ab 1986 eine winzige Gruppe der VSP, welche sich aus der ehemaligen KPD/ ML und der GIM gebildet hatte. Westdeutscher Staat und Gesellschaft reagierten recht früh auf die »Neue Linke« mit verlockenden Integrationsangeboten einerseits, andererseits mit verstärkter Ausgrenzung und Repression. Am Bekanntesten sind dabei die Berufsverbote. Am 28. Februar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Bundesländer unter Leitung des Bundeskanzlers der SPD/ FDP-Regierung, Willy Brandt (SPD), den »Beschluss zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst«, welcher »die Bahn frei gab für die Kriminalisierung jeglichen demokratischen Widerstandes und der politischen Repression Tür und Tor öffnete.« 64 Die entsprechenden Meldungen häuften sich nun auch südlich von Ulm, wie beispielsweise jene in der »Schussentaler Arbeiterzeitung« des KBW: »Vor drei Monaten bekam ich im Kinderdorf Heiligenberg aufgrund meiner Mitgliedschaft im KBW gekündigt und bin nun gezwungen, mir neue Arbeit zu suchen.« 65 Doch die Anwendung dieser Art politischer Zensur reichte bald bis in die Reihen der Sozialdemokratie selbst hinein. Zu Beginn des Jahres 1978 wurde dem Lindauer Lehramts-Referendar und SPD-Mitglied Edgar Vögel vom bayerischen Kultusministerium die Einstellung in den Staatsdienst zur Absolvierung seiner zweiten Berufsausbildungsphase verweigert. Die staatlichen Vorwürfe lauteten, dass er Leiter eines Informationsstandes des Sozialistischen Hochschulbundes SHB in München gewesen sei. Dieser SHB stand zwar der SPD nahe, erklärte sich aber in seinen programmatischen Grundlagen auch zur Zusammenarbeit mit dem marxistischen, der DKP nahe stehenden Studentenbund MSB Spartakus bereit. 66 Im März 1975 wurde dem Kißlegger Galeristen Ewald Schrade verweigert, seine mit dem Schriftsteller und SPD-Wahlkämpfer Günter Grass geplante Lesung im dortigen Neuen Schloss durchzuführen, dem Kulturzentrum der Gemeinde. Bürgermeister und Gemeinderatsmehrheit des Ortes waren dagegen. Auch die örtliche Landschaftsbank wollte ihm ihren hauseigenen Saal nicht überlassen. Als Ersatz wurde ihm die Turn- und Festhalle angeboten. Diese reichte dann am 1. März auch gerade noch aus, die über 1.000 Interessierten der Grass-Lesung aufzunehmen. 67 <?page no="63"?> 64 Karl Schweizer »Ozensiert und selber gmacht« Ab etwa der Mitte der 1970er-Jahre entwickelte sich eine weitere neue, meist jugendlich geprägte Bewegung in der Region, welche die bisherigen Fronten der »K-Gruppen« so nicht mehr akzeptierte und die versuchte, staatliche und gesellschaftliche Repression zu umgehen, bzw. zu ignorieren. Ihre Wurzeln reichten meist in die neuen Jugendzentren, die Anti- Atomkraftbewegung, die Antikriegsaktivitäten, die Alternativzeitungen und die alternativen Firmenprojekte sowie in die neue Musikszene der Region. Die ersten Jugendzentren waren 1971 jenes »alte« in der Ravensburger Olgastraße, dem u.a. ein erstes provisorisches in Friedrichshafen sowie 1972 die »Tonne« in Wangen und 1973 die »Scheune« in Lindau folgten. Dabei war die jeweilige Selbstverwaltung der Häuser in der Regel ein zentrales Anliegen. Einer der Aktiven des ersten Ravensburger Jugendhauses formulierte die Gründe seines dortigen Engagements pointiert wie folgt: »Du hast mich gefragt, was ich will. Ich will meine momentane Situation ändern! Warum? Weil ich so, wie ich bisher lebe, keinen Sinn sehe, keinen Sinn in meinem Leben, und völlig unbefriedigt bin. Was will ich erreichen? Freiheit, Selbständigkeit, Unabhängigkeit, will Spaß an der Arbeit, am Leben und mit und an anderen Leuten haben, will kritisch sein und bewusst sein und leben. Ich will in Arbeit und Gesellschaft Informationen richtig aufnehmen, verstehen und verarbeiten, sprich anwenden können […]«. 68 Deutlich staatstragender schrieben dagegen beispielsweise die Wangener Jugendlichen in die Satzung ihres nach rund 12 Monaten Kampf eröffneten Jugendzentrums »Tonne«: »Der Verein stellt sich die Aufgabe, auf der Basis der Grundrechte, wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sie bestimmt und wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festlegt, einzutreten für a, eine freie Entfaltung der Kultur, b, einen demokratischen Rechtsstaat und c, eine Wirtschaft im Dienste des menschlichen Bedarfs.« 69 Die Bewegung der Jugendhäuser wuchs über viele Jahre stark an, so dass im Oktober 1980 sich die Situation u. a. wie folgt darstellte. »Allein im Bodenseekreis gibt es drei Jugendhäuser (Immenstaad, Friedrichshafen und Kreßbronn), die weitgehendst in Selbstverwaltung geführt werden und kleinere Clubs mit Räumen in Laimnau, Mariabrunn und Ailingen. Darüber hinaus gibt es Jugendhausinitiativen in Tettnang, Langenargen, Überlingen und Markdorf […]«. 70 Bereits 1979 hatten diese »JuZes« oder »JZ« damit begonnen, sich zu koordinieren und dazu unter anderem aus dem JuZe Kreßbronn-Gattnau heraus in unregelmäßigen Abständen den »Regional-Rundbrief Jugendzentrumsprovinz Bodensee« herausgegeben. Darin hieß es dann analytisch zutreffend beispielsweise vom selbst- <?page no="64"?> Die APO-Rebellion von 1968 65 organisierten JZ-Treffen im November 1980 in Doren: »Im Folgenden drehte sich die Diskussion um die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Jugendarbeit und der Jugendbewegung: kurz um das Erkämpfen- Müssen der Selbstverwaltung oder die Gegenwehr gegen eine staatliche Umarmung der freien, offenen Jugendarbeit.« 71 Zu einer herausragenden regionalen Solidaritätsaktion in diesem Sinne kam es beispielsweise 1977/ 78 rund um den Kampf der Bad Schussenrieder Jugendlichen um das Selbstbestimmungsrecht in ihrem Jugendhaus. Im November 1977 war in der dortigen und rasch regionalen, alternativen vierzehntätigen Jugendzeitschrift MOTZER zur Entführung und Ermordung des deutschen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, Hans-Martin Schleyer, durch die Rote Armee Fraktion (RAF) ein Artikel erschienen. Dies nutzte die Stadtverwaltung dazu, die bisherigen Selbstverwaltungsrechte des JZ einzuschränken. Dagegen demonstrierten am 8. April 1978 rund 600 Jugendliche aus ganz Oberschwaben in der Kleinstadt Bad Schussenried - allerdings erfolglos. Weit erfolgreicher aber wurde der MOTZER selbst. Seine regionale Auflage wuchs auf 1.500 ehrenamtlich erstellte, in Dürmentingen bei Riedlingen gedruckte und in ganz Südschwaben verkaufte und gelesene Exemplare alle zwei Wochen. Nun konnte regional beispielsweise zu den Demonstrationen gegen das Atommülllager in Gorleben und nach Bonn gegen die NATO-Mittelstrecken-Raketenrüstung ebenso mobilisiert Demonstration mit rund 600 Jugendlichen für den Erhalt der Selbstverwaltungsrechte und die Wiederöffnung des städtischen Jugendzentrums in Bad Schussenried am 8.-April 1978. Foto: Sammlung Karl Schweizer. <?page no="65"?> 66 Karl Schweizer werden, wie zur antifaschistischen Demonstration gegen den NPD-Parteitag 1979 in Tuttlingen oder zum legendären Umsonst & Draußen-Festival im Mai 1979 in Friedrichshafen-Fischbach. Im Oktober 1979 wurde das von Eugen Detzel, Dietmar Gromeier und anderen cineastischen Aktivisten in Weingarten gegründete und aufgebaute erste Programm der »D’Linse - Kino für unterlassene Filme« bekannt gegeben. Häufig wurden im Motzer Einzelthemen als Schwerpunkte aufgearbeitet, so beispielsweise das Alter, die Medien, Reisen und Campen, Arbeit und Beruf, Frauen- und Männerrollen sowie das bundesdeutsche Gefängnissystem. Im 49. MOTZER gab nicht nur die Friedrichshafener Frauengruppe ihre Gründung, sondern auch eine »Bunte Armee Fraktion Oberschaben« bekannt, warum sie an eine Wand des Friedrichshafener Jugendhauses Molke die Parole »Martin-Herzog-Palast« sprühte. Kein Wunder, dass es im August 1979 erstmals hieß, »Motzer beschlagnahmt - Wegen Verunglimpfung der Bundesrepublik […]«. 72 Im April 1981 wurde sein Erscheinen eingestellt. Die Begründung lautete: »Die Bedingungen des Megasystems Kapitalismus gehen auch an Motzer-Mitarbeitern nicht spurlos vorbei: Hetze, Privatleben, politisches Selbstverständnis, Unverbindlichkeit, Unzulänglichkeit, Überarbeitung, Mangel an Reflexion und vieles mehr […]«. 73 Dies ausgerechnet zu der Zeit, als der Biberacher Landrat und CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Wilfried Steurer auf der Jahresdienstversammlung der dortigen Polizei u.a. sagte: »In Kommunen trifft sich das ganze Gesindel. Fangt die Kerle ond gucket, was sie treiben«. 74 Mit dem Erscheinen der ersten Ausgabe der »Südschwäbischen Nachrichten - Magazin für Gegenöffentlichkeit« im Oktober 1982 in Ravensburg wurde die publizistische Wirkung der links-alternativen Gegenbewegung im Sinne des früheren Motzers - wiederum hauptsächlich ehrenamtlich, aber mit einer deutlich professioneller erstellten Monatszeitschrift der Region zwischen Laupheim, Sigmaringen., Friedrichshafen, Lindau und Wangen/ Allg. mit monatlichen Auflagen bis zu 1.800 Exemplaren - wieder aufgenommen und bis Juni 1991 aufrechterhalten. Die »Mühen der Ebenen« nahmen ab 1989 mit dem Zusammenbruch von DDR, Warschauer Pakt und Sowjetunion auch für die Reste der damaligen rot-grünen Alternativbewegung in der Region deutlich zu. Das Versprechen »Wir - die Schlussredaktion - wollen politisch weiterarbeiten, denn auch ohne Zeitung gehen die ganzen Entwicklungen und Schweinereien, über die wir berichtet haben, weiter und verschärfen sich noch« 75 , wurde von einer Minderheit in unterschiedlichen Formen tatsächlich eingehalten. Eugen Detzel studierter Grundschullehrer, ab 1979 Mitbegründer der Ravensburger Gaststätte »Räuberhöhle«, des dortigen »Dritte-Welt- <?page no="66"?> Die APO-Rebellion von 1968 67 Ladens« und des Weingartener Programm-Kinos »Linse« ist in diesem Sinne auch heute noch kulturpolitisch aktiv. Max Strauß, gelernter Installateur in Lindau, ist seit 1979 im dortigen alternativen Kulturzentrum »Club Vaudeville« und als Stadtrat der 1981 gegründeten oppositionellen »Bunten Liste« aktiv. Hauptschullehrer Jürgen Lang, 1970 Studentenratspräsident an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten, war in seiner Freizeit von 1989 bis 2003 Kreisvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW von Leutkirch bis Salem. Das 1975 bei Isny gegründete alternative Landkommunenprojekt »Schäfereigenossenschaft Finkhof«, seit 1979 in Königseggwald und Arnach, arbeitet und produziert weiter, ist politisch allerdings nicht mehr herausragend aktiv. 76 Die Mehrheit der ehemals rebellischen Aktiven erscheint inzwischen allerdings meist nur noch als Wählerinnen und Wähler der Parteien DIE GRÜNEN und DIE LINKE und lebt ansonsten meist angepasst. Mit am weitesten von seinen ursprünglichen Zielen entfernt hat sich der frühere Vordenker und Macher des MOTZER der Jahre 1977/ 79, Oswald Metzger aus Bad Schussenried. Er war bis 1979 Mitglied der SPD, ab 1987 der GRÜ- NEN und trat 2008 in die CDU ein. Anmerkungen 1 Konrad Theiss, Hermann Baumhauer (Hg.), Der Kreis Tettnang und die Stadt Friedrichshafen, Aalen 1969, S. 13 f. 2 Bayerische Staatskanzlei/ Landeszentrale für Politische Bildung Bayern (Hg.), Unser Landkreis Lindau/ Bodensee, München/ Lindau 1969, S. 42 ff. 3 Stefan Ott (Hg.), Oberschwaben - Gesicht einer Landschaft, Ravensburg 1971, S. 9. 4 Paul Weiss, Im Dienste der Wirtschaft dem Ganzen verpflichtet, in: Oberschwäbische Industrie- und Handelskammer (Hg.), 100 Jahre Oberschwäbische Industrie- und Handelskammer Ravensburg 1867 - 1967, Ravensburg 1967, S. 9. 5 Ebd. S. 16. 6 Ebd. S. 10. 7 Ebd. S. 7. 8 Ebd. S. 7. 9 Vgl. Anm. 1, S. 17. 10 »Biberach erlebte seine bisher größte Kundgebung«, in: Schwäbische Zeitung vom 13.5. 1957. 11 Dokumentensammlung »Arbeitsniederlegung bei der Firma Zahnradfabrik Friedrichshafen AG., Friedrichshafen vom 19. - 22. 10. 1959« im Archiv der Industriegewerkschaft IG Metall, Verwaltungsstelle Friedrichshafen. 12 Manfred Dietenberger, Die Enkel fechtens besser aus - Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Oberschwaben, Freiburg 1984, S.137 f. 13 Vgl. Anm. 3, S. 10. 14 Manfred Bosch, Joachim Hossfeld, Geschichten aus der Provinz, München 1978, S. 164. 15 Ebd. S. 164. 16 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch - Studien zur Fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/ Berlin-West 1967, S. 23. <?page no="67"?> 68 Karl Schweizer 17 Maria Beig, Hochzeitlose, Sigmaringen 1983, S. 55. 18 Lindauer Zeitung vom 20.10. 1960. 19 »Instrukteur zwischen Ulm und Bodensee« in: Schwäbische Zeitung vom 12.1. 1967. 20 Karl Weber, Halali für ›Aktion Schneehase‹ - Ein Kapitel Kampf um Demokratie und KPD-Legalität, Stuttgart 1968, S. 76 und 79. 21 Ebd. S. 69/ 70. 22 Peter Renz, Vorläufige Beruhigung, Hamburg 1980, S. 10. 23 Original im Archiv des Bodensee-Gymnasiums Lindau; sowie »Erste rebellische Schüler am Bodenseegymnasium Lindau«, in: »Digitales Geschichtsbuch Lindau« auf www.edition-inseltor-lindau.de, aufgerufen am 2.9. 2011. 24 »›Heustockbrand‹ in der Knaben-Oberschule«, in: Lindauer Zeitung vom 20. Juli 1961 25 Martin Walser (Hg.) Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung? . Reinbek bei Hamburg 1961. 26 Otl Aicher Innenseiten des Kriegs, Frankfurt/ Main 1985. 27 Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher, Wohlstand ohne Zukunft? In Martin Walser, (Hg.) Die Alternative …, S. 105; vgl. auch »Die HfG ist ein Stück weit zu sich gekommen« in: Schwäbische Zeitung vom 21 11. 2011. 28 Franz Fiala, Die Gewerkschaften und das Notstands-Gesetz, maschinenschriftliches Redemanuskript vom 17.10.1962, S. 10, in der Sammlung Schweizer, Lindau. 29 Julian Aicher, Da läuft was - Einblicke in Rockszenen der oberschwäbischen Provinz, Ravensburg 1987, S. 290 f; vgl. auch die unvollständigen Informationen bei »Jubiläum der Oldie & Rock Band Earlybirds« in: Scene Kultur Nr. 11/ 2011. 30 Ebd., S. 287 f. 31 Peter Schmid, Biberach und die 68er, Biberach 2007. 32 Wolfgang Eckert, War da noch was? , Leserbrief in: Südschwäbische Nachrichten, Nr. 59/ 1987, S.4. 33 Ebenda, S. 4 f. 34 Protestmarsch fand schwache Resonanz, in: Schwäbische Zeitung, Ausgabe Ravensburg, vom 23.5. 1968. 35 Tilman Fichter, Siegwart Lönnedonker, Kleine Geschichte des SDS - Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung«, Berlin/ West 1977. 36 Protokoll über die Sitzung des DGB-Kreisvorstandes Lindau am 27. Mai 1968, Punkt 2, Original in der Sammlung Schweizer. 37 Ebenda. 38 »Warum ›Republikanisches Forum’? «, Aufruf zur Gründung, Lindau im März 1968, Sammlung Schweizer. 39 Flugblatt »Steht Ihr auf der Seite von Mördern? «, Lindau 16. April 1968, Sammlung Schweizer. 40 Renz, vgl. Anm. 22., S. 19 f. 41 Rudolf Meissner, »Student - Assistent - Professor - Erinnerungen an drei Phasen der Lehrerbildung, in: Forschungsstelle für Schulgeschichte der Pädagogischen Hochschule Weingarten (Hg.): 50 Jahre Lehrerbildung in Weingarten 1949 - 1999 - Dokumentation zur Ausstellung, Bergatreute 2000, S. 117. 42 Renz, vgl. Anm. 22., S. 67. 43 Renz, vgl. Anm. 22, S. 89 f. 44 Bo Dan Andersen, Sören Hansen, Jesper Jensen, Das kleine rote schülerbuch, in deutscher bearbeitung durch Peter Jacobi und Lutz Maier, Frankfurt/ Main 1969, S. 135. 45 Alexander Sutherland Neil, Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung - Das Beispiel Summerhill, Reinbek bei Hamburg 1969. 46 Bernhard Brugger, Schulzeit in Friedrichshafen - Von der südschwäbischen APO 1967 - 1970, Teil II, in: Südschwäbische Nachrichten, Ausgabe Nr. 58/ 1987, S. 28. <?page no="68"?> Die APO-Rebellion von 1968 69 47 Manfred Dietenberger, Interview vom 23.8. 2011, Original in der Sammlung Schweizer, Lindau. 48 J. W. von Goethe zitiert von Martin Heilig, in: Peter Schmid, Biberach und die 68er, Biberach 2007, S. 5. 49 Peter Schmid, Biberach und die 68er, Biberach 2007, S. 13 f. 50 J. W. von Goethe über Christoph Martin Wielands Kritik (nicht nur) am Biberacher Spießbürgertum, zitiert von Martin Heilig, in: Peter Schmid, Biberach und die 68er, Biberach 2007, S. 5. 51 Venceremos Nr. 4, Biberach Mai 1969, S. 3 f., in der Sammlung Christa Lauber, Biberach/ Riß. 52 Peter Schmid, wie Anm. 49, S. 15 f. 53 Flugblatt »aktion tierschutz«, Ravensburg, 21.9. 1969, Sammlung Schweizer. 54 »Strauß: NPD ist Nutznießer des Linksterrors«, in: Schwäbische Zeitung, Ausgabe Ravensburg, vom 23.9.1969. 55 Schorsch Radelhammer, »Katholische Jungmänner gegen F.J. Strauß - Ravensburger APO heizt den Konservativen ein« in Südschwäbische Nachrichten, Ausgabe März, Ravensburg 1988, S. 25 ff. 56 Tilman Fichter, Siegwart Lönnedonker, Kleine Geschichte des SDS, Anm. 35, S. 143. 57 Vgl. Anton Stengl, Zur Geschichte der K-Gruppen - Marxisten-Leninisten in der BRD der Siebziger Jahre, Frankfurt/ Main 2011. 58 Manfred Dietenberger, wie Anmerkung Nr. 47. 59 Arbeiterstimme - Stadt- und Betriebszeitung der Basisgruppe M-L Isny, Ausgabe Nr. 3, Dezember 1972, S. 2, Sammlung Schweizer. 60 Peter Renz, vgl. Anm. 22, S. 271f. 61 Manfred Bosch, Joachim Hossfeld, vgl. Anm. 14, S. 191. 62 »Für den Kommunismus! « auf der Rückseite des Novemberblattes des »Kalender 1982 - 15 Jahre Bewegung in Südschwaben 1965 - 1981«, Ravensburg August 1981. 63 Wie Anm. Nr. 62. 64 Silvia Gingold, Schon bist du ein Verfassungsfeind - Radikalenerlass und Berufsverbote, in: Gabriele Dietz, u.a. (Hg.) Klamm, heimlich und Freunde - Die siebziger Jahre, Berlin/ West 1987, S. 45. 65 Schussentaler Arbeiterzeitung des Kommunistischen Bundes Westdeutschland Ravensburg/ Weingarten, Nr. 24 vom 16.6. 1976, S.5, Sammlung Schweizer. 66 Sonderdokumentation zum Fall des Lindauer Lehramtskandidaten Edgar Vögel der Zeitschrift Collage, Lindau 1978. 67 Vgl. Schwäbische Zeitung vom 1.3. und 3.3. 1975. 68 Stimmungsbild eines Jugendhausbesuchers in »Jugendhauskonzeption Ravensburg, Olgastraße 4« vom Juli 1973, zitiert auf der Rückseite des Januarblattes des »Kalender 1982 - 15 Jahre Bewegung in: Südschwaben 1965 - 1981«, Ravensburg August 1981. 69 Satzung Jugendzentrum Tonne e.V., § 2, Wangen im Allgäu, 19. Mai 1972. 70 »Jugendzentren verstärken ihre Zusammenarbeit« in: Der Neue Bodenseeanzeiger, Friedrichshafen, vom 17.10. 1980. 71 »jugendzentrum in selbstverwaltung« in: »Regional-Rundbrief Jugendzentrumsprovinz Bodensee« Nr. 5, Februar 1981, S. 13, Lindau 1981. 72 Schwäbische Zeitung vom 27.8. 1979. 73 Motzer Nr. 95, »Stümperle« vom 15.4. 1981, S. 2. 74 Vgl. beispielsweise das Wochenblatt Biberach vom 26.3. und 9.4. 1981. 75 SN - Südschwäbische Nachrichten, Magazin für Politik und Kultur in der Region Bodensee-Oberschwaben-Allgäu«, Juni 1991. 76 Wilfried Leupolz, Der lange Marsch zum kollektiven Leben, Drumlin-Verlag, Weingarten 1983; Eva Wonnenberger, Die Alternativbewegung im Allgäu, Wangen/ Allg. 2010, S. 15 ff. <?page no="70"?> »... eine der letzten Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« Konstanz Ende der 1960er Jahre e lena B uchhammeR , m elanie e SteRl , K atja G enSeleiteR , i neS G eRSKy Tausende Studenten demonstrierten 1968 in Berlin, Frankfurt, München und vielen anderen Universitätsstädten gegen das damalige Hochschulsystem, die große Koalition, den Vietnamkrieg und die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Dies brachte ihnen nicht nur einen Platz in der Geschichte als »Generation 1968« ein. Vielmehr sollten ihre Proteste auch Auswirkungen auf die politische Kultur der späteren Jahrzehnte haben. Zwar konnten viele ihrer Ideen und Vorstellungen nicht in die Realität umgesetzt werden, dennoch brachten sie doch so manchen Stein ins Rollen. Besonders zu kämpfen hatten die Studenten dabei nicht nur in Bezug auf ihre Protestformen, sondern auch hinsichtlich ihres Äußeren sowie ihrer Lebensweise. Da sich die Forschung bislang auf die Groß- und Universitätsstädte konzentrierte, möchte diese Arbeit der Frage nachgehen, ob und in welcher Form die Studentenbewegung Auswirkungen auf die Stadt Konstanz mit der 1966 neu gegründeten Universität hatte. Wie erlebten die ersten Studenten die Jahre 1967 und 1968 in der Stadt? Gab es ähnliche Proteste wie in den großen Universitätsstädten? Und wie reagierten die Konstanzer Bürger auf die Studenten und deren neue Lebensweise? Gründung der Universität Konstanz Im Jahr 1965 empfingen Konstanzer Jugendliche den Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit einem Transparent: »Die Studenten in Spe der zukünftigen Universität Konstanz grüßen den Bundespräsidenten«. 1 Bereits im Frühjahr hatte der Gemeinderat den Kaufvertrag für das Land unterzeichnet auf dem die Universität errichtet werden sollte. Die Suche nach einem geeigneten Standort hatte sich dabei schwieriger erwiesen als gedacht, denn die Örtlichkeit sollte nicht nur sehr groß sein, sondern darüber hinaus auch durch ihre »ruhige Lage die wissenschaftliche Arbeit fördern«. 2 Schließlich standen fünf Standorte zur Auswahl: der Mainauwald, der Lorettowald, das Gebiet nahe der Reichenauer Waldsiedlung, die Klosterkaserne und das sich am Seerhein erstreckende Gebiet zwischen der Ingenieurschule und der geplanten Schänzlebrücke. Die Entscheidung fiel schließlich zugunsten des Gießbergs, wo am 21. Juni 1966 <?page no="71"?> 72 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky in einem Festakt der Grundstein gelegt wurde. Mit dem eigentlichen Bau wurde im Dezember 1969 begonnen. Als offizieller Gründungstag gilt jedoch der 28. Februar 1966, als der Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger Prof. Dr. Gerhard Hess die Bestallungsurkunde zum Rektor der Universität Konstanz feierlich überreichte. Bereits einen Monat später wurden dann die ersten Professoren berufen, und es begann der vorerst provisorische Hochschulbetrieb im Inselhotel. 3 Im Hinblick auf die Konzeption soll die Universität Konstanz »modellhafter Ausdruck bürgerlicher Reformideologie der sechziger Jahre« gewesen sein. 4 So wurde auf die Einrichtung von Instituten verzichtet, an deren Stelle traten Fachbereiche, um die Lehre aus der Forschung zu entwickeln. Um die Fächergrenzen besser überwinden zu können, wurde aus dem angelsächsischen Raum das Konzept der Campus-Universität übernommen, Service-Einrichtungen wie Mensa und Bibliothek wurden zentralisiert. Zu den Reformprojekten gehörte auch die Verlagerung größerer Teile der Lehre von Vorlesungen in begleitende Seminare oder Übungsgruppen und daraus folgend das Konzept studienbegleitender Prüfungen. Darüber hinaus gab es die sogenannte Drittelparität, »wo Studenten im großen Senat einen deutlichen Einfluss hatten, den es sonst nirgends gab«, wie der Zeitzeuge Uwe Lindner im Interview erzählt. 5 Warum gerade in Konstanz eine Universität gegründet wurde, lässt sich zum einen dadurch erklären, dass das Universitätssystem nach 1945 durch die Westmächte restauriert und bereits bestehende Universitäten wieder eröffnet wurden. Die Gründung weiterer Universitäten war nicht geplant (außer in Mainz). Der drastische Anstieg der Studentenzahlen zwischen 1950 und 1960 führte den für solche Angelegenheiten gegründeten Wissenschaftsrat jedoch zu der Ansicht, die Anzahl der Wissenschaftlichen Hochschulen auszuweiten. 6 Und die Voraussetzungen standen günstig. Nachdem 1956 die CDU unter Reinhold Maier in den Landtag eingezogen war, wurde dieser zwei Jahre später von Kurt Georg Kiesinger als Ministerpräsident abgelöst. Kiesinger engagierte sich besonders für die bildungs- und hochschulpolitischen Belange. Mit der Wahl der Bodenseeregion als neuen Hochschulstandort verfolgte er zwei Ziele: Schaffung eines »neuen geistigen Mittelpunkts«, dessen positive infrastrukturellen und ökonomischen Folgen, das politische und wirtschaftliche Potential der Region wieder ankurbeln sollte. Außerdem sollte dem Trend der »Massenuniversitäten« entgegen gewirkt werden. 7 <?page no="72"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 73 Leben und Studieren in der »neuen Universitätsstadt« Doch wie gestaltete sich das Leben und Studium der ersten Studenten an der neu gründeten »Provinz-Universität«? Konstanz durfte sich seit dem 1. April 1956 zwar Große Kreisstadt nennen, dennoch empfanden viele Jugendliche die Stadt vor der Universitätsgründung eher als »verschlafenes Nest«. »Man muss sich vorstellen, Konstanz hatte damals um die 60.000 Einwohner, die Stadt war abgehängt, Industrie gab’s ganz wenig und mit der ging es bergab und dann kommt die Uni und alles wird allmählich aufgebaut. [...], so dass die Stadt innerhalb von wenigen Jahren unglaublich gewachsen ist«, schildert Jürgen Leipold seine persönlichen Eindrücke von Konstanz in den 1960er Jahren. 8 Auch Christian Neven du Mont erlebte Konstanz vor der Eröffnung der Universität eher als ländliche Provinz: »Die Stadt wirkte abgeschieden von der restlichen Welt. Es herrschten ganz andere Verhältnisse. Die Studenten, die es nach Konstanz zog, wollten schnell Examen machen […] und auch schnell wieder weg [...]«. 9 Die Beschreibungen der Zeitzeugen machen deutlich, dass es ein studentisches Leben, wie man es aus den großen Universitätsstädten kannte, in Konstanz nicht gab. So gab es z.B. noch keine studentischen Kneipen. Dennoch hatten die ersten Studenten bald einen geeigneten Treffpunkt für sich gefunden: Das Costa del Sol in der Niederburg war von Anfang an ein beliebter Treffpunkt der Konstanzer Linken, weswegen die dort ebenfalls regelmäßig einkehrenden französischen Soldaten von ihren Vorgesetzten »Costa-Verbot« erhielten. Nach langen Sitzungen oder Aktionen trafen sich hier regelmäßig Mitglieder linker Organisationen. Stammgast Uwe Lindner erinnert sich: »Gemieden wurde das Costa nur von ausgesprochen rechten Personen, die aber, wenn sie sich zum Beispiel nach einer NPD-Versammlung doch mal verirrten, auf unseren Hinweis hin auch nicht bedient und hinauskomplimentiert wurden. Entweder die oder wir! « 10 Mit der Universitätsgründung veränderte sich auch die Wohnsituation. Während sich Wohngemeinschaften und Kommunen in den großen Universitätsstädten immer mehr durchsetzen konnten, waren diese neuen Formen des Zusammenlebens bei den Konstanzer Bürgern noch ebenso verpönt wie das äußere Erscheinungsbild vieler Studenten. Dementsprechend schwierig gestaltete sich die Zimmer- und Wohnungssuche. Die ersten beiden Studentenwohnheime, das Thomas-Blarer-Haus und das Albertus-Magnus-Haus, wurden zum Wintersemester 1967 eröffnet, aber deren Kapazität reichte durch den Anstieg der Studentenzahlen in den 1970er Jahren natürlich bei Weitem nicht aus. So titelte der Südkurier über die Wohnsituation der Studenten: »Der Wohnungsmarkt gibt für Studen- <?page no="73"?> 74 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky ten nix her«. Die Reaktionen folgten prompt. So schrieb eine Leserin: »In dem Artikel heißt es, daß Studenten hart um Wohnungen kämpfen müssen. Über die Makler kommen die Studenten nicht zum Zug - Studenten haben kaum Chancen in Räumen der Gesellschaft Unterkunft zu finden. Arme Studenten! Aber warum dies? Ich bin Zimmervermieterin. Vorige Woche hatte ich eines ausgeschrieben. Ich habe es vermietet. An einen Handwerker, einen sauberen, gut gekleideten Burschen! Auch Studenten bewarben sich: langes ungepflegtes Haar, schlecht gekleidet, kein gutes Benehmen, kurzum: Miserabler Gesamteindruck. Einer sah aus wie ein Buhmann! Meine schönen Zimmer sind für diese Herren zu schade. Es wäre gut, wenn der Asta-Vorsitzende dafür sorgen würde, daß das Image der studierenden Jugend, das zur Zeit im Keller ist, wieder gehoben würde. Also, die Studenten sollen dafür sorgen, daß sie wieder den Ruf erhalten, den sie vor dem Kriege hatten: Bessere Bürger und eine Auslese zu sein, dann bekommen sie auch wieder Zimmer und eine bessere Verbindung zur »Gesellschaft«. 11 Entgegen der Probleme Ausgehen und Wohnen waren die Lernbedingungen an der jungen Universität mit der noch geringen Zahl von Studierenden sehr gut: so stand für zwei Studenten ein Lehrender zur Verfügung. Es gab »keine anonyme Studiensituation«, man kannte sich untereinander und auch die meisten Assistenten und Akademischen Räte kannten ihre Studenten namentlich. Selbstredend, dass in einer solchen Atmosphäre das Studium Spaß machte. Die Studenten hatten zudem die Möglichkeit, die Bibliothek mitaufzubauen. Zu Beginn gab es auch keine Prüfungsordnungen, und so blieb viel Freiraum für politisches Engagement. Gleichzeitig bot das Studium auch die willkommene Möglichkeit, den zumeist starren Regeln im Elternhaus zu entfliehen. Kurz gesagt: »Man hat studiert, um seinen Freiraum zu genießen. Diese Bedingungen sind heutzutage nicht mehr gegeben. Sie regten ein gutes Diskussionsklima an«, lässt der Zeitzeuge Christian Neven du Mont die damalige Zeit noch einmal Revue passieren. 12 Jürgen Leipold ergänzt: »Die Leute der ersten Stunde fühlten sich alle als etwas Besonderes, man kam an diese Universität mit der Absicht etwas Neues zu schaffen, darum mussten sie auch etwas Besonderes tun bzw. etwas Besonderes in der Gesellschaft bewegen«. 13 »Damals hat man das gesamte Spektrum von der eigenen Lebensweise bis hin zur internationalen Politik mit seinen Aktivitäten abgedeckt und erlebt. Die politische Verständigung und Kommunikation an der Universität war daher enorm«, berichtet auch der ehemalige Konstanzer Student Uwe Lindner. 14 »Die zugezogenen Studenten brachten den Grundgedanken für eine Bewegung ins verschlafene Nest«, fasst Jürgen Leipold schließlich zusammen. <?page no="74"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 75 Doch wie reagierten die Konstanzer Bürger auf die neuen Lebensmodelle der Jugendlichen und Studenten? Ein Hinweis findet sich im Rechenschaftsbericht des damaligen Gründungsdirektor Gerhard Hess: »Das Verhältnis der Universität zu Stadt, Region und Land ist ein kompliziertes, oft wenig stabiles System von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen. Die Stadt muß sich mit der neuen Universität, die von ihr als Fremdkörper und als Zierde empfunden wird, langsam anfreunden. Die Universität hätte dem konservativen Habitus der Einwohner auch bei ›normalen‹ Verhältnissen, wie man sie 1965 noch erwarten konnte, nicht recht entsprochen. Nun brachte sie mit den ersten Professoren, Assistenten und Studenten einen kleinen, aber in seiner Ungewohntheit für die Bürger hinreichend befremdlichen Teil der Unruhe an den Universitäten in die Stadt«. 15 Auch Uwe Lindner, der bereits seine Schulzeit in Konstanz erlebte, beschreibt die Reaktion der Bürger auf die neuen Lebensweisen und Protestaktionen der Jugend und Studenten. Nach seinem Ermessen schreckten die durchaus provokanten Äußerungen, die den Studenten etwa bei den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg oder die Notstandsgesetze entgegen gebracht wurden, nicht ab, sondern spornten sie noch an. Denn: man wollte die Leute wachrütteln und zum Nachdenken anregen. Dies bestätigt auch Brigitte Leipold im Interview: »Wenn man sich nicht mit jemand auseinandersetzen kann, wie kann man dann etwas bewegen? «. 16 - Und Anlass zur Auseinandersetzung brachten die Jahre 1967 und 1968 nicht nur in den Großstädten mit sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Aktionen Die Lage in Berlin eskaliert: Der Tod von Benno Ohnesorg und die Reaktion der Konstanzer Studenten In Folge der Tötung des Studenten Benno Ohnesorg während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs am 3. Juni 1967 in West-Berlin bekam die Studentenbewegung zahlreichen Zulauf. Die bis dato friedliche Protestbewegung radikalisierte sich zunehmend. 17 »Mahnwache auf der Marktstätte« Wie überall in der Republik solidarisierten sich auch die Konstanzer Studenten mit Benno Ohnesorg. Nachdem die Nachricht von seinem Tod öffentlich geworden war, versammelten sich 16 schwarz gekleidete Konstanzer Studenten mit einem Transparent auf der Marktstätte: »Wir trauern um unseren Kommilitonen Benno Ohnesorg«. Die bürgerliche <?page no="75"?> 76 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky Trauerkleidung war eine Idee der Studenten. Einer der damaligen Studenten, Rudolf Bindig, erinnert sich: »Das hat uns bewegt. Wir dachten, man muss ein Zeichen setzen«. Auch Jürgen Leipold gehörte zu den damaligen Demonstranten: »Das war, ohne dass man ihn gekannt hatte, einer von uns. Man hatte das Gefühl, das könnte einem auch passieren.« 18 »Demonstration in Lindau« Einige Zeit nach dem Tode Benno Ohnesorgs ereilte die Studenten ein Anruf aus Berlin. Um der aufgeheizten Stimmung zu entgehen, hatte der Springer-Verlag Mitarbeiter ins Lindauer Stadttheater eingeladen. »Unternehmt was, Ihr seid doch da«, appellierten Berliner Studenten an Rudolf Bindig. So fuhren 30 Konstanzer nach Lindau. Um Eindruck zu hinterlassen, besorgten sich die Studenten einen Pappsarg mit der Aufschrift »Ohnesorg«. Sie hüllten sich in schwarze Gewänder, die jeweils eine Zeitung des Springer-Konzerns verkörpern sollte. 19 Dazu verkleidete sich Bindig als A xel Caesar Springer und dirigierte aus dem Auto heraus. Mit dieser Anspielung auf den Springer Verlag wollten die Studenten die Monopolstellung der Zeitung verdeutlichen und auf »fehlendes Verständnis für studentische Belange« hinweisen. 20 Ein »rassistisches« Plakat »Auch in Konstanz gibt es Neger, Juden und Studenten. Plündern verboten! « Dieses Plakat zierte am 18. April 1968 das Schaufenster eines kleinen Antiquitätengeschäfts in der Hüetlinstraße 12 und sorgte damit für erheblichen Zündstoff in der noch jungen Universitätsstadt. Ein Passant hatte das Plakat entdeckt, es fotografiert und dem Südkurier gegeben. Dieser hatte jedoch den Abdruck mit der Begründung, »das sei zu problematisch«, abgelehnt. Noch am selben Tag machte die Redaktion der Studentenzeitung »Konstanzer Extrablatt« ihrem Unmut in einem Artikel Luft, in dem sie den Südkurier scharf angriff: »Konstanz ist eine der letzten Universitätsstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen. Die Scheiben des SÜDKURIERS sind immer noch ganz. Straßenschlachten fanden nicht statt. Das ist gut.« Weiter hieß es jedoch: »Die Fenster des SÜDKURIERS sind immer noch ganz. Und Konstanz hat noch keine Straßenschlacht erlebt. Aber so fern, wie die Idylle manchem vortäuschen könnte, ist der Geist nicht, der das alles möglich macht«. Der Südkurier fasste dies prompt als Drohung auf und reagierte wiederum mit einem Artikel auf das angebliche Gewaltpotential der Studenten. 21 Am 20. April meldete sich der Verfasser des Plakats in einem Leserbrief schließlich selbst zu Wort: »Das beanstandete Plakat in meinem Schaufenster sollte Satire in Form schwarzen Humors sein. Es berührt merkwürdig, dass die Studenten dies in diesem Fall nicht erkannten, wogegen sie doch of- <?page no="76"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 77 Nach der Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs versammelten sich Konstanzer Studenten auf der Marktstätte. Jürgen Leipold (l.) und andere Konstanzer Studenten auf einem Protestzug durch die Lindauer Altstadt, wo der Springer-Verlag eine Tagung abhielt. Im Auto zeigt sich in Lindau der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig als Axel Caesar Springer - um so gegen die Kampagnen-Macht des Springer-Verlags zu demonstrieren. (Fotos: Südkurier / H. Finke) <?page no="77"?> 78 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky fensichtlich für das ungleich schwerwiegendere Elaborat von Teufel und Langhans in Berlin mehr Verständnis aufbrachten«. Am 23. April war im Südkurier wiederum die Stellungnahme des Direktionsbeirats und des Direktors der staatlichen Ingenieurschule zu lesen, die den Inhalt und die diskriminierende Ausdrucksweise des Plakats heftig kritisierten. Die Ingenieurschule versuche mit anderen staatlichen und kirchlichen Einrichtungen, sowie ehrenamtlichen Helfern, den über 40 ausländischen Studenten das Leben in Konstanz so angenehm wie möglich zu machen. Schließlich sei das Leben für einen jungen Menschen in einem fremden Land aufgrund der sprachlichen und finanziellen Aspekte nicht einfach und man müsse sich darüber »im klaren sein, dass jemand »besonders feinfühlig reagiert und dass er kein Verständnis für Satire oder gar »schwarzen Humor« aufzubringen vermag, besonders wenn er sich zu jenem Personenkreis zählt, den das Plakat in der Hüetlinstraße anspricht«. 22 Dem Verfasser des Artikels wurde zum Abschluss noch einmal nahegelegt, sich öffentlich zu entschuldigen und das Ganze nicht mit einem bagatellisierenden Leserbrief abzutun. Dieser war in seinem Leserbrief bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass das Plakat missverstanden werden könnte und hatte es selbst entfernt. Darüber hinaus hatte er den Studenten die dringende Empfehlung gegeben, sich wirklich »andere Mißstände auszusuchen, als einen solch banalen Vorgang, der zudem [...], nur nachträglich unnötig breitgetreten worden wäre.«. Goethes Worte über den breit getretenen, aber nicht festgewordenen Quark, »gelte hier in besonderem Maße und natürlich auch für die Aufbauschung des Vorfalls im Konstanzer Extrablatt«. Schließlich gab er den Studenten noch den Ratschlag mit auf den Weg, künftig mehr Humor zu zeigen, wenngleich er sich allerdings darüber im Klaren sei, »daß die Entwicklung der letzten Zeit für humorige Gesinnung nur wenig Spielraum« lasse. 23 Ein Gutes hätten die Irrungen und Wirrungen allerdings gehabt, lautete das Urteil des Südkuriers: Die Redaktion der Studentenzeitung »Extrablatt« habe erkannt, wie einfach es sei, auf fehlerhafte Mitteilungen hereinzufallen. Außerdem sei anzuerkennen, daß die Studenten »mit der ›Bevölkerung‹ (wie sie die Bürger dieser Stadt nennen) in Kontakt kommen und daß sie auch gern mit der Zeitung diskutieren möchten -, was auch diese durchaus möchte und seit langem bekundet hat«. 24 »Die Uhr gezeigt« - Konstanzer Studenten protestieren im Konzil Am 22. April 1968 versammelten sich rund 3.000 Menschen im Konstanzer Konzil, um die Wahlreden des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger, des Landtagsabgeordneten Viellieber und des Staatssekretärs im Verteidigungsministerium Eduard Adorno zu hören. Man erwartete einen spannenden Abend, denn bereits am Nachmittag hatten Studenten <?page no="78"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 79 Flyer mit der Ankündigung verteilt, dass sie dem Abend für eine Diskussion nutzen wollten. Zugleich kündigten sie eine »Gegenkundgebung vor dem Konzil« an, falls die Politiker keine Diskussionsbereitschaft zeigen würden. »Die Zeit, in der Wahlkandidaten Reden halten konnten und die Versammlungsbesucher still zuhörten, sind auch in Konstanz vorbei. Die vor allem jugendlichen Zuhörer attackierten die Politiker mit harten Fragen, und scheuten nicht, ihrer Kritik laut Ausdruck zu geben. Daß lange Reden durch Diskussionen mit klaren und harten Fragen abgelöst werden, hat sich in Konstanz als Vorteil erwiesen. Mit Sicherheit wären keine 3.000 Menschen gekommen, wenn man mit einem langweiligen Abend gerechnet hätte«, urteilte der Südkurier in seiner Ausgabe vom 23.04.1968. 25 Als erstes trat der CDU-Landtagsabgeordnete Viellieber vor und referierte über die positive kulturelle Entwicklung des Landes. Anschließend ging er insbesondere auch auf die Sorgen der Ingenieurstudenten ein. »Viellieber, der trotz der zeitweisen Unruhen im Publikum überlegen sprach, erhielt viel Beifall«, so der Südkurier. Die Stimmung kippte schlagartig, als Eduard Adorno seine Rede begann. Im Gegensatz zu seinem Vorredner verstand er es nicht den passenden Ton zu treffen. Insbesondere sein Versuch die Politik der vergangenen Jahre zu beschönigen und vor allem die überwiegend studentischen Versammlungsteilnehmer als Minderheit zu disqualifizieren, wurde von dieser mit Buhrufen und schließlich mit einer ungewöhnlichen Geste quittiert. »DIE UHR GE- ZEIGT [...] Studenten machten mit dieser Geste ihren Unmut über die Äußerungen des Redners Luft«, war außerdem im Südkurier zu lesen. Schließlich trat der Bundeskanzler vor das Publikum und sinnierte, dass er sich im Jahre 1959, als er erstmals den Gedanken einer Konstanzer Universität äußerte, »nicht vorgestellt« habe, »daß einstmals so ungebärdige Söhne« aus dieser Hochschule vorgingen. Die Antwort der »Söhne« folgte prompt: »Vati, Vati« hallten Sprechchöre durch das Konzil. Während der anschließenden Diskussion ging Kiesinger sowohl auf die Probleme der Ingenieurstudenten ein, als auch auf die Forderungen der Studenten nach mehr Mitbestimmung in den universitären Gremien, die er zumindest in »einigen Bereichen« für möglich hielt. Kritisch äußerte sich Kiesinger dagegen über den SDS, dessen Programm seiner Meinung nach, gegen den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat gerichtet sei. Ein SDS-Verbot halte er allerdings für genauso falsch wie das Verbot der KPD. »Abgesehen von der erklärlichen Erregung während der Rede Adornos verlief die Veranstaltung relativ ruhig. Der Studentenschaft kann man jedenfalls nicht den Vorwurf machen, sie sei zu einer Diskussion nicht bereit gewesen«, lautete schließlich das Fazit des Südkuriers. 26 <?page no="79"?> 80 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky Proteste gegen die Notstandsgesetze »Hitzige Diskussion über Notstandsgesetze« Am 30. Mai 1968 wurden die sogenannten Notstandsgesetze vom Bundestag verabschiedet. Die Notstandsgesetze änderten das Grundgesetz zum 17. Mal und fügten eine Notstandsverfassung ein, welche die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen (Naturkatastrophe, Aufstand, Krieg) sichern sollte. So sollte es dem Staat bei inneren und äußeren Bedrohungen erlaubt sein, Grundrechte wie das Postgeheimnis, das Recht auf Freizügigkeit oder der Versammlungsfreiheit aufzuheben. Bei inneren Unruhen sollten der Bundesgrenzschutz und die Bundeswehr darüber hinaus auch gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden können. Die Bundestagsdebatten wurden überall in der Republik von massiven Protesten der so genannten außerparlamentarischen Opposition begleitet. Auch der AStA der Universität Konstanz veranstaltete am 21. Mai 1968 ein Teach-In, um über die weitere Vorgehensweise gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu diskutieren. Der größte Teil der ca. 100 Anwesenden waren Gymnasiasten, Studenten der Universität und der Staatlichen Ingenieursschule. Die Veranstaltung lief kontrolliert ab, vermeldete der Südkurier in seiner Ausgabe vom 24. Mai 1968. Zunächst sei ein Diskussionsleiter gewählt worden, anschließend folgte eine sachliche Einführung in die Thematik. Ein weiterer Vortrag sollte außerdem den Anreiz für Diskussionsbeiträge aus dem Publikum bieten. Die Vorschläge zur Verhinderung der Notstandsgesetze reichten schließlich vom Boykott der Vorlesungen und Schülerstreiks, über einen 24-stündigen Sitzstreik auf der Rheinbrücke bis hin zur Belagerung der Villen aller Abgeordneten. Trotz der Anwesenden linken Vertreter der Jugendlichen und ihren radikalen Ideen zur Unterwerfung des bestehenden Systems attestierte ihnen der Artikel eine reformwillige und demokratische Grundeinstellung. Der Artikel war aber auch um die Darstellung der Gegenseite bemüht. Zwar nahmen kaum Konstanzer Bürger an der Veranstaltung teil, dennoch gab es nicht nur Zustimmung zu den vorgeschlagenen Protestaktionen. So zweifelten die anwesenden Gewerkschaftler den Sinn der Aktionen an, da es ihnen kaum wahrscheinlich erschien, damit wirklich etwas verändern zu können. 27 »Studenten wollen Hearing mit Abgeordneten« Am 27. Mai folgte eine vierstündige »Heiße Diskussion über die Notstandsgesetze an der Universität Konstanz«. Hier diskutierten Professoren, wissenschaftliche Assistenten und Studenten ausführlich über das Für und Wider sowie über mögliche Aktionen gegen die Notstandsgesetzte, wie der Südkurier einen Tag später berichtete. So hielt z.B. Professor <?page no="80"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 81 Besson den Bundeswehreinsatz im inneren Notstand für äußerst bedenklich. Eine Abstimmung über die grundsätzliche Einstellung zu den Notstandsgesetzen ergab hingegen kein einheitliches Bild. Von den 200 Anwesenden wurden die Notstandsgesetze nur etwa von der Hälfte als unnötig abgelehnt oder wegen der Bedenken gegen einige Bestimmungen zumindest als nicht akzeptabel erachtet. Die Diskussion endete mit dem Beschluss, es solle ein Hearing mit den Bundestagsabgeordneten der Umgebung, den Gemeinderäten und dem Oberbürgermeister zum Thema Notstandsgesetze organisiert werden. 28 »Notstandsgegner besetzten gestern die Rheinbrücke« »Schluss mit dem Notstands-Staatsstreich von oben, der nur der Selbsterhaltung unkontrollierter Macht dient.« Mit diesen Worten beendete Versammlungsleiter Otto Herz, damals Student an der Universität Konstanz, am 29. Mai 1968 eine Kundgebung des »Aktionskomitees gegen die Notstandgesetze« auf der Marktstätte. Der Versammlung war ein Demonstrationsmarsch vorausgegangen, an dem sich rund 200 Studenten beteiligten. »Spektakulärste Phase der gestrigen Demonstration war zweifellos das vorübergehende Besetzen der Rheinbrücke durch die Demonstranten«, urteilte der Südkurier einen Tag später und nahm auch Stellung zum Verhalten des an der Rheinbrücke bereitgehaltenen Polizeiaufgebo- Am 29. Mai 1968 besetzten Notstandsgegner vorübergehend die alte Rheinbrücke (Foto: Südkurier / H. Finke) <?page no="81"?> 82 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky tes: »Unter der nördlichen Fußgängerunterführung waren vollbesetzte Mannschaftswagen der Polizei aufgefahren. ›Für alle Fälle ...‹, hieß es, als Passanten das in Deckung gegangene Aufgebot der Ordnungshüter bemerkten. Die Polizei verhielt sich in der Tat genau richtig, indem sie nämlich sichtbar überhaupt nicht in Erscheinung trat.« 29 Nach kurzer Zeit gaben die demonstrierenden Notstandsgegner die Rheinbrücke aber wieder frei. Jedoch nicht, weil »Kraftfahrer versuchten zwischendurch mit einem Hubkonzert auch ihre, allerdings entgegengesetzte Meinung zum ›sit-in‹ der Demonstranten zu bekunden«, sondern weil ein Krankenwagen mit eingeschalteter Sirene vom südlichen Brückenende dringend Durchlass zum Einsatz benötigte. 30 Bei der anschließenden Kundgebung auf der Marktstätte brachte der DGB-Ortsvorsitzende Erwin Reisacher zum Ausdruck, dass sich die Einschränkungen durch die Notstandsgesetze in erster Linie gegen die Arbeiter richten würden. Das Grundgesetz enthalte hingegen bereits ein ausreichendes System von Sicherungen, um die demokratische Ordnung gegen ihre Feinde zu schützen. Uwe Lindner, Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes, kritisierte, dass nicht einmal die Lehrerschaft ausreichend über die Notstandsgesetzgebung informiert sei. Schließlich verlas Otto Herz die Solidaritätserklärung des AStA der staatlichen Ingenieurschule Konstanz und des Verbandes Deutscher Studentenschaft. Ihm folgten weitere Redner, wie der Oberstudiendirektor Dr. Hermann Venedey, die ebenfalls ihre Ablehnung der Notstandsgesetze bekundeten. Nach der Kundgebung marschierten die Studenten zum Kreuzlinger Zoll, gaben dort ihre mitgeführten Transparente ab und passierten die Grenze. Nach diesem kurzem Go-out, der symbolischen Emigration in die Schweiz, wo Schweizer Studierende ihre Sympathie mit den Demonstranten bekundeten, kehrten diese wieder nach Deutschland zurück. Natürlich nicht »ohne rasch im Niemandsland« die Internationale gesungen zu haben«. 31 Streik der Ingenieursschüler Vorrangig Ingenieursstudenten gingen 1968 in Konstanz auf die Straße, um gegen eine Änderung der Ingenieur-Ausbildung einzutreten. So sollte durch die Angleichung des Studiums, eines verbesserten Ausbau der inneren Strukturen der Ingenieurschulen und durch die Anpassung des Lehrplans den höheren Anforderungen einer ständig fortschreitenden Technik Rechnung getragen werden. Allerdings sollten die Absolventen der deutschen Ingenieurschule im Ausland nicht als Ingenieure anerkannt werden, sondern laut Artikel 8 der von der EWG-Kommission aufgestellten Richtlinien nur als »höhere Techniker«. Dies hätte allerdings <?page no="82"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 83 das Problem nach sich gezogen, dass im Ausland der Abschluss der deutschen Absolventen der Ingenieurschule nicht mehr anerkannt würde, was zwangsläufig zu einer »Minderung der Stellung und des Niederlassungsrechts des so ausgebildeten, deutschen Ingenieurs« führen würde. Vor allem aber wollten die Ingenieurstudenten den Übergang zur wissenschaftlichen Hochschule gewährleistet wissen. 32 Bereits am 28. Mai 1968 hatten sich alle baden-württembergischen Ingenieurschulen an einem Streik beteiligt. Hintergrund war die Ankündigung des baden-württembergischen Kulturministers Otto Hahn, dass nur einige der Ingenieurschulen künftig in den Hochschulbereich überführt werden sollten. In einer Urabstimmung am 27. Mai 1968 hatte sich die Mehrheit der Studenten für einen Streik ausgesprochen und das Ergebnis wurde noch am selben Nachmittag den anwesenden Dozenten mitgeteilt. Am darauf folgenden Tag veranstaltete das Aktionskomitee für Ingenieurschulfragen in Zusammenarbeit mit dem AStA ein Teach-In, um die Studenten über die Problematik und die exakten Aussagen Hahns zu informieren. 33 »Keinen Schritt weitergekommen ...« - Demonstration auf der Marktstätte Nachdem die Forderungen der Konstanzer Ingenieurstudenten trotz verschiedener Proteste nicht gehört wurden, fand im Juni 1968 eine erneute Abstimmung statt, in der sich 70 Prozent der Studenten diesmal für einen unbefristeten Streik aussprachen. Am 24. Juni wurde eine Demonstration in Richtung Marktstätte veranstaltet. Damit schlossen sich die Konstan- Vorrangig Ingenieursstudenten gingen 1968 in Konstanz auf die Straße, um gegen eine Änderung der Ingenieur-Ausbildungmobil zu machen. (Foto: Claus-Jürgen Schumacher) <?page no="83"?> 84 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky zer Ingenieurstudenten der Schulstreikbewegung an, der auch die großen Ingenieurschulen angehörten. Mit Sprechchören und Transparenten taten sie ihren Unmut kund, denn nur die Ingenieurschulen in Karlsruhe, Stuttgart und Esslingen sollten künftig in den Fachhochschulbereich überführt werden. »Ein Schritt vor und zwei zurück, das ist Bildungspolitik« oder »Wollt ihr Bildung retten, klaut dem Hahn die Schlaftabletten« war zu hören. Der Unmut über die angestrebten Änderungen in der Ingenieurausbildung drückte sich vor allem in dem Slogan »66 graduiert, 71 degradiert« aus. Darüber hinaus wurde auf den mitgeführten Plakaten in »mehr oder minder deutlicher Form kundgetan, welche Tiervergleiche sich allein mit dem Namen des Kultusministers anstellen ließen. Die ursprüngliche Absicht, auf dem Höhepunkt der Demonstration zur Mittagszeit einen Galgen zu errichten und dabei in einer Kiste einen lebenden Gockelhahn hochzuziehen, wurde als doch etwas zu drastische Maßnahme wieder verworfen; das Federvieh durfte unbeachtet in seinem Bretterverschlag bleiben«, informierte der Südkurier am 25. Juni 1968 seine Leserschaft. Bei der anschließenden Kundgebung auf der Marktstätte forderte der AStA-Vorsitzende Johann Hartwig im Namen aller Ingenieurstudenten abermals die Anerkennung des höheren Niveaus, dass den Studenten die Möglichkeit eröffnen würde, sich an den wissenschaftlichen Hochschulen weiterzubilden, um auch im Ausland in höheren Stellungen arbeiten zu können. Mit der erneuten Demonstration und dem Vorlesungsstreik sollten die Politiker nochmals darauf aufmerksam gemacht werden, dass man sich in Zukunft nicht weiter mit einfachen Floskeln abspeisen lassen würde. 34 Mit Interesse erwarteten die Ingenieurstudenten die für den 27. Juni angesetzte Verkündigung der Ergebnisse durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Dr. Hans Karl Filbinger. Inzwischen hatten sich bereits der AStA der Münchner Universität und die SIS-Bau Karlsruhe mit ihren Konstanzer Studienkollegen solidarisiert. Es folgten die ASten der SIS Karlsruhe, Mannheim und Stuttgart. Auch der Berliner AStA Berlin unterstützte die Konstanzer Studenten in der Umsetzung der kollektiven Reformvorstellungen. Darüber hinaus richtete der AStA der Uni Tübingen ein Protestschreiben an das Innenministerium. Grund war der mögliche Ausschluss von fünf ausländischen Studenten aus Konstanz. Im Falle des tatsächlichen Ausschlusses, sollte man auf Proteste der ganzen Studentenschaft gefasst sein. 35 <?page no="84"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 85 »Konstanz erlebte die Nacht der ersten Studentenunruhen. Es fing mit einer zunächst harmlos scheinenden Ansammlung an und endete mit Tränengas und Schlagstock-Einsätzen der Polizei« 36 So lautete die Schlagzeile am Morgen des 25. Juni 1968 im Südkurier. Doch was war geschehen? Während die Demonstration am Mittag des 24. Juni noch geordnet und friedlich, wenngleich laut Aussage des Polizeirats Stather durch das Missachten des eigentlich genehmigten Weges »zu diesem Zeitpunkt schon nicht ganz korrekt« verlaufen war, eskalierte die Situation schließlich gegen 21 Uhr auf der Marktstätte, als Studenten versuchten dort einen Galgen aufzustellen, um daran in einem symbolischen Akt den Kultusminister in Gestalt einer Puppe zu erhängen. Nachdem die Polizei die immer größer werdende Menge mehrfach aufforderte, den Platz zu räumen, kam es schließlich zu Handgreiflichkeiten, die aufgrund einiger missglückter Verhaftungsversuche von augenscheinlich Unbeteiligten immer hitziger wurden. Als schließlich um 22.15 Uhr maskierte und fackeltragende Studenten den geplanten Galgen doch noch aufzustellen versuchten, gab Polizeirat Stather den berühmten Befehl: »Knüppel frei! «. Fünf Minuten später war der zweite Befehl zu hören: »Wahllos aus der Menge greifen! « Stather selbst war in Zivil und verhaftete nun auch ohne Vorzeigen seiner Polizeimarke wahllos Menschen aus der Menge. Dabei wurde sogar ein Reporter zu Boden gerissen und erst nach dem Vorzeigen seines Journalistenausweises wieder freigelassen. Auch der nächste Befehl Stathers ließ nicht lange auf sich warten: »So viele Festnahmen wie möglich«, was die Menge erst recht in Aufruhr brachte. Dabei soll Polizeirat Stather außerdem zu einem Studenten gesagt haben: »Ich bin der letzte, der die Marktstätte verlässt, selbst wenn die härtesten Maßnahmen ergriffen werden müssen. Teilen Sie Ihren Kommilitonen mit, dass wenn in einer Dreiviertelstunde der Platz nicht geräumt ist, alles zusammengeschlagen wird«. Daraufhin wich die Menge schließlich Richtung Mainaustraße aus. Doch bereits an der Ecke der Kanzleistraße wurden sie völlig unerwartet vom Einsatz der ersten Tränengasbomben überrascht. Anschließend marschierten die Demonstranten zur Polizeiwache und skandierten: »Gefangene raus, Gefangene raus! « Hierbei kam es wieder zum Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken gegen die Studenten. Gegen Morgen entließen die Polizeibeamten die 21 Festgenommenen nach einer ersten Vernehmung - allerdings mit einer Anzeige wegen Landfriedensbruch. In einer großen Solidaritätsaktion zeigten sich in den folgenden beiden Tagen 128 Studenten wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz selbst an. <?page no="85"?> 86 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky »Pekinger Zeitung berichtet über Konstanzer-Unruhen« 37 Die Konstanzer Unruhen blieben nicht unbemerkt. Sogar die Pekinger Zeitung »Renmin Ribao« (Volkszeitung) berichtete über die Ereignisse in Deutschland und ging dabei verstärkt auf die Unruhen vom 24. und 25. Juni in Konstanz ein. Der Artikel basierte auf einem detaillierten Bericht aus Bonn, der am 27. Juni erschienen war. Die Städtische Pressestelle übergab eine Kopie des Artikels mit der Übersetzung an den Südkurier. Wie sich herausstellte, waren die Informationen jedoch zum Teil fehlerhaft. So stand dort geschrieben, dass die Polizei mit Prügel und Tränengas gegen 3.000 Demonstranten vorgegangen sei und am Abend desselben Tages 300 Studenten die Entlassung von 21 verhafteten Kommilitonen gefordert hatten, wobei es wieder zum Einsatz von Tränengas gekommen sei. Außerdem wurde in dem Artikel über die Solidaritätserklärung der Konstanzer Universitätsstudenten mit den Ingenieurstudenten berichtet. 38 Fazit Zusammenfassend lässt sich im Sinne des erwähnten Zitats des Gründungsrektors Gerhard Hess feststellen, dass sich die Studentenbewegung auch auf die Stadt Konstanz ausgewirkt hat. Dabei hätte die Universitätsgründung auch bereits bei »normalen« Verhältnissen, wie man sie 1965 noch erwarten konnte, einen besonderen Einschnitt für die Geschichte der Stadt bedeutet. Nun aber brachte sie mit den ersten Studenten und Wissenschaftlern einen kleinen Teil der Unruhe an anderen Universitäten in die Stadt, die dem konservativen Habitus der Konstanzer Bürger nicht immer entsprach. In der Folge entwickelte sich daraus ein kompliziertes, oft wenig stabiles System von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen. 39 Zwar sollte die kurze Notiz in der Pekinger Zeitung der einzige außereuropäische Zeitungsartikel über die Unruhen in Konstanz bleiben. Dafür sollte der »Gammler-Mord« 40 im Jahr 1970 auch bundesweit für Schlagzeilen sorgen und er kann als tragisches Beispiel angesehen werden, welche radikale Reaktion der neue Lebensstil der Jugendlichen in der damals noch als reaktionär und konservativ geltenden Provinz hervorzurufen vermochte. <?page no="86"?> »… Studentenstädte, in denen noch Ruhe und Ordnung herrschen« 87 Anmerkungen 1 Lothar Burchardt (1996): Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung, Konstanz, S. 537. 2 Ebd., S. 561 3 Ebd., S. 548; FUSTA e. V. - Verein zur Förderung unabhängiger studentischer Aktivitäten (Hrsg.) (1990): Die Universität - Die Kirche der Vernunft, Konstanz, S. 6. 4 Sozialistischer Hochschulbund Uni Konstanz (Hrsg.) (1980): Dokumentation Geschichte der Verfassten Studentenschaft an der Uni Konstanz 1966-1980, S. 3. 5 Interview mit Uwe Lindner im Rahmen der Ausstellung »69 - 96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 6 Lothar Burchardt (1996): Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung, Konstanz, S. 556. 7 Vgl. Gert Zang (2010): Kleine Geschichte der Stadt Konstanz, Leinfelden-Echterdingen, S. -228. 8 Interview mit Jürgen Leipold im Rahmen der Ausstellung »69 - 96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 9 Interview mit Christian Neven du Mont im Rahmen der Ausstellung »69 - 96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 10 Interview mit Uwe Lindner im Rahmen der Ausstellung »69-96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 11 Südkurier Konstanz, Leserbrief, Datum unbekannt, abgedruckt in: Neue Seeblätter, Ausgabe Nr. 6, Jg. 1977, S.9. 12 Auszüge aus dem Interview mit Christian Neven du Mont im Rahmen der Ausstellung »69-96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 13 Interview mit Jürgen Leipold im Rahmen der Ausstellung »69-96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 14 Interview mit Uwe Lindner im Rahmen der Ausstellung »69-96 - Kreativität oder Krawall«, 2009. 15 Gerhard Hess (1973): Sieben Jahre Universität Konstanz 1966-1972, Konstanz. 16 Interview mit Brigitte Leipold im Rahmen der Ausstellung »69-96 - Kreativität oder Krawall? «, 2009. 17 Thomas Schnabel (2001): Geschichte von Baden-Württemberg, S. 149. 18 van Bebber, Frank: »Das war einer von uns«, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 02.06.2007. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Unbekannter Autor: »Die Scheiben des SÜDKURIERS sind immer noch ganz«, Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 18.04.1968, S. 16. 22 Der Direktor der Ingenieurschule: Stellungnahme der Staatlichen Ingenieurschule, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 23.04.1968, S. 8 23 Schmid, Volker: Breitgetretener Quark ..., in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 20.04.1968. 24 Unbekannter Autor: »Die Scheiben des SÜDKURIERS sind immer noch ganz«, Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 18.04.1968, S. 16. 25 Die »ungebärdigen Söhne« riefen im Sprechchor: »Vati, Vati! «; Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 23.04.1968, S. 7. 26 Ebd. 27 F.C.B.: Hitzige Diskussion über Notstandsgesetze«, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 24.05.1968. <?page no="87"?> 88 Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter, Ines Gersky 28 Unbekannter Autor: Studenten wollen Hearing mit Abgeordneten, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 28.05.1968. 29 Unbekannter Autor: Notstandsgegner besetzten gestern die Rheinbrücke, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 30.05.1968. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Unbekannter Autor: Konstanzer Ingenieurstudenten sind in den Vorlesungsstreik getreten, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 25.06.1968. 33 Unbekannter Autor: Studenten wollen Hearing mit Abgeordneten, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 28.05.1968. 34 Unbekannter Autor: Konstanzer Ingenieurstudenten sind in den Vorlesungsstreik getreten, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 25.06.1968. 35 Ohne Verfasser: Solidaritätstelegramme, in: Konstanzer Extrablatt Nr. 3, Ausgabe vom 02.07.1968. 36 Zu folgenden Ausführungen vgl.: Tagebuch einer Knüppelaktion, in: Konstanzer Extrablatt Nr. 3, Ausgabe vom 02.07.1968; Konstanz erlebte die Nacht der ersten Studenten-Unruhen, in: Südkurier Konstanz, Ausgabe vom 25.06.1968. 37 Ohne Verfasser: Pekinger Zeitung berichtete über Konstanzer Unruhen, in: Südkurier Konstanz, Datum unbekannt. 38 Ebd. 39 Vgl. Anm. 15. 40 Am 29.08.1970 wurde der 17-jährige Tankwartlehrling Martin Katschger auf dem Blätzle- Platz von einem angetrunkenen Rechtsextremen als »Gammler« beschimpft und schließlich mit einem Bolzenschussgerät erschossen, weil er auf der Rückenlehne einer Bank gesessen hatte. <?page no="88"?> 1968 in St. Gallen Gesellschaftskritik zwischen Planungseuphorie und Überfremdungsangst m aRcel m ayeR Hochkonjunktur und Planungseuphorie Die Stadt St. Gallen erlebte die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als eine Epoche des permanenten Aufschwungs nach einer rund dreißigjährigen, tiefgreifenden Wirtschaftskrise. Verursacht hatte diese Krise der Zusammenbruch der Stickereiindustrie, die vor 1914 als wirtschaftliche Monokultur das Erwerbsleben der Menschen in der ganzen Nordostschweiz und in Vorarlberg geprägt und mit ihrem Niedergang die traditionell engen Beziehungen zwischen diesen beiden Gebieten stark gelockert hatte. Der in den ausgehenden 1940er- Jahren einsetzende Aufschwung ermöglichte es dann, die sankt-gallische Wirtschaft allmählich Schritt um Schritt zu diversifizieren und aus ihrer fast vollständigen Abhängigkeit von Textilgewerbe und -industrie zu lösen. Nach 1960 trat insofern eine Wende ein, als der Dienstleistungssektor zum wichtigsten städtischen Wirtschaftszweig aufstieg und die bis dahin führenden Sektoren Industrie und Gewerbe überflügelte. Gleichzeitig verloren die Textil verarbeitenden Firmen ständig an Bedeutung und beschäftigten 1965 nur noch um die 13 Prozent aller Erwerbstätigen. 1 St. Gallen wurde wirtschaftlich immer weniger von Stoffen und Stickereien, als vielmehr von Dienstleistungsbetrieben und Industrieunternehmen aus den verschiedensten Branchen geprägt. Die gute Wirtschaftslage rief danach, die seit Jahren vernachlässigte Infrastruktur zu fördern und den diesbezüglichen Rückstand zu anderen Schweizer Städten aufzuholen. Als Beispiele seien drei Prestigeprojekte genannt, die zum Anschluss St. Gallens an die modernen Zeiten beitragen sollten. Um des motorisierten Individualverkehrs Herr zu werden, gaben die Behörden einen Generalverkehrsplan in Auftrag. Es galt, die »autogerechte Stadt« zu planen, um St. Gallen in das schweizerische Autobahnnetz einzubinden, das damals im Aufbau war. Dabei schlugen die Ingenieure im Jahre 1966 die Anlage eines mitten durch das Siedlungsgebiet führenden, großstädtisch anmutenden Schnellstraßennetzes vor. Weil dieses für die lang gezogene, zwischen zwei Hügeln eingezwängte Stadt mit ihren damals gut 78.000 Einwohnern völlig überdimensioniert war, wurde es letztlich nur in Einzelteilen verwirklicht. <?page no="89"?> 90 Marcel Mayer Ein weiteres Prestigeprojekt, die als Bau- und Bildungsikone gedachte Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (heute Universität St. Gallen), wurde 1963 eingeweiht. Der Bau bildet nicht nur ein Hauptwerk des Architekturstils des Brutalismus in der Schweiz, sondern wurde im Sinne eines Gesamtkunstwerks mit Bildern und Plastiken international bedeutender Kunstschaffender gestaltet. Campus der Hochschule St. Gallen in einer Parklandschaft über der Stadt, 1971 (Foto Pius Rast). Nicht von der öffentlichen Hand, sondern von privaten Investoren wurde das Einkaufs- und Geschäftszentrum Neumarkt in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs finanziert. Von ihm versprach man sich eine völlig neue Art des Einkaufsvergnügens, und die liberale Tageszeitung »St. Galler Tagblatt« frohlockte im Sommer 1966 angesichts des fertiggestellten Rohbaus: »Jetzt erst erkennt man die markante Wirkung dieses Zwillingsgebäudes, und man bedauert fast, dass die beiden Bürotürme nicht noch um einige Stockwerke höher wachsen und so zum eigentlichen neuen Wahrzeichen und imposanten modernen Gegenpol zu den Zwillingstürmen der barocken Kathedrale werden dürfen. Aber auch so wirkt der Doppelbau eindrücklich genug […]. Die zwei durchgehenden Basisgeschosse dürften […] das größte Einkaufszentrum nicht nur der Ostschweiz, sondern im Moment der ganzen Schweiz darstellen […].« 2 Was die Zeitung mit diesen ganz und gar nicht ironisch gemeinten Zeilen pries, sollte das erste bauliche Wahrzeichen der Sankt-Galler Konsumgesellschaft werden. <?page no="90"?> 1968 in St. Gallen 91 Die Beispiele mögen zeigen, dass sich St. Gallen in den 1960er-Jahren nicht als verschlafenes Nest verstand, sondern versuchte, den Anschluss an die größten Schweizer Städte zu finden. Es fand ein von den Behörden gesteuerter und von der Bevölkerung weitgehend mitgetragener Modernisierungsschub statt. Beeinflusst war dieser Modernisierungsschub von US-amerikanischen Vorbildern, wie das Schnellstraßenprojekt und das Einkaufszentrum Neumarkt unmissverständlich zeigen. Politischer Konsens und Unbehagen Die politischen Verhältnisse waren in St. Gallen um 1968 auffallend stabil. Wie in der Schweiz üblich, herrschte auch damals eine so genannte Konkordanzdemokratie, in der alle maßgeblichen Kräfte in die Regierung eingebunden sind. So setzte sich etwa der Stadtrat, die Sankt-Galler Exekutive, im Zeitraum von 1965 bis 1980 stets aus der gleichen großen Koalition von zwei Freisinnigen (Liberalen), zwei Christdemokraten und einem Sozialdemokraten zusammen. Als Stadtammänner (Stadtpräsidenten) amtierten in dieser Zeitspanne die beiden Freisinnigen Emil Anderegg (1948-1967) und Alfred Hummler (1968-1980). 3 Parteienstärke im Gemeinderat (Parlament) der Stadt St.Gallen (in Sitzen) Parteien Amtsdauern 1965/ 68 1969/ 72 1973/ 76 1977/ 80 Freisinnig-demokratische Partei 22 19 18 19 Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei 20 18 22 24 Sozialdemokratische Partei 14 15 12 13 Landesring der Unabhängigen 6 11 5 6 Parteiungebundene 1 Politische Aktion Pro St.Gallen 3 1 Schweiz. Republikanische Bewegung 3 0 Die im Stadtrat vertretenen Parteien konnten sich zwischen 1965 und 1980 im Gemeinderat (Parlament) auf eine komfortable Mehrheit von 80 bis 90 Prozent der Sitze stützen. Die Mandatsverschiebungen unter den drei großen Parteien hielten sich in einem engen Rahmen: Während die Freisinnigen und Sozialdemokraten einige wenige Sitze verloren, konnten die <?page no="91"?> 92 Marcel Mayer Christdemokraten tendenziell leicht zulegen. Eine etwas größere Wählerbewegung zeigt sich indes bei den Resultaten der nicht in die Regierung eingebundenen und damit als oppositionell einzustufenden Parteien. 1968 konnte der auf einer linksbürgerlichen Linie politisierende Landesring der Unabhängigen seine Sitzzahl im Gemeinderat beinahe verdoppeln, musste aber bereits bei den nächsten Wahlen von 1972, als erstmals auch die Frauen ihr Wahlrecht für die städtischen Behörden ausüben durften, eine herbe Schlappe einstecken. Damals waren es die dem Gewerbe nahestehende Politische Aktion Pro St. Gallen sowie die nationalkonservative, fremdenfeindliche Schweizerische Republikanische Bewegung, die sich bei den Oppositionsparteien als Gewinner betrachten durften. Die Wahlresultate in die stadt-sankt-gallische Legislative belegen, dass die 68er-Bewegung im Verlaufe der siebziger Jahre in keiner Weise einen Platz in der institutionalisierten Politik erringen konnte. Im Gegenteil, die nicht allzu zahlreichen Proteststimmen bei den Wahlen für die Amtsdauer 1973/ 76 gingen eindeutig ins rechte politische Lager. 4 Weder die anhaltend gute Wirtschaftskonjunktur noch die beschriebene politische Stabilität verhinderten, dass das schweizerische System nach der Meinung verschiedener weitblickender, teils auch durchaus »staatstragender« Kreise spätestens in den sechziger Jahren Risse, wenn nicht gar Brüche aufzuweisen begann. Das aufkommende Unbehagen formulierte der aus St. Gallen stammende, an der Universität Basel lehrende Staatsrechtler Max Imboden exemplarisch in seinem schmalen Büchlein »Helvetisches Malaise« von 1964. 5 Imboden beginnt seine Ausführungen mit dem Passus: »Das Wort ›Malaise‹ drückt eine immer weiter um sich greifende schweizerische Grundstimmung aus. Es bezeichnet eine seltsame Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel.« 6 Als Symptome dieses Malaise führte Imboden zum Beispiel die sinkende Beteiligung der Bürger an Wahlen und Abstimmungen auf oder die Zweifel in der Bevölkerung, ob die staatlichen Institutionen noch in der Lage seien, große Probleme, wie die Gewässerverschmutzung und die Luftverpestung, zu lösen. »Helvetisches Malaise« wurde auf Jahre hinaus zu einem festen Begriff, mit dem sich die - obwohl nur teilweise artikulierte - Gefühlslage jener Zeit prägnant bezeichnen ließ. Im politischen und gesellschaftlichen Alltag bildeten sich allmählich zwei Gegenreaktionen auf das »Helvetische Malaise« heraus, die in zwei Hauptrichtungen zielten. Es ging zum einen gegen die angebliche Überfremdung der Schweiz, zum andern gegen die herrschende bürgerliche Gesellschaftsordnung. <?page no="92"?> 1968 in St. Gallen 93 Die emotionsgeladene Debatte über die »Überfremdung« Die Schweiz war dank ihres intakten Produktionsapparats mit Vorteilen der internationalen Konkurrenz gegenüber in den Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit gestartet. Ihren Vorsprung verspielte sie aber in den folgenden Jahrzehnten insofern, als sie den Produktionsapparat weniger stark erneuerte als ihre Konkurrenz, sondern ihn durch die Anwerbung billiger ausländischer Arbeitskräfte lediglich ausweitete. In der ganzen Schweiz stieg deshalb der Anteil an Ausländern und Ausländerinnen. Sie machten 1968 in St. Gallen gut 16 Prozent der 78.662 Personen zählenden Wohnbevölkerung aus. Unter ihnen bildeten die Italiener und Italienerinnen die deutlich größte Gruppe, sie stellten fast die Hälfte der ausländischen und rund 8 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung St. Gallens. Weitere größere Ausländergruppen stammten damals aus Deutschland, Österreich und Spanien. 7 Der Gemeinderat, das Stadtparlament, debattierte im Jahr 1965 über die »Auswirkungen der Überfremdung«. Unter diesem Titel hatte Willy Vestner schriftlich eine Interpellation, also einen parlamentarischen Vorstoß, eingereicht, denn: »Die vielseitigen Gefahren der Ueberfremdung sind auch in der Stadt St. Gallen in ein akutes Stadium getreten. Der zu hohe Ausländerbestand zwingt die Stadt zum Ausbau der Infrastruktur, was mit hohen Kosten verbunden ist.« 8 Vestner - von Beruf Lokomotivführer und, nachdem er sich mit den Sozialdemokraten überworfen hatte, parteiloser Gemeinderat - verlangte vom Stadtrat Auskünfte über den Bestand an Ausländern und Ausländerinnen sowie über deren Eheschließungen und Geburtenzahlen. Weiter wollte er wissen, wie sich dieses Bevölkerungswachstum auf die Erstellung neuer Kindergärten und Schulräume und auf die Belegung der Spitalbetten auswirke, wie groß der Steueranteil der Gastarbeiter sei und welche Folgen das damals aktuelle Einwanderungsabkommen zwischen Italien und der Schweiz habe. 9 Bei der mündlichen Begründung seines parlamentarischen Vorstoßes wies Vestner im übrigen darauf hin, »das Fremdarbeiterproblem errege gegenwärtig viele Schweizer aller Bevölkerungsschichten [und] es sei eine Auflehnung gegen die Überfremdung spürbar«. 10 Zwar habe dank der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte die Produktivität vieler Unternehmen ohne großen Kapitaleinsatz erhöht werden können, »aber zugleich sei die Gefahr eines nationalen Notstandes immer folgenschwerer gewachsen«. 11 Im Umstand, dass die Gastarbeiter oft geschlossene Bevölkerungsgruppen bildeten, sah Vestner weniger ein sozialpolitisches Problem; dem damals typischen Denken in militärischen Kategorien verhaftet, befürchtete er vielmehr, ausländische Staaten könnten sich in schweizerische Angelegenheiten einmischen und es erwüchsen daraus <?page no="93"?> 94 Marcel Mayer vielleicht Gefahren für die Landesverteidigung und die Spionageabwehr. Stadtrat Georges Enderle, welcher der Vormundschafts- und Fürsorgeverwaltung vorstand und der Konservativ-Christlichsozialen Partei angehörte, beantwortete Vestners Fragen im Namen der Stadtregierung mit der nüchternen Darlegung der gesetzlichen Bestimmungen und mit ausführlichem statistischen Material. Aus diesem schloss er, dass die Folgen der Zuwanderung für die Stadt durchaus verkraftbar seien, auch wenn mit zusätzlichen Investitionen in die städtische Infrastruktur gerechnet werden müsse. 12 Diese Parlamentsdebatte mag einen kleinen Eindruck davon geben, welche Ängste insbesondere die südländischen Ausländer und Ausländerinnen auslösten, auch wenn sie, wie es das Protokoll nahelegt, durchaus manierlich geführt wurde. Aus einzelnen Bemerkungen Vestners wird doch deutlich, dass sich die zunehmende Unsicherheit vieler Leute angesichts einer Welt, die sich immer schneller zu verändern schien, gegen die oft schlecht integrierten »Fremdarbeiter« zu richten begann. Sie dienten vielen Einheimischen als Sündenböcke für das »Helvetische Malaise«. Einen traurigen Höhepunkt der daraus resultierenden Überfremdungsängste, ja der Fremdenfeindlichkeit jener Zeit bildete dann fünf Jahre später der hässliche Abstimmungskampf zu einer schweizerischen Volksinitiative (sog. Schwarzenbach-Initiative), die den Ausländerbestand auf 10 Prozent der Bevölkerung begrenzen wollte, damit aber scheiterte. Zur Neuen Linken Die sogenannte 68er-Bewegung in ihrer schweizerischen Ausprägung kann, auch wenn sie stark von ausländischen Vorbildern inspiriert war, als zweite Gegenreaktion auf das »Helvetische Malaise« betrachtet werden. Sie spielte sich zeitlich parallel zur Zunahme der Überfremdungsängste ab, umfasste aber weit weniger Menschen, die sich, falls sie politisiert wurden, meist zu neomarxistischem, allenfalls auch maoistischem oder anarchistischem Gedankengut hingezogen fühlten. Einige Achtundsechziger begannen um 1970 ihren langen Weg durch die Institutionen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei anzutreten, hatten sich dort mit sehr gemäßigt politisierenden Genossen und Genossinnen auseinanderzusetzen und wurden erst im Verlaufe der achtziger Jahre zu einer maßgeblichen Kraft. Links der Sozialdemokraten gelang es in St. Gallen keiner Partei, sich zu etablieren oder gar bei Volkswahlen Sitze in irgendwelchen Behörden zu erringen. Weder die Partei der Arbeit, die 1944 als Nachfolgerin der während des Zweiten Weltkriegs verbotenen Kommunistischen Partei gegründet worden war, noch die Progressi- <?page no="94"?> 1968 in St. Gallen 95 ven Organisationen, deren Anfänge auf die 1967/ 68 entstandene Progressive Studentenschaft an der Universität Basel zurückgingen, 13 vermochten in St. Gallen auf der Ebene der institutionalisierten Politik Fuß zu fassen. Eine gewisse Aufmerksamkeit erregten hingegen vereinzelte Gruppierungen, die - im Sinne der deutschen außerparlamentarischen Opposition - ganz bewusst außerhalb der traditionellen Institutionen agieren wollten. Als Beispiel dafür sei die »Progressive Aktion St. Gallen« (PAS) genannt. Sie hatte sich von einer kritischen Vereinigung Studierender an der Hochschule St. Gallen mit Namen »Inform« abgespalten. Während sich die »Inform« »in ihrer Zielsetzung auf die spezifischen Probleme innerhalb der Hochschule beschränkte«, war die PAS überzeugt, »dass Hochschulprobleme in einem interdependenten Zusammenhang zur Gesamtproblematik unserer Gesellschaftsordnung gesehen werden müssen«. 14 Folgerichtig unterteilte sich die radikalere PAS in die drei »Basisgruppen« der Lehrlinge, Mittelschüler und Studenten. Dass diese Bezeichnungen stets nur in der männlichen Form angegeben sind, war für die stark von jungen Männern dominierte 68er-Bewegung keineswegs ungewöhnlich. In ihrem Selbstverständnis wollte die PAS nicht »nach den überlieferten Organisationsschemen einer politischen Partei funktionieren«, sondern »im Sinne einer antiautoritären Organisation […] eine Kundgebung der Progressiven Organisationen, einer aus der 68er-Bewegung entstandenen Partei, beim Sankt-Galler Marktplatz, 1971 (Foto Karl Künzler, Stadtarchiv St.-Gallen, Slg. Künzler, Nr. 5164). <?page no="95"?> 96 Marcel Mayer optimale Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen« erzielen. Dies sei allerdings nur mit einem »entsprechende[n] Bewusstseinsgrad«, mit »Disziplin« sowie »durch eine offene permanente Kritik und Selbstkritik ihrer Mitglieder« zu erreichen. 15 Die PAS dürfte eine verhältnismäßig frühe politisch aktive Gruppe der Neuen Linken innerhalb St. Gallens gebildet haben, rief sie doch bereits zum 1. Mai 1969 in einem Flugblatt die Frauen zur totalen Emanzipation und die Jugendlichen zur finanziellen und rechtlichen Unabhängigkeit vom Elternhaus auf. Weiter propagierte sie unter anderem die Abschaffung des Militärs sowie den Austritt aus der Kirche, denn diese sei die »stärkste Verbündete der herrschenden Obrigkeit« 16 . Trotz der markigen Worte war die PAS weit davon entfernt, den politischen Konsens in der Stadt zu stören, der wie in der ganzen Schweiz von einem strikten, manchmal auch rabiaten Antikommunismus geprägt war. Protestdemonstrationen und polizeiliche Gegenmaßnahmen Res Strehle, später Chefredaktor des »Tages-Anzeigers«, einer der wichtigsten Schweizer Tageszeitungen, stammte aus vermögendem und gebildetem Zürcher Elternhaus. Als politisch unbeschriebenes Blatt nahm er sein Studium an der Hochschule St. Gallen auf und war mittendrin, als die 68er-Bewegung mit einem Jahr Verspätung nach St. Gallen kam. Im Frühjahr 2008 publizierte er über seine Sankt-Galler Jahre in einer, wie der Vergleich mit anderen Quellen zeigt, plausibel erscheinenden und offenbar weitgehend ungeschönten Form. 17 Die Sankt-Galler Hochschule galt bereits damals als Kaderschmiede der Wirtschaft, deren Studentenschaft mehrheitlich aus karrierebewussten jungen Leuten bestand. Erwartungsgemäß entwickelte sie sich nicht zu einer Hochburg revolutionärer Umtriebe. Strehles Schätzung, an der Hochschule seien um 1968/ 69 rund 40 Genossen in der linken Bewegung aktiv gewesen, verdient deshalb Glauben. 18 Beschlossen die Sankt-Galler Achtundsechziger, den Kampf gegen das Unrecht in der Welt auf die Straßen zu tragen, so durften sie nicht auf großen Widerhall zählen. An einer Demonstration gegen den Vietnam- Krieg, so berichtet Strehle selbstironisch, nahmen dreißig Leute mit zwei Transparenten teil. Da die Passanten von den »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh- Rufen« kaum Notiz genommen hätten, habe man sich bald in den nahe gelegenen Spielsalon zurückgezogen. 19 Mit der »Abwehr von Unruhen und unfriedlichen Demonstrationen« beschäftigte sich der Sankt-Galler Stadtrat in seiner Sitzung vom 15. April 1969. 20 Zwar befürchtete er nicht, dass revolutionäre Umtriebe bevorstünden, sondern zählte vielmehr auf die »nüchterne Gemütsart« der hiesigen Bevölkerung. Dennoch seien Beispiele vorgekommen, <?page no="96"?> 1968 in St. Gallen 97 »dass auch in kleineren und normalerweise ruhigen Städten Unruhen ausbrechen können, wenn militante Randalierer von auswärts zuziehen, die Stimmung ›anheizen‹ und die schaulustige Menge zu Gewalttaten hinreißen«. 21 Deshalb gelte es, der Polizei schon im Voraus Mittel an die Hand zu geben, mit denen sie Unruhegebiete oder schützenswerte Objekte abzusperren sowie Menschenansammlungen auseinander zu treiben vermöge. Der Stadtrat beschloss daher, den Bestand an Vauban-Barrieren der Polizei zu erhöhen. Bei diesen handelt es sich um Absperrgitter mit zwei Füßen, einem stabilen Stahlrohrrahmen und senkrechten Stäben, die sich schnell auf- und abbauen sowie mit Stahldrahtwalzen verstärken lassen. Ziel war, über eine so große Anzahl an Vauban-Barrieren zu verfügen, dass Absperrungen in einer Länge von 300 Metern möglich wurden. Um »Unruhen und unfriedliche Demonstrationen« zu dokumentieren, sollte die Polizei zwei zusätzliche Fotoapparate sowie eine Filmkamera im Format Super 8 anschaffen. Ein leistungsstarker und vom Stromnetz unabhängiger Scheinwerfer war ebenfalls zu kaufen, um auch bei Dämmerung und in der Nacht das Filmen zu ermöglichen. Weiter beschloss der Stadtrat die Erwerbung eines Tonbandgeräts, das mit dem Filmapparat sollte synchronisiert werden können, sowie Megafone zum Übertönen von Demonstrationslärm. Um Menschenansammlungen aufzulösen, sollten auch Flammenwerfer, die sich »mit Wasser, flüssigem Tränengas und einem Emulgator« füllen ließen, angeschafft werden, denn dies sei ein »einfache[s], ungefährliche[s] und wirksame[s] Mittel«. 22 Wie eine Kundgebung in Bern gezeigt habe, müsse die Polizei damit rechnen, dass Molotow-Cocktails gegen sie eingesetzt würden, weshalb sie zu deren Abwehr auch noch Löschwerfer benötige. Die Kosten der vom Stadtrat an der besagten Sitzung beschlossenen Anschaffungen beliefen sich auf 14.000 Franken. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass gemäß der Einschätzung des Stadtrats die Stimmung im Frühling 1969 ruhig war, unter dem Einfluss auswärtiger Demonstranten aber durchaus explosiv hätte werden können. Um gegen Unruhen gewappnet zu sein, wurde die Polizei mit Hilfsmitteln ausgestattet, die ein repressives Vorgehen mit Absperrungen und Flammenwerfern sowie die Dokumentation allfälliger Ausschreitungen in Bild und Ton erlaubt hätten. Derartiges Beweismaterial hätte der Polizei wohl dazu gedient, im Nachhinein juristisch gegen Demonstranten vorzugehen. Zu ergänzen ist, dass die 68er-Aktivisten damals - wie alle wirklichen und vermeintlichen Oppositionellen - von der Polizei unter dem Vorwand des Staatsschutzes minutiös bespitzelt wurden. <?page no="97"?> 98 Marcel Mayer Der »Rote Gallus« »1968« war in St. Gallen eine Sache von Mittelschülern, Lehrlingen und Studenten, die ihre Anliegen mit ein paar Publikationen unter die Leute zu bringen versuchten. Das vielleicht markanteste Blatt nannte sich »Der Rote Gallus« - dies in Anlehnung an den heiligen Gallus, der im frühen 7.- Jahrhundert im noch menschenleeren Gebiet der heutigen Stadt St. Gallen eine Einsiedlerzelle errichtet hatte. »Der Rote Gallus« verstand Titelseite des »Roten Gallus«, undat. [vermutl. Frühsommer 1970; Privatbesitz]. <?page no="98"?> 1968 in St. Gallen 99 sich als das »Resultat einer kollektiven schöpferischen Arbeit« 23 und als Aufklärungsschrift der sozialistischen Arbeiter, Lehrlinge, Schüler und Studenten von St. Gallen. Die lebendigsten Beiträge dieses Blatts waren jene, welche lokale Themen behandelten und damit die Lebenswelt der Autoren direkt betrafen. Breiten Raum nahmen vorab scharfe Angriffe gegen die beiden bürgerlichen Tageszeitungen St. Gallens, das liberale »St. Galler Tagblatt« und die katholische »Ostschweiz«, ein, die auf die Meinungsbildung in der städtischen Bevölkerung großen Einfluss ausübten. Deren Artikel wurden häufig aus neomarxistischer Sicht »richtiggestellt«. Im Artikel »St. Ga Ga Galler Tagblatt« verspottet der »Rote Gallus« die beiden Zeitungen als »Verbreitungsorgane spätbürgerlicher Ideologien« und exemplifiziert dieses Urteil, indem er die Meinungsäußerungen verschiedener Tagblatt-Redaktoren unter die Lupe nimmt. Dem Auslandredaktor, der dem »Roten Gallus« als »Chefideologe« der freisinnigen »Bürgerpostille« und (wohl nicht ganz zu Unrecht) als »Kalter Krieger« gilt, wird beispielsweise vorgeworfen, durch antisowjetische Phrasendrescherei lediglich oppositionelle Kräfte verunglimpfen und nicht vorhandene Beziehungen zwischen Moskau, Peking, Kuba und der schweizerischen Linken nachweisen zu wollen. 24 Damit versuchte sich der »Rote Gallus« gegen einen in der Bevölkerung stark verankerten Reflex zur Wehr zu setzen, wurde doch Personen mit kommunistischen Überzeugungen stets unbesehen vorgeworfen, von Moskau gesteuert zu sein. Wie heftig die angegriffenen Zeitungen zurückschlugen, zeigte sich etwa in der Reaktion der »Ostschweiz«, welche es bedauerte, »dass die St. Galler Linke mit einer solchen Missgeburt eines Presseerzeugnisses niedergekommen ist. Der Name Gallus ist jedenfalls gerade mit dem Adjektiv rot davor, zu gut dafür.« 25 . Neben zahlreichen allgemeinen Beiträgen wie jenen über die Befreiungsbewegungen in Afrika äußerte sich der »Rote Gallus« sehr kritisch zu den Verhältnissen an der Kantonsschule (Gymnasium), zur dort eingeführten Schülerorganisation oder zum Los der Lehrlinge, die auf der »unterste[n] Stufe der kapitalistischen ›Erfolgsleiter‹« zu darben hätten. Bei der Berufslehre gehe es hauptsächlich um »die Heranbildung brauchbarer Funktionsträger für die Wirtschaft«. Hingegen lernten die Lehrlinge und Lehrtöchter nicht, sich gesellschaftlich und politisch zu orientieren, dadurch »rationale Einsicht in sozioökonomische Zusammenhänge« zu erhalten und die eigene Ausbeutung zu erkennen. Das Autorenkollektiv des »Roten Gallus« setzte sich verschiedentlich mit den Problemen der Berufslehre auseinander. Es war ihm offensichtlich ein Anliegen, den damals deutlich spürbaren Graben zwischen den Jugendlichen, die eine Lehre absolvierten, und jenen, die eine weiterführende Schule besuchten, <?page no="99"?> 100 Marcel Mayer zu überwinden. Entsprechend forderte der »Rote Gallus« mit der Einführung einer »Gesamt-Grundschule«, welche die Primarschule ersetzen sollte, sowie einer »integrierten Gesamtschule (anstelle der jetzigen Mittel-, Fach- und Berufsschulen)« nichts weniger als eine völlige Umkrempelung des Bildungswesens. Kurzfristig sei die Stellung der Lehrlinge überdies mit verschiedenen Maßnahmen, wie etwa mit gewerkschaftlicher Organisierung, zu verbessern. 26 Überblickt man den zugänglichen schriftlichen Nachlass der Sankt-Galler 68er-Bewegung, so durchzieht ein äußerst selbstbewusster, teils auch rechthaberischer Ton diese Texte, der die erst kürzliche Bekehrung der Schreibenden zum Marxismus, Leninismus oder Maoismus noch deutlich erahnen lässt. Es sind auch böse Entgleisungen vorgekommen. So wurde die konservative jüdische Sankt-Galler Publizistin Salcia Landmann als Rassistin gebrandmarkt und - aufgrund eines allerdings fragwürdigen »Tagblatt«-Artikels aus ihrer Feder über Schwarze in Amerika - in die Nähe der Nazis gerückt. Am Anfang des Beitrags im »Roten Gallus« wurde ein Davidstern mit eingeschriebenem Hakenkreuz hingezeichnet. Dieser Text kann als Zeichen eines latenten Antisemitismus gedeutet werden, welcher Teilen der Neuen Linken ja nicht fremd war. Denkbar ist aber auch, dass der Artikel eine, wenn auch über das Ziel weit hinausschießende publizistische Abrechnung mit der in ihrer Kritik gegen alles »Linke« nicht eben zimperlichen Salcia Landmann darstellt. 27 Götz Aly warf den deutschen Achtundsechzigern einen mit der nationalsozialistischen Studentenbewegung vergleichbaren Totalitätsanspruch vor. 28 Diesem Urteil wird man mit Blick auf St. Gallen allerdings kaum zustimmen können. Es ist dies nicht zuletzt eine Sache der unterschiedlichen Größenverhältnisse. Im Gegensatz zu Berlin oder Frankfurt konnten die Achtundsechziger in St. Gallen nie nur unter sich sein, dafür waren sie schlicht zu wenige. Die Kleinheit der Verhältnisse zwang dazu, auch mit Leuten zu verkehren, die man als »Klassenfeinde« einstufte oder wie man die Andersgläubigen auch bezeichnen mochte. Diese dauernden persönlichen Kontakte über die Bewegung hinaus relativierten die eigene Position von selbst. Oder wie Res Strehle schreibt: »Mehr noch als Zürich war St. Gallen die schweizerisch-konkordante Variante von 1968. Selten unversöhnlich antagonistisch, meist integrativ spätestens beim Billigfusel in der Spanischen Weinhalle. Links, aber lieb. Oder wie ich [Strehle] beim Austritt aus der Rekrutenschule qualifiziert wurde: ›Kritisch, aber anständig‹«. 29 Der »Rote Gallus« war nicht das einzige Blatt, das in St. Gallen im Umfeld der Neuen Linken herauskam. Als »Zeitung progressiver Mittelschüler St. Gallen« erschien »acid«, das 1969 an der Kantonsschule mit einem Verbot belegt wurde. 30 Neben einer Wandzeitung existierten dort <?page no="100"?> 1968 in St. Gallen 101 in jenen Jahren zum Beispiel die Blätter »GO«, »Schnorchel« oder »La Purge«. Die meist polemische Tonlage, in der »La Purge« gehalten war, ließ dieses Blatt zum Thema im kantonalen Parlament werden, und die Kantonsregierung beschloss 1974, den Beitrag für diese Schülerzeitung fortan zu streichen. 31 »Dann gibt’s nur eins: Sag NEIN! «: die Achtundsechziger und die Armee Im Januar 1971 beschlagnahmte das Untersuchungsrichteramt des Bezirks St. Gallen die sechs Wochen zuvor erschienenen und noch nicht verkauften Exemplare des »Roten Gallus« 32 in einer Wohnung an der Schwertgasse, wo sich das Redaktionskollektiv jeweils traf. Grund für diesen Eingriff war eine Seite im fraglichen »Roten Gallus«, die unter dem Titel »Dann gibt’s nur eins: Sag NEIN! « einen gekürzten und abgeänderten Text Wolfgang Borcherts wiedergab. Darin wird an Männer, Mädchen, Fabrikbesitzer, Forscher, Dichter, Pfarrer, Piloten, Richter und Mütter appelliert, alle Aufforderungen abzulehnen, sich in welcher Form auch immer an Krieg zu beteiligen. Den Text zierte neben dem Titel ein Panzer mit Schweizerkreuz. Das Untersuchungsrichteramt interpretierte den Text als Aufruf an den Betrachter, den schweizerischen Militärdienst zu verweigern. Das stelle als »Aufforderung und Verleitung zur Verletzung militärischer Dienstpflichten« ein »Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung« dar. 33 Unterstützt wurde das Untersuchungsrichteramt durch die eidgenössische Bundesanwaltschaft. Die Strafverfolgung erwies sich allerdings als beschwerlich, weil der inkriminierte Artikel wie der ganze »Rote Gallus« ja das »Resultat einer kollektiven schöpferischen Arbeit« darstellte. Jene jungen Männer, die sich als Mitglieder des Kollektivs eruieren ließen, standen zwar zur Mitverantwortung an diesem Text, bekannten sich aber allesamt nicht als alleinige Autoren. Hingegen benutzten sie die willkommene Gelegenheit, die Strafuntersuchung wegen eines frei nach Borchert verfassten Artikels propagandistisch auszuwerten. Das Untersuchungsrichteramt beschränkte sich schließlich darauf, drei Personen zur Verantwortung zu ziehen, 34 die vom Bezirksgericht zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Der langjährige sozialdemokratische Basler Nationalrat Andreas Gerwig, der die Angeklagten juristisch vertrat, zog das Urteil durch alle Instanzen bis vor das Bundesgericht weiter, ohne jedoch eine Aufhebung der Buße erwirken zu können. Zu deren Bezahlung steuerte der deutsche Kabarettist Hanns Dieter Hüsch, der damals in St. Gallen gastierte, seine Gage bei. 35 <?page no="101"?> 102 Marcel Mayer Die Angriffe der 68er-Blätter gegen die Armee und das Soldatendasein waren häufig und heftig. So publizierte der »Rote Gallus« unmittelbar unter dem erwähnten »Borchert«-Text den Artikel »Der Kriegsdienstverweigerermensch«, der in surrealistischer Weise die Militärgerichtsbarkeit aufs Korn nahm. Mit ihren Schriften gegen die Armee wandte sich die Neue Linke gezielt gegen jene gesellschaftliche Elite, die führende Stellungen in Politik, Wirtschaft und Milizarmee in sich vereinigte. Überhaupt war das als »heilige Kuh« geltende Militär, dem nicht nur im bürgerlichen Lager, sondern bis weit in sozialdemokratische Kreise hinein eine überragende Bedeutung zugemessen wurde, ein Lieblingsfeind der Schweizer Achtundsechziger. Dies ist umso verständlicher, als es sich bei ihnen großenteils um Männer um die 20 Jahre handelte, die die obligatorische 17-wöchige Rekrutenschule und jährlich dreiwöchige militärische Wiederholungskurse leisten mussten. Einen Zivildienst gab es damals in der Schweiz noch nicht, Militärdienstverweigerung wurde mit Gefängnis bestraft. Die »Aktion Rotes Herz«: ein Sankt-Galler Beitrag zur sexuellen Befreiung? Obwohl »1968« in St. Gallen von einer gewissen lokalen Harmlosigkeit blieb, so brachten es dennoch Ereignisse, die unter dem Schlagwort »Aktion Rotes Herz« bekannt wurden, zu nationaler Aufmerksamkeit. Vor Weihnachten 1969 gab die Rektoratskommission der Kantonsschule den Eltern eines Schülers und einer Schülerin, welche dort dieselbe Klasse besuchten und eine sexuelle Beziehung miteinander unterhielten, den dringenden Rat, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Neben dem aktuellen gab es in der betreffenden Klasse auch einen ehemaligen Freund jener Schülerin; er erhielt das so genannte »Ultimatum«, welches die stärkste Maß- Wie anderswo politisierte der Vietnamkrieg auch in St. Gallen viele Jugendliche. Hier kursierte z.B. dieses Flugblatt mit einem strahlenden Richard Nixon (Präsident der USA 1969-1974), der ein Foto mit vietnamesischen Kriegsopfern zeigt (Privatbesitz). <?page no="102"?> 1968 in St. Gallen 103 regelung vor dem Schulausschluss darstellte. Gegen »diese puritanische Vorgangsweise und die autoritäre Anmaßung der Schulleitung, sich in solch tiefgreifender Art in die Privatsphäre zweier fast volljähriger Menschen einzumischen« 36 , begehrten eine Schülerin und acht Schüler der Kantonsschule auf und lancierten mit einem folgenreichen Flugblatt vom 5. Januar 1970 die »Aktion Rotes Herz«. Darin forderten sie »eine offene Diskussion der Schulleitung mit der Schülerschaft über die herrschende Moral« und äußerten die Überzeugung, dass auch einem Schüler eine persönliche In- Flugblatt der »Aktion Rotes Herz« vom 5. Januar 1970 (Privatbesitz). <?page no="103"?> 104 Marcel Mayer timsphäre zukomme, die die Schule nichts angehe. Wer diese Meinung teile, solle den Protestknopf der Aktion tragen sowie auf jedes Klausurenblatt und auf die Wandtafeln ein rotes Herz malen. 37 Weil das Flugblatt die Angelegenheit in der Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte, reagierte der Rektor der Kantonsschule mit einem Brief an die Eltern der ganzen Schülerschaft. Darin gestand er zu, »dass intime Beziehungen auf der Oberstufe der Mittelschule nicht erst heutzutage vorkommen«, dass der vorliegende Fall aber »durch seine Mischung aus Verlogenheit und sittlicher Haltlosigkeit« besonders niederschmetternd sei und dass sich die Schule für den »Schutz aller Anständigen« und für die Erhaltung eines Klimas einsetzen müsse, »das man moralisch als gesund bezeichnen kann«. 38 Die neun Unterzeichnenden des Flugblattes von Anfang Januar belegte die Schulleitung mit dem »Ultimatum«. Die emotional geführte Auseinandersetzung erregte schweizweit Interesse, und zahlreiche Presseerzeugnisse bis hin zur deutschen »Bild«-Zeitung berichteten davon im Sinne einer romantischen, aber von einem puritanischen Rektor verteufelten Liebesgeschichte. War die »Aktion Rotes Herz« zunächst eine Sache von Kantonsschülerinnen und -schülern gewesen, so solidarisierten sich mit ihnen im Verlaufe des Januar auch Studierende der Hochschule St. Gallen, die zu einem Teach-In aufforderten, sowie solche der Universität Zürich, die in einem offenen Brief die Bestrafung von Leuten anprangerten, deren Vergehen nur darin bestehe, sich gegen eine »heuchlerische, irrationale Sexualmoral« gewandt zu haben. 39 Der Erziehungsrat als kantonale Oberbehörde in Bildungsangelegenheiten ließ einen Untersuchungsbericht ausarbeiten. Darin ordnete er an, den Schulausschluss des Mädchens, dessen intime Beziehungen die ganzen Unruhen mit ausgelöst hatten, als übertriebene Strafe rückgängig zu machen. Die Wegweisung ihres Partners von der Kantonsschule hingegen bestätigte der Erziehungsrat, weil er mit seinen verschiedenen Liebschaften, u.a. mit zwei weiteren Mitschülerinnen, öffentlich geprahlt und entsprechende Aktfotos herumgereicht habe. Erschwerend kam hinzu, dass er Haschisch rauchte und an Klassenkameraden verteilte. Die »Ultimaten« der neun Unterzeichner des Flugblattes, mit dem die »Aktion Rotes Herz« ihren Anfang genommen hatte, wandelte der Erziehungsrat in die mildere Form von Verweisen um. 40 Die Unterdrückung der Sexualität Jugendlicher bildete in den noch zugänglichen Schriften, die im Umfeld der 68er-Bewegung in St. Gallen veröffentlicht wurden, verschiedentlich ein Thema. Mit der »Aktion Rotes Herz« bot sich - nicht zuletzt gefördert durch die harten Maßnahmen der Schulleitung - eine willkommene Gelegenheit, gegen die als verklemmt und heuchlerisch empfundene bürgerliche Sexualmoral aufzubegehren. Es galt, die Befreiung aus den von allerlei Autoritäten auferlegten Fesseln und <?page no="104"?> 1968 in St. Gallen 105 die Respektierung der Intimsphäre der Jugendlichen zu fordern. Dass die schweizerische Presse sich des Falles mit viel Sympathie für die betroffenen Schülerinnen und Schüler annahm, verlieh der Aktion eine unvorhersehbare Dynamik und den Sankt-Galler Achtundsechzigern eine sonst nie erreichte agitatorische Breitenwirkung. Damit provozierte sie eine Bevölkerung, der - im Vergleich mit andern größeren Schweizer Städten - der Ruf der Prüderie anhaftete. So spielte sich die »Aktion Rotes Herz« zu einer Zeit ab, als nach jahrelangem Seilziehen endlich die Geschlechtertrennung im städtischen Freibad auf Drei Weihern endgültig aufgehoben wurde. 41 Noch deutlicher widerspiegeln sich die starren Moralvorstellungen der damaligen Zeit in der Tatsache, dass der Kanton St. Gallen bis 1984 am Konkubinatsverbot festhielt, dem Verbot einer »Lebensgemeinschaft eines Paars unterschiedlichen Geschlechts ohne Eheschließung«. 42 Die Politik entdeckt »Jugendfragen« »Das Jugendproblem stellt an die Behörde zunehmend heiklere Aufgaben. Der vermehrte Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit führt zu Spannungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, die teilweise unangenehme Folgen auslösen«, stellte der Stadtrat im Frühling 1972 fest. 43 Unter den Verhandlungsgegenständen der städtischen Regierung und des Parlaments tauchen seit den späteren 1960er-Jahren »Jugendfragen« vermehrt auf, wie eine kursorische Durchsicht der Protokolle dieser Behörden nahelegt. Diese scheinen die Jugendlichen als gesellschaftliche Gruppe, die für die politische Diskussion von Belang war, neu wahrgenommen zu haben. Während die Jugendlichen zuvor hauptsächlich im Zusammenhang mit amtlichen Aufgaben wie Schule, Vormundschaft und dergleichen ein Thema gewesen waren, fanden ihre Anliegen und Probleme nun auch dann eine gewisse Beachtung, wenn sie nicht direkt die städtischen Institutionen betrafen. So forderte beispielsweise der konservativ-christlichsoziale Parlamentarier Josef Mätzler den Stadtrat im Jahr 1970 auf zu prüfen, »ob die heutige Jugendbetreuung in der Gemeinde den Verhältnissen noch genüge und die vielschichtigen Probleme zu lösen vermöge«. 44 In einem etwas kulturpessimistisch anmutenden Votum zählte Mätzler zahlreiche Gründe auf, warum die Stadt in der Jugendbetreuung mehr und Neues tun müsse, und nannte dabei etwa den Wandel des Sozialgefüges der Industriegesellschaft und der Strukturen des Familienlebens, die mangelnde Erziehungsfähigkeit vieler Eltern, die wachsende Schutzlosigkeit vor Umwelteinflüssen, das Übermaß an äußeren Reizen, die innere Labilität der Jugendlichen sowie deren frühere körperliche Entwicklung bei verzögerter »charakterlich-seelische[r] Reifung«. 45 Das Parlament erklärte den Vorstoß seines Mitglieds für erheblich, was bedeutete, dass der Stadtrat die Sache prüfen und darüber Bericht erstatten musste. <?page no="105"?> 106 Marcel Mayer Zu den damals bereits bestehenden Institutionen gehörte das 1966 gegründete Jugendhaus. Obwohl der private Verein Pro Jugendhaus die Trägerschaft dieses in der Altstadt gelegenen Treffpunkts bildete, wurde dieser von der Stadt erheblich unterstützt, indem sie den Betrieb größtenteils finanzierte und über die Verwaltung der Sozialen Dienste auch fachliche Hilfe leistete. 46 Im Herbst 1970 debattierte der Stadtrat über eine Erhöhung der Subvention für das Jugendhaus, das eine sehr gute Frequenz aufweise. Dabei stellte er fest, dass es »zum großen Teil gefährdete und schwierige Jugendliche« seien, die sich hier treffen, dass sich aber der Jugendhausleiter bemühe, sie »durch aktuelle Veranstaltungen belehrender und unterhaltender Art« zu gewinnen und durch persönliche Kontakte »zum Guten zu beeinflussen«. 47 Dennoch verlangte ein halbes Jahr später Franz Jaeger, der für den Landesring der Unabhängigen sowohl im städtischen als auch im eidgenössischen Parlament politisierte, dass sich der Stadtrat im Zusammenhang mit einer neuen Jugendhauskonzeption vermehrt »der Probleme sozial desintegrierter Jugendlicher«, aber auch der Anliegen jener Mehrheit junger Leute annehmen solle, »deren Ansprüche und Bedürfnisse nicht durch organisierte und teils extrem ideologisierte Gruppen verfochten würden«. 48 Offenbar befürchtete Jaeger, dass eine kleine Gruppe unangepasster Jugendlicher dank lauter Forderungen aus linken Kreisen die städtische Infrastruktur für junge Leute ganz für sich vereinnahmen könnte. Sorgen bereitete den Behörden mit der Zeit allerdings weniger die politische Ausrichtung der Jugendlichen als vielmehr deren Umgang mit Drogen. Der Konsum von »Rauschgift« bildete seit 1970, als sich die Vormundschaftsbehörde erstmals damit konfrontiert sah, 49 einen wichtigen Bestandteil der Debatte über Jugendprobleme und dominierte dieselbe je länger desto mehr. Im Frühling 1971 ging der Stadtrat davon aus, »die weltweite Rauschmittelsucht« sei »seit mehreren Monaten […] auch bei Jugendlichen in der Stadt St. Gallen in ein akutes Stadium getreten«. 50 Betroffen davon seien gemäß einer vermuteten Dunkelziffer bis gegen 2.000 Personen. 51 In der öffentlichen Debatte wurden die Jugendfragen immer mehr von der tristen Realität der Drogenabhängigkeit überschattet. Das mag ein Indiz dafür sein, dass die Kernanliegen der Achtundsechziger, »eine radikale Kritik an der modernen Gesellschaft, ihrem Wirtschaftssystem und an traditionellen Autoritäten«, 52 unter den Jugendlichen zunehmend an Attraktivität verloren und einem Rückzug in die individuelle Befindlichkeit Platz machten. Zudem bildeten die Heranwachsenden, die etwas jünger waren als die Achtundsechziger, eine Generation, die als erste seit Jahrzehnten vor unsicheren und eher düsteren Zukunftsaussichten stand und sich deshalb wohl auch zu einer größeren Anpassung ans »Establishment« gezwungen sah. Revolutionäre Parolen fanden in diesem Umfeld nur mehr wenig Widerhall. <?page no="106"?> 1968 in St. Gallen 107 Anmerkungen 1 Das Statistische Jahrbuch der Stadt St. Gallen, 1970, S. 100, gibt die Zahlen aus der Eidgenössischen Betriebszählung von 1965 wieder. In den genannten 13 Prozent sind die Wirtschaftsbranchen »Textilindustrie« sowie »Kleider, Wäsche, Schuhe« berücksichtigt, nicht aber der Textilhandel, der in dieser Statistik nicht speziell ausgewiesen wird. 2 St. Galler Tagblatt, 17. August 1966, Abendblatt. 3 Vgl. Resultate in den Stadtratsprotokollen: Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 117, Nr. 5109, 5181; 5/ 2/ 133, Nr. 5051; 5/ 2/ 156, Nr. 5293; 5/ 2/ 180, Nr. 4337. 4 Vgl. Resultate in den Stadtratsprotokollen: Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 117, Nr. 5040; 5/ 2/ 133, Nr. 4986; 5/ 2/ 156, Nr. 5228; 5/ 2/ 180, Nr. 4267A. 5 Max Imboden: Helvetisches Malaise, Zürich 1964 (Polis, Evangelische Zeitbuchreihe, Bd.-20). 6 Ebenda, S. 5. 7 Statistisches Jahrbuch der Stadt St. Gallen, 1968/ 69, S. 29, 36. 8 Gemeinderatsprotokoll, 19.01.1965 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 1/ 16, Nr. 15). 9 Ebenda. 10 Gemeinderatsprotokoll, 23.03.1965 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 1/ 16, Nr. 40). 11 Ebenda. 12 Ebenda. 13 Bernhard Degen: Progressive Organisationen (POCH), in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 10, Basel 2011, S. 5. 14 Rechtfertigung der PAS (Progressive Aktion St. Gallen der Lehrlinge, Mittelschüler und Studenten) vor dem St. Galler Jugendparlament, undat., Hektografie in Privatbesitz. 15 Ebenda. 16 Manifest zum 1. Mai 1969 der Progressiven Aktion St. Gallen (PAS), Hektografie in Privatbesitz. 17 Res Strehle: 68, aber lieb, in: Das Magazin, Nr. 12, 2008, S. 16-25. 18 Ebenda, S. 20. 19 Ebenda. 20 Protokoll des Stadtrats, 15.04.1969 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 135, Nr. 451). 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 Roter Gallus, [Nov. 1970]. 24 Roter Gallus, 03.02.1971, S. 3-7. 25 Die Ostschweiz, 11.07.1970. 26 Roter Gallus, [Nov. 1970]. 27 Roter Gallus, 03.02.1971, S. 8-9. 28 Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008, passim. 29 Res Strehle: 68, aber lieb, in: Das Magazin, Nr. 12, 2008, S. 25. - Wie sich die Verhältnisse im größeren Zürich gestalteten vgl. in: Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, hg. von Erika Hebeisen, Elisabeth Joris und Angela Zimmermann, Baden 2008. 30 Max Lemmenmeier: Konsumgesellschaft und politische Stabilität, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 8, St. Gallen 2003, S. 57. 31 Daniel Baumann: Kaleidoskop 1856-2006, in: Die Kantonsschule am Burggraben St. Gallen 1856-2006, St. Gallen 2006, S. 91-92, 102, 105-107. 32 Roter Gallus, [Nov. 1970]. 33 Überweisungsverfügung des Untersuchungsrichteramts des Bezirkes St. Gallen an den Präsidenten des Bezirksgerichtes St. Gallen vom 17.08.1971, Kopie aus Privatbesitz. 34 Ebenda. 35 Freundliche Mitteilung von Chris Schmid, St. Gallen (07.10.2009). <?page no="107"?> 108 Marcel Mayer 36 Flugblatt »Aktion Rotes Herz« vom 05.01.1970, Exemplar aus Privatbesitz. Nach damaligem Recht wurde die Volljährigkeit mit dem vollendeten 20. Altersjahr erreicht. 37 Ebenda. 38 Daniel Baumann: Kaleidoskop 1856-2006, in: Die Kantonsschule am Burggraben St. Gallen 1856-2006, St. Gallen 2006, S. 95. Vgl. auch Max Lemmenmeier: Konsumgesellschaft und politische Stabilität, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 8, St. Gallen 2003, S. 55. 39 Berichtigung zum TEACH-IN des Solidarisierungskomitees der Aktion »Rotes Herz«, 14.01.1970. - Offener Brief von Studenten der Universität Zürich und ehemaligen Kantonsschülern St. Gallen an den Rektor der Kantonsschule St. Gallen, 14.01.1970. - Beide Dokumente in Privatbesitz. 40 Daniel Baumann: Kaleidoskop 1856-2006, in: Die Kantonsschule am Burggraben St. Gallen 1856-2006, St. Gallen 2006, S. 97-98. 41 Im Jahr 1971. Gitta Hassler: Strenge Badeordnung und wilde Tarzan-Bande, in: St. Galler Tagblatt, 25.09.1995. 42 Anne-Lise Head-König: Konkubinat, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 372. Vgl. auch Max Lemmenmeier: Konsumgesellschaft und politische Stabilität, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 8, St. Gallen 2003, S. 54. 43 Protokoll des Stadtrats, 11.04.1972 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 153, Nr. 4441). 44 Protokoll des Gemeinderats, 15.09.1970 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 1/ 17, Nr. 332). 45 Ebenda. 46 Geschäftsbericht des Stadtrats über das Amtsjahr 1969 (Stadtarchiv St. Gallen, AA/ 1, 1969, S. 26). 47 Protokoll des Stadtrats, 28.09.1970 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 144, Nr. 2343). 48 Protokoll des Gemeinderats, 30.03.1971 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 1/ 17, Nr. 477). 49 Geschäftsbericht des Stadtrats über das Amtsjahr 1970 (Stadtarchiv St. Gallen, AA/ 1, 1970, S. 29). 50 Protokoll des Stadtrats, 20.04.1971 (Stadtarchiv St. Gallen, 5/ 2/ 147, Nr. 3209). 51 Ebenda. 52 Jugendunruhen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 844. <?page no="108"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 1968 in Liechtenstein j üRGen S chRemSeR Rathaussaal Vaduz, Ostermontag 15. April 1968. Unterhaltungsabend der Pfadfinderschaft Vaduz. Auf der Bühne agieren die beiden jungen Männer Kurt Quaderer (22) und Josef Biedermann als die Herren »Schwarz« und »Rot« in schwarzem bzw. rotem Skileibchen. Sie nehmen gerade die beiden traditionellen Volksparteien auf die Schippe. Im Jahrzehnt der 1960er regieren - ohne Unterbrechung seit 1928 - die »Schwarzen« von der Fortschrittlichen Bürgerpartei (FBP), seit 1938 in einer Koalition mit den »Roten« von der Vaterländischen Union (VU). »Schwarzer« Regierungschef ist seit 1962 Gerard Batliner, stellvertretender Regierungschef und »roter« Gegenspieler ist Alfred (»Freddy«) Hilbe. Der Sketch parodiert das Koalitionspärchen mit den Requisiten einer internationalen Protestkultur. Die beiden Darsteller erscheinen mit dem Transparent »Wir fordern Meinungsfreiheit« und richten dem Ansager des Abends im Dialekt aus, dass jetzt Schluss sei mit »eure programmiarta freia Mänig«. Auf den spiegelverkehrt angebrachten Protestknöpfen der beiden Laiendarsteller steht: »I like Gerard« (Herr Rot) und »Freddy for ever« (Herr Schwarz). 1 Solche und andere Szenen einer Jugend auf dem Lande sind im Zuge des vorliegenden Forschungsbeitrags zu Tage gefördert worden. Sie blieben bisher der persönlichen, allenfalls der durch Vereine gepflegten Erinnerung vorbehalten. Kultur- und mentalitätshistorischer Forschungsgegenstand ist die Phase der 1960er in Liechtenstein bislang noch kaum. Erst recht ist die Erkundung der kulturellen Veränderungen unter dem Stichwort »1968« für Liechtenstein Neuland. Sowohl für das öffentliche kulturelle Gedächtnis des Landes als auch für die historische Forschung. Nach wie vor dominiert bei der öffentlichen und wissenschaftlichen Erzählung der liechtensteinischen Entwicklung nach 1945 die Perspektive des ökonomisch beschleunigten Strukturwandels. 2 Vereinzelte politik-, rechts- und institutionengeschichtliche Studien zeigen seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts allerdings andere Möglichkeiten der Erinnerung und Erzählung der liechtensteinischen Nachkriegsjahrzehnte. 3 An diese Einzelstudien konnte ich zum Thema »1968« anschließen; insbesondere an Veronika Marxers Erzählung der liechtensteinischen Bewegung für ein Frauenstimmrecht 1994 4 . Der Gesichtspunkt »1968« - sofern damit eben nicht nur die Hoch- Zeit der internationalen jugendlichen Protestbewegungen, sondern auch deren Vorgeschichte, kulturelle Symptomatik und Ausstrahlung umfasst <?page no="109"?> 110 Jürgen Schremser ist - scheint mir eine gute Möglichkeit, am Beispiel Liechtensteins die Veränderungen einer bäuerlich und katholisch geprägten Gesellschaft als konflikthafte Mentalitätsgeschichte in den Blick zu nehmen. Dies sowohl entlang der Chronik institutioneller Reformen und öffentlicher Ereignisse als auch in den weniger auffälligen und erforschungsbedürftigen Verschiebungen von Ausdrucksformen und Modernitätsaneignungen in den lokalen Milieus und Binnenöffentlichkeiten. Ich nähere mich der Thematik des kulturellen Wandels am Beispiel Liechtenstein in einer ersten Studie, in der Quellenbereiche und mögliche Fragestellungen erkundet werden und zu weiterer Erforschung angeregt wird. Für die Darlegung im gegenständlichen Aufsatz, der auf einem Manuskript gleichen Titels für die Konstanzer Tagung »Die ›andere‹ Provinz« vom 15. bis 17. März 2011 beruht, wurde der folgende Aufbau gewählt: Um den kulturellen Aufbruch seit den späten 1960er Jahren in seiner regionalen Ausprägung und in seiner Bedeutung für ein interregionales Selbstverständnis zu diskutieren, werde ich zunächst in aller Kürze auf die Besonderheiten der liechtensteinischen »Provinz« als Anknüpfungspunkt für historische Regional-Vergleiche eingehen. Im Anschluss daran werde ich im Sinne eines Forschungszwischenberichts meine drei Untersuchungsperspektiven zum Gegenstandsbereich Kulturgeschichte Liechtensteins während der 1960er Jahre skizzieren, erste Erkenntnisse in diesen Bereichen umreißen und Hinweise auf die Quellenlage geben. Abschließend möchte ich ein erstes kultur- und mentalitätshistorisches Resümee ziehen. Gegenstand »nationalstaatliche Provinz Liechtenstein« Am Beispiel Liechtenstein lässt sich gut zeigen, dass nicht nur die Erwartung eines typischen »cultural lag«, eines verzögerten regionalen Nachvollzugs städtischer Entwicklungen, für die Beschreibung der kulturellen Situation in einer deutschsprachigen »Provinz« der 1960er Jahre zu kurz greift: Wieso sollte etwa ein universitär geprägter Protest als Modell taugen für Konfliktlinien in einem Land ohne Universitäten und ohne eine geschichtsmächtige bürgerlich-liberale Tradition? Im Fall Liechtenstein müssen auch die Vorstellungen von »Provinz« und kultureller »Peripherie« verfeinert werden. Hinsichtlich der Einbettung des Landes in übergreifende Entwicklungen können dabei zwei besondere Umstände im Vergleich zu anderen ländlichen Regionen in Rechnung gestellt werden. Einerseits: Der ländliche Kleinstaat der ersten Nachkriegsjahrzehnte - wir sprechen von 160 km 2 und um 1968 von rund 21.000 EinwohnerInnen 5 - ist ein politisch-rechtlich integriertes nationales Wirtschaftsgebiet <?page no="110"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 111 mit einem beachtlichen Tempo und Durchsetzungsgrad der ökonomischtechnischen Modernisierung; in einzelnen Eckdaten des Strukturwandels, etwa bei der Automobilisierung, der Industrialisierung oder dem BIP übertrifft das liechtensteinische Wachstum in den 1950er bis 1970er Jahren die Vergleichsdaten des Zollvertragspartners Schweiz 6 und die des wichtigen Außenhandelspartners BRD 7 . Auch die kommunikative Infrastruktur und die mediale Versorgung des Landes ziehen mit der internationalen Einbettung der Finanzdienstleistungen und der Industrie mit. 8 Zugleich ist mit der liechtensteinischen Staatlichkeit auf kleinstem Raum eine zentrale institutionelle Aktionsebene mit ins unmittelbar nachgeordnete kommunale Geschehen geschoben. Liechtenstein ist ein Staat der Gemeinden, die einzige nachgeordnete föderative und administrative Struktur, was im Unterschied zu vergleichbaren ländlichen Regionen (etwa Vorarlberg, Sankt Galler Rheintal) viel unmittelbarer Agenden der zentralen Gesetzgebung und Maßnahmenplanung sowie außenpolitische Repräsentationsbedürfnisse und Vernetzungen ins Dorfleben, vor allem jenes des Hauptortes Vaduz, einführt. Andererseits ist die liechtensteinische Modernisierung bis heute von spezifischen Trägheitsmomenten und Verzögerungen in der öffentlichen Kultur und Machtverteilung des Landes geprägt. Der Nationalstaat Liechtenstein ist in den 1960er Jahren noch ein Land der Dörfer, das zugleich auf Städte in der Nachbarschaft als Ausbildungs- und Handelsadressen angewiesen ist, diese aber auch als kulturelle Schauplätze für andere Lebensentwürfe und Selbsterfahrungen wahrnimmt. Hier dürfte etwa die Universitäts- und Bankenstadt Zürich im Zuge der 1960er Jahre an Bedeutung gewonnen haben. Die öffentliche politische Kultur des Fürstentums hatte sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit der Gründung zweier Parteien 9 und dank einer Orientierung an der Schweizer Direktdemokratie 10 als demokratisches Brauchtum allmählich etabliert. Es ist die politische Praxis einer mündlich-mundartlichen Kultur des lokalen Rufs und Verrufs, die über die längste Zeit ihrer Staatlichkeit der zentralen Organisation eines schriftkulturellen Gedächtnisses entbehrte 11 . Der Spielraum der parteipolitischen Auseinandersetzung ist mit der seit 1939 auf Dauer gestellten Machtteilung zweier sich weltanschaulich nahestehender Volksparteien auf ein demokratisches Minimum gesetzt. Patrilineare und männerbündische Clanstrukturen bestimmten lokale Lebenschancen und den Aufbau der politischen Parteihierarchien. Der Fürst, zum Landesvater stilisiert, spiegelt als Oberhaupt seiner Dynastie noch einmal die väterlich geführte Sippe. 12 Bis weit in die Gegenwart wird mit der Verwandtschaftsauch die Parteizugehörigkeit tradiert. Die Geschlossenheit der liechtensteinischen Männergesellschaft zeigt sich am deutlichsten in der lang währenden Ausgrenzung von Frauen aus politi- <?page no="111"?> 112 Jürgen Schremser schen Teilhaberechten. Auf Landesebene bis 1984. 13 Die Langzeitwirkung einer katholisch-klerikalen Formung gesellschaftlicher Einstellungen ist etwa an der späten Einführung der Zivilehe 1974 14 ablesbar oder an der katholischen Ausrichtung des öffentlichen Schulwesens bis 1971 15 . Beides - die politische Ausgrenzung von Frauen und die kirchliche Aufsicht über das öffentliche Schulsystem - werden in den 1960er Jahren zu Gegenständen öffentlicher Diskussion und politischer Reform. Der eben geschilderte Befund kennzeichnet die widersprüchliche ökonomische und kulturelle Ausgangslage, das Wohlfahrts- und Sittenbild der liechtensteinischen nationalstaatlichen Provinz. Vor diesem Hintergrund können die lokale Rezeption und die Auswirkung der kulturellen Aufbrüche seit den 1960er Jahren thematisiert werden. Drei Untersuchungsperspektiven In einer ersten Erkundung von Literatur und von schriftlichen und mündlichen Quellen zum Verlauf und zum persönlichen Erleben der 1960er Jahre haben sich drei Untersuchungszugänge für die Dokumentation lokaler Veränderungen als ergiebig erwiesen: 1) Vorgänge und Ereignisse im öffentlichen Wahrnehmungsbereich institutioneller und gesetzgeberischer Reformen, bildungssowie kulturpolitischer Neugründungen und Initiativen. 2) Zwei Erinnerungsorte des kulturellen Gedächtnisses in Liechtenstein, die als durchaus gewollte und augenfällige Brüche mit kulturellen Gewohnheiten gedeutet werden. 3) Veränderungen der lokalen »Jugendszenen«, so wie sie sich in einer Vielfalt der Schauplätze und Äußerungsweisen in den Quellen darstellen. 1) Ein Jahrzehnt der Reformen In der ersten Untersuchungsperspektive werden Modernisierungsvorgänge rückblickend im institutionell-rechtlichen Gefüge und in öffentlich diskutierten Reformvorhaben nachvollziehbar, aber auch in der wachsenden Sichtbarkeit zeitgenössischer Kunst. Das Jahrzehnt der 1960er Jahre ist in Liechtenstein durch eine enorme kultur- und bildungspolitische Ausdifferenzierung der lokalen Gesellschaft geprägt. In keinem Jahrzehnt der neueren Geschichte Liechtensteins sind so viele Bildungsinitiativen und Schulgründungen lanciert und letztlich auch institutionell festgeschrieben worden wie im Zeitraum 1961 bis 1971. 16 Das zentrale Projekt für den Wandel des öffentlichen Bildungssystems Liechtensteins war die langjährige umfassende Reform des katholisch-klerikal geprägten Schulgesetzes von 1929. Die Schulge- <?page no="112"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 113 setztotalrevision war ein regelrechter Säkularisierungsschub 17 - nicht nur hinsichtlich der Eingrenzung des kirchlichen Einflusses auf Inhalte und Organe der Schulbildung, sondern auch in Bezug auf eine entschiedene, mit der Reform ausdrücklicher gewordene Öffnung des Landes zu einer »Bildungsgesellschaft« 18 . Dieser Zugang war in den 1950er Jahren und einer damals geschürten Angst vor einer »Akademikerschwemme« 19 noch keineswegs selbstverständlich. Durchaus im Trend der Zeit, wenn auch im europäischen Maßstab historisch unglaublich verzögert, ist der Beginn des liechtensteinischen »Civil Rights Movements«, der zunächst vergebliche Kampf um die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Auch wenn die formellen politischen Rechte für alle BürgerInnen auf Gemeindeebene erst ab 1976 20 , auf Landesebene erst 1984 eingeführt wurden, so fällt auf, dass die Betonung bzw. das Pathos der politischen Horizontale, der Egalité und der Partizipation im Zuge der 1960er auch die liechtensteinische Gesellschaft erfasst: Im 1965 gegründeten liechtensteinischen Jugendparlament, einer öffentlich wahrgenommenen staatsbürgerlichen Trockenübung für Heranwachsende 21 , sind Frauen und Männer vertreten. 1967 setzte das Paraparlament einen symbolischen Akt und beschloss die Einführung des Frauenstimmrechts. 22 Auch die Ausarbeitung und öffentliche Diskussion der liechtensteinischen Schulreform betonte - in zustimmender Bezugnahme auf Schulreformen und integrative Schultypen in Europa - die »Demokratisierung« des Bildungswesens und die Durchsetzung der sozialen und geschlechterbezogenen »Chancengleichheit« 23 . Eine der größten politischen Kundgebungen in der neueren Geschichte Liechtensteins mit gegen 2.500 Beteiligten galt einem Bekenntnis zum demokratischen Fortschritt. Liechtensteinische Akademiker- und Jugendorganisationen, von der Regierungspartei FBP und dem Fürstenhaus unterstützt, riefen nach dem Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR zu einer »Protest-Kundgebung« für die Freiheit der Tschechoslowakei auf. 24 Das öffentlich verlesene Protesttelegramm an die sowjetische Botschaft in Bern war - in Anbetracht des liechtensteinischen Antikommunismus - bemerkenswert formuliert: »Die liechtensteinische Bevölkerung erklärt sich solidarisch mit dem tschechoslowakischen Volk und seinen legalen Führern Dubček und Svoboda, deren freiheitliche und sozialistische Errungenschaften die Sowjetunion und ihre Mitläufer zerstört und damit den sozialistischen Fortschritt in der ganzen Welt in verbrecherischer Weise verraten haben.« 25 Schließlich sind die 1960er in Liechtenstein auch durch eine beginnende öffentliche Sichtbarkeit von und Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst und dem Medium Film geprägt. Einerseits werden erste größere Ausstellungen neuerer bildender Kunst veranstaltet 26 und eine <?page no="113"?> 114 Jürgen Schremser öffentliche Kunstsammlung und Kulturförderung gesetzlich und operativ eingeführt 27 . Andererseits fällt in publizierten Quellen, gerade auch in der laufenden Kulturberichterstattung der Parteitageszeitungen auf, wie intensiv und journalistisch großzügig in den 1960er Jahren die Vermittlung eines inhaltlichen und ästhetischen Verständnisses des Films als Leitmedium zur Verarbeitung von Zeitfragen betrieben wurde. 28 Unter den Vorzeichen des Jugendschutzes 29 und der Pflege des künstlerisch wertvollen Films begegnet einem bei der Lektüre von Tages- und Schülerzeitungen eine öffentliche und über Filmclubs betriebene Schule der Wahrnehmung. 2) Urbane Signale am Land: Protestkundgebung und Neubau des Gymnasiums In einer zweiten Untersuchungsperspektive zum kulturellen Wandel sind zwei Erinnerungsorte hervorzuheben: Es handelt sich einerseits um Protestkundgebungen im Februar und März 1971, getragen von jugendlichen BefürworterInnen des Frauenstimmrechts, nachdem dessen Einführung in einer Volksabstimmung abgelehnt worden war. Als zweiter Erinnerungsort ist der Neubau des Liechtensteinischen Gymnasiums [im Folgenden: LG, d.Verf.] bemerkenswert, vom Wettbewerb 1968 bis zum Bezug des Gebäudes im Jahr 1972. Wie gelangten diese beiden »Orte« ins gesellschaftliche Bewusstsein? Was machte ihre Wirkung und Nachwirkung als Merkpunkte in der lokalen politischen Kultur aus? An beiden Erinnerungsorten lassen sich sowohl in der Ereignisfolge als auch in ihrem Symbolgehalt Brüche mit kulturellen Gewohnheiten im Fürstentum Liechtenstein festmachen. Dabei waren sowohl die Protestkundgebungen für das Frauenstimmrecht als auch der Gymnasiums-Neubau bereits in ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung bedeutungs- und symbolgeladen. Dies freilich in unterschiedlicher Weise: Der Bruch mit Gewohntem im Falle der Protestkundgebungen von jungen Frauen am 28. Februar und von schulpflichtigen Jugendlichen am 5. März 1971 erscheint massiver. Einerseits entsprach das Mittel des »Sich-auf-der-Straße-Zeigens« 30 und das jugendliche Alter der Akteure nicht den eingespielten Regeln der parteipolitisch gelenkten Behandlung gesellschaftlicher Agenden in der Regie erwachsener Männer. Andererseits war der Umstand gewalttätiger Übergriffe von umstehenden, teils vermummten Frauenstimmrechtsgegnern auf die Teilnehmenden des Schüler-»Protestmarsches« vom 5. März 1971 ein in den lokalen und überregionalen Medien wahrgenommener Skandal. 31 Hier wurde eine größere, gesellschaftliche und kulturelle Dimension des Konflikts um die Frauengleichberechtigung merkbar. <?page no="114"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 115 Im Erleben der unmittelbar Beteiligten, insbesondere für die erste Generation der FrauenstimmrechtsaktivistInnen, gewannen die Proteste 1971 aufgrund der durch sie offenbar gewordenen gesellschaftlichen Gewalt die Qualität traumatischer Schlüsselereignisse. Über solche Vorgänge ließ sich die Geschichte patriarchaler und xenophober Verhaltensmuster in Liechtenstein analysieren. In der liechtensteinischen Geschichtsschreibung erfolgte dies zum ersten Mal durch die Historikerin und Frauenstimmrechtsaktivistin Veronika Marxer aus Anlass des 10jährigen Jubiläums des nationalen Frauenstimmrechts 1994. 32 Der Gewohnheitsbruch im Falle des Neubaus des »LG«, »Liechtensteins größtes Bauwerk für die Bildung« 33 , erscheint demgegenüber weniger spektakulär und zustimmungsfähiger. Es entsprach immerhin den Ambitionen der offiziellen zentralisierten Bildungspolitik, welche für die absehbaren und erwünschten höheren Absolventenzahlen aus der Gymnasialbildung den geeigneten modernen Schulbau plante. Im Wettbewerbsprojekt »Blume« von Ernst Gisel wurden die Modernisierungswünsche der politischen Entscheidungsträger und der Schulleitung in ein komplexes, städtisch anmutendes Raumprogramm 34 übersetzt. Das neue LG war anschauliche Modernität, die sich rasch als neues Imago für die Selbstdarstellung des Gymnasiums etablierte: Auf den Titelbildern der offiziellen Jahresschulberichte des LG seit 1968 35 setzt sich das Projekt »Blume« fest - vom Architekturmodell des ersten Wettbewerbsentwurfs bis zum entstehenden Gebäudekomplex. Auch nach Inbetriebnahme des neuen Schulzentrums wirkte dessen Architektur als ästhetisches Emblem und Lernmilieu nach, bleibt Anknüpfungspunkt für Kunsterziehung 36 , Jubiläumsbroschüren und nicht zuletzt spätere Erweiterungsbauten. Es war kein/ e Fachhistoriker/ in, sondern der Schweizer Architekturkritiker Benedikt Loderer, der den Neubau des Landesgymnasiums erstmals als kulturellen Bruch wertete. Loderer hat mit einer »Landwanderkarte« 1990 begonnen, liechtensteinische Bauten des 20. Jahrhunderts in ihrer kulturhistorischen Lesbarkeit ernst zu nehmen; als Zeichen bestimmter Haltungen und Veränderungen in der Wahrnehmung und Nutzung des lokalen Siedlungsraums. Zum LG-Neubau des Zürcher Architekten Ernst Gisel schreibt Loderer [Hervorhebungen durch den Verf.]: »Noch einmal anders liesse sich die Geschichte schildern, wenn man die unkorrekte Frage stellt: Was ist Liechtenstein? Eine Kette von Dörfern, eine Agglomeration, eine zeitgemässe Stadt? Die Schulhäuser geben auch hier eine Antwort. Bis zu Ernst Gisels Gymnasium reagieren sie in den Formen und Konzepten auf die Veränderungen der Gesellschaft, doch bleiben sie alle Dorfschönheiten. Das Gymnasium gehört zu einer <?page no="115"?> 116 Jürgen Schremser andern Ordnung, zur landesweiten, ja international-deutschsprachigen. Der Wechsel von den Marianern [dem Orden der Maristen-Schulbrüder als Schulleiter, d.Verf.] zu den staatlich beamteten Lehrpersonen ist mehr als eine Reform, es ist ein Bruch.« 37 Auch in der bildlichen Überlieferung sowohl des Neubauprojekts als auch des Protests von 1971 reflektiert der Bruch mit lokalen Traditionen. In den fotografischen Inszenierungen des LG-Neubaus wird eine bis da- Inbild von Modernität. Der LG-Neubau auf den Titelblättern der LG-Jahresberichte 1968- 1972. (Abbildungen: Archiv LG [Anm. d. Verf.: LG= Liechtensteinisches Gymnasium]) <?page no="116"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 117 hin so nicht besetzte und genutzte Möglichkeit einer urbaneren Öffentlichkeit am Land augenfällig. Während es sich beim LG um den noch menschenleeren, von ästhetisch selbstgenügsamer Architektur entworfenen Ort einer neuen internationalen Bildung handelt, holen die jugendlichen Citoyennes im Hippie-Look, die lässig aus dem Dach eines Citroën 2 CV ragen, den weltweit bevölkerten außerparlamentarischen Raum der Auseinandersetzung um Zukunftsprojekte ins dörfliche Vaduz. 3) A New Kind of Generation 38 : Liechtensteinische Jugend-Szenen der 1960er In einer dritten und letzten Untersuchungsperspektive können Veränderungen in den lokalen »Jugendszenen« Liechtensteins nachvollzogen werden. In dieser Richtung hat der Verfasser aufgrund zeitgenössischer Texte auch bei Mitwirkenden nachgefragt und die Möglichkeit einer auf Anfrage noch reichen mündlichen Überlieferung genutzt. Die Moderne von Unterhaltungsmusik, Mode und Massenmedien wurde in den 1950er Jahren und beginnenden 1960ern (auch) in Liechtenstein von kirchlichen und weltlichen Autoritäten als moralisches Problem im Erziehungsverhältnis zu Jugendlichen verhandelt, als Gefährdung des sittlichen Lebens, als »Irreleitung des Trieblebens« 39 , als Traditionsverlust und sogar als vernachlässigte Brauchtumspflege 40 . Solche Ratgeber-, Jugendwohlfahrts- und Ermahnungsdiskurse an und über die Jugend wer- Junge Citoyennes im 2 CV. Protest für das Frauenstimmrecht, Vaduz 5. März 1971. (Foto: Archiv LG) <?page no="117"?> 118 Jürgen Schremser den in den 1960er Jahren zusehends von mehreren öffentlichen Diskursen von Jugendlichen abgelöst. In diesen werden mediale, lebensstil- und konsumbezogene Modernisierungsphänomene sowohl inhaltlich neu bewertet als auch in eigenen künstlerischen und publizistischen SprecherInnen-Rollen verhandelt. Die neuen Stimmen finden sich in verstreuten schriftlichen Quellen öffentlicher wie privater Herkunft: in Zeitungsberichten zum örtlichen Jungmannschafts-Laientheater der Gemeinde Schellenberg 1948 bis 1968 41 , in Programmtexten der Pfadfinderunterhaltungsabende in Vaduz seit 1957 bis 1969 42 , in der Schülerzeitung »wir« des LG der Jahrgänge 1964 bis 1971 43 , in freien feuilletonistischen Tageszeitungsbeiträgen und in Auszügen aus den literarisch-politischen Bühnennummern des liechtensteinischen »Kabarett Kaktus« 1964 bis 1970. Ein erster Eindruck: Es kommt neuer Wein aus alten Schläuchen. Vor den Kulissen der Scheunen, Vereinshäuser und Dorflokale, von bildungsbeflissenen Priestern, von Junglehrern oder Redakteuren ermuntert und begleitet, üben sich Jugendliche in anderen Textsorten und Sprachspielen: diskursiv, englischsprachig und künstlerisch. Einige Schüler und Lehrlinge werden mit neu angeschafften E-Gitarren laut und treten als Beatbands in Lokalen und Schulhäusern auf oder begleiten Hochzeiten und Non-Stop-Tanzabende in Vereinshäusern 44 . Georg Kieber, ein junger freier Mitarbeiter bei der FBP-Parteizeitung »Liechtensteiner Volksblatt«, beginnt seinen Beitrag zum Generationenkonflikt im Januar 1968 45 mit der Wahrnehmung »harter Beatmusik«, die Die Lokalband »The Excerpt of Time« 1968 im Schaaner Vereinshaus. (Foto: Privatbesitz Johann Wanger) <?page no="118"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 119 aus einem »ehemaligen Kuh- und Schweinestall« dröhnt, zugleich Probenlokal und sprichwörtlicher Tanzschuppen für 14bis 17jährige Mädchen und Jungen. Kieber notiert: »Meinem Nachbarn schrie ich in die Ohren: ›Kann man diesen Lärm ertragen? ‹. Er schrie zurück: ›Ich möchte mein Ohr an die Tonboxe pressen! ‹« 46 Derselbe Scheunenbesucher kritisiert die traditionellen Jugendvereine als »Verschwörung der ›Braven‹ und ›Guten‹«. Ein anderer Jungredakteur, Norbert Jansen, sieht in der Beschreibung Liechtensteins in einer Südwestfunk-Dokumentation des Deutschen Fernsehens 1968 das Klischee vom Alpenländchen erfüllt und amüsiert sich darüber: »Und wie schockiert werden sie [die Touristen, d.Verf.] sein, wenn in den Lokalen statt Zither und Mundharmonika eine Beatband aufspielt.« 47 »Unsere Zeitung darf auf keinen Fall den Charakter einer Fastnachtszeitung annehmen«, postuliert der 16jährige Schülerzeitungs-Redakteur Michael Bermann in der ersten Nummer von »wir« 1964. Sein Nachfolger Hilmar Stetter, Internatsschüler am LG, aus Konstanz stammend, knüpft drei Jahre später, 1967, nicht weniger programmatisch an: »eine zeitung herausgeben bedeutet, sich zu engagieren […] wir wollen zeigen, dass wir auch am ernsten leben anteil nehmen.« 48 Stetter tippte sein Schüler-Editorial seit 1967 in jener kleinschrift, die in den 1960ern als Werbeschriftzug ebenso Verwendung fand wie in der konkreten poesie oder in Flugblättern während der Studentenproteste in Deutschland 1967/ 68. Stetter dazu: »jemand muss schliesslich einmal anfangen.« 49 Die Vaduzer Pfadfinderabende, seit den 1950er Jahren Bestandteil der Ortsunterhaltung, gewinnen in hochsprachlichen Kabaretttexten der 1960er Jahre zusehends an Sprachwitz und selbstironischer Schärfe. In der Nummer »Wir Liechtensteiner« von 1969 heißt es: »Wir sind Liechtensteiner! […] Wir haben die Demokratie/ Wir haben nicht wie in Russland nur eine Liste/ Wir haben zwei! / Wir haben nicht wie in Russland nur eine Partei/ Wir haben zwei! / Beide regieren/ Beide opponieren/ Also doch nur eine Partei […].« 50 Im selben Programm führte eine junge Gruppe politisch interessierter Pfadfinderinnen die Nummer »Die Frau im Laufgitter« nach einem Titel der Schweizer Frauenrechtlerin Iris von Roten auf. 51 Die liechtensteinischen »Jugendszenen« der 1960er waren gegenüber den Entwicklungen der internationalen Jugend- und Protestkultur sehr rezeptionsfreudig. Neben der täglichen Berichterstattung über die Vorgänge in den Tageszeitungen und elektronischen Massenmedien werden junge Studierende aus Liechtenstein zu teilnehmenden Beobachtern der Proteste in Deutschland 52 und berichten darüber, etwa auf Anfrage der gymnasialen Schülerzeitung 53 , als Korrespondenten-Beitrag in der Lokal- <?page no="119"?> 120 Jürgen Schremser presse 54 oder informell in ihrer lokalen Bezugsgruppe. Insbesondere im Milieu und Umfeld des einzigen Gymnasiums des Landes werden die Studentenproteste essentieller Anlass zur Vergewisserung der schulischen Erziehungsideale und - natürlich auch - zum dramatischen Vorzeichen des eigenen Studienbeginns. Ein Aufsatz-Thema der Deutsch-Matura im Frühjahr 1967 lautet: »Rebellion, Unruhe - Studentenpflicht? « 55 In der Schülerzeitung »wir« sind Protestaktionen an den ausländischen Universitäten und Schulen während der 1960er Jahre Stoff für die eigene politische Urteilsbildung 56 und für die Entwicklung lokaler Mitbestimmungsforderungen. Die ersten konkreten Konzepte der Schüler-Interessenvertretung werden Anfang der 1970er Jahre teilweise mit marxistischen Wendungen vorgetragen. »wir vertreten nicht die interessen der kapital besitzenden klassen« formulieren die Initiatoren der kurzlebigen Liechtensteinischen Studenten- und Schülergewerkschaft LSSG 57 im Frühjahr 1970. Ein Jahr später wurde am LG die Bildung einer Schülervertretung in Angriff genommen: »die stellung des schülers an unserem gymnasium befindet sich augenblicklich im zustande der arbeiterschaft zu zeiten von marx und engels, nämlich im anfangsstadium! « 58 Außerhalb der geschützten und organisierten Milieus der Schule, des Jugendvereins, der Lokalunterhaltung und Lokalpublizistik setzte sich der äußerliche Habitus einer Protest- und Popkultur im dörflichen Alltag mithin heftigen Aggressionen aus. Der Vaduzer Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, der 1966 in Deutschland zu studieren begonnen hatte, erinnert sich 1994 daran, was ihm als Student mit längeren Haaren und legerer Kleidung in einem Vaduzer Gastgarten Ende der 1960er widerfuhr: »Hier wurde ich zur Minorität, als einer, der ungewohnte Lebensformen nach Liechtenstein zu importieren drohte: als ausländischer Liechtensteiner in Liechtenstein. Was Hass ist, erfuhr ich hier, wo ich jeden kannte und jeder mich, in einem kleinen Dorf, in einem homogenen Raum, fern den Konflikten der Zeit: als einer an einem Sommernachmittag im Garten des Vaduzer-Hofs vom Nachbartisch aufstand, sein Messer aus dem Sack holte und sagte: ›Eu sött man alli vrschtecha, eu grusigi Saukoga‹.« 59 Resümee oder »Was könnte Liechtenstein sein? « Der Hass, der dem Studenten Rheinberger Ende der 1960er entgegenschlug, blieb in Liechtenstein virulent. Mit den Übergriffen gegen die jungen protestierenden FrauenstimmrechtsbefürworterInnen 1971 wurden Aggressionen, Ängste und niedrige Konfliktschwellen gegenüber dem <?page no="120"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 121 Anderen und Neuen in heimischer Gestalt auf die Ebene einer öffentlichen Auseinandersetzung gebracht. Eine Auseinandersetzung, die fortan im Innern der eigenen Gesellschaft geführt werden musste, und nicht mehr einfach als »ausländisch« ausgegrenzt oder ausgelagert werden konnte. Ausgelöst durch die Frauenstimmrechtsfrage entstand auch ein neuer, von Traditionskritik und Weltzugewandtheit bestimmter Bezugspunkt für die politische Sozialisation junger LiechtensteinerInnen der Jahrgänge nach 1950. Erst 1985 führte die in den 1960er Jahren eröffnete Auseinandersetzung um Frauenrechte, »Tiersmondismus« und Umweltschutz in Liechtenstein zur Formierung einer zunächst außerparlamentarischen politischen Oppositionsbewegung, der Freien Liste Liechtenstein. Wenn es neben dieser Langzeitwirkung der »Bürgerinnenrechtsbewegung« eine erkennbare mentalitätshistorische Folge der Modernisierungsschübe und -versuche der 1960er Jahre in Liechtenstein gibt, so würde ich diese an einer Virtualisierung des Landes festmachen. In der Aneignung des Neuen und Anderen am Ort, über ziviles Engagement, Konfliktsituationen und auslandserfahrenes Vergleichen entstand auch ein anderes Gefühl und Bewusstsein für die Zufälligkeit und Veränderlichkeit der lokalen »condition humaine«. In schriftlichen Quellen der 1960er und frühen 1970er Jahre artikulieren sich Vorstellungen über die eigenen Lebensmöglichkeiten in Liechtenstein, in denen das Land sowohl utopische als auch anachronistische Züge gewinnt: Liechtenstein gerät einerseits in die Fluchtlinien von Kleinstaatsmodellen oder wird zum fluchtartig verlassenen, hoffnungslos provinziellen Ort. Der anfangs so engagierte Schülerzeitungsmacher Hilmar Stetter schreibt in seinem Abschiedseditorial 1968: »Jeder kann doch seine meinung selbst in die hand nehmen, kann modern, kritisch und progressiv denken. Diese allgemeinheit habe ich gesucht und nicht gefunden. ›Wir‹ versank in der provinz, in der lethargie des unwichtigen alltags. Nicht die lösung von aussen, sondern eigene vorschläge sind wichtig und zählen.« 60 Nach den Potentialen im kleinen Raum fragte Ende der 1960er das lokale Establishment. Der 1970 abgewählte Regierungschef Gerard Batliner rief Anfang der 1970er Jahre zum »Nachdenken über Liechtenstein« 61 auf und initiierte mit der Reihe »Liechtenstein Politische Schriften« 1972 einen Patriotismus mit intellektuellen Mitteln. »Was bedeutet mir Liechtenstein? « und »Was könnte Liechtenstein sein? « titelten die Fragen an die AutorInnen von Band 3 der Schriftenreihe. Für das Land damals noch ungewöhnlich äußerten sich hier nicht nur politisch etablierte männliche Liechtensteiner, sondern auch Schüler, Ausländer und Frauen (! ). Für einige BeiträgerInnen hatte Liechtenstein in seiner unbewaffneten Kleinstaatlichkeit Modellcharakter, für andere <?page no="121"?> 122 Jürgen Schremser war der Befund des fehlenden Frauenstimmrechts ein Skandal, der die Legitimität des ganzen Systems berührte: »Diese letzten Abstimmungskatastrophen kann man beinahe als Absage an diesen Staat Liechtenstein interpretieren.« 62 Dass diese Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Lebensorts »Liechtenstein« nicht umgehend in Bezug auf die Zukunft des Landes, sondern im Zuge der 1960er Jahre vor allem und zunächst im Verhältnis zu eigenen Lebensentwürfen erfahrbarer und spürbarer geworden war, sollte als Forschungsfrage weiterverfolgt werden. So ließe sich etwa die auf Liechtenstein applizierte These: »Das Besondere, das uns von anderen unterscheidet wird wichtiger als das Gemeinsame, das uns durch die Herkunft vereint« 63 präziser auf historische Phasen beziehen, in denen manche die Gelegenheit erhielten, die Identitätsstiftung durch die liechtensteinische Herkunft in der Erfahrung anderer Lebenswirklichkeiten zu relativieren. Eindrücklich war mir in diesem Zusammenhang ein Interview, das ich mit dem Vaduzer Rechtsanwalt Peter Goop auf Grund des illustrierten Erlebnisberichts »I was in London« geführt habe, den der 18jährige Schüler Goop nach seinem Londoner Sprachaufenthalt im Sommer 1967 für die Schülerzeitung »wir« abgefasst und fotografiert hatte 64 . Goop beschreibt love-ins und Hippie-Hochzeiten in Londoner Parks, seine Spaziergänge durch »keller, hinterräume und dachgeschosse« der Carnaby Street und einen schweißtriefenden Clubauftritt der Band Animals mit einer Bühnenshow, in deren Verlauf »neger, polizisten, betrunkene und flötenspieler« die Szene betraten. Nach seinen damaligen London-Eindrücken gefragt, meinte Goop, dass es wie ein Film war, er aus dem Staunen und Schauen eigentlich nicht mehr herausgekommen sei. Nachdem er als behütetes Landkind im Sonntagsanzug vom Flughafen abgeholt worden sei, habe es noch einige Tage gedauert bis er einen Sticker mit der Aufschrift »open leg week« trug. 65 Damals in London, so Goop, wäre Liechtenstein für ihn verschwunden. Wenn er auf der Rückreise an der Landesgrenze »ein Loch« vorgefunden hätte, wäre er halt wieder nach London zurück. <?page no="122"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 123 Anmerkungen 1 Archiv der »Pfadfinderinnen und Pfadfinder Vaduz«, Vaduz: Pfadi Vaduz Unterhaltungsabend 1968 (Typoskript). Kurzbeleg: Archiv PPV. Siehe auch Pfadfinderinnen und Pfadfinder Vaduz (Hg.), 75 Jahre Pfadfinderinnen und Pfadfinder Vaduz 1932-2007, Vaduz 2007, S. 109. 2 So bei Christoph Maria Merki, Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert. Zürich 2007. 3 Z.B. Claudia Heeb-Fleck, Veronika Marxer, Die liechtensteinische Migrationspolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Interessen und internationaler Einbindung 1945-1981. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein Bd. 101, Vaduz 2002, S. 153-184. Kurzbeleg: JBL 101 (Band)/ 2002 ( Jahr). Wilfried Marxer, Zensur im Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein. Bestimmungen, Massnahmen, Einflüsse. In: JBL 104/ 2005, S. 137-174. Martina Sochin, »Bestünde diese Schule nicht, müsste sie geschaffen werden.« Die Höhere Töchterschule St. Elisabeth in Schaan von 1946-1973. In: JBL 107/ 2008, S. 1-70. 4 Veronika Marxer, Zur Einführung des Frauenstimmrechts in Liechtenstein. Ein Sittengemälde. In: Frauenprojekt Liechtenstein (Hg.): Inventur. Zur Situation der Frauen in Liechtenstein. Bern/ Dortmund 1994, S. 169-209. Kurzbeleg: Marxer: Sittengemälde. 5 Siehe Amt für Volkswirtschaft (Hg.), Statistisches Jahrbuch Fürstentum Liechtenstein 2006. Vaduz 2006. Kurzbeleg: Statistisches Jahrbuch 2006. 6 Die PkW-Dichte lag in Liechtenstein 1968 bei 230 Personenwagen auf 1000 Einwohner und 1970 bei 297/ 1000 Ew. Zum Vergleich: Der Motorisierungsgrad in Österreich lag 1970 bei ca. 159 PkW/ 1000 Ew. (Angaben Statistik Austria), die PkW-Dichte in der Schweiz lag in den 1970er Jahren unter 250 Personenwagen (Angaben Statistik Stadt Zürich, Info 1/ 2005 unter www.stadt-zuerich.ch). 7 Das Pro-Kopf-Einkommen (Sozialproduktgröße BIP durch Bevölkerung des Landes) umgerechnet in Schweizer Franken (nach Wechselkursen sfr.-DM 1960 bzw. 1970) lag in Liechtenstein 1960 bei nominal 8.179 sfr., in der BRD 1960 bei 5.655 sfr. Die Zahlen für 1970 beziffern sich auf 18.454 sfr. (FL) gegenüber 13.161 sfr. (BRD). Angaben: Statistisches Jahrbuch 2006, S. 124 bzw. Excel-Tabelle Statistisches Bundesamt. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Lange Reihen ab 1950. Wiesbaden 2010. 8 »In 1951 Liechtenstein became the first country in Europe to have a fully automated telephone system. Its modern telecommunication gave its banks and companies a head start when first the telex and later information technology were introduced.« Beattie, David: Liechtenstein. A Modern History. Triesen 2004, S. 139. 9 Dies sind 1918 die Fortschrittliche Bürgerpartei (FBP) sowie die Christlich-soziale Volkspartei, die ihrerseits 1936 mit der ständestaatlichen Bewegung Liechtensteiner Heimatdienst zur bis heute bestehenden Vaterländischen Union (VU) fusionierte. 10 Verfassungsrechtlich etabliert mit den plebiszitären Elementen der Landesverfassung vom 5. Oktober 1921. 11 Eine systematische nationale Schrifttums- und Aktensammlung begann in Liechtenstein mit der Bestellung des ersten Landesbibliothekars und zugleich Staatsarchivars Robert Allgäuer 1959 und der Inbetriebnahme der Liechtensteinischen Landesbibliothek 1961. 12 Zur Überhöhung des Fürsten als zentrale Figur der liechtensteinischen Geschichtsschreibung und »Landesvater«: Sascha Buchbinder, Matthias Weishaupt, Das Bild des Fürsten. Zur Problemstellung von Fürstenhaus und Staatskörper in der Geschichte des Fürstentums Liechtenstein. In: JBL 103/ 2004, S. 191-225. 13 Mit Volksabstimmung der männlichen wahlberechtigten Bevölkerung am 29. Juni/ 1. Juli 1984 wurde die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts angenommen. 14 LGBl. 1974 Nr. 20. <?page no="123"?> 124 Jürgen Schremser 15 Siehe dazu Art. 2 des bis 1971 geltenden Schulgesetzes LGBl. 1929 Nr. 13: »Der gesamte Schulunterricht richtet sich nach den Grundlagen katholischer Weltanschauung.« 16 Wilfried Oehry, Bildung. In: LGT Bank in Liechtenstein AG (Hg.): LieLex. Ein Nachschlagewerk zu Liechtenstein. Vaduz 1996, S. 20. 17 Siehe dazu: Graham Martin, A Microstate Reforms Its Educational System: Liechtenstein’s New Educational Act. In: International Review of Education/ Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Vol. 19, No. 3/ Sept. 1973, S. 396-405. 18 Leonhart Vogt, Unsere Zukunftsaufgaben im Bildungswesen. Schaan 1970. Darin: Warum brauchen wir eine Bildungsplanung? , S. 28-33. Kurzbeleg: Vogt: Bildungswesen. 19 Edmund Banzer, Eine Schulchronik der Jahre 1937-1987. In: Liechtensteinisches Gymnasium (Hg.): 50 Jahre Gymnasium in Liechtenstein. Vom Collegium Marianum zum Liechtensteinisches Gymnasium. Eine Festschrift. Vaduz 1987, S. 43-44. Kurzbeleg: Banzer: Gymnasium in Liechtenstein. 20 Mit Landtagsbeschluss vom 7. Juli 1976. Vaduz war 1976 die erste Gemeinde, in der das Frauenstimm- und wahlrecht eingeführt wurde. 21 Die offizielle Initiation in den Staatsbürgerverband erfolgte seit 1962 im Rahmen sogenannter »Jungbürgerfeiern«. Das politische Mündigkeitsalter lag bis 1969 bei 21 Jahren. 22 Marxer: Sittengemälde, S. 173. 23 Vgl. Vogt: Bildungswesen, S. 28 und S. 106ff. 24 Liechtensteiner Volksblatt (Kurzbeleg: Vobla), 23. August 1968 (Titelseite). 25 Vobla, 27. August 1968. 26 Wesentlich waren die von Robert Allgäuer und Martin Frommelt lancierte Ferdinand- Nigg-Ausstellung 1965, die erste Gemeinschaftsausstellung liechtensteinischer KünstlerInnen vom Juli 1967 sowie die von Robert Altmann organisierte Ausstellung »Das Buch als Kunst« im August 1968. 27 Mit gesetzlicher Errichtung des »Jugend- und Kulturbeirats« (LGBl. 1964 Nr. 31) und der Stiftung Pro Liechtenstein (LGBl. 1964 Nr. 32) sowie mit der Institutionalisierung einer Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung 1968 (LGBl. 1968 Nr. 22). 28 Vobla, 8. August 1967 (Titelseite), »Unser Mitarbeiterin Anochka von Heuer (Genf) berichtet über die Filmfestspiele in Locarno«. Vobla, 16. September 1967, »Filmprogramm der Woche - kritisch betrachtet«, u.a. über »Ekel« von Roman Polanski im Kino Vaduz. 29 1970 wurde die bis dahin praktizierte Filmzensur durch Einrichtung einer Filmberatungsstelle abgelöst. Siehe dazu: Kieber, Walter: Jahre des Aufbruchs. Politische Erinnerungen. Eggingen 2006, S. 90-91. 30 »Auch unsere Söhne und in zunehmendem Masse auch die Töchter wollen das, was sie denken und empfinden, auf eine andere Art zum Ausdruck bringen, als wir uns seit langem gewohnt sind. Eine dieser neuen Ausdrucksformen ist das ›Sich-auf-der-Strasse-zeigen‹, eben die Demonstration.« Alexander Frick, Landtagsabgeordneter (FBP) und Alterspräsident des Landtags, Landtagssitzung vom 31. März 1971. In: Landtagsprotokolle 1969-1971, Mikrofilm Liecht. Landesbibliothek FLMZ 10. 31 Marxer, Sittengemälde, S. 182-185. Tages-Anzeiger, 6. März 1971, Liechtensteiner Vaterland (Kurzbeleg: Vala), 9. März 1971. 32 S.o. Anm. 4 33 Banzer: Gymnasium in Liechtenstein, S.70. Vala, 16. Januar 1973. 34 Ernst Gisel: Die Schulanlage aus der Sicht des Architekten. In: Festschrift zur Einweihung des Schulzentrums Liechtensteinisches Gymnasium Realschule Vaduz. Vaduz 1973, S. 15- 41. 35 Liechtensteinisches Gymnasium Vaduz, Jahresbericht 1968/ 69. Vaduz Mai 1969. 36 Henry Quintern: Das Schulhaus als Motiv am Liechtensteinischen Gymnasium. Festschrift. Vaduz 1990. 37 In: Benedikt Loderer: Architekturführer Liechtenstein. Vaduz/ Zürich 2002, S. 13-14. <?page no="124"?> »I like Gerard« oder »Freddy for ever« 125 38 Das Time Magazine Vol. 89, No.1, 6. Januar 1967 erklärte die junge Frau und den jungen Mann von 25 Jahren oder darunter zum »Man Of The Year 1966«: »Predictably, they are a highly independent breed, and - to adult eyes - their independence has made them highly unpredictable. This is not just a new generation, but a new kind of generation.« Der junge Volksblatt-Mitarbeiter Georg Kieber nimmt in seinem Beitrag »Ist unsere heutige Jugend schlechter? « auf diese neue Qualität des Generationenwechsels Bezug. S.u. Anm. 45. 39 So im Wortlaut von Art. 27 des liechtensteinischen Jugendwohlfahrtsgesetzes vom 23. Dezember 1958 (LGBl. 1959 Nr. 8). Vgl. auch Ansprache des Priesters Johannes Tschuor an die liechtensteinische Pfadfinderjugend am 24. Mai 1958: »Viele Illustrierte sündigen nicht nur darob gegen euch, weil sie durch ihre Bebilderung eine Triebwelt wachrufen, die zu beherrschen ihr oft nur mit allerletzter Kraft lernt (…)«. Zitiert nach: Albrecht Dietrich Dieckhoff: Zur Rechtslage im derzeitigen Sittenstrafrecht. Hamburg 1958, S.-22. 40 Vobla, 15. Februar 1955. Über den Mangel an jugendlicher Beteiligung am Brauch des Funkenbrennens. Zitiert in: Reinhard Johler: Die Formierung eines Brauches. Der Funken- und Holepfannsonntag. (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien Bd. 19) Wien 2000, S. 191-192. 41 Jürgen Schremser: Was wird hier gespielt? - Zwei Exkurse zum Volkstheater in Liechtenstein. In: Ernst Halter, Buschi Luginbühl (Hg.): Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Zürich 2000, S. 209-216. 42 Archiv PPV: Unterhaltungsabende 1957-1969 (Typoskripte und handschriftliche Notizen). 43 »wir«. Schülerzeitung. Ausgaben Nr. 1/ 1964 bis Nr. 46/ 1975 (Liechtensteinische Landesbibliothek). 44 Notiz Karl Gassner 10. März 2002. Schriftliche und mündliche Mitteilung Johann Wanger 10. und 18. Februar 2010. Gassner wurde 1965, mit 15 Jahren, Mitglied der Schüler- und Lehrlingsband»The Four Cormycs«. Johann Wanger, wie Gassner Jahrgang 1950, war 1965-1968 Frontmann der »The Four Cormycs« bzw. der 1968 neu »The Excerpt of Time« getauften Band. 45 Georg Kieber: Ist unsere heutige Jugend schlechter? «, Vobla, 18. Januar 1968 (Titelseite). 46 Ebda. 47 Norbert Jansen, Eine Stunde von der Wahrheit. Idylle Alpenland Liechtenstein am deutschen Fernsehen (Südwestfunk). Vobla, 3. Januar 1968. 48 wir 18/ 1967. 49 wir 15/ 1967. 50 Archiv PPV: Unterhaltungsabend 1969 (Typoskript). 51 Vobla, 9. April 1969, Vaduz oder Schilda. Zum Unterhaltungsabend der Pfadfinderschaft. 52 Ein Beispiel: Der Volksblatt-Mitarbeiter und Pfadfinder Norbert Jansen war zu jener Zeit, als er den für diesen Beitrag titelgebenden Pfadfinder-Sketch schrieb, Student an der Deutschen Journalistenschule München. Die Protestaktionen gegen die Springer-Presse wurden dort debattiert und Jansen gestaltete als Praxisübung eine Doppelseite zum Protest in der Münchner Abendzeitung mit. Schriftliche Mitteilung Norbert Jansen, 17. September 2009. 53 Siehe »wir« 18/ 1967, editorial: »Auch von einem »Ehemaligen«, Norbert Haas erhielten wir aus Berlin, wo er studiert, einen bericht, leider etwas zu spät.« 54 Wolfgang Ratjen, stud.pol. in München: Schule und klares Weltbild. Keine Demonstranten unter den Maristenschülern? Vobla, 30. März 1968 (Titelseite). 55 LG Vaduz. Jahresbericht 1967/ 68, S. 21-22: Matura Deutsch. Themenvorschläge. 56 wir 20/ 1968: mit demonstranten leben. Zwei Kommentare zur deutschen Jugend-Protestbewegung von Hilmar Stetter und Dieter Hilti. 57 wir 27/ 1970. 58 wir 31/ 1971. <?page no="125"?> 126 Jürgen Schremser 59 »Euch sollte man alle abstechen, Euch widerwärtige Saukerle« [Übers. d. Verf.]. Hans- Jörg Rheinberger: Fremdenhass und Minoritäten (1994). In: Ders.: Von der Unendlichkeit der Ränder. Liechtenstein-Miszellen. Eggingen, 2008, S. 41. 60 »wir« 21/ 1968. 61 Gerard Batliner, Vorwort. In: Liechtenstein Politische Schriften Bd. 3. Beiträge zum liechtensteinischen Selbstverständnis. Vaduz 1973, S. 7. 62 Josef Biedermann, Was bedeutet mir Liechtenstein? In: Liechtenstein Politische Schriften Bd. 3. Beiträge zum liechtensteinischen Selbstverständnis. Vaduz 1973, S. 13. In einer weiteren Volksabstimmung vom 9./ 11. Februar 1973 war die Einführung des Frauenstimmrechts auf Verfassungsebene gescheitert. 63 Karin Frick, Von aussen betrachtet, verliert Liechtenstein seine Identität. In: Liechtenstein Politische Schriften Bd. 34, Beiträge zur liechtensteinischen Identität. Vaduz 2001, S. 37. 64 Peter Goop: I was in London. pop-report. In: wir 18/ 1967, S. 35-37. 65 Interview mit Peter Goop, 29. September 2009. <?page no="126"?> »nachhaltig weiter politisiert« Dornbirn im Spannungsfeld um das 68er Jahr 1 w eRneR m att Zum Thema »Revolutionärer Mai 1968« bemerkte Günther Hagen, in der Region der gefragteste Interviewpartner: »Es ist damals nichts passiert - überhaupt nichts«. 2 Natürlich hat Dr. Günther Hagen recht, denn die im kollektiven Gedächtnis überlieferten Aktionen wie spektakuläre Konzerte, legendäre Demonstrationen oder unerhörte Proteste, das geschah alles vor oder nach diesem speziellen Datum. Die Geisteshaltung, die für »68« stand, ist sehr wohl zu finden, nur eben wie es sich für die Provinz »g’ hört«, verspätet, verwobener, personalisierter, aber nicht minder heftig.Der Dornbirner Benny Gleeson beschrieb die Entwicklung »als würde man wie ein Surfer von einer riesigen Woge getragen dahin gleiten […]«. Er hörte im Jahre 1964 erstmals die Beatles und Rolling Stones bei Radio Luxemburg, ein Jahr später spielte er bei den »Sirs«, »brave Jungs mit Sakko, Fliege und schicken Hemden«. Dann bei »Wanted«, »die Musik wurde härter und lauter, die Haare länger«, um anschließend von den Vorgängen bei FLINT II, »nachhaltig weiter politisiert« zu werden. 3 Die 50er Jahre In den 1950er Jahren bestand »Jugendkultur« für die Mehrzahl der Jugendlichen aus Arbeit und dem nun endlich möglichen Ausleben von Konsumwünschen. »Es war ein hartes Leben«, beschreibt Bruno Pinter, Mitglied der bekannten Musikgruppe »4 Roulettis«, seine Jugend in den 50er Jahren. »Aber«, so führt er weiter aus, »wir waren jung , es war schön und wir hatten immer Geld im Sack! «. Das schwer verdiente Geld - tagsüber als Lehrling, abends als Musiker - wurde für den Hausbau gespart, aber auch für Konsumgüter ausgegeben: Konzert- und Kinobesuche, Kofferradios, Motorroller, Motorräder, Autos und die ersten Reisen nach Italien standen an. Eine 14-jährige Dornbirner Gymnasiastin erhielt damals »Die Trapp-Familie« als Weihnachtsgeschenk, »das hat zu dieser Zeit jeder gelesen«. Später folgten »Haus ohne Hüter« und »Irisches Tagebuch« von Heinrich Böll, »das haben wir in der 6./ 7. Klasse gelesen«. Weitere »Kultbücher« waren »Die Grasharfe« und »Frühstück bei Tiffany« von Truman Capote. Als sie mit 16 Jahren »Bonjour Tristesse« von Françoise Sagan las, wurde sie ob der freizügigen Lektüre von ihrem Professor in der Schule gerügt. 1956 erschien die erste Ausgabe der Jugendzeitschrift <?page no="127"?> 128 Werner Matt »Bravo«. Besonders beliebt waren die Poster von Stars, die zum Ausschmücken der Zimmer benützt wurden. 4 Anhänger der Jugend-Subkultur wurden als »Halbstarke« bezeichnet. Wie ihre Idole kleideten sie sich in schwarze Lederjacken und Jeans, volkstümlich »Amerika- oder Texashosen« genannt. Die Schmalzlocke und die Zigarette im Mundwinkel durften nicht fehlen. Mitunter gab es Probleme. 1957 wurden vier jugendliche Mitglieder der »Rockybande« festgenommen, die Einbrüche und Diebstähle verübt hatten. All dies entsprach nicht der Lebensrealität der meisten Jugendlichen. Sie beschäftigten sich damit, die strikte Geschlechtertrennung bei Ausflügen der Katholischen Jugend zu umgehen oder ihren Eltern den Freund oder die Freundin aus der Steiermark oder Kärnten zu erklären. Lebensgeschichtlich bedeutend und in der Erinnerung stark präsent sind die ungleichen Ausbildungschanchen für Mädchen: »Die sollen in die Fabrik arbeiten gehen, denn sie heiraten dann eh! « 5 Idyllische Jugendaufnahme um 1960. (Foto aus: 125 Jahre F.M. Hämmerle, Dornbirn 1961). <?page no="128"?> »nachhaltig weiter politisiert« 129 Die 60er und 70er Jahre - Musik und »Langhoorle« Ende der 50er und Anfang der 60er gab es in Vorarlberg eine große Anzahl an Bands. Die erfolgreicheren unter ihnen, wie etwa die »Rocking Jailmen« füllten nicht nur in Vorarlberg, sondern auch in der angrenzenden Schweiz und in Deutschland ganze Säle. 6 Vorarlberg erwarb sich damals u.a. durch eine bekannt scharfe Kinozensur den Ruf eines reaktionären Landes. 1962 sorgte das »Twistverbot« für Schlagzeilen in der internationalen Presse. Auf Weisung der Verwaltungsbehörden wurde der Tanz verboten. Die Beamten bezogen sich dabei auf ein Landesgesetz aus dem Jahre 1929, das die Ausübung eines neuen Modetanzes von einer eigenen Genehmigung abhängig machte. Im selben Jahr wurden das Tragen von Bikinis und öffentliche Tanzveranstaltungen an Samstagen verboten. Dornbirner Eltern verboten den Besuch eines Nat King Cole-Konzertes mit der Begründung, dies sei »Negermusik« 7 . Zeitschriften wie »Bravo«, »Stern«, »Quick« usw. waren auf dem Index. Von 1960 bis 1964 verbot das Land 45 Filme, im Jahr 1968 alleine 15. Die meisten Filmverbote wurden von der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn ausgesprochen. 8 Das Vorarlberger Jugendschutzgesetz, das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammte, untersagte bis zum Alter von 18 Jahren den Besuch jeder Veranstaltung, Theateraufführung etc. ohne die Begleitung eines Erwachsenen. 1964 trat das erste Vorarlberger Jugendschutzgesetz in Kraft, denn »die heutige Jugend« sei »gefährdeter, labiler, Umwelteinflüssen stärker preisgegeben und schutzloser« als »in früheren Zeiten«. 9 Heinz Lanz organisierte zwischen 1962 und 1964 unter dem Namen »Non Stop Party« oder »Swing Party« an Wochenenden Tanzveranstaltungen in Dornbirn und Bregenz. Auch ihm wurde per Bescheid 10 bei der für Tanzveranstaltungen notwendigen Bewilligung mitgeteilt, dass Twist tanzen untersagt sei, andernfalls drohten 2.000 Schilling Strafe. Damals viel Geld, erhielten doch »The Sheridans«, eine lokale Tanzband, 150 Schilling pro Abend bei freier Verpflegung. 11 1965 spielten »The Rockers«, einige Mitglieder sollten später bei den »Gamblers« mitspielen, im Dornbirner Gasthaus »Vorarlberger Hof«. 14 Tage nach dem Auftritt kam die Anzeige, dass drei Minderjährige als Bandmitglieder dabei waren. Fortan musste der Bandmanager als »Erziehungsberechtigter« auftreten. 12 »Langhoorle« - »Langhaarig« war in den 60ern das Synonym für die Hippie-, Pop- und Rockkultur und wurde mit Drogenkonsum und allerlei subversiven Tätigkeiten gleichgesetzt. Martin Hämmerle trug Mitte der 60er Jahre so lange Haare, dass sie am Kragen anstanden. Er besuchte damals die Textilschule in Dornbirn. Einer der dortigen Pädagogen bezeichnete die Haare Hämmerles nur noch als »Genickschussfrisur«. Hämmerle <?page no="129"?> 130 Werner Matt wurde zum Gespräch mit dem Schulpsychologen vorgeladen und ihm wurden negative Noten angedroht. Martin Hämmerle gehörte der Rockgruppe »Gamblers« an, die er gemeinsam mit Walter Batruel 1966 gründet hatte. Die langen Haare signalisierten öffentlich, wozu man gehörte. In vielen Gasthäusern wurden die 16- und 17-jährigen nicht bedient bzw. durften erst gar nicht hinein«, es hieß »keine Langhoorle«! Ein üblicher Spruch jener Zeit war »Lange Haare, kurzer Verstand«. Die langen Haare wurden erst akzeptiert, als prominente Sportler damit öffentlich auftraten. Hämmerle erinnert sich, dass damals die Bezeichnung »Gammler« statt »Gambler« - bezeichnenderweise »Sandler« statt »Spieler« - für die Band gebraucht wurde, gingen die Bandmitglieder doch zeitweise keiner »bürgerlichen« Arbeit nach. Es war in Vorarlberg eine Sünde, »dem Herrgott den Tag zu stehlen«. Walter Batruel spricht in diesem Zusammenhang mit Hochachtung von seinem Vater, mit dem er wegen seines Aussehens auch ständig Streit hatte: »Aber im Gasthaus, wenn er von anderen angesprochen wurde, hat er mich stets verteidigt! « 13 Mädchen hatten es besonders schwer, gemäß der damaligen Ideologie wurden sie noch besonders »behütet« und hatten weniger Freiheiten als männliche Jugendliche. Gerty Sedlmayr erinnert sich: »Man durfte damals vieles nicht. Ich wollte, als ich 15 war, unbedingt ein Wanted Konzert im Schloßbräu [Bürgerl. Gasthaus in Dornbirn, Anm. d. V.] besuchen. Es »Gamblers«, Mitte Walter Batruel, rechts Martin Hämmerle. (Foto: Walter Batruel) <?page no="130"?> »nachhaltig weiter politisiert« 131 wäre von mir zuhause nur fünf Minuten zu Fuß gewesen. Ich durfte aber nicht gehen, damit ich nicht von diesen bösen Buben verdorben werde, die auf der Bühne eine so ›wüste‹ Musik machen [...]. Aber man hat mindestens 16, 17 werden müssen, dass man etwas tun durfte. Die Konzerte haben sowieso alle um zehn, elf Uhr abends aufgehört [...]. Es war so, dass wir zum Teil in ganz bekannten Dornbirner Lokalen nicht einmal ein Bier trinken durften. Da hat man uns ›hinausgeschlägert‹ [...] man hat uns nur nach dem Äußeren beurteilt - damals war es toll, einen Lammfellmantel anzuziehen oder ein indisches Gewand - und dann wurde man schon als rauschgiftsüchtige Hippies und so weiter betitelt. Es war ein harter Kampf [...]« 14 Gerty Sedlmayr trat erstmals mit 14 Jahren mit ihrer Band »Mülltonne« bei den Randspielen in Bregenz auf. 15 Dann studierte sie am Konservatorium in Innsbruck und führte eine Reihe von Rock-Bands an, die mit jeder Umbesetzung ihre Namen änderten: »Glasshouse«, »Good Morning«, »G.S. Band«, »Gerty Sedlmayr and the Husband«, »Welcome home Boys« u.a. Gerty Sedlmayr kann eine Reihe von Plattenaufnahmen vorweisen. Gemeinsam mit Reinhold Bilgeri, Rolf Aberer und Reinhard Woldrich sowie später mit Heli Burtscher und Benny Gleeson spielte sie bei »And Mona Lisa Smiles« sehr erfolgreich. 16 Von 1978 an betreute sie über dreizehn Jahre lang die Sendung »Poplädele«, in der auf Radio Vorarlberg regionale Rock- und Jazzbands vorgestellt wurden. Die Moderation wurde im Dialekt gesprochen: »Es git wied[r]amol a neue Band im Land«. Von Vielen wird sie ob ihres Engagements längst als Vorarlberger »Rocklady« bezeichnet. 17 An dieser Stelle sei auf die stetige Förderung der jungen Musikszene durch Radio Vorarlberg, insbesondere Redakteur Fritz Jurmann hingewiesen. 18 Es wäre blauäugig, nicht auch die kommerzielle Seite der Jugendkultur in den 60ern zu betrachten. Schallplatten, Kinofilme und Radio brachten Hits bzw. Schlagerstars zu den Jugendlichen und stellten ein immer wichtigeres Geschäft, die Musikindustrie, dar. Neben der Musikindustrie verdiente vor allem die Mode- und Kosmetikindustrie an den Jugendlichen. 1967 erwarben Teenager erstmals sechzig Prozent aller Modeartikel, sie waren damit die stärkste Käuferschicht. Martin Hämmerle von den »Gamblers« über die damalige Mode: »Man war wie die Beatles gestylt, die einen richtigen Look entworfen hatten«. 19 Damit waren Jeans, T-Shirt oder umgedrehtes Unterhemd, die noch von Idolen wie James Dean oder Marlon Brando propagiert wurden, nicht mehr modern. 20 Die »Gamblers« selbst waren für Jugendliche in Vorarlberg und der Westschweiz Jugendidole, ihre Jacketts und Hemden wurden von einem Schweizer Modegeschäft kostenlos zur Verfügung gestellt. 21 Martin Hämmerle und Walter Batruel waren die prominentesten und konsequentesten Außenseiter. Ihre Rebellion blieb allerdings anfangs auf <?page no="131"?> 132 Werner Matt ihren Lebensstil und ihre Musik beschränkt. Eines der größten Probleme war, genug Geld für die Instrumente zu bekommen. Walter Batruel über seine damalige Gitarre: »Eine Fender-Showman 100 W kostete damals 28.000 Schilling - rund viertausend Mark! ! Abbezahlt haben wir das mit dem Honorar, 100 sfr pro Woche.« Dem Schlagzeuger Martin Hämmerle ging es nicht besser. »Als bei Cream J.J. Baker ein Doppel-Pedal Schlagzeug spielte, wollte ich auch so eines. Das von Ludwig [bekannter Instrumentenhersteller]war mit 50.000,zu teuer, also kaufte ich mir ein Doppeltes von Premiere um 35.000, das war damals etwa ein Mini Cooper.« 22 Als Gegenbewegung kann die Sing-Out-Bewegung verstanden werden, die auch in Vorarlberg ein Naheverhältnis zur Kirche aufwies. Von antikommunistischen Kreisen in den USA gegründet und in Deutschland gefördert, entstanden nach einem Vorarlberg Gastspiel im September 1968 auch hier Lokalgruppen. Bereits im Oktober folgte ein Konzert in der Dornbirner Messehalle vor rund 1.500 Jugendlichen. Die Vorarlberger Nachrichten beschrieben die Mitglieder der Gruppen als nette, aufgeschlossene Mädchen und Burschen, ganz im Gegensatz zu den »Protestlern«, den »langlockigen und schnauzbärtigen Jünglingen« und den »übertrieben aufgemachten Mini-Mädchen«. 23 Demonstrationen, Aktionen und das FLINT-Konzert Dr. Günther Hagen, geb. 1937, stammte aus einer katholisch-konservativen Juristenfamilie in Dornbirn und wurde ebenfalls Jurist. Seit Beginn seiner Tätigkeit als Anwalt zählte er es zu seinem Berufsethos, Jugendliche, Studenten und Künstler, aber auch »Hippies und Rocker« kostenlos zu beraten. Hagen beschreibt seine dabei gemachten Erfahrungen als »recht tiefer Einblick in unsere Gesellschaft und was so die Obrigkeit mit scheinbar abweichendem Verhalten macht«. Als langjähriger Pfadfinder wurde er 1963 Chefredakteur bei der Pfadfinderzeitschrift »Aufbruch«, welche für die 16bis 23-Jährigen gedacht war. Sein Team umfasste den jungen Grafiker Reinhold Luger aus Dornbirn und später Peter Kuthan aus Bludenz, Soziologiestudent in Linz. Bei der Leserschaft erfolgreich, wurde ihm Ende 1967 dennoch das Mandat entzogen: Er hätte zu wenig Respekt vor alten Traditionen. Hagen hatte die St.Georgs-Parade in Wien als pseudomilitärisch bezeichnet. Zeitgleich erhielt der »Aufbruch« jedoch den Preis des Bundesministeriums für Unterricht für die beste journalistische Jugendarbeit. Im September 1968 feierte das Land Vorarlberg seine 50-jährige Zugehörigkeit zur Republik Österreich. Da »die Jugend« präsentiert werden sollte, erinnerte sich Hofrat Dr. Arnulf Benzer (Landeskulturabteilung) an die Redaktionscrew um Dr. Hagen und beauftragte sie mit der Durch- <?page no="132"?> »nachhaltig weiter politisiert« 133 führung einer »Show« am Abend nach dem offiziellen Festakt. Es entstand eine Multi-Media-Show mit kritischen Texten über das Bildungsdefizit in Vorarlberg. Günther Hagen erinnert sich: »Dies alles geschah vor dem in der ersten Reihe sitzenden Bundespräsidenten und einem Auditorium, das Jubel erwartete, und sich seiner geistigen Selbstzufriedenheit gar nicht bewußt war. Für LH Keßler war dies ein Skandal, verursacht von ›natürlich linken, marxistischen Leuten‹, obwohl sich weit und breit nichts Marxistisches darin fand, was somit höchstens den Bildungsstand der Entrüsteten widerspiegelte«. 24 Kurze Zeit nach diesem »Septemberskandal 1968« kam es zum »berühmten November«. Nach langer Wartezeit wurde Vorarlberg eine eigene Diözese. Als der feierliche Umzug über die Bärenkreuzung in Feldkirch schritt, fanden sich am Straßenrand plötzlich Transparente mit Aufschriften wie »Bischof, was kostet Dein Thron« (Anm. von Dr. Hagen: damals 40.000 Schilling), »Menschenrecht ins Kirchenrecht«, »Waidmannsheil statt Seelenheil« u.a. Bei dieser Demonstration, initiiert von Peter Kuthan mit Beteiligung von Jugendlichen aus Pfadfinderkreisen von Bludenz und Dornbirn, agierte Dr. Hagen als »Ezzesgeber« (Berater) und war für die rechtliche Absicherung zuständig. 1970 entstand der Plan, ein Festival nach dem Modell von Woodstock auf der Waldlichtung bei der Ruine Neuburg abzuhalten. Im Vorfeld gab es eine Besprechung in Dornbirn beim Grafiker Reinhold Luger. Rechtsanwalt Dr. Günther Hagen: »Ich wurde dabei benötigt zur Mithilfe bei der Organisation und der rechtlichen Absicherung eines Festivals nach dem Modell von Woodstock. Ich traf dabei u.a. auf Prof. Gerhard Wanner, den seine Schüler vom Feldkircher Gymnasium, Heli Burtscher, Michael Köhlmeier und Reinhold Bilgeri mitgebracht hatten.« Zu den Organisatoren gehörte wieder der »harte« Kern der Pfadfinder, Reinhold Luger, Günther Hagen, Hartwig Rusch (alle aus Dornbirn) und Peter Kuthan. Hagen organisierte den Zugang zum Areal der Pfadfinder auf der Neuburg und nahm Kontakt mit dem beamteten Kulturreferenten des Landes, Dr. Arnulf Benzer, auf. Es gelang ihm, entsprechende Unterstützung zu bekommen. Vor dem Pfadfinderhaus wurde eine überdachte Tribüne errichtet, die Veranstaltung behördlich angemeldet und genehmigt. Am 4. Juli 1970 hörten rund 1.000 Jugendliche verschiedene Musikgruppen wie die »The Gamblers« mit Walter Batruel und Martin Hämmerle. Michael Köhlmeier sang selbstverfasste Protestsongs sowie Lieder von Degenhardt und Brecht. Außerdem wurden Texte rezitiert. Drogen wurde eine Absage erteilt. »Manche glauben«, so die Pressemitteilung der Organisatoren, »FLINT werde ein Eldorado für Haschischjünger. FLINT will jedoch jenen, die sich auf ein Haschen von Haschern freuen, den Spaß verderben. FLINT <?page no="133"?> 134 Werner Matt verteilt bewußtseinserweiternde Drogen in Form von Musik und Lyrik, alles andere ist im Sinne der Veranstalter überflüssig.« 25 Günther Hagen erinnert sich: »Die ganze Nacht verlief in einer fast unheimlich wirkenden Harmonie. Das Gros der Teilnehmer waren Mittelschüler [...]. Am Morgen wurden Texte und Gedichte vorgelesen. Da kam meist ich zum Handkuß, die anderen waren wohl zu müde.« Hagen informierte den Landeskulturreferenten, HR Dr. Benzer, über die Veranstaltung und erhielt von diesem postwendend Antwort: »[...] grundsätzlich freue ich mich über die Aktivität Deiner jungen Leute! « 26 FLINT II oder ein Begräbnis und eine nachhaltige Politisierung Nach dem Erfolg von Flint I sollte das zweite Flint-Festival auf der Neuburg im Juli des Folgejahres von den Organisatoren Heli Burtscher und Hartwig Rusch noch größer stattfinden und besser organisiert werden. Es gab jedoch im Vorfeld »Störfeuer«. So meldete sich bei Dr. Hagen der Präsident der Vorarlberger Pfadfinder, Dr. Lorenz Konzett, und erklärte, »dieses Flint da oder wie es heiße, habe nicht stattzufinden, das sei nur für die Hascherjugend.« Die Organisatoren fühlten sich gut vorbereitet, gab es doch keinen Alkoholausschank und den jugendlichen Besuchern wurde nahegelegt, sich Vollmachten der Eltern zu besorgen, um dem strengen Jugendschutzgesetz zu entsprechen. Am 3. Juli 1971, das Festival war für den 9. bis 11. Juli geplant, erhielt einer der Organisatoren, Reinhold Luger, ein amtliches Schreiben , das der Schlosshügel »Neuburg« nun unter Naturschutz gestellt werde »und daher Veranstaltungen mit größeren Menschenansammlungen nicht mehr abgehalten werden dürfen«. Zudem wurde bekannt, dass das Türschloss des Pfadfinderheims ausgewechselt worden war und die Organisatoren somit keinen Zutritt mehr hatten. Die völlig überraschten Organisatoren kamen überein, nicht auf ein mögliches, aber deutlich unattraktiveres Alternativangebot auszuweichen, sondern »das Fest platzen zu lassen und sich politisch zu artikulieren.« Unterhalb des in Rekordzeit zum Naturschutzgebiet erklärten Geländes verlief die frisch geschotterte Autobahntrasse. Dr. Hagen meldete für diese Trasse eine Demonstration an, die nach einigem Hin- und Her - der Rechtsanwalt »drohte« zwischenzeitlich unter Berufung auf das verfassungsrechtlich garantierte Versammlungsrecht mit einer Demo auf der stark frequentierten Bundesstraße - genehmigt wurde. Für Samstag, den 10. Juli 1971 lud ein Flugblatt des Dornbirner Grafikers Nolde Luger zu den Begräbnisfeierlichkeiten von »Flint«. Der Titel der Todesanzeige lautete ironisch: »Flint lebt trotzdem«. Rund 500 Jugendliche formierten sich auf der in Bau befindlichen Autobahn bei der <?page no="134"?> »nachhaltig weiter politisiert« 135 Neuburg zu einem Trauerzug. Mit Trauermusik und einer eigenen Flint- Litanei wurde ein »Flint« symbolisierender Sarg verbrannt. Jahrelang wurde der Slogan »Flint lebt« noch auf Wänden, Mauern und Brücken gesprüht. 27 Für viele Jugendliche waren die Auseinandersetzungen rund um FLINT II Anstoß zu politischem Denken. 28 Die Landesregierung unter Landeshauptmann Keßler wurde zu einem Feindbild. Auch für Martin Hämmerle von den »Gamblers« wurde die Musik nach Flint »zu einer politischen Angelegenheit«. Durch Vermittlung von Gottfried Bechtold, heute einer der anerkanntesten zeitgenössischen Künstler in Vorarlberg, spielte die Gruppe an der Uni in Konstanz. 29 Wie bereits erwähnt, waren die Besucherinnen und Besucher der Konzerte 15-19-jährige Schülerinnen und Schüler von Gymnasien, Akademien und höheren Lehranstalten, sogenannte »Mittelschüler«. In den Jahren danach entstanden in Dornbirn sehr engagierte SchülerInnenzeitungen. Hier sind vor allem die »Rübe«, ab 1975, und der »Zwicker«, ab 1977, am Bundesgymnasium Dornbirn sowie ab 1978 die »Arche« am Bundesrealgymnasium Schoren zu nennen. Die »Rübe« entwickelte sich zur zweitgrößten SchülerInnenzeitschrift Österreichs. Ihre kritischen Beiträ- Begräbnis von FLINT II, 1971. (Foto: Walter Zündel; StAD, 31389) <?page no="135"?> 136 Werner Matt ge fanden im Land zwar keine Beachtung, doch berichteten Rundfunk, Fernsehen oder das Nachrichtenmagazin »Profil« über die Zeitung. Der »Zwicker« erhielt den österreichischen Förderungspreis für SchülerInnenzeitungen, doch bereits die dritte Nummer wurde von der Direktion beschlagnahmt. Diese Vorgänge lösten eine österreichweite Reaktion aus, an der daran anschließenden allgemeinen Diskussion über die Lage der SchülerInnenzeitungen in Österreich beteiligte sich sogar Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky. 30 Die Initiativgruppe »Offenes Haus« und eine junge, aktive Kulturszene 1972 bildete sich in Dornbirn die erste, gesellschaftspolitisch orientierte Wohngemeinschaft in Vorarlberg. Es waren junge Berufstätige (Willi Höfle, Burkhard Zambanini, Rudolf Wäger und Willi Pramstaller), die diese WG in einem Wohnblock gründeten. In der Zeitschrift »SUBr« vom Oktober 1973 erklärten sie sich: »Wir sind für Wohngemeinschaften, wir leben nämlich seit Weihnachten 1972 in so einem Sündenpfuhl in Dornbirn. Warum kehrten wir dem Elternhaus den Rücken? Wohlgemerkt, nicht um zu heiraten, denn dann wäre ja alles in Ordnung , dann darf ein Sohn oder eine Tochter ein eigenes Leben beginnen. Den Anstoß für unseren Auszug gab sicher die Situation im Elternhaus. Die geistige Enge, die räumliche Enge.« 31 Im Text weiter unten wurde das von dieser Gruppe geforderte Jugendhaus angemahnt: »Wollten wir Freunde, Gleichgesinnte oder überhaupt Leute treffen, waren wir auf Lokale wie das ›Jasmin‹ genauso angewiesen, wie jetzt noch viele Jugendliche [...] Unser gemeinsames Ziel war und ist das ›Offene Haus‹, das ›SUBr‹ [die Publikation des Vereins].« Das »Jasmin« war ein Café-Restaurant mit Flipper und Musikbox, im Volksmund eine »Haschbude«, das Jugendliche zwischen 14 und 18 ansprach. Wie oben erwähnt, bezeichneten die Jugendlichen das »Jasmin« als »eine der wenigen und zur Zeit besten Möglichkeiten seine Freizeit zu verbringen«. Gleichzeitig fragten sie sich, wie es kommt, dass ein Einzelner (der Wirt) so viel Geld nur mit jungen Leuten verdient und einen Mercedes fährt. Im März 1972 suchten deshalb einige Jugendliche Bürgermeister Dr. Karl Bohle privat auf und äußerten ihren Wunsch für ein Jugendzentrum. In der Folge gab es mehrere öffentliche Veranstaltungen, bei denen über dieses Thema diskutiert wurde. Zudem wurde die Initiativgruppe »Offenes Haus« gegründet, 32 der Emil Bonetti, Ernst Winder, Reinhold Luger, Hartwig Rusch, Rudolf Wäger, Willi Höfle, Ursula Peters, Carmen Bösch sowie Burkhard Zambanini angehörten. Bei der Gründungsversammlung des Vereins gleichen Namens, die mit einem Blueskonzert von Wal- <?page no="136"?> »nachhaltig weiter politisiert« 137 ter Batruel und Günther Sohm verbunden wurde, traten rund 80 Jugendliche dem Verein bei. 33 Obwohl auf der Suche nach einem eigenen Haus, war der »Verein Offenes Haus« sehr aktiv und organisierte viele Veranstaltungen. Probleme bereiteten anfangs die Finanzen. Als im Mai 1973 das erste Jazzkonzert in Dornbirn im Schloßbräusaal veranstaltet wurde, überstieg das Defizit die Ausfallshaftung der Stadt, die Initiatoren mussten selbst die Differenz begleichen mussten. Es folgten weitere Konzerte und Lesungen, beispielsweise lasen 1973 H.C. Artmann in der Aula der Textilschule, 1974 Michael Köhlmeier und Ingo Springenschmid. Der Verein gab die Publikationen »SUBr« und »Alphorn« heraus. Als der Verein »Offenes Haus« sich 1975 auflöste, hatte er zwar sein Ziel, ein Jugendhaus für Dornbirn, nicht erreicht, aber ganz wesentlich zur Schaffung einer jungen, aktiven Kulturszene beigetragen. 34 Die Wiedergründung des Vereines, die heftigen Kämpfe um ein Jugendhaus, die Erfolgsgeschichte des »Triangels« und des »Spielbodens«, das regionale Vorzeigeprojekt für eine alternatives Kulturprojekt, fanden in den späten 70er Jahren statt und sind deshalb nicht Teil dieses Artikels. 35 Die Entlassung der Junglehrerin Ulrike Jussel Ulrike Jussel studierte an der Pädagogischen Akademie (PA) in Feldkirch von 1971 bis 1973 und war laut Zeitzeugenberichten eine beliebte, aktive und selbstbewusste Studentin. Sie war bei der katholischen Jungschar und religiös aktiv. Ihr Studienerfolg wurde mit einem Begabtenstipendium belohnt. Titelseite der Zeitschrift »SUBr« des Vereines »Offenes Haus«. (© StAD, Bestand »Offenes Haus«-Helmut Wiener, Akz. 15.12. 1995u. 180/ 1997). <?page no="137"?> 138 Werner Matt Im Januar 1974 begann sie an der Hauptschule in Dornbirn-Hatlerdorf für einen erkrankten Englisch-, Turn-, Zeichen- und Geographieprofessor zu unterrichten. Die Lehrerin erinnert sich: »Ich habe vor Idealismus gesprüht.« Nach fünf Wochen Unterricht, Anfang März, gestalteten ihre zwölf bis dreizehn Jahre alten Schülerinnen des zweiten Klassenzuges in einer Zeichenstunde ein Schriftblatt mit einem Text freier Wahl. Manche Schülerinnen schrieben Dinge auf, die sie offensichtlich beschäftigten: »Zipfel«, »Busen« oder »Sex«. Jussel: »Sie wollten ausloten, wie ich reagiere«. Es entwickelte sich ein Gespräch über Ausdrücke, mit denen die Mädchen tagtäglich in Unterführungen, Toiletten oder in Zeitungen konfrontiert wurden, deren Bedeutung sie aber nicht kannten. Die Lehrerin hängte diese Blätter wie üblich in der Klasse auf: »Ich war so naiv. Ich war begeistert vom Verlauf der Stunde, begeistert darüber, dass die Mädchen mit ihren Fragen, ihren Problemen auf mich zugekommen sind.« Noch am selben Tag wurden die Zeichnungen zum Skandal. Die Religionslehrerin entdeckte die Bilder, Direktor Büchel stürmte in die Klasse und riss schreiend die Zeichnungen von der Wand. Als Ulrike Jussel am folgenden Tag in die Schule kam, fand sie in ihrem Fach die Suspendierung. »Ich wollte mit dem Direktor Büchel darüber reden, doch er hat mit allen Lehrern immer nur schriftlich kommuniziert.« Nun kontaktierte die verzweifelte Junglehrerin Rechtsanwalt Dr. Günther Hagen. Dieser, wohl wissend um die restriktive Haltung der Behör(den, Eine der Zeichnungen der Schülerinnen. (© StAD,Misz. 1117, Bestand Dr. Günther Hagen). <?page no="138"?> »nachhaltig weiter politisiert« 139 sucht umgehend Schullandesrat Gasser auf. Dieser verspricht ihm, dass der Lehrerin nichts geschehen werde, »man ist ja aufgeklärt! « Aber das Gegenteil geschieht, es kommt zu keiner Wiedereinstellung. Dem Anwalt wird die Akteneinsicht verweigert, »obwohl die Zeichnungen längst an alle Schuldirektoren weiterverschickt wurden«. Die Diffamierung der Junglehrerin erfolgt u.a. im Vorarlberger Kirchenblatt. Ulrike Jussel hatte in Vorarlberg Berufsverbot, sie konnte hier nie wieder als Lehrerin arbeiten. Als sie sich bei der CARITAS als Sozialarbeiterin bewarb, lehnte die katholische Hilfsorganisation ab: »Man könne dem Land Vorarlberg nicht in den Rücken fallen«. 36 Wieder berichteten zuerst ausländische und überregionale Zeitungen von diesem Vorfall. Der Fall wurde im ORF vom Magazin »Teleobjektiv« aufgegriffen und dann erst in Vorarlberg öffentlich. Ein Jahr später, in der Landtagssitzung vom 21. Mai 1975, stellten die Hauptredner der regierenden ÖVP fest: »[...] die Ähnlichkeit zwischen dem, was sie [Frau Jussel] in der Mädchenhauptschule in Dornbirn zuließ oder förderte, und der bewussten Taktik der Neuen Linken ist doch nicht zu übersehen.« Oder<. »Jedes Volk, das die Sitten lockert, geht früher oder später zugrunde, jedes Volk, auch das unsrige.« Unterrichtsminister Fred Sinowatz lud Jussel zu einer Aussprache nach Wien ein und intervenierte danach persönlich bei Landeshauptmann Herbert Keßler zu Gunsten der Junglehrerin, dieser lehnte eine Wiedereinstellung Jussels wegen »Wiederholungsgefahr« ab. Jussel studierte Biologie in Innsbruck und bewarb sich um die Leitung des Mädchenheimes der Arbeiterkammer in der Schöpfstraße. In diesem Heim waren ungefähr 50 15 - 18-jährige Mädchen aus dem ländlichen Tirol untergebracht, die in Innsbruck eine Schule besuchten oder eine Lehre absolvierten. Beim Einstellungsgespräch erklärte ihr Leiter Rohringer: »Ein Berufsverbot in Vorarlberg kann nur eine Qualifikation sein. Wir sind glücklich, wenn sie zu uns kommen.« 37 Fazit Zusammengenommen dokumentieren diese Beispiele die aus heutiger Sicht unverhältnismäßige Reaktion der offiziellen Stellen. Frau Jussel war ein Opfer konservativer Ängste vor all jenem, was man damals als »links« diffamieren konnte. Kontinuitäten ergeben sich vor allem durch Persönlichkeiten, die durch unterschiedlichste Jahrzehnte sowie in verschiedenen Rollen und Positionen aktiv waren. Im Rückblick scheinen vor allem die Professionalität, die oft sehr unterschiedliche Bereiche abdeckte, und das breitgestreute gesellschaftspolitische Engagement der Beteiligten wichtig. Dies <?page no="139"?> 140 Werner Matt wurde exemplarisch an der Person Dr. Günther Hagen aufgezeigt, trat er doch über die Jahrzehnte kontinuierlich als »politischer Mensch und Handelnder« auf und engagierte sich immer wieder in Vorständen, als Stadtrat der Offenen Bürgerliste Dornbirn, als Rechtsberater, als »Ezzesgeber« ... Anmerkungen 1 Vgl. dazu Werner Matt, Von der »Genickschussfrisur« zur »FLINT«. Dornbirner(er) im Spannungsfeld rund um das 68er Jahr, in: 7. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2008. 1968 - Vorgeschichte - Folgen. Bestandsaufnahme der österreichischen Zeitgeschichte, hrsg. Ingrid Böhler/ Eva Pfanzelter/ Thomas Spielbüchler/ Rolf Steininger, Innsbruck-Bozen- Wien 2010, S. 103-11; Peter Füßl, 20 Jahre Flint - von Beatles, Schlurfs und Gammlern, in: Kultur. (Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Nr. 7 (1991), S. 4-8; Günther Hagen, Das Jugend-Festival »Flint« 1970 und seine Verhinderung, in: Rheticus, Nr. 4 (2007), S. 46-62; Werner Matt/ Roman Rabitsch/ Martin Rhomberg (Hrsg.), 50 Jahre Rock - Die Popularmusik in Vorarlberg, Dornbirn 2007 sowie als Überblick für Dornbirn: Werner Matt, Zuerst das Notwendige, dann das Nützliche und dann erst das Angenehme, in: Werner Matt/ Hanno Platzgummer (Hg.), Geschichte der Stadt Dornbirn, Bd. 2, Dornbirn 2002, S. 247-356.; Ulrike Unterthurner: Die Jugendbewegung in Vorarlberg von 1968 bis 1984: Dargestellt am Beispiel »Offenes Haus« in Dornbirn«, Regensburg 2003 und für Vorarlberg: Karl Schall, Feuersteine. Jugendprotest und kultureller Aufbruch in Vorarlberg nach 1970, Bregenz 2007. 2 Gerhard Thoma: Jugendliche verändern die Welt, Vorarlberger Nachrichten, Freitag, 16. Mai 2008, S. A8. 3 Benny Gleeson, Born To Be Creative, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 102-103. 4 Werner Matt, Der Goldene Westen, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 12-21, hier S. 15. 5 Ebenda, S. 12 f. 6 Fredmund Malik, Die »Rocking Jailmen«, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 43. 7 Werner Matt, Die Musik der 50er, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 22-25, hier S. 25. 8 Schall, Feuersteine, S. 20-25. 9 Werner Matt, Die Musik der 50er, S. 25. 10 BH Bregenz an Heinrich Lanz, Zl.: V1-4b-Be/ Hl 11 Werner Matt, Die Populäre Musik in den 60ern, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 38-41, hier S. -38f. 12 Ebenda, S. 40. 13 Ebenda, hier S. 38 f. 14 Gerty Sedlmayr, Von der »Mülltonne« zum »Poplädele«, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 104- 107, hier S. 107. 15 Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Klagian in diesem Band. 16 Gerty Sedlmayr, Von der »Mülltonne« zum »Poplädele«, S. 104. 17 Peter Bader, Die 80er in Vorarlberg, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 124-127, hier S. 125. 18 Fritz Jurmann, »Oho Vorarlberg«, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 98-101. 19 Werner Matt, Die Populäre Musik in den 60ern, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 38-41, hier S. 41. 20 Gerti Furrer, Brokat nie vor 18 Uhr, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 32-35, hier S. 35. 21 Werner Matt, Die Populäre Musik in den 60ern. , S. 41. 22 Martin Hämmerle u. Martin Rhomberg, Typische Instrumente der 60er Jahre, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 46. Dieses Zitat ist auch bezeichnend für die Bodenseeregion, die Vorarl- <?page no="140"?> »nachhaltig weiter politisiert« 141 berger (in diesem Falle die »Gamblers«) dachten in Schilling, kauften in DM (Mehrwertsteuerrückvergütung) und verdienten ihr Geld in Franken! 23 Ulrike Unterthurner, Die Sing-Out-Bewegung in Vorarlberg, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 64-65, hier S. 64f. 24 Günther Hagen, Flint 1. Neuburg 4.-5. Juli 1970, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 78-79 und ders., Das Jugend-Festival »Flint« 1970 und seine Verhinderung, in: Rheticus. Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft, Nr. 4 (2007), S. 46-62. 25 Werner Matt, Flint, in: Wolfgang Scheffknecht, (Red.), Vorarlberg-Chronik, 2., überarb. Ausg., Dornbirn 2000, S. 278. 26 Günther Hagen, Flint 1. Neuburg 4.-5. Juli 1970, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 78-79. 27 Ders., Flint II, geplant 9.-11. Juli 1971, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 78-79 28 Vergleiche dazu auch August Fleisch, Ein Blick zurück auf bewegte Anfangsjahre der Pädagogischen Akademie (Teil 1), in: Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, März 1999, S. 16-20, hier. S. 17. 29 Martin Hämmerle, »Hooks«, »Gamblers« und immer weiter, in: Matt: 50 Jahre Rock, S. 62-63, hier S. 62. 30 Kemmerling-Unterthurner, Jugendbewegung. S. 39-49, 18-23. 31 Schall, Feuersteine, S. 50f. 32 Vgl. StAD, StRP, Sitzung vom 25.7.1972, Punkt 2.e. 33 Unterthurner, Jugendbewegung. S. 39-42. 34 Ebenda, S. 44 ff. 35 Vgl. dazu StAD, Bestand »Offenes Haus«, sowie die unter Anm. 1 aufgelistete Literatur. 36 Hannes Mayer, Der Fall Jussel. NEUE am Sonntag, 6.3. 2011, S. 20-23 sowie Stellungnahme von Dr. Günther Hagen, StAD, Misz. 1117 37 August Fleisch, Ein Blick zurück auf bewegte Anfangsjahre der Pädagogischen Akademie (Teil 1), in: Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, März 1999, S. 16-20, hier. S. 18. <?page no="142"?> Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 Alles in allem eine phasenverschobene Reaktion auf die 68er-Bewegung t homaS K laGian Wie hat man sich eine Revolution in der Provinz vorzustellen, wie eine Revolution in Bregenz? Zunächst zur großen, weiten Welt. Es rumort in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in Deutschland und in Italien. In den USA sind die Bürgerrechte und der Vietnamkrieg die Themen, 1968 wird Martin Luther King ermordet. In Frankreich steigen die Studenten im März und Mai 1968 auf die Barrikaden, weil strenge Ausleseverfahren drohen. Ein Land mit großer revolutionärer Tradition ist in Aufruhr. In Deutschland wird am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien der Student Benno Ohnesorg erschossen, die Proteste halten an, am 11. April 1968 wird der Studentenführer Rudi Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. In Italien mobilisieren geplante Erhöhungen der Studien- und Prüfungsgebühren die Studenten. Universitäten werden besetzt, die Arbeiter solidarisieren sich, Generalstreiks sind die Folge, es gibt Tote, Verletzte überall. Und in Österreich? Paulus Ebner und Karl Vocelka nannten 1998 ihre Studie über das Jahr 1968 in Österreich »Die zahme Revolution«. 1 War’s also bloß ein Beistrich in der Geschichte? Ernst Hanisch widerspricht und zitiert am 7. März 2008 in der Tageszeitung »Die Presse« den deutschen Historiker Norbert Frei: »Im Zeichen der Revolution trug die Revolte zum Fortschritt der Reformen bei.« Die Freiheit erhielt mehr Raum, autoritäre Strukturen wurden aufgebrochen. Die 68er-Bewegung war eine Jugendbewegung, in der die Studenten führend waren. Man war antifaschistisch und setzte Faschismus mit Kapitalismus und Imperialismus gleich, und man war links. Der Protest richtete sich gegen Konsumzwang und Herdenzwang. Selbstverständlich hatten auch die 68er ihre Kleiderordnung, Jeans und Parka waren Pflicht, lange Haare ebenso, Nonkonformität sieht anders aus. Auch noch aus heutiger Sicht als spektakulär zu bezeichnen ist das Teach-in, das am 7. Juni 1968 zum Thema Kunst und Revolution im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien stattgefunden hat. Günter Brus schnitt sich mit einer Rasierklinge in Brust und Schenkel, trank seinen Urin, beschmierte sich mit Kot, um anschließend onanierend die Bundeshymne zu singen. Otto Mühl peitschte en passant einen bandagierten Masochisten aus. Bizarr und barock zugleich und <?page no="143"?> 144 Thomas Klagian irgendwie typisch österreichisch. Veranstaltungen dieser Art sind in Österreichs Hörsälen inzwischen selten geworden. Als Uni-Ferkelei ging die Aktion in die Geschichte ein, für Brus und Mühl setzte es Haftstrafen. Die Geschichte der 68er ist in Österreich auch Kunst-Geschichte. Günter Brus erhielt 1996 den großen österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst. So kann’s gehen, ein paar Jahre vergehen, und schon gehört man zu den Arrivierten. Und in Vorarlberg? 2 Im Dezember 1968 demonstrierte eine Gruppe von Pfadfindern und kritischen Katholiken - vereint im »Arbeitskreis für Kirche und Gesellschaft« - bei der Diözesanerhebung Feldkirchs und der Weihe Bischof Bruno Wechners gegen den Prunk der Feier angesichts der Armut in der Welt. Im ausgehenden Jahr 1968 konfrontierten dieselben zur 50-Jahr-Feier der Republik Österreich in Bregenz die Honoratioren mit kritischen Fragen zur Zukunft der jubilierenden Republik und einer frechen Dia-Show. Exponenten dieser Gruppe waren Reinhold Luger, Günther Hagen, Hartwig Rusch und Peter Kuthan. Im Juli 1970 folgte das Vorarlberger Woodstock, das Pop- und Lyrikfestival Flint auf der Neuburg, das im Juli des Folgejahres auf der im Bau befindlichen Rheintalautobahn zu Grabe getragen werden musste, da die Landesregierung das Festivalgelände unter Naturschutz gestellt hatte. 3 Und was ist mit Bregenz? Nun, »Bregenz ist irgendwie und irgendwo kafkaesk …«, meinte Oscar Sandner 1997 in der Zeitschrift »Kultur« 4 , auf rätselhafte Weise bedrohlich, wenn man kafkaesk wörtlich nimmt. Nun Bregenz ist, war anders, und bedrohlich wohl auch, vor allem für das Amt der Vorarlberger Landesregierung und dessen Vorstellung von dem, was Kultur zu sein hat. Noch 1962 wurden das öffentliche Twisttanzen und das Bikinitragen an Vorarlbergs Bodenseeufer verboten. Der »Schnorrapfohl«, die Bregenzer Fastnachtszeitung, nahm die Kulturpolitik des Landes immer wieder aufs Korn. 1958 berichtet die Schnorrapfohl-Chronik zum 15. November 1957: »Die Vorführung des Filmes ›Schneewittchen‹ wird für Voradelberg untersagt, weil das durchsichtige Perlonhemdchen der kindlichen Hauptdarstellerin geeignet ist, eine entsittlichende Wirkung auszuüben.« 5 Fastnächtlich verbrämt wurde hier ausgesprochen, was sonst öffentlich nicht ohne Weiteres gesagt werden durfte. In Bregenz konnte man freilich schon 1955 im gerade eröffneten Theater am Kornmarkt Thornton Wilders Stück »Wir sind noch einmal davongekommen« und ein Jahr später Bert Brechts »Dreigroschenoper« sehen. Ermöglicht haben das Bürgermeister Karl Tizian, ÖVP (1950-1970), und sein Kulturamtsleiter Oscar Sandner (1955-1988), ja die Landeshauptstadt hatte ein eigenes Kulturamt, lange vor allen anderen Städten. Tizian habe eine liberale Kulturpolitik nicht nur zugelassen, sondern auch gewollt, <?page no="144"?> Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 145 stellte Sandner 1997 fest. 6 Sandner brachte in den frühen 60ern den Jazz nach Vorarlberg - Chris Barber und Oscar Peterson traten in Bregenz auf - und er war ein Förderer und Kenner der zeitgenössischen Kunst. Seit 1946 gab es in Bregenz die Festspiele, die als Sport- und Festwoche begonnen hatten und 1970 bereits vier Wochen dauerten und über 55.000 Besucher zählten. Mit den Jahren sind die Festspiele eine kulturelle Institution geworden, für manche eine erstarrte kulturelle Institution. Die Bregenzer Randspiele waren als Kontrapunkt zu den Festspielen gedacht, als ein »Programm der Kontraste« - wie die Randspiele im Untertitel hießen - oder mit Oscar Sandners Worten als ein »Gegenprogramm« zu den Festspielen. 7 Kritik an den Festspielen war auch immer Kritik an Langzeitdirektor Ernst Bär (1952-1982). Leo Haffner weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die sensationelle »Porgy and Bess«-Aufführung von 1971 gerne vergessen werde, und dass es die Festspiele ohne die Hartnäckigkeit Bärs schon lange nicht mehr gegeben hätte. 8 War die Zeit reif für Randspiele? Mit der Ära Bruno Kreisky, mit dem politischen Wechsel in Österreich Anfang der 1970er-Jahre entwickelte sich ein Klima, in dem Reformen gedeihen konnten. Wir denken an die Liberalisierung der Rechtsordnung, die »Broda-Reform«, an die Schulreformen (Gratisschulbücher, Schülerfreifahrten, neue Schultypen wie das Oberstufenrealgymnasium) oder die Neuordnung der Organisation der Universitäten. Nota bene: Diese neugeordnete Universität beerdigen wir gerade ohne empörten Aufschrei der Öffentlichkeit. Die Humboldtsche Universitätsidee, die für den Hochschulbetrieb und das Verhältnis zwischen Dozenten und ihren Studenten die Einheit von Forschung und Lehre vorsah, und forderte, dass Forschung und Lehre von staatlichen Forderungen und Auflagen freigehalten werden müsse, ist schon lange mausetot. Seit 1971 leitete Fred Sinowatz das Unterrichts- und Kunstressort. Sein Wirken wird zu Unrecht auf ein Zitat aus dem Beginn seiner Bundeskanzlerschaft reduziert. Nachdem er in seiner ersten Regierungserklärung 1983 die Herausforderungen der nächsten Jahre dargestellt hatte, meinte er: »Ich weiß, das klingt alles sehr kompliziert …« Fred Sinowatz war, so Oscar Sandner, »… überhaupt der beste Kunstminister, den Österreich hatte …«. 9 Und Fred Sinowatz wurde ein großer Freund und Förderer der Randspiele. Der 1970 gewählte neue Bregenzer Bürgermeister Fritz Mayer, SPÖ (1970-1988), setzte die liberale Kulturpolitik seines Vorgängers Karl Tizian fort. Wie kamen die Randspiele zustande? Ähnlich wie bei den Festspielen sind wir bei der Rekonstruktion der Ereignisse auf die Erinnerungen von Zeitzeugen angewiesen, im besten Fall auf die der Initiatoren; Mythos und Wahrheit vermischen sich gelegentlich. <?page no="145"?> 146 Thomas Klagian Nach einer Zusammenschau der Literatur stellt es sich mir folgendermaßen dar 10 : Im November/ Dezember 1971 veranstalteten die Volkshochschule Bregenz und das städtische Kulturamt den Literatur-Zyklus »Literarisches Bewußtsein in Vorarlberg«, dessen Abschluss im April 1972 eine Podiumsdiskussion mit den beteiligten Autoren gebildet hat. In der als heftig beschriebenen Diskussion kam deutlich zum Ausdruck, dass man mit der kulturpolitischen Situation in Vorarlberg unzufrieden war. Schon zuvor hatten 15 Vorarlberger Autoren, Journalisten, Künstler und Architekten eine Protestresolution gegen die herrschende Kulturpolitik verfasst. Im Februar 1972 hatte Leo Haffner die Resolutionisten auf Schloss Glopper ob Hohenems geladen, wo die Idee der Randspiele, eines eigenen Alternativprogramms, geboren worden ist. Aus dem Kreis der Resolutionisten bildete sich im Lauf des Frühjahrs die »Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten«, die aus rund zwei Dutzend Personen bestand, übrigens beinahe ausschließlich aus Männern. Nach Oscar Sandner waren neun aus diesem ursprünglichen Kreis wichtig für die Randspiele: die Künstler Gottfried Bechtold, Heinz Greissing und Hubert Berchtold, der Literat Franz Bertel, der Literaturwissenschaftler Robert Blauhut, der Kulturwissenschaftler Kurt Greussing, der Grafiker Reinhold Luger, der Bregenzer Stadtbaumeister Wolfgang Matt und er selbst, Kunsthistoriker, Schriftsteller und Bregenzer Kulturamtsleiter. 11 Später sollten noch andere hinzukommen. War die 68er-Bewegung noch eine Jugendbewegung, kann man das von den Kulturproduzenten nicht mehr behaupten. Die Randspiele waren eine Angelegenheit von jungen Erwachsenen, der 1927 geborene Oscar Sandner war sogar schon ziemlich erwachsen. Nach Reinhold Luger setzte sich auch das Publikum nicht mehr wie bei Flint vorwiegend aus Jugendlichen zusammen, »sondern aus Menschen aller Alters- und Berufsgruppen und unterschiedlichster sozialer Herkunft.« 12 Oscar Sandner war unbestritten der Kopf der Randspiele, er war der Obmann der im Mai 1972 als Verein konstituierten Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten, er brachte als »Mitgift« den Apparat ein, die Infrastruktur der städtischen Kulturabteilung. Am 18. Mai 1972 trafen Oscar Sandner und einige Kulturproduzenten auf dem Gebhardsberg mit Minister Fred Sinowatz zusammen, um ihn für die Idee eines Kontrastprogramms zu den Festspielen zu gewinnen. Sinowatz war angetan und sagte eine Subvention zu. Stadt und Land konnten fast nicht mehr anders, als mitzuziehen. Das Budget für die Randspiele 1972 betrug 330.000 Schilling. Nun musste noch die Terminfrage geklärt werden, denn es existierte eine Vereinbarung zwischen der Stadt Bregenz und den Festspielen, nach der vom 1. Juli bis zum 20. August keine anderen Kulturveranstaltungen stattfinden durften. In einer Krisensitzung am <?page no="146"?> Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 147 Randspiele 1972: Lesung im Rahmen des Mundart-Seminars im Deuringschlößle. (© Stadtarchiv Bregenz. Archivnr. 947071) Randspiele 1972: Das »Zweite Grazer Straßentheater« am Bregenzer Molo in Aktion. (© Stadtarchiv Bregenz. Archivnr. 947072) <?page no="147"?> 148 Thomas Klagian 23. Juni 1972 - sehr spät anberaumt und initiiert von Bürgermeister Fritz Mayer - einigten sich das Präsidium der Festspiele und die Randspiele- Initiatoren darauf, dass die Randspiele im Zeitraum vom 8. bis zum 29. Juli stattfinden sollten. 5.614 Personen besuchten die 18 Veranstaltungen, darunter ein Popkonzert mit Vorarlberger Gruppen, zwei Free Jazz- Konzerte (Chic Corea-Quintett und Gabarek-Trio), eine Aufführung von Werken des Bregenzer Barockkomponisten Hieronymus Bildstein, Kabarett, Theater und Mundart-Lesungen, ein buntes Programm. 13 Die zweiten Bregenzer Randspiele gingen vom 30. Juni bis zum 28. Juli 1973 über die Bühne. Das Programm dauerte vier Wochen - eine Woche länger als im Vorjahr - und war noch vielfältiger und internationaler. Bereichert unter anderem durch das »Bregenzer Theater der Kinder« und durch einen Filmblock unter dem Motto »Sozialer Konflikt - Streik und Emanzipation«. 9.686 Personen besuchten die über 40 Veranstaltungen, wieder ein großer Erfolg zweifelsohne. Doch die Kulturproduzenten waren an den Grenzen ihrer Kapazitäten angelangt. Und so blieb es lange Zeit in der Schwebe, ob 1974 noch Randspiele stattfinden würden. Im Jänner 1974 bestellten die Kulturproduzenten aus ihrer Mitte ein sechsköpfiges Komitee zur Durchführung der Randspiele, 14 dem Oscar Sandner, Herbert Albrecht, der Historiker und Gymnasial-Professor Meinrad Pichler sowie der Kunsthistoriker und Journalist Walter Fink angehörten. Nicht nur der immense Arbeitsaufwand belastete die Kulturproduzenten, sondern zunehmend auch inhaltliche Diffe- Randspiele 1973: Friedrich Gulda spielt Bach auf dem Gebhardsberg am 20. Juli 1973. © Stadtarchiv Bregenz. Archivnr. 947070. <?page no="148"?> Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 149 renzen innerhalb der Gruppe. Oscar Sandner hatte ein fixfertiges Konzept präsentiert, ohne die anderen einzubinden. Dies sorgte für einigen Unmut. Zudem kamen die verbindlichen Zusagen der drei Subventionsgeber, die Mittel von 150.000 auf 180.000 Schilling zu erhöhen, erst sehr spät. Schließlich fanden die dritten Randspiele vom 22. Juni bis zum 17. Juli statt. Um den Festspielen nicht in die Quere zu kommen, mussten die Randspiele vor Festspielbeginn enden. 10.179 Besucher kamen und sahen ein Programm ohne jeglichen Vorarlberg-Bezug. Und dies lief einer wichtigen Intention der Kulturproduzenten zuwider, nämlich vor allem Vorarlberger Künstlern eine Plattform zu bieten. Der Bruch kündigte sich an. Oscar Sandner resümiert später: »Nach drei Jahren war der Zusammenhalt unter den Kulturproduzenten erschöpft.« Und weiter: »Drei Jahre Solidarität waren ohnehin ein Wunder in Vorarlberg. Künstler sind kaum solidarische Wesen, Vorarlberger Künstler in ihrer geographischen Enge sind es noch weniger.« 15 Randspiele 1973: Jazzkonzert auf dem Gebhardsberg am 5. Juli 1973. (© Stadtarchiv Bregenz. Archivnr. 947068) <?page no="149"?> 150 Thomas Klagian Oscar Sandner, der mit internationalen Künstlern reüssieren wollte, trennte sich von den »Kulturproduzenten«. Die »Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten« existierte weiter und führte in den beiden folgenden Jahren Randspiele durch, aber ohne den Apparat der städtischen Kulturabteilung und mit bedeutend geringeren Budgetmitteln. Zunächst war noch zu klären, wer das Namenscopyright für die Randspiele besaß, die »Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten« oder Oscar Sandner. Sandner behauptete immer, er habe den Namen gemeinsam mit Martin Walser während eines Telefonats erfunden. Durchgesetzt haben sich aber die Kulturproduzenten. 1975 fanden die Randspiele vom 5. bis zum 20. Juli in den Seeanlagen, im sogenannten Randspielezelt statt, mit Vorarlberger Künstlern und ohne Jazz, fast wie Sandner zum Trotz. 1976 gab es dann noch an sechs Veranstaltungstagen in Bregenz und Götzis Literatur, entgegen der Tradition im Spätherbst. Am 19. April 1977 beschloss der Bregenzer Stadtrat, die Randspiele nicht mehr zu subventionieren. Oscar Sandner hatte nach der Trennung von den Kulturproduzenten - um sein eigenes Programm durchzuführen - die »Bregenzer Gruppe« gebildet, welche mit den Kulturproduzenten um Subventionen ritterte. In der Folge wurde der Bregenzer Kunstverein gegründet, dem der damalige Kulturstadtrat Herbert Pruner, SPÖ, vorstand, Oscar Sandner war Schriftführer. Den Kunstverein brauchte die städtische Kulturabteilung, um auf diese Weise Subventionen der öffentlichen Hand zu lukrieren, die eine staatliche Verwaltungskörperschaft wie die Stadt Bregenz sonst nicht bekommen hätte. Der Stadtrat beschloss nun, weder die »Bregenzer Gruppe« noch die »Kulturproduzenten« zu unterstützen, sondern salomonisch gerecht nur mehr den Bregenzer Kunstverein. Damit war den Randspielen die finanzielle Basis entzogen. Es nützte auch nichts, dass die Kulturproduzenten in Wien bei Sinowatz persönlich vorsprachen. Der Verein »Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten« löste sich 1978 auf. <?page no="150"?> Die Bregenzer Randspiele 1972-1976 151 Anmerkungen 1 Paulus Ebner/ Karl Vocelka, Die zahme Revolution. 68 und was davon blieb, Wien 1998. 2 Meine Ausführungen sind nicht das Produkt eigener tiefschürfender und langjähriger Forschungen, sondern das Produkt gründlicher Untersuchungen anderer. Geschöpft habe ich vor allem aus: Klaus P eter , Jazz in Vorarlberg, Studie zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Vorarlbergs, eine Diplomarbeit aus dem Jahr 1998, aus: Leo Haffner, Kultur und Religion als Machtfaktor, ein Beitrag zur Ideologiegeschichte Vorarlbergs, erschienen 2000 im Vorarlbergband der Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, und aus: Karl Schall, Feuersteine, Jugendprotest und kultureller Aufbruch in Vorarlberg nach 1970, herausgegeben von der Vorarlberger Autoren Gesellschaft 2007. 3 Schall 2007, S. 32-50. 4 Interview mit Oscar Sandner, in: Kultur, Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Jahrgang 12, Nummer 6, Juli/ August 1997, S. 24-26, S. 24. 5 Ore Ore Schnorrapfohl 1958, S. 6. 6 Kultur 1997, S. 24. 7 Kultur 1997, S. 26. 8 Haffner 2000, S. 368. 9 Kultur 1997, S. 25. 10 Vgl. hierzu und zum folgenden Schall 2007, S. 91-116, Haffner 2000, S. 346-348 und S. 367- 371, Peter 1998, S. 25-27, S. 42f. und S. 77-86 und Reinhold Luger, Randspiele Bregenz, in: Werner Matt/ Roman Rabitsch/ Martin Rhomberg, 50 Jahre Rock - Die Popularmusik in Vorarlberg, Dornbirn 2007, S. 86f. 11 Kultur 1997, S. 25. 12 Luger 2007; S. 86. 13 Bregenz aktuell, 4. Jahrgang, Nummer 2, Juni 1972, S. 15 und Bregenz aktuell, 4. Jahrgang, Nummer 3, September 1972, S. 14f. 14 Bregenz aktuell, 6. Jahrgang, Nummer 2, Juni 1974, S. 32f. 15 Beide Zitate: Kultur 1997, S. 26. <?page no="151"?> Provinz im Wandel <?page no="152"?> Als die Wäldertanne Kopf stand Das Ende der traditionellen Autorität im Bregenzerwald in den 1970er Jahren? K atRin n etteR »Die Befreiung von Zwängen hat man als links bezeichnet.« Dieter Macek Wenn im Rahmen des im März 2011 stattgefundenen Symposiums die Veranstalter die Frage nach der »anderen Provinz« und kulturellen Auf- und Ausbrüchen in der Bodenseeregion seit den 1960er Jahren stellten, dann impliziert dies mehreres. Aufbruch bedeutet die Abkehr von Altgewohntem. Mit der Setzung einer Zeitmarke in den 1960er-Jahren wird indirekt Bezug genommen auf die 68er-Bewegung, die zunächst als linksgerichtete Studentenbewegung und im weiteren Sinn als jugendlicher Aufbruch gegen das Establishment zu verstehen ist. Der Titel spielt weiters darauf an, dass die Provinz landläufig nicht unter dem Zeichen des Aufbruchs wahrgenommen wird. Die im kollektiven Bewusstsein mit der 68-er Bewegung verknüpfte Ereignisgeschichte findet weit entfernt von der Provinz in einem urbanen Umfeld statt, wo es eine kritische Masse an Gleichgesinnten gab. Wo die Provinz beginnt, ist freilich eine Frage des Betrachterstandpunkts. Die von den Referenten vorgestellten Beispiele bezogen sich sowohl auf kleinere Orte wie Bohlingen, einem Stadtteil von Singen, als auch auf ganze Regionen wie das Allgäu und den Bregenzerwald, sowie auf Mittelstädte wie St. Gallen, Konstanz, Bregenz und Dornbirn mit einer Größe zwischen 20.000 und 100.000 Einwohnern. Wenn die genannten Städte unter dem Begriff Provinz zusammengefasst werden und dies im Vergleich mit den Zentren der 68er-Bewegung auch waren, im regionalen Kontext waren sie doch Impulsgeber für die ihnen vorgelagerten ländlichen Regionen. Im Vergleich zu diesen Mittelstädten ist der Bregenzerwald, als bis heute größte Landwirtschaftsregion Vorarlbergs, Peripherie. Auf 550 km² verteilen sich 24 Gemeinden, von denen die größte - nämlich Egg - selbst heute nicht mehr als 3.400 Einwohner zählt. Das Wort Provinz impliziert, dass aktuelle Moden und gesellschaftliche Strömungen zuerst im Kontext der Städte auftreten und sich erst danach in der Provinz niederschlagen können, aber nicht zwangsläufig müssen. Dies bestätigt sich zunächst im Bregenzerwald, wo für die 1960er-Jahre nicht von einer jugendlichen Aufbruchsbewegung gesprochen werden kann. Allerdings wurde 1968 mit dem Musisch-Pädagogischen Oberstufenrealgymnasium in Egg (BORG) die erste weiterführende Schule des Waldes gegründet, welche für einen Aufbruch in den 1970er Jahren eine <?page no="153"?> 154 Katrin Netter wichtige Rolle spielen sollte. Dessen Akteure können als zweite Generation bezeichnet werden, die über Vermittlung einer geringfügig älteren Personengruppe mit den Ideen der 68er bekannt wurde. Der Bregenzerwald fügt sich damit in das Bild Gesamtvorarlbergs ein, wo die Studentenbewegung mangels einer Universität in erster Linie über die Medien wahrgenommen wurde und sich Einflüsse zeitverzögert mit der Rückkehr von StudentInnen und jungen LehrerInnen ergaben, die begannen sich in die bestehenden Verhältnisse einzumischen. Der Kreis der Engagierten blieb in den 1970er Jahren allerdings sowohl im Wald wie in Vorarlberg überschaubar, wodurch gegenseitige Vernetzung und Befruchtung zwischen den Städten im Rheintal und dem Land leicht möglich war. 1 Sozialer und wirtschaftlicher Wandel im Bregenzerwald Strukturell hatte sich der Bregenzerwald seit der Nachkriegszeit gravierend verändert. Über Jahrhunderte lag der Wald aufgrund seiner Topographie weit weg von den großen Verkehrswegen und die Mehrheit der Bevölkerung waren Bauern. Noch bis in die 1970er Jahre schlossen die meisten Wälder ihre Schulbildung mit der Volksschule ab, das Bildungsniveau lag unter dem Vorarlberger Durchschnitt. Während in Gesamtvorarlberg schon an der Wende zum 20. Jahrhundert nur mehr 34% der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten, waren es im Bregenzerwald 1951 noch 47%. 2 Danach setzte das rasche Verschwinden der Bauern ein, zwischen 1951 und 1991 ging der prozentuale Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung kontinuierlich von 47% auf 8,5% zurück. 3 Gleichzeitig etablierte sich der Wald ab den 1960er Jahren als die zweitgrößte Tourismusregion Vorarlbergs mit heute über 1,6 Millionen Übernachtungen jährlich. 4 Ab den 1960er Jahren wurde den politischen Handlungsträgern bewusst, dass es schon aus wirtschaftlichen Gründen notwendig war die Gründung höher bildender Schulen zu fördern und durch infrastrukturelle Erschließung die Voraussetzungen zu schaffen, um im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht hinter die Ballungszentren zurück zu fallen. Überregionale Planungsmaßnahmen erschienen immer dringender. So wurde am 12. Dezember 1970 die Regionalplanungsgemeinschaft Bregenzerwald (Regio) gegründet: ein politisch besetzter Verein, dem bis heute alle 24 Gemeinden der Region angehören. Seine Funktionäre setzten sich aus dem Kreis der, mehrheitlich dem konservativen Lager angehörenden, Bürgermeister und Gemeindemandatare zusammen. 5 Die Regio fand in ihrer Reaktion auf den strukturellen Wandel neue und innovative Lösungen und konnte erstaunlich rasch wesentliche Zielsetzungen im Verkehrs- und Bildungsbereich umsetzen. Eine Integration der jungen, nicht arrivierten Generation fand aber nicht statt. Vorstand und Ausschüsse waren mit politischen <?page no="154"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 155 Funktionären aus den Gemeinden besetzt, »um der Arbeit Wirklichkeitsnähe und auch das erforderliche Gewicht zu bringen«. 6 Der zivilgesellschaftliche Aufbruch wurde in den 1970er Jahren unter anderem dadurch sichtbar, dass Schüler des BORG Egg von der Regio Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Region und damit eine Abkehr von gewohnten Entscheidungsstrukturen einforderten. Das BORG Egg Die ersten Schüler des 1968 gegründeten BORG Egg stehen für eine neue Jugendgeneration im Wald. Für diese Generation gilt, dass sie im Gegensatz zu ihren Eltern nicht mehr in einem intakten bäuerlichen Umfeld sozialisiert wurde und nicht mehr wie die wenigen aus der Generation davor »aufs Land« musste, um eine höhere Schulbildung abzuschließen. Das geänderte wirtschaftliche Umfeld erforderte neue Lebensstrategien und der Lebensweg der nun aufwachsenden Generation war nicht mehr klar vorgezeichnet. 1975 brachte der Gymnasiast Burkhard Bischof die veränderten Rahmenbedingungen auf den Punkt: »Heimat ist für die meisten von uns Jugendlichen ein sehr problematischer Begriff. Sicherlich beeindruckt uns junge Leute der ›Ortner’sche Begriff‹ 7 von der ›Vorarlberger Heimat‹ genauso wenig, wie die Veredelung und Verschnulzung des Bregenzerwäldertums«. Bischof spricht von der »Verstädterung des ländlichen Raums«, in dem der Fremdenverkehr und die Massenmedien »Wunder gewirkt« hätten. Der Konsum sei im Bregenzerwald angekommen: jener von Produkten, jener der Landschaft durch die Touristen und jener des Raumes durch rasante Bautätigkeit und Erschließung durch Lifte und Forstwege. 8 Die Veränderungen waren im eigenen Elternhaus spürbar: Bei 48,5% von 165 befragten Schülern wurden im Schuljahr 1975/ 76 zu Hause Fremdenzimmer vermietet. Noch hatten aber 21,8% einen Vater, der haupt- oder nebenberuflich als Landwirt tätig war. 9 Die Anzahl der Gymnasiasten war freilich überschaubar, 1968 startete das BORG mit einem Klassenzug von 39 Schülern, davon 11 Mädchen. 10 Anfänglich stand das Gymnasium vor dem Problem des Lehrermangels und des häufigen Lehrerwechsels, vor allem, weil sich viele Lehrer weigerten, »in den Wald zu gehen«, weil er ihnen als »das Ende der Welt erschien«. 11 1973 unterrichteten nur vier ständige Lehrpersonen 128 Schüler und nicht alle Fächer konnten angeboten werden. 12 Schüler einer weiterführenden Schule sind im Vergleich zu Lehrlingen, die früher ins Berufsleben eintreten, weniger stark dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, sich an die Konsum- und Lebensgewohnheiten der Erwachsenenwelt anzupassen. Ihr Zugang zu weiterführendem Wissen eröffnet die Möglichkeit, sich kritisch mit dem eigenen Lebensumfeld auseinanderzuset- <?page no="155"?> 156 Katrin Netter zen. Allgemein war die Situation im Schulwesen ab den 1960er Jahren im Aufbruch: Erziehungsprämissen begannen sich zu verändern. In der (schulischen) Erziehung rückten autoritäre Methoden zugunsten von beziehungsorientierter Vermittlung in den Hintergrund, was im BORG Egg durch den jungen Lehrkörper und die Intimität der Schule gefördert wurde. Die Frage des Umgangs mit Autoritäten wurde von den Lehrern auch mehrfach thematisiert. Professor Ernst Juen, Lehrer für Deutsch und Geschichte, stellte etwa bei einer Schularbeit die Frage: »Muß oder soll man Autoritäten anerkennen? «. 13 Der Elternvereinsvorsitzende Dr. Heinrich Schwarzmann bescheinigte den Lehrern, trotz Verwendung des »Du« gegenüber den Schülern, die vernünftige Anwendung der Autorität. Er äußerte aber Beruhigung darüber, dass im Wald die Kinder noch aus geordneten Familien kämen, in »denen keine extrem antiautoritären Tendenzen der Erziehung bestehen.« 14 Juen war einer der wenigen, die seit der Gründung an der Schule unterrichteten und der wohl prägendste Lehrer für den Aufbruch der 1970er Jahre. 15 Er »hat nicht autoritär unterrichtet und war sehr sozial und gesellschaftsoffen« 16 und förderte die Interessen der Schüler: Dies »bedeutete auch den Wunsch (Anm.: der SchülerInnen), den Bregenzerwald weiter zu entwickeln und mit den eigenen Ideen nach außen zu gehen.« 17 Juen lud die Schüler zu sich nach Hause ein und um ihn bildete sich ein wöchentlicher Kulturzirkel, in dem Bildende Kunst, Musik und Literatur diskutiert wurden. Für viele Schüler wird in Bezug auf ihr gesellschaftliches Engagement aber das zutreffen, was Johanna Vögel über die Beteiligung am Kulturzirkel geschrieben hat: Eine Mehrheit interessiere sich nicht dafür, es kämen immer die Gleichen und manche glaubten wohl, in der »alteingesessene Clique« der Engagierten keinen Platz zu finden. 18 Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft zeigen ein längeres Beharrungsvermögen als wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die offene, liberale Haltung des Lehrkörpers, der Habitus der Gymnasiasten und das gesellschaftspolitische Engagement einzelner Schüler erweckten Misstrauen in der Mehrheitsgesellschaft. Wie an anderen Orten hatten konservative Kräfte, die zuvor nichts gegen eine schulische Vermittlung von Werthaltungen hatten solange es noch die eigenen waren und die Lehrer nicht unter latentem Linksverdacht standen, mit dem BORG Egg ihre Schwierigkeiten. 19 In manchen Hauptschulen hätte man den Eltern geraten, ihre Kinder nicht ans Gymnasium nach Egg sondern nach Bregenz zu schicken, »weil dort […] ein liberaler Geist herrsche.« 20 Die Schüler wurden ihrer eigenen Einschätzung nach in Egg »alles andere als freundschaftlich« aufgenommen 21 und reflektierten dies in der ersten Maturazeitung in einem »Egger Volksstück«: In einer Szene stellt sich Dr. Bärbeiss die Frage, ob der Junglehrer nun links sei oder nicht, jeden- <?page no="156"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 157 falls wäre er bestimmt kein Schwarzer und möglicherweise sogar linksradikal. Dem Wirten Nasolo fällt auf, dass »der Langhaarlehrer« wirklich einmal frisiert ist. 22 Bildung ist von Werthaltung nicht zu trennen. Die Art wie im Gymnasium gesellschaftspolitische Fragen zum Thema gemacht wurden, fand 1973 seinen Niederschlag in der Gründung des Vereins Arbeitskreis Landprobleme durch mehrere Schüler und Lehrer, welcher ab 1973 die gesellschaftskritische Vortragsreihe »Wäldertage« veranstaltete. Noch Anfang der 1980er Jahre, als die Wäldertage schon zu Ende gegangen waren und obwohl die Verhältnisse am Gymnasium »keinen Anlass zu Kritik« gaben, wurden die sinkenden Schülerzahlen mit dem schlechten Ruf der Schule in Zusammenhang gebracht. 23 Letztlich wurde am Beispiel des Gymnasiums aber nur offensichtlich, was sich seit dem Zweiten Weltkrieg generell angekündigt hatte: »das Ende der traditionellen Autorität«. 24 Johanna Vögel, ehemalige Schülerin und Mitglied des Arbeitskreis Landprobleme, meint: »(Wir) waren [wir] sehr an gesellschaftspolitischen Themen und Problemen interessiert, wie etwa der Vietnamkrieg, der Putsch in Chile u.ä. Die Wäldertage waren sicherlich von der 68er Bewegung beeinflusst. Wir wollten auch alteingesessene autoritäre Strukturen umstoßen bzw. zumindest in Frage stellen, der Vormacht der Kirche, der ÖVP und der Tourismusbzw. Wirtschaftsbonzen etwas entgegensetzen.« 25 Aus dieser Motivation heraus erschien ab Anfang 1973 auch die Schülerzeitung Fleck. Ihr Herausgeber Erwin Lang schrieb: »Nun, einmal im Jahr eine Maturazeitung mit einem kritischen Beitrag (und der vom Ernst 26 ) ist ein bißchen wenig, und im Gemeindeblatt steht naturgemäß nichts Böses.« 27 Schülerzeitungen bildeten ab dem Ende der 1960er in Vorarlberg ein Medium der kritischen Meinungsäußerung, wobei ihre Publikation vom Lehrkörper nicht selten als Provokation aufgefasst und zu verhindern versucht wurde. 28 Der »Fleck« durfte mit der kritischen Unterstützung des jungen Lehrkörpers rechnen. Der Zeichenprofessor und Künstler Tone Fink meinte: »Ich bin dazu positiv eingestellt.« 29 Professor Juen merkte aber kritisch an, der Fleck solle nicht einer »pseudoprogressiven (sprich »linken« oder »rechten«! ) Fehlrichtung und Anti-Haltung« anheimfallen. 30 Das Redaktionsteam setzte sich aus Alois Lang (Wise) und Alois Lang (Mese), Johanna Vögel und Burkhard Bischof zusammen. 31 Obwohl sich die erste Ausgabe des Fleck über 200 Mal 32 verkaufte, wurde er nach drei Ausgaben im Frühjahr 1973 nicht mehr weitergeführt: Mese und Wise schieden nach der Matura aus der Schule aus, Vögel und Bischof waren bereits stark bei den Wäldertagen engagiert. Im Fleck wurden allgemeine gesellschaftliche Probleme ebenso thematisiert wie solche des eigenen Lebensumfeldes. 33 Erwin Lang steuerte einen zwanzigseitigen Artikel über Indochina, die amerikanische Außenpolitik und den Vietnamkrieg bei 34 , Burkhard Bischof <?page no="157"?> 158 Katrin Netter setzte sich auf Basis einer Umfrage mit der unterschiedlichen Lebenssituation von Schülern und Lehrlingen aus einander. 35 Im Comic »Winterfreuden« ging Wilhelm Sutterlüty mit der starken Fokussierung der Bevölkerung auf den Gast hart ins Gericht. Für ihn stellte sich die Situation als »Apartheidpolitik« zwischen »Gästen mit Mercedes«, »gewöhnlichen Gästen«, »Einheimischen« und »Gastarbeitern« dar, wobei unter der Devise »Alles für den Gast« »Appartmenthäuser« im Stile von »Munitionsbunkern« gebaut würden. 36 Burkhard Bischof und Alois Lang gingen auf die regionale Politik ein, beleuchteten Zielsetzungen und Organisation der Regio und warfen die Frage auf, ob der Bau von Appartmenthäusern den Zielsetzungen des Regio-Studienkomitees für Fremdenverkehr entspreche. Sie forderten die Mitwirkung der Jugend in der Regio ein, da »wir Jungen in Jahren und Jahrzehnten die positiven und negativen Folgen dieser Planungen« zu tragen haben werden. 37 Wohl auf Bitte von Ernst Juen wurden die Schüler der Abschlussklasse 1973 auch zur Vollversammlung der Regio eingeladen. Die geforderte Teilnahme der Schüler an Arbeitssitzungen wurde jedoch abgelehnt, denn »das würde für uns einen zu großen Aufwand bereiten, da in diesem Fall alle Unterlagen vervielfältigt werden müßten.« 38 Abschließend lässt sich festhalten, dass die engagierten Schüler der frühen 1970er den Linken überzeugendere Konzepte der Problemlösung zugestanden als den politisch Rechten. Ihr Anspruch spiegelt sich in einem unter redaktioneller Leitung von Johanna Vögel erschienenen Artikel von Günther Nenning, »Der engagierte Student«, in der Maturazeitung 1974 wieder. Nenning forderte die Schüler zu aktiver Beteiligung an der Organisation Schule, zum freundschaftlichen Diskurs mit den Lehrern und zum gesellschaftlichen Engagement auf. 39 Wenn Werner Witwer im Rückblick von einem Lernkörper-Gymnasium spricht 40 , manifestiert sich in der Begriffswahl die sowohl von der Studentenbewegung als auch von Nenning geforderte Demokratisierung der schulischen Verhältnisse. Klassisch »urbane« Aktionen des »friedlichen demokratischen Kampfes« wie Demonstrationen, Blockaden und Flugblätter hatten im engen regionalen Kontext des Waldes freilich keine Entsprechung. 41 Titelblatt der Schülerzeitung Fleck. Aus: Fleck, 1. Ausgabe (o. D. 1973). Archiv des Gymnasiums Egg. <?page no="158"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 159 Der Verein »Arbeitskreis Landprobleme« Mitglieder und Strukturen Für die kulturell und politisch interessierten Jugendlichen des Gymnasiums boten die Randspiele in Bregenz ein interessantes Angebot. Sie lernten dort einzelne Mitglieder der Vorarlberger Kulturproduzenten wie den Publizisten und Historiker Kurt Greussing sowie Walter Fink, selbst ein Wälder, kennen »und langsam ist die Bewegung in den Bregenzerwald gekommen.« 42 Der damalige Egger Bahnhofsvorstand Dieter Macek erinnert sich, dass Burkhard Bischof an einer Sitzung der Bregenzer Randspiele teilgenommen hat und dort die Idee aufkam, ein ähnliches Kulturprogramm im Bregenzerwald umzusetzen. Kurt Greussing hätte Bischof empfohlen, sich für die Umsetzung an Macek zu wenden. 43 Der aus Bludenz stammende Macek war durch seine zufällige Teilnahme am Pariser Maiaufstand 1968 politisiert worden und hatte nach seiner Rückkehr in Vorarlberg die »Neue Linke Vorarlberg«, einen informellen Lesezirkel zur politisch-theoretischen Weiterbildung, ins Leben gerufen. 44 Er hatte schon mehrfach großes Aufsehen im Wald erregt, unter anderem weil er 1972 ein Popkonzert mit den Gamblers veranstaltet hatte, welches wegen kurzfristiger Kündigung des Saales im Egger Gasthaus Löwen unter Polizeiaufsicht im Freien stattfinden musste. 45 Im Frühjahr 1973 kam es zur Gründung eines Proponentenkomitees im Egger Gasthaus Adler, wo neben einem Dutzend Gymnasiasten nur vier Volljährige anwesend waren: Ernst Juen, Tone Fink, Toni Metzler und Dieter Macek. 46 Anliegen eines zu gründenden Vereins sollte die Frage sein: »Was für Schwierigkeiten hat die Jugend, besonders die Jugend ›auf dem Land‹? 47 Die Gründung stand mit Maceks Worten im Zeichen der Unzufriedenheit über die Situation im Wald, wo »politischer Konservativismus mit einem kräftigen Schuß Unduldsamkeit gegenüber anderen, fortschrittlichen Auffassungen, Mißtrauen gegenüber jeder Form von Aktivität, die nicht von der Kirche, von der konservativen Partei oder einflußreichen Personen ausgeht«, herrsche. 48 Daraus ergab sich für den am 16. August 1973 konstituierten Verein Arbeitskreis Landprobleme 49 das Ziel, »die Öffentlichkeit verstärkt mit den Problemen des ländlichen Raumes in sozialer, kultureller u. ökonomischer Hinsicht zu befassen […] (und) zu einer wirkungsvolleren Kommunikation über diese Fragen beizutragen«. 50 Umgesetzt wurde dieses Ziel im Rahmen der Wäldertage, einer zwischen 1973 und 1979 zumeist im Herbst organisierten, gesellschaftskritischen Veranstaltungsreihe. Die in Summe 57 öffentlichen Veranstaltungen waren von einer großen inhaltlichen Breite geprägt. Mit sechs Veranstaltungen dominierte das Thema Jugend, gefolgt von der Landwirtschaft, Religion, Schule, Bildung, Sexualität, Fremdenverkehr, Kultur- und Sozialgeschichte, Menschenrechte und Integration. 51 Freilich: <?page no="159"?> 160 Katrin Netter Provokation und Rebellion gegen Traditionen und eine neue, »verkehrte« Sicht waren Programm: Das vom Dornbirner Grafiker Reinhold Luger entworfene Logo der Wäldertage stellte die Tanne und damit eines der ältesten Symbole der Wälder Identität auf den Kopf. Denn die Tanne wurde seit dem Spätmittelalter von der Gerichtsgemeinde hinterer Bregenzerwald, der 12 der heute 24 Orte der Region angehörten, im Siegel geführt und findet sich bis heute in vielen Gemeindewappen wieder. 52 Bis Mitte September 1973 gehörten dem Verein um die 50 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren an 53 , darunter die Gymnasiasten Burkhard Bischof, Johanna Vögel, Edwin Metzler, Manfred Sutter und Barbara Ritter sowie der Bildhauer Anton Moosbrugger. 54 Auf der Suche nach jemandem aus »der bäuerlichen Welt« konnte der Andelsbucher Jungbauer Kaspanaze Simma gewonnen werden. 55 Der gesellschaftliche Druck auf die Mitglieder war allerdings groß, und der Verein verlor anfänglich rasch wieder (jugendliche) Mitglieder. 56 Nachdem Johanna Vögel 1973 in einem Fernsehinterview zu den Wäldertagen die Überschwemmung des Tales durch den Tourismus und das Empfinden der Jugendlichen angesprochen hatte, die Politik würde ihrer Altersgruppe nichts bieten, bekamen ihre Eltern Drohanrufe. 57 Dem gesellschaftlichen Druck der ersten Jahre war, neben Richtungsstreitigkeiten innerhalb des Vereins 58 , der rasche Wechsel der Obmänner geschuldet: Ernst Juen [Aug. 1973- Sept. (? ) 1974], Kaspanaze Simma [Sept. (? ) 1974 - Dez. 1974], Anton Metzler [Dez. 1974- Juli 1975], Edwin Metzler [ Juli 1975 - 1976 (? )] und schließlich Anton Bär [1976 heute]. 59 Organisatorische Stütze blieb Dieter Macek, der bis zum Schluss die Förderanträge an Bund und Land stellte. 60 In den ersten Jahren waren weder das Land 61 noch die Wälder Gemeinden zu Subventionen bereit. 62 Die Wäldertage wurden aber von Beginn an durch das Bundesministerium (BM) für Unterricht und Kunst unter Dr. Fred Sinowatz unterstützt, welcher in den 1970er Jahren öster- Vorderansicht Programmfolder Wäldertage (Logo) aus dem Jahr 1975. Aus: BWA, I-042. <?page no="160"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 161 reichweit eine Vielzahl von künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen außerhalb der etablierten Kulturbetriebe und ihrer klassischen Programme förderte. 63 Schon 1973 betrug die Fördersumme seines Ministeriums 15.000 Schilling und nochmals die gleiche Summe kam vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. 64 Doch auch andere Gründe führten zu einem starken Mitgliederwechsel. Viele Gymnasiasten verließen nach der Matura den Wald, Macek selbst zog 1976 ins Rheintal, wodurch sich die Organisationsstrukturen verschoben. 65 <<Foto 3 Dieter Macek um 1976 = weglassen, wegen schlechter Qualität? ? ? >> Neue aktive Mitglieder fanden sich zunächst unter Lehrern anderer Schulen, so etwa die beiden 1974 aus Ostösterreich zugezogenen und in Bezau unterrichtenden Hauptschullehrer Friedrich Wolaskowitz und Christine Hartmann. 66 Allein schon ihr Zusammenleben als unverheiratetes Paar erregte in Bezau Anstoß. 1975 kandidierte Wolaskowitz darüber hinaus als Ein-Mann-Liste zum Personalvertreter des sozialistischen Lehrervereins, verfehlte aber sein Mandat knapp. Daraus nährten sich Gerüchte, er sei von der SPÖ geschickt worden um »in Bezau eine rote Zelle zu bilden«, und die Angst, der Sozialismus schwappe in den Wald über. 67 Im Schuljahr 1977/ 78 wurde dann Realität, was Bezirksschulinspektor Helbock zuvor schon angekündigt hatte: Wenn jemand bei den Wäldertagen mitarbeitet, bekommt er im Schuldienst Probleme. 68 Gemeinsam mit zwölf anderen Lehrern wurde Wolaskowitz aus »zwingenden« dienstlichen Gründen von Bezau nach Höchst versetzt. 69 Parteipolitisch motiviert war der Verein jedoch nie, 1976 gehörten drei Mitglieder der SPÖ und vier der ÖVP an, die restlichen 30 waren parteiunabhängig. 70 In Summe waren es nach einer handschriftlich ergänzten Liste zwischen 1973 und 1979 43 aktive Mitglieder, wobei 33 von ihnen aus dem hinteren oder mittleren Wald und 10 von außerhalb stammten. 71 Die Zahl der aktiven Mitglieder war jedoch auf Dauer zu gering. Die Vereinsaktivitäten reduzierten sich zunehmend auf die Programmierung der Wäldertage, während in der Anfangszeit in einzelnen Arbeitsgruppen noch konzeptionell gearbeitet worden war: Ein 1973/ 74 erarbeitetes Landwirtschaftskonzept 72 wurde sogar an Dr. Haiden übergeben […]. 73 Als im September 1976 die Neubildung von fünf Arbeitsgruppen beschlossen wurde, um sich wieder stärker den Problemen des Waldes zu widmen 74 , hatten sie keinen längerfristigen Bestand. <<Foto 4, besser auch weglassen>> Es war »eine gewisse Ermüdung eingetreten«, die Themen der Wäldertage schockierten weniger als zu Beginn und Wolaskowitz meint, dass »bereits die Gegnerschaft fehlte«. 75 1979 gingen die Wäldertage zu Ende. Während Werner Witwer mutmaßt, dass einfach »ihre Aufgabe erfüllt war« 76 , ist Dieter Macek bis heute der Überzeugung, dass »man uns umgebracht hat«. 77 <?page no="161"?> 162 Katrin Netter Vortragsreihen Die Wäldertage brachten, ähnlich wie die Bregenzer Randspiele, die Vorarlberger Künstler, Lehrer, Grafiker, Schüler, Journalisten und Architekten der Alternativszene immer wieder zusammen und hatten damit nicht nur regionale Auswirkungen. Die Auswahl der Vorträge war einerseits geprägt vom Diskurs innerhalb dieser Szene und der anfänglichen Unterstützung durch die Vorarlberg Kulturproduzenten, andererseits vom Wunsch der beteiligten Jugendlichen verkrustete Strukturen in Frage zu stellen und regionale Themen aufzugreifen. Walter Fink und Kurt Greussing unterstützten das Proponentenkomitee »vor allem konzeptionell« 78 bei der Erstellung des ersten Programms, welches auch in einer Vollversammlung der Kulturproduzenten diskutiert wurde. 79 Sie halfen Macek beim Briefverkehr mit den Referenten, gaben Ratschläge für deren Honorar und stellten teilweise den Kontakt her. So trat der Literat und Professor an der Pädagogischen Hochschule, Franz Bertel, an Friedrich Achleitner heran und Kurt Greussing hatte schon 1973 an eine Einladung Adolf Holls gedacht. 80 Walter Fink, die »Feuerwehr in allen Fällen«, vermittelte Walter Methlagl für den allerersten Vortrag über Franz Michel Felder und organisierte die Pressekonferenz vor Beginn der ersten Wäldertage. 81 Die größte Aufregung lösten die in Summe fünf Vorträge zu Religion und Sexualität aus, die das Bild von den Wäldertagen in der Außenwahrnehmung am Nachhaltigsten prägten. 82 Die Reaktionen stehen stellvertretend für das allgemeine kulturelle Klima der 1970er Jahre in Österreich, in denen der Widerstand gegen Kulturveranstaltungen noch den Charakter eines Kulturkampfes annehmen konnte. Durch die größere soziale Kontrolle in den einzelnen Dörfern war der persönliche Druck auf die Organisatoren wohl aber höher als in einer Stadt. Schon im Vorfeld protestierte das Katholische Bildungswerk in einer Resolution »auf das schärfste« gegen Adolf Holls 83 Vortrag »Ein Jesus für Jugendliche« am 09. November 1974 in Andelsbuch. Die Wäldertage seien nicht unparteilich sondern würden »linksgerichtetes Gedankengut« in den Wald einschleusen, um die »sittlich-religiöse Haltung unserer Jugend in politische und weltanschauliche Dunkelkanäle umzulenken.« 84 Im mit 200 Zuhörern vollbesetzten Vortragssaal des Gasthauses Taube saßen wegen befürchteter Schlägereien sogar zwei Polizisten in Zivil und ein Bus mit Polizisten stand vor dem Gemeindehaus.85 Die medialen Reaktionen waren differenziert. Die Neue folgte Holls Argumentation, dass Jesus kein Freund der Herrschenden gewesen sei. Holl fordere nicht zum Kirchensturm auf, sondern die Jugendlichen im christlichen Sinne zur Veränderung von »ungute(n) Verhältnisse(n)«. 86 Der Vorarlberger Volksbote sprach demgegenüber vom »sensationellen Versuch, den Bregenzerwäl- <?page no="162"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 163 dern das Abstandnehmen von Glaube und Zucht aufreden zu wollen.« 87 In Ergänzung merkte ein Leserbriefschreiber an, dass nun auch auf Radio Vorarlberg weitergewühlt würde. Dort sei ein ganzes Jugendmagazin der Veranstaltungsreihe der »Neuen Linken«, gemeint waren die Wäldertage, gewidmet worden. Dies sei eine Zumutung, weil die »Anhänger der Neuen Linken oder der sich hinter »Landproblemen« tarnenden Gruppe« in keinem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Landes stünden. 88 Ähnlich waren die Reaktionen auf den Vortrag von Adalbert Krims, »Kritische Kirche, kritisches Christentum«, am 02. November 1975: Die Veranstalter der Wäldertage seien nicht ehrlich, sie gäben sich als »kritische Christen« aus anstatt als Marxisten. 89 Am Nachhaltigsten, ja sogar als revolutionär, wird im Rückblick selbst von zeitgenössischen Kritikern die durch die Wäldertage in Gang gesetzte Sensibilisierung für gute Architektur gesehen. 90 Am 27. Oktober 1973 sprach Friedrich Achleitner zum »Bauen im öffentlichen Raum« in Andelsbuch. Der Vortrag selbst stieß auf enormes Publikumsinteresse, auch von außerhalb des Waldes. An Hand von 200 Bildern stellte Achleitner die historisch gewachsene Bausubstanz den größten architektonischen Fehlplanungen der vorangegangenen Jahre gegenüber. Gerhard Lehner sprach in der Neuen sogar von einem der wichtigsten in Vorarlberg je gehaltenen Vorträge, weil das gemeinsame Gespräch über die Architektur, das auch von einigen Mitgliedern der Regio angeregt worden sei, dringend nötig wäre. 91 Die häufigsten Themen der Wäldertage waren jedoch die Situation der Jugend und der Landwirtschaft. Am 25. Oktober 1973 sprach Günther Scheer gemeinsam mit Bürgermeister Obkircher aus St. Veit zur »Lage der Bauernschaft heute« in Bezau, wo laut Dieter Macek die Unzufriedenheit der anwesenden Bauern mit ihren Vertretungen »offen in den Vordergrund« trat. 92 Am 15. November 1975 las Franz Innerhofer aus »Schöne Tage«, am 30. Oktober 1975 sprach Josef Kramer über »Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen«. 93 Das Jugendinformationsfest am 18. und 19. September 1976 in der alten Fabrik in Andelsbuch wollte Möglichkeiten aufzeigen, wie sich Jugendliche aktiv am politischen und sozialen Leben beteiligen und ihre Freizeit gestalten können. Neben den Vorarlberger Jugendhäusern mit Selbstverwaltung informierten unter anderen Amnesty International, die Schülerzeitungen Rübe und Zwiebel, die Vorarlberger Gewerkschaftsjugend und der Verein selbst. 94 Wohl im Zuge des Festes wurden die Jugendlichen mit Hilfe eines Fragebogens auch zu den Vereinsaktivitäten - und unter welchen Voraussetzungen sie sich eine Mitarbeit vorstellen könnten - befragt. Die Anliegen des Vereines wurden von den Jugendlichen durchaus ähnlich eingeschätzt wie von der Politik und den Medien, wenngleich zumeist positiv bewertet: Einfluß <?page no="163"?> 164 Katrin Netter der Kirche zurückdrängen, freiere Einstellung zur Sexualität und Ablösung des kapitalistischen durch das sozialistische System lauteten drei Antworten. Die Befragten kritisierten aber auch den ständigen Personalwechsel, Konzeptlosigkeit, Linkstendenzen und zu wenig Mitgliederwerbung. 95 Politische Reaktionen in der Region Politisches Pendant und auch Projektionsfläche für die Organisatoren der Wäldertage war die 1970 geschaffene Regio. Ziel der Regio war es überregional notwendige, infrastrukturelle Maßnahmen auf Basis eines politisch besetzten Vereines umzusetzen. Darüber hinaus verstanden einzelne Funktionäre die Regio als christliche Wertegemeinschaft. 96 Dem gegenüber sahen sich die Wäldertage als basisdemokratische Initiative, welche auch links-progressiven Denkansätzen eine Plattform bieten wollte. Daraus lassen sich ideologisch und vom Politikverständnis Differenzen ableiten. Freilich, die Regio war kein monolithischer Block und einzelne regionale Politiker und Funktionäre reagierten auf die Anliegen der Wäldertage sehr unterschiedlich: die Reaktionen reichten vom Versuch der Vereinnahmung bis zur Opposition und kritischer Zustimmung für die Anliegen. Der Regio-Geschäftsführer Dr. Gottfried Feurstein versuchte zunächst die Akteure in bestehende Strukturen zu integrieren und etwa Johanna Vögel für die ÖVP zu gewinnen, was diese ablehnte. 97 Einem Bericht Maceks zufolge kam Feurstein anfänglich im Auftrag der Regio zu den Vorträgen, um alle unsere Veranstaltungen zu »zerlegen«. 98 Zwar gestand Feurstein den Veranstaltern nach den Vorträgen der ersten Jahre, die sich seiner Ansicht nach gegen die Familie, Sittlichkeit und Religion gerichtet hatten, durchaus Idealismus und den Willen zu positiver Veränderung zu. Die finanzielle Unterstützung durch sozialistische Minister sei allerdings bedenklich, weil diese »so Sozialismus verbreiten« wollten. 99 Der Verein selbst sah das anders und in der Unterstützung durch das Ministerium keinen Grund, sich bei sensiblen Themen das Recht auf Kritik nehmen zu lassen. Der von Robert Jungk gehaltene Vortrag »Altes und Neues gegen Zwentendorf« am 29. Oktober 1978 in Bezau wurde im Förderungsansuchen von Dieter Macek an das Unterrichtsministerium auf Bitte des Vereines bezeichnenderweise nicht erwähnt. 100 Ab 1976 versuchte die Regio die Veranstaltungen der Wäldertage zu kanalisieren und mit anderen Kulturveranstaltern zu koordinieren. In von der Regio initiierten Gesprächen mit dem Arbeitskreis Landprobleme, dem Katholischen Bildungswerk und den Bregenzerwälder Kulturtagen kam man überein, die Aktivitäten gegenseitig abzustimmen. 101 Während jedoch die Kulturtage ohne Abstimmung mit den Wäldertagen im Juli 1976 veranstaltet wurden, <?page no="164"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 165 beanspruchte die Regio ein Mitspracherecht für die Gestaltung des im September 1976 stattfindenden Jugendinformationsfestes in Andelsbuch. Daraus ergab sich ein auch im Vorarlberger Volksboten thematisierter Konflikt 102 zwischen Regio und Arbeitskreis. 103 Dieser führte beim Arbeitskreis zum Entschluss in Zukunft auf eine Zusammenarbeit mit der Regio zu verzichten, weil die Wäldertage »bisher immer von Politikern hereingelegt wurden.« 104 Allerdings zeigte sich im Herbstprogramm 1977 erstmals eine Annäherung an die lokale Politik, als bei einer Podiumsdiskussion zum Thema »Finanzausgleich - wo bleibt die Chancengleichheit« in Andelsbuch neben dem Andelsbucher Bürgermeister Ferdinand Kohler auch Dr. Gottfried Feurstein diskutierte. 105 In der Regio selbst gaben die Wäldertage den Impuls zu einer verstärkten inhaltlichen Ausrichtung auf die Probleme der Jugendlichen. 1975 veranstaltete die Regio gemeinsam mit dem Katholischem Bildungswerk Bregenzerwald eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Jugend und Gesellschaft«, weil »Generationsprobleme, Fragen der Sexualität und der Autorität [sind] vielfach zu einer Zerreißprobe für unser Zusammenleben in der Familie und in der Gemeinde geworden« sind. 106 1980 richtete die Regio ein Studienkomitee für Jugendfragen ein 107 und führte in der Folge eine Reihe von Veranstaltungen für Jugendliche durch. 108 Sie war allerdings damit konfrontiert, dass »die Jugendlichen Veranstaltungen der Regio und der ÖVP mit großen Vorbehalten begegnen«. 109 Aufbruch in der Kirche Das Befreiungsanliegen der Wäldertage wurde auch von anderen Personen geteilt, wenngleich diese »ideologisch anders motiviert waren«. 110 Im Herbst 1970 kam mit Josef Jäger ein Pfarrer nach Egg, der vom Geist des 2. Vatikanums geprägt und gewillt war, die Pfarrangehörigen stärker in die Pfarrarbeit zu integrieren. 111 Parallel dazu befand sich die katholische Jugendarbeit im Wandel. Ende 1970 veranstaltete die KJ Egg erstmals ein Jugendforum zu den Themen Jugendliche, Sexualität und Eheschließung 112 , welches im Jahr darauf unter dem Thema »Wir brauchen die Jugend« aus Sicht der Gemeinde und der Kirche stand. Gegenüber Bürgermeister Richard Natter wurde im Forum angemerkt, dass bis dato noch keine Jugendlichen im Egger Gemeinderat vertreten seien und die Bildung eines Ausschusses für Jugendfragen vorgeschlagen. 113 In der Folge wurde ein Jugendausschuss der Pfarre eingerichtet, der sich unter anderem mit Fragen der offenen und geschlossenen Jugendarbeit beschäftigte. 114 Nach Abbruch des Kaplanhauses im Jahr 1973 fehlten zunächst geeignete Räumlichkeiten. Mit dem im Dezember 1975 neu eröffneten Pfarrzentrum konnte Abhilfe geschaffen werden 115 und im Namen einer »Initiativ- <?page no="165"?> 166 Katrin Netter gruppe« formulierte Hans Geser im Pfarrblatt die Möglichkeiten für eine offene Jugendarbeit. 116 Eine zusätzliche Dynamik in der pfarrlichen Jugendarbeit brachte die Bestellung von Werner Witwer als Kaplan im Jahr 1975, welcher ab dem gleichen Schuljahr auch als Lehrer am Gymnasium unterrichtete. Witwer stammte ursprünglich aus Thüringen und hatte ab 1968 in Innsbruck studiert, wo er politisch geprägt wurde. Seine kritische Haltung zu überkommenen Lehrmeinungen und ein klares Bekenntnis zu Toleranz haben Witwers weiteren Lebensweg begleitet, ihn aber wiederholt in Konflikt mit kirchlichen Autoritäten gebracht. 117 Die pfarrliche Jugendarbeit, die Werner Witwer als Jugendseelsorger des Dekanats betrieb war allerdings so offen, dass es in Egg letztlich keine »unabhängige und offene Jugendarbeit [nicht] gebraucht (hat), da alles in einander geflossen ist«. 118 Auf Witwers Vorschlag bekam das neue Pfarrzentrum seinen Namen: Arche. - Ein Ort für alle, die nicht so leicht überleben können. 119 Zwischen 40 und 80 Jugendliche nutzten - unter Einhaltung des Alkoholverbots - jedes Wochenende das Pfarrzentrum zum gemütlichen Beisammensein 120 , wobei dies von Teilen der Bevölkerung durchaus kritisch gesehen wurde. 121 Obschon »alle, deren Gesinnung nicht dem christlichen Geist widerspricht« 122 eingeladen waren in der Arche mitzuarbeiten, musste der von Witwer am 15. Mai 1977 im Rahmen der Wäldertage gehaltene Vortrag über »Toleranz und Intoleranz. Phänomene im Bregenzerwald im Vergleich mit christlichem Handeln« im Gasthof Löwen in Egg stattfinden. Witwer begann den Vortrag mit den Worten: »Mein Blut ist rot, mein Herz schlägt links, wie schwarz meine Seele ist, mögen andere beurteilen« und führte einen Film vor, in dem jemand nichts Böses, aber immer etwas anderes tut als die anderen, und dadurch ausgegrenzt wird. Witwer merkte an, er würde es als Intoleranz empfinden, Veranstaltern die Arche zu verweigern, weil sie links seien, womit ihnen der christliche Geist abgesprochen würde: »Denn Christus als Revolutionär und sozialer Reformer steht dem linken Lager näher als so manche restaurative Tendenz in der Amtskirche.« 123 Wenn auch kritisch in seiner Haltung und damit unbequem, löste Witwers Versetzung nach Brand im Jahr 1980 zum großen Teil Bedauern aus. Franz Hammerer äußerte im Namen des Jugendausschusses in einem Schreiben an den Bischof den Eindruck, »daß Gerüchte, welche von massiven Einsatz politischer Funktionäre gegen die Weiterarbeit des Seelsorgers sprechen, die Entscheidung beeinflussen könnte.« 124 Jugendhausbewegung im Bregenzerwald Die 1970er Jahre sind die Zeit als Jugendliche landesweit begannen, außerhalb von etablierten Vereinen Begegnungsräume einzufordern. 1974 <?page no="166"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 167 wurde mit dem Graf Hugo in Feldkirch das erste Jugendhaus Vorarlbergs eröffnet. 1978 formierte sich die Jugendhausbewegung in einem landesweiten Dachverband, welcher der offenen Jugendarbeit verpflichtet war und sich als Koordinationsstelle zwischen bereits bestehenden Jugendhäusern und neuen Initiativen verstand. Die an den Wäldertagen beteiligten Jugendlichen hatten allerdings keinen unmittelbaren Kontakt zur Vorarlberger Jugendhausbewegung. 125 Einen Schritt weiter ging die Jugendhausinitiative Bregenzerwald unter ihrem Sprecher Hubert Ritter, welche 1979 in den Dachverband aufgenommen wurde. 126 Sie ging aus einem Freundeskreis hervor, der sich regelmäßig im Café Liss in Andelsbuch traf. Ihm gehörten mehrheitlich männliche Jugendliche aus Andelsbuch und Egg an, Schüler und Lehrlinge. 127 Der Freundeskreis war eine eingeschworene Gruppe, welche sich im allgemeinen Angebot für Jugendliche nicht wiederfand und versuchte, sich »gegen die Bürgerlichkeit und die kleine Welt des Waldes abzugrenzen«. 128 Als der Vereinsobmann des Dachverbandes, DSA Bernhard Amann, im Herbst 1979 im Café Liss einen Vortrag über autonome Jugendhäuser und Jugendarbeit hielt 129 , zeigte sich der Freundeskreis fasziniert von der Idee, eine »Begegnungsstätte der Jugendlichen zu haben«. 130 Eine zeitgenössische Mitschrift listet die notwendigen Schritte zur Errichtung eines autonomen Jugendhauses auf und nennt als wichtige Ziele gemeinsame Veranstaltungen mit den Wäldertagen sowie die Bildung eines Vereines, um gegenüber der Politik mit einem konkreten Projekt auftreten zu können. 131 In das am 08. März 1980 durch die Regio gegründete Studienkomitee für Jugendfragen wurden allerdings nur Organisationen aufgenommen, die bereits Jugendarbeit praktizierten. 132 Nachdem Alfons Rüscher in der Neuen die Mitarbeit der Initiative eingefordert hatte, kam es am 21. April 1980 zu einem Treffen mit dem Studienkomitee, in welchem das Anliegen der Gründung eines selbstverwalteten, offenen Jugendhauses mit hauptamtlichen Sozialarbeitern zur Sprache kam. 133 In der Folge initiierte der Andelsbucher Bürgermeister Kohler 134 ein Treffen mit Bauern einer Genossenschaft, welchen ein leerstehendes Sennhaus auf dem Büchel gehörte. 135 Die Sitzung eskalierte, als ein anwesender Schüler das geplante Jugendhaus im negativen Sinn mit Sex und Drogen in Verbindung brachte 136 und das Sennhaus wurde nicht zur Verfügung gestellt. Am 17. Jänner 1981 fand schließlich die Gründung des Vereins »Wörkshop« im Café Liss unter dem Obmann Hubert Ritter statt. 137 Durch die Schaffung und Erhaltung von Räumen, Sozial-, Berufs-, Drogen- und Rechtsberatung, sowie Arbeitsgruppen zu kulturellen Themen sollte die »Emanzipation des Menschen durch Erziehung zur Autonomie« erreicht werden.« 138 Mit dem Wegzug mehrerer Mitglieder im selben Jahr war der Höhepunkt zum Zeitpunkt der Vereinsgründung allerdings bereits überschritten, außer Mundpropaganda war <?page no="167"?> 168 Katrin Netter keine Mitgliederwerbung betrieben worden und die meisten Veranstaltungen hatten schon 1980 stattgefunden. Fazit So stellt sich abschließend die Frage, was die Akteure des Aufbruchs mit dem Begriff Provinz verbanden. Zahlreiche Mitglieder der Wäldertage waren von auswärts zugezogen und hatten einen von persönlichen Bindungen freien Blick auf die Verhältnisse. Friedrich Wolaskowitz bringt es folgendermaßen auf den Punkt: Man muss sich aber vorstellen, dass damals im Bregenzerwald kulturell nicht sehr viel los war. Für uns als Städter waren die Wäldertage besonders wichtig. Wir waren bei keinem lokalen Verein, kulturell und gesellschaftspolitisch war im Bregenzerwald sonst nichts los. Rundherum auf der Welt haben die Jugendlichen revoltiert und wir saßen im Bregenzerwald und aßen Kässpätzle. - Vielleicht sieht man den Mangel, wenn man von außen kommt besser 139 . Gleichzeitig bot die Kleinheit Vorarlbergs Vorteile, und wer sich engagierte, kam schnell mit Gleichgesinnten auch außerhalb der Region Bregenzerwald und den politischen Entscheidungsträgern in ganz Vorarlberger in Kontakt. »Es war für mich faszinierend zu sehen, wie leicht es in Vorarlberg war, mitzugestalten. Man konnte beim Bregenzer Bürgermeister einfach anklopfen und bei der Landesregierung war es genau das Gleiche. Wenn der Bürgermeister oder der Landeshauptmann da war, konnte man sofort mit diesen sprechen. Man hatte also die Möglichkeit, direkt Einfluss zu nehmen und mitzugestalten. Es war auch spannend, dass man im Bregenzerwald eine Veranstaltung machen konnte und am nächsten Tag schrieb die größte Zeitung des Landes darüber. 140 Für die Ausgestaltung der Wäldertage war der Kontakt der Gymnasiasten mit den Kulturproduzenten und damit mit der Vorarlberger Alternativszene und ihren überregionalen Kontakten entscheidend. Daraus ergibt sich auch ein Dualismus mit den Metropolen und eine Befruchtung durch diese, da viele Vortragende der Wäldertage aus Großstädten stammten wie etwa Friedrich Achleitner oder Adolf Holl aus Wien. Gegenüber den Metropolen hatte die Provinz den Nachteil, dass die Zahl der Gleichgesinnten gering war. Eine alternative Lokalszene konnte sich nicht entwickeln, die Initiativen kämpften mit Nachwuchsproblemen. Das zeigte sich sowohl beim Verein Wörkshop als auch bei den Wäldertagen, bei beiden Vereinen waren die Zahl der aktiven Mitglieder auf Dauer zu wenig. Die Akteure der vorgestellten Initiativen waren in erster Linie Jugendliche und Zugezogene, die das Aufbegehren gegen traditionelle Autoritäten und gesellschaftliche Zwänge sowie der Wunsch nach Mitsprache bei Problemen des eigenen Umfeldes einte. Für sie bedeuteten die 1970er Jahre eine wichtige Phase <?page no="168"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 169 ihrer Sozialisation, in der sie das Einstehen für eigene Positionen lernten. Die politisch-ideologische Haltung der ehemaligen Akteure war und ist hingegen breit gefächert. Kaspanaze Simma wurde 1984 mit 13% der Stimmen für das Wahlbündnis der Alternativen Liste mit den Vereinten Grünen der erste grüne Landtagsabgeordnete Österreich, vertritt aber gesellschaftspolitisch durchaus wertkonservative Haltungen. Johanna Vögel wurde nach ihrem Studium in Berlin Mitglied von Longo Mai, einer selbstverwalteten landwirtschaftlichen Kooperative. Maßgebliche Akteure leben heute nicht mehr im Wald. Von den Verbliebenen setzten einige, wie Gottfried Winkel, ihr gesellschaftspolitisches Engagement in den 1980er Jahren unter anderem in der Verkehrsinitiative Bregenzerwald oder bei den Grünen fort. In den 1980er Jahren sind schließlich auch Demonstrationen als Ausdruck des zivilen Protestes außerhalb der traditionellen Vertretungskörper, etwa gegen die Schließung der Bregenzerwaldbahn oder die Errichtung eines Achkraftwerkes, im Bregenzerwald angekommen. Die Wäldertage werden bis heute aber durchaus als Vorbild und Vorläufer wahrgenommen, so etwa vom 1992 gegründeten Kulturforum Bregenzerwald, das sich als kritischer und unabhängiger Anbieter von Veranstaltungen sieht und mit diesen Entwicklungen in der Region beleuchten und Hintergründe verstehbar machen will. 141 Anmerkungen 1 Anna Rösch-Wehinger, Die Grünen in Vorarlberg. Von den sozialen Bewegungen zur Partei. (Tiroler Studien zu Geschichte und Politik 10). Innsbruck Wien Bozen 2009, S. 16. 2 Ingrid Böhler, Das Verschwinden der Bauern. In: Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit, hg. Franz Mathis, Wolfgang Weber (Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945). Wien Köln Weimar 2000, S. 92-115, hier S. 92 und S. 108. 3 Zahlenangaben für den Gerichtsbezirk Bezau. Das ist die gesamte Region Bregenzerwald ausgenommen die Gemeinden Doren, Sulzberg und Riefensberg. Böhler, Bauern, S. 99. 4 Vgl. http: / / www.vorarlberg.at/ pdf/ 5_tourismusjahreab1983_84.pdf (Download vom 24.01.2010) 5 http: / / www.vorarlberg.at/ pdf/ landtagswahl2004.pdf (Download vom 25.08.2009). Bis heute ist der Wald politisch konservativ geprägt. Bei der Landtagswahl 2004 wählten 78% die ÖVP. 6 Anton Sutterlüty, Selbstorganisation als praktische Erfahrung der Regionalplanungsgemeinschaft Bregenzerwald. (Boku-Raumplanung. Reihe »extracts« 1). Wien 1983, S. 17-19, hier S. 19. 7 Von 1969 bis 1986 war Franz Ortner Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten, der auflagenstärksten Zeitung Vorarlbergs. 8 Burkhard Bischof, Bregenzerwald - Einmal anders. In: Maturazeitung des MUPÄD Egg. Undorm Da. (1975), S. 32-34, hier S. 32- 33. 9 Freilich: die Zahl der Väter mit einem höheren Bildungsabschluss (32,7%) war im Bezug auf die Gesamtbevölkerung des Waldes überdurchschnittlich. Vgl. Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1975/ 76 (1976), S. 28. Die Schüler verteilten sich qualitativ gleichmäßig <?page no="169"?> 170 Katrin Netter auf den Wald, quantitativ überwogen jene aus dem hinteren und mittleren Bregenzerwald. Vgl. Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1976/ 77 (1977), S. 10-11. 10 Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1975/ 76 (1976), S. 22-23. 11 Ebd., S. 10. 12 Fleck 1 Masch. Schülerzeitung (o.D., 1973), S. 7. 13 Schularbeiten aus Deutsch. In: Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1975/ 76 (1976), S. 47. 14 Schwarzmann Heinrich, Autorität und Schulgemeinschaft. In: Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1976/ 77 (1977), S. 5. 15 Interview Werner Witwer, 09.07.2009: .Professor Juen »war am Gymnasium in Egg aktiv und bestimmend, was die geistige Richtung und das Klima anlangte.« 16 Interview Johanna Bouchardeau geb. Vögel, 23 und 24.07.2009. 17 Interview Werner Witwer, 09.07.2009. 18 Johanna Vögel, Das mit dem Kulturzirkel. In: Fleck 2 (1973), S. 12. Dies bestätigt auch ein Bericht von Alice Hagen-Canaval, Die Elite des Waldes. Die frühen Jahre des Egger Gymnasiums. In: Lesebuch Bregenzerwald: Einblicke in die Talschaft an der Ach, zusammengestellt von Georg Sutterlüty. Dornbirn 2009, S. 94-99, hier S. 98. 19 Vgl. auch die Position von Remo H. Largo, Martin Beglinger, Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. München 2009, S. 168. Für Largo stellt sich dies als generelle Entwicklung dar. 20 Interview Werner Witwer, 09.07.2009 21 Fleck 1 (o.D., 1973), S. 5. 22 Szenenfolge für ein Egger Volksstück. In: Maturabericht 1972 Mus. Päd. Realgymnasium (1972), o. S. 23 REGIO, Ordner Verschiedenes, Stellungnahme von Mag. Reinhold Rinner im Bericht über das BORG Egg anlässlich einer Sitzung des Studienkomitees für Jugendfragen am 15.Jänner 1981. 24 Remo H. Largo, Martin Beglinger, Schülerjahre, S. 204. 25 Interview Johanna bouchardeau, 23. und 24. 07.2009. 26 Gemeint ist wohl Prof. Ernst Juen. 27 Fleck 1 (o.D., 1973), S. 2. 28 Ulrike Unterturner, Die Jugendhausbewegung in Vorarlberg, Die Jugendhausbewegung in Vorarlberg. Dargestellt am Beispiel des Vereines »Offenes Haus« in Dornbirn. (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für sozialwissenschaftliche Regionalforschung 2). Regensburg 2003., S. 19-38. 29 Fleck 1 (o.D., 1973), S. 3. 30 Fleck 1 (o.D., 1973), S. 4. 31 Wise und Mese: Maturajahrgang 1973, Vögel: Maturajahrgang 1974, Bischof: Maturajahrgang 1975. Vgl. Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1975/ 76 (1976), S. 22-23. 32 Fleck 2 (o.D., 1973), S. 2. 33 Fleck 1 (o.D., 1973), S. 5. 34 Erwin Lang, Indochina-Papers. In: Fleck 2 (o.D., 1983), Beilage 20 Seiten. 35 Burkhard Bischof, Zum Schüler-Lehrling Problem. In: Fleck 1 (o.D., 1973), S. 10-13. 36 Wilhelm Sutterlüty, Winterfreuden. In: Fleck 2 (o.D., 1973), S. 9-10. 37 Alois Lang, Burkhard Bischof, Regionalplanung in unserer Talschaft, In: Fleck 3 (o.D., 1973), S. 2-4. 38 Regio, Ordner Ausschusssitzung, Schreiben der Regio an die Arbeitsgruppe Landproblem zuhanden von Ernst Juen vom 16. 01.1974. 39 Günther Nenning, Der engagierte Student. In: Schlusspunkt für die Klasse 8 am Mupäd Egg. Maturazeitung 1974 (1974), S. 8-9. Ähnliche Inhalte vertrat etwa auch ein nachmaliger <?page no="170"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 171 Referent der Wäldertage: Adalbert KRIMS, Ohne Schuldemokratie keine Demokratie. In: Neues Forum. Heft 184/ II. Mitte April 1969, XVI. Jahr, S. 312. 40 Interview Werner Witwer, 09.07.2009. 41 NENNING, Der engagierte Student, S. 8. 42 Interview Johanna BOUCHARDEAU, 23. und 24.07.2009. 43 Interview Dieter MACEK, 02.10.2009 44 SCHALL, Die Legende vom »sauberen Ländle«: ein historisch-politologischer Versuch über die soziokulturellen Implikationen des politischen und gesellschaftlichen Klimas in Vorarlberg an Hand ausgesuchter Initiativen an der Schnittstelle von Kultur und Politik. Masch. Phil. Diss. Wien 2005, S. 424. 45 Interview MACEK, 18.01.1994 sowie SCHALL, Die Legende vom sauberen Ländle, S. 426. 46 SCHALL, Die Legende vom sauberen Ländle, S. 427. 47 Subr Nr. 5 (Oktober 1973), S. 12. 48 Privatbesitz Gottfried Winkel (fortan GW), Ordner Wäldertage, Schreiben von Dieter Macek an Theodor Bergmann am 05. September 1973. 49 GW, Ordner Wäldertage, Nichtuntersagungsbescheid der BH Bregenz vom 03.09.1973. Die konstitutionelle Sitzung fand im GH Taube in Andelsbuch statt. Aus rechtlichen Gründen übernahmen die Erwachsenen die Leitung: Obmann Ernst Juen, Kassier Anton Fink, Schriftführer Dieter Macek. 50 GW, Ordner Wäldertage, Satzungen des Vereins »Arbeitsgruppe Landprobleme«. 51 Karl Schall, Feuersteine. Jugendkultur und kultureller Aufbruch in Vorarlberg nach 1970. Vorarlberger Autorengesellschaft. Bregenz 2007, S. 137. 52 http: / / activepaper.tele.net/ vntipps/ Gemeindewappen_in_Vorarlberg.pdf (Download vom 24.08.2009) 53 GW, Ordner Wäldertage, Presseaussendung »Arbeitsgruppe Landprobleme« (o.D.) 54 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben von Dieter Macek an den Landeshauptmann Kessler vom 11.09.1973. Die genannten Schüler gehörten den Maturajahrgänge 1973-1975 an. Vgl. Jahresbericht Gymnasium Egg Schuljahr 1975/ 76 (1976), S. 22-27. 55 Interview Kaspanaze SIMMA, 15.06.2009. 56 Interview Dieter MACEK, 02.10.2009 57 Interview Johanna BOUCHARDEAU, 23. und 24.07.2009. 58 REGIO, Ordner Bildung, Protokoll über die Sitzung des Studienkomitees für Bildungsfragen am 07.10.1975. In dieser Sitzung sprach Macek von »Schwierigkeiten und Spannungen mit den Linkskräften im Verein«. 59 GW, Ordner Wäldertage. Gottfried Winkel war ab 1974 Kassier. Er ist der einzige, der noch über umfangreiche schriftliche Unterlagen des Vereins verfügt. Nominell existiert der Verein noch heute. 60 Vgl. Karl Schall, Die Legende vom sauberen Ländle, S. 453. 61 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben Kurt Greussings an Hofrat Benzer vom 19.05.1973. Einen ersten diesbezüglichen Anlauf beim Leiter der Kulturabteilung, Dr. Arnulf Benzer, unternahm Kurt Greussing bereits im Mai 1973 noch während der Konzeptionsphase der ersten Wäldertage. 62 GW, Ordner Wäldertage, Vorläufige Abrechnung der Wäldertage 1973. Im ersten Jahr unterstützten die Veranstaltungen im Wald nur der Riefensberger Pfarrer sowie die Prospektinserenten. 63 Vgl. zum kulturellen Klima der 1970er: Staatsoperetten. Kunstverstörungen. Das kulturelle Klima der 1970er Jahre. Ausstellung im Literaturhaus Wien ab 11.02.2010. sowie Radiosendung Ö1. Journal Panorama vom 08.02.2010. 64 GW, Ordner Wäldertage, Vorläufige Abrechnung der Wäldertage 1973. 65 Interview Dieter Macek, 02.10.2009. 66 Interview Friedrich Wolaskowitz, 24.07.2009. <?page no="171"?> 172 Katrin Netter 67 Interview Friedrich Wolaskowitz, 24.07.2009. Nach der Aussage des Volksschuldirektors, die Gründung eines Elternvereines könne dazu beitragen linke Elemente wie Wolaskowitz zu verhindern, führte Wolaskowitz einen Ehrenbeleidigungsprozess, welchen er gewann. 68 Wäldertage 1976 In: Alemannische Planmappe, Hrsg. Initiative für Sozialistische Politik. ISP-Vorarlberg 1976/ 06 September/ Oktober (1976), S. 4. Helbock war auch Mitglied des Studienkomitees für Bildungsfragen der Regio. Eine politische Beeinflussung lässt sich aber anhand der schriftlichen Protokolle nicht feststellen. Vgl. Regio, Studienkomitee und Interview Hugo WALDNER, 23.10.2009. 69 Interview Friedrich WOLASKOWITZ, 24.07.2009 sowie BWA, I-042. 70 Alemannische Planmappe (1976), S. 4. 71 GW, Ordner Wäldertage, Liste der mehr oder weniger aktiven Mitglieder (o.D., zwischen 1973 und 1979). Herkunft der Mitglieder: Mellau (9), Schwarzenberg (7), Andelsbuch (5), Egg (4), der Rest verteilte sich auf Reuthe, Schoppernau, Au und Bezau. Der Vorderwald war nicht vertreten. 72 GW, Ordner Wäldertage, Probleme des ländlichen Raumes (o.D.), verfasst von der Statistikgruppe sowie Arbeitssitzung des Arbeitskreises Landwirtschaft vom 10.12.1973. 73 Dr. Haiden, später Landwirtschaftsminister, hielt 1974 einen Vortrag auf den Wäldertagen. Vgl. Interview Dieter MACEK, 02.10.2009. 74 GW, Ordner Wäldertage, Protokoll einer Wäldertage-Sitzung vom 30.09.1976, Elektrohaus Vögel, Mellau sowie Sitzung Wäldertage 14.11.1976 im Gasthof Taube. Geplante Neubildung von Arbeitsgruppen zu Literatur und Film (Friedrich Wolaskowitz, Gerold Werner, Treffpunkt bei Wolaskowitz), Schüler und Schule ( Jutta Lehner, Treffpunkt Löwen Egg), Frauen (Christine Hartmann, Treffpunkt bei Wolaskowitz), Bauern (Kaspanaze Simma, Toni Metzler), Lehrlinge (Barbara Vögel). 75 Interview Friedrich Wolaskowitz, 24.07.2009. 76 Interview Werner Witwer, 09.07.2009. 77 Karl Schall, Feuersteine, S. 137. 78 Interview Kaspanaze SIMMA, 15.06.2009. 79 GW, Ordner Wäldertage, Schrieben Kurt Greussing an Dr. Benzer vom 19.05.1973. 80 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben Kurt Greussings an Dieter Macek vom 03.09.1973. 81 GW, Ordner Wäldertage, Check-Liste Wäldertage (ohne Datum, 1973) 82 Ausführliche Beschreibung der Vorträge bei: Karl Schall, Feuersteine, 117-140. 83 Zur Person Holls vgl. etwa: Paulus EBNER, Karl VOCELKA, Die zahme Revolution. ‘68 und was davon blieb. Wien 1998, S. 109. 84 BWA, I-042, Protest-Resolution des Katholischen Bildungswerkes (Kopie, 1974). Die Resolution wurde auch in der Neuen veröffentlicht. 85 Interview Kaspanaze SIMMA, 15.06.2009. 86 Alfons J. Kopf, Früher wurden Holls verbrannt. In: Neue, 11.11.1973. 87 Wühlmäuse am Werk. In: Vorarlberger Volksbote (fortan VV), 07.12.1974. 88 Leserbrief: Wird Weitergewühlt? In: VV, 14.07.1974. 89 Auf den Wäldertagen schien die Sonne rot. In: Vorarlberger Kirchenblatt (fortan VK) Nr. 46, 7. Jg., 16.11.1975. 90 Interview Hugo WALDNER, 23.10.2009. 91 Gerhard Lehner, Bauen im Ländlichen Raum. In: Neue, 29.10.1973. Vgl. auch http: / / www.vorarlberg.at/ chronik/ Zeitgenössische Architektur in Vorarlberg. (Download vom 27.01.2010) Seit 1972 existierte in der Regio ein Studienkomitee für Baufragen. Vgl. REGIO, Ordner Studienkomitee für Baufragen. 92 GW, Ordner Wäldertage, Bericht von Dieter Macek über den Verlauf der Veranstaltung »Wäldertage«, 13.01.1974. 93 BWA, I-042, Programmfolder Wäldertage 1975. <?page no="172"?> Als die Wäldertanne Kopf stand 173 94 GW, Ordner Wäldertage, Programmfolder Jugend-Info-Fest vom 18. und 19. September 1977. 95 GW, Ordner Wäldertage, Fragebogen zu den Wäldertagen (o.D., wohl 1976) 96 Anton Sutterlüty, Selbstorganisation als praktische Erfahrung der Regionalplanungs-gemeinschaft Bregenzerwald. (Boku-Raumplanung. Reihe »extracts« 1). Wien 1983, S. 17- 19, hier S. 19. und Orientierungen. Vorstand der Regio Bregenzerwald [1988] In: Lesebuch Bregenzerwald, S.104-105. 97 Interview Johanna Bouchardeau, 23. und 24.07.2009. 98 GW, Ordner Wäldertage, Bericht über den Ablauf der Veranstaltung »Wäldertage - Probleme des ländlichen Raumes« von Dieter Macek (1973). 99 GW, Ordner Gottfried Winkel, Mitschrift von Friedrich Wolaskowitz und Christine Hartmann zu einem Vortrag von Dr. Gottfried Feurstein unter dem Titel »Chancen der Jugend im Bregenzerwald« am 16.10.1976 anlässlich der Bildungstagung des Frauenbundes. 100 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben von Gottfried Winkel an die Vorarlberger Landesregierung vom 26.10.1978 mit angefügter Bitte an Dieter Macek das Förderungsansuchen an den Bund zu stellen, Förderungsansuchen von Dieter Macek an das BM für Unterricht und Kunst vom 03.12.1978. 101 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben der Regio an den Verein Landprobleme vom 06.09.1976. 102 Otto Amann, Wäldertage werden vernünftig … In: VV, 18.09.1976 sowie Otto Amann, Wäldertage werden nicht vernünftig … In: VV, 09.10.1976. 103 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben der Regio an den Verein Landprobleme vom 06.09.1976 sowie Protokoll der Wäldertage-Sitzung vom 17.10.1976 im Gasthof Taube. 104 GW, Ordner Wäldertage, Schreiben der Arbeitsgruppe Landprobleme an den Vorarlberger Volksboten vom 01.11.1976, verfasst von Friedrich Wolaskowitz und Kaspanaze Simma. 105 Vgl. BWA, I-042, Programmfolder Herbst 1977. 106 Privatbesitz Georg Sutterlüty, Veranstaltungsfolder zur Reihe»Jugend und Gesellschaft«, für den Inhalt verantwortlich Dr. Gottfried Feurstein. Die drei Vorträge fanden unmittelbar nach den Wäldertagen im Gasthof Taube in Andelsbuch statt. 22.11.1975 »Die Bedeutung der Sexualität für ein erfülltes Menschsein«, Referent Dr. Alfons Auer; 27.11.1975 »Krise der Autorität«, Referent Dr. Hans Fink; 30.11.1975 Podiumsdiskussion »Jugend zwischen Anpassung und Widerstand« mit Dr. Gottfried Feurstein, Ilse Giesinger, Dr. Hans Fink, Anton Natter, Kaplan Elmar Simma und Dr. Georg Sporschill. 107 Regio, Ordner Verschiedenes, Protokoll der Gründungsversammlung des Studienkomitees für Jugendfragen vom 08.03.1980. Anwesende: mehrere Bürgermeister, Gottfried Feurstein, Pater Heinrich Badura, Kaplan Franz Winsauer, Barbara Ritter, Theresia Kaufmann, Landesjugendreferent Roland Marent, Hugo Waldner und Jakob Franz Greber. 108 Regio, Ordner Verschiedenes. Z.B. im Herbst 1981: Dischkoars über Architektur, Kunst, Literatur. 109 Regio, Ordner Vorstandssitzungen 1976-1988, Protokoll über die Sitzung des Vorstandes der Regio Bregenzerwald am 23.08.1983. 110 Interview Werner WITWER, 09.07.2009. 111 Publikation der Ergebnisse einer Umfrage über die Abhaltung der latinischen Messe. In: Egger Pfarrblatt (1/ 1970), o.S. 112 Jugendforum. In: Egger Pfarrblatt 1 (1971), o.S. 113 Jugendforum. In: Egger Pfarrblatt 5 (1971), o.S. 114 Schreiben des Jugendausschusses der Pfarrgemeinde Egg vom 06.07.1980 an die Gemeinde Egg. REGIO, Ordner Jugend. 115 Jugendforum. In: Egger Pfarrblatt 1 (1975), o.S. 116 Hans Geser im Namen einer Initiativgruppe: Offene Jugendarbeit. In: Egger Pfarrblatt 5 (1975), o.S. <?page no="173"?> 174 Katrin Netter 117 Interview Werner Witwer, 09.07.2009. 1984 kündigte er im Landtagswahlkampf seine, letztlich zurückgezogene, Kandidatur für die Vorarlberger Grünen an und löste damit großes Medienecho aus. 118 Ebda. 119 Ebda. sowie Arche In: Egger Pfarrblatt 3 (1976), o.S. 120 Jugendzentrum. In: Egger Pfarrblatt 1 (1976), o.S. 121 Dies veranlasste einen »Archisten« im Egger Pfarrblatt klar zu stellen, dass die Jugendlichen »keine Anarchisten, sondern Archisten, keine gefährlichen Elemente sind«. In: Arche. Egger Pfarrblatt 3/ 1976. 122 Arche. In: Egger Pfarrblatt 3 (1976), Pfarrgemeinderatsbeschluss 20. November 1975. 123 Interview Werner Witwer, 09.07.2009. 124 Regio, Ordner Verschiedenes, Schreiben des Jugendausschusses der Pfarre Egg an den Bischof vom 26.07.1980. 125 Interview Johanna Bouchardeau, 23. und 24.07.2009. Zwar hat es innerhalb des Vereines Diskussionen über die Alte Fabrik in Andelsbuch als mögliches Jugendhaus gegeben hat, laut Johanna Bouchardeau wurden aber keine Schritte zur Umsetzung der Idee gesetzt. 126 StAD, Bestand Offenes Haus, Sch. 8. Chronologie des Dachverbandes der Vorarlberger Jugendzentren (25.02.1981). 127 Interview Hubert Ritter, 02.06.2009. Hubert Ritter: HAS Bezau und dessen Schwester Katharina Ritter: HAS Bezau, Alfons Rüscher: Matura Gymnasium Egg 1977. Weiters N.N.: HTL-Schüler und N.N.: Matura Gymnasium Egg 1981. 128 Interview Alfons Rüscher, 30.06.2009. 129 Alphorn, Herbschtnummer 4 (1979), S. 9. 130 Interview Hubert RITTER, 02.06.2009. 131 Privatbesitz Alfons RÜSCHER, Mitschrift einer Sitzung von Alfons RÜSCHER (o.D., vor 01.12.1979). Datum ante quem, da in der Mitschrift auf das am 01. und 02.12.1979 vom Dachverband veranstaltete Seminar von Dr. Karl Terhorst »Ursachen und Phänomene jugendlicher Desorientierung« in Hohenems verwiesen wird. Vgl. auch. Unterthurner, Jugendhausbewegung, S. 145. 132 Neue, 10.03.1980. 133 Regio, Ordner Verschiedenes, Mitschrift der Aussprache zwischen Studienkomitee und Initiative vom 21.04.1980 sowie Schreiben der Regio an Hubert Ritter vom 11.04.1980. Bei der Aussprache anwesend waren unter anderen: GF Gottfried Feurstein, Hubert Ritter, Alfons Rüscher, der Andelsbucher Bürgermeister Kohler, Jakob Franz Greber und Werner Witwer. 134 Interview Hubert Ritter, 02.06.2009. 135 Der genaue Zeitpunkt des Treffens konnte von der Verfasserin nicht eruiert werden. 136 Interview Alfons Rüscher, 30.06.2009. 137 Privatbesitz Alfons Rüscher, Meldung des Vorstandes des Vereines »Wörkshop« an die BH Bregenz durch das Proponentenkomitee vom 17.01.1981 sowie Bekanntgabe der Gründungssitzung in einem Schreiben an die BH vom 16.01.1981. Obmann-Stellvertreterin war Katharina Ritter, Kassier Werner Schedler. 138 Privatbesitz Alfons RÜSCHER, Statuten des Vereins »Wörkshop«. Die in den Vereinsstatuten definierten Ziele konnten nicht erreicht werden, wobei diese wohl vom Dachverband übernommen wurden und »die Initiative selbst nie den in den Statuten formulierten Anspruch hatte«. Vgl. Interview Hubert Ritter, 02.06.2009. 139 Interview Friedrich Wolaskowitz, 24.07.2009. 140 Interview Friedrich Wolaskowitz, 24.07.2009. 141 http: / / www.kufobregenzerwald.at/ (Download vom 29.11.2011) <?page no="174"?> Regionalentwicklung im Allgäu durch die Aussteiger der 70er und 80er Jahre e va w onneBeRGeR Aussteiger als Modernisierer der Region: Am Anfang war’s im Allgäu verpönt Im Allgäu gab es zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1980er Jahre viele Landkommunen und alternative Handwerker. Vor allem im Westallgäu, aber auch im Osten bis nach Kempten und im Norden bis nach Arnach waren sie zu finden. Sie haben die Landschaft kulturell bereichert durch Filme von einheimischen Filmemachern, etwa in Lindenberg, durch Künstlerkollektive wie in Maierhöfen und vielfältige Ideen für biologische Landwirtschaft, gesunde Ernährung, Kräuterheilmittel und Handwerk mit naturgerechter Fertigung in der gesamten Region. Wie muss man sich die Zeit vorstellen: Im Allgäu wurden aufgrund der ersten Welle des Strukturwandels in der Landwirtschaft die ganz kleinen Höfe aufgegeben. Es gab leerstehende Kleinstlandwirtschaften. Und es gab zeitgleich die damalige Jugendbewegung in den Städten, eine Landszene von Aussteigern und Langhaarigen, die das freie Leben und gemeinsame Wirtschaften ausprobieren wollten. Die Landkommunen entstanden ursprünglich nach Ideen der Hippies aus den USA, geprägt von Die Kommunarden erteilen sich gegenseitig Unterricht im Mähen mit der Sense, ca. 1978. <?page no="175"?> 176 Eva Wonneberger Woodstock und einer neuen Lust an der Natur. Im armen Allgäu lebten sie die »erdige Variante« in engster Verbindung mit den Gegebenheiten. In den kurzerhand zweckentfremdeten alten Höfen gab es Gelegenheit sich gut kennenzulernen, neue Ideen auszutüfteln, und alte Landwirtschaftstraditionen wieder zu beleben. Experimentiert wurde mit Hügelbeeten, Gemüseverbesserung durch Mischanbau, Mulchen statt Umgraben, natürlicher Schädlingsbekämpfung, verschiedenen Kompostierungstechniken sowie dem Einbeziehen von Mondrhytmen in die Abfolge von Sähen und Ernten. Die Anfänge brachten daher eine Konfrontation zwischen neu und alt und waren heftig. Wer in den 70er Jahren im Allgäu biologischen Landbau betrieb, war entweder ein eingefleischter und sturer ansässiger Esoteriker oder eben ein reing’schmeckter alternativer»Spinner«. Immer dabei war selbsterzeugte Musik, Gelassenheit und Spaß an der Arbeit. Die Einheimischen vermuteten unmoralische Lebensweise und Schmarotzen beim braven Steuerzahler. Dass sich diese Exoten auch noch auf offengelassenen Gehöften einnisteten und scharenweise traditionelle Allgäuer Überlebenstechniken in unbeheizten Gebäuden versuchten, hat ihre Akzeptanz damals auch nicht erhöht. Sie fühlten sich durchaus als Aussteiger in der Provinz, aber das war aus ihrer Sicht eher positiv besetzt. In der Provinz schienen Entwicklungen möglich, jenseits vom Modernisierungswahn der Metropolen. Sei es in der Landwirtschaft oder im Handwerk, bei den Künstlern und Heilern - hier schien eine Nische zu existieren, in der man Neues entwickeln, aus alten Erfahrungen schöpfen und Alternatives ausprobieren konnte. Sehr beliebt war das Herstellen von Kinderspielzeug aus Naturholz mit Techniken wie Drechseln und Schnitzen. Aber auch beim Hausbau wurde mit natürlichen Dämmstoffen und Lehmbauweise experimentiert. Viele Landkommunen verstanden sich explizit als Vorreiter einer neuen solidarischen Lebensform im Arbeiten und im Wohnen. Zusammen leben, das Geld teilen, Freuden und Leiden auf engstem Raum erfahren. Ob Arbeitslos oder Bauer, Geistesarbeiter oder Handwerker schienen alle an einem Strang der Veränderung zu ziehen. Die konventionellen Lebensverhältnisse standen auf dem Prüfstand. Was brachte das»Schaffe, schaffe, Häuslebaue« an sinnvollen, gesunden und nützlichen Ergebnissen? Zukunftsfähig statt rückwärtsgewandt wollten die Aussteiger leben. Dabei war Vernetzung ein Schlüsselbegriff - nicht verbal thematisiert, das Tun wurde nicht als solches bezeichnet - aber praktisch. Gegenseitige Tauschgeschäfte, Insider-Besuche und gemeinsam veranstaltete Alternativmärkte prägten in den Achtzigern die Region Allgäu. Wer dazugehören wollte, verkaufte auf Flohmärkten, zog sich bunt und verwegen an, hörte die neue Musik und roch nach Patschouli oder Gras. Man sah Bauwagen <?page no="176"?> Regionalentwicklung im Allgäu durch die Aussteiger der 70er und … 177 und Indianerzelte, neben oder bei traditionellen Höfen. Viele gingen im Sommer auf Alpen/ Almen, wegen der natürlichen Lebensweise und weil man dort ganz gut verdienen könnte. Wer zurückblieb, ging wenigstens an unverbaute Badeseen oder aufgelassene Flussufer zum Baden. Lagerfeuer und»Schlafen unter freiem Himmel« waren selbstverständlich ausgeübte Sommerrituale. Ein Erkennungsmerkmal war der Autoaufkleber»Freies Allgäu«. So vielfältig die Bewegung als Ganzes war, gab es doch Strömungen und geistige Richtungen: So manche Initiative im Allgäu wurde aufgrund lokaler Gegebenheiten durch die Marxisten, die Friedensbewegung, die Umweltbewegung, die Jugendzentrums- und Musikbewegung sowie durch Anthroposophen und Buddhisten mit beeinflusst. Um mal ein Beispiel zu nennen: Die Friedenswoche in Leutkirch begann 1976, danach gab es dort bis in die 1980er jeweils jährlich ein großes Friedensfest, das über zwei Wochen dauerte, mit Diskussionen, Theater und Musik. Diese Mammut-Veranstaltung musste vorbereitet, organisiert, begleitet und meistens auch noch nachträglich ausgewertet werden. Dies wurde vielerorts von Freiwilligen in engagierter Zusammenarbeit geleistet. Die frühzeitigen Treffen der Vorbereitungsgruppe fanden meist in Leutkirch statt. Letzter Höhepunkt für alle Friedensgruppen war die Teilnahme an der Menschenkette über die Schwäbische Alb 1983. Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Gegenden hat sich der Wettkampf um die richtige Gesinnung insgesamt durchaus positiv niedergeschlagen. Die eher spirituellen Gruppen wurden vor zu viel Weltferne Theaterspielende Landkommune »Vorderberg« bei Memmingen zur gemeinsamen Mahlzeit, ca. 1978. <?page no="177"?> 178 Eva Wonneberger bewahrt und die vorwiegend politischen Gruppen mussten wohl oder übel anerkennen, dass Menschen auch geistige Interessen haben. Als sich Anfang der 1980er Jahre aus der zunächst randständigen und exotischen Bewegung Betriebe herauszuschälen begannen, die auf Wochenmärkten punkteten und von umweltbewussten Häuslebauern um Rat gefragt wurden, wurde die spinnerte Produktionsweise auf Höfen und in Werkstätten interessant. Mancher alternative Heilpraktiker wurde von jungen Müttern bei der Versorgung ihrer Familien in Fragen wie Stillen, Impfen, Naturheilmittel bei Kinderkrankheiten gerne herangezogen. Dabei ging der konventionelle Trend im Allgäu der 70 Jahre genau in die andere Richtung. Die ehemals arme Region wollte nicht als rückständig gelten, die traditionellen Anbauweisen in der Landwirtschaft, bei der Tierhaltung oder Holzbearbeitung waren gerade dabei zu verschwinden. Wer etwas auf sich hielt, ging zum Gebären ins Krankenhaus, Hygienestandards wurden großgeschrieben. Bis die Zurück-zur-Natur-Welle kam. Als schließlich die alternativen Ideen anfingen, sich zu rechnen, begannen auch die Nachbarn und alteingesessenen Landwirte aufzuhorchen. Dabei sind die Fragen: Was ist»artgerechte Tierhaltung«? Brauchen Kühe Hörner? Wie sinnvoll ist die Beachtung von Mondrhytmen für jedwedes Wachstum? bis heute umstritten. Umso erstaunlicher, dass es in den 80er Jahren im Allgäu besonders viele konventionelle Betriebe gab, Marktstand der Landkommune Mosisgreut in Weingarten, Erhard Pfluger mit seinem Gemüse-Marktstand, ca. 1981. <?page no="178"?> Regionalentwicklung im Allgäu durch die Aussteiger der 70er und … 179 die auf biologischen Anbau umstellten, und damit das Bindeglied zwischen den Alternativen und der einheimischen Bevölkerung wurden. So wurden aus den Aussteigern Modernisierer - und die Region hatte bereits in den 90er Jahren den Anschluss an die Metropolen geschafft. Typisch für das Allgäu ist, dass aus den anfänglichen improvisierten Versuchen eine einträgliche Nische für viele Betriebe wurde, die sonst in dieser Bergregion nicht hätten überleben können. Übrigens: Lebensmittel-Feneberg hat seine»Von-Hier« Kette erst Ende der neunziger Jahre aufgebaut, als es schon viele Landwirte gab, die ins Bio-Geschäft eingestiegen waren. Heute werden Betriebe wie Härle Brau in Leutkirch, der in den Achtzigern als Nachfolger in einer konventionellen Brauerei ein ökologisches Betriebskonzept einführte, geehrt und ausgezeichnet. Er pflegt»eine regional verwurzelte Kunden- und Lieferantenkette«, verwendet»teilweise biologisch hergestellte Rohstoffe und verfügt über ein ausgeklügeltes Energiekonzept« (SZ am 2.12.10). Die Firma Rapunzel macht immer wieder von sich reden, nicht zuletzt wenn sie alle zwei Jahre ihre»Rapunzelmesse« ausrichtet. Das ist eine zweitägige Schau der Hersteller von alternativen Produkten. Der 300 Mitarbeiter starke Biogroßhandel hat sich aus einer Landkommune entwickelt. Das Unternehmen»Prima Vera« in Sulzberg bei Kempten wurde als Produzent von Duftölen so bekannt, dass weitere Linien im Bereich Kosmetik sowie Badezusätze und Körperöle entwickelt wurden. Biomessen und Bioringe punkten in der Region. Heute bilden die hochwertigen biologischen Waren aus dem Allgäu ein Qualitätsmerkmal, das - für jeden Touristen sichtbar - auch die Natur und die Naturerhaltung in der Gegend prägt. Kulturelle Einrichtungen wie Jugendzentren und alternative Kneipen sind gehäuft zu finden, viele Künstler beleben die Region. Das Hoffest, das auch heute mit Jazz und Salsamusikeinhergeht, ist sehr beliebt. Wer kennt nicht den»Artemisia«- Kräutergarten bei Oberstaufen mit seinem anheimelnden Café und Buchladen? Das biologische Angebot an regionalen Lebensmitteln ist heute größer denn je. Die aktuelle Zusammensetzung der Wochenmärkte im Allgäu im Jahr 2009 gestaltet sich folgerichtig durchwachsen mit ökologischen Angeboten. Die Statistik zeigt, dass jeweils 10 % der Stände Erzeugerwaren anbieten und aus der Bio-Ecke kommen. Auf jedem Wochenmarkt, ob in Kempten, Altusried, Leutkirch oder Isny, findet man auch heute noch biologische Stände aus den 1970er Jahren, deren Betreiber von Anfang an dabei waren, als in vielen kleinen Höfen alternative Ideen sprießten. Aus der Sicht einer besonderen regionalen Entwicklung waren sie Impulsgeber für eine inzwischen breite Bewegung. Sowohl im bayerischen Allgäu wie auf der württembergischen Seite sind neue Seilschaften im Öko- und Biogewerbe entstanden. <?page no="179"?> 180 Eva Wonneberger Von den Anfängen des ökonomisch selbstverwaltet und gemeinsam Wirtschaftens ist nicht viel übrig geblieben. Die meisten Betriebe aus der damaligen Zeit sind inzwischen nach den üblichen marktwirtschaftlichen Organisationsformen aufgebaut. Manche Versuche des Zusammenlebens und -arbeitens sind gescheitert, viele Menschen sind abgewandert in andere Gegenden und andere Berufe. Einzelne Impulse in politischer Richtung wie Friedensbewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung sind längst in neuen Entwicklungen (Parteigründung der GRÜNEN) aufgegangen. Im Bereich Kunst und Kultur ist viel geblieben. Musiktempel wie der Club Vaudeville in Lindau oder das Bleifrei in Lindenberg behaupten sich zäh. Die Filme von Leo Hiemer, etwa der legendäre »Daheim sterben d’-Leut« haben das Allgäu weithin bekannt gemacht, die Jazzlokale, Theaterfestivals, Open-Air Events und Kulturnächte sind längst gang und gäbe. Da unsere Zeit so schnelllebig ist, schien es mir wichtig, an die Ursprünge der Öko-Bewegung und des modernen Kunstbetriebs in unserer Gegend zu erinnern. Vieles hat sich aus kleinsten Anfängen von Außenseitern entwickelt, und dies sollte im allgemeinen Getöse nicht vergessen werden. Wichtig sind auch die nachhaltigen Veränderungen in den Bereichen Gesundheit, Heilkräuter, Kinderkriegen, Stillen. Durch die Neubesinnung auf traditionelle Heilweisen, auf alte Fertigkeiten in Berufen wie dem der Hebamme, das Neu-in-Mode-Kommen von Heilkräutern gelang eine Anbindung der Neuerer an den angestammten Allgäuer Umgang mit Gesundheit und Lebensweisen. Man könnte vermuten, dass die alternativen Heilmethoden gerade im Allgäu so guten Anklang fanden, weil es eine traditionelle Bereitschaft gab, auf natürliche Mittel zurückzugreifen und zu Heilern und Kräuterkundigen zu gehen. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Insgesamt BIO Insgesamt BIO Insgesamt BIO Insgesamt BIO Markt Wangen Markt Leutkirch Markt Kempten Markt Ravensburg Statistik Märkte Statistik Märkte <?page no="180"?> Regionalentwicklung im Allgäu durch die Aussteiger der 70er und … 181 Die Alternativbewegung lebte vom Geist des»Selber-Machen«-Wollens und des unverfälschten Ausprobierens. Und davon gab es in jener Zeit im West-Allgäu zwischen Oberstaufen und Lindau, aber auch in Region zwischen Arnach über Kempten bis nach Immenstadt im Oberallgäu besonders viele Beispiele. Die Friedensgruppe in Leutkirch bei einer Aktion mit Gottfried Härle (Härle Bräu), ca. 1982. <?page no="182"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell n icole e hneRt , m iRjam K unZ (Jugend)bewegte Geschichte des Feuerwehrgerätehaus 1879 Bau des Gebäudes in der Untertorstraße und Nutzung als Feuerwehrgerätehaus 1 1979 Die Stadt Radolfzell beschließt den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses, welches am Stadtrand errichtet und noch im selben Jahr eingeweiht wurde. Seither stand das alte Fwgh leer. Da in der Nachbarschaft jedoch bereits seit 1965 das »neue« Betriebsgebäude der Stadtwerke stand, wollten diese auf dem Gelände noch ein weiteres Verwaltungsgebäude mit Tiefgarage errichten. 8. Mai 1979 Der Gemeinderat genehmigt den Abbruch des alten Fwgh. 2 19. Juni 1979 Das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, Außenstelle Freiburg, schaltet sich ein: »Unseres Ermessens besteht bei dem hier angesprochenen Gebäude der Verdacht auf Denkmalwürdigkeit und wir bitten, mit der schriftlichen Ausfertigung der Abbruchgenehmigung zu warten, bis ein Vertreter unseres Amtes zusammen mit einem Vertreter der Unteren Denkmalschutzbehörde das Gebäude hat in Augenschein nehmen können«. 3 05. Juli 1979 Ortsbesichtigung des Landesdenkmalamtes. Prüfung, »ob das Bauwerk im Sinne des Denkmalschutzgesetzes als Kulturdenkmal anzusehen sei. Nach erfolgter Ortsbesichtigung erklärte Herr B., daß die Voraussetzungen hierfür vorlägen«. 4 15. April 1980 Der Gemeinderat beschließt u.a. die Stadtwerkeerweiterung auf dem Untertorplatz unter der Voraussetzung: »Erhalt und Restaurierung des Daches bzw. der Fassade des alten Feuerwehrgerätehauses durch Umsetzung auf das jetzige Bürogebäude der Stadtwerke« 5 20. Mai 1980 Architekt Siegfried Stier hält fest, dass Zuschüsse vom Denkmalamt zur Umsetzung des Fwgh möglich seien. 6 27. Juni 1980 Das Architekturbüro Stier stellt im Auftrag der Stadtwerke den Antrag auf Fördergelder für die Umsetzung des Dachstuhls und der Fassade, die aber nicht genehmigt wurden. 7 <?page no="183"?> 184 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz 30. Juni bis Platzbesetzung vor dem Feuerwehrgerätehaus mit Theater, Musik, 12. Juli 1980 Kommunikation. 8 12. Juli 1980 Das Feuerwehrgerätehaus wird besetzt, Musik von Skill und Rotglut. 9 14. Juli 1980 Das Baurechtsamt der Stadt Radolfzell erteilt den Stadtwerken die Genehmigung zum Teilabbruch des Fwgh. 10 16. Juli 1980 Die Hausbesetzer veranstalten eine Vollversammlung, zu der über hundert Leute kommen. 11 17.Juli 1980 Der SPD-Ortverein beschließt, sich mit den Besetzern zu solidarisieren und spricht sich für die Einrichtung eines Jugendhauses im Feuerwehrgerätehaus aus. 19. Juli 1980 Die Besetzer organisieren einen Tag der offenen Tür. 20. Juli 1980 Die Jugendlichen machen durch Aktionen auf sich aufmerksam. 22. Juli 1980 Um 12 Uhr läuft das erste Ultimatum ab. Es verstreicht und wird verlängert. Gleichzeitig bietet Oberbürgermeister Günther Neurohr als eine kleine baufällige Scheune als Alternative zum Feuerwehrgerätehaus an. Die Jugendlichen lehnen dankend ab. Abends: Der neue Gemeinderat wird verabschiedet. 24. Juli 1980 Vollversammlung mit Ehrengast Neurohr 30. Juli 1980 Abends um 22 Uhr läuft das Ultimatum ab. Der Bauhof wird über den für den nächsten Tag geplanten Polizeieinsatz unterrichtet. 12 31. Juli 1980 Um 5.30 Uhr beginnt die polizeiliche Räumung und im Anschluss der sofortige Abbruch des Hauses. In einem Schreiben an das Baurechtsamt bestätigt Architekt Stier, dass ein Teil der vorhandenen Tore und Balken wieder verwendet werden kann. 13 Zur Situation der Jugendlichen Ende der 1970er Jahre Wie in vielen deutschen Kleinstädten gab es Ende der 1970 Jahre auch in Radolfzell kaum Treffpunkte für die Jugendlichen: »Die wachsende Anzahl Jugendlicher, die nach geeigneten Freizeittreffpunkten suchen, ist erschütternd. Viele schlichen durch die Stadt, betrinken sich allenfalls, wissen nicht, was sie tun können, geschweige denn ihre Freizeit in geistiger und produktiver Arbeit zu verbringen. In einer Stadt, die wirtschaftlich und kulturell gut aufgebaut ist. Die Kurgäste sind versorgt, die meisten Einwohner finden ihre Arbeit, doch die Jugend? « 14 <?page no="184"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 185 Die Frage scheint berechtigt, denn 1979 hatten die Radolfzeller Jugendlichen lediglich zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder man ging ins »Haus der Jugend« (HdJ), das aber nur »Jugendlichen zur Verfügung (stand), die Mitglied im Stadtjugendring« waren. 15 Daneben gab es noch den »Leierkasten«, der allerdings nur die älteren Jugendlichen offenstand. Als dieser am 29. Juni 1980 auch noch wegen der unzumutbaren sanitären Zustände vom Pächter selbst aufgegeben wurde (dieser bekam trotz Bemühungen keine Renovierungsgenehmigung von Seiten der Stadt), standen die Jugendlichen also »buchstäblich auf der Straße«. 16 Daher entschlossen sie sich einen Tag später zur »Platzbesetzung« vor dem Feuerwehrgerätehaus: Sie trafen sich in der Zeit vom 30.06. -12.7. jeden Abend auf dem Platz. In dieser Tagen wurde gezeigt, wie alternative Freizeitgestaltung aussehen könnte: So wurde z.B. Theater gespielt, Musik gemacht, nett miteinander geredet. Als die erhoffte Reaktion von Stadt und Öffentlichkeit jedoch ausblieb, sahen sich die Jugendlichen »genötigt, weitreichendere Schritte« zu unternehmen: »Sie beschlossen das Fwgh zu besetzen«. 17 Dabei hofften sie auf die Unterstützung der bereits bestehenden Jugendzentrumsinitiative ( JZI), die seit 1978 mit teilweise spektakulären Aktionen für den Erhalt des FWGH und dessen Umgestaltung zum selbstverwalteten Jugendzentrum kämpfte. So hatten sie beispielsweise mit Clownsmasken und Transparenten an der öffentlichen Gemeinderatsitzung am 6. Dezember 1978 teilgenommen und im Anschluss sofort einen Besichtigungstermin des Fwgh beantragt, zu dem sie auch einen Architekten einluden, der das Haus auf seine Eignung als Jugendzentrum prüfen sollte. 18 Schließlich wurde das Thema »Jugendzentrum im Feuerwehrgerätehaus« noch bei einer Podiumsdiskussion am Gymnasium Radolfzell mit allen Beteiligten - also den Parteien und dem Trägerverein ( JZI) - erörtert. Insbesondere der Diskussionsleiter, Herr B. lehnte aber den Umbau des Fwgh zu einem Jugendtreff ab und bot stattdessen an, das bestehende »Haus der Jugend« für die dreifachen Kosten herzurichten. 19 Wenn nicht im Feuerwehrgerätehaus, wo dann…? Die Suche nach einem geeigneten Standort für ein Jugendzentrum gestaltete sich allerdings als äußerst schwierig. Die Stadt machte den Jugendlichen insgesamt vier Vorschläge: Zunächst wurde den Jugendlichen bis zur Fertigstellung des geplanten Ausbaus des »Haus der Jugend« übergangsweise ein Platz an der Mooser Brücke angeboten, wo eine Fertighaus mit ca. 240 qm errichtet werden und für die nächsten vier Jahre als provisorisches Jugendzentrum dienen sollte. Dies wurde aber von den Jugendlichen aus folgenden Gründen aber <?page no="185"?> 186 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz abgelehnt: Erstens erschien ihnen schon allein die »gefährliche, unzumutbare Lage vollkommen ungeeignet für ein Jugendzentrum«. Zweitens misstrauten sie der an den Gymnasialanbau erinnernden Bauweise »Holzfertighaus«. Ein Jugendzentrum hieße schließlich auch Kommunikationszentrum, »ein Treffpunkt für alle, wo man sich frei bewegen kann und nicht Angst zu haben braucht, dass man plötzlich im Freien steht, wenn sich ein paar Leute gegen die Wand lehnen, oder ganz einfach die Musik etwas zu laut spielt«. Darüber hinaus wehrten sie sich dagegen, »von einem Provisorium ins andere abgeschoben« zu werden. Schließlich habe die Stadtverwaltung das HdJ schon immer »als Provisorium betrachtet, da es für sinnvolle Jugendarbeit zu klein und ungeeignet« sei. »Nun soll es für die Zukunft die ideale Lösung sein? «, fragten die Jugendlichen kritisch nach. Schließlich könne auch durch bauliche Maßnahmen weder grundlegend etwas an der Raumaufteilung noch an der Lage verändert werden. Das HdJ lag schließlich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Altersheim, dessen Bewohner sich ohnehin schon über die Lautstärke beschwert hatten. 20 Ein weiterer, jedoch für die Jugendlichen absolut inakzeptabler Vorschlag, war eine alte Fachwerkscheune schräg gegenüber dem ehemaligen Jugendtreff »Leierkasten«. »Die Scheune ist viel zu klein und im hohen Maße baufällig. Der vorgesehene Umbau wäre, abgesehen davon, dass er längere Zeit beanspruchen würde, nur begrenzt möglich, da das Haus unter Denkmalschutz steht«, lautete die einhellige Meinung der Jugendlichen. 21 Feuerwehrgerätehaus. (Kalenderbild Huber) <?page no="186"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 187 Als vierte und sicherlich beste Option bot der Oberbürgermeister den Jugendlichen schließlich an: »Das Kasino könnt Ihr innerhalb von 2 Tagen haben«. Damit meinte er das ehemalige Offizierskasino in der Kasernenstraße, das leider ebenso wie der Platz an der Mooser Brücke am Stadtrand von Radolfzell lag und von den Jugendlichen daher ebenfalls abgelehnt wurde. Wegen der zentralen Lage sowie der Raumaufteilung in eine große Halle und mehrere kleine Räume im Obergeschoss erschien ihnen das inzwischen besetzte Fwgh nach wie vor weitaus besser geeignet. Daher galt für sie die Prämisse: »Was man hat, das hat man«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Kasino nach dem Abriss des Fwgh für die Stadt plötzlich indiskutabel geworden schien, »wo es doch vor Kurzem noch als die einfachste Sache der Welt hingestellt wurde. Sollte uns die Stadt etwa Scheinangebote vorgesetzt haben? ! «, fragten sich die Jugendlichen. 22 »Das Problem ist halt, daß wir hier eine Hausbesetzung machen-…« 23 Insgesamt gestaltete sich die Situation der jugendlichen Hausbesetzer als äußerst schwierig: Zwar sollte ein Gespräch im besetzten Fwgh zwischen dem Oberbürgermeister und den circa 200 anwesenden Jugendlichen die divergierenden Positionen klären, »sehr viel Konkretes kam dabei allerdings nicht heraus«, war daraufhin am 25. Juli 1980 im Südkurier zu lesen. Der OB verlängerte immerhin das Ultimatum zur Räumung bis Mittwoch den 30. Juli 1980, allerdings nur wenn bestimmte Auflagen erfüllt würden: Dazu gehörte die Schließung des Hauses um 22 Uhr ebenso wie die Frei- und Sauberhaltung des Platzes davor. Außerdem betonte OB Neurohr immer wieder, dass weder er noch die Mehrheit im Gemeinderat die Hausbesetzung als legal anerkennen könne. Dennoch würde er es nicht für richtig halten, »einen Rechtsbruch durch Gegenkraft (sprich Polizei) zu lösen«. Für diesen Ausspruch erhielt er immerhin den Beifall der Jugendlichen. 24 Die Jugendlichen waren wiederum in Sorge, dass man sie am nächsten Tag nicht mehr ins Gebäude lassen würde, wenn sie es erstmal verlassen hätten. Allerdings befürchteten sie auch, dass die Stadt nicht mehr mit ihnen verhandeln würde, wenn sie das Gebäude weiter besetzt hielten. 25 Letztlich standen die Jugendlichen vor einem Dilemma - auf der einen Seite wollten sie ein Jugendzentrum mit einem breiten Angebot an Aktivitäten aufbauen, gleichzeitig absorbierte der »illegale Zustand halt« jegliche Energien, die für die Arbeit an einem Jugendhaus nötig gewesen wären: »Ich muss jetzt schon immer wissen was wichtiger ist: das Haus zu verbarrikadieren oder ein Jugendzentrum zu machen, wo alles offen <?page no="187"?> 188 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz ist. Das ist ein Widerspruch und das wird uns wahrscheinlich am meisten Schwierigkeiten machen«. 26 Schließlich luden sie alle Stadträte ein, »sich das Haus im jetzigen Zustand einmal anzusehen und zu schauen, was die Jugend daraus schon gemacht« habe. »Damit spielten sie deutlich den Ball zurück mit dem Hinweis, dass auch der Stadtrat sich zunächst informieren sollte, bevor er ein abschließendes Urteil fällt«. 27 Mit Spannung wurde die alles entscheidende Gemeinderatsitzung am 29. Juli 1980 erwartet, die für die Jugendlichen jedoch nicht nur zur großen Enttäuschung werden, sondern außerdem noch ein gerichtliches Nachspiel nach sich ziehen sollte. Im Anschluss an die Diskussion im Plenum hatten sich die einzelnen Fraktionen zur Beratung in separate Räume zurückgezogen. Ein anwesender Jugendlicher schildert seine Eindrücke: »Die Sitzung wird planmäßig unterbrochen; die Reihen lichten sich, nicht nur die CDU verläßt den Raum, sondern auch die anderen Fraktionen. Die Zuschauer warten geduldig wie die Lämmer, bis man sich offiziell geeinigt hat. Die geplanten 5 Minuten der Unterbrechung sind längst überschritten, als einige der Jugendlichen zu den Fraktionsbrötchen greifen, die in reicher Anzahl auf den Tischen liegen. Nach über einer Stunde erscheinen die Ratsmitglieder in versammelter Formation setzen sich nieder und Papa Neurohr liest den gemeinsamen! Beschluß vor - schon wieder aus der Juze-Horrohr-Pictureshow geklaut. Gegenstimmen? Enthaltungen? Angenommen! - schon wieder aus der Juze-Horrohr-Pictureshow geklaut. Das Entsetzen ist nun komplett! « 28 Selbst die Gemeinderäte, die sich für die Wünsche der Jugendlichen eingesetzt hatten, wechsel- Das besetzte Feuerwehrgerätehaus. (Foto: Baudrexel / Radolfzeller Wochenblatt) <?page no="188"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 189 ten plötzlich die Seite. Da muss man sich doch verraten fühlen! , war die einhellige Meinung der Jugendlichen. Damit war das Schicksal des Feuerwehrgerätehauses besiegelt. Am 31.07.1980 wurde das Haus polizeilich geräumt und im Anschluss sofort abgerissen. Reaktionen der Radolfzeller Bürger und der Politik Doch wie reagierten die Radolfzeller Bürger und die Politik? Laut der Berichterstattung des Südkuriers herrschte nach der Entscheidung von OB Neurohr, die Hausbesetzer mit Strom und Wasser zu versorgen »dicke Luft in den Stadtwerken! «. Diese fühlten sich bereits »seit Tagen durch das Verhalten der jugendlichen Hausbesetzer« provoziert und hatten aus Verärgerung daher kurzerhand ihre Arbeit niederlegt. »Ihren Dienstherrn, dem Oberbürgermeister, werfen sie jetzt Kapitulation vor«. 30 Auch die Anwohner hatten sich bereits in einer Bürgeranhörung im Rathaus über die Zustände in und vor dem Fwgh beschwert und während dieser Anhörung letztendlich die völlige Räumung gefordert. 31 Demgegenüber wurden die Jugendlichen von der Konstanzer SPD unterstützt. So titelte der Südkurier am 26. Juli 1980 »Konstanzer SPD begrüßt Beschluß«. Dahinter stand allerdings die Sorge, »dass die gewaltsame Räumung des von Radolfzeller Jugendlichen besetzten und als Jugendzentrum vorgeschlagenen ehemaligen Feuerwehrgerätehaus negative Auswirkungen auf die Jugendarbeit im gesamten Umkreis« haben könnte. 32 Daher unterstützten die Konstanzer Sozialdemokraten die Beschlüsse ihrer Radolfzeller Kollegen. Im einstimmig gefassten Beschluss heißt es: »Die Konstanzer Sozialdemokraten unterstützen nachdrücklich die Beschlüsse des SPD-Ortsvereins Radolfzell vom 17.07.1980. zur Besetzung des ehemaligen Feuerwehrgerätehauses durch Radolfzeller Jugendliche. Die Konstanzer Sozialdemokraten geben ihrer Betroffenheit darüber Ausdruck, daß diese Radolfzeller Jugendlichen durch Strafanzeigen und polizeiliche Räumung kriminalisiert werden sollen. Wir bitten die Stadtverwaltung, den Verzicht auf Polizeimaßnahmen auszusprechen. Wie die Gewerkschaft der Polizei sind auch die Konstanzer Sozialdemokraten der Meinung, daß die politische Entscheidung auf keinen Fall durch den Einsatz der Polizei ersetzt werden dürfe«. 33 »Als die Jugend da vor Zeiten sich ein Haus instand besetzte, muss die Stadt dies Recht bestreiten, als selbst sie das Gesetz verletzte. Was macht er da, der Bürgermeister? hört er das Wörtchen ›Selbstverwaltung‹ Des Denkmals Mauern nieder reißt er und bleibt bestehen auf Überalterung.« 29 <?page no="189"?> 190 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Einige Radolfzeller Bürger vermuteten auch einen starken Einfluss der Medien und vor allem auswärtiger Jugendlicher auf das Verhalten »ihrer« Jugendlichen. So notierte beispielsweise ein Zeitzeuge auf seinem Fragebogen: »Hausbesetzungen waren eine Modeerscheinung, es begann in Freiburg, glaube ich«. 34 Darüber hinaus sorgten sich natürlich auch viele Eltern, ihre Kinder könnten in einem selbstverwalteten Jugendzentrum in »schlechte Gesellschaft« geraten oder Alkohol, Zigaretten oder Drogen konsumieren. Die Vorurteile der älteren Generation wurden von den Jugendlichen wie folgt beschrieben: »Jugendliche mit Mopeds sind Rocker; Jugendliche mit langen Haaren sind Hascher; und alle anderen sind Kommunisten.« 35 Dem hätte der Jugendliche Armin gerne entgegen gewirkt: »Ich glaube der ganze Mißmut der älteren Bürger über uns jugendliche Hausbesetzer besteht aus einer Stange von Vorurteilen, ich wäre gern einer derjenigen, der diese Stange zersägt und danach verbrennt und in alle Winde zerstreut. Sie auch? « 36 Demgegenüber gab es aber auch unter den Eltern viele Befürworter für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum. Ebenso wurde die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses aus verschiedenen Gründen unterstützt. So erachteten einige Eltern die Hausbesetzung als eine wichtige Erfahrung im Umgang mit Demokratie oder auch als gute »Übung« für ihre Kinder, ihre eigene Meinung vertreten zu lernen. Weiteren Eltern war es ein besonderes Anliegen, dass die Jugendlichen »ihr eigenes Reich« hatten und dementsprechend wollten sie die Einrichtung eines Jugendtreffs fördern, denn schließlich war nur den älteren Jugendlichen der Zutritt in die Radolfzeller Lokale gestattet und so hatten insbesondere die Jüngeren das Nachsehen, da es für sie keinen Treffpunkt gab. 37 »Dort steht ein Haus, und da ein Kran, und ewig droht der Baggerzahn...« 38 - Impressionen zu Räumung und Abbruch Am 31. Juli um 5.30 Uhr begann die polizeiliche Räumung und anschließend erfolgte der sofortige Abriss des Feuerwehrgerätehauses. Einige Jugendliche haben ihre Eindrücke und Empfindungen schriftlich festgehalten. So schreibt Aktivist Jan: »Die Bullen sind da! «, mit diesem Schrei fuhren wir (als ob wir an die DB Oberleitung gekommen wären) hoch«. [...] »Endlich schalteten die drei oben auf dem Turm die nervenzermürbende Klingel ab. Neugierig wie ich war, holte ich eine Leiter und schaute nach hinten raus. Zwei Polizisten mit Hunden und ein Stadtwerksarbeiter wollten die eventuellen »Flüchtlinge« aufhalten. Vorne waren einige Polizis- <?page no="190"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 191 Die Räumung des von Jugendlichen besetzten Feuerwehrgerätehauses beginnt am 31.-Juli um 5: 30 Uhr. Einer der jugendlichen Hausbesetzer wird während der Räumung am 31.-Juli 1980 von Polizisten aus dem Feuerwehrgerätehaus getragen. (Fotos: Liedl, © Förderverein Museum und Stadtgeschichte Radolfzell e.V.) <?page no="191"?> 192 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Die aus dem Haus geführten oder getragenen Jugendlichen werden von Polizisten in einen »Käfig« gesperrt. (Foto: Liedl, © Förderverein Museum und Stadtgeschichte Radolfzell e.V.) Nach der polizeilichen Räumung wurde das alte Feuerwehrgerätehaus sofort abgerissen. (Foto: Baudrexel / Radolfzeller Wochenblatt) <?page no="192"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 193 ten dabei, aus Straßensperren einen Käfig zu bilden. »Ist heute Schweinemarkt? « Tosendes Gelächter war die Antwort. Die ersten Schläge einer A xt dröhnten durchs Haus. Nach einiger Zeit gab die Türe krachend und splitternd auf. Die Arbeiter und Polizisten strömten herein, um die Tore zu öffnen, was einer sogar mit einer A xt versuchte. Am liebsten hätte ich den Typ verprügelt«. [...] »Nachdem die Polizei meine nähere Umgebung in den Käfig befördert hatte, fragte mich ein Polizist: »Kommen Sie alleine mit oder muss ich Gewalt anwenden? « Ohne meine Antwort abzuwarten, packte er meinen Arm«. [...] »Beim Abbruch schrien viele von uns ihre Gefühle einfach aus dem Leib«. […] »Als nur noch Trümmer dalagen stieg in mir ein bitterer Geschmack hoch. Resigniert, enttäuscht und traurig entfernte ich mich von diesem einst so schönen Platz. Warum hatte es dazu kommen müssen? Warum bloß? «. 39 Auch Susanne war bei der Räumung dabei und hat ihre Eindrücke niedergeschrieben: »Ein Blick auf den Untertorplatz lies mich an einen Alptraum glauben: Vor dem Haus sehe ich nur noch ›grün‹. Das ganze Gelänge ist abgesperrt. Auch die Radolfzeller Prominenz - OB Neurohr nebst Gattin in Abendkleid und Häkelstola - ist anwesend« […] Wir singen uns Mut an und müssen miterleben, wie die ›Volksgewalt‹ mit Macht - sprich: massivem Einbruchswerkzeug - die kleine Türe zertrümmern, einschwärmen, wie ein Arbeiter des städtischen Bauhofes mutwillig eines der denkmalgeschützten Tore einschlägt, wie um uns herum die Leute gepackt und hinausgetragen werden. Auch ich wurde von zwei Polizisten an Händen und Füßen einem Sack ähnlich hinausgetragen, in einen »Käfig« geschleift«. […] »Hinter der Absperrung - den Schikanen der zum Teil hämisch grinsenden Polizisten ausgesetzt - erlebe ich, wie sich der Baggerzahn in unser schönes Häuslein frisst. Mit jedem Stück Zerstörung am Haus, an unserem Haus, geht in mir ein Stück kaputt. […] Die Küche, das Dachzimmer, das einmal die Teestube hätte sein können, das Büro, Ort endloser Diskussionen, der Schlafsaal - in weniger als einer Stunde Schutt und Asche«. 40 Und Antje schrieb: »Im Feuerwehrgerätehaus erlebte ich eine unwahrscheinlich intensive und schöne Zeit. Musik, Diskussionen, Spiele und vor allem die Arbeit für das gemeinsame Ziel schafften einen Zusammenhalt unter uns wie ich ihn zuvor noch nie erlebt hatte. Zum ersten Mal konnte ich frei, richtig mit jemand reden und man hörte mir zu« […] »Eine Atmosphäre, die aus Kreativität, Zusammengehörigkeitsgefühl, Hoffnung, Erwartungen und leider auch aus Angst bestand. Eben diese Angst vor polizeilicher Räumung war es, die die eigentliche Aufgabe, die Jugendarbeit stark behinderte und oft in den Hintergrund drängte«. 41 <?page no="193"?> 194 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Gerichtliches Nachspiel Die Angelegenheit »Besetzung, Räumung und Abriss« des alten Feuerwehrgerätehauses hatte sowohl für den Oberbürgermeister als auch für die jugendlichen Besetzer ein gerichtliches Nachspiel. Bereits im Juni 1979 hatte das Landratsamt die Stadt Radolfzell informiert, »dass bei dem hier angesprochenen Gebäude der Verdacht auf Denkmalwürdigkeit« bestünde und daher »mit der schriftlichen Ausfertigung der Abbruchgenehmigung« abgewartet werden sollte«, bis ein entsprechendes Gutachten vorliege. Die Prüfung bei einer Ortsbesichtigung am 5. Juli ergab, dass die Voraussetzungen für eine Einstufung des Fwgh als Kulturdenkmal vorliegen würden. 42 In der Sitzung am 24.06.1980 »stimmt der Gemeinderat dem Bauantrag der Stadt Radolfzell a.B. zum Abbruch des ehemaligen Feuerwehrgebäudes bei gleichzeitiger Umsetzung des Daches mit Fassade auf das Stadtwerke-Verwaltungsgebäude zu«. 43 Die öffentliche Gemeinderatsitzung am 29. Juli sollte die endgültige Entscheidung bringen. Allerdings wurde die Sitzung aber überraschend unterbrochen, damit sich die Gemeinderatsfraktionen hinter verschlossenen Türen beraten konnten. Als sie sich eine Stunde später wieder im Plenum einfanden und der Oberbürgermeister den Antrag auf Abriss nochmals vortrug, stimmten plötzlich alle Gemeinderäte zu! 44 Nach der polizeilichen Räumung und dem anschließenden Abriss Ende Juli 1980, beantragte eine Radolfzeller Bürgerin am 4. August die Einleitung eines Verfahrens gegen OB Neurohr mit der Begründung, er habe den Gemeinderat falsch informiert. 45 Bereits zwei Tage vorher war im Südkurier zu lesen: »Gab Staatsanwalt die Rechtsauskunft oder nicht? Vorentscheid hinter verschlossenen Türen - Zum Gemeinderats- Beschluß Feuerwehrgerätehaus« Weiter hieß es in den Artikel: »Die Verwaltung hatte den Gemeinderat in einer Sitzungspause dahingehend informiert, daß nach besagter Auskunft eine vorübergehende Duldung der Hausbesetzer im Feuerwehrgerätehaus rechtliche Konsequenzen haben könne. Eine Räumung danach sei nicht mehr möglich. Diese Nachricht hat letztendlich zum Meinungsumschwung in allen Fraktionen geführt. Zuvor war noch sowohl von der CDUwie der SPD Fraktion der Standpunkt vertreten worden, die Jugendlichen für eine bestimmte Zeit im Haus zu belassen. Vom leitenden Staatsanwalt Dr. Wetterich in Konstanz hat Hans-Jörg Funk jetzt erfahren, daß die Staatsanwaltschaft keine Rechtsauskünfte gibt. Hier ist also ein Widerspruch, der von der Stadtverwaltung sofort aufgeklärt werden sollte. Die Frage stellt sich, wer hat zu welchem Zeitpunkt in der Staatsanwaltschaft der Stadt eine Auskunft erteilt? «. 46 Dieser Frage scheint die Lokalzeitung auch nachgegangen zu sein, denn im Nachsatz des Artikels heißt es: »Telefongespräch mit dem <?page no="194"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 195 leitenden Staatsanwalt Dr. Wetterich am Freitag dem 1.8.80 um 10 Uhr: Die Staatsanwaltschaft Konstanz hat der Stadt Radolfzell keine Rechtsauskünfte erteilt. Das ist auch nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Falls sich einer seiner Beamten nicht an den Dienstweg halten würde, solle ich ihm umgehend den Namen nennen«. 47 Das Verfahren gegen OB Neurohr wurde am 2. Februar 1981 eingestellt. Der OB wurde wegen der Weitergabe falscher Informationen zwar gerügt, nicht aber strafrechtlich verfolgt. 48 Eine weitere Anzeige gegen den Oberbürgermeister - diesmal von der Freien Grünen Liste (FGL) - ging am 18. August 1980 bei der Staatsanwaltschaft Konstanz ein. 49 Aber auch dieses Verfahren wurde eingestellt. 50 Da die Besetzung des Hauses durch die Jugendlichen illegal war, wurde gegen einige von ihnen Anklage wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung erhoben. Daraufhin kam es zu großem Protest und einer Demonstration. 51 Bei der Räumung des Fwgh wurden die Jugendlichen in einen aus Straßensperren errichteten »Käfig« gesperrt. Alle mussten ihre Ausweise zeigen und wer dies nicht konnte oder wollte, wurde abgeführt auf die Polizeidienststelle und zum Teil auch in einer Gefängniszelle festgehalten. Dabei hatten die Jugendlichen zuvor in ihrer Vollversammlung beschlossen, dass es keine Gewalt geben sollte, selbst wenn die Polizei käme und das das Haus räumen wolle, wollten sie nur friedlich sitzen bleiben. Bei der Räumung wurden 20 von ihnen schließlich hinausgetragen, die anderen wurden herausgeführt. Drei Jugendliche hatten sich im Turm verschanzt und mussten letztendlich mit einem Hebekorb heruntergeholt werden. 52 Einige Zeit später erhielten einige der Jugendlichen Strafbefehle. So sollten sie entweder 2.900 DM bezahlen oder ersatzweise 130 Tage eine Haftstrafe verbüßen. 53 Ob das Verfahren eingestellt wurde, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Abbruch des alten Feuerwehrgerätehauses. (Foto: Dr. Reitze) <?page no="195"?> 196 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Zeitzeugen werden befragt Um einen möglichst umfassenden Einblick in die unterschiedlichen Sichtweisen der damaligen Beteiligten wie auch der Unbeteiligten zu erhalten, wurden nicht nur schriftliche Quellen herangezogen und ausgewertet, sondern darüber hinaus auch Zeitzeugen befragt. Dazu wurde ein Fragebogen mit 14 Fragen entwickelt. Dieser wurde schließlich an 80 Personen versandt. In die Auswertung gingen schließlich der Rücklauf von 40 ausgefüllten Fragebögen ein. Außerdem wurden Interviews mit sieben Zeitzeugen geführt. Auswertung der Fragebögen Als erstes wurde gefragt, ob die Personen damals im jugendlichen oder erwachsenen Alter waren. Bei der Gruppe der Jugendlichen wurde außerdem zwischen »Unbeteiligten« und »Aktivisten« unterschieden. Auch in der Gruppe der Erwachsenen gab es eine Unterscheidung zwischen »Angehörige von Jugendlichen« und »Zuschauer/ Einwohner von Radolfzell«. Darüber hinaus wurden auch Personen befragt, die damals städtische Ämter bekleideten, wie z.B. der Oberbürgermeister Günther Neurohr. Der Großteil der damaligen Aktivisten hat Radolfzell inzwischen verlassen und lebt heute in der Großstadt oder im Ausland. Einige leben jedoch nach wie vor in Radolfzell und der Umgebung. Aus der Gruppe der Erwachsenen leben dagegen nahezu alle heute noch in Radolfzell. Frage 1: Was wissen Sie über die Vorgeschichte der Besetzung des Feuerwehrgerätehauses? Aus der Gruppe der Jugendlichen gaben alle an von dem leerstehenden Gebäude gewusst zu haben. Außerdem waren den meisten die »Jugendzentrumsinitiative« und der »Leierkasten« ein Begriff. Von dem neuen Feuerwehrgerätehaus in der Nordstadt wussten hingegen nur wenige. Aus der Gruppe der Erwachsenen wussten die meisten, dass Ende der 1970er ein neues Feuerwehrgerätehaus in der Nordstadt gebaut und sehr schnell in Betrieb genommen wurde. Außerdem wussten viele, dass das alte Gebäude nach dem Umzug der Feuerwehr leer stand und kurze Zeit später besetzt wurde. Von der »Jugendzentrumsinitiative« hatten dagegen nur wenige gehört. <?page no="196"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 197 Frage 2: Haben Sie sich für den Erhalt des Gebäudes eingesetzt? Aus der Gruppe der befragten Jugendlichen haben sich 85% (17 Personen) für den Erhalt des Gebäudes eingesetzt. Davon gaben vier Personen an, sich ab dem Zeitpunkt der Besetzung für den Erhalt des Fwgh engagiert zu haben. Weitere drei Personen nannten den Sommer 1980. Die Übrigen konnten sich nicht mehr so genau an den Zeitpunkt ihres Engagements erinnern. Aus der Gruppe der Erwachsenen gaben 64% (14 Personen) an, sich für den Erhalt des Fwgh eingesetzt zu haben, wenngleich für sie der Erhalt des Gebäudes im Vordergrund stand und weniger die Einrichtung eines Jugendzentrums. Lediglich drei der 14 engagierten Erwachsenen konnte den Zeitpunkt ihres Engagements benennen: zwei Personen engagierten sich von Beginn an, eine Person erst kurz vor dem Abriss. Frage 3: Warum waren Sie dabei? Aus der Gruppe der Jugendlichen wollten 34% das Gebäude erhalten (12 von 35). 60% plädierten hingegen für die Einrichtung eines Jugendtreffs. Ein Jugendlicher wollte Spaß haben und ein weiterer gab an, er habe das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe genossen. Auch etwa ein Drittel der Erwachsenen wollte das Gebäude erhalten. Gut zwei Drittel waren für einen Jugendtreff. Wenige Erwachsenen waren hingegen aus rein beruflichen Gründen dabei (Polizist / Reporter / Fotograf / Architekt). Frage 4: Gehörten Sie zu den ...? Aus der Gruppe der Jugendlichen waren die 58% an der Besetzung des Hauses beteiligt (14 von 24). Acht weitere (33%) haben die Besetzer aktiv unterstützt. Zwei (8%) gaben an, lediglich Anwohner gewesen zu sein und die Besetzung und Demonstration eher beiläufig verfolgt zu haben. Jugendliche Gegner gab es keine. Aus der Gruppe der Erwachsenen haben rund Zweidrittel (16 von 24, 64%) die jugendlichen Besetzer unterstützt. Aktiv an der Besetzung beteiligt hat sich lediglich eine Erwachsene. Ein weiterer Erwachsener gab an, aus Überzeugung gegen die Besetzung und Demonstration gewesen zu sein. Dementgegen erklärte der damalige Oberbürgermeister im Interview, dass er gegen die Besetzung sein musste! Auch der Architekt Siegfried Stier sowie <?page no="197"?> 198 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz der Polizei-Einsatzleiter Rainer Magulski gaben im Interview an, lediglich aus beruflichen Gründen gegen die Besetzung gewesen zu sein. Frage 5: Wie haben Sie sich beteiligt? Auf die Frage nach der Art der Beteiligung, gaben aus der Gruppe der Jugendlichen 55% (15 von 27) an, sich an den Aktionen und Demonstrationen beteiligt zu haben. 22% (6 von 27) führten Gespräche mit den Besetzern. Drei (11%) erinnerten sich noch sehr genau an ihr Engagement: Aufräumaktionen, Verschönerung des Gebäudes, Geldbeschaffung, Gespräche mit Anwohnern, Werbung in der Schule und Leserbriefe in der Zeitung. Die Bäckerei und Metzgerei, die es damals in der Nachbarschaft gab, haben Brötchen und Würstchen gespendet. Von einer Familie bezogen die Besetzer Wasser, eine andere richtete eine provisorische Stromleitung ein, denn beides war von den Stadtwerken abgestellt worden. Aus der Gruppe der Erwachsenen führten 31% (11 von 35) Gespräche mit den Besetzern. Einige der Lehrer verzichteten wegen der Fehlzeiten auf Klassenbucheinträge oder auf die von der Schulleitung angeordneten Tests (5 von 31). Ein weiterer Erwachsener beteiligte sich an den Sitzblockaden, ein anderer mit Unterschriftenaktionen, zwei hielten Kontakt zur Jugendzentrumsinitiative. Ein Erwachsener protestierte gegen die Besetzung. Zwei schrieben Leserbriefe in der Zeitung. Frage 6: Waren Sie bei der Räumung dabei? Aus der Gruppe der Jugendlichen waren zwar 95% Betroffene oder Besetzer, zum Zeitpunkt der Räumung waren jedoch nur 30% (7 von 23) im besetzen Fwgh, während die übrigen Jugendlichen zu Hause im eigenen Bett schliefen. Nur ein Jugendlicher war schon im Beruf: er war Polizist! Auch in der Gruppe der Erwachsenen ist festzustellen, dass die Mehrheit 64% (14 von 22) die Räumung nicht selbst miterlebt hat. Lediglich 36% (8 von 22) konnten als Polizisten, Zuschauer, Reporter oder Oberbürgermeister das Geschehen selbst miterleben. <?page no="198"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 199 Frage 7: Waren Sie zur Zeit des Abbruchs auf dem Platz? Ebenso wie bei der Räumung waren aus der Gruppe der befragten Jugendlichen auch beim Abbruch des Hauses die meisten nicht auf dem Platz, da sie entweder zu Hause geschlafen hatten oder sich bereits in der Schule oder am Ausbildungsplatz befanden (15 von 23). Lediglich acht Jugendliche erlebten den Abbruch selbst mit. Ähnlich verhält es sich in der Gruppe der Erwachsenen. Nur 36% der Befragten haben den Abbruch miterlebt. Unter den Anwesenden waren natürlich auch der damalige Oberbürgermeister Neurohr, Architekt Stier sowie ein Fotograf und Reporter. Frage 8: Was fühlten Sie damals bei der Räumung? Wie beurteilen Sie den Polizeieinsatz? Die meisten Jugendlichen hatten während der Räumung die ähnliche Gefühle: Wut (41%), Ohnmacht (23%) und Trauer (17%). Auch Gefühle wie Frustration (4,5), Angst (4,5%), Enttäuschung (4,5%) und Betroffenheit (4,5) wurden genannt. Die Gefühle der Erwachsenen überschnitten sich hingegen häufiger. Am häufigsten wurde in der Gruppe genannt: Trauer (21%), außerdem Wut (14%), Unverständnis (14%), Ohnmacht (14%) und Schmerz (14%). Einer der befragten gab an, zornig gewesen zu sein. Aus der Gruppe der Jugendlichen betrachteten die meisten den Polizeieinsatz als übertrieben und überzogen (rüde, unnötig, gewaltsam, brutal). Demgegenüber sprachen sich rund 70% (7 von 10) der Erwachsenen dafür aus, der Polizeieinsatz sei angemessen gewesen. Nur 30% empfanden ihn hingegen als grob. Interessant war, dass sowohl von den Jugendlichen als auch den Erwachsenen in diesem Zusammenhang meist Stuttgart 21 genannt wurde! Frage 9: Was empfanden Sie beim Abbruch? Ähnliche Gefühle wie bei der Räumung verspürten die Jugendlichen auch beim Abbruch des Gebäudes. Dementsprechend wurden auch hier mehrfach Gefühle wie Wut, Ohnmacht und Trauer genannt. Außerdem wurde in dieser Gruppe Enttäuschung über den Verlust des Gebäudes, Zorn über die Illegalität, Zerstörung <?page no="199"?> 200 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz des Vertrauens in die Politik sowie Frust, Ärger und Empörung geäußert. Auch die Mehrheit aus der Gruppe der »Erwachsenen« gab an, beim Abbruch Trauer über den Verlust des denkmalgeschützten Gebäudes empfunden zu haben. Als weitere Gefühlsempfindungen wurde Zorn, Ärger, Bedauern und Ohnmacht genannt. Außerdem äußersten einige, dass sie das neue Gebäude als hässlich empfanden. Lediglich einer Person gefiel das neue Gebäude besser. Frage 10: Wie beurteilen Sie die Ereignisse heute? In der Gruppe der Jugendlichen fiel die Beurteilung der damaligen Ereignisse aus heutiger Sicht sehr unterschiedlich aus: 23% nannten den Verlust des Gebäudes (7 von 30). Für 17% ging toller Jugendtreff verloren. Weitere Äußerungen waren: »Die Stadt gab den Jugendlichen keinen Raum, sie wurden übergangen.« »Das Stadtbild wurde zerstört, der Kommerz hat gesiegt.« »Heute würde es nicht so schnell zu einem Abriss kommen.« Außerdem bemängelten zwei Personen, dass es in Radolfzell keine kontinuierliche Jugendarbeit gab. Eine Person war hingegen der Meinung, dass die Stadt in dieser Beziehung ihre Einstellung gerändert hätte. Darüber hinaus bezogen sich Aussagen auf die vertane Chance, die JZI ( Jugendzentrumsinitiative) nicht genutzt zu haben oder auf die Optik des neuen und als hässlich empfundenen Gebäudes oder darauf, dass der »Abriss eine falsche politische Entscheidung oder gar Kurzschlussreaktion gewesen sei«. 54 In der Gruppe der Erwachsenen ähnelten sich die Beurteilungen häufiger als bei den Jugendlichen. Einigkeit herrschte unter den Befragten weitgehend darüber, dass der Abriss falsch war und das Stadtbild mit dem alten Feuerwehrgerätehaus heute ansprechender sein würde. Einige befürworteten auch die Besetzung des Fwgh. Zwei Personen empfinden das neue Gebäude als hässlich. Weitere zwei Personen äußerten, dass man mit den Jugendlichen hätte sprechen müssen und dass durch den Abriss ein Jugendhaus verlorengegangen sei. Ein »Erwachsener« brachte seinen Ärger über die Irreführung der Öffentlichkeit zum Ausdruck. Demgegenüber vermutete eine andere Person, dass die Mehrzahl der jugendlichen Besetzer gar nicht aus Radolfzell, sondern von außerhalb kam. <?page no="200"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 201 Frage 11: Welche Folgen hatte das Geschehen für Sie persönlich in Bezug auf-...-? Aus der Gruppe der »Jugendlichen« äußerten insgesamt 24 Befragte, dass das Geschehen um das Fwgh Folgen für sie nach sich zogen wie etwa im schulischen oder familiären Bereich durch z.B. verstärkte Hausaufgabenkontrollen und/ oder Ärger mit der Schulleitung sowie Streit innerhalb der Familie. Auch der Freundeskreis blieb von den Folgen nicht unberührt, denn viele hatten im Fwgh neue Freunde gefunden. Für einen Jugendlichen hatten die Geschehnisse zudem Auswirkungen auf seine Arbeitsstelle (Sonderstellung als Polizist). Nur für drei der befragten Personen blieben die Geschehnisse folgenlos. Demgegenüber hatten die meisten Erwachsenen (10 von 16, 63%) keine Konsequenzen zu befürchten. Drei Personen aus der Gruppe der »Erwachsene« gaben an, dass in der Familie darüber gesprochen wurde. Drei weiteren Personen, die zu diesem Zeitpunkt als Lehrer am Gymnasium beschäftigt waren, hatten die Ereignisse rund um das Feuerwehrgerätehaus hingegen negative Konsequenzen wie z.B. die Spaltung des Kollegiums. Außerdem brachte es der Theater-AG große Schwierigkeiten (Aufführungsverbot), da diese sie bei den Besetzern war. Im Hinblick auf den Freundeskreis waren in der Gruppe der »Erwachsenen« keine Folgen zu verzeichnen. Frage 12: Haben Sie mit Ihren Eltern über die Besetzung gesprochen? Haben Ihre Eltern Ihre Teilnahme unterstützt, geduldet oder verboten? Warum? Eine Frage für die Jugendlichen! Aus der Gruppe der damaligen Jugendlichen haben 90% mit ihren Eltern über die Besetzung gesprochen. Lediglich 10% taten dies nicht. 63% der Eltern haben die Besetzung außerdem geduldet. 29% haben die Besetzung aus verschiedenen Gründen zudem unterstützt. So erachteten einige Eltern die Hausbesetzung als eine wichtige Erfahrung im Umgang mit Demokratie oder auch als gute »Übung« für ihre eigene Meinung vertreten zu lernen. Weiteren Eltern war es ein besonderes Anliegen, dass die Jugendlichen »ihr eigenes Reich« hatten und dementsprechend wollten sie die Einrichtung eines Jugendtreffs fördern. Lediglich zwei der befragten Jugendlichen wurde die Erlaubnis an der Teilnahme der Hausbesetzung verboten, wahrscheinlich aus Angst vor Drogen und Alkohol, durch die Eltern verweigert. Auch die <?page no="201"?> 202 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Angst vor dem »Geschwätz« der Leute dürfte hier eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Obwohl diese Frage eigentlich für die Gruppe der damaligen Jugendlichen gedacht war, haben diese auch einige der Befragten aus der Gruppe der Erwachsenen beantwortet. Interessanterweise waren die Antworten dieselben wie die der Jugendlichen. Frage 13: Rollentausch: Würden Sie Ihre Kinder oder andere Jugendliche bei ähnlichen Aktionen heute unterstützen? Warum? Alle damaligen Jugendlichen würden ihren Kindern heute die Beteiligung an diesen oder ähnlichen Aktionen erlauben. Allerdings unter der Voraussetzung, dass ein sinnvoller Grund vorliegen, die Aktion gewaltfrei und ohne Gefahr für ihre Kinder ablaufen müsse. Als weitere Gründe für die Einwilligung wurden angeführt, dass sie es schließlich selbst erlebt hätten, wie ihre Interessen kaum Gehör fanden. Die meisten der damaligen Jugendlichen erachten heute die Besetzung als eine wichtige Erfahrung im Hinblick auf Demokratie, Organisation, Solidarität, Idealismus, dem Umgang mit Niederlagen sowie dem Vertreten der eigenen Meinung. Auch in der Gruppe der Erwachsenen würden heute nahezu alle Befragten ihren Kindern die Erlaubnis geben. Als Begründung wurde hier angegeben: Kampf für eigene Interessen, Demokratie, Engagement und Protest gegen Lobbyismus. Wie in der Gruppe der Jugendlichen machten allerdings auch die »Erwachsenen« die Einschränkung, dass ein sinnvoller Grund vorliegen müsse. Außerdem sollten die Kinder das Gespräch suchen und sich nicht strafbar machen. Frage 14: Was war Ihrer Meinung nach der Skandal a) die Verweigerung des offenen Jugendtreffs b) die strafrechtliche Verfolgung der Jugendlichen c) der Beschluss des Gemeinderates zum Abbruch d) die Amtsführung von OB Günther Neurohr? e) die Zerstörung eines Baudenkmals? f) die Besetzung? <?page no="202"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 203 Bei dieser Frage waren die Antworten etwas ausgeglichener: Jugendliche in % Erwachsene in % a) 13 20 15 25 b) 13 20 9 15 c) 14 21 12 20 d) 11 16 8 13 e) 15 23 16 27 f) 0 0 0 0 66 100 60 100 Sowohl für die Befragten aus der Gruppe der »Jugendlichen« als auch der »Erwachsenen« war die Zerstörung eines Baudenkmals größte Skandal. Obwohl der Rücklauf auch ausgefüllte Fragebögen von damaligen »Besetzungs-Gegner« enthielt, betrachtete von diesen keiner die Besetzung als Skandal. Interviews Neben der Auswertung der Fragebögen wurden außerdem sieben Interviews mit Zeitzeugen geführt. Aus den Interviews mit zwei Polizisten: Diese beschrieben ihre damalige Situation als Zwickmühle. Aufgrund ihrer Stellung als Polizeibeamte waren sie einerseits gezwungen, die Räumung des Fwgh durchzuführen und dafür zu sorgen, dass das Haus im Anschluss abgerissen werden konnte. Andererseits hätten sie die Jugendlichen aber auch sehr gut verstanden. Daher sei ihnen die Pflichterfüllung nicht so leicht gefallen. »Ich war mehr auf der Seite der Besetzer. Ich habe viel mit den Jugendlichen gesprochen. Es ist alles sehr ordentlich abgelaufen und ich denke, ich hätte meine polizeilichen Aufgaben nicht besser machen können«, so der damalige Polizeieinsatzleiter Rainer Magulski. Der Polizist H. Laub äußerte sich dahingehend, dass die Räumung zwar aufgrund der Rechtslage »zwangsläufig« war, aber »unnötig angesichts möglicher Alternativen - wenn seitens der Stadt entsprechende Alternativen ernsthaft verfolgt worden wären«. Aus den Interviews mit damaligen Aktivisten: Der damalige Aktivist H. Poth berichtete im Interview, dass er damals zwar weder bei der Räumung noch beim anschließenden Abriss dabei war. Dennoch sei er von der Polizei festgenommen worden, als er nach seinem <?page no="203"?> 204 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Ferienjob bei der Demonstration vorbei kam. In der Polizeizelle habe er dann auf dem Hof einen jungen Polizisten gesehen, dem die ganze Sache offenbar furchtbar peinlich zu sein schien, denn er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen, um ja nicht erkannt zu werden. Weiter erzählte H. Poth, dass er wohl wegen seiner langen Haare als »Rädelsführer« herausgegriffen und in ein Polizeiauto gestoßen wurde. Daher kam er natürlich nicht pünktlich nach Hause, woraufhin seine Mutter sich auf die Suche nach ihm machte. Als sie schließlich von seiner Verhaftung erfuhr, sei sie wütend ins Polizeirevier gekommen und habe so lange mit den Beamten diskutiert, bis sie ihren Sohn mit nach Hause nehmen konnte. H. Heyne, damals ebenfalls Aktivist und Mitarbeiter an der Dokumentation der Jugendlichen zum FHW, erklärte im Interview, dass »die Polizei nicht das Feindbild war. Feindbilder der Jugendlichen waren OB Neurohr und der Gemeinderat«. Aus dem Interview mit dem damaligen Architekten: Auch der Architekt S.- Stier wurde zu den einstigen Geschehnissen befragt. Dieser hatte damals den Auftrag erhalten, auf dem Platz des Fwgh das neue Verwaltungsgebäude der Stadtwerke zu entwerfen und zu bauen. S.-Stier berichtete im Interview, dass bereits seit 1964 die Zustimmung des Denkmalamts vorlag, aus Platzgründen eine hintere Ecke des Hauses abzureißen, um den Neubau des Betriebsgebäudes der Stadtwerke überhaupt zu ermöglichen. Es habe ihn allerdings sehr gefreut, dass der Dachstuhl durch das Aufsetzen auf das bereits bestehende Gerätehaus der Stadtwerke erhalten bleiben sollte. Seiner Meinung nach ging es den Jugendlichen damals weniger um den Erhalt des Gebäudes sondern, vorrangig um die Einrichtung eines Jugendzentrums. Da er viel Zeit in die Planung investiert habe, sei er natürlich enttäuscht gewesen, dass seine Pläne nicht verwirklicht werden konnten. Da der Abriss bereits genehmigt war, sieht er in dem Beschluss des Gemeinderats auch keinen Skandal. Er könne zwar verstehen, dass die JZI das Haus besetzt habe, da die Stadt den Jugendlichen kein Jugendhaus gegeben habe. Aber das Fwgh sei abgerissen worden, weil die Jugendlichen es besetzt haben! Aus dem Interview mit einer Anwohnerin: Besonders genau an die damaligen Geschehnisse konnte sich E. Schlegel erinnern, die heute noch in der Nähe des ehemaligen FHW am Untertorplatz wohnt. Im Interview berichtete sie, dass sie die Schließung des alten Jugendlokals »Leierkasten« sehr bedauert habe und viele der Jugendlichen bereits vor der Besetzung gekannt habe. Weiterhin erzählte sie von den zum Teil mit lauter Musik verbundenen Aktionen, die die Jugendlichen veranstalteten, um auf sich und ihre Wünsche nach einem Ju- <?page no="204"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 205 gendhaus aufmerksam zu machen. Nachdem die Jugendlichen das FHW besetzt hatten, sei sie zu ihnen gegangen und habe das Gespräch gesucht. Später wären die Jugendlichen dann auch zu ihr gekommen und hätten um Hilfe gebeten. Da die Stadtwerke Strom und Wasser abgestellt hatten, um die Jugendlichen zu vertreiben, habe ihr Mann eine Stromleitung zum FWGH gelegt, die er allerdings wieder entfernen musste. Dabei musste er allerdings feststellen, dass bereits jemand das Kabel durchgeschnitten hatte. Außerdem berichtete sie, dass auch andere Nachbarn die Jugendlichen unterstützt hätten. So wären diese von einigen Anwohnern mit Wasser versorgt worden, eine Bäckerei habe Brötchen gebracht und eine Metzgerei ihnen Würstchen gespendet. Da sie zudem die Abende vorher und die Nacht der Räumung im Fwgh verbracht habe, konnte sie sich noch sehr genau erinnern, wie viel Jugendliche das Haus besetzt hatten: 33 Radolfzeller, 22 Auswärtige und 30 Personen aus der näheren Umgebung von Radolfzell (z.B. Ortsteile und Höri). Wegen ihrer Anwesenheit bei der Besetzung und der Räumung sei sie beschimpft worden und habe sich Sätze anhören müssen wie: »Eine anständige Frau steht jetzt in der Küche«. Aus dem Interview mit dem damaligen Oberbürgermeister der Stadt Radolfzell: Aus der Sicht des damaligen Oberbürgermeisters Günther Neurohr sei der alte Fwgh einsturzgefährdet und daher nicht zu erhalten gewesen. Außerdem habe er bei den Jugendlichen damals keine ernsthafte Gesprächsbereitschaft erkennen können. Die Verhandlungen seien schwierig gewesen, da jeden Tag andere Jugendliche mit neuen Forderungen an ihn herangetreten seien. Somit habe es eigentlich keine wirkliche Möglichkeit zu verhandeln gegeben. Auch der Gemeinderat sei zu alt gewesen, um ernsthafte Gespräche mit den Jugendlichen zu führen. Im Interview betonte er mehrmals, dass er für den Erhalt alter Gebäude gewesen sei. Schließlich habe er sich auch für den Erhalt der alten Mettnaubrücke eingesetzt, die kurz nach dem Ende seiner Amtszeit aber dann doch abgerissen wurde. Auf die Frage zum Rollentausch antwortete er, dass er wahrscheinlich auch bei den Besetzern gewesen wäre. »Ich war als Jugendlicher ein kleiner Rebell«. Allerdings sei er der Oberbürgermeister gewesen und musste daher einen anderen Standpunkt einnehmen. Da alles rechtmäßig abgelaufen sei, konnte er keinen Skandal erkennen. Anmerkung: Allerdings hatten die Autorinnen den Eindruck, dass er die Dinge so berichtete, wie es für ihn am besten war. <?page no="205"?> 206 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz Was ist der Skandal? Für die Autorinnen dieses Beitrags wie auch für die Beteiligten war die Zerstörung eines Baudenkmals und die Unwissenheit vieler Radolfzeller Bürger, dass das alte Feuerwehrgerätehaus unter Denkmalschutz stand, ein Skandal. Die damaligen Jugendlichen hatte außerdem die Verweigerung eines offenen Jugendtreffs sehr getroffen und nicht gerade ihr Vertrauen in die Lokalpolitik gefördert. Darüber hinaus gibt auch die Amtsführung von OB Günther Neurohr Anlass zur Kritik. Im Interview gab er an, dass mindestens die Hälfte, wenn nicht sogar Zweidrittel der Besetzer von auswärts kamen. Eine Anwohnerin hielt dagegen, dass es in Wirklichkeit weniger als ein Viertel waren. Es ist zu vermuten, dass auch der Gemeinderatsbeschluss zum Abbruch womöglich nicht zustande gekommen wäre, wenn OB Neurohr den Gemeinrat nicht in diese Richtung beeinflusst hätte. Das Telefonat mit der Staatsanwaltschaft Konstanz am 29. Juli 1980 scheint es in der Form nie gegeben zu haben. Das Regierungspräsidium Freiburg hatte dem Totalabriss schon am 15.07.1980 telefonisch zugestimmt. Der Gemeinderat war darüber allerdings nicht informiert. 55 Nur wenige Teile sollten erhalten bleiben. Deshalb ist dieser Beschluss des Gemeinderates für die Autorinnen auch ein Skandal. <?page no="206"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 207 Anmerkungen 1 Künftig abgekürzt mit Fwgh 2 Niederschrift über die öffentliche Verhandlung des Gemeinderates am 08.05.1879. 3 Schreiben des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, Außenstelle Freiburg an das Bürgermeisteramt Radolfzell vom 19.06.1979; AZ Ib/ 2202/ Be/ Re. 4 Aktennotiz zur Ortsbesichtigung des Landesdenkmalsamtes am 05.07.1979. 5 Niederschrift über die öffentliche Verhandlung des Gemeinderats vom 15.04.1980. 6 Schreiben des Architekten Stier an die Stadtwerke über den Abbruch und die Versetzung des alten Feuerwehrgerätehauses vom 20.05.1980. 7 Antrag der Stadtwerke für einen Zuschuss an das Denkmalamt vom 27.06.1980. 8 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.2. 9 Ebd. 10 Teilfreigabeschein für Abbrucharbeiten des Baurechtsamts vom 27.06.1980. 11 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.2. 12 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.2.; Interview mit Rainer Magulski. 13 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.2; Schreiben des Architekten Stier an das Baurechtsamt vom 31.07.1980. 14 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.1. 15 Käsblättle, S.18; Ausgabenummer fehlt 16 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.3. 17 ebd. 18 Käsblättle, S.4; Ausgabenummer fehlt 19 Ebd. 20 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.10f. 21 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.11. 22 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.12. 23 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.5. 24 Südkurier, Ausgabe vom 25.07.1980. 25 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.3. 26 Ausschnitt aus einem Interview während der Besetzung, in: Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.5. 27 Südkurier, Ausgabe vom 25.07.1980. <?page no="207"?> 208 Nicole Ehnert, Mirjam Kunz 28 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.21. 29 Benner, Jörg: Ballade von der Kleinstadt Radolfzell, Herbst 1980. 30 Südkurier, Ausgabe vom 25.07.1980. 31 Singener Wochenblatt, Ausgabe vom 31.07.1980. 32 Südkurier, Ausgabe vom 26.07.1980. 33 Ebd. 34 Aus dem Fragebogen von B. Schuhmacher. 35 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.35. 36 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.31. 37 Vgl. Fragebogen: Auswertung auf Frage Nr 12. 38 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.36. 39 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.12f. 40 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.26. 41 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.32. 42 Aktennotiz zur Ortsbesichtigung des Landesdenkmalsamtes am 05.07.1979. 43 Niederschrift über die öffentliche Verhandlung des Gemeinderates vom 24.06.1980. 44 Dokumentation über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses, September 1980, S.21. 45 Aufsichtsbeschwerde einer Bürgerin an das Regierungspräsidium Freiburg vom 04.08.1980. 46 Südkurier, Ausgabe vom 02.08.1980. 47 Ebd. 48 Stellungnahme des Regierungspräsdidiums freiburg vom 14.11.1980 und 02.02.1981; AZ 12/ 21/ 0436. 49 Strafanzeige gegen OB Neurohr der Freien Grünen Liste (FGL) vom 18.08.1980. 50 Schreiben der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 21.01.1981; AZ 11 Js 114/ 80. 51 Flugblatt: Aufruf zur Demo gegen Strafbefehle; 14.03.1981. 52 Schwarzwälder Bote, Ausgabe vom 01.08.1980. 53 Flugblatt: Aufruf zur Demo gegen Strafbefehle; 14.03.1981. 54 Zitate aus den Fragebögen. 55 Stellungnahme des Regierungspräsidiums Freiburg vom 02.02.1981, AZ 12/ 21/ 0436. <?page no="208"?> Die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses in Radolfzell 209 Quellenverzeichnis • Fragebögen und Interviews der Zeitzeugen • Dokumentation der Jugendlichen vom September 1980 • Dokumente aus dem Radolfzeller Stadtarchiv › Niederschriften und Vorlagen der Gemeinderatssitzungen vom 08.05.1979; 06.11.1979 ; 01.04.1980; 15.04.1980; 24.06.1980 und 29.07.1980 › Schreiben des Regierungspräsidiums Freiburg an das Landratsamt Konstanz vom 15.09.1980 › Schriftverkehr mit dem Baurechtsamt vom 17.06.1980 (Teilfreigabe) und 31.07.1980 › Schreiben des Landesdenkmalamts vom 19.06.1979 › Schreiben des Architekten Stier an die Stadtwerke Radolfzell über den Abbruch und die Versetzung des alten Fwgh vom 20.05.1980 › Kostenaufstellung der denkmalpflegerischen Baumaßnahmen am alten Fwgh, Architekt Stier, 02.06.1980 › Antrag Architekturbüro Stier im Auftrag der Stadtwerke für einen Zuschuss an das Landesdenkmalamt vom 27.06.1980 › Schreiben vom Oberbürgermeister an den Gemeinderat vom 26.09.1980 • Artikel Südkurier vom 25.07.1980 und 26.07.1980 • Singener Wochenblatt vom 31.07.1980 • Radolfzeller Nachrichten vom 02.08.1979 und 12.02.1981 • Schwäbischer Bote vom 01.08.1980 • »Ballade von der Kleinstadt Radolfzell« des Herrn Jörg Benner, Herbst 1980 • Käsblättle S.-4 und S.-18 (Ausgaben-Nr. fehlt) • Strafanzeige gegen OB Neurohr vom 18.08.1980 und Einstellung des Verfahrens vom 02.02.1981; AZ 11Js 114/ 80 • Aufsichtsbeschwerde gegen OB Neurohr vom 04.08.1980, • Stellungnahme des Regierungspräsidiums Freiburg vom 14.11.1980 und 02.02.1981; AZ 12 / 21 / 0436 • Stellungnahme des Hauptamtes Radolfzell zur Aufsichtsbeschwerde vom 14.11.1980; AZ 12 / 21 / 0436 • Lagepläne zum Vorentwurf des Neubaus vom Verwaltungsgebäude der Stadtwerke, Architekt Stier, 15.11.1979 und zum Abbruchgesuch vom 10.04.1980 • Pläne des alten Fwgh • Flugblatt: Aufruf zur Demo gegen Strafbefehle; 14.03.1981 <?page no="210"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus in Konstanz und der Region h eiKe K empe Im Jahr 1983 erschien in Konstanz und der Region das vom Netzwerk Selbsthilfe Bodensee-Oberschwaben herausgegebene und im Selbstverlag gedruckte Provinzbuch in einer Auflage von 2.000 Exemplaren. Diese Adresskartei sollte jedoch nicht nur praktische Hilfe zur Selbsthilfe leisten und für das Netzwerk werben. Vielmehr wollten die Autoren »dem nahezu selbstverständlichen ›Abhauen‹ nach Berlin und anderen Metropolen ein bewusstes ›Dableiben‹ in unserer provinziellen Region entgegen(setzen)«, oder anders gesagt: »dem metropolen Sein« ein »provinzielles Werden«. Im Folgenden soll ein Überblick über die Entwicklung des alternativen Milieus seit den 1960er Jahren gegeben werden. Die Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere dem Zusammenhang zwischen der Aneignung der Provinz unter »gegenkulturellen Vorzeichen« und dem damit verbundenen Wandel in der Wahrnehmung derselben. 1 Schreckgespenst Provinz Die Studentenbewegung der 1960er Jahre nahm »Provinz« in ihrer Aufbruchstimmung vor allem als Feindbild wahr. Dieses Perzeptionsmuster resultierte auch aus den »Schreckensbildern der Provinz«, wie sie bei den Klassikern der Neuen Linken zu finden waren. So stilisierten Theodor W. Adorno und Ernst Bloch die Provinz als einen Ort mit »Hang zur Barbarei«, als »geheimes Deutschland«, das als »Schlupfwinkel und Arsenal der Reaktion« gegen alle Aufklärung und Emanzipation diene. 2 Und auch Kurt Tucholsky klagte resignierend: »Da regiert der Bürger in seiner übelsten Gestalt. Da regiert der Beamte des alten Regimes. Und wie regieren sie! - Keine Erkenntnis hat da Bahn gebrochen. Kein Luftzug der neuen Zeit weht da herein«. 3 Zu ihrer speziellen Kennzeichnung erhielten die Provinzverhältnisse zusätzlich die Komparativform: »besonders repressiv, lustfeindlich, verklemmt, faschistisch«. 4 Daher verwundert es kaum, dass der SDS-Vorsitzende Reimut Reiche auf der Vollversammlung der Soziologiestudenten in Frankfurt am 10. Dezember 1968 endlich den »langerwarteten Moment gekommen sah, in dem man den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb zerschlagen und alle Professoren, die nicht gewillt seien, an der politisch orientierten und von Studenten selbst organisierten Wissenschaft teilzunehmen, in die Zonenrandgebiete oder nach Konstanz schicken« könne. 5 Das Zitat verdeutlicht <?page no="211"?> 212 Heike Kempe den Stellenwert, den die Provinzstadt Konstanz mit der 1966 gegründeten (Reform-)Universität unter den revoltierenden Studenten offenbar einnahm: nämlich gar keinen! Konstanz erscheint in diesem Zitat im Vergleich mit den Metropolen wie Berlin, Frankfurt, München oder sogar Heidelberg geradezu als Hochburg der Spießbürgerlichkeit, wohin man die Professoren alten Schlags abschieben müsse. Auch wenn man es heute kaum mehr glauben mag, aber die Universitätsgründung im Jahre 1966 stieß keineswegs nur auf Zustimmung. »Das Verhältnis der Universität zu Stadt, Region und Land ist ein kompliziertes, oft wenig stabiles System von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen. Die Stadt muss sich mit der neuen Universität, die von ihr als Fremdkörper und als Zierde empfunden wird, langsam anfreunden. Die Universität hätte dem konservativen Habitus der Einwohner auch bei Trotz Regen, trotz Schlammwüste besuchten etwa 7.000 Besucher am 8. und 9. August 1970 das erste Open-Air-Festival auf Klein Venedig. (Fotos: Südkurierarchiv / H. Finke) <?page no="212"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 213 ›normalen‹ Verhältnissen, wie man sie 1965 noch erwarten konnte, nicht recht entsprochen. Nun brachte sie mit den ersten Professoren, Assistenten und Studenten einen kleinen, aber in seiner Ungewohntheit für die Bürger hinreichend befremdlichen Teil der Unruhe an den Universitäten in die Stadt«, fasste der Gründungsrektor der Universität, Gerhard Hess, 1973 in seinem Rechenschaftsbericht zusammen. 6 In der Tat waren zahlreiche Proteste und Widerstand von der Universität und der Fachhochschule ausgegangen. Den Umgang mit dieser studentischen Protestkultur lernte man in Konstanz wie überall in der Republik in den 1960er Jahren nur mühsam. So waren Strategien der Deeskalation der Ortspolizei noch gänzlich unbekannt. 7 Langhaarige galten als Gammler und Unruhestifter. Konstanz »von diesen Figuren zu räumen« 8 Im Sommer des Jahres 1970 war die Stimmung ausgelassen und aufgeheizt. Angezogen durch die idyllische Seelage sowie durch mehrere Musikveranstaltungen strömten viele junge Leute in die Stadt um am See zu feiern. Ihre bevorzugten Aufenthaltsorte waren einige Stellen im Bereich der Uferanlagen und der Blätzleplatz im Stadtzentrum, wo viele von ihnen tagsüber und nachts lagerten. Rasch wurden in der Bevölkerung kritische Stimmen gegen die Popveranstaltungen und ihre Begleiterscheinungen laut. »Inferno im und ums Konzil« urteilte beispielsweise ein Leserbrief im Südkurier über den am 19. Juli im Konzil stattgefundenen Beat-Abend mit dem Fazit: »Übrigens: Inferno heißt soviel wie ›Unterwelt‹. Sie war im und ums Konzil gammelnd versammelt«. 9 Knapp drei Wochen später fand auf Klein Venedig das erste große Open-Air-Festival unter dem Motto »totale Kunst« statt. Viele unglückliche Umstände wie dauerhafter Regen, der überraschende Ausfall mehrerer Musikbands, der Mangel an Verpflegung und vor allem an hygienischen Vorkehrungen beeinträchtigten allerdings den reibungslosen Ablauf der Konstanzer Variante von Woodstock. Für zusätzliche Turbulenzen sorgte schließlich die Nachricht, dass einige der Festivalbesucher fünf Waggons der Deutschen Bundesbahn aufgebrochen hatten, um sie als Schlafstätte zu nutzen. 10 Kurz darauf forderte NPD-Stadtrat Walter Eyermann den CDU-Oberbürgermeister Dr. Bruno Helmle auf, Konstanz endlich von diesen Gammlern zu säubern. Er sei bereit, mit 40 Bürgern dafür zu sorgen, dass die Gammler wegkommen. 11 Die ohnehin angespannte Stimmung eskalierte schließlich am frühen Abend des 29. August 1970, als der angetrunkene Druckereiarbeiter Hans Obser auf dem Blätzleplatz zur Tat schritt. Er komme von der Bürgerwehr und werde unter den Gammlern aufräumen, soll Obser gesagt haben. Dann forderte er den 17-jährigen Tankwartlehrling Martin Katschger, der weder langes Haar noch Gammlerkluft trug, auf, zu ver- <?page no="213"?> 214 Heike Kempe schwinden. Kurz danach fiel der tödliche Schuss aus Obsers Bolzenschussgerät, mit dem er sonst Hasen tötete. Der Gammlermord, der auch bundesweit für Schlagzeilen sorgte, mag für den ein oder anderen einmal mehr die Bestätigung der Theorie von der faschistoiden Provinz gewesen sein. 12 »In der Provinz und in der Linken kennt zwar jeder jeden! In der Provinz und in der Linken grüßt nicht jeder jeden, den er kennt« 13 Auf den ersten Blick schien klar ersichtlich: Hier prallten die spießigen Lebensentwürfe eines alteingesessenen konservativen Bürgertums und die neuen Lebens- und Protestformen einer überwiegend studentischen Linken auf engstem Raum aufeinander. Aber auch in Konstanz fehlte die innere Zersplitterung der Linken nach 1968 in unterschiedliche Gruppierungen nicht. Wenngleich in kleinsten Gruppierungen, so war dennoch das gesamte Spektrum, von trotzkistischen Gruppen und Maoisten über den »Marxistischen Studentenbund Spartakus« bis hin zu den Jusos und Gewerkschaftlern vertreten. Selbst die einzelnen Neuen Sozialen Bewegungen wie die Frauenbewegung spaltete sich nochmals in politisch unterschiedlich orientierte Frauengruppen auf. Freilich zeichneten sich angesichts der Vielfältigkeit des linken Lagers in den kommenden Jahren auch die vielfältigsten Formen des Protests ab. Martin Katschger Bericht im Südkurier vom 3. Sept. 1970 <?page no="214"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 215 APO-Adressbuch als Messintrument für Alternativkultur Wie aber entwickelte sich das alternative Milieu in Konstanz jenseits der Protestformen seit Ende der 1960er Jahre? Einen Hinweis liefert das von Rolf Schwendter 1969/ 70 herausgegebene APO-Adressbuch, das darauf abzielte, die bis dato erreichte territoriale Verdichtung der Alternativkultur bis in die kleinsten Dörfer zu erfassen. Freilich legte diese erste grobe Kartierung auch schnell den disparaten Verdichtungsgrad offen. 14 Während für die Groß- und Universitätsstädte bereits eine Vielzahl an Gruppen und Orten verzeichnet waren, boten die Kleinstädte oder Dörfer - sofern sie überhaupt verzeichnet waren - in der Regel nur eine Kontaktmöglichkeit. In Konstanz waren es drei: die Universität, das DGB-Haus und der Jazzclub Hades. 15 In Korrespondenz mit dem Anwachsen der Universität hatte sich bis zum Ende der 1970er Jahre hingegen eine Infrastruktur alternativen Lebens entwickelt, die nicht nur den Freizeitsektor, sondern auch die Bereiche Wohnen und Arbeiten umfasste. Ein alternativer Tag in Konstanz Ein alternativer Tag begann in Konstanz mit einem biodynamischen Frühstück im Scheffelhäusle 16 , dem ersten Bioladen der Stadt, führte dann weiter in den Buchladen zur Schwarzen Geiß 17 , wo es neben allerlei linksalternativen Themen auch die Neuen Seeblätter und das Nebelhorn gab. Und in der Etage darüber trafen sich die Frauen im Belladonna. Dieses Frauencafé war als radikalfeministische Abspaltung aus dem Frauenzentrum 18 in der Gütlestraße 8 entstanden. In zahlreichen Arbeitsgruppen ging es den Frauen vor allem darum, etwas über sich selbst zu erfahren und ihre eigene Rolle in der Familie und der Gesellschaft zu klären. Doch bereits sechs Jahre später schloss das Frauenzentrum als Folge interner Konflikte. »Es gibt in Konstanz lesbische Frauen. Wir sind zwei. Wo sind die anderen? « Mit dieser provokanten Anzeige kam es 1979 zur Gründung des Frauentreffs Belladonna 19 . Das Programm umfasste Lesungen, Filmvorführungen, Ausstellungen und Diskoabende. Mit spektakulären Aktionen wurde für die Rechte der Frauen geworben. Als 1986 die städtische Frauenbeauftragte ihre Arbeit aufnahm, war das Anliegen linksalternativer Frauenverbände jedoch keinesfalls erledigt. 1989 wurde der Verein Frauen helfen Frauen in Not gegründet. Sein wichtigstes Anliegen war die Einrichtung eines Frauenhauses, in dem alleinerziehende Mütter Schutz vor gewalttätigen Partnern finden konnten. Aber auch die Homosexuellen machten mit einer ungewöhnlichen Anzeige auf sich aufmerksam: »Schwul in Konstanz. Bin ich der einzige? « 20 1975 gründete sich in Konstanz die Homosexuelleninitiative. Die HIK organisierte Kundgebungen <?page no="215"?> 216 Heike Kempe wie 1983 vor dem Münster und brachte die Christopher Street Day Parade nach Konstanz. 1988 veranstaltete die Konstanzer Aidshilfe mit dem Zebrakino die ersten Konstanzer schwulen Filmtage, die inzwischen unter dem Titel »Quergestreift« laufen. Das Zebrakino fusionierte 1990 mit dem kommunalen Kino und zeigt in der Chérisy-Kaserne weiterhin ein anspruchsvolles Programm, fernab des kommerziellen Mainstreams. 21 Bereits 1968 gründete die Künstlerin Ulrike Ottinger mit einigen Studenten im Salzbüchsle den Filmclub Visuell, der später um eine Galerie und eine Boutique erweitert und neben dem Jazzclub Hades zu einem der kulturellen Treffpunkte wurde. »Konstanz braucht ein selbstverwaltetes Jugendzentrum«, forderten außerdem die Konstanzer Jugendlichen bereits im Sommer 1972. Nachdem 1973 der erste Versuch eines autonomen Juzes gescheitert war, eröffnete die Stadt 1978 schließlich das Jugendzentrum Schlupfwinkel in der Klosterkaserne. 22 Allerdings wurde es nicht - wie von den Jugendlichen gewünscht - autonom verwaltet, sondern als städtische Einrichtung geführt. Im März 1991 wurde der Verein »Juze statt Plastik« gegründet, der Studentenzeitung Sumpfblyte, 1978. <?page no="216"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 217 sich engagiert für die Einrichtung eines autonomen Jugendzentrums einsetzte. Als die Stadt im Sommer 1991 beschloss, Flüchtlinge im Juze unterzubringen, eskalierte die Lage. In ihrem Protestschreiben bezeichneten sich die Jugendlichen als Randgruppe, die gegen eine andere Randgruppe ausgespielt werde. »Juze statt Plastik« besetzte schließlich das Gebäude. Als die Polizei räumen wollte, verließen die Jugendlichen das Gebäude freiwillig. 23 Neben dem Jugendzentrum hatte sich seit den 1970er Jahren eine ganze Reihe alternativer Kneipen und Lokale etabliert, von denen einige fester Bestandteil der Konstanzer Kulturszene geworden sind. Beliebte Szenetreffs wie das s’Beese Miggle 24 , Café Chaos 25 , Fischkult 26 , Kula 27 und Seekuh 28 boten Raum für Gespräche und Musik. Sprachrohr aller Bewegungen Die Vernetzung der Konstanzer Szene bestand jedoch nicht nur aus unmittelbaren Begegnungen im selbst verwalteten Laden, der Kneipe oder Wohngemeinschaft. Darüber hinaus sollten alternative Zeitungen als Sprachrohr aller Bewegungen zu einer besseren Vernetzung der Szene beitragen. Von 1976 bis 1980 wollten die Neuen Seeblätter »eine Möglichkeit anbieten, miteinander in Verbindung zu treten« und informieren, »was in unserer Konstanzer Gegend von Leuten gemacht wird, die unsere Welt an konkreten Punkten aus eigener Kraft (weil es ja sonst keiner tut! ) verändern wollen«. 29 Mit einer »undogmatisch linken und regionalen Zeitung für unseren LebensRaum (? )« zielten ab 1980 schließlich die Macher des Nebelhorns darauf ab, »in dieser Provinz einen anderen Journalismus« zu riskieren. 30 »Weg von der tausendfachen Klage, die sich ›Betroffene kommen selbst zu Wort‹ nennt«, fokussierten die Beiträge vielmehr dezidiert auf städtische und regionale Probleme sowie auf die Vernetzung der Szene. 31 Daher beinhalteten die einzelnen Ausgaben auch stets Adressenlisten der Initiativen, Theater und Kinos sowie alter- Protestplakat der Jugendlichen, dass eine Randgruppe gegen eine andere Randgruppe ausgespielt werde. (Bild: Neues Nebelhorn, Ausgabe 7, Jahrgang 1991, S. 3) <?page no="217"?> 218 Heike Kempe <?page no="218"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 219 nativen Kneipen wie beispielsweise dem s’ Beese Miggle in Konstanz oder der Räuberhöhle in Ravensburg. Ferner präsentierte ein großer Kulturteil das regionale Angebot an Musikveranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen und Filmen. Darüber hinaus sollte ein kostenloser Kleinanzeigenteil die gegenseitige Hilfe in der Szene befördern. Um einen dialogischen Interaktions- und Kommunikationsprozess mit dem Leser herzustellen, waren Leserbriefe nicht nur willkommen, sondern ausdrücklich erwünscht. Dem Nebelhorn folgte von 1989 bis 1994 schließlich das Neue Nebelhorn. Freilich kam es nicht nur in Konstanz, sondern auch in der Region zur Gründung weiterer Alternativzeitungen, wie beispielsweise 1980 in Überlingen. Mit dem Namen schelle wollte das Gründungsteam auf die »symbolische Doppelbedeutung entsprechend zu der Aufgabe der Zeitung« hinweisen: »Einerseits durch zartes Klingeln die Aufmerksamkeit wecken, andererseits auch mal die Maulschelle verteilen«. 32 Bereits zwei Jahre zuvor war im oberschwäbischen Bad Schussenried der Motzer gegründet worden, »en dem jeder schreiba ka ond soll, was er will - ozensiert«. 33 In Leutkirch im Allgäu bemühte sich seit 1972 das Radieschen im Untergrund »über lokale Ereignisse zu berichten, die von der hiesigen Presse totgeschwiegen werden« und hatte dabei »einige schwierige Probleme mit dem Verfassungsschutz zu überstehen«. 34 Und auf der schweizerischen Seeseite galt die Thurschau als »Feindsymbol aller bürgerlichen Zeitungen der Region, weil sie bringt, was die anderen nicht bringen können«. 35 Die Gründung des Seespiegel in Lindau 1978 stellte indessen den ersten Versuch dar, eine alternative Zeitung für die westliche Bodenseeregion zu etablieren. 36 Von 1981 bis 1983 sorgte der Piratensender Radio Wellenbrecher »trotz Bespitzelung, Einschüchterung und Drohungen bis hin zu einer Entlassung« für die Verbreitung »unterbliebener Nachrichten« in der Region. 37 »Das Ziel muss es sein, ein breites Netz von Kontakten aufzubauen, eine linke Infrastruktur in der Provinz, die einen Diskussionsprozeß untereinander und einen engen Kontakt zu den Metropolen-Linken ermöglicht« 38 Eine erste Auseinandersetzung zu Fragen des Stadt-Land-Widerspruchs fand auf dem Stadt-Land-Dialog-Kongress in Berlin statt. Unter dem Motto »Woher kommst du, was machst du, wohin willst du? « wurden hier vom 18. bis 20. April 1980 einerseits die Probleme zwischen Metropolen- und Provinzlinken diskutiert, andererseits die potentiellen Möglichkeiten einer stärkeren Vernetzung zwischen den Provinzregionen ausgelotet. 39 Infolge dieses Kongresses wurde nicht nur die Koordinationsstelle Informationsbüro Provinzarbeit eingerichtet, sondern mit dem zwischen <?page no="219"?> 220 Heike Kempe 1980 und 1985 herausgegebenen Provinz-Rundbrief auch eine Art Nachrichtenzentrale und Info-Börse für »Hinterbliebene Nachrichten« aus den ländlichen Gebieten geschaffen. Mit der Möglichkeit des einfachen Nachdruckens der Provinzrundbrief-Artikel sollten insbesondere die lokalen Alternativzeitungen angesprochen werden, um auch über den eigenen Ort hinaus einen »Informationsfluß und den Erfahrungsaustausch in Gang zu halten«. 40 Mit dem Jahrbuch Provinzarbeit folgte 1981 ein weiteres Projekt transregionaler Zusammenarbeit, um »die bisher vernachlässigte Provinz-Diskussion nun kontinuierlich in praktischer Absicht führen zu können«. 41 Die Anzeichen des Wandels in der Provinz wurden überdies auch bereits früh von den etablierten Medien aufgegriffen. Mit Sendungen wie »Jour Fix« und »Diskuss« gelangten zwischen 1971 bis 1974 zwei neue Formate auf den Bildschirm, die auf die Jugendzentrumsbewegung in den Kleinstädten ausgerichtet waren. Das Ziel der Autoren und Autorinnen war einerseits die Aufklärung, was es heißt »jung zu sein und in der Provinz zu leben«. Außerdem - so die Selbstdarstellung der Autoren - wollte die Sendung »den Jugendlichen einen Weg aus dem passiven Unbehagen zur aktiven Selbstbestimmung zeigen« und durch die Vorstellung zahlreicher Provinzprojekte zu deren Vernetzung beitragen. 42 Ferner hob auch die im Jahr 1980 in der ARD ausgestrahlte mehrteilige Sendereihe »Alternative in Deutschland« nicht mehr ausschließlich auf die alternativen Projekte in den Großstädten ab, sondern fokussierte verstärkt die Vorstellung von Provinzprojekten wie dem Motzer oder dem Umsonst&Draußen Festival in Fischbach sowie der Räuberhöhle in Ravensburg. 43 Vernetzung in der Bodenseeregion Als erstes regionales Projekt wurde 1979 das Selbsthilfe Netzwerk Bodensee-Oberschwaben als gemeinnütziger Verein gegründet. Sein Wirkungskreis erstreckte sich von der Donau im Norden, dem Bodensee und Rhein im Süden, der Iller im Osten sowie dem Raum Singen / Tuttlingen im Westen. Durch einen Informationsaustausch, der Vermittlung von Arbeitskontakten und praktischen Hilfeleistungen sollten die Projekte in Selbstverwaltung miteinander verbunden und neue oder bestehende Projekte finanziell unterstützt werden. Als förderungswürdig galten Projekte, die eine demokratische Selbstverwaltung praktizierten, modellhaft alternative Arbeits- und Lebensformen entwickelten und einen aufklärerischen und emanzipatorischen Charakter auswiesen. Nicht gefördert wurden Projekte, die auf individuellen Profit ausgerichtet waren. Für die finanziellen Hilfen wurde ein Unterstützungsfonds aufgebaut, in den Mit- <?page no="220"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 221 gliedsbeiträge und Spenden fließen sollten. Bis zum Jahr 1983 hatte dieses regionale Netzwerk 300 Mitglieder, die mit ihren Beiträgen von insgesamt 2.000 Mark finanzielle Hilfe zur Selbsthilfe möglich machten. Das 1983 herausgegebene Provinzbuch sollte schließlich dazu beitragen, »unsere Lebensbedingungen erträglicher (zu) machen, indem wir eine tragfähige Infrastruktur auf- und ausbauen, die auch unserer politisches Überleben ermöglicht und diese nicht ein Opfer der harten ökonomischen Zwänge und der starken Kontrolle in der Provinz werden lässt«. 44 Bereits der Name Provinzbuch signalisierte den vom Netzwerk verfolgten Ansatz: »Dableiben statt ABHAUEN« 45 . Im Hinblick auf die bereits geschilderte Funktion des APO-Adressbuchs als »Messinstrument« für Alternativ- oder Gegenkultur, lässt sich für die Bodenseeregion der 1980er Jahre nicht nur eine deutliche territoriale Verdichtung der Alternativkultur ausmachen. Vielmehr zeugen die Quellen »ein alternativer Tag in Konstanz« und das Provinzbuch von einem erstarkten Selbstbewusstsein der Akteure, sich ihre Provinz selbstgestaltend oder auch alternativ angeeignet zu haben. Mit der Schaffung eines »alternativen Lebenszusammenhangs« vor Ort und der regionalen Vernetzung korrespondierte die Entwicklung »nicht nur gegen das Schimpfwort [Provinz, Anmerkung Verfasserin], sondern auch gegen den technokratischen Zentralismus der Städte«. 46 Ähnlich war bereits auf dem Stadt-Land-Dialog-Kongress von zwei Teilnehmern aus Konstanz argumentiert worden: »Ziel der Linken in der Provinz kann es nicht sein, die Provinz auf großstädtisches Niveau zu bringen, sondern entsprechend den besonderen örtlichen Gegebenheiten zu einer spezifischen Identitätsfindung beizutragen«. 47 Auf der Suche nach regionaler Identität? ! Zu dieser spezifischen Identitätfindung sollten mehrere Komponenten beitragen. Einerseits galt es vor allem eine alternative Infrastruktur mit Vergemeinschaftungsräumen, Läden und alternativen Medien auf- und auszubauen. Diese Infrastruktur sollte aus den sozialen Beziehungen und Interaktionen ihrer Akteure erwachsen, andererseits aber durch eine ideelle Ebene flankiert werden, die sich aus einem bestimmten Umgang mit der Vergangenheit speist. »Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, eine Art doppeltes Geschichtsbewußtsein zu entwickeln«, fasste Albert Herrenknecht, einer der engagiertesten Vertreter provinzieller Alternativkultur 1977 zusammen. 48 In Bezug auf die Vergangenheit sollte durch einen Rekurs auf vermeintlich freiheitliche, demokratische oder revolutionäre Traditionen der Region ein verschüttetes oder überfremdetes Geschichtsbewusstsein <?page no="221"?> 222 Heike Kempe wieder freigesetzt werden. Demgegenüber galt es durch das Verfassen der eigenen Geschichte ein aktuelles Geschichtsbewusstsein für die Gegenwart und Zukunft ausbilden. Durch die Schaffung einer politischen Praxis vor Ort und in der Region sollte sozusagen der praktische Beweis für eine mögliche Veränderung der Provinz angetreten werden. Aus dem Rekurs auf die eigene Geschichte resultiere schließlich ein neues Lebensgefühl für das Leben in der Provinz. »Man lebt nicht mehr gegen sie, will nicht mehr unbedingt weg, sondern entwickelt eine Art ›Provinzstolz‹ zu seiner eigenen Geschichte. (›Hurra wir haben eine Geschichte! ‹)«. 49 Gemäß dem Prinzip »Schaut her, was wir alles schon geschafft haben, weiter so! «, sollte die eigene Geschichte sozusagen als Antriebsmotor für die Zukunft dienen. So wählte beispielsweise die Redaktion den Namen Neue Seeblätter, da sie an die radikal demokratische Tradition der Seeblätter anknüpfen wollte, die 1837 bis 1849 von Joseph Fickler 50 in Konstanz herausgegeben wurden. Waren die Seeblätter zu Beginn dem liberalen Spektrum zuzuordnen, radikalisierten sie sich mit der Zeit vor allem unter dem Einfluss von Streitigkeiten mit der Zensurbehörde und gehörten ab den 1840er Jahren zu den kritischsten Zeitungen im Großherzogtum Baden. Aus diesem Grund sollten auch Artikel aus den Seeblättern in Bezug zum aktuellen Geschehen gesetzt werden. 51 Auch die Überlinger Alternativzeitung Schelle hob darauf ab, »daß historische Erinnerung wichtig für aktuelles politisches Handeln ist, aber auch wichtig für die Schaffung von regionaler Identität. Bedingungen zu verändern ist leichter, wenn man weiß, wie es dazu kam. Sich in der Stadt und Region zu orientieren ist einfacher, wenn die alten Steine sprechen. Dann ist Überlingen nicht nur hübsche Kulisse, sondern ein lebendiger Rahmen«. 52 Ein äußerst anschauliches Beispiel für eine eigene regionale Geschichtsschreibung stellt folgende Quelle dar. »Bewegung für die Wand - der Kalender 1982 - 15 Jahre Bewegung in Südschwaben 1965 -1981« 53 Dem Titelbild, das eine Collage aus der Bauernbundesverordnung von 1525, dem Schwarzen Veri 54 im Knast, der Biberacher Schüleraussperrung von 1969 und der Juze-Demo von 1978 in Schussenried zeigt, folgen 12 Monatsblätter, die jeweils einen bestimmten Themenbereich der Widerstandsbewegung in der Region aufgreifen. Den Anfang macht das Blatt zur Thema selbstverwaltete Jugendzentren. Es folgen Blätter zu den Bauern, streikenden Arbeitern, Frauen, der alternativen Szene, dem Antifaschismus, der Ökologie, der Musik, dem Antimilitarismus, der revolutionären Gruppierungen (Schüler/ Studenten) sowie der Alternativpresse und dem Wahlverhalten der Region. Die jeweiligen Vorderseiten zeigen <?page no="222"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 223 <?page no="223"?> 224 Heike Kempe thematisch abgestimmte Bilder von Aktionen oder Plakaten, verbunden mit einem Kalendarium sowie einer Auflistung und Bewertung wichtiger Ereignisse aus der (Widerstands-)Geschichte der Region, wie etwa »erfolgreiche Hausbesetzung, erfolglose Demo«. Nahezu alle Orte und Städte wurden auf diese Weise in dieses Druckwerk eingebunden. An die Jugendzentrumsbewegung in Radolfzell 55 wird ebenso erinnert wie an den Demonstrationszug gegen den NPD-Landesparteitag in Tuttlingen im Jahr 1979 oder die Besetzung der Werkausfahrt des Friedrichshafener SABA-Werkes durch die ArbeiterInnen im Jahr 1980 56 . Ein Werbeplakat der RAZOR-BLADES, Oberschwabens erster Punk-Band 57 (1979) hat ebenso seinen Platz gefunden, wie ein Bericht über das erste Open-Air- Festival im Jahre 1970 in Konstanz oder das Plakat des Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW) gegen den Autobahnbau aus dem Jahre 1976. Ein Foto von kurzhaarigen, streikenden Schülern aus Ravensburg von 1970 kontrastiert mit langhaarigen Juzedemonstranten in Schussenried im Jahr 1978. Das Kalenderblatt des Monats Dezember zeigt schließlich Unterrichtsmaterial einer Weingartner Schule. Dargestellt sind hier die möglichen Auswirkungen von Atom- und Neutronenbomben auf Weingarten. Auf der jeweiligen Rückseite befinden sich jeweils weitere Fotos, Flugblätter und Texte zu den betreffenden Themenbereichen. Fazit Im Hinblick auf die eingangs formulierte Fragestellung lassen sich folgende Ergebnisse ausmachen. In den 1970er Jahren begann in Konstanz und der Region eine kleine, aber rege Szene sich ihre Provinz selbstgestaltend und alternativ anzueignen. So wurde bis zu Beginn der 1980er Jahre nicht nur eine alternative Infrastruktur mit Vergemeinschaftungsräumen (Wohngemeinschaften, Frauenu. Jugendzentrum, linke Kneipen), Läden (Ökologie, Dritte Welt, linke Bücher etc.) und alternativen Medien (Zeitungen, Radiosender) etabliert, sondern mit dem Selbsthilfe- Netzwerk Bodensee-Oberschwaben darüber hinaus eine transregionale Vernetzung generiert, die sich zumindest - wie von einigen (Konstanzer-) Mitbegründern angedacht - als finanzielle Basis bewährt hat. Dennoch sollte sich die natürliche Grenze »Bodensee« als schier unüberwindbar erweisen. Dies bezieht sich insbesondere auf den Informationsfluss, der als Weitergabeprozess vom Netzwerk an die alternativen Zeitungen und anschließende Streuung in der Region angedacht war. Allerdings wurde dieses Modell aus der Großstadt importiert, ohne aber - wie es vor der Gründung angedacht war - die nötigen Anpassungen an die reale (Provinz-)Situation vorzunehmen. 58 Dennoch haben sich viele Initiativen und <?page no="224"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 225 Projekte, deren Ausgangspunkte sich in den 1970er und 1980er verorten lassen, zu einem festen Bestandteil der Stadt entwickelt. Man denke beispielsweise an die in Eigeninitiative ausgebaute Chérisy-Kaserne, eines der größeren alternativen Wohnprojekte der Bundesrepublik, oder an die Etablierung der Freien Grünen Liste, die heute die stärkste Fraktion im Konstanzer Gemeinderat stellt. Darüber hinaus wurde Horst Frank im Jahr 1996 Deutschlands erster grüner Oberbürgermeister. Die vielfältigen Auf- und Ausbrüche in der Provinz (hier und anderswo) führten jedoch nicht nur zu einer territorialen Verdichtung der alternativen Milieus. Darüber hinaus wurde der urbane Ursprungsimpuls ergänzt und teilweise gekontert von einem dezidiert provinziellen Selbstbewusstsein. Nun wurde die Provinz nach Ernst Blochs Theorie der Ungleichzeitigkeit nicht mehr ausschließlich als Raum »verschleppter Anpassung an die Moderne«, sondern vielmehr als »eigen-geschichtlicher Raum« positiver und negativer Dialektik begriffen. 59 Mit dem Kursbuch Provinz von 1975 gelang der Neuen Linken die Sprach- und Theorielosigkeit gegenüber dem »Provinz-Problem« zu durchbrechen und eine eigenständige Akzeptanz von Provinz zu erreichen. 60 Weitere Publikationen wie Bauer und Politik 61 , Abschied von der Provinz? 62 , Provinz-Leben 63 , Hass- Liebe-Provinz 64 und das Landleben-Lesebuch 65 zeigten überdies die bis dato nicht beachtete thematische Bandbreite des Themas »Provinz« auf: »Von der Provinz als Kulturproblem über die regional politische Provinzverplanung bis zur Wiederentdeckung der klassischen Agrar- und Landfragen«. 66 Mit dem Provinzfilm-Katalog von 1981 wurde darüber hinaus versucht diese thematische Vielfalt auch filmisch zu erfassen. Hier reichte das thematische Spektrum vom Landleben, Jugend in der Provinz, Kleinstadtprovinz und Bauernkrieg, über historische und neue Heimatfilme, Landwirtschaft, Ökologie sowie die Alternative auf dem Land. 67 Insgesamt führte dies schließlich nicht nur zu einer Aufwertung des Begriffs bzw. einer neuen Wahrnehmung von »Provinz«, sondern lieferte darüber hinaus ebenso wichtige Impulse für einen stärker werdenden Regionalismus, insbesondere aber für die positive Neubesetzung des Begriffs »Heimat«. <?page no="225"?> 226 Heike Kempe Anmerkungen 1 Dabei handelt es sich um einige Überlegungen aus meiner Dissertation zum linksalternativen Milieu in der Bodenseeregion mit Schwerpunkt Konstanz. 2 Vgl. Adorno, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentümlichkeit. Zur deutschen Ideologie, S. 77; Ernst Bloch (1962): Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M., S. 16 u. 56. 3 Kurt Tucholsky (1980): Gesammelte Werke (1919/ 20), Band 2, Reinbek, S. 237. 4 K.Degler (1968): Über die Arbeit in kleinen Städten, in: Amendt, u.a.: Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen? , Reinbek, S. 155. 5 Wolfgang Kraushaar (1998): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Band 1, Hamburg, S. 378. 6 Gerhard Hess (1973): Sieben Jahre Universität Konstanz 1966-1972, Konstanz, S. 84. 7 Vgl. den Beitrag von Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter und Ines Gersky zur Studentenbewegung in Konstanz in diesem Band. 8 In den »Informationen für Meinungsbildung« ( JZM) wird am 27.07.1970 darüber berichtet, dass der Stadtverordnete Walter Eyermann die Frage an Oberbürgermeister Dr. Bruno Helmle richtete, was dieser zu tun gedenke, um die Gammler aus den Stadtgarten zu vertreiben. 9 Südkurier, Ausgabe vom 25.07.1970. Weitere Berichte zum Beat-Abend und den Folgen finden sich in den Ausgaben des Südkuriers vom 20.07. und 21.07.1970. 10 Südkurier, Ausgaben vom 10.08. u. 11.08.1970; Stuttgarter Zeitung, Ausgabe vom 31.07.1970 11 Flugblatt »Wird der DGB Schutzpartron der Gammler? «; Erwin Reisacher (1994): Steinige Weg am See. Erinnerungen eines Gewerkschaftssekretärs und Kommunalpolitikers. Konstanz. 12 Für die regionale Berichterstattung vgl. Ausgaben des Südkuriers vom 31.07., 01.09., 03.09.1970, außerdem die DVZ-Dokumentation - Sonderdruck der Deutschen Volkszeitung (ohne Datum). Für die überregionale Berichterstattung vgl. die Magazine »Spiegel« (07.09.1970) und »Stern« (04.10.1970) sowie die Ausgaben der Stuttgarter Zeitung vom 14.01.1971 und 22.03.1972. Der Prozess gegen Hans Obser fand vom 14. bis 20. März vor dem Schwurgericht beim Landgericht Konstanz statt. Das Urteil lautete schließlich: 3 Jahre Freiheitsstrafe ohne Bewährung. 13 Dienstag, Matthis (1978): Provinz aus dem Kopf. Neue Nachrichten über die Metropolen- Spontis, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Autonomie oder Ghetto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt a.M., S.-148. 14 Vgl. auch Detlef Siegfried (2008): Sound der Revolte: Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim/ München, S. 254. 15 Rolf Schwendter (1969): APO-Adreßbuch 1969/ 1970, München/ Berlin 1969, S. 177. Eine weitere ausführliche Auflistung von Anlaufstellen findet sich außerdem, in: Kaiser, Rolf Ulrich (1969): Underground? Pop? Nein, Gegenkultur! , Köln/ Berlin. 16 Den Namen verdankt das Geschäft der Straße, in der es geographisch beheimatet war: Scheffelstraße 13. 17 Die »Geiß« war der erste alternative Buchladen in der Region und wurde 1977 von Studierenden gegründet, die sich nach eigener Aussage »als undogmatische Linke bzw. Feministinnen, die endlich - im Gegensatz zu den dogmatischen Gruppierungen an der Universität - alternative Politik in einem konkreten Projekt in der Stadt machen«. Von 1977 bis 1982 war der Laden in der Inselgasse 20, seit 1982 am Obermarkt 14; Interview mit Elmar Sing anlässlich der Ausstellung »Kreativität und Krawall. Linksalternatives Leben am Seerhein«, 2009. 18 Im August 1975 wurde durch ein Engagement mehrerer Konstanzer Frauengruppen im Haus Elisabeth in der Gütlestraße 8 die Idee eines autonomes und nur für Frauen zugänglichem Zentrums umgesetzt. Die Räumlichkeiten des Frauenzentrums bestanden aus ei- <?page no="226"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 227 nem Bücherzimmer, einem großen Versammlungsraum, einem Kinderzimmer und einem Werkraum sowie einer Küche. Die Aktivitäten im Frauenzentrum umfassten eine Theatergruppe, eine Beratungsgruppe zu den Themen Paragraph 218, Geburt, Schwangerschaft und Verhütung, eine Selbsterfahrung- und Selbsthilfegruppe, eine Lesbengruppe sowie eine Bücher- und Stillgruppe. Wichtig war den Frauen auch, über die Grenzen des Frauenzentrums hinaus Frauen zu erreichen und Öffentlichkeit für ihre Themen zu schaffen. Zu diesem Zweck wurden einmal im Monat spezielle Frauenabende im Café Chaos veranstaltet. Am 31. Mai 1985 wurde das Frauenzentrum aufgrund mangelnder Beteiligung und interner Querelen aufgelöst, vgl. dazu: Neue Seeblätter, Jg. 1976, Nr. 3, S. 5; Neue Seeblätter, Jg.1977, Nr. 7, S.9; Nebelhorn, Jg. 1981, Nr. 9, S. 4. 19 Zur Geschichte des Belladonna siehe: http: / / www.belladonna-konstanz.de/ jahre.php (11.06.2013). 20 AStA der Uni Konstanz (1979): Strandgut - Infos für Angeschwemmte, S. 68. 21 »Was haben ein Zebra und dieses Kino gemeinsam? Natürlich die bewegten Streifen! « Dieses Bild schwebte den Gründern des Vereins zur Förderung der Filmkultur im Jahr 1984 vor, als sie nach einem treffenden Namen für ihre Arbeitsgemeinschaft suchten. Einen geeigneten Raum fanden sie im ehemaligen Truppen-Kino in der Chérisy-Kaserne, das sie von Grund auf renovierten und neu einrichteten. Das Motto lautete: »Andere Filme anders zeigen« - eine klare Alternative zum Blockbustersystem der großen Publikumskinos. Das »Kommunale Kino«, eine Gruppe von Cineasten, existierte zu diesem Zeitpunkt bereits beinahe zehn Jahre als »Wanderkino«. Beide Kino-Initiativen fusionierten 1990 zur »Arbeitsgemeinschaft Kommunales Kino - Zebra-Kino e.V.« Sie besteht aus rund 15 Mitgliedern im Alter von 17 bis 40 Jahren, die ihre Mitarbeit auf ehrenamtlicher Grundlage leisten. Alle Angelegenheiten des Vereins inklusive der Filmauswahl werden auf den wöchentlichen Mitgliederversammlungen gemeinsam diskutiert und entschieden. Vgl. dazu: Nebelhorn, Jg. 1984, Nr. 36, S. 23; Nebelhorn, Jg. 1988, Nr. 81, S. 39; Neues Nebelhorn Jg. 1989/ 90, Nr. 5, S.36; zur Geschichte des Zebrakino vgl. außerdem: http: / / zebra-kino.de/ uber-uns/ (11.06.2013) 22 Die Jugendlichen gründeten das »Aktionskomitee Jugendzentrum«, das ein »Modell der Selbstverwaltung« ausarbeitete. Zwar unterstützten bei einer Unterschriftenaktion etwa 3.500 Bürgerinnen und Bürger das Projekt, darunter auch Oberbürgermeister Bruno Helmle; eigene Räume für einen Treffpunkt fanden sich aber trotzdem nicht - vorerst. Am 3. Juni 1973 berichtete der »Südkurier«, dass im Rahmen der Trassenlegung für die neue Autobahnbrücke das Haus Rosenlächerweg 2 abgerissen werden sollte. Nur zwei Tage später beschloss das Aktionskomitee gemeinsam mit den Jusos und der Bürgerinitiative »Gegen Schänzle Trasse«, das Haus zu besetzen. So schlossen sich der Protest gegen die Trassenlegung und der gegen »Wohnraumvernichtung« zusammen. Schon am 6. Juni wurde das Haus besetzt und zum provisorischen Jugendzentrum erklärt. Die Aktion löste in Konstanz zwiespältige Reaktionen aus; das konservative Lager kritisierte das Vorgehen der Jugendlichen als »unüberlegte und sinnlose Handlung«, da die Räumlichkeiten für ein Jugendzentrum ungeeignet seien. Bald mehrten sich die internen Probleme. In der eigenen Zeitschrift »Jugendzentrums-Info« wurde berichtet, es werde im Haus »gehascht, gevögelt usw. bis Zum-Geht-Nicht-mehr.« Als auch noch das Bündnis mit der Bürgerinitiative gegen die Autobahnbrücke scheiterte, erklärte das Komitee Ende November 1973 den Traum eines autonomen Jugendzentrums für gescheitert und teilte der Stadt die Räumung des Hauses mit. Vgl. dazu auch: Neue Seeblätter, Jg. 1978, Nr. 10, S. 8.; Konstanzer Trichter - Zeitung zur Jugendzentrumsinitiative Klosterkaserne, Nr. 1; Nebelhorn, Jg. 1984, Nr. 37, S. 19f.; Nebelhorn, Jg. 1988, Nr. 87, S. 8. 23 Neues Nebelhorn, Jg. 1991, Nr. 1, S. 11; Neues Nebelhorn, Jg. 1992, Nr. 43, S. 9, Südkurier, Ausgaben vom 02.07. und 04.07.1991. <?page no="227"?> 228 Heike Kempe 24 »S’ Beese Miggle« ist mundartlich und heißt »Böse Mücke«. Im Juli 1976 von einem Kollektiv gegründet, lag dieser wichtige Treffpunkt für die Jugend in der Zogelmannstr. 5 (ehemals Wiesenthäler Hof). So kunterbunt zusammengewürfelt das gemütliche Mobiliar, so schillernd war auch sein Publikum, erzählt der Mitbegründer Holger Reile: »Also, an einem Tisch hat man die Anti-AKW Initiative getroffen, am zweiten den ASTA, am dritten frauenbewegte Mädels, am vierten Anarchos, am fünften KBW, am sechsten völlig Undogmatische, am siebten im Nebenzimmer saßen 20 Rocker, die hatten wir auch, weil die nicht wussten, wohin in dieser Stadt, und die hatten bei uns auch ihren Platz ...« Aus den Kneipendiskussionsabenden entstanden diverse Projekte und Initiativen, wie die Freie Grüne Liste, das alternative Stadtmagazin Nebelhorn und das Konzertbüro Koko. Es gab regelmäßig Konzerte und am kneipeneigenen Klavier konnte außerdem jedermann/ frau sein musikalisches Talent unter Beweis stellen. 1985 wurde die Kneipe aufgrund neuer beruflicher Perspektiven des Kneipenkollektivs aufgegeben. Vgl. auch: Labusch, Korbinian (2006): Das Nebelhorn - historiographische Rekonstruktion einer lokalen Alternativzeitung. Bachelorarbeit an der Universität Konstanz. 25 Das Kneipenprojekt mit dem chaotischen Namen wurde von Bewohnern zweier Wohngemeinschaften (Wiesenstraße und Friedrichshöhe) 1979 ins Leben gerufen. Die Gründungsmitglieder, unter ihnen Irmgard Lerch und Henry Eberhardt, wollten eine »Alternative zur Alternative« gründen: gemeint war das »s’Beese Miggle«, welches ihnen bereits als zu kommerziell galt. Das »Café Chaos«, hinter dem Hotel Halm gelegen, war zur damaligen Zeit eine der billigsten Kneipen der Stadt. Das Publikum war bunt gemischt - neben Schülern und Studenten, kamen auch viele Auszubildende und Punker. Die Tradition linksalternativer Diskussionskultur trieb beim Café Chaos eine besondere Blüte: Die Preise konnten mit den Betreibern der Kneipe »ausdiskutiert« werden. Da sich die »Chaos- Frauen« gleichzeitig auch im Frauenzentrum Gütlestraße engagierten, gehörten spezielle Frauenabende zum festen Programm. Im Innenhof war als Grafitti »Die Zukunft ist weiblich« und das Frauenzeichen groß an die Wand gesprüht worden. Mitte der 1980er Jahre übergab das Gründungsteam die Kneipe an neue Pächter. Anfang der 1990er Jahre brannte das Café Chaos aus. Vgl. auch Interviews mit Irmgard Lerch und WG Wiesenstraße anlässlich der Ausstellung »Kreativität und Krawall. Linksalternatives Leben am Seerhein, 2009. 26 Im August 1980 wurde der Fischmarkt (Salmannsweilergasse 1 und Münzgasse 2) als erstes Haus in Konstanz besetzt. Primäres Motiv war die Konstanzer Wohnungsnot. Darüber hinaus entwickelte sich der Gedanke einer engen Verbindung von Wohnen, Arbeiten und Leben. Durch den Aufbau des Cafés und des Fischmarkt- Kulturvereins »Fischkult« sollte das Haus ein integrierter Bestandteil des kulturellen Lebens und der »Szene« werden. Darüber hinaus bot das besetzte Haus Räumlichkeiten für einige Initiativen. So hatte die Nebelhorn-Redaktion seit 1981 dort ihre Büroräume, seit 1982 die Arbeitsloseninitiative sowie die HIK (Homosexuellen Initiative Konstanz).Vgl. dazu auch: Labusch, Korbinian (2006): Das Nebelhorn - historiographische Rekonstruktion einer lokalen Alternativzeitung. Bachelorarbeit an der Universität Konstanz; Nebelhorn, Jg. 1980, Nr. 0, S. 4ff.; Südkurier, Ausgabe vom 30.08.1980. 27 Der »Kulturladen« öffnete am 6. Februar 1983 seine Türen. Eine »Info-Kneipe«, in der es regelmäßig Veranstaltungen über Politik und Umwelt geben sollte, eine Frauenkneipe, Workshops und Kunst sollten Einzug in die Chérisy-Kaserne erhalten. Die sieben Gründer des Projektes hatten es sich als Ziel gesetzt, ein Kulturprogramm zu entwerfen, das die Basis für politische Kontakte und Vernetzungen bieten sollte. Konzerte sollten das Programm ergänzen. Die Räume der Chérisy-Kaserne schienen ideal für das selbstverwaltete, soziokulturelle Zentrum zu sein. In den ersten Jahren kämpfte das »Zentrum für Kultur und Kommunikation« immer wieder ums Überleben. Heute ist der Kula - in seinen neu renovierten Räumen - ein etablierter Club in der Konstanzer Partyszene. Vgl. auch Nebelhorn, Jg. 1984, Nr. 34, S. 38; Nebelhorn; Jg.1985, Nr.3, S. 5. <?page no="228"?> Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus … 229 28 Die »Seekuh« wurde 1978 eröffnet. Fünf Monate später wurde der Verein »Seekuh-Jazz- Club« mit der Absicht gegründet, eine Kneipe zu betreiben, »in der die Musik gespielt wird, die man liebt. In der man hin und wieder selbst zum Instrument greift«. 1980 bestand der Verein bereits aus über 200 Mitgliedern, darunter einige Freizeitmusiker. Der Ruf der Seekuh hatte sich schnell verbreitet, und der Club organisierte bald Konzerte mit auswärtigen Musikern. Zehn Jahre später ließ das Interesse der Gäste am Jazz langsam nach, auch der jährlich organisierte Konstanzer Jazzherbst brachte nicht mehr den anfänglichen Erfolg. Das Publikum orientierte sich nur noch an Namen, die ein »erwartetes Hörerlebnis garantieren«. Viele Gäste wollten sich einfach nur in gemütlicher Atmosphäre unterhalten. Doch auch heute gibt es noch zahlreiche Veranstaltungen, unter anderem auch mit Live-Musik. 29 Neue Seeblätter, Jg. 1976, Nr. 0, S.2. 30 Netzwerk Selbsthilfe (1983): Provinzbuch, S. 286; Leserbrief im Seespiegel, Jg. 1979, Nr. 2, S. 4.; Zur Geschichte des Nebelhorns vgl. außerdem: Labusch, Korbinian (2006): Das Nebelhorn - historiographische Rekonstruktion einer lokalen Alternativzeitung. Bachelorarbeit an der Universität Konstanz. 31 Netzwerk Selbsthilfe (1983): Provinzbuch, S. 286. 32 schelle. Zeitung für überlingen und Umgebung, Jg. 1980, Nr. 2, S. 3. Die Schelle erschien von 1980 bis vermutlich 1983. 33 Der Motzer erschien in 96 Ausgaben von 1978 bis vermutlich 1981. Der Untertitel des Motzers lautete: »A Schussariader Jugend-blättle, en dem jeder schreiba kann ond soll, was er will - ozensiert. Des Blättle erscheint alle zwoi Wocha am Zeischdig«. Vermutlich ab der Ausgabe Nr. 20 im Mai 1978 wurde der erste Teil des Untertitels von »A Schussariader Jugend-Blättle in »A oberschwäbischs Alternativ-Blättle« geändert. 34 Netzwerk Selbsthilfe (1983): Provinzbuch, S. 287. 35 Netzwerk Selbsthilfe (1983): Provinzbuch, S. 288. 36 Der Seespiegel erschien zwischen 1978 und 1980 in vier Ausgaben. 37 Netzwerk Selbsthilfe (1983): Provinzbuch, S. 278. 38 Albert Herrenknecht (1977): Provinz-Leben. Aufsätze über ein politisches Neuland, Frankfurt a. M., S. 9. 39 taz, Ausgabe vom 22.04.1980, S.10. 40 Provinz-Rundbrief, Jg.1980, Nr. 1, S. 7ff. 41 Albert Herrenknecht / Detlef Lecke (Hg.): Jahrbuch Provinzarbeit. Jugend- und Kulturarbeit in der Provinz, Band 1, Jg. 1981, Heidelberg, S.10. 42 Edeltraut Remmel (1972): Jour Fix für Unorganisierte. Jugendinitiativen außerhalb der Jugendverbände, in: Deutsche Jugend, Jg. 1972, S. 493 - 500, hier: S. 494. 43 Sendereihe »Alternative in Deutschland«. Die genannten Provinzprojekte wurden von der ARD in der Folge am 31.08.1980 ausgestrahlt. 44 Netzwerk Selbsthilfe Bodensee-Oberschwaben (1983): Provinzbuch, S. 6. 45 Ebd. 46 Albert Herrenknecht (1977): Provinz-Leben. Aufsätze über ein politisches Neuland, S. 23. 47 taz, Ausgabe vom 22.04.1980, S.10. Bei den beiden Teilnehmern handelt es sich vermutlich um Projektmitarbeiter des Arbeitskreises Regionalgeschichte der Universität Konstanz. 48 Albert Herrenknecht (1977): Provinz-Leben. Aufsätze über ein politisches Neuland, S. 10. Albert Herrenknecht war Jugendzentrumsaktivist aus Wertheim, einer Kleinstadt im Norden Baden-Württembergs. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Provinz, ist er Betreiber von PRO PROVINCIA und «PRO REGIO - (Internet)ZeitSchrift für den Ländlichen Raum”. 49 Ebd. <?page no="229"?> 230 Heike Kempe 50 Joseph Fickler (* 06. 02.1808 in Konstanz - † 26.November 1865 ebenda) war ein demokratischer Agitator des Vormärz im Großherzogtum Baden und Politiker in der Zeit der badischen Revolution. 51 Neue Seeblätter, Ausgabe Nr. 0, Jg. 1976, S. 2. 52 Schelle. Zeitung für Überlingen und Umgebung, Ausgabe Nr. 12, Jg. 1981, S. 6. 53 Bewegung für die Wand, Kalender 1982, 15 Jahre in Südschwaben 1965 - 1981. 54 Franz Xaver Hohenleiter (genannt Der Schwarze Veri, Schwarzen-Veere, Schwarzer Vere, Schwarze Vere oder schwäbisch De Schwaaz Vere, Schwarz Vere oder Vere, * 1788 Rommelsried im heutigen Landkreis Augsburg; † 20. Juli 1819 in Biberach an der Riß) war ein deutscher Räuber. Er war Anführer einer Räuberbande im Gebiet des heutigen Dreiländerecks von Österreich, der Schweiz und Deutschland (Bayern, Baden, Hohenzollern-Sigmaringen und Württemberg). In diesem Kalender wird er als eine Art »Robin Hood« dargestellt. 55 Das Foto des Monatsblattes Januar zeigt das vom 12.07. bis 31.07.1980 als JUZE besetzte ehemalige Feuerwehrhaus in Radolfzell. Vgl dazu auch den Beitrag von Nicole Ehnert und Mirjam Kunz in diesem Band. 56 Das Foto des Monatsblattes Mai zeigt die Arbeiterinnen und Arbeiter vom SABA-Werk in Friedrichshafen, wie sie aus Protest gegen die geplante Werkschließung am 11.06.1980 die Werkausfahrt besetzen. Am 30.06.1981 wurde das Werk allerdings dennoch durch die Unternehmensspitze geschlossen. 57 Das Foto des Montasblattes Juni zeigt das Werbeplakat der ersten oberschwäbischen Punkgruppe, den RAZORBLADES. Angefertigt wurde es von Siege Schoch aus Alttann. Während die RAZORBLADES bei ihrem ersten Auftritt im JUZE in Wangen im Allgäu »nach kurzer Zeit vom Publikum hinaus komplimentiert wurden, erfreute sich der Punk in den 1980er Jahren großer Beliebtheit«, so jedenfalls die Aussage des unbekannten Verfassers. 58 Bewegung für die Wand, Kalender 1982, 15 Jahre in Südschwaben 1965 1981, Artikel: »Netzwerk - wie weiter? «, Rubrik »Szene«. 59 Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfahrt (1991): Vom Kampf gegen die Provinz zum Kampf mit der Provinz, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/ 1991, S. 25. Siegfried, Detlef (2006): Urbane Revolten, befreite Zonen. Über die Wiederbelebung der Stadt und die Neuaneignung der Provinz durch die »Gegenkultur« der 1970er Jahre, in: Adelheid von Saldern (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart, S. 355. 60 Vgl. den Beitrag von Gert Zang in diesem Band. 61 Onno-Hans Poppinga (1975): Bauern und Politik, Frankfurt a. M. 62 Albrecht Funk (1977): Abschied von der Provinz? , Offenbach. 63 Albert Herrenknecht (1977): Provinz-Leben. Aufsätze über ein politisches Neuland, Frankfurt a. M. 64 Albert Herrenknecht / Klaus Gasseleder (Hrsg.) (1986): Hass-Liebe Provinz, Bremen. 65 A. Brockmann (Hg.) (1977): Landleben. Ein Lesebuch von Land und Leuten. Argumente und Reportagen, Reinbek. 66 Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfahrt (1991): Vom Kampf gegen die Provinz zum Kampf mit der Provinz, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/ 1991, S. 25. 67 Arbeitsgemeinschaft Provinz-Film-Festival (Hg.) (1981): Provinz-Film-Katalog, AG SPAK Publikationen: München. <?page no="230"?> Und anderswo? Überregionaler Vergleich <?page no="232"?> Peripherien und Epizentren von 1968 Die norditalienischen Städte Trient und Bozen im Vergleich h anS h eiSS Peripherien spielten 1968 keine geringe Rolle. Vieles, was scheinbar am Rande lag, drängte in die Mitte der Gesellschaft und veränderte sie. Bisher marginale politische Themen wurden zentral, entlegene Regionen der Welt rückten ins Bewusstsein von Millionen bestimmend ein. Auch in Zentraleuropa lieferten periphere Schauplätze beachtliche Inputs zu »1968« und förderten nachhaltige Umbruchsprozesse. Der Schub, der von den Hauptschauplätzen der Revolte, von Protest und Bewegung ausging, weckte in abgelegenen Räumen, in ländlichen Gebieten und Kleinstädten eine spezifische Dynamik, die sich dank örtlicher Voraussetzungen, gesellschaftlicher Bedingungen und milieuspezifischer Eigenheiten oft markant ausprägte. Der Verflechtungs- und Impulscharakter, der für »1968« konstitutiv wirkte und als kommunikatives Momentum in viele Richtungen expandierte, erfasste auch periphere Räume und gesellschaftliche Felder. Der Schub der Ereignisse mochte als sanfter Ausläufer oft nur geringe Veränderungen bewirken, mitunter sorgte er aber auch für tief greifenden Wandel. Die Geschichtswissenschaften sind für den Blick auf die Fernwirkungen großer sozialer Bewegungen abseits der Hauptschauplätze seit Langem sensibel geworden. So bewährte sich die erhöhte Aufmerksamkeit für die Peripherien als fruchtbarer heuristischer Ansatz bei zahlreichen jüngeren Arbeiten zur Revolution von 1848. Wie »1968«, so war auch »1848« eine Kommunikationsrevolution, die von Paris ausgehend alsbald Berlin und Wien erfasste und sich von diesem metropolitanen Dreieck aus in die meisten Regionen Europas verbreitete. 1 Auf den aussichtsreichen Vergleich zwischen beiden »Globalen Revolutionen« hat schon 1990 Immanuel Wallerstein hingewiesen 2 , während der italienische Politologe Marco Revelli 1995 hierfür geradezu emphatische Töne gefunden hat: »Besonders ähnlich sind sich 1848 und 1968 dann in der Dimension, die sie hatten: transnational und global und in beiden Fällen aufgrund der Tendenz zu einer schnellen, gleichzeitigen Diffusion der Revolten in eine Vielzahl von Ländern, die sich entlang unvorhersehbarer Wege und Ketten von Ereignissen entwickelte.« 3 Die Fokussierung auf die transnationale oder gar globale Dimension überblendet gleichwohl wichtige Aspekte der Diffusion von 1848. Unterhalb dieser Flughöhen fanden ähnliche Prozesse der Vermittlung auch <?page no="233"?> 234 Hans Heiss innerhalb nationaler Binnenräume statt, zum einen im binnenstaatlichen Austausch zwischen großen Zentren und Subzentren sekundärer Ordnung, zum anderen zwischen beider Art von Zentren und relativ abgelegenen Räumen. Die Transferprozesse verliefen darüber hinaus auch von globalen Ausstrahlungspunkten direkt in lokal-kleinräumige Handlungsfelder und äußerten sich keineswegs nur linear-einsinnig als trickledown-Bewegung, als »gesunkenes Kulturgut« des Großen Aufbegehrens. Von den Mikro-Ebenen wanderten Impulse fallweise auch zurück in die großen Aktionsräume, wo sie ihre Spuren hinterließen. Neben der »zwischennationalen Diffusion« (Donatella della Porta) 4 und der Transnationalität von »1968« verdienen mithin die Regionalisierung und »glokale« Übersetzung aus den großen Handlungsfeldern in die Mikroebene erhebliche Aufmerksamkeit. Zwei Subzentren zwischen Nord und Süd Dies zeigt auch der kurze Blick auf Trient und Bozen, zwei Mittelstädte des zentralen Alpenraums, die Hauptorte der italienischen Provinzen Trient und Bozen. Obwohl sie weitab auch von den Subzentren von »1968« wie München, Wien, Mailand oder Florenz lagen, reagierten sie aber auch ob ihrer spezifischen sozialen und ethnischen Voraussetzungen bzw. markant konservativen Milieus mit besonderer Reizbarkeit, sodass ihr Beispiel der Aufmerksamkeit wert ist. Der Fokus des vorliegenden Aufsatzes richtet sich weitestgehend auf das Jahr 1968 selbst, mit knappen Ausblicken auf die anschließenden, langfristigen Folgewirkungen des Sessantotto. Die Konzentration auf das Basisjahr verdeutlicht, dass sich »1968« auch im regionalen Raum nicht nur imitativ als Nachhall der Zentren realisierte, sondern kaum zeitversetzt vor Ort spürbar wurde. Zudem zeitigten die Ereignisse des Sessantotto langfristige Folgen und veränderten die politische Landschaft, die Bildungspolitik, die Arbeitsbeziehungen und das Geflecht gesellschaftlicher Normen- und Praktiken in durchgreifender Weise. Schließlich bewährte sich »1968« auch im Trentino und in Südtirol als Inkubator vielfältiger Subkulturen. Prozesse der Milieubildung mit einem breiten Setting alternativer Lebensformen, Organisationen, Vereinen und einer prosperierenden Kulturszene festigten sich zwar erst nach 1970 5 , aber ihre Grundlagen bildeten sich kurz zuvor erstaunlich zügig aus, sodass die Konzentration auf die »Gründerjahre« durchaus lohnend ist. Vorab seien die Verhältnisse von Trient und Bozen um 1965 skizziert: Die beiden Hauptstädte der Autonomen Provinzen Trient und Bozen- Südtirol an der Nordgrenze Italiens, in denen jeweils rund 100.000 Einwohner lebten, standen in einer engen und konflikthaften Beziehung <?page no="234"?> Peripherien und Epizentren von 1968 235 zueinander. »Los von Trient! « - so lautete seit 1957 die Kampfparole, die sich in ganz Südtirol und in Bozen gegen das rund 50 km südlich gelegene Verwaltungszentrum erhob. Das überwiegend deutschsprachige Land Südtirol war nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns 1919 gegen den Willen der Bevölkerung an das Königreich Italien angeschlossen worden. Nach dem demokratischen Neubeginn Italiens 1945 kämpfte die politische Führung Südtirols um größere Selbstverwaltungsrechte im Staat, aber auch um Abkopplung von der italienischsprachigen Provinz Trient, mit der Südtirol seit 1948 im Verbund der Region »Trentino- Tiroler Etschland« zusammen geschlossen war. 6 In Südtirol lebten 1961 insgesamt 373.863 Personen, von denen gut 65% der deutschen und ladinischen Sprachgruppe angehörten. 7 Die Sprachminderheiten nahmen in der Provinz Bozen-Südtirol also eine demografisch starke Position ein, die jedoch im regionalen Rahmen auf rund 40% zurückging. Die institutionell starke Rolle der Region und die Kontrolle des Staates legten der deutsch-ladinischen Sprachgruppe und ihren Wünschen nach Autonomie allzu enge Zügel an, wiewohl nach 1964 entsprechende Verhandlungen spürbare Fortschritte zeitigten. Denn der Wunsch, den beengenden, von italienischen Parteien wie der Democrazia Cristiana (DC) dominierten Regionalverbund zu verlassen, war in Südtirol bald nach 1950 sprunghaft gewachsen. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Hegemonie Trients und seine Machtansprüche wurden in Südtirol abgelehnt, galten sie doch als unvereinbar mit den Schutz- und Entwicklungsansprüchen einer sprachlichen Minderheit. Trient - so der Eindruck in Südtirol/ Bozen - sei der »Wachhund« Roms und der DC-Regierungen, stets auf dem Sprung, die Forderungen der Südtiroler nach mehr Selbstverwaltung abzublocken und ihre Wünsche nach Rückkehr zu Österreich erst recht im Keim zu ersticken. Die Provinz Trient, das sogenannte Trentino und ihre Hauptstadt, trugen sich über die Kontrolle Bozen-Südtirols hinaus gleichwohl mit eigenen Entwicklungsproblemen: Der gravierende wirtschaftliche Rückstand und die sozialen Notlage der Bergregion zeichneten sich im Kontext des ab 1955 einsetzenden italienischen »Wirtschaftswunders«, des miracolo economico 8 , immer deutlicher ab. Abwanderung aus den Berggebieten, geringes Wachstum bei schleppend einsetzender Industrialisierung, soziale Unterversorgung und vielfältige Deprivation, charakterisierten die Trentiner Verhältnisse. 9 Um die Stagnation zu durchbrechen, setzten der Regierungschef der Provinz, Bruno Kessler (1924- 1982), und die Mehrheitspartei Democrazia Cristiana entschieden auf Erneuerung. Kessler, der dem Flügel des aufsteigenden DC-Reformers Aldo Moro (1916-1978) nahe stand, war überzeugt, dass nur eine grund- <?page no="235"?> 236 Hans Heiss legende Modernisierung die Position des Trentino verbessern und die christdemokratische Hegemonie auf Dauer absichern könnte. 10 Die konservativ-erzkatholische Bischofsstadt Trient sollte zum zeitgemäßen Regierungssitz aufsteigen, zur Steuerzentrale für den take off eines erneuerten, konkurrenzfähigen Landes. Der autoritativen Stellung der vielfach verflochtenen, oft eng verfilzten Macht von Partei und Kirche sollte die Wissenschaft beispringen, um den notwendigen Prozess der Trennung und Selbstreflexion zu fördern, ohne ihre Machtbasis zu destabilisieren. Daher wurde 1962 gegen heftige Widerstände die Universität Trient gegründet, in der Absicht, die regionale Entwicklung zu fördern und als Basis einer neuen Führungsschicht zu dienen. 11 Kristallisationspunkt war eine Fakultät für Soziologie, die um 1960 auch in Italien als neue Königsdisziplin zur Steuerung sozialer Prozesse und staatlicher Entwicklung betrachtet wurde; als Elitenschmiede für Experten gesellschaftlicher Steuerung, keinesfalls aber als Ort emanzipatorischer Diskurse. Im Kessler-Design einer Innovation des Trentino erschien die Universität als wichtiger Eckpunkt. Der Plan ging vorerst auf: Das Land erlebte 1962-1965 große Wachstums- und Erneuerungsimpulse, die die berechtigte Hoffnung förderten, die Provinz könnte den Status als »Armenhaus der Alpen« entkommen. Während die Stadt Trient um 1965 im Zentrum eines anspruchsvollen Reformplans stand, verharrte das 50 km nördlich gelegene Bozen in der wenig komfortablen Stellung zwischen Aufbruch und Blockade. 12 Die am Fuße der Dolomiten gelegene Hauptstadt Südtirols verfügte über eine vitale Basis von Industrieunternehmen. Das faschistische Regime förderte ihre Errichtung zwischen 1935 und 1940, um die Wasserkräfte der Alpen zu nutzen und mithilfe einer aus italienischen Kernräumen zugewanderten Arbeiterschaft das ethnische Gewicht der deutschsprachigen Stadt Bozen zu brechen. Dies war denn auch gelungen: 1960 waren knapp 70% der städtischen Bevölkerung italienischsprachig, während die deutschsprachigen Südtiroler nur knapp ein Drittel der Population erreichten. Damit unterschied sich die Stadt von den meisten anderen Gemeinden Südtirols, in denen die deutschsprachige Bevölkerung die überwiegende Mehrheit behauptete. Der ethnischen Polarität entsprach in gewisser Weise eine soziale Differenzierung der Sprachgruppen: Die Italiener waren neben einer starken proletarischen Basis charakterisiert durch eine ausgeprägte Mittelschicht von Beamten und Freiberuflern, die in der staatlichen Verwaltung, öffentlichen Schulen, dem Militär und den Professionen von Rechtsanwälten und Technikern weit gehend dominierten. Unter den Südtirolern stand der bürgerliche Mittelstand von z. T. wohl situierten Kaufleuten, Handwerkern und Weinbauern neben der Mehrheit von Angestellten und Lohnabhängigen im Vordergrund. <?page no="236"?> Peripherien und Epizentren von 1968 237 So stand in Bozen auf italienischer Seite eine nach 1960 zunehmend mobilisierte, von italienweiten Kämpfen beflügelte Arbeiterschaft einem konservativen Mittelstand gegenüber, die sich beide den traditionalbodenständigen tedeschi als sozial und kulturell überlegen empfanden. Der italienische Aufbruch der sechziger Jahre, die Modernität von sozialer Dynamik und Lebensstilen, 13 nährte das Gefühl von Superiorität im Vergleich zur wertkonservativen, auf ethnische Abwehr konzentrierten deutschsprachigen Bevölkerung. Die defensive Haltung der Deutschen äußerte sich überdies in einem provinziellen Kulturkonservativismus, der innerhalb der eigenen Sprachgruppe die heranwachsende Generation der Baby-Boomer zunehmend abstieß. Eine wachsende Zahl junger Südtiroler empfand die ethnischen Blockaden vielfach als lähmend und fühlte sich zur neuen Modernität Italiens hingezogen. In den Bischofsitzen Trient und Bozen war die starke Rolle der katholischen Kirche unübersehbar: Trient war seit dem Frühmittelalter, Bozen erst seit 1964 Bischofsresidenz. 14 Der Geist des Zweiten Vatikanum erfasste vor allem jüngere Kleriker. Der 1917 geborene, noch junge Bischof von Bozen-Brixen, Joseph Gargitter (Amtszeit: 1952-1986), war zwar sozial aufgeschlossen, aber befangen in einer oft lähmenden Kommunismusfurcht, die den Dialog mit Jugendlichen erschwerte, während sein Trienter Amtskollege Alessandro Maria Gottardi (Amtszeit: 1963-1988) größere Aufgeschlossenheit und Diskussionsfreude auch im Umgang mit den Studenten bewies. 15 Trient und Bozen erschienen also um 1965 als Provinzzentren von mäßiger Öffnungsbereitschaft, in beiden Fällen waren allerdings durch die Universität und Arbeiterschaft wichtige Kanäle der Innovation und sozialer Öffnung gelegt. In ihrem Fall sollte die sprunghaft eskalierende, gesamtstaatliche Entwicklung Italiens die Situation binnen weniger Jahre grundlegend ändern. Reise nach Trient Der Schriftsteller Peter Schneider, eine kulturelle Leitfigur »Berlins 1968«, setzte sich am tristen Tiefpunkt der Ereignisse, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, Anfang April 1968 beinahe fluchtartig nach Rom ab. Überfordert vom Strudel der Ereignisse, zermürbt von einer unglücklichen Liebesbeziehung reiste der 28-jährige Schneider zu Freunden nach bella Italia, um sich in einer zeitgenössischen Replik der klassischen Italienreise seit Goethe auf der Halbinsel zu regenerieren. 16 Sein 1973 erschienener Roman »Lenz« schildert die Reiseerfahrung, 17 als Auftakt einer neuen Haltung der Introspektion und Empfindsamkeit, die sich bald nach 1970 als Gegenreaktion zu den expressiven roaring sixties lite- <?page no="237"?> 238 Hans Heiss rarisch durchsetzte. 18 Höhepunkt der Italienreise war aber nicht Rom, wo Schneider den langsam genesenden Dutschke in der Villa des Komponisten Hans Werner Henze besuchte, sondern ein Aufenthalt in Trient im Spätsommer 1968. In seinen 2008 erschienenen Erinnerungen »Rebellion und Wahn« 19 beschreibt Schneider rückblickend das Milieu der kleinen Provinzhauptstadt im äußersten Norden, von der - neben Mailand, Rom und Florenz - wirkungsmächtige Impulse für die Studentenbewegung in ganz Italien ausgingen. Von Paolo Sorbi, dem Lokalheroen und »Außenminister« der Trienter Studentenbewegung, im Fiat Seicento nach Norden entführt, musterte Schneider misstrauisch die nach der Klause von Verona sich bedrohlich auftürmenden Berge: »Hohe Berge bedeuteten Enge, Eingeschlossensein, einen gutturalen Dialekt und Mißtrauen gegen alles Fremde. War dies überhaupt noch Italien? Plötzlich hatte ich Paolo im Verdacht, dass er mich nach Deutschland entführte.« 20 Ganz so schlimm kam es freilich nicht: »Der Empfang in Trento - so Schneider entschädigte mich für die Strapazen der Fahrt. Ich wurde von Paolos Freunden sogleich in die Universität gebracht und sah mich dort von einer Schar erwartungsvoller Gesichter umstellt. Rudi Dutschke und die Stadt Berlin waren zu jener Zeit ein Mythos für alle, die irgendwo auf der Welt rebellierten, und Paolo Sorbis ständig wiederholte Vorstellung - ›Piter Sneider, amico di Rudi Dutschke‹ - erzeugte ein ehrfürchtiges Murmeln.« Schneiders Rückblick auf die Szene von Trient schildert in gemessener Ironie ein eingespieltes, subkulturelles Milieu, dessen Spitzenpositionen bereits vergeben waren und dessen Anführer in ganz Italien Kultstatus genossen. »Da war der charismatische, betont leise sprechende Mauro Rostagno, der auch noch nachts eine Sonnenbrille trug. [...] In ganz Italien zitierte man seine Sprüche: ›Wir wollen in dieser Gesellschaft nicht einen Posten ergattern, wir wollen eine Gesellschaft, in der es sich lohnt, einen Posten zu haben.[...] Dann wurde mir der rothaarige Ettore Camuffo vorgestellt, Sohn eines Galeristen aus Venedig, der sich noch vor ein paar Jahren auf rechtsradikalen Demonstrationen in Triest herumgetrieben und sich in Trento im Anzug und mit Krawatte immatrikuliert hatte. Es dauerte nicht lange, bis ihm der Kopf zurechtgesetzt wurde. [...] Gianni Palma, mit Schnauzbart und viel Pomade im schwarzen Haar, erinnerte mich mit seinem breiten Grinsen eher an einen Piraten als an einen Revolutionär. Statt eines dreimastigen Seglers steuerte er, von ständigen Buhrufen und Enteignungsforderungen seiner genossen verfolgt, einen Triumph-Sportwagen durch die Stadt. [...] Marco Boato zunächst ein begeisterter Katholik, hatte es bereits als Zwanzigjähriger zu einer Audienz beim Reformpapst <?page no="238"?> Peripherien und Epizentren von 1968 239 Giovanni dem XXIII. gebracht. [...] Er wurde einer der wichtigsten Protagonisten der Revolte und als erster Studentenvertreter in den Rat der Universität berufen. Und da war Marianella, eine großgewachsene und selbstbewusste Blondine, die immer in der ersten Reihe einer Demonstration zu finden war. Sie stammte aus Milano. Der Vater, ein Offizier der italienischen Armee, der fließend fünf Sprachen sprach, hatte der Sechzehnjährigen einen Amerika-Aufenthalt ermöglicht. Dort hatte sie sich für das Civil rights movement in Berkeley begeistert. [ ...] Und da war schließlich Renato Curcio. Ein wortkarger, breitschultriger Kerl mit einer Cäsaren-Frisur, der wegen seiner prominenten Nase auch ›Toulouse-Lautrec‹ gerufen wurde. In der informellen Hierarchie der Bewegung galt er als der zweite Mann hinter Mauro Rostagno.« 21 Rostagno, der 1988 als Leiter einer Drogen-Therapiegemeinschaft auf Sizilien von der Mafia ermordet wurde und Curcio, der später als Anführer der 1970 gegründeten Terrorgruppe Brigate Rosse 24 Jahre Gefängnis absaß, markierten die Bandbreite des Trienter Movimento studentesco. Politisches Bewusstsein, Differenz und Dialektik der Grundpositionen, dazu gezielte Aktionen, Phantasiereichtum und ein gerütteltes Maß Bohèmehaftigkeit charakterisierten die Trienter Szene und wühlten die Stadt auf. Darüber hinaus war ihre Bilanz bereits Ende 1968 mehr als stattlich, wie Schneider notierte: »In vier Universitätsbesetzungen - die letzte hatte 69 Tage gedauert - hatten sie sich gegen eine feindliche Bevölkerung, die die Besetzer belagerte und sie mit Steinen und Stangen angriff, erfolgreich behauptet. Sie hatten durchgesetzt, dass die Vollversammlung der Studenten als einziger legitimer Gesprächspartner der Universitätsverwaltung anerkannt wurde. Mit Hilfe des geschickten liberalen Rektors Francesco Alberoni waren die von Studenten veranstalteten Kurse der »Kritischen Universität« in Trento über Adorno, Marcuse, Marx und Lukács in das offizielle Curriculum übernommen worden und konnten mit einem regulären Seminarschein abgeschlossen werden - was der Universität übrigens eine Menge Honorarkosten ersparte.« 22 Warum - so fragte sich nicht nur Schneider - war ausgerechnet das abgelegene Trento mit seinem stockkonservativen Umfeld zum Hauptzentrum der italienischen Studentenbewegung aufgestiegen? Im alten Bischofssitz des südlichen Tirol, seit 1927 Hauptstadt der Provincia di Trento und seit 1945 nördlichstes Bollwerk der italienischen Democrazia Cristiana, 23 war die 1962 gegründete Universität alsbald zum Brennpunkt sozialen Protests aufgerückt. 24 Bereits zuvor hatten die Studenten im städtischen Umfeld immer wieder für Aufsehen gesorgt, da sie mangels eines adäquaten Unterhaltungs- und Kulturangebots sich eng aneinander anschlossen und auf eigene Aktionen angewiesen waren. 25 <?page no="239"?> 240 Hans Heiss Schon im Jänner 1966 wurde die Fakultät für Soziologie besetzt, zunächst aus scheinbar unpolitischem Anlass, ging es doch um die Anerkennung eines eigenen Studientitels. Die Besetzung war das Ergebnis einer basisdemokratischen Abstimmung, bei der die Studenten am 24. Jänner 1966 einstimmig für den gravierenden Schritt votierten. Als über dem Tor der Fakultät in großen Lettern ein Transparent SOCIOLOGIA und damit das Motiv der Besetzung verkündete, nahm die Presse in ganz Italien davon Notiz. »Die Stadt ist - so der Historiker Jan Kurz - aus der Unsichtbarkeit der Provinz in das Licht der Ereignisse getreten.« 26 Die ungewohnte Besetzung hatte Erfolg, da das römische Parlament unter dem Eindruck der Okkupation und der italienweiten Solidarität mit den Besetzern Soziologie als eigenen, voll berechtigten Studientitel anerkannte. 27 Der Okkupation von Jänner 1966 folgte Ende April der nächste Mobilisierungsschub, diesmal aber nicht örtlich bedingt, sondern als Teil einer italienweiten Kettenreaktion. In Rom waren im Vorfeld der Feier zum 25. April dem Staatsfeiertag der Befreiung vom Faschismus - an der Universität heftige, auch handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Studenten der Linken und faschistischen Jugendgruppen ausgebrochen. 28 Ein von Faschisten angegriffener Student, Paolo Rossi, stürzte, benommen von der Brutalattacke, über ein Geländer im Treppenhaus in den Innenhof der Universität und erlag anschließend seinen schweren Verletzungen. Dem tödlichen Vorfall folgte die sofortige Besetzung der Universität in Rom und damit die erste studentische Protestwelle im Herzen der Kapitale. Die meisten italienischen Universitäten reagierten auf die römischen Vorfälle mit spontaner Solidarisierung - so auch in Trient. In der Stadt hielt die neue Aktion den Pegel der Mobilisierung hoch und trieb Selbstverständigung und Gruppenbildung machtvoll voran. Die Protestwoge von Ende April 1966 bewies zudem den in Italien engen Konnex zwischen Studentenbewegung und Antifaschismus; die Erinnerung an das schwarze Regime und die Bedeutung der Resistenza waren emphatische Impulse der Rebellion. Nicht wenige Widerstandskämpfer beteiligten sich an studentischen Aktionen - als Mittelpersonen zwischen Geschichte und Gegenwart. In Trient war Rechtsanwalt Sandro Canestrini (*1922), vormaliger Resistenza-Akteur, der Verteidiger vieler Studenten. Die Verhandlungen waren stets überfüllt, nicht nur aus Gründen der Solidarität, sondern auch in der Hoffnung auf ein flammendes Canestrini-Plädoyer. 29 Bereits im Oktober 1966 folgte die nächste Besetzung, da die Studierenden nun am Statut der Neuen Fakultät mitarbeiten wollten; seither stand die 100.000-Einwohner- Stadt Trient an vorderster Front des italienischen Studentenprotests. <?page no="240"?> Peripherien und Epizentren von 1968 241 Nach ersten Anti-Vietnam-Demonstrationen 1967 sorgte die Verkettung von Aktionen für die rasche Ausbildung eines Protestmilieus. Aktiv waren Linkskatholiken wie der Student Marco Boato, die mit neomarxistisch inspirierten Kollegen wie Mauro Rostagno die Aufgabenstellung der Neugründung kritisch hinterfragten. Für kulturellen Zündstoff sorgte der spätere Führer der Roten Brigaden, Renato Curcio, der ein spektakuläres Living Theatre aufzog. Die Trienter Bevölkerung stand zunächst noch auf Seite der Studenten, denen sie bei ersten Besetzungen Töpfe voll dampfender Lasagne in die besetzte Fakultät trug. 30 Die Sympathien endeten jäh, als Studenten im März 1968 die Fastenmesse im Dom unterbrachen und vom 1. Februar bis 7. April 1968 die Fakultät für Soziologie besetzten. Dank eines Verhandlungskomitees, dem Norberto Bobbio, Italiens großer Sozialphilosoph, und Beniamino Andreatta, später DC-Wirtschaftsminister, präsidierten, ging die Besetzung friedlich zu Ende. Die Position der Soziologie-Studenten gegenüber der Universität blieb weiter ausgeprägt kritisch und äußerte sich in einer umfassenden Argumentation: Soziologie diene auch in Trient als Affirmations- und Herrschaftswissenschaft, die Universität sei eine Kaderschmiede technokratischer Eliten, ihre Ausrichtung widerspreche grundlegend dem Selbstverständnis einer kritischen Soziologie, die vielmehr die Widersprüche von Herrschaftsverhältnissen im Spätkapitalismus aufzudecken habe - lautete die Argumentation in bester Marcuse-Rezeption. Mit dem »Manifest für eine Negative Universität«, das Rostagno und seine Mitstreiter im Sommer 1967 entwarfen 31 , lag ein gewichtiges, weit verbreitetes Programmdokument vor, das in der italienischen Studentenbewegung als richtungsweisend gewertet wurde. Die »Negative Universität« habe die blinden und machtvollen Mechanismen eines Bildungssystems zu brechen, das nur als Handlanger kapitalistischer Produktion funktioniere, sie müsse innerhalb des universitären Systems durch kritischen Negativismus die Kehrseite und den repressiven Grundzug der Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen. In Trient wurde die Universität zwischen 1966 und 1971 ein Dutzend Mal besetzt, gegen Ende hatten sich Programmatik und Richtungen der Rebellion freilich heillos zerfasert: In Gruppierungen des maoistischen Spektrums, in anarcho-syndakalistische Grüppchen, in orthodoxe, PCInahe Marxisten und in gewaltbereite, zum Terror bereite Autonome der Gruppe um Renato Curcio und Mara Cagol. <?page no="241"?> 242 Hans Heiss Vom Protest zum breiten Milieu Die Protest- und Besetzergruppen formierten sich bald zum breiten Netzwerk, das über die Studenten auch die Arbeiterschaft erreichte, die ab 1968 zu energischen Kampfmaßnahmen ansetzte. In ganz Italien traten im Wirtschaftsboom des miracolo economico neben den Wachstumsraten von 5-7% seit 1958 auch die Widersprüche der Arbeitswelt in aller Deutlichkeit hervor: Niedriglöhne, schlecht qualifizierte Arbeitsplätze, geringe soziale Absicherung, scharfe Kontrolle am Fließband, während die Produktivität rasch anstieg. 32 Bei FIAT, Pirelli und den großen Chemiewerken des Nordens forderten Arbeiter mit Flächenstreiks höhere Löhne und soziale Reformen. Ihr Protest entglitt bald den Gewerkschaften, an deren Stelle eine neue außerparlamentarische Linke mobil machte. In den Städten des Trentino, vor allem in Unternehmen wie der Niederlassung des französischen Reifenherstellers Michelin oder des Küchenfabrikanten Ignis, schritt eine neue Arbeitergeneration in ihren Forderungen um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen auch zu Fabrikbesetzungen. Die Region hatte sich nach 1960 rasch industrialisiert und im Etschtal eröffneten große Unternehmen der Automobilbranche, der Textilproduktion und Erzeugung von Haushaltswaren Niederlassungen, angezogen von der Aussicht auf billige und - wie man hoffte - willige Arbeitskräfte. Der Arbeiternachwuchs, der in den Boomjahren ab 1960 rekrutiert wurde, bestand aber häufig aus Jugendlichen, die vielfach ohne Bindung an Gewerkschaften, an Traditionen der Arbeiterbewegung und dank ihres Ledigenstatus ohne große Sorge um den Arbeitsplatz in den Produktionsprozess eintraten. Sie lehnten den Druck der fordistischen, von Unternehmerschaft und Management rigide kontrollierten Produktionsweise zunehmend ab und waren von den antiautoritären Strategien der bereits um 1966 aufsteigenden Studentenbewegung vielfach fasziniert. Anders als in Deutschland wurden sie weder von der älteren Facharbeiterschaft zu Ruhe und Disziplin verhalten noch durch Mitbestimmung in die Unternehmen eingebunden. Die Gewerkschaft der Metallarbeiter, die FIOM, erkannte frühzeitig die Synergien und förderte auch im Trentino ein Zusammengehen von Arbeitern und Studenten, während Dachgewerkschaften wie die kommunistische CGIL und die christdemokratische CISL die Annäherung ablehnten. Dennoch mussten sie säuerlich zur Kenntnis nehmen, dass die Aktionseinheit von Studierenden und Arbeitern relativ gut funktionierte, da die Studenten bereits frühmorgens vor den Fabriktoren Flugblätter verteilten. <?page no="242"?> Peripherien und Epizentren von 1968 243 Teil-Mobilisierung in einer ethnisch geteilten Gesellschaft: Bozen und Südtirol 1968 Die Welle der Politisierung erreichte über Italien und das südliche Trentino auch die größeren Zentren des mehrsprachigen Südtirol, das 1968 eine 10-jährige, harte Auseinandersetzung um Autonomie oder Selbstbestimmung des Landes hinter sich hatte. Da der Konflikt um größere Selbstständigkeit gegenüber dem Zentralstaat weiter im Mittelpunkt blieb, rückte »1968« nur teilweise ins Blickfeld, es blieb aber keineswegs ohne Effekt. Die Annäherung an den vom Süden her anbrandenden Umbruch verlief über zwei Kanäle, über Arbeiter und Jugendliche, die vom national spürbaren Sessantotto jeweils beeindruckt waren. 33 Bozens Arbeiterschaft in Agitation Die Stadt Bozen erfuhr zwischen 1951 rasches Wachstum bei starker Verjüngung ihrer Bevölkerung: Der Bevölkerungsstand war von 70.898 (1951) auf 88.799 (1961) angestiegen und erreichte 1971 mit 105.757 Einwohnern vorerst ihren Höhepunkt. 34 Im überwiegend italienischen Bozen mit hoher Industriekonzentration erreichte die Mobilisierung zunächst die großen Unternehmen der Stadt. Dies zeigte die Zunahme der Streikbewegung in aller Deutlichkeit: Gingen 1965 erst 82.000 Stunden durch Streiks verloren, so waren es 1966 bereits 210.000 Stunden, die nach kurzem Abflachen dann bis auf 622.000 im »Heißen Herbst«, dem autunno caldo von 1969, anstiegen. 35 Bozens »Industriezone« hielt als ein Zentrum sozialen Protests die Stadt in Atem. Die Arbeiterschaft, mobilisiert durch die gesamtstaatlich vernetzten Gewerkschaften, forderte die Verkürzung der Arbeitszeit, Lohnerhöhungen und verstärkte Mitbestimmung, zugleich weckten gewaltsame Zwischenfälle in anderen Teilen Italiens spontane Solidarität. Wenn etwa die Polizei in Avola (Sizilien) Anfang Dezember 1968 mit Waffengewalt gegen demonstrierende Arbeiter vorging und sogar zwei von ihnen erschoss, folgten dem schockierenden Vorfall auch im hohen Norden spontane Kundgebungen. 36 Die Schnelligkeit kommunikativer Vernetzung war ein Novum, das zehn Jahre zuvor bei italienweit erst 90.000 Fernsehgeräten (1954) noch unbekannt gewesen war, nun aber sorgte die Televisione mit inzwischen 6,8 Mio. Empfängern (1966) für sofortige Rezeption der Ereignisse. 37 Zugleich wirkte die relativ junge Medienerfahrung aufwühlender als später, war sie doch noch nicht routinisiert, sondern relativ roh und ungefiltert. Zugleich schuf der gemeinsame Blick in die wenigen Fernsehempfänger eine Situation des Public Viewing, die das medial Erlebte <?page no="243"?> 244 Hans Heiss in direkten Austausch und zügige Mobilisierungseffekte der Zuschauer ummünzte. Die Arbeiterschaft begriff sich auch in Bozen als Teil einer italienweiten classe operaia, die grundlegende Umschichtung von Bürger- und Partizipationsrechten sowie von Einkommens- und Vermögensanteilen zugunsten der Lohnabhängigen forderte. Die Aufbruchsstimmung blieb gleichwohl ethnisch eingehegt und begrenzte sich auf italienischsprachige Arbeiter, die zudem in den großen Unternehmen des Landes weit gehend unter sich waren. In Bozen und Südtirol wandelte sich trotz des Eindrucks der Arbeitskämpfe die politische Kultur und die Gewichtung der politischen Kräfte zwischen 1964 und 1968 vorerst nur minimal. Die landesweit stärkste Formation, die Südtiroler Volkspartei, behauptete bei Landtagswahlen satte 61%, die unter italienischsprachigen Wählern dominante Democrazia Cristiana blieb bei annähernd 14%. Immerhin verlor die italienische Rechte um den neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano), die in der Grenzprovinz dank ihrer Frontstellung gegen »die Deutschen« mit rund 6% stets eine starke Position behauptet hatte, zugunsten der Linksparteien an Einfluss: Der MSI sank zwischen 1964 und 1968 auf knapp 5% ab, die Sozialisten gingen von 9,2% auf 7,16% zurück, die Kommunisten verbesserten sich von 4,56% auf 5,96%. 38 Nationalistische Töne, die in der Grenzprovinz mit ihrer starken Militärpräsenz besonders vernehmbar gewesen waren, traten hinter einem klassenkämpferischen Internationalismus zurück. Divergierende Dynamik italienischer und deutschsprachiger Jugendlicher Neben der Arbeiterschaft spielten in Bozen italienische Jugendliche eine bedeutende Rolle. Ihr demografischer Anteil war hoch, rund 40% der Bevölkerung Südtirols war 1971 jünger als 24 Jahre alt. 39 Öffentliche Präsenz und Selbstbewusstsein Jugendlicher wuchsen, während traditionelle Familienbindungen und der Einfluss von Sozialisationsträgern wie der Kirche spürbar nachgaben. Dies zeigte sich vorab im Schulbereich, der kurz zuvor bedeutende Reformen erfahren hatte. Die 1963 eingeführte Einheitsmittelschule, eine verpflichtende Gesamtschule für alle 11 bis 14-Jährigen, eröffnete einer rasch wachsenden Zahl von Schülern neue Bildungswege. 40 Die von Katholiken und bürgerlichen Eliten abgelehnte Mittelschule wirkte als sozialer Fahrstuhl, der ärmeren und ländlichen Bevölkerungsschichten höhere Allgemeinbildung und soziale Chancen vermittelte. 41 Die Neueinführung erhöhte sprunghaft die Schulpopulation, überforderte aber auch die Organisation und das Raumangebot. <?page no="244"?> Peripherien und Epizentren von 1968 245 Der neue Schultyp förderte den massiven Übertritt an höhere Schulen. In ihnen machten sich die soziale Durchmischung, der Werte- und Stimmungswandel rasch bemerkbar; im Schulalltag stellte eine heterogene, von diffuser Aufbruchsstimmung und Liberalisierung bewegte Schülergeneration den autoritären Erziehungsstil vieler Lehrer auf eine harte Probe; die Zeit klarer Hierarchien im Zeichen bürgerlicher Gesittung war endgültig vorbei. Erste italienische Oberschulen begehrten auf: Hier protestierte man bereits 1968, zwar sittsam gewandet, aber mit Transparenten, den striscioni und Kampfparolen ausgestattet, gegen autoritäre Unterrichtsformen und veraltete Lehrpläne. Schauplätze der Kundgebungen waren nicht die Gymnasien, in die der gutbürgerliche Mittelstand, das Bolzano bene, seine Sprösslinge schickte, sondern Technische Oberschulen. Vom 13. bis 15. März 1968 wurde in der Landeshauptstadt erstmalig eine Schule besetzt, das Istituto Tecnico (Technische Oberschule) »Cesare Battisti«, wobei die Schüler zwölf Vorschläge zur Verbesserung der Schule vorlegten. 42 Sobald mit Frühjahrsbeginn der Protest europaweit eskalierte, kochte die Stimmung auch unter Bozens Oberschulen. Beim Besuch von Unterrichtsminister Luigi Gui am 21. April 1968 in Bozen empfingen anlässlich einer Kundgebung vehemente Protestchöre den als reaktionär verrufenen, der Democrazia Cristiana angehörigen Minister. Gui musste den Vortragssaal durch die Hintertür verlassen, ein Abgang, der umso mehr Eindruck hinterließ, als kurz zuvor ein Papierböller in der Pfarrkirche detoniert war. 43 Dies waren zwar nur punktuelle Aktionen, die aber einen neuen Rebellionsgeist ankündigten. Im Spätherbst, am 17/ 18. November 1968, wurde dann auch das Klassische Lyzeum besetzt. 44 Schließlich zogen deutschsprachige Oberschüler der Handelsoberschule in Bozen mit dem »Reflektor« zwischen 1967 und 1969 eine kritische Schülerzeitschrift auf, 45 für die Franz Kössler, später Journalist im »Österreichischen Rundfunk«, als Herausgeber fungierte. Der »Reflektor« wollte das Schulsystem als »Produkt einer autoritären und etablierten Gesellschaft« entlarven und über eine zu gründende Vereinigung der Oberschüler Südtirols in Kooperation mit »unseren italienischen Kollegen« für die Demokratisierung der Schulen eintreten - der Versuch eines Brückenschlags, der dann aber doch nicht realisiert wurde. In der Landeshauptstadt Südtirols wurde auch die Besetzung der nahen Universität Trient beeindruckt registriert. Bozner Studenten wie Silvano Bassetti (1944-2006) mischten in Mailand an vorderster Front mit: 46 Bassetti stand an der Spitze der katholischen Organisation »Intesa«, die im Strudel der Studentenbewegung aber rasch zerfiel. Er war einer der Wortführer auf einem Studentenkongress, der am 10. und 11. März 1968 in der staatlichen Universität von Mailand tagte, um nach der »Schlacht in <?page no="245"?> 246 Hans Heiss der Valle Giulia«, der massiven Auseinandersetzung mit der Polizei an der Universität Rom am 1. März 1968, das weitere Vorgehen zu beraten. Bassettis moderate Position wurde in Mailand bald an den Rand gedrängt 47 , er selbst aber wechselte im Herbst 1969 zur neu gegründeten Bewegung »Lotta Continua« 48 , die 1971 bis 1976 auch in Südtirol zum Sammelbecken der Neuen Linken aufrückte. Kronzeuge der Politisierung innerhalb der Studenten war Alexander Langer (1946-1995), der später zum Bahnbrecher der italienischen »Lotta Continua« und zum Mitbegründer der Grünen in Italien aufstieg. 49 Der aus der Kleinstadt Sterzing stammende Langer, als Sohn eines Arztes jüdischer Herkunft und einer Apothekerin klassisch bildungsbürgerlicher Herkunft, trat bereits während der Schulzeit am Gymnasium der Franziskaner in Bozen für verstärkten Austausch zwischen Deutschsprachigen und Italienern sowie für die Überwindung ethnischer Blockaden ein, begrüßte als gläubiger Katholik den Reformschub des Zweiten Vatikanums und forderte vehement die Öffnung der kulturell und politisch erstarrten Südtiroler Gesellschaft. Während des Jura-Studiums in Florenz ab 1965 näherte sich Langer rasch der Neuen Linken und suchte linkskatholische und neomarxistische Positionen zu verschmelzen. Der intellektuell und rhetorisch brillante Langer verschrieb sich ab 1967 der politischen Mobilisierung in Südtirol. Vom politischen Establishment des Landes alsbald als »Revoluzzer« perhorresziert, geriet er auch zur Zielscheibe antisemitischer Ressentiments. Langers politische Laufbahn begann um 1965 in der italienischen Studentenbewegung und auf lokaler Ebene, mündete um 1970 mit Leaderfunktionen in »Lotta Continua« und der Chefredaktion der Zeitung »manifesto« in eine italienweit beachtete Karriere, bis er sich nach zehn Jahren zur Rückkehr nach Südtirol und zur Gründung einer erfolgreichen Liste der »Neuen Linken« für die Landtagswahlen 1978 entschloss. 50 1989 wurde Langer für die Grünen im Wahlkreis Nord-Ost in das Europäische Parlament gewählt, wo er als Abgeordneter bis zu seinem mysteriösen Selbstmord 1995 verblieb, mit dem er unweit von Florenz seinem Leben wohl aus Überforderung ein Ende setzte. Höhepunkt von Südtirols »1968« war die Kundgebung gegen die Feiern zum 50. Jahrestag des Sieges von 1918, die in ganz Italien mit großem Pomp begangen wurden. Aufgrund der Niederlage Österreich-Ungarns am 4. November 1918, mit der anschließenden Besetzung und dauerhaften Annexion von Triest, dem Trentino und Südtirol, galt der 4. November 1918 als Siegesfanfare am Ende eines langen und blutigen Krieges zugleich als Vollendung der nationalen Einigung. Für die Linke Italiens hingegen war die Festa del Quattro Novembre nichts weiter als die späte Ausgeburt eines barbarischen Bellizismus, der einen Krieg mit 650.000 Gefallenen <?page no="246"?> Peripherien und Epizentren von 1968 247 zelebrierte, der doch weit eher als Ausgangspunkt eines Bürgerkriegs und des faschistischen Aufstiegs abzulehnen war. Dass sich der Staat unter Ehrenschutz von Staatspräsident Giuseppe Saragat, eines Sozialdemokraten, anschickte, das 50. Anniversar mit großem Pomp zu begehen, galt am Ende eines denkwürdigen Jahres mit zahllosen Antikriegsdemonstrationen als erstrangige Provokation. Die Jubiläen zur Giornata della Vittoria wurden in Trient und Bozen als bombastischer Staatsakt zelebriert. Aber nicht Schützen und Kämpfer für Selbstbestimmung rüsteten zum Protest, sondern meist Jugendliche, die im Jahr des Vietnamkriegs den Militarismus des Staates verabscheuten. In Bozen marschierte ein Protestzug am Matteottiplatz auf und blockierte die Museumsstraße mit einem Sit-In. 51 Von faschistischen Schlägern bedrängt, wurden 17 Demonstranten in polizeiliche Schutzhaft genommen. 52 In Trient hatte sich eine kleine Gruppe Protestierender, angeführt von Rechtsanwalt Sandro Canestrini, vor das Auto des Staatspräsidenten geworfen, um den Weg zum Festakt zu blockieren. Der bewusstlos geprügelte Canestrini erwachte erst wieder in einer Gefängniszelle, aus der er bald freikam. An Südtirols politischer Landschaft änderte die kleine Protestbewegung vorerst so gut wie nichts. Bei den Regionalratswahlen im November 1968 erreichte die Südtiroler Volkspartei satte 60%, die DC legte deutlich zu, während kommunistische Gewinne durch Verluste der Sozialisten aufgewogen wurden - von Linksrutsch keine Spur; eine »Neue Linke« stellte sich erst 10 Jahre später, im Herbst 1978, erfolgreich der Wahl zum Südtiroler Landtag. 53 Auf deutscher Seite: Kampf um kulturelle Hegemonien Die Erfahrungsmodi der Politisierung ergriffen vor allem die italienische Sprachgruppe, während die Deutschsprachigen und damit der Großteil der Bevölkerung Südtirols die Vibrationen in Politik und Gesellschaft Italiens zwar beeindruckt vermerkten, sie aber als Angelegenheit der ungeliebten Staatsnation aus dem eigenen Erfahrungshorizont externalisierten. Zudem lebten viele Südtiroler in ländlichen Räumen, fernab der Städte Bozen oder Meran, mit wenigen Kontakten zu Italienern und geringer Rezeption anderssprachiger Medien. Ihre Lebenswelt war geprägt von örtlichem Austausch, eingehegt von den konservativen Werten des katholischen Umfelds und unterlag dem Einheitsgebot einer politischen Kultur, in der die Südtiroler Volkspartei als umfassende Lebensmacht weithin dominierte. 54 Dennoch weckte der dreifache Druck auch unter deutschsprachigen Jugendlichen Widerstände. Vor allem Oberschüler stießen sich an der <?page no="247"?> 248 Hans Heiss Pflicht zur ethnischen Kohäsion, zum politischen Einheitsdruck und zur kulturellen Traditionalisierung. Die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Botmäßigkeit und Stimme für die Südtiroler Volkspartei abverlangt wurde, sodass die Partei bei Landtagswahlen unter allen Wählern in Südtirol rund 60% erreichte, erlebten manche Heranwachsende als ebenso schwer erträglich wie der Druck des konservativen Mainstream in Institutionen, Verbänden, Vereinen und gesellschaftlichen Feldern. 55 Er war getragen von »abendländischem Geist«, der in den Schulen den Dreiklang von griechisch-römischer Antike, Christentum und klassischem Humanismus einforderte, in grimmiger Abwehr der westlichen Moderne und des totalitären Bolschewismus. Die stickige Enge der späten Adenauer-Ära wurde im provinziellen Rahmen Südtirols spielend übertroffen. Vollkommen verdrängt wurden in diesem Klima die Affinität und die Sympathien für das NS-Regime, die unter deutschsprachigen Südtirolern zwischen 1939 und 1945 verbreitet gewesen waren. Obwohl die Provinz damals zum faschistischen Königreich Italien gehörte, war die Hoffnung auf das Dritte Reich seit 1938 sprunghaft gewachsen und die deutsche Besetzung Italiens und Südtirols 1943-1945 vielfach begrüßt worden. Viele Südtiroler dienten ab 1940 freiwillig bei Wehrmacht und SS, wo sie nicht nur in regulären Kampfeinsätzen, sondern auch an Juden- und Partisanenverfolgung mitwirkten. An diese Vergangenheit wurde in Südtirol 1968 nicht gerührt, 56 erst gut ein Jahrzehnt später setzte eine Phase eindringlicher historischer Aufarbeitung ein. 57 Wächterin über den kulturkonservativen Konsens war die »Dolomiten«, das »Tagblatt der Südtiroler«, das den größten Teil der Südtiroler Haushalte erreichte und der wichtigste Bildner politischen Bewusstseins im Lande war. 58 Das Eigentum über die »Dolomiten« lag großteils in kirchlicher Hand, Herausgeber Toni Ebner hielt eine Linie, deren kritische Solidarität zur Südtiroler Volkspartei, Ablehnung von Italienern und allem »Linken« sowie demonstrativer »christlich-abendländischer Geist« dem hartleibigen Konservativismus CSU-naher Blätter Bayerns wie der »Passauer Neuen Presse« nahe kam. Da auch der öffentlichrechtliche Rundfunk in deutscher Sprache auf Regionalebene erst rudimentär ausgebaut war und andere Blätter aus dem deutschen Sprachraum wenig gelesen wurden, überzog die »Dolomiten« Südtirol mit einem mentalitätsprägenden Presse- und Meinungsmonopol. Ein frühes Protestsignal junger Südtiroler gegen »das Alte« richtete sich gegen einen Bau, der das wachsende Selbstbewusstsein der deutschen Sprachgruppe krönen sollte. Als in Bozen das Haus »Walther von der Vogelweide« im April 1967 eingeweiht wurde, das als kultureller Sammelpunkt der deutschen Bevölkerung in Bozen dienen sollte, demonstrierten junge Südtiroler gegen den vermeintlichen Tempel antiquierter Hochkul- <?page no="248"?> Peripherien und Epizentren von 1968 249 tur. 59 Am Vorabend der Einweihung diskutierten rund 200 Jugendliche im Bozner Rathaus über »Kulturpolitik in Südtirol - ohne Jugend? « Eigentliches Organ der Dissidenz war die 1967 bis 1969 erscheinende Zeitschrift »die brücke«. 60 Um die »brücke« formierte sich das Dreigestirn des deutschsprachigen Protests: Siegfried Stuffer (*1937), Josef Schmid (*1936) und der zehn Jahre jüngere Alexander Langer. Dass sich das kleine Journal dem deutschen Pressemonopol entgegen stellte, war Sensation genug. Es erschien zwar nur für wenige Jahre im behäbigen Zwei- oder Drei-Monat-Rhythmus, dockte aber an theoretische Debatten außerhalb Südtirols an und übte sich in kritischer Analyse der örtlichen Verhältnisse. Sein Titel war zugleich Programm, wollte das Blatt doch »Brücke« zur Welt außerhalb Südtirols und zur italienischen Sprachgruppe vor Ort sein. Sein kulturkritischer Ton und gespreizter Intellektualismus erreichten zwar keine breite Leserschaft, waren der konservativen Kultur und Politik des Landes aber allemal ein Dorn im Auge. »brücke«- Redakteur Stuffer hatte sich schon als Kulturreferent der Südtiroler Hochschülerschaft, der Studentenorganisation des Landes, vom damaligen Vorsitzenden Alois Durnwalder (Südtirols Landeshauptmann/ Ministerpräsident 1989-2013) ) abgesetzt und driftete zunehmend in linkes Fahrwasser. Josef »Pepi« Schmid schrieb anspruchsvolle Essays über den »Tirolismus«. Langer hingegen, der 1968 sein Studium in Florenz abschloss, arbeitete am Dialog zwischen Linkskatholizismus, neuer Linken und den Sprachgruppen. Diese Exponenten und ihre Aktionen waren zwar gesellschaftlich isoliert, sie verwiesen jedoch auf schwelenden Dissens in der deutschen Sprachgruppe und auf die Rezeption der Ereignisse von 1967/ 68 in Südtirol. Das Gefühl der Vereinzelung, oft auch der Ächtung belastete zwar die wenigen Akteure, wurde aber vom Gefühl aufgewogen, am Puls der Zeit zu leben, während dem lastenden Konservativismus Südtirols ein tiefer Umbruch bevor stünde. Angesichts der weltweiten Proteste gegen Vietnamkrieg und US-Imperialismus, mit Blick auf den studentischen Aufbruch in Frankreich, Deutschland und Italien, die ermutigende Öffnung des »Prager Frühlings« und die Ereignisse vor der »Haustür« Südtirols, in Trient, gaben sich die wenigen Aktivisten überzeugt, Avantgarde einer Bewegung zu sein, die einen tief greifenden Aufbruch der Provinz antizipiere. Selbstbewusst ließ die »brücke«-Redaktion in der kleinen Straße, wo sich ihr Büro befand, wochenlang ein Transparent mit der Botschaft flattern »Enteignet Ebner! «, womit sie an die Anti-Springer-Kampagne in Deutschland anschloss. <?page no="249"?> 250 Hans Heiss Literatur und Subkulturen: Brüche und Öffnungen Womöglich noch wirkungsvoller als die begrenzte politische Mobilisierung innerhalb der deutschen Sprachgruppe war das Abrücken Jugendlicher vom kulturellen Kanon und den Grundmustern des Kultur-Konservativismus. 1968/ 69 entstand eine neue Südtiroler Literatur, die mit den Vorgaben der Klassik und eines erdenschweren, von Heimatmetaphern durchtränkten Schreibens endgültig brach. Eine Gruppe 20bis 30-jähriger Autoren wie Norbert C. Kaser (1947-1978) 61 oder Joseph Zoderer (*1935) 62 orientierte sich am Vorbild von Brecht oder des nouveau roman, in ihrer Lyrik an Ernst Jandl, zudem sensibilisiert durch die Sozialisation in einer komplexen Sprachsituation. Schreiben und selbstsicheres Auftreten richteten sich gegen die Hegemonie örtlicher Kulturgranden und provozierten umso mehr, da die bisherigen Meinungsführer besorgt vermerkten, dass neben allem Protestgetöse auch eine literarische Qualität aufstieg, die das Bestehende bald mühelos übertraf. Kaser und Zoderer fanden bei Lesungen in Österreich Aufmerksamkeit, langfristig auch den Weg zu überregionalen Verlagen und in die Feuilletons großer Zeitungen. Die Anthologie »neue literatur aus südtirol« (1970) war das Manifest einer neuen Generation 63 , die »1968« auch als Wegbegleiter zur literarischen Moderne nutzte. In Südtirol, wo die deutsche Sprache als Sanktuarium eigener Identität galt, war das literarische Abrücken von der Tradition, der Einstieg in die Avantgarde, die Rezeption und Verwendung italienischer Literatur- und Sprachanteile einer der stärksten Tabu- Brüche. 1967/ 68 war das Basisjahr eines literarischen Aufbruchs, der sich langfristig zum Generationen übergreifenden Autoren- und Verlegernetzwerk stabilisierte, das in seinen Ausläufern bis heute nachwirkt. Kasers Ironisierung Südtirols zeigt sich effektvoll in einem knappen, deutsch-italienischen Gedicht vom März 1968, das die Selbstbilder der mehrsprachigen, von den Spektren der Geschichte überschatteten Region Südtirol-Alto Adige als fragile Aporien zerballert: 64 alto adige alto fragile reiseland durchgangsland niemandsland zu lange das requiem als dass die tote erstuende <?page no="250"?> Peripherien und Epizentren von 1968 251 aber die grabreden geben die leiche nicht preis andreas hofer laeßt sich nicht ver(d)erben aber der sarg ist noch offen ha-ha-hai heimatland Größere Breitenwirkung als der literarische Aufbruch erzielten Impulse der Subkultur. Auch unpolitische Jugendliche berauschten sich an der neuen Popmusik, die sich um die antipodischen Titanen der Beatles und Rolling Stones 65 , die rebellischen Who, die bluesinspirierten Gitarrenheroen Eric Clapton, Mike Bloomfield und den stratosphärischen Jimi Hendrix formierte. 66 Im expressiven Gesang, im Rhythm’n Blues-Beat und metallischen Klang der E-Gitarren, die in den psychedelischen Ausritten von Jefferson Airplane und der Grateful Dead bereits um 1967 gängiges Songformat verließen, wurde die Rebellion zur subjektiven Chiffre und Lebensdeutung transformiert, zum persönlichen Aufbruch des eigenen Lebens. Jugendliche nutzten die Nähe zu großen Konzertarenen wie des »Circus Krone« in München oder der Arena in Verona, um die Auftritte von Megastars wie Cream, Hendrix oder Pink Floyd zu besuchen oder wagten sich 1969/ 70 vereinzelt sogar bis zu den historischen Festivals nach Woodstock oder auf die Isle of Wight. Der 21-jährige Karl-Heinz Ausserhofer aus dem Städtchen Bruneck erlebte das Festival of Love and Peace als so eindrücklich, dass er im August 1970 im heimatlichen Bruneck das »Schlossberg-Festival« aufzog, das bei allem Dilettantismus zum großen Erfolg wurde. 67 Mit der Gründung eigener Beat-Gruppen in Südtirol, die unter assoziationsreichen Namen wie The flying mind,The We, Artificial Joy, The Cadish auftraten, startete eine Musikszene, die sich in den folgenden Jahrzehnten festigte und in viele Richtungen verästelte. Der Musikboom katapultierte einzelne Musiker bzw. Produzenten bis an die Weltspitze, so den aus dem Südtiroler Grödental/ Val Gherdëina stammenden Giorgio Moroder (*1940), der ab 1967 in Berlin mit Schlagersängern wie Michael Holm oder Ricky Shayne als Komponist und Produzent zusammenarbeitete. Ab 1975 kam Moroder als Produzent von Donna Summer (»Love to love you baby«) groß ins Geschäft und erlangte als Soundtrack-Komponist für den Alan-Parker-Film »Midnight Express« (1978) und für »Flashdance« (1983) zweimal Oscar-Ruhm. 68 <?page no="251"?> 252 Hans Heiss Auch für das Zusammenleben der Sprachgruppen war Pop förderlich, da italienische und Südtiroler Musiker oft problemlos zusammen spielten. Die italienische Beat-Szene bot mit Gruppen wie den Rokes, Equipe 84 oder Banco del Mutuo Soccorso beachtliche Identifikationsfiguren auf, deren italienische Texte begeistert mitgesungen wurden, sodass die bisher oft verpönte Staatssprache als Variation des weltweiten Pop Akzeptanz fand. Das Italienische wurde über den Italo-Pop nicht mehr als Instrument der nationalen Überformung erlebt, sondern als Idiom des Internationalismus. Zudem vermittelten die emotionale Tiefe und Kreativität großer Sänger wie Lucio Battisti oder Fabrizio De Andrè einen Zugang zum Reichtum und zur Ausdruckskraft der italienischen Kultur 69 , wie ihn Südtiroler Jugendliche im Schulunterricht kaum jemals erlebten. Örtliche Veranstalter mit politischem Hintergrund wie Sandro Forcato (*1943) holten bereits um 1970 systematisch Stars der prosperierenden Musik- und Kabarettszene wie Edoardo Bennato oder Dario Fo nach Bozen. 70 Der im traditionalistischen Umfeld Südtirols effektvolle subkulturelle Drive zog unweigerlich auch Drogengenuss nach sich. Bereits 1969 zirkulierte in Bozen Marihuana, bald auch LSD, als Vorstufe für das Eindringen harter Drogen, das in Form von Heroin ab 1972 für alarmierende Auswirkungen sorgte: 71 1976/ 77 gab es eine Serie von Drogentoten, die eine breite Öffentlichkeit aufschreckten. Weniger Besorgnis erregend waren kleine Hippie-Kommunen, die vor allem sommers über im ländlichen Raum Südtirols temporär zusammen fanden, in einer Mischung von alpinem Down-home-Gefühl und antibürgerlich-kommunitärem Habitus. Anstelle des Rückzugs ins Innere Südtirols nahmen manche Jugendliche auch den Weg nach außen, setzten zu Reisen ins beliebte Marokko, auf griechische Inseln oder gar nach Indien über. Linksalternative Politik, Kultur und subkulturelle Probeläufe blieben in Südtirol insgesamt, auch im urbanen Ambiente Bozens,i bis um 1970 Randphänomene, die das Gesamtbild von Wohlanständigkeit, Konformität und der Freude an rasch steigenden Einkommen und Lebenschancen in einer bislang kargen Gesellschaft kaum beeinträchtigten. Aber es waren eben dieser Kontrast und die Störung einer ethnisch, religiös und moralisch homologierten, gleichsam bodenversiegelten Gesellschaft, die die kleinen Signale umso wirksamer machten. Zwar funktionierte die Abschottung zwischen den Sprachgruppen so gut, dass das Fieber sozialer und generationsspezifischer Unruhe deutschsprachige Südtiroler nur begrenzt erfasste. Angesichts des Zwangs zu Zusammenhalt und Harmonie in der Südtiroler Volksgruppe schrillten aber schon bei kleinen Zeichen der Dissidenz die Alarmglocken. Dass Vertreter einer jüngeren Generation dem Kampf um Selbstbehauptung »deutschen Volkstums« absagten und die Aufstiegsangebote einer lange pauperisierten Minderheit her- <?page no="252"?> Peripherien und Epizentren von 1968 253 ablassend, wenn nicht verächtlich behandelten, wurde in der Südtiroler Öffentlichkeit mit Unverständnis, vielfach mit Wut aufgenommen. Die deutschsprachige Presse, mithin die »Dolomiten«, schwieg »Protestierer« und »Langhaarige« konsequent tot und sonderte nur fallweise giftige Kommentare ab. In den Binnendiskursen von Familien und gesellschaftlichen Kleingruppen verliefen die Auseinandersetzungen dafür umso heftiger, wobei elterliche Drohung und Disziplinierung zwar oft genug, aber längst nicht immer Wirkung zeigten. Ein Resultat von »1968« war europaweit ein neuer Internationalismus, der auch auf Südtirol abfärbte. Zwischen den Unterdrückten sollte es keine nationalen Barrieren geben, dem Volk von Vietnam hatte die brüderliche Solidarität ebenso zu gelten wie FIAT-Arbeitern und Bergbauern Südtirols. Im Klima des Internationalismus entstanden auch in Südtirol unter Jugendlichen verschiedener Sprachgruppen neue Begegnungsformen, sodass ab Herbst 1968 gemeinsame Treffen und Kundgebungen einsetzten. Alexander Langer sortierte rückblickend die Erträge von »1968« in Südtirol zu einem ironisch getönten, aber stimmigen Fazit: »Keine Mythen, bitte. Immerhin wurden Schulen auch in Bozen besetzt, Deutsche und Italiener diskutierten gemeinsam und vertrieben den Unterrichtsminister Gui durch die Hintertür des Rathauses, nach einem großen Sit-in (ja, so hieß es). Die Anti-Springer-Kampagne wurde gegen Toni Ebner geführt - bis hin zum Nordtiroler Grillhof. […] Es wurde auch viel diskutiert: über Gaismair, über die Attentate der früheren Jahre, über die CSSR und den Marxismus und über China, man erfuhr von Italien und den Studenten in der ganzen Welt. Die Institutionen wurden angegriffen, die Partei, die Kirche, die Athesia, die Geldbonzen, das Kulturinstitut, das Siegesdenkmal und die Feiern zum 4. November. Es gab sogar einen Böller in einem Beichtstuhl der Bozner Pfarrkirche und Festnahmen von antimilitaristischen Demonstranten. Manche Saat war plötzlich aufgegangen (nicht immer programmgemäß), viel Neues passierte unvorhergesehen. Im April wurde Martin Luther King geehrt, im Herbst diskutierte man über Guevara. Vietnam war nahe. Wir fühlten uns nicht isoliert. Auch Südtiroler, die schon emigriert waren, ließen wieder von sich hören. In der »brücke« erschienen auch Gedichte und da und dort wurden Wände beschmiert.« 72 In Südtirol spielte »1968« eine belebende Rolle, von zunächst unscheinbarer, aber durchgreifender Wirkung, als Wegscheide in eine neue Zeit. Seine gesellschaftlichen Folgen äußerten sich alsbald, vor allem in einer erneuerten Kultur und einer dynamischen Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung. Gesellschaftlich war »1968« erfolgreich, politisch hingegen vorerst ein Flopp, bis sich um 1978 eine »Neue Linke« auch politisch formierte. <?page no="253"?> 254 Hans Heiss Bilanz Die seit einem Jahrzehnt anhaltende, enorme Mobilisierung der italienischen Gesellschaft gelangte 1968 auch in die nördlichsten Randprovinzen. In ihren konservativen Milieus, vorab in Trient, erreichte sie besondere Effekte, vollzog dramatische Modernisierungs- und Transformationsschübe, führte aber auch zu neuer gesellschaftlicher Abschließung. Der Dynamik des italienischen Sessantotto, in dem sich politische, soziale und ökonomische Verwerfungen mit kulturellen Aufbrüchen bündelten, konnten sich beide Regionen nicht entziehen. In Trient und Bozen waren die Jahre zwischen 1966 bis 1968 der Startpunkt neuer sozial-moralischer Milieus, die nach 1970 zu umfassenden Netzwerken von Bewegungen und Initiativen verschmolzen. In der Landeshauptstadt des Trentino konfigurierten sie sich weit mehr als in Bozen zum politischen Projekt, das in der Universität und den Fabriken reiche Aktivitäts- und Aufgabenfelder vorfand. Zugleich diente der Raum der Hochschule und der Betriebe als Vermittler hin zur nationalen Ebene, deren Impulse in ihrem sozialen Feld einen effektvollen Resonanzraum fanden. Umgekehrt wirkte die »esperienza trentina«, die programmatische Besetzungswelle und Forderungsplattform der Studentenschaft Trients, als nationaler Bezugspunkt, der italienische Universitäten frühzeitig mobilisierte. Die örtliche Gesellschaft, zumal die politischen Eliten des Trentino, erlebte die hausinterne Rebellion mitunter als Horrrorszenario, das die beschauliche Bischofsstadt stark verunsicherte. Mittelfristig aber vitalisierte der Umbruch die örtliche Politik und viele gesellschaftliche Felder, förderte ihre Erneuerung und bereitete das Trentino auf die erweiterte Selbstverwaltung vor, die mit der neuen Autonomie ab 1972 einsetzte. Für die noch 1960 überwiegend agrarische, z. T. unterentwickelte alpine Region, zeitigte die Auseinandersetzung mit der massiven, auf vielen Ebenen agierenden Protestbewegung einen zügigen Transformationseffekt. Der traumatische Anprall des Protest auf eine katholisch-konsensorientierte Gesellschaft nötigte die politischen Akteure zum Handeln, mobilisierte Parteien und Gewerkschaften neu und erzwang soziale Zugeständnisse. Der Konflikt bildet heute einen integralen Teil des Trentiner Selbstverständnisses im Trentino, als positive Erinnerungschiffre. Der regionalen Erinnerungskultur gilt er als eine mit Stolz bewertete, kreativ genutzte Herausforderung auf dem Weg zu einer führenden Alpenregion, mit einer Universität, die in Italien heute einen Platz ganz an der Spitze behauptet. In Bozen und Südtirol wirkte »1968« je nach Sprachgruppen stark differenziert: Die Italiener reagierten unmittelbar auf die Herausforderungen und übernahmen Protest und Abwehr, Vermittlung und Konflikt in <?page no="254"?> Peripherien und Epizentren von 1968 255 ihre jeweiligen Deutungshorizonte und Handlungsfelder, da sie sich als Teil der nationalen Öffentlichkeit und als Akteure der italienischen Gesellschaft empfanden. Die italienische Sprachgruppe thematisierte den Bruch des Sessantotto weit eindringlicher, da er in der nationalen und regionalen Medienwelt ein Dauerthema bildete. Es fand mühelos Eingang in öffentliche Debatten an Schulen und in Veranstaltungen und bildete in Familien einen Gegenstand lebhafter Erregung und Dauerdiskussion. Im deutschsprachigen Südtirol war »1968« Auslöser für Dissidenz in einer durch die Dominanz ethnischer Kategorien und konservativer Deutungsmuster formierten Sprachgemeinschaft. Kleine Gruppen Jugendlicher begriffen die weltweite Revolte als Signal zum Ausbruch aus dem Diktat ethnischer Geschlossenheit, als Möglichkeit, dem Gruppenzwang und dem autoritären Grundzug der örtlichen Gesellschaft gleichermaßen zu entkommen. Dem totalisierenden Gebot der Mehrheitspartei SVP und der konservativen Meinungsbildner, sich in eine Minderheit rückhaltlos einzuordnen und ihre Wertmaßstäbe zu verinnerlichen, setzten sie die Forderung entgegen, dass auch Minderheiten Minderheiten dulden müssten. Erst dann, wenn auch innerhalb kleiner Gruppen Non-Konformität möglich sei, sei ein akzeptabler Grad an Mündigkeit und politischer Reife erreicht. Der traditionalistisch erstarrten Kultur der Minderheit, die den Leitplanken Volkstum, Brauchtum, Abendland und klassische Humanität folgte, setzten Jugendliche die kulturellen Aufbrüche in Literatur, Kunst und Musik entgegen, auch in ihren subkulturellen Ausprägungen. »1968« war auch in Südtirol die Geburtsstunde eines kulturellen Regionalismus, der Formenreichtum und Hybridität einer Übergangsregion als Stilmittel und formales Prinzip nutzte. Der Aufbruch stand im Einklang mit anderen regionalistischen Bewegungen, deren Kulturen unter dem Anprall von »1968« neu und variationsreich auflebten. 73 Der Schub von »1968« transformierte also die Peripherie, er wirkte aber auch mit eigenen Akzenten auf das italienische Sessantotto zurück - die frühzeitige Dynamik, die Originalität in Programm, Aktion und die Profilierung von italienweit bekannten Leadern wurden als eigenständiger Beitrag der Provinz anerkannt, der der Bewegung, aber auch der Anpassungsfähigkeit der politischen Eliten vor Ort gutgeschrieben wurde. Anmerkungen 1 Exemplarisch: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998; Christian Jansen/ Thomas Mergel (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848. Erfahrung - Verarbeitung - Deutung, Göttingen 1998; Wolfram Siemann, 1848/ 49 in Deutschland und Europa. Ereignis - Bewältigung - Erinnerung, Paderborn 2006. <?page no="255"?> 256 Hans Heiss 2 Immanuel Wallerstein, Antisistemic Movements, History and Dilemmas, in: Amin Samir u. a. (Hrsg.), Transforming the Revolution. Social Movementes and the World-System, New York 1990, S. 13-54. 3 Marco Revelli, Movimenti sociali e spazio politico, in: Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 2, Torino 1995, S. 386; deutsche Übersetzung von Jan Kurz. 4 Donatella della Porta, »1968« - Zwischennationale Diffusion und Transnationale Strukturen. Eine Forschungsagenda, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 17), Göttingen 1998, S. 131-150. 5 Vgl. Sven Reichardt/ Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 47), Göttingen 2010. 6 Wichtige Überblicksdarstellungen: Rolf Steininger, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck-Wien 1997 und Michael Gehler, Tirol im 20. Jahrhundert. Vom Kronland zur Europaregion, Innsbruck 2008. 7 Angaben in: Autonome Provinz Bozen - Südtirol - Landesinstitut für Statistik (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für Südtirol 2010, Bozen 2011, S. 118. 8 Vgl. Andrea Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana (1948-2008), Milano 2008, S. 103- 150; Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 250-268. 9 Vgl. Paolo Pombeni, La grande trasformazione. Il Trentino nel »secolo breve« 1919-1989, in: Andrea Leonardi/ Paolo Pombeni (Hrsg.), Storia del Trentino. VI: L’età contemporanea. Il Novecento, Bologna 2004, S. 19-40, hier S. 28f. 10 Vgl. Alfredo Canavero/ Roberta Caccialupi, La riconquista dell’identità (1948-1972), in: Leonardi/ Pombeni (Hrsg.), Storia del Trentino. VI, S. 167-194, hier S. 185-188. 11 Vgl. Vincenzo Calì, Dalla difesa della specificità nazionale all’affermazione a livello europeo: l’avventura dell’Università, in: Leonardi/ Pombeni (Hrsg.), Storia del Trentino. VI, S. 395-429, hier S. 402-404. 12 Überblick bei Hans Heiss, Europäische Stadt der Übergänge: Bozen/ Bolzano im 20. Jahrhundert, in: Michael Gehler (Hrsg.), Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart (Historische Europa-Studien, 4), Hildesheim-Zürich-New York 2011, S. 545-574. 13 Anschaulich: Christian Jansen, Italien seit 1945 (Europäische Zeitgeschichte, 3), Göttingen 2007, S. 85-88. 14 Vgl. Josef Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol. Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck- Wien-Bozen 2001, S. 429-440. 15 Vgl. Severino Vareschi, La Chiesa cattolica trentina fra radici cristiano-sociali e confronto con i tempi nuovi, in: Leonardi/ Pombeni (Hrsg.), Storia del Trentino. VI, S. 281-347, hier S. 315-325. 16 Hierzu grundlegend: Till Manning, Die Italien-Generation. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren (Göttinger Studien zur Generationsforschung, 5), Göttingen 2011. 17 Peter Schneider, Lenz, Berlin 1973. 18 Als zeitgenössischer Querschnitt der Tendenzwende: Hermann Peter Piwitt/ Peter Rühmkorf, Literaturmagazin 5. Das Vergehen von Hören und Sehen. Aspekte der Kulturvernichtung, Reinbek 1976 mit einer Positionsbestimmung von Peter Schneider, Über den Unterschied von Literatur und Politik, S. 188-198. 19 Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung, Köln 2008; kritisch zu Schneiders Mao-Schwärmerei: Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, S. 108. 20 Schneider, Rebellion und Wahn, S. 309, dort auch das folgende Zitat. 21 Schneider, Rebellion und Wahn, S. 311-314. 22 Schneider, Rebellion und Wahn, S. 315. <?page no="256"?> Peripherien und Epizentren von 1968 257 23 Zur jüngsten Stadtgeschichte vgl. Vittorio Carrara, Democrazia e nuovi miti, in: Giuseppe Gullino (Hrsg.), Trento. Dall’antichità all’età contemporanea, Verona 2011, S. 243-256. 24 Zur Geschichte der Universität Trient vgl. Fabrizio Cambi/ Diego Quaglioni/ Enzo Rutigliano, L’Università di Trento 1962-2002, Trento 2004. 25 Zur Lage in Trient vgl. Jan Kurz, Die Universität auf der Piazza. Entstehung und Zerfall der Studentenbewegung in Italien 1966-1968 (Italien in der Moderne, 9), Köln 2001, S. 104-116. 26 Kurz, Universität auf der Piazza, S. 106. 27 Vgl. Vincenzo Calì, La questione universitaria trentina tra movimenti e istituzioni, in: Sergio Bernardi/ Giancarlo Salmini (Hrsg.), Intorno al Sessantotto. I movimenti collettivi prima e dopo il ’68. Trento, tra storia e cronaca, Trento 2007, S. 45-61. 28 Vgl. Kurz, Universität auf der Piazza, S. 97-103. 29 Zur vis oratoria von Canestrini vgl. den Bildteil bei Bernardi/ Salmini (Hrsg.), Intorno al Sessantotto, S. 155. 30 Vgl. den autobiografischen Rückblick von: Diego Leoni, Testimonianza semiseria sul ’68 a Trento, in: Geschichte und Region/ Storia e regione, 7 (1998), S. 37-56. 31 Ausführlich kommentiert von Kurz, Universität auf der Piazza, S. 111-116. 32 Vgl. Franco Sandri/ Sandro Schmid, Ai cancelli della Fabbrica, Trento 2006. 33 Hierzu die gründliche, quellenbasierte Magisterarbeit von Birgit Eschgfäller, Südtirol in Bewegung. Analyse der unterschiedlichen Facetten des kulturellen und gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er und 70er Jahre im Vergleich zum internationalen Kontext, ungedr. Dipl. Arb., Salzburg 2010 sowie den Aufriss von Hans Heiss, Bewegte Gesellschaft: Südtirol 1968, in: Geschichte und Region/ Storia e regione, 7 (1998), S. 57-100. 34 Autonome Provinz Bozen-Südtirol/ Landesinstitut für Statistik (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für Südtirol 2011, Bozen 2011, S. 90. 35 Handelskammer Bozen (Hrsg.), Statistisches Handbuch Südtirols, Bozen 1975, S. 350. 36 Bericht der Tageszeitung Alto Adige, 6. 12. 1968, S. 4. 37 Vgl. Woller, Geschichte Italiens, S. 260. 38 Wahlergebnis nach der Tageszeitung Dolomiten, 19. 11. 1968, S. 1f. 39 Handelskammer Bozen (Hrsg.), Statistisches Handbuch, S. 43. 40 Vgl. Woller, Geschichte Italiens, S. 281 f. 41 Überblick zu regionalen Auswirkungen: Rainer Seberich, Die Einführung der Pflichtmittelschule in Italien und Südtirol. Bedingungen - Zielsetzungen - Ergebnisse, in: Die Mittelschule. Bilanz einer Reform. Beilage zu forum & schule heute 1 (1990), S. 19-15. 42 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung, S. 212. 43 Alto Adige, 22. 4. 1968, S. 1: »Esplosione alle 18.30 in Duomo. Tumulti al comizio dell’on. Gui.« 44 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung, S. 212. 45 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung, S. 122-126. 46 Hierzu die autobiografische Notiz von Silvano Bassetti, I ragazzi che volevano fare la rivoluzione, in: BZ 1999, 27, S. 8. 47 Zur Rolle von Silvano Bassetti vgl. Kurz, Universität auf der Piazza, S.-235-238. 48 Zu »Lotta Continua« vgl. Luigi Bobbio, Storia di Lotta continua, Milano 1988. 49 Zur charismatischen Vita Langers liegen zahlreiche Publikationen vor, die aber großteils oberflächlich, fragmentarisch oder allzu emphatisch geraten sind; guter biografischer Aufriss von Fabio Levi, In viaggio con Alex. La vita e gli incontri di Alexander Langer (1946- 1995), Milano 2007; anschaulich Florian Kronbichler, Was gut war. Ein Alexander-Langer- ABC, Bozen 2005; repräsentative Auswahl seiner Schriften: Siegfried Baur/ Riccardo Dello Sbarba (Hrsg.), Alexander Langer, Aufsätze zu Südtirol 1978-1995 Scritti sul Sudtirolo, Meran 1996. 50 Hermann Atz, Die Grünen Südtirols. Profil und Wählerbasis, Innsbruck-Wien-Bozen 2007, S. 44-47. <?page no="257"?> 258 Hans Heiss 51 Alto Adige, 2. 11. 1968, S. 10: Gegen Krieg und Siegesfeiern. 52 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung, S. 136-139. 53 Vgl. Joachim Gatterer, »rote milben im gefieder«. Sozialdemokratische, kommunistische und grün-alternative Parteipolitik in Südtirol, Innsbruck 2009, S. 155-159. 54 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung. 55 Zeitgenössische Einschätzung bei Claus Gatterer, Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien, Wien-Frankfurt-Zürich 1968, S. 1246-1251. 56 Zum starken Impuls der NS-Kritik in Deutschland zusammenfassend Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 79-88. 57 Vgl. Michael Gehler, Vergangenheitspolitik und Demokratieentwicklung südlich des Brenners. Überlegungen zur »alten« und »neuen« Zeitgeschichtsschreibung Südtirols, in: Christoph von Hartungen/ Hans Heiss/ Günther Pallaver/ Carlo Romeo/ Martha Verdorfer (Hrsg.), Demokratie und Erinnerung. Südtirol - Österreich - Italien. Festschrift für Leopold Steurer zum 60. Geburtstag, Innsbruck - München - Bozen 2006, S. 107-124. 58 Vgl. Leo Hillebrand, Medienmacht & Volkstumspolitik. Michael Gamper und der Athesia- Verlag (Geschichte & Ökonomie, 5), Innsbruck-Wien 1996. 59 Vgl. Heiss, Bewegte Gesellschaft, S. 86. 60 Vgl. Eschgfäller, Südtirol in Bewegung, S.-100-109. 61 Vgl. Benedikt Sauer, norbert c. kaser. Eine Biographie, Innsbruck 1997. 62 Vgl. als Überblick: Ruth Esterhammer, Die wissenschaftliche Zoderer-Rezeption im deutschsprachigen Raum, in: Mitteilungen aus dem Brennerarchiv, 29 (2010), S. 137-145. 63 Gerhard Mumelter (Red.), Neue Literatur aus Südtirol, hrsg. v. d. Südtiroler Hochschülerschaft, Bozen 1970. 64 Abgedruckt bei Sauer, norbert c. kaser, S.-63 f. 65 Bilanzierend: Konrad Heidkamp, It’s all over now. Musik einer Generation - 40 Jahre Rock und Jazz, Berlin 1999. 66 Vgl. Klaus Theweleit/ Rainer Höltschl, Jimi Hendrix. Eine Biographie, Berlin 2008. Zur Funktion musikalischer Blackness vorzüglich Moritz Ege, Schwarz werden. »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren, Berlin 2007; zur Rolle des Blues als Ikone der »Authentizität« grundlegend Marybeth Hamilton, In Search of The Blues, New York 2008. 67 Vgl. Hans Heiss, Zeit der Bewegung. Gesellschaft in Südtirol 1960 bis 1979, in: Gottfried Solderer (Hrsg.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol. Autonomie und Aufbruch, Bd. 4: 1960- 1979, Bozen 2002, S. 126-155, hier S. 136-139. 68 Vgl. Nina Schröder, Kultur als Zerreißprobe, in: Solderer (Hrsg.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol, Bd. 4, S. 174-205, hier S. 189. 69 Vgl. Anna Bravo, A colpi di cuore. Storie del Sessantotto, Roma-Bari 2008, S. 182. 70 Vgl. Pinuccia Di Gesaro, Sandro Forcato. Pugno chiuso, sipario aperto, Milano 2008. 71 Hierzu knapp Heiss, Zeit der Bewegung, S. 154. 72 Alexander Langer, Blick zurück - mit Nostalgie, in: Baur/ Dello Sbarba (Hrsg.), Alexander Langer, Aufsätze zu Südtirol, S. 38-44, hier S. 41. 73 Am Beispiel des Elsass kurz Christiane Kohser-Spohn, Der Traum vom gemeinsamen Europa. Autonomiebewegungen und Regionalismus im Elsaß, 1870-1970, in: Philipp Ther/ Holm Sundhaussen (Hrsg.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, 18), Marburg 2003, S. 89-111, hier S. 108-111. <?page no="258"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 1 K aRin m. S chmidlechneR Einleitung Die besondere Bedeutung des Jahres 1968 ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass es weltweit einen Kulminationspunkt unterschiedlichster Ereignisse und Entwicklungen darstellte. 2 Allerdings hatte es auch schon in den Jahren zuvor Protestbewegungen gegen »die Herrschenden« und das Establishment, konkret auch gegen antidemokratische und autoritäre Strukturen, an den Universitäten und in der Gesellschaft generell, gegeben. In Österreich protestierten v.a. StudentInnen im Jahre 1964 und Anfang 1965 anlässlich des beginnenden US-Bombardements auf Nordvietnam vor der US-Botschaft in Wien sowie im März 1965 gegen antisemitische und rechtsradikale Tendenzen. Zu weiteren Demonstrationen kam es im Februar 1968 - gegen die USA - und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 12. April 1968. Aber auch gegen die autoritäre und hierarchische Struktur der österreichischen Universitäten wurde protestiert. Davon abgesehen verlief das Jahr 1968 - vor allem in den österreichischen Bundesländern - mit einigen Ausnahmen wenig spektakulär. 3 Was die Bewertung der Ergebnisse anlangt, zeigt sich bei einem einleitenden Blick auf die generelle - also nicht regional oder geschlechterspezifisch fokussierte - wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema 1968 in Österreich eine weitgehende Übereinstimmung. Hauptsächlich wenn ihre langfristigen Wirkungen im Mittelpunkt stehen, werden die Proteste zumindest auf gesellschaftlichem und kulturellem Gebiet durchaus als folgenreich gesehen, da neue Vorstellungen teilweise zu einem Aufbruch aus alten gesellschaftlichen Modellen geführt hätten, wenngleich sie vielfach nicht umgesetzt worden seien. 4 Als direkter Erfolg der Studentenbewegung wird der Etablierung der universitären Mitbestimmung durch das Universitätsorganisationsgesetz 1975 betrachtet, als indirekte Folgen werden die in den siebziger Jahren in Österreich entstandenen sozialen Bewegungen gesehen. 5 »1968 brachte viele gesellschaftliche Bereiche in Bewegung, darunter auch die Geschlechterbeziehungen, wobei mit 1968 nicht nur das Jahr selbst, sondern eine größere Zeitspanne beginnend mit etwa Mitte der 60er Jahre und bis etwa Mitte der 80er Jahre reichend gemeint ist.« 6 Die folgenden Ausführungen setzen sich mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre, die unter dem Schlagwort 1968er-Bewegung zusammengefasst werden, speziell in Graz, der Landeshauptstadt des Bundeslandes Steiermark, <?page no="259"?> 260 Karin M. Schmidlechner also in der - aus der Perspektive des Zentrums »Wien« gesehenen - »Provinz«, auseinander, wobei der Fokus einerseits auf frauenspezifische Aktivitäten um 1968, andererseits auf die längerfristigen Auswirkungen dieser Bewegung in Bezug auf sowohl strukturelle als auch individuelle Handlungsspielräume von Frauen in dieser Region gelegt wird. Diese Fokussierung erfolgt unter der Annahme, dass diese Jahre großen Einfluss auf die Entwicklung einer unabhängigen Frauenbewegung in Graz hatten. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass beide Themenschwerpunkte in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Zeit, die sich überdies stark auf das Zentrum Wien konzentriert, noch nicht sehr intensiv thematisiert wurden. 7 Graz um 1968 Auch bei einer Konzentration auf die frauenspezifische Dimension dieser Zeit ist es zunächst notwendig, festzustellen, welche Dimensionen die studentische Protestbewegung von 1968 in Graz eigentlich hatte, bzw. ob die in der Literatur konstatierte geringe Resonanz, die in Graz in Bezug auf die weltweiten Proteste geherrscht hätte, zutreffend ist. Diesbezüglich ist aber auch die Überlegung anzustellen, ob es wirklich immer nur die quantitative Dimension ist, die einer sozialen Bewegung Bedeutung verleiht. Generell ist diesbezüglich zu bemerken, dass es da in den 1960er Jahren noch kein freier Zugang zu den Universitäten bestand - damals auch in der Steiermark überhaupt nur einer kleinen Minderheit aus weniger begüterten Schichten möglich war, zu studieren. 8 Der Großteil dieser Studierenden stammte aus dem bürgerlichen Milieu, wobei sich das bürgerliche Segment damals sowohl aus christlichsozialen und nationalen Strömungen als auch aus reformorientierten, links-gerichteten Gruppierungen zusammensetzte. Von diesen können nur die »Aktion«, eine 1965 gegründete Studentenvereinigung, die sich selbst als »radikal-demokratische, aber doch bürgerliche Gruppierung« 9 bezeichnete und ein Teil der Grazer Österreichischen Studentenunion (ÖSU) zu den »1968ern« gezählt werden. 10 Neben diesen bürgerlichen Gruppen gehörte aber auch in Graz das traditionelle linke Spektrum - dazu gehörten Mitglieder des »Vereins Sozialistischer Studenten Österreichs« (VSStÖ) 11 sowie der kommunistischen Studentenvereine - zu den ProtagonistInnen der Protestbewegung. 12 Hauptträger der Grazer 1968er Ereignisse war die bereits erwähnte »Aktion«, deren primäres Ziel eine Universitätsreform und weniger die Veränderung der gesamten Gesellschaft war. 13 Im Unterschied dazu ging es den linken Gruppen mehr um eine neue Gesellschaftsordnung und um internationale Themen, wie Vietnam, Persien oder Griechenland. Ein <?page no="260"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 261 weiteres Thema war die Kritik an der Elterngeneration, insbesondere deren Involvierung in das NS-System. Breitere gesellschaftliche Gruppen konnte die Grazer Bewegung zwar nicht ansprechen, doch gab es in Graz v. a. ab dem Jahre 1967 durchaus etliche öffentlichkeitswirksame studentische Protestaktionen. 14 Neben mehreren Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die Militärdiktatur in Griechenland und das Regime in Persien kam es auch zu spektakulären Aktionen wie Sit-Ins, Teach-Ins und anderen Happenings, von welchen das als »Sühne« für die Ereignisse in Wien 15 von zwei Studenten unternommene Bad in der Mur, die damals als schmutzigster Fluss Europas galt, die meiste Resonanz in der Öffentlichkeit erhielt. 16 Was den Anteil von Frauen an den Aktivitäten um 1968 anlangt, ist festzustellen, dass auch in Graz die Männer dominierten. Frauen spielten kaum eine Rolle. 17 Diese Unterrepräsentanz ist auch darauf zurückzuführen, dass Frauen Ende der 60er Jahre an den Unis kaum vertreten waren. Ihr Anteil betrug damals etwa 25 Prozent. 18 Bedauerlicherweise lässt sich nicht mehr konkret feststellen, wie viele Studentinnen damals in der Grazer Protestbewegung tatsächlich aktiv waren. Namentlich sind jedenfalls nur wenige Aktivistinnen ausfindig zu machen, wobei diese hauptsächlich von der »Aktion« und vom VSSTÖ kamen, wobei vor allem einige Aktivisten der »Aktion« offensichtlich wirklich darum bemüht waren, mehr Frauen einzubinden. 19 »Also bei der Studentenvereinigung, bei der ich führend dabei war, bei der Aktion, haben wir größten Wert darauf gelegt, wir haben sie geradezu gesucht, dass wir Kolleginnen dabei hatten. Wir haben uns das auf die Fahne geschrieben. Wir hatten den Ehrgeiz, dass wir zum Unterschied zu den Anderen möglichst viele Frauen auf den Listen haben. Meine damalige Frau hat eine riesige Rolle gespielt und ich war dafür, dass meine Frau die Chefin wird. Nur als es dann darum geht, wer wird der Chef, da hat die Mehrheit wieder zurückgezuckt.« 20 Für die Vertreter des VSSTÖ war die Beteiligung von Frauen im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten weniger aktuell, ausgehend von der Vorstellung, dass es im Sozialismus keine Geschlechterunterschiede gebe. Diese Haltung wird von einer VSSTÖ-Aktivistin insofern bestätigt, als sie sich im Rückblick nicht daran erinnert, im Bereich der politischen Aktivitäten an einen Punkt gestoßen zu sein, »wo ich etwas nicht tun hätte können, weil ich eine Frau bin« 21 und findet sich auch in anderen biographischen Interviews, in welchen betont wird, dass die Studierenden im VSSTÖ ihre Einstellung gegenüber Frauen lange vor der Gesellschaft geändert hätten. 22 Generell kann bezüglich einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit festgestellt werden, dass um <?page no="261"?> 262 Karin M. Schmidlechner 1968 dafür in Graz noch kaum Interesse bestand, was auch von ZeitzeugInnen bestätigt wird. 23 Sich mit der Frauenfrage zu beschäftigen, war für die damalige Zeit in Graz noch etwas Neues und unüblich. Im privaten Rahmen war Frauenemanzipation damals aber durchaus ein Thema. »Die Gleichberechtigung der Frau war von Anfang an ein Thema [in der ›Aktion‹] … Die Frauen waren alle in der Emanzipationsbewegung, während die Männer noch in den alten Strukturen gesteckt sind [...]« 24 Ebenso gab es Bestrebungen, traditionelle Geschlechterrollen in der eigenen Beziehung zu verändern: »Die H. und ich haben damals eine sehr theoretisch konzipierte Ehe geführt. Das betrifft zum Beispiel das mathematisch durchgecheckte »Halbe, halbe« in der Kindererziehung. Als dann die Entscheidung fallen musste, wer macht als erster [sein Studium] fertig, um Geld zu verdienen, um die Familie erhalten zu können, fiel die Entscheidung auf mich, weil ich knapper dran war als sie. Und das hat natürlich auch Folgen gehabt. Zweites Kapitel Tabubruch: Es gab überhaupt nichts, was wir übernommen haben, alles wurde hinterfragt und in Frage gestellt unter dem Titel ›kein Besitzanspruch‹. Das ging soweit, dass die Formulierung ›meine Frau‹ schon gefährlich war, weil in ›mein‹ ist Besitzanspruch. Wir sind miteinander verheiratet. Das ging.« 25 »[H. ...] hat den Frauen immer gesagt, sie dürfen sich das nicht gefallen lassen, die Rollenverteilung muss eine andere werden. In Wirklichkeit sind wir an unserem eigenen Modell gescheitert. Der Versuch jetzt und hier die Utopie zu verwirklichen, ist normalerweise mit einem Rückschlag verbunden. Wir haben uns überfordert.« 26 Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, führte 1968 in Verbindung mit einem breiten gesellschaftlichen Trend der Liberalisierung, Demokratisierung und Pluralisierung der Gesellschaft, an welchem auch die unter Bundeskanzler Bruno Kreisky ab 1970/ 71 durchgeführten gesetzlichen Reformen beträchtlichen Anteil hatten 27 - auch zur Erprobung alternativer Lebensstile, Umgangs- und Ausdrucksformen sowie neuer Beziehungs- und Wohnmuster 28 und auch zu einer grundsätzlich kritischen Haltung gegen das »Establishment«, gegen die patriarchalische Familie, gegen die hierarchische Kirche, gegen die Herrschaft der Ordinarien: »Es gab zwar diese Hippiebewegungen, aber es hat trotzdem eine andere Richtung gehabt. Eher in Richtung anderes Leben und so. Und es gibt etwas, was aus der 68er Bewegung am spannendsten ist, meiner Meinung nach. Das sind die Auswirkungen, die es auf die gesellschaftlichen Beziehungen hatte. Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, zwischen Studierenden und Hochschulhierarchien, zwischen Männern und Frauen, auch im Bereich der Sexualität. Es war eine Bewegung, die eine Befreiung gebracht hat in so vielen Teilbereichen, Musik, also eine Öffnung <?page no="262"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 263 auch in die verschiedensten Richtungen. Und was es nicht gab, was für mich heute so stark da ist, es gab nicht dieses Eingebundensein in totale Kompromisszwänge.« 29 Jugendkulturen Im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklungen konnte sich auch eine neue Jugendkultur entwickeln. 30 In einer Ende des Jahres 1971 vom Fessel- Institut durchgeführten Jugenduntersuchung wird das Erscheinungsbild der ihr angehörenden Jugendlichen durch moderne Kleidung und Frisur als Ausdruck einer eigenständigen Geisteshaltung charakterisiert. Weiters wird eine größere Unabhängigkeit von Autoritäten sowie die Bereitschaft, sich über Normen hinwegzusetzen, festgestellt. Altes Denken und Traditionen sollten überwunden werden, Demokratie und Transparenz das Schweigen der Elterngeneration bezüglich Sexualität oder der unverarbeiteten Vergangenheit auflösen. 31 Für die Steiermark ist festzustellen, dass diese gegenkulturellen Modelle nicht nur in Graz Anklang fanden, sondern dass auch in der Provinz eine kulturelle und politische Mobilisierung erfolgte, d. h., dass Jugendliche auch dort alternative Lebensmodelle erprobten. 32 Wie viele Mädchen in der Steiermark zu dieser neuen Jugendkultur gezählt werden können, ist quantitativ nicht mehr nachvollziehbar. Biographischen Erinnerungen von damals jungen Männern zufolge bestanden die Gruppen der jugendlichen »Revolutionäre« überwiegend aus Burschen, Mädchen seien in der Regel nur als Freundinnen von männlichen Jugendlichen integriert worden. 33 Aus vielen Zeitzeuginneninterviews ergibt sich jedoch, dass auch etliche Mädchen - wobei darauf hinzuweisen ist, dass bezüglich ihres Herkunftsmilieus eine breite Streuung festgestellt werden kann - wenn auch in einer geringeren Zahl als Jungen, damals ihren Protest artikulierten, dabei auch die Geschlechterrollenverteilung kritisierten, was wiederum viele junge Männer verunsicherte. 34 Die Neue Frauenbewegung Wie schon erwähnt, wird die 1968er-Bewegung häufig mit der Formierung der sogenannten ›neuen‹ sozialen Bewegungen, dabei ist insbesondere die Umweltbewegung von Relevanz, in Verbindung gebracht. 35 Für Graz sei hier diesbezüglich darauf hingewiesen, dass die Ereignisse um 1968 nicht nur einen maßgeblichen Anteil an der späteren Etablierung der grün-alternativen Bewegung in Graz hatten, sondern auch dazu beitru- <?page no="263"?> 264 Karin M. Schmidlechner gen, dass sich in Graz in den folgenden Jahren besonders viele spontane Bürgerbewegungen bildeten. 36 Als Folge der studentischen Proteste um 1968 kam es auch zu einer Rebellion von - meistens - Studentinnen, in welcher hauptsächlich die Machtverhältnisse in den Geschlechterbeziehungen hinterfragt wurden. 1968 gilt somit als wichtiges Schlüsseljahr für das Entstehen der feministischen Frauenbewegung. 37 In die erste Phase dieser neuen Frauenbewegung, die von einer »emotionalen Betroffenheitsrhetorik« 38 geprägt war, fiel die Gründung von subkulturellen Formen der Organisation, wie etwa Zeitschriften, Frauencafés und Frauenbuchläden. In diese Phase fällt auch der Diskurs über den weiblichen Körper, in dessen Folge es zu ersten spektakuläre Aktionen, die gegen den §144, das Abtreibungsverbot gerichtet waren, kam. 39 In der nächsten Phase der Frauenbewegung wurde dann das Thema »Gewalt gegen Frauen« in den Mittelpunkt gestellt, wobei nicht nur die brutale physische Gewalt der Männer gegen die Frauen, sondern auch die psychische Gewalt thematisiert wurde. Als Resultat kam es zur Errichtung von Frauenhäusern. In den 1980er Jahren erfolgten weitere politische und rechtliche Veränderungen, darunter die Einsetzung von Frauenbeauftragten und Gleichbehandlungskommissionen und die Einführung der Quotenregelung. 40 In der Steiermark hat die neue Frauenbewegung relativ spät und dabei hauptsächlich auf Graz konzentriert, ihren Niederschlag gefunden. Hier kam es erst im Jahre 1973 zur Gründung der autonomen Frauenbewegung (AUF), in der sich vor allem viele junge Frauen in den verschiedenen Alternativgruppen engagiert und dort auch großen Einfluss gewonnen haben. Die von dieser autonomen Frauenbewegung gegründeten Vereine hatten zunächst primär das Ziel, die Veränderung der patriarchalischen Gesellschaft hin zu einer partnerschaftlichen zu erreichen. 41 Eine dieser Organisationen war das im Jahre 1977 gegründete Frauenzentrum Graz. Seine Mitglieder waren hauptsächlich Studentinnen, die sich bewusst als Feministinnen bezeichneten und autonom von Parteien, Kirchen und Gewerkschaften sein wollten. Der Tätigkeitsbereich des Frauenzentrums lag in der Herausgabe von Informationsschriften zu aktuellen Themen wie Abtreibung sowie der Organisation von Veranstaltungen, Seminaren und Demonstrationen. Im selben Jahr gründeten Mitglieder des Frauenzentrums auch das ÖH-Frauenreferat, mit dem eine enge Kooperation bestand. Das Frauenzentrum bestand bis 1981, die Nachfolgeorganisation »Das Frauencafe« von 1981 bis 1983. 42 In dieser Zeit hatten die theoretischen Konzeptionen über die Veränderung der Gesellschaft eher an Bedeutung verloren. Nun kam es zur Gründung mehrerer spezialisierter Frauenprojekte, darunter das Frauenhaus, welches 1981 und der Notruf für vergewaltigte Frauen, welcher 1983 eingerichtet wurde. 43 1984 entstand <?page no="264"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 265 die Frauenberatungsstelle, 1986 der Verein autonomes Frauenzentrum Graz. Im selben Jahr kam es auch zur Installierung der Stelle einer Grazer Frauenbeauftragten. 44 Ein Jahr später wurde der Grazer Frauenreferat, in dem sich unabhängige Grazer Frauengruppen und Vereine zur Vertretung der Interessen von Grazer Frauen zusammenschlossen, gegründet. Dabei handelte es sich um eine für Österreich einzigartige Initiative, die bis zur Gegenwart Bestand hat. Hinzu kamen dann die Fraueninitiative Fabrik, welche von 1987 bis 1993 bestand, das Frauendokumentations-, Forschungs- und Bildungszentrum im Jahre 1989, Mafalda, eine Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen im Jahre 1990, Danaida, ein Verein für ausländische Frauen, 1991 und das Frauengesundheitszentrum im Jahre 1993. 45 Der Beginn der achtziger Jahre markiert auch die Anfangsphase der Bemühungen an der Grazer Universität, feministische und frauenspezifische Lehre und Forschung zu verankern. Ausschlaggebend dafür war neben dem Einfluss der internationalen Situation, vor allem das Engagement und die Kooperation einzelner Wissenschaftlerinnen für die Grazer Frauenbewegung 46 , wobei kein Zweifel daran besteht, dass dieses Engagement entscheidend dazu beitrug, dass sich in den folgenden Jahren frauenspezifische Lehre und Forschung auch an der Grazer Universität etablieren konnte. Hier ist aber auch darauf hinzuweisen, dass auch immer mehr Studentinnen hohes Engagement in Bezug auf die Frauen- und Geschlechterthematik entwickelten. 47 Die späteren Auswirkungen von 1968 zeigen sich aber nicht nur auf institutioneller Ebene, sondern vielfach auch in individuellen Lebensentwürfen von Frauen, wie die folgenden Auszüge von Zeitzeuginneninterviews zeigen. 48 Grete S., geboren 1934: »Zwei Jahre nachdem Alice Schwarzer die ›Emma‹ gegründet hat, ist in Österreich auch was passiert. Vor allem die Abtreibungsfrage war wichtig. Die Urania 49 hat beschlossen, sie müsse auch was dazu machen, ›Emanzipation konkret‹, für Männer und Frauen offen. Dieses Thema lag in der Luft, auch die Zeitungen haben darüber geschrieben. Aber die Urania war ja eine Männergesellschaft. Männer haben Vorträge gehalten, Männer waren Professoren, Männer die Direktoren. Sie hatten niemanden dafür und haben dann an mich gedacht, da war ich mitten im Studium: Psychologie und Soziologie. Ich habe gesagt: ›Ich habe keine Ahnung von Frauenfragen. Interessiert mich auch nicht.‹ Mit ist es ja immer so gut gegangen mit Männern. Ich habe mich gut durchsetzen können. Aber ich habe gewusst, dass es eine Frauengruppe in der Bergmanngasse gibt, da waren VSStÖ-Leute und Kommunistinnen dabei und die waren ziem- <?page no="265"?> 266 Karin M. Schmidlechner lich radikal. Ich wollte diese Vorträge nicht unvorbereitet halten. Ich habe dann zu den Frauen dort gesagt: › Macht’s ihr die ersten fünf Vorträge, zu unterschiedlichen Themen.‹ Und so ist ›Emanzipation konkret‹ entstanden. Ich habe mich dann mit der Geschichte der Frauenbewegung beschäftigt, weil ich die Vorträge moderiert habe. Und dann habe ich das Thema Frauenhaus, beziehungsweise Gewalt gegen Frauen vorgeschlagen in dieser Gruppe, und wir haben gemeinsam ein Konzept entworfen und Leute aus Wien und Deutschland dazu eingeladen. Es war in unseren Arbeitskreisen ein gutes Arbeitsverhältnis zwischen all den Frauen aus den unterschiedlichen Bereichen.« 50 Irene W., geboren 1948: »Ich war ein renitentes Kind. Ich habe mich immer schon unbewusst gegen diese Mädchenrolle, die seinerzeit natürlich auch schon präsent war in der Gesellschaft, gewehrt. Ich war ein zartes, dünnes, blondes Mädchen, und darum wurde erwartet, dass ich brav bin. Ich war aber nicht brav. [An der Schule] war die damalige Kleiderordnung so streng, dass ein Konferenzbeschluss nötig war, damit die zwei Frauen, die wir gehabt haben an der Schule, die schrecklichen Keilhosen tragen durften. Schminken war auch tabu. [...] Es war furchtbar! Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Da ärgere ich mich schon sehr, wenn ich mir denke, dass viele Frauen gar nicht wissen, was wir alles erst erkämpfen haben müssen. Allein in ein Lokal zu gehen, wäre völlig ausgeschlossen gewesen. Und wenn du mit Burschen zusammen warst, hast’ schon einen schlechten Ruf gehabt. [...] Das erste wirklich feministische Buch, das ich bewusst gelesen habe, war von Marilyn French: ›Frauen‹. Das ist 1977 herausgekommen. Das habe ich das erste Mal bewusst politisch gelesen. Und alle meine Freundinnen, die damals in derselben Situation wie ich waren - verheiratet und den Beruf unterbrochen - haben ganz viel diskutiert, ganz viel... und haben angefangen nachzudenken, darüber, was jetzt anders werden muss [...]. Dann die Anfänge der Johanna Dohnal, der ersten Frauenministerin, erste Berührungen mit all diesen Themen, die sie behandelt hat [...] Und später, durch die Kinder - also 1978 habe ich das erste Kind gekriegt - da habe ich es dann am eigenen Leib erlebt, was es heißt, isoliert zu sein mit einem Kleinkind und gleich das zweite Kleinkind zu haben, wie ausgeschlossen du dann aus dem gesellschaftlichen Leben bist, wie wenig Chance du hast. [...] Und da habe ich mich politisch zu engagieren begonnen, bei den Grünen. Ich bin dann zur Gründungsversammlung 1981 gegangen und dort bin ich dann geblieben. Ich habe mir gedacht, dass die Frauenfrage dort ja gelöst sein wird, war sie aber natürlich nicht... Der <?page no="266"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 267 Anspruch, dass alle alles gleich könnten, war da. Alle können gleich. Natürlich hast du schnell einmal gemerkt, dass nicht alle gleich sind. Am Anfang war ich sehr verwundert, dass so wenig Frauen dort waren, weil ich mir gedacht, habe, dass, wenn ich Frauenfrage wo geklärt wäre, dann bei den Grünen. Ich bin da hingekommen und habe mir gedacht, dort werde ich jetzt lauter gleichgesinnten Frauen begegnen und werde überhaupt kein Problem haben, mich da einzubringen. Aber das war nicht so. Es waren wirklich wenige Frauen dort. Ich hab da auch gefragt, und dann sind auch lauter Antworten gekommen wie: ›Meine Frau will ja nicht, die muss ja zuhause bei den Kindern sein.‹ Da habe ich mir gedacht: ›Na hoppala‹. Und das war für mich ein Ansporn, Frauen mehr zu ermutigen.« 51 Anni F., geboren 1953: »Ich bin in H. geboren, in der Oststeiermark, in der tiefsten Oststeiermark. Nach der Matura wollte ich ein Jahr aussetzen und herumreisen. Und ich habe schon früher davon geträumt. Also mein Gott, wann war das? 1969, da war ich also sechzehn Jahre alt, und über das Radio habe ich von Woodstock gehört und mir gedacht: ›Genau das ist es. Solche Dinge werde ich machen.‹ Ich habe sie nicht gemacht. [...] Für das Studium bin ich nach Graz gegangen. Das Leben in Graz war viel freier. Wobei, was ist frei? ... Am Ende des Studiums, am Beginn der Arbeit, habe ich mich sehr mit dem Thema ›Dritte Welt‹ beschäftigt. Das hat mich sehr interessiert und ich habe bei Gelegenheit ein bisschen hinein geschnuppert und mitgearbeitet. […] Wir haben von einer besseren Welt geredet und Möglichkeiten diskutiert und ja, auch viel gelesen, Veranstaltungen besucht. Über die Befreiung der Länder der ›Dritten Welt‹ kommst du automatisch auch auf die Befreiung der Frau, zu Frauenthemen. Wir haben dann einen Spanischkurs gemacht und wollten auch - manche sind eh gefahren - nach Nicaragua. Ich konnte nicht, weil ich schwanger geworden bin. Ja, und da kommst du so, aber nicht so extrem, nur so ein bisschen, in eine Situation, in der du dich ausgebeutet fühlst. Da habe ich mir schon gedacht: ›Da liest du so eine Literatur und siehst deine eigene Situation überhaupt nicht [...].‹« 52 Ingrid F., geboren 1954: »Ich bin in Vorau, Bezirk Hartberg, geboren. Ich habe einen zwei Jahre jüngeren Bruder. Mein Vater war KFZ Mechanikermeister und die Mutter Volksschullehrerin. Die Rollenverteilung zuhause war traditionell. Ich wurde schon dazu angehalten, der Mutter bei der Hausarbeit zu helfen. Aber die hatte Verständnis, wenn ich gerade ein spannendes Buch gelesen und nichts ge- <?page no="267"?> 268 Karin M. Schmidlechner hört habe. Mit zwölf Jahren ungefähr haben Konflikte mit meiner Mutter begonnen, weil ich die Pflichten in der Hausarbeit ungerecht und unfair empfunden habe.... Ich kann mich erinnern, dass wir in der Hauptschule einmal einen Aufsatz schreiben mussten zum Thema ›Wär ich lieber ein Bub oder ein Mädchen‹. Ich habe geschrieben, ich wäre lieber ein Bub, weil die keine Hausarbeit machen müssen. Ich habe mich aber erst viel später im Zusammenhang mit Frauengruppen auf der Uni mehr damit auseinander gesetzt und mich auch an den Aufsatz erinnert. Ich habe mir als Kind auch keine Gedanken über ›Familie‹ oder was später kommt, gemacht [...]. Mein feministisches Interesse wurde auch durch [... meinen] Freund geweckt, weil er ›Courage‹ und ›Emma‹ abonniert hatte und Feminist war. Wir waren damals gemeinsam in Salzburg auf einem Kongress, Arbeitskreis Antipsychiatrie, wo es ein Angebot für eine Frauengruppe gegeben hat, und da habe ich mir gedacht: ›Jetzt! ‹ Zusammen mit einer Freundin habe ich beschlossen, in Graz eine Frauengruppe zu machen. Damals gab es auf der Uni kaum Professorinnen und Assistentinnen. Studentinnen gab es in Psychologie auch damals schon viele, aber geredet haben in den Seminaren häufig nur die Männer. Die Frauengruppe auf der Uni haben wir 1981/ 82 begonnen. Wir haben Demonstrationen und Aktionen organisiert zu Themen, die größtenteils heute noch aktuell sind: Abtreibung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Zugang von Frauen zu allen Berufen und Positionen, Karenzgeld für Studentinnen, Verhütungsmittel, Sterilisation auf Krankenschein, Änderung des Homosexuellen Paragraphen, Friedenssicherung, Engagement gegen Neonazis. Ich habe dann auch auf der ÖH als Frauenreferentin kandidiert. Davor gab es eine Referentin von der ÖVP, die nur Kochkurse angeboten hat. Es gab eine Art Hearing vom Vorsitz und da wurde ich gefragt, ob ich vor habe Frauenfeste zu machen, wo Männer ausgeschlossen würden. Ich habe geantwortet: ›Ja, sicher‹. Aber das klang in deren Ohren irgendwie bedrohlich. Bei einer Aktion ist die Frauengruppe zum Beispiel mit Fotoapparaten durch die Uni gezogen um ›die Frauen auf der Uni‹ zu dokumentieren. Da hatten die Männer auch Angst auch irgendeinem Grund. Bei dieser Uni Frauengruppe waren wir zehn bis zwölf Frauen, aber es gab noch andere Gruppen, wie die Trotzkistinnen und eine Selbsterfahrungsgruppe. Wir haben da zum Beispiel die Frage diskutiert, ob alle Menschen von Geburt an gleich sind - das war unsere Meinung - oder ob ›Frauen besser sind‹, diesen Ansatz gab und gibt es ja auch. Für uns war klar, dass man bei der Erziehung ansetzen muss, weil wir zum größten Teil Psychologinnen und Pädagoginnen waren. Ich war ungefähr bis 1984 Frauenreferentin. Bei den Frauenfesten und Demos waren Männer ausgeschlossen, weil wir gesehen und gewusst <?page no="268"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 269 haben, dass die Frauen bei den Linken oft nur die Hilfsdienste gemacht haben. Und wir wollten alles selbst machen. Bei der Demonstration 1983 waren schon auch Männer, weil da zur gleichen Zeit der Kongress der Kritischen Psychologie stattgefunden hat. Es war eine riesige und lustige Demo mit ein-, zweihundert Leuten. Wir haben oft versucht, andere Verbündete zu finden, wie zum Beispiel die Gewerkschaften und die SPÖ- Frauen [...]« 53 Ilse W., geboren 1957: »Es war ein Buch. Mit fünfundzwanzig habe ich es gelesen: ›Das Zweite Geschlecht‹ von Simone de Beauvoir, und das hat mich einfach nachhaltig beeinflusst. Es hat mich zutiefst erschüttert und beeinflusst. Es war eines der wichtigen Bücher, das ich von vorn bis hinten gelesen habe, wo mein Unbehagen in der Gesellschaft einen Spiegel gefunden hat. Ich habe Geschichte studiert und war eine begeisterte Studentin. Um Frauengeschichten habe ich mich eigentlich nicht gekümmert. Ich habe schon mitbekommen, dass Frauengeschichte fehlt, aber ich habe mich davon nicht betroffen gefühlt. Und wie ich das Buch in die Hand gekriegt und gelesen habe, hat es mein Weltbild verändert und es hat meinen Bezug zur Geschichte verändert. Es hat mich überhaupt verändert, würde ich sagen, ziemlich auf allen Ebenen [...]« 54 Doris K., geboren 1966 »Geboren bin ich in Bruck an der Mur und aufgewachsen in Leoben. [...] Ich war immer in Jugendorganisationen politisch aktiv und mein politisches Engagement war immer ein ganz starker Aspekt. Ich war bei den ›Kinderfreunden‹ und den ›Roten Falken‹, da gab es politische Diskussionen und Auseinandersetzungen, wichtige Themen waren Kinderrechte und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Auch später bei einem meiner ersten Jobs in der kommunalen Beratungsstelle für Kinder- und Jugendinitiativen ist es um die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen am kommunalen Geschehen gegangen. Ich denke, dass ich schon von jung an einen Drang gehabt habe, die Welt zu verändern und besser zu machen. In jüngeren Jahren war das natürlich ein naiverer Zugang. Das war die Zeit von Abrüstung und Kaltem Krieg. Da hatte ich durchaus die Vorstellung, wenn wir genug Leute davon überzeugen auf die Straße zu gehen, dann werden wir das verhindern. Und außerdem glaube ich, dass ich ein sehr ideologischer Mensch bin. [...] Ich war als Kind ganz viel mit Jungs zusammen, in Banden, und alles was die Jungs gemacht haben, habe ich auch gemacht. Ich habe in der Band gespielt, ich bin Motorrad gefahren und hatte den Ruf: ›Das ist eine Narrische‹. Sie haben es zwar alle hingenommen, aber ich habe gespürt, dass es irgendwie nicht passend ist. <?page no="269"?> 270 Karin M. Schmidlechner Als ich nach Graz gekommen bin und Kontakt zur Frauenszene bekommen habe, war ich im DOKU in der Elisabethstraße, und bin dort fast niedergebrochen vor Ehrfurcht. Es war eine ›Wow‹-Erfahrung: Das, was ich spüre und mir denke, denken auch andere Frauen und das hat einen Namen: Feminismus. Das war die erste Möglichkeit, das zu artikulieren. [...] Ich habe mich ab dem Zeitpunkt, wo ich das Wort Feminismus kannte, als Feministin definiert. Für mich hat ›Feministin-Sein‹ immer bedeutet, mir bei allem was ich tue, arbeite, lese, denke oder mache, zu überlegen, ob das für Frauen anders ist als für Männer.« 55 Daniela J., geboren 1974 »Ich bin in Graz geboren, aber aufgewachsen circa fünfundzwanzig Kilometer südwestlich von Graz, in Preding, im südweststeirischen Hügelland. [...] Mein Vater wollte, seit ich denken kann, dass ich in Preding zur Hauptschule gehe, einen Nachbarbuben heirate und Köchin werde, weil ich ja so gut kochen kann. Er war dann sehr enttäuscht darüber, dass ich in Graz zur Schule gegangen bin. Ich bin dabei von meiner Volksschuldirektorin, meiner Mutter und meiner Oma unterstützt worden. Diese patriarchale Haltung vom Vater hat sehr viel dazu beigetragen, dass ich mich mit dreizehn, vierzehn, also ungewöhnlich früh, glaube ich, für Frauenthemen interessiert habe, für die Frauenbefreiung. Mit vierzehn malte ich mein erstes Frauenzeichen mit rotem Autolack-Riesenfrauenzeichen. Und bei meinem ersten Vortrag in der Frauenberatungsstelle über Pornographie war ich fünfzehn. So hat das damals begonnen. Eine Zeit lang habe ich mir gedacht, ich würde gerne Politikerin werden, so in der Berufsfindungsphase, und es war auch früh klar, mit fünfzehn, sechzehn, dass ich Sozialarbeiterin werden wollte. Im Gymnasium in der Oberstufe war ich immer schon die Emanze und habe mich als Frauenrechtlerin geoutet. ›Kastration! ‹, war mein Schlachtruf, für den ich bekannt war. .[…]« 56 Daniela K., geboren 1975: »Nach der Matura begann ich Psychologie zu studieren, weil es das Fach war, das mich in den letzten Schuljahren am meisten interessiert hatte. [...] Ich hatte keine konkreten Vorstellungen oder einen Lebensplan. Das Konkreteste war meine damalige Beziehung. Ich war mit einem Mann zusammen, der um einiges älter war als ich und der mich sehr geprägt hat. Er war der erste Linke, den ich kennengelernt habe. Er hat den Lebensstil verkörpert, der mich angezogen hat, von 1968 geprägt. Er war ein sehr außergewöhnlicher Mann, unsere Beziehung dauerte fünf Jahre lang. Unser Kontakt ist bis heute sehr herzlich. Er hat mich auch mit der Frauenbewegung in Kontakt gebracht, hat mir Bücher von Alice Schwarzer und Simone de Beauvoir und anderen zu lesen gegeben. Ich habe das alles ver- <?page no="270"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 271 schlungen. Er ermutigte mich, mit der Pille aufzuhören und mich nicht dem Schönheitsideal zu unterwerden. Ich habe aber keinen konkreten Entwurf gehabt, wie ich später leben möchte. Ich bin voll darin aufgegangen, alles aufzusaugen, was mich weiter brauchte. [...] Ich bin auf Demos gegangen, war in einer Plattform gegen BettlerInnengesetze engagiert und habe mit Freundinnen gemeinsam eine Frauengruppe gegründet: ›Frauen organisieren Radikale Therapie‹. [...] Und das war wie eine kleine Frauenbewegung [...] Ich hatte das Gefühlt, wir kriegen ein bisschen was von diesem Geschmack, obwohl es das Jahr 1997 war.« 57 Schlussbetrachtung Bei einer generalisierenden Betrachtung der strukturellen Entwicklung der neuen Frauenbewegung in Graz sowie der biographischen Auszüge jener Frauen, die sich in Graz nicht nur zum Feminismus bekannten, sondern in einigen Fällen auch entscheidenden Anteil an der Entstehung und Entwicklung dieser Frauenbewegung hatten, lässt sich feststellen, dass die mit der Zeit um 1968 verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen - wobei der Anteil der lokalen Ereignisse nicht genau eruiert werden kann - nachdrücklichen Einfluss einerseits auf diese strukturelle Herausbildung und andererseits auf die Sozialisation der Zeitzeuginnen, die teilweise schon vor ihrem Engagement für die Frauenbewegung Sensibilitäten gegenüber Ungerechtigkeit generell und gegen ungleiche Behandlung von Frauen und Männern entwickelt hatten und aktiv wurden, hatten. 58 <?page no="271"?> 272 Karin M. Schmidlechner Anmerkungen 1 Eine überarbeitete Version dieses Beitrages wurde bereits veröffentlicht. Siehe: Karin M. Schmidlechner, Protest in der Provinz.1968 und die Folgen mit besonderer Berücksichtigung der Geschlechterthematik in der Steiermark, in Alfred Ableitinger (Hg.), Licence to detect, Graz 2013. 2 Nicht nur in den USA, sondern weltweit kam es 1968 und in den Jahren zuvor zu Demonstrationen, v. a. von StudentInnen gegen den Vietnamkrieg. Zu den punktuellen »denkwürdigen« Ereignissen von 1968 gehören der 4. April, an dem der US-Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King in Memphis erschossen wurde, was im ganzen Land Proteste auslöste, bei denen 39 Menschen ums Leben kamen, der 5. Juni, an dem auf den amerikanischen Justizminister und Bruder des ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, Robert Kennedy, ein Attentat mit tödlichen Folgen verübt wurde, aber auch der Einmarsch sowjetischer Soldaten in der Nacht vom 20. auf den 21. August in die Tschechoslowakei, womit das »Prager Frühling« genannte Reformprojekt des Parteichefs Alexander Dubcek beendet wurde. Vgl., Forum Politische Bildung, Hg., Wendepunkte und Kontinuitäten. Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte, Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck u. Wien, 1998, 140-162. (www. politischebildung.com, 19.9.2013). 3 Dazu zählt die am 7. Juni 1968 an der Wiener Universität organisierte Aktion »Kunst und Revolution«, die später als »Uni-Ferkelei« bezeichnet wurde, große Empörung in der Gesellschaft hervorrief und zur Verhaftung einiger Beteiligter führte, darunter der heute weltweit anerkannte Künstler Günther Brus. Ebda. 4 Vgl. Karl Vocelka, Die Studentenrevolte 1968, in: Oliver Rathkolb/ Friedrich Stadler, Das Jahr 1968. Ereignis, Symbol, Chiffre, Wien 2010, 218. 5 Vgl. Wendepunkte und Kontinuitäten. 6 Ingrid Bauer, 1968 und die sex(ual) & gender revolution. Trasformations - und Konfliktzone: Geschlechterverhältnisse, in: Rathkolb/ Stadler, Das Jahr 1968,181. 7 Hinzuweisen ist diesbezüglich auf eine Diplomarbeit, die sich speziell mit dem Jahr 1968 in Graz auseinandersetzt. Siehe: 1968 - Jahre des Protests : die österreichische Studentenbewegung und das Grazer ‚68, phil. Diplomarbeit, Graz 2004. Siehe auch: Elisabeth Welzig, Die 68er. Karrieren einer rebellischen Generation, Graz u. Wien 1985. In Bezug auf die geschlechterspezifische Komponente siehe: Schmidlechner, Protest in der Provinz. Bereits vor einigen Jahren wurden einige Arbeiten, die sich mit der Gründung und Entwicklung von frauenspezifischen Vereinen und Initiativen, die auf die Aktivitäten von Vertreterinnen der unabhängigen Frauenbewegung zurückgehen, sowie deren daraus resultierenden längerfristige Nachwirkungen, auseinandersetzen, verfasst: Eva-Maria Gosch, Der internationale Frauentag in Graz. Kulturwissenschaftliche Betrachtung eines Welttages im Mikrokosmos von 1980 bis 2000, phil. Diplomarbeit, Universität Graz 2002; Karin M. Schmidlechner, Vom Männerbund zum Frauenverein? Überlegungen zur Geschlechtergerechtigkeit an der Universität Graz, in: Sonja Gögele, Hg., Gleichstellung in Technik, Wissenschaft und Lehre, Graz 2007, 55-81; Ilse Wieser, Empörung lag in der Luft. Das erste Grazer Frauenzentrum in der Bergmanngasse 6 (1977-1981), in: Carmen Unterholzer/ Ilse Wieser, Hg., Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgeschichte der Grazer Frauen. (= Reihe Dokumentation; Bd. 15), Wien 1996, 259-274. 8 Vgl. Pöttler, 1968-Jahre des Protests,13. 9 Vgl. Ebda,31. 10 Andere bürgerliche Gruppen hatten nur Ansätze zur Reform oder wollten überhaupt den Status quo erhalten. <?page no="272"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 273 11 Die Linksorientierung des VSSTÖ führte im Mai 1968 zu einem Bruch mit der Landes- SPÖ, der erst Monate später durch eine personelle Erneuerung gekittet wurde. Siehe: Ebda,87. 12 Diese Gruppierungen sind im Vergleich zu Wien aber bedeutend kleiner und auch in ihrem Wirkungsradius relativ begrenzt geblieben. Trotzdem zählen gerade die AktivistInnen des linken Spektrums zu den Grazer 68ern. Hans-Peter Weingand/ Werner Winkler, Diese Welt muß unser sein. Die sozialistischen Studierenden in Graz 1919-1991, Graz 1992. 13 Ebda, 208. 14 Vgl. Pöttler, 1968-Jahre des Protests,32. 15 Dazu siehe Anmerkung 2. 16 Siehe: Pöttler, 1968 - Jahre des Protests,106-109. 17 Vgl. Welzig, Die 68er, 112-121. 18 Zu einer deutlichen Erhöhung zunächst zumindest des Anteils von Studentinnen an der Universität Graz kam es in den 1970er Jahren, verursacht v. a. durch die damals einsetzende sozialdemokratische Bildungsoffensive, die eigentlich initiiert worden war, um Kindern aus den einkommensschwächeren Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, tatsächlich jedoch in erster Linie Mädchen aus der Mittelschicht an die höheren Schulen und Universitäten brachte. Dies ist deutlich zu sehen, sowohl an den Zahlen der Maturantinnen, die gesamtösterreichisch zwischen 1973 und 1979 um 61% zugenommen haben, als auch an den der Studentinnen. Betrug der Frauenanteil an allen steirischen Universitäten im Jahr 1970/ 71 26,4% (6.391) war er 10 Jahre später auf 39,6% (16.106) angewachsen. 1990 lag er bei 45,1%, zehn Jahre später bei 49,1%. Für die Grazer Uni lag der Wert im Studienjahr 1998/ 99 bei 56,94%. In derselben Zeit stieg auch der Anteil der an den Universitäten beschäftigten Frauen. Insgesamt waren 1980 13, 2% verzeichnet, bei den Professuren war mit 2,2% allerdings noch keine Bewegung nach oben eingetreten. Vgl. Karin Schmidlechner-Lienhart, Gleichbehandlung im Hochschulbereich am Besipel von Frauen, in: Manfred Prischnig, Hg., Gleichbehandlung im Hochschulbereich, Wien 2008, 113- 131; Pöttler, 1968 - Jahre des Protests,134; Trautl Brandstaller, Frauen in Österreich. Bilanz und Ausblick, Wien 1981, 24. 19 Neben einer Studentin von der »Aktion«, die als ÖH Referentin für Kultur fungierte, gab es noch eine dem VSSTÖ angehörende Aktivistin, die in den sechziger Jahren für das Referat »Politische Bildung« an der ÖH der Grazer Universität zuständig war. Vgl. Welzig, Die 68er, 113. 20 Interview mit Helmut Strobl, zit. nach: Pöttler, 1968 - Jahre des Protests,158-160. 21 Elisabeth Welzig, Die 68er, 113. 22 Allerdings wurden noch in den 60er Jahren in den sozialistischen Studentenheimen von Graz keine Studentinnen aufgenommen, damit sie die Studenten nicht beim Studieren störten Vgl. Interview mit Herbert Sebastian, zit. nach: Pöttler, 1968 - Jahre des Protests,68ff. 23 Vgl. Welzig, Die 68er, 113. 24 Ebda, 114. 25 Interview mit Helmut Strobl, zit. nach: Pöttler, 1968 - Jahre des Protests,158-160. 26 Welzig, Die 68er, 114. 27 Vgl. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (= Österreichische Geschichte; Bd. 1890-1990), Wien 2005, 456ff; Kurt Luger, Die Konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur 1945-1990, Wien u.a. 1991, 225, zit. nach: Ed Hauswirth u. Karl Stocker, Absolutely free. Der Woodstockeffekt, Graz 2009, 224. 28 Ingrid Bauer, 1968 und die sex(ual) & gender revolution. Trasformations- und Konfliktzone: Geschlechterverhältnisse, in: Rathkolb/ Stadler, Das Jahr 1968, 163-187. <?page no="273"?> 274 Karin M. Schmidlechner 29 Es gab auch zu der Zeit kein Engagement in Wirklichkeit in Richtung Ökologie. Vgl. Welzig, Die 68er, 113. 30 Hanisch, Männlichkeiten., 256. 31 Luger, Die Konsumierte Rebellion, 223. 32 Als Beispiel dafür berichtet er über seine eigene Sozialisation in einer steirischen Kleinstadt. Als Lebensgefühl schildert er, dass die Jugendlichen sich nicht verstanden fühlten, eine Art Weltschmerz pflegten, der alle Bereiche des Lebens betraf. Eine Unzufriedenheit mit Eltern, Lehrern, Lehrherren und FreundInnen. Vgl. Karl Stocker, Wir wollten alles ganz anders machen. Die 68er Bewegung in der österreichischen Provinz. Ein Fallbeispiel, in: Reinhard Sieder/ Heinz Steinert/ Emmerich Talos, Hg., Österreich 1945-1995. Gesellschaft-Politik-Kultur, Wien 1995, 177. 33 Ebda, 179. 34 Mündliche Berichte u.a. von Monika K., Jg. 1954, Sylvia N., Jg 1954, Wanda O., geb.1954. Im Besitz der Autorin. Vgl. Stocker, Wir wollten alles ganz anders machen, 179f. Astrid Pazelt, Österreichische Mädchen in Familie, Schule und Gesellschaft, in: Jugendbericht 1, Wien 1981, 220. 35 Vgl. Kristina Schulz, Macht und Mythos von »1968«. Zur Bedeutung der 68er Protestbewegungen für die Formierung der neuen Frauenbewegung in Frankreich und Deutschland, in: Ingrid Gilcher-Holtey, Hg., 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt am Main 2008, 341-363. 37 Nachdem bei der Volksabstimmung über das AKW Zwentendorf am 5.11.1978 50,5% gegen die Inbetriebnahme des Kraftwerks gestimmt hatten, organisierten die »Erklärung von Graz« und die BürgerInneninitiative »Anti-AKW« am 11.12.1978 das erste österreichische Alternativentreffen in Graz. Drei Jahre später wurde die Alternative Liste Graz von 200 Interessierten gegründet. Zu dieser Zeit gab es in ganz Österreich nur in Baden bei Wien einen alternativen Gemeinderat und zwei Bürgerlisten-Mandatare in Salzburg. Die ALG bot unter ihrem Dach Platz für eine bunte Gruppe von Bürgerinitiativen, die etwa für den Ausbau von Radwegen und für die Zurückdrängung des Autoverkehrs eintraten. Den weitaus größeren Anteil machten Alternativbewegungen aus, die ökologische und sozialpolitische Anliegen vertraten, wie etwa die Anti-AKW-Gruppen oder Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen. Von 2008 bis 2012 waren die Grazer Grünen mit der Bürgermeister-Stellvertreterin erstmals in der Stadtregierung vertreten. Siehe: www.graz.gruene.at, 19.9.2013. 38 Zur neuen Frauenbewegung stellt Hanisch fest, dass sie zumindest im Westen den Frauen Zugang zu bislang abgeschlossenen Männerdomänen etwa in Politik, Wirtschaft, Sport, Kunstwissenschaft und Militär ermöglichte. Vgl. Hanisch, Männlichkeiten, 256. Siehe auch: Brigitte Geiger/ Hanna Hacker, Donauwalzer-Damenwahl: Frauenbewegte Zusammenhänge in Österreich, Wien 1979. 39 Hanisch, Männlichkeiten, 256. 40 Siehe: Maria Rösslhumer/ Birgit Appelt, Hauptsache Frauen, Politikerinnen der Zweiten Republik, Graz 2001. 40 Siehe: Karin M. Schmidlechner The Construction of Gender Roles, Gender Relations and Political Representation in Austria since 1945. In: Ann Katherine Isaacs (Ed.), Political systems and definitions of gender roles, Pisa 2001. 41 Siehe: Karin M. Schmidlechner, Frauenvereine in der Steiermark, in: Ludwig Kapfer, Hg., Common win organisations of Styria : eine Studie zur Zukunft von Vereinen, Verbänden und Organisationen in der Steiermark, Graz 2001. 42 Siehe: Wieser, Empörung lag in der Luft, 259-274. 43 1983 wurde vom Frauenreferat der ÖH eine Veranstaltung anlässlich des internationalen Frauentages organisiert. Diesem Komitee schlossen sich zunächst 10 Gruppen an. Vgl. Gosch, Der internationale Frauentag in Graz. <?page no="274"?> 1968 und die Neue Frauenbewegung in Graz 275 44 Erste Frauenbeauftragte war Grete Schurz, die zuvor an der Gründung des Grazer Frauenhauses beteiligt war, ebenso beim Verein Grazer Fraueninitiative und beim Notrufservice für vergewaltigte Frauen. 45 Mit diesen Projekten wurden von idealistischen und ambitionierten Frauen meistens unter sehr schlechten ökonomischen Bedingungen sehr wichtige und notwendige Serviceleistungen für Frauen erfüllt und damit Aufgaben übernommen, die eigentlich Angelegenheiten des Staates gewesen wären. Siehe: Schmidlechner, Frauenvereine in der Steiermark. 1991 wurde von einer autonomen Frauengruppe ein Haus besetzt, um es als Frauenzentrum zu nützen. Daraufhin wurde es polizeilich geräumt und abgerissen. Vgl. Wieser, Empörung lag in der Luft, 259-274. 46 Daraus entstand im Jahre 1985 die von an der Grazer Universität beschäftigten Wissenschafterinnen gegründete Projektgruppe »Interdisziplinäre Frauenstudien«. Eine ihrer ersten Aktionen war die Konzeption einer Ringvorlesung mit dem Rahmenthema »weiblicher Lebenszusammenhang und Wissenschaft«, um die Bandbreite der Frauenforschung an der Grazer Universität zu zeigen. Diese Ringvorlesung fand im Sommersemester 1986 statt und war ein großer Erfolg. Begeistert von der Aufbruchstimmung wurden auch in den folgenden Jahren solche Lehrveranstaltungen abgehalten, 1987 die Ringvorlesung »Kinder machen. Strategien weiblicher Fruchtbarkeit«, 1988 die Ringvorlesung »Die heilige Familie. Vom Sinn und Ansinnen einer Institution«, weiters ein Symposium und mehrere Seminare, die dann auch publiziert wurden. Vgl. Elisabeth List/ Gertrude Pauritsch, Projektgruppe »Interdisziplinäre Frauenstudien« an der Karl-Franzens-Universität Graz, in: Gertraud Seiser/ Eva Knollmayer, Hg., Von den Bemühungen der Frauen in der Wissenschaft Fuß zu fassen. Wien 1994, 187-196; Vgl. Beate Frakele, Hg., Über Frauenleben, Männerwelt und Wissenschaft, Wien 1987; Gertrude Pauritsch, Hg., Kinder machen. Strategien der Kontrolle weiblicher Fruchtbarkeit (= Reihe Frauenforschung; Bd. 6), Wien 1988; Gertrud Simon, Hg., Die heilige Familie. Vom Sinn und Ansinnen einer Institution (= Reihe Frauenforschung; Bd. 13), Wien 1990; Projektgruppe Interdisziplinäre Frauenforschung der Universität Graz, Hg., Paris-Milano-Graz. Feministische Konzepte in Entwicklung (=Reihe Dokumentation; Bd. 4), Wien 1991.Siehe: Schmidlechner, Vom Männerbund zum Frauenverein? 47 So verlangten VertreterInnen der ÖH soziale Einrichtungen für studierende Mütter wie Krabbel- und Wickelstuben und erstellten ein Curriculum für Frauenstudium. Siehe: Schmidlechner, Frauenvereine in der Steiermark. 48 Die folgenden Interviewauszüge stammen aus einem im Jahre 2008 durchgeführten Projekt des Grazer Dokumentationszentrums zur Geschichte der Frauenbewegung in Graz unter der wissenschaftlichen Leitung von Karin M. Schmidlechner. Bei den interviewten Frauen handelt es sich in der Mehrzahl um solche, die in der Grazer Frauenbewegung und den von dieser initiierten Frauenvereinen besonders aktiv waren. Die biographischen Schilderungen sind chronologisch geordnet, weil dadurch ein informatives Bild von der Entwicklung der Grazer Frauenbewegung entsteht. Siehe: Doku Graz, Frauendokumentations- und Projektzentrum, Hg., Frauen. Leben. Vielfalt. Zeitzeuginnen- und Zukunftsarchiv, Graz 2008 49 Versteht sich als überparteilicher und gemeinnütziger Verein für Weiterbildung mit engem Kontakt zu den steirischen Universitäten und Museen sowie zu wichtigen Kultureinrichtungen. Mitglied des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen sowie des Bildungsnetzwerks Steiermark. 50 Berichtvon Grete Sch., geboren 1934, zit. nach: Doku Graz, Frauen. Leben. Vielfalt, 47-51. 51 Berichtvon Irene W., geboren 1948, zit. nach: Ebda, 61-65. 52 Berichtvon Anni F., geboren 1953, zit. nach: Ebda, 12-15. 53 Berichtvon Ingrid F., geboren 1954, zit. nach: Ebda, 57-60. 54 Berichtvon Ilse W., geboren 1957, zit. nach: Ebda, 52-56. <?page no="275"?> 276 Karin M. Schmidlechner 55 Berichtvon Doris K., geboren 1966, zit. nach: Ebda, 37-41. 56 Berichtvon Daniela J., geboren 1974, zit. nach: Ebda, 32-36. 57 Berichtvon Daniela K" geboren 1975, zit. nach: Ebda, 42-46. 58 Hier sei noch darauf hingewiesen, dass bei einigen Frauen die Entscheidung zu konkreten frauenpolitischen Aktionen mit Schlüsselerlebnissen, in sehr vielen Fällen handelt es sich dabei um die Lektüre eines bestimmten Buches oder der Kontakt mit einer Person oder Gruppe, verbunden war, was auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung von Integrationsfiguren und Vorbildern für den Einstieg und Zugang zu politischem Engagement hinweist. <?page no="276"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 1 p aul h oSeR Der Ausbruch des Schülerstreiks Am 6. März 1971 berichtete die Starnberger Lokalausgabe des überregionalen »Münchner Merkur«: Schüler streikten eine halbe Stunde lang. 2 Schon tags zuvor hatte die gleiche Zeitung erfahren: Starnberger Gymnasiasten wollen Direx stürzen. 3 In Flugblättern, die Schüler der Oberstufe verteilt hatten, hatten sie bereits am 4. März angekündigt: Im Interesse der Schule fordern wie die sofortige Ablösung des Direktors. 4 Er genieße nicht die Unterstützung der Lehrer- und Schülerschaft, weil er seinen Stellvertreter als senil hingestellt und wegen des angeblichen bisherigen »Lotterleben[s]« die sofortige absolute Bürokratisierung der Schule als notwendig erklärt habe. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, proklamierten die Schüler der Oberstufe für den 5. März einen demonstrativen Streik. Über dessen Verlauf berichtete der »Münchner Merkur« ausführlich: Vergebens läuteten gestern früh um 7: 50 Uhr die Glocken des Gymnasiums Starnberg zum Unterrichtsbeginn: Die Schüler hatten ihre Drohung von einem halbstündigen Warnstreik gegen Direktor Dr. Bender in die Tat umgesetzt. […] Ruhig , diszipliniert und ohne emotionelle Ausbrüche gegen anwesende Lehrer und Elternbeiräte harren etwa 200 Schüler auf dem Pausenhof des Gymnasiums aus. Gegen 7: 55 gab der Sprecher des Elternbeirats, der sozialdemokratischer Landtagsabgeordnete Dr. Reinhold Kaub, das Ergebnis einer Sitzung der Elternvertreter mit Schülervertretern vom Tag zuvor bekannt. Danach sollte es vorläufig bei dem einen Streik bleiben. Einstimmig hatte man ein zweiwöchiges Stillhalteabkommen beschlossen. Während dieser Zeit sollte den Schülern Gelegenheit gegeben sein, eine Dokumentation ihrer Beschwerdepunkte gegen den Direktor zusammenzustellen. Sollten sich die Vorwürfe als wahr herausstellen, werde ihn der Elternbeirat um Stellungnahme bitten und, falls wirklich Gravierendes vorliege, Schritte unternehmen. Der Direktor seinerseits hatte versprochen, einstweilen nicht gegen die am Demonstrationsstreik Beteiligten vorzugehen. 5 Der Vertreter der Zeitung berichtete weiter: Ruhig und gelassen warteten die Schüler nach dieser Rede des Elternbeiratsvorsitzenden auf das Ende des Streiks. Keine Erregung zeigte sich unter den Diskutierenden. [...] Wie eine Erlösung schien der Ausruf eines Sprechers zu sein: ›Der Streik ist hiermit beendet, bitte geht alle in die Klassenzimmer zurück‹. <?page no="277"?> 278 Paul Hoser Zwei Minuten später war der Pausenhof des Gymnasiums wie leergefegt.« 6 Der Direktor hatte sich die ganze Zeit über nicht blicken lassen. Der Geist der Studentenbewegung in der Schülerzeitung »Die Meinung« Aus der Starnberger Schülerzeitung »Die Meinung« 7 springt einem schon seit 1967 das Bild von Jugendlichen entgegen, die lebhaften Anteil an den aktuellen Diskussionen und Handlungen der 68er-Bewegung nahmen. Unverkennbar war die Sympathie für den ersten »Kongress unabhängiger und sozialistischer Schüler in Frankfurt vom 18. Juni 1967. 8 Zwar sei dort im revolutionären Überschwang einiges allzu unpassend verquickt, allzu thesenhaft, formuliert worden: Schulreform, Sex-Revolution, Vietnam- Protest und eine recht handfeste Gesellschaftskritik. Es war ein leichtes, die Feuerköpfe als die darzustellen, als die sie nunmehr im öffentlichen Bewußtsein fungieren: kommunistisch infizierte Berufs-Protestierer, langhaarig , lüstern, aufrührerisch und pubertär. [...] Wir sollten uns für ihre Vorschläge, die sich kritisch mit der Lage der Schüler auseinandersetzen, interessieren, und wir würden bald feststellen, daß da nicht alles leichtfertig-revolutionär und ideologisch ist. Wir würden vielleicht sogar feststellen müssen, daß kritisches Urteilsvermögen hier eher zu finden ist als unter jenen, die die Schule nach neun Jahren der Erziehung zur Reife als gesittete und brauchbare Demokraten verlassen. 9 Mit all den auf dem erwähnten Kongress angesprochenen Themen beschäftigte sich die Schülerzeitung in den folgenden Jahren lebhaft. Die mitarbeitenden Schüler fühlten sich der Protestbewegung zugehörig. Ohne Protest, schrieb einer, gebe es keine Freiheitsrechte: Der Protest ist die erste Pflicht des Bürgers, nicht die Ruhe.« 10 Er dürfe allerdings keinesfalls zum »radikalen Terror« werden, bei dem Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden. 11 Auch unter dem seit dem Schuljahr 1968/ 69 die Schule leitenden Altphilologen Dr. Bender konnte sich die Schülerzeitung ungehindert äußern. Er zeigte sich mit ihrer Haltung durchaus zufrieden: Die Schülerzeitung übte an der Schule zuweilen Kritik - das war ihr Recht -; aber ihre Kritik verletzte selten. 12 Der Schulkonvent Noch vor seinem Ausscheiden gegen Ende des Schuljahres 1967/ 68 hatte der wegen seiner liberalen Haltung bei Eltern und Schülern sehr beliebte Vorgänger des neuen Direktors, ohne das Ministerium um Genehmigung zu fragen, erlaubt, dass als Organ der Schülervertretung ein Schulkonvent eingerichtet wurde. 13 Anstelle der bisherigen Klassensprecher wählten die <?page no="278"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 279 Schüler mehrere Mitschüler als ihre Vertreter in den Konvent. 14 Im laufenden Schuljahr 1970/ 71 hatten die Schülervertreter eine Neufassung der Konventssatzung beschlossen. Auf mehreren Vollversammlungen, die im Jargon der Zeit »teach-ins« genannt wurden, war heftig darum gerungen worden. Die neue Konventssatzung sah vor, dass jede Klasse der Mittel- und Oberstufe für ein Halbjahr fünf Mitglieder ihres jeweiligen Klassenkonvents wählte. 15 Die Unterstufenschüler wurden durch von ihnen gewählte sogenannte Monitoren vertreten. Die Versammlung aller Klassenkonvente bildete den Schulkonvent als beratendes und beschließendes Organ der Schülerschaft. Als zeitgemäße Besonderheit hatten die Schülervertreter im Starnberger Schulforum 16 nur ein imperatives Mandat, d. h. sie erhielten vom Schulkonvent vor jeder Sitzung dieses Gremiums ihre Aufträge vorgegeben. Es war sogar bereits diskutiert worden, ob man nicht ein Rätesystem einführen solle, wie dies damals an Universitäten für Studentenvertretungen versucht wurde. Direktor Dr. Bender hatte die neue Konventssatzung toleriert und das Ministerium erst im Nachhinein darüber informiert. Er räumte im Januar 1971 in seinem internen Bericht über das vergangene Schuljahr ein, dass die Schülersprecher trotz des aus ihnen sprechenden rebellischen Zeitgeists sich in den Bahnen sachlicher Kritik gehalten hatten: Die SMV [Schülermitverwaltung] verstand in diesem Schuljahr ihre Funktion immer entschiedener als Mitbestimmung. Das ständige Steigen des ›Selbstwertgefühles‹ der Schüler bedingte auch eine Haltung , die stets bereit war, gegen unterdrückende Verhältnisse, in der Sprache der Jugend ›repressive Strukturen‹ genannt, Vorstellungen zu erheben und zu protestieren. […] Doch hielten sich die Einzelaktionen (wie Flugblätter, Briefe an das Kultusministerium) durchaus im Rahmen, die Vorbringen waren vernünftig , in der Form nie ag gressiv. 17 Allerdings passte Dr. Bender das Infragestellen der Autoritäten ganz und gar nicht: Die in der SMV vereinte aktive Jugend - übrigens wie stets gegenüber der großen Masse der Schüler eine verschwindende Minderheit - trieb ein starker Drang zum Engagement, zum Bekenntnis und zum Protest umher. Die Visionen einer ›herrschaftslosen‹ Gesellschaft, ... aber auch die ständig Anhänger gewinnende Auffassung von einem besonderen demokratischen ›Teilhabeverhältnis‹, das aufgrund des Rechts auf freie Selbstentfaltung in einem demokratischen sozialen Rechtsstaat auch für die ›gesellschaftliche Substruktur Schule‹ die Mitwirkung der betroffenen Schüler garantiert, übten Einfluß auf die Schüler der Oberstufe. Dem Direktor schwebten im Einklang mit den Vorstellungen des Ministeriums ganz andere Aufgaben für eine Schülervertretung vor als den Schülern. Sie sollte eher eine Art Disziplinierungsinstrument sein: Es wäre wünschenswert, daß die Schüler, ihrem Reifegrad entsprechend, Ord- <?page no="279"?> 280 Paul Hoser nungsaufgaben in der Schule zu [sic] übernehmen. Die SMV sollte die Befugnisse erhalten, ordnungswidrig handelnde Schüler oder säumige Schüler zur Ordnung zu rufen und nötigenfalls gewisse Sanktionen zu verhängen. Dieser Gedanke fand beim Konvent keinen Anklang. Der Kulturausschuss Der Konvent hatte mehrere Ausschüsse, davon als aktivsten den am 18. Dezember 1969 gebildeten »Kulturausschuss des Gymnasiums Starnberg.« Ihm gehörten 15 Mitglieder der Oberstufe an. Sie organisierten unter Mitwirkung von Lehrern kulturelle Veranstaltungen wie Dichterlesungen, musikalische Veranstaltungen, Ausstellungen, Filmvorführungen und Diskussionen. Der Kulturausschuss geriet bald in ein Spannungsverhältnis zum Direktor. Dieser hatte seine Satzung nach Darstellung einiger Mitglieder mündlich genehmigt. Nach Auffassung der Schüler beinhaltete sie ihr alleiniges Entscheidungsrecht über kulturelle Veranstaltungen an der Schule. 18 Direktor Bender behauptete dagegen, ein ausschließliches Bestimmungsrecht des Ausschusses nie gebilligt zu haben. Mehrfach wurden an diesem vorbei Veranstaltungen beschlossen, die ihm nicht zusagten und von denen er nicht vorher informiert wurde. Der Ausschuss seinerseits handelte mindestens in einem Fall weiter so, als ob er die alleinige Kompetenz habe. So vereinbarte er Oktober 1970 eine Dichterlesung mit dem exzentrischen Herbert Achternbusch 19 , ohne den Direktor vorher zu informieren. Dieser drohte darauf, die Veranstaltung zu verbieten. Dank der Vermittlung einer Lehrerin kam sie aber dann doch noch zustande. Grundsätzlich behagte dem Direktor die ganze Richtung des Ausschusses nicht: Die im ›Kulturausschuß‹ tonangebende Strömung war eine ›aufgeschlossene und freiheitliche Gesinnung‹, wobei man nach der Sprachregelung darunter zu verstehen hat: aufgeschlossen und freiheitlich nur für linke Ideen. 20 Der Konflikt des Direktors mit dem Elternbeirat Ebenso wie mit den Schülern geriet der Schulleiter auch mit der Elternvertretung aneinander. Am 29. Oktober 1970 war ein neuer Elternbeirat gewählt worden. Unter der Führung des dynamischen Dr. Kaub beschloss er am 9. November mit großer Mehrheit, dass in Zukunft seine Sitzungen vor den Augen der Öffentlichkeit, d. h. der Eltern, Schüler und der örtlichen Presse stattfinden sollten. 21 Dagegen sträubte sich der Direktor und weigerte sich, ein Rundschreiben des Elternbeirats, in dem dieser seine nächste und erstmals öffentliche Tagung ankündigte, in der Schu- <?page no="280"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 281 le vervielfältigen zu lassen. Der Vorsitzende des Elternbeirats sah das als Boykott und offene Kampfansage an und kündigte an, dass die Tagung dennoch öffentlich stattfinden werde. 22 Auffälligerweise erschien vierzehn Tage später im Starnberger »Land und Seeboten« eine Glosse unter dem Titel »Der Pseudo-Demokrat.« 23 Zahlreiche Schüler betitelten dem Verfasser zufolge ihren Direktor so. Er stelle die demokratische Freiheit heraus, die an der Schule praktiziert werde, was aber nichts als Blendung sei. Neuestes Beispiel sei sein Verhalten gegenüber dem Elternbeirat. 24 Die Spannungen begannen sich nun zu verschärfen. Das Ministerium, das ursprünglich erwogen hatte, die Öffentlichkeit der Sitzungen des Elternbeirats zu genehmigen 25 , legte sich jetzt quer 26 und stellte überdies im Namen des Direktors Strafanzeige gegen den Verfasser der Glosse. 27 Die Bedrohung der Konventssatzung durch das Ministerium Am 18. Januar 1971 informierte der Direktor das Ministerium in seinem internen Jahresbericht über die Bedeutung der Schülervertretung: Die Schüler des Starnberger Gymnasiums sind […] stolz darauf, ein eigenes Schülermitverwaltungs-System gefunden zu haben, das sie für einzigartig und weiterempfehlenswert halten. Sie glauben, daß der Weg , der hier eingeschlagen wurde, richtig ist. Den Weg abzubrechen, hieße einen Schüleraufstand provozieren, den kein Einsichtiger wünschen kann. 28 Die Konventssatzung war jedoch den Vorstellungen der ministeriellen Bürokratie ganz und gar zuwider. Der zuständige Referent des Ministeriums 29 schrieb dem Direktor am 2, Februar 1971: Der Begriff des Schülervertreters scheint mir geradezu ausgehöhlt zu werden. […] Es besteht die Möglichkeit, daß an der Schule anstelle einer geordneten Schülervertretung jeweils kleine Gruppen zu bestimmten Problemen Äußerungen vorlegen, die den Eindruck machen, von einer Mehrheit getragen zu sein, in Wirklichkeit aber ohne geordnete Autorisierung entstanden sind. 30 Die Furcht des Direktors vor einem Schüleraufstand hatte allerdings einen gewissen Eindruck hinterlassen: Das Staatsministerium möchte es der Schule nicht schwerer machen. Andererseits werden Sie einsehen, daß das Staatsministerium zu dieser Entwicklung , von der es erstmalig jetzt in voller Deutlichkeit in Kenntnis gesetzt wird, nicht schweigen kann. Es wurde deshalb verlangt, die Konventssatzung zu ändern. Für eine Beschlussfähigkeit genüge nicht die in der Satzung geforderte Anwesenheit von 30 Konventsmitgliedern, sondern es müsse mindestens ein Vertreter aus jeder Klasse anwesend sein. Im Übrigen sollte die Satzung einstweilen geduldet werden. Langfristig müsse aber auch das Gymnasium Starnberg auf die zu den in ganz Bayern vorgeschriebenen Prinzipien der Schülermitverwaltung zurückkehren. In <?page no="281"?> 282 Paul Hoser diesem Sinn kam auch noch am selben Tag, den 2. Februar 1971 eine Ministerialentschließung heraus. Es lässt sich nicht nachweisen, ob diese schon vor dem 4. März 1971 auch in die Hände der Schüler gelangt war. 31 Falls sie bereits damals von der Entschließung Kenntnis besaßen, könnte dies der tiefere Grund für die angestaute Erregung gewesen ein, die zu der Explosion führte, obwohl der Direktor zunächst nichts zur Umsetzung unternommen hatte. Die unmittelbaren Vorgänge vor dem Streik Die Erarbeitung und Verteilung des Flugblatts, das zum Sturz des Direktors aufrief, ging zunächst spontan von einer Gruppe von Schülern der Oberstufe aus. 32 Erst danach wurde am Vormittag des 4. März 1971 eine Konventssitzung der Schülervertreter der Klassen 9-13 abgehalten 33 Die Mehrheit war angeblich zunächst gegen den Streik, doch entglitt den Versammlungsleitern die Führung. Auf die Frage eines Schülers, ob nicht nur eine radikale Minderheit den Sturz des Direktors betreibe, erklärte ein Konventssprecher, es hätten sich bereits 120 Schüler solidarisch erklärt. 34 Der Lehrerrat, der sich gleichzeitig separat versammelt hatte, sandte eine Kommission von vier Lehrern, darunter Angehörigen des Direktorats, zu den im Konvent versammelten Schülern, um mit ihnen zu verhandeln. Diese Verhandlungen waren aber erfolglos. Anschließend distanzierte sich der Lehrerrat von dem Inhalt des Flugblatts. 35 Der Stellvertreter des Direktors hatte inzwischen schon während des Unterrichts in einer 13. Klasse versichert, dass er sich keineswegs von den Äußerungen des Direktors beleidigt fühle. Inzwischen hatte ein Schüler das gegen den Direktor gerichtete Flugblatt dem Lokalredakteur des »Münchner Merkur« gebracht. Auch der Elternbeiratsvorsitzende war von den Schülern kontaktiert worden. 36 Um 19.00 trafen sich dann der Elternbeirat und drei Schülersprecher. Auch der Direktor erschien. Die Schüler erklärten, auf gar keinen Fall von der Forderung nach dem Rücktritt des Direktors abgehen zu wollen. Von 7: 50 bis 8: 20 sollte der Demonstrationsstreik stattfinden. Die rebellischen Schüler hatten mit dem Streik einen ersten Erfolg errungen: Sie hatten dem Direktor, der sich vorläufig an das Abkommen hielt, die Waffe der Schulstrafe aus der Hand genommen. Der Elternbeirat sah in ihnen gleichberechtigte Verhandlungspartner. Außerdem war die Presseberichterstattung in ihrem Sinn verlaufen. Der Lokalberichterstatter des »Münchner Merkur« meinte zwar skeptisch, es könne sein, daß der Streik mit dem Endziel, den Direktor zu stürzen, nichts anderes als eine Seifenblase ist. Aber was an dieser in Bayern einzigartigen Schüleraktion bleibt, ist die Kühnheit, überhaupt solch ein Flugblatt zu verteilen und damit <?page no="282"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 283 an die Öffentlichkeit zu gehen. 37 Die Vorwürfe seien zwar recht mager, doch werde der Direktor bei aller Verärgerungmit seinen Schülern offen diskutieren und sogar Kompromisse schließen müssen. Er warf ihm vor, dies bisher vermieden und einfach seine Machtposition ausgenützt zu haben. Das Ministerium hielt sich zurück. Dort war man gerade der entgegengesetzten der Ansicht, der Direktor gehe in seinen Zugeständnissen öfter zu weit. Von den Schülern werde ihm das nicht honoriert. Zähneknirschend räumte man aber ein, man werde dem »rechtlich sehr fraglichen ›Stillhalteabkommen‹« nachkommen und sich erst nach der bevorstehenden Elternbeiratssitzung vom 19. März 1971 Maßnahmen gegen die streikenden Schüler überlegen. 38 Die Übergabe der Dokumentation und die Reaktionen Am 19. März 1971 fand dann die vereinbarte Elternbeiratssitzung statt, an der wiederum drei Schülervertreter teilnahmen. 39 Die vereinbarte Dokumentation lag vor. Die Sprache war drastisch: wir beabsichtigen nicht, unsere dokumentation gegen Herrn Bender auf juristische nachweisbare verfehlungen aufzubauen. es geht uns vielmehr darum, aufzuzeigen, daß ein direktor nicht nur untragbar wird, wenn er mädchen vergewaltigt, sondern auch wenn er sich als unfähig erweist, eine schule zu leiten. es gibt also auch eine andere Art von obszönität: die brutale unterdrückung kreativer und selbständiger arbeit in der schule. 40 Die Schüler informierten den Elternbeirat, dass bereits 1.000 Exemplare hergestellt seien und verteilt werden sollten. Dieser war aber der Ansicht, dass das ein Verstoß gegen das Stillhalteabkommen wäre und auch weitere Vermittlungsversuche ernsthaft gefährden würde. Die Schüler machten ihrerseits den Vorschlag, wenigstens den Konvent über den Inhalt zu informieren. Dies sei erforderlich, da die Unruhe unter den Schülern ständig wachse und bereits der Eindruck entstanden sei, sowohl die Sprecher der Schüler als auch der Elternbeirat ließen die Streikwilligen im Stich. Eine Einigung ließ sich nicht erzielen. Am Tag darauf, dem 26. März übergab Dr. Kaub der Sekretärin des Direktors eine von ihm bereinigte Fassung der Schülerdokumentation. 41 Der Direktor wollte sich zu den Vorwürfen der Dokumentation auf einer weiteren Elternbeiratssitzung vom 27. März 1971 nicht äußern. Einige [...] seien nach seiner Auffassung so gravierend, dass er selbst erschrocken sei. Eventuell werde er mit einer Strafanzeige reagieren. Am 1. April stellte er sich aber doch einer Aussprache mit dem Elternbeirat. Nach dessen Darstellung hatte er die Vorwürfe im Wesentlichen entkräften können. 42 Der Elternbeiratsvorsitzende Dr. Kaub hatte den Direktor nicht geschont. <?page no="283"?> 284 Paul Hoser Er hatte die Ansicht geäußert, dass zwischen ihm und den Schülern der Oberstufe eine tiefe Vertrauenskrise bestehe. Den Schülersprechern schien die Haltung des Elternbeirats allzu kompromissbereit zu sein. 43 Sie teilten dessen Ansicht nicht, dass der Direktor die meisten Punkte der Dokumentation entkräftet habe. Seine Rechtfertigung habe nur darin bestanden, die einzelnen Punkte zu bestreiten oder sich nicht mehr zu erinnern. Der Elternbeirat könne unmöglich von sich aus entscheiden, ob die Vorwürfe der Schülervertreter gerechtfertigt seinen oder nicht. Der Direktor äußerte sich schließlich auch noch vor Schülersprechern der 12. und 13. Klassen. Sie waren mit seinen Erklärungen nicht zufrieden. Das inzwischen informierte Ministerium stellte sich auf einen primär juristischen Standpunkt. Da für die inkriminierten Äußerungen und Handlungen keine Zeugen genannt worden seien und auch jeweils Ort und Zeitpunkt nicht präzisiert waren, gehe man davon aus, dass sie nicht gefallen seien, bis Beweise vorlägen. 44 Am 27. April 1971 fand im evangelischen Pfarrsaal vor rund 120 Personen eine öffentliche Elternversammlung statt. 45 Auch der Direktor war anwesend. Aus den Reihen der Eltern, die vielfach traditionell autoritär geprägt waren, wurde Unmut über das Verhalten der Schüler laut. Es fielen Worte wie »Brunnenvergifter« und Rädelsführer«. Doch ließen sich auch andere Stimmen vernehmen: Man sei nicht in einem Gerichtssaal. Wenn die Schüler mit 18 Jahren wahlberechtigt seien, hätten sie auch das Recht, Kritik zu üben. Dr. Kaub behauptete, die Vorwürfe gegen den Direktor seien geklärt und beigelegt worden. Nur drei Punkte würden noch vom Kultusministerium geprüft. Dem widersprach eine der Anführerinnen der Schüler, der eine sehr feindselige Stimmung entgegenschlug. Noch immer wurden die Vorwürfe öffentlich nicht konkret benannt. Die Reaktion des Ministeriums Direktor Dr. Bender sah sich inzwischen dem Druck des Ministeriums ausgesetzt. Es hatte ihn angewiesen, die für die Verteilung des Flugblatts Verantwortlichen zu ermitteln, 46 was natürlich dem Geist des Stillhalteabkommens widersprach. Im übrigen war man mit dem Verhalten des Schulleiters im Ministerium bereits ziemlich unzufrieden. Es stelle sich die Frage, ob er »ganz ohne Mißbilligung gelassen werden sollte.« 47 Das Stillhalteabkommen könne nicht verlängert werden. Dem Direktor ging am 6. April 1971 eine Entschließung des Ministeriums zu, die offiziell die Untersuchung gegen die Streikanführer verlangte. 48 Ein Mitglied des Direktorats begann am 9. Juni begann mit der Untersuchung gegen die Urheber des ersten Flugblatts und der Unterschrif- <?page no="284"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 285 tensammlung vom 5. März. Die Vertreter des Elternbeirats klagten, dass der Schulleiter damit für neue Unruhe gesorgt habe. Die Untersuchung zog sich in das neue Schuljahr 1971/ 72 hinein. Soweit die Beteiligten noch die Schule besuchten, erklärten sie, in Zukunft nicht mehr gegen die Schulordnung verstoßen zu wollen und wurden nicht bestraft. 49 Der Schülerstreik hatte inzwischen einen allgemeinen Rundbrief des Kultusministers und Universitätsprofessors Dr. Hans Maier an die Eltern aller Schüler der Gymnasien und Fachoberschulen ausgelöst. Maier stellte fest, Schulstreik und politische Propaganda seien in der Schule nicht möglich und nicht legitim. Der Schulstreik sei eine unerlaubte Abwesenheit vom Unterricht und widerspreche geltendem Recht. Gegen Schüler aber, die die Rechtsordnung in der Schule untergraben, werden wir vorgehen, sie sogar entlassen müssen. 50 Da die Streikanführer dem ständig auf Zeit spielenden und abwiegelnden Elternbeirat nicht trauten, initiierten sie eine eigene Elternversammlung für den 12. Mai. 40 Eltern unterschrieben dort eine Resolution, in der sie für eine Ablösung des Direktors plädierten, der nicht die nötige Ausstrahlungskraft und pädagogische Begeisterung besitze. 51 Am 14. Juni sprach der Elternbeiratsvorsitzende in Begleitung von zwei Elternbeiratsmitgliedern im Ministerium vor. Wörtlich warf Dr. Kaub dem Direktor vor, daß er nicht zu seinem Wort stehe, daß er bluffe und ein Opportunist sei. 52 Der Elternbeirat sähe es am liebsten sehen, wenn er auf eine elegante Weise »nach oben« befördert würde. 53 Der betreffende Ministerialbeamte antwortete ihm: Herr Abgeordneter, sind Sie der Ansicht, daß alle schlechten Pädagogen ins Ministerium gehören? Zu einem weiteren Stillhalteabkommen wollte das Ministerium sein Plazet nicht geben. 54 Die Veröffentlichung der Vorwürfe gegen den Direktor Die protestierenden Schüler waren offenkundig unzufrieden mit den festgefahrenen Verhandlungen. Nachdem das Abitur vorbei war und ihre Sprecher nicht mehr mit einer Gefährdung ihres Abschlusses unter Druck gesetzt werden konnten, machten sie einen erneuten Vorstoß: 55 Am 15. Juli verteilten sie ihre Dokumentation vor der Schule und übergaben sie auch der Presse. 56 Damit wurden die Vorwürfe, die bisher nur dem Direktor, dem Ministerium, dem Elternbeirat und den Schülervertretern bekannt war, erstmals öffentlich verbreitet. 57 Dr. Benders im Gegenzug abgegebene Presseerklärung wirkte sehr hilflos und selbstgerecht. Der Vertreter des konservativen »Münchner Merkur« ergriff keineswegs für ihn Partei. In der Dokumentation erscheine er als ein Mann, der seit zwei Jahren gegen gut hundert Gymnasiasten <?page no="285"?> 286 Paul Hoser kämpft: Mit Paragraphen, Drohungen, Bestrafungen, Briefen an die Eltern, ein Mann, dem einfach die Routine fehlt, diesen Gymnasiasten klipp und klar zu sagen, was an den Vorwürfen stimmt oder nicht stimmt. 58 Der Elternbeiratsvorsitzende Dr. Kaub war von der Übergabe an die Presse überrascht worden. 59 Nach der Veröffentlichung der Dokumentation zog er sich ganz aus den Verhandlungen zurück. 60 Der Direktor kündigte in der Presse an, er werde klagen und bat das Ministerium um Rechtsschutz. Dieses war dazu aber nicht bereit. Die Streitschrift sei verhältnismäßig sachlich abgefasst und reiche für ein Strafverfahren nicht aus. 61 Der Inhalt der Vorwürfe Erstmals waren jetzt die Vorwürfe gegen Dr. Bender in der Öffentlichkeit bekannt geworden. 62 Drei Punkte, in denen sich der Direktor gegenüber dem Ministerium zu rechtfertigen hatte, schienen gewichtig zu sein: In einer Klasse habe er gerufen: Hier geht es ja zu wie in einem Judenhaufen! 63 Anlässlich einer Diskussion hatte er angeblich gesagt: Ich stehe hier nur, weil ich mich schon vor dem Dritten Reich, im Dritten Reich und eben nach dem Dritten Reich angepaßt habe. Einmal war Hitler ein toller Mann, dann ein Teppichbeißer und jetzt ist er kein Teppichbeißer mehr. In einer Klasse habe er das Aufstehen nach dem Motto »auf und nieder« geübt. Da das Exerzieren nicht sofort reibungslos funktioniert habe, habe er gedroht: Ich werde Sie im Schulhof weiter exerzieren lassen. 64 Den Ausdruck »Judenhaufen« wollte der Direktor nie benutzt haben. Möglicherweise habe er die sprichwörtliche Redensart »Hier geht es zu wie in einer Judenschule« gebraucht. An Hand von Standardwörterbüchern versuchte er zu belegen, dass sie keinen antisemitischen Gehalt habe. Dass aber zumindest ein Pädagoge in einer führenden Stellung gegenüber einer solchen Wendung sensibilisiert hätte sein müssen, schien ihm nicht klar zu sein. Den Satz, in dem er sich seines Opportunismus rühmte, wollte er nie gesagt haben. Mit dem Bezug auf Hitler habe er den Wandel der historischen Interpretation deutlich machen wollen. Er habe 1946 als Geschichtslehrer im Sinne der Reeducation von seinem Dienstvorgesetzten die Weisung erhalten, Hitler den Schülern als verrückten Fanatiker und Teppichbeißer vorzuführen. Die kritische Forschung habe dann eine andere Darstellung gegeben. Seine Worte seien gröblich missverstanden worden. Zu dem Vorwurf des Strafexerzierens bemerkte er: Das Wiederholen von Aufstehen und Setzen im Klassenverband ist eine Maßnahme zur Aufrechterhaltung von Anstand, Ordnung und Disziplin, weil Reste von Autorität in der Schule erhalten bleiben müssen. 65 <?page no="286"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 287 Das Ministerium hielt die Vorwürfe nicht für gravierend und betrachtete nach Beginn des neuen Schuljahrs im September 1971 die Affäre um den Direktor als abgeschlossen. 66 Die beteiligten Schülersprecher empfanden es ihrerseits als Hohn, dass sie zu der Angelegenheit überhaupt nicht befragt worden waren. 67 Der Konflikt schwelte weiter. Der weitere Streit um die Schülermitverwaltung Mit der Aufgabe, die Schüler soweit zu bringen, dass sie sich bereit erklärten, anstelle der Konventssatzung die vom Kultusministerium vorgeschriebene Form der Schülermitverwaltung treten zu lassen, war der ehemalige Vertrauenslehrer L. beauftragt. Er hatte damit keinen Erfolg, wie er dem Ministerium berichtete: Der Konvent sei in den Händen von Extremisten [...], die ein Gedankengut des 19. Jahrhunderts vehement vertraten. 68 Die Mehrheit der Schüler hätte eine Schülervertretung mit gewählten Klassensprechern gewollt, die bisherigen führenden Sprecher dies aber abgelehnt. 69 Ihr dazu verfasstes Flugblatt war im typischen Ton der Studentenbewegung verfasst: Die Schulleitung will gar nicht, daß wir für uns etwas erreichen. Sie läßt uns Demokratie spielen, uns versammeln, wählen, delegieren usw., um uns von unserer Unzufriedenheit und Kritik abzulenken, um unsere Aggressionen in geregelte Bahnen zu leiten [....] Wir werden nach dem Leistungsprinzip aussortiert und die, die den unsinnigen Stoff nicht lernen wollen oder können, bleiben auf der Strecke. 70 Die Neuwahl von Klassensprechern wurde von den kampfeslustigen Schülersprechern durch Störung verhindert. Gleichzeitig bestand aber auch der alte Konvent nicht mehr. Die Schule war damit ohne neu gewählte Schülersprecher und Vertrauenslehrer. 71 Lehrer L. unterstellte den Verfechtern der alten Konventssatzung revolutionäre Ziele: Die Schule kann und darf nicht als die Institution betrachtet werden, in der der Hebel zur Änderung einer Gesellschaftsordnung anzusetzen ist. 72 Der zuständige Ministerialreferent notierte: »Die Vorgänge in Starnberg sind ein Dokument dafür, daß ›Freizügigkeiten‹ und ›Sondertouren‹ in der SMV, gepaart mit Interesselosigkeit verschiedener Lehrer oder auch der Arroganz, es besser zu wissen, zu einem Chaos führen, das dem Terror der Extremen das Tor öffnet« 73 Die traditionelle Schülermitverwaltung war von der Vorstellung eines harmonischen Miteinanders von Schülern und Lehrern und von der Verinnerlichung von Autorität und Akzeptanz gesellschaftlicher Hierarchien geprägt. 74 Auch die im Januar 1972 erschienene erste Nummer der Starnberger Schülerzeitung des Schuljahres 1971/ 72 befasste sich intensiv mit dem Problem der Schülermitverwaltung: Die SMV baut auf den Begriffen Partnerschaft und Vertrauen zwischen Schülern, Lehrer und Direktor, sowie dem <?page no="287"?> 288 Paul Hoser Kultusministerium auf. Diese Gemeinschaft beinhaltet, daß die Interessen aller Beteiligten gleich sein sollen. Wir entdecken aber täglich, daß sich die Interessen von Schülern und Schulleitung widersprechen. Die Interessen des Kultusministeriums und der Schulleitung liegen darin, den Schulfrieden, d. h. Ruhe, Ordnung und Disziplin, einen geregelten Unterrichtsablauf mit autoritären Mitteln aufrechtzuerhalten. Dagegen sind wir Schüler nicht daran interessiert, daß Unterrichtsinhalte und Unterrichtsformen über unsere Köpfe hinweg bestimmt werden. Wir sind gegen den Zwang , dem wir mittels Noten und Strafen willkürlich ausgesetzt sind, uns an vorgegebene, also nicht von uns bestimmte Normen, anzupassen. 75 Die 3. Dokumentation und die Demonstration vom Juni 1972 Eine neugebildete Schülerinitiative gegen die vorgegebene Schülermitverwaltung wurde von vier ehemaligen Abiturienten unterstützt, die an der Auslösung der Streikbewegung maßgeblichen Anteil gehabt hatten. 76 Sie plante, die Aktion gegen den Direktor fortzusetzen und eine weitere Dokumentation zusammenzustellen. 77 Am 8. Mai 1972 verteilten Mitglieder die neue Dokumentation. Diesmal wurde nicht nur der Direktor attackiert, sondern die Stellung der Direktoren an den Gymnasien als solche: Wir sind uns darüber im klaren, daß sich ein ›Fall Bender‹ unter den besonderen Machtverhältnissen der Schule beliebig oft wiederholen kann. Jeder Direktor hat die Möglichkeit, sich infolge seiner unkontrollierten Machtposition undemokratisches und unpädagogisches Verhalten zu leisten. [...] 78 Die Dokumentation wiederholte einen Großteil der früheren Vorwürfe, fügte aber zu jedem Punkt die entsprechenden Passagen des Grundgesetzes bzw. der Bayerischen Verfassung und der Schulordnung hinzu, gegen die jeweils verstoßen worden sei. Hierbei hatte der Schülergruppe ein Jurist geholfen. 79 Absicht der neuen Dokumentation war es, eine Reaktion auf die Vorwürfe zu erzwingen: wir klagen diese Zustände solange penetrant an, bis das KuMi [Kultusministerium] sie untersucht. 80 In der Folge verhörte der Direktor die Unterzeichner und erteilte am 17. Mai allen 38 einen Direktoratsverweis. 81 Die betroffenen Schüler zeigten sich aber von dieser Schulstrafe völlig unbeeindruckt. Am 6. und 7. Juni 1972 verteilten sie ein weiteres Flugblatt auch an den Gymnasien des Umkreises, in dem sie die bisherige Arbeit erläuterten und die Schüler zur Arbeit in Schülergruppen und zur Teilnahme an einer auf den 7. Juni 1972 festgesetzten Demonstration aufforderten. Gegen 15.00 demonstrierten dann am 7. Juni 1972 etwa 200 Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums Starnberg gegen dessen Führung. 82 Be- <?page no="288"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 289 teiligt waren auch Delegationen von Schülern der im Umkreis liegenden Gymnasien von Tutzing und Gauting, München-Pasing und Weilheim. Sie zogen durch die Innenstadt, wobei sie kurzzeitig den Verkehr behinderten, und veranstalteten ein »teach in«. Auf einem der mitgeführten Spruchbänder war beispielsweise zu lesen: Wir sind viel, du bist allein - Bender laß das Strafen sein. Mehrere der ehemaligen Schüler, die im Vorjahr den Demonstrationsstreik organisiert hatten, waren auch jetzt beteiligt. Sie zeichneten für die Flugblätter verantwortlich, um so die noch aktiven Schüler vor Repressalien des Direktors zu bewahren. 83 Dabei fiel den Schülern nicht nur die Beobachtung durch Lehrer auf, sondern auch durch verschiedene Herren, die auffallend selektiv photographierten und Namenslisten anzufertigen schienen. 84 Tatsächlich war der Verfassungsschutz über die Demonstration informiert. Dem Direktor war es offenbar äußerst peinlich, daß die Vorwürfe gegen ihn erneut aufgetaucht waren. Um sich ein für allemal zu entlasten, beantragte er am 9. Juni 1972 ein Disziplinarverfahren gegen sich. Das Ministerium lehnte jedoch ab, da der Kern der Anschuldigungen ohnehin im Wesentlichen widerlegt sei, keine neuen Tatsachen vorgebracht worden seien und eine weitere Würdigung keine neuen Ergebnisse erzielen würde. 85 Die Demonstration hatte also zumindest einen kleinen Erfolg gehabt, auch wenn sie das Ziel, das Ministerium zu einer öffentlichen Stellungnahme zu zwingen, nicht erreicht hatte. Die endgültige Einführung der SMV Die Zeit der größeren Aktionen war mit der Demonstration vom Juni 1972 beendet, obwohl die Schülerinitiative noch weiterbestand. Erst im Schuljahr 1973/ 74 gelang es dann, die Schülermitverwaltung im Sinne der Schulordnung zu etablieren. Der Direktor berichtete dem Ministerium, daß der Friede auch dadurch mit herbeigeführt sein könnte, daß die letzten Angehörigen mächtiger Schuldynastien (= durch Geld oder Einfluß prominente Schulgeschlechter mit vielen Kindern) und aufrührerischer Jahrgänge die Schule verlassen haben, um ihre Tätigkeit [...] mit anderen Mitteln fortzusetzen, einige davon auch, wie man hört, um ganz schlicht zu studieren. Ihre kämpferischen Väter haben nach letzem [sic] Aufbäumen in den Lokalzeitungen den Elternbeirat grollend verlassen und der alte Elternbeiratsvorsitzende widmete sich wieder auf seinem Berufsgebiet dem Aufdecken von Mißständen. 86 Von Herbst 1973 bis Dezember 1974 war der Schulleiter mit der Schülermitverwaltung sehr zufrieden. Der von Herbst 1973 bis Dezember 1974 aktive Schülersprecher, der gleichzeitig in der Jungen Union der CSU in Starnberg aktiv war, war ganz in seinem Sinn. Schockiert war er dann aber <?page no="289"?> 290 Paul Hoser über dessen Nachfolger. Zu seinem Entsetzen äußerte dieser auf der Feier zur Einweihung des neuen Turnhallentrakts am 14. März 1975 in Anwesenheit der damaligen Staatssekretärin im Kultusministerium, Dr. Mathilde Berghofer-Weichner, den Wunsch daß durch das oberste Prinzip der ›Ruhe und Ordnung‹ keine schulische ›Abkapselung nach außen‹ bei Lehrern und Schülern erzwungen werde. 87 Dieser Schulsprecher, der spätere bayerische Wirtschaftsminister Martin Zeil, sprach überdies offen aus, dass das Gymnasium nach wie vor von Spannungen belastet sei, die Eigeninitiative und Mitverantwortung hemme und Unlust bei weiten Teilen der Schüler- und Lehrerschaft hervorriefen. 88 Die Disziplinierungsmaßnahmen des neuen Stellvertreters Bereits 22. Februar 1973 hatte der damalige stellvertretende Elternbeiratsvorsitzende, der auch für die CSU im Stadtrat saß, gegenüber dem Ministerium »die derzeitige Führungsschwäche und die ständigen Streitigkeiten am Gymnasium« beklagt. 89 Als Lösung des Problems empfahl er, den freiwerdenden Posten des stellvertretenden Direktors einem Parteifreund anzuvertrauen, der Studiendirektor am Starnberger Gymnasium war. Der für die neusprachlichen und humanistischen Gymnasien zuständige Ministerialbeamte 90 war für diese Argumente sehr empfänglich: Die wenig glückliche Art des Direktors, der zwischen Nachgiebigkeit und Paragraphen schwankt, führt zu ständigen Konflikten mit Eltern und Schülern. In dieser Situation kann der Schule nur geholfen werden, wenn ein Mann Stellvertreter wird, der dieser Stelle in vollem Umfang gewachsen ist. 91 So wurde der favorisierte Studiendirektor ab 1. August 1973 stellvertretender Direktor. Er zog nun einen Großteil der Pfeile, die bisher den Schulleiter getroffen hatten, auf sich. Die Kämpfe wurden jetzt vor allem mit der Schülerzeitung als Keimzelle des Widerstandes geführt. 92 Seine Rolle schilderte ein Schüler der Schule später in schriftstellerischer Verarbeitung: Der Direktor hält sich einen zweiten Direktor als Polizisten. Den zweiten läßt er die Dreckarbeit machen. Der Zweite entblödet sich [nicht], morgens am Schultor zu stehn und ab dem Gongschlag jeden aufzuschreiben, der jetzt noch rein wollte. 93 Selbst einige Schüler, die in der Jungen Union engagiert waren, beklagten dort das Wirken des »Schulsheriffs«, der für wenige Minuten des Zuspätkommens Verweise erteile.« 94 Eine im Ton äußerst moderat und im Inhalt sachliche Kritik in der Schülerzeitung empfand der Stellvertreter von vornherein als »Schlag gegen meine Person«. Er schließe aus der Kritik, dass der vom Verfasser geäußerte ›gute Wille für eine Klärung der allzu verhärteten Fronten‹ reine Heuchelei ist, die nur zu sehr an jene Methoden erinnert, die in der berüchtigten Dokumentation gegen den Anstaltsleiter vor einigen Jahren ihren Höhepunkt fanden. 95 Wie sein Chef <?page no="290"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 291 argumentierte er nur mit Paragraphen, Gesetz und Ordnung und war zu einem echten Dialog nicht bereit. Selbständige Schüleraktivitäten waren ihm äußerst zuwider. Die Agitation der Schülerschaft überschritt ihrerseits Grenzen, die nicht mehr zu rechtfertigen waren. In derselben Nummer der Schülerzeitung, in der der stellvertretende Schulleiter sich äußerte, erschien ein Foto der Hinrichtungsstelle in der Gedenkstätte Plötzensee mit der Unterschrift Zimmer des zweiten Direktors. Die verantwortlichen Redakteure wurden deshalb verwarnt. 96 Inzwischen war nach einer Anordnung des Kultusministeriums vom August 1974 auch die Zensur von Schülerzeitungen durch die Schulleitung möglich. Der Direktor beanstandete im Juli 1975 ein satirisches Gedicht Bestandsaufnahme der Geschäftemacherei mit dem Namen Jesu in der Schülerzeitung wegen religiöser Anstößigkeit. Darauf trat die gesamte Redaktion zurück. Das Gedicht wurde geschwärzt. Die Angelegenheit erregte größeres, dem Ansehen des Schulleiters nicht unbedingt förderliches Aufsehen. Am 21. Juli setzte der der Bayerische Rundfunk im Hörfunk eine Diskussion an, an der der Herausgeber der Schülerzeitung und der Direktor ebenso wie ein Vertreter des Ministeriums und der Landtagsabgeordnete und Schulleiter Dr. J. B teilnahmen. 97 Am 7. August 1975 berichtete auch die Illustrierte »Stern« darüber. 98 Die totale Isolation des Direktors Dr. Bender war inzwischen weitgehend isoliert. Jetzt reagierte auch der Ministerialbeauftragte 99 kritisch. Der Schulleiter sei zu wenig zum klärenden Gespräch bereit, er ziehe sich lieber in das Direktorat zurück und schreibe Briefe. 100 Er gehe zu viele Probleme nicht von der pädagogischen, sondern von der juristischen Seite her an; dadurch entstehe kein menschlich warmes Klima, in dem sich junge Menschen geborgen fühlten. Er könne sich aber auch gegenüber den Lehrern nicht durchsetzen. Der gesamte Elternbeirat erklärte am 23. Juni 1975, nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten zu können und plädierte für seine Abberufung. 101 Am 8. Juli 1975 forderte sogar der Starnberger Landrat, der auch Elternbeirat war, die Ablösung des Direktors, der den ihm übertragenen Aufgaben auch nicht annähernd gewachsen sei. 102 Der Sprecher der Fraktion der FDP im Stadtrat wurde ebenfalls gegen den Direktor vorstellig. 103 Auch dem Ministerium war dessen völlige Isolation klar. Alle Parteien vor Ort seien sich gegen ihn einig. 104 Dennoch blieb er noch drei Jahre im Amt, bis er das Pensionierungsalter erreicht hatte. <?page no="291"?> 292 Paul Hoser Schülerstreik und 68er-Trends Von den Schülern des Starnberger Gymnasiums malte der Ministerialbeauftragte für Oberbayern-West 1975 ein wahres Horrorgemälde, das ganz in das Zerrbild der Jugend passt, wie es damals von der inhaltlich konservativen, in ihren Ausdrucksmitteln aber radikalen Springer-Presse gezeichnet wurde und allgemein in der Elterngeneration weit verbreitetet war: Wohlstandsüberdruß führte zu Rauschgiftproblemen, sexueller Liberalisierung , übertriebenem Konsum an Alkohol, fortgesetzter Betriebsamkeit in Parties, aber auch zu ausgesprochener Opposition gegen die älteren Generation (Eltern-Lehrer), Bildung von meist unorganisierten ›Antigruppen‹, sowie organisierten Zusammenschlüssen von ganz links bis ganz rechts. 105 Konkrete Belege dafür nannte er nicht. Die erste - nicht veröffentlichte - Dokumentation der Schüler war in der Wortwahl vom Zeitjargon der Studentenbewegung durchdrungen: In seinem verhalten demaskiere sich der Direktor als opportunist, rassendiskriminant, anhänger des herren-knecht-systems, rücksichtsloser befehlshaber und zweifelhafter pädagoge. Derartig autoritäre charakterstrukturen und expropriierende machtpositionen fördern den faschismus. 106 Doch waren linksradikale Tendenzen bei der Starnberger Schülerinitiative nicht erkennbar. Für den Verfassungsschutz in- und außerhalb Bayerns war damals die Theorie der ferngesteuerten Verschwörung die alles erklärende Formel. 107 Für die dort aufgestellte Behauptung, ein Kreis Sozialistischer Schüler sei mutmaßlicher Initiator des Streiks gibt es tatsächlich keinerlei Belege. 108 Nur eine einzige beteiligte Schülersprecherin hatte eine Jahr zuvor an einem Seminar in Icking teilgenommen, wo eine Verbindung zu diesem Kreis bestand. 109 Nach ihrer Erinnerung hatte es sich bei dem Treffen tatsächlich mehr um ein Happening mit parodistischen Einlagen gehandelt. 110 Auf der Demonstration vom 7. Juni 1972 übermittelte eine Pasinger Gymnasiastin herzliche Grüße der roten Schüler Münchens. 111 Dies war das einzige Anzeichen einer Verbindung der Starnberger Vorgänge mit der inzwischen teilweise zu beobachtenden politischen Ideologisierung der im Gefolge der Studentenbewegung entstandenen rebellischen Schülerbewegung. Von den von Torsten Gass-Bolm aufgezeigten zwei Richtungen der Schülerbewegung, einer sozialistischen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern wollte, und einer weit größeren, die eine reformerische Demokratisierung der Schule anstrebte 112 , war die in Starnberg eindeutig dem zweiten Lager zuzuordnen. Der von Götz Aly festgestellte Wandel von der prinzipiellen Akzeptanz des demokratischen Staats zur Forderung nach der »Zerschlagung« des Staatsapparats und dem Ziel eines totalen Umsturzes fand nicht statt. 113 In Starnberg spielte die von ihm den Rebellen insgesamt vorgehaltene Identifikation mit dem Maoismus und dem Terror der Kulturrevolution überhaupt keine Rolle. 114 Ganz allge- <?page no="292"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 293 mein übernahmen die meisten Schüler der damaligen Zeit von der Studenten- und Schülerbewegung das Ziel der Demokratisierung, lehnten aber ihren revolutionären und theoretischen Ansatz ab. 115 Gerhard Fürmetz hat die allgemeinen Trends an den Gymnasien dieser Zeit bereits skizziert: »[...] eng verknüpft mit der kritischen Abneigung gegen ihre Schulwirklichkeit war das Aufbegehren der Gymnasiasten gegen eine verständnislose Elterngeneration, die zum Großteil der satten Wohlstandsmentalität und dem Leistungsdenken der Adenauer-Ära verhaftet war.« 116 Der Kommentator des »Münchner Merkur« hatte von einer in Bayern einzigartigen Schüleraktion gesprochen. 117 Außerhalb Bayerns waren solche Streiks schon seit Langem nichts Besonderes mehr. 118 Wolfgang Kraushaar bezeichnet solch ein Protestverhalten als »begrenzte Regelverletzung«, als zivilen Ungehorsam, eine Protestform, die der Gewaltfreiheit verpflichtet ist. 119 Götz Aly wirft den linksradikalen Vertretern der 68er Bewegung vor, sie seien »Wohlstandsrevoluzzer« gewesen. 120 Dies mag in gewissem Maß auch für die Schülerbewegung gelten, gehörte man doch als Besucher eines Gymnasiums immer noch einer privilegierten Minderheit an 121 , die ein Elternhaus mit einem gewissen Wohlstand als Grundlage voraussetzte. Nach der amtliche Statistik zählte der Landkreis Starnberg, der das Einzugsgebiet für das Gymnasium bildete, zu den zehn bayerischen Landkreisen, in denen die Personen mit dem höchsten steuerpflichtigen Vermögen ansässig waren. 122 Die Berufe der Eltern der sieben Anführer 123 sind angegeben mit: Apotheker, medizinisch-technischer Assistent, Arzt, Schriftsteller, Ingenieur, Oberregierungsrat und Buchhändler. 124 Ein Blick auf die Schülereltern nach dem Jahresbericht 1967/ 68 zeigt die starke Dominanz höherer Beamter und akademisch gebildeter Freiberufler. 125 Man kann aber nicht generell folgern, dass das Bewusstsein, aus besseren Verhältnissen zu stammen, die Protestbereitschaft stärkte. Tatsächlich hatte ja auch eine Elterninitiative die Forderung nach dem Rücktritt des Schulleiters unterstützt. Doch gab es auch zahlreiche Eltern, die keinerlei Verständnis für die Schülerproteste hatten, wie die Elternversammlung zeigt, auf der der Sprecherin der Schüler teilweise direkter Hass entgegengeschlagen war. Gerhard Fürmetz urteilt, gemessen am Anspruch organisierter Schülerrebellen sei die Aufbruchsbewegung der Jahre nach 1967/ 68 im Wesentlichen gescheitert. Weder seien die schulischen und staatlich-politischen Strukturen nachhaltig umgewälzt worden, noch habe sich die Jugend an weiterführenden Schulen gänzlich von Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Zwängen befreien können. Doch seien auch die bayerischen Gymnasien von den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen <?page no="293"?> 294 Paul Hoser der Zeit nicht unberührt geblieben. Eine aufgeschlossenere Lehrergeneration sei nachgerückt und die nachkommenden Schüler hätten ihre Interessen wirksam artikuliert. 126 Genau gegenteilig ist das Urteil von Torsten Gass-Bolm. Er spricht von unmittelbaren Wirkungen auf die Politik. Es sei beeindruckend, in welche Geschwindigkeit die Forderungen der Schüler von der Schulpolitik und den einzelnen Schulen aufgegriffen worden seien. 127 Konkrete Beispiele sind für ihn die Umwandlung der Schülermitverwaltung in eine Interessenvertretung der Schüler, die Einführung der Sexualerziehung in den Unterricht und die Abschaffung der Zensur für Schülerzeitungen. 128 Gerade diese wurde allerdings in Bayern bald wieder rückgängig gemacht. Anmerkungen 1 Als Quellenmaterial dienten die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv liegenden und noch nicht verzeichneten Akten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus [abgekürzt MK] A6 A 5 DR 5 2187 und 2888, ferner die Bestände MInn 97912 und MInn 97919/ a [Bayerisches Staatsministerium des Innern], eine umfassende Sammlung von Dokumenten im Besitz einer damaligen Schülersprecherin, Artikel des »Münchner Merkur, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal« sowie des »Land- und Seeboten«, Starnberg, die Jahrgänge der Starnberger Schülerzeitung »Die Meinung« von 1967-1972 und die Jahresberichte des Gymnasiums Starnberg von den Schuljahren 1964/ 65-1972/ 73. Als Zeitzeugen wurden der Sohn des Schulleiters, ein Mitglied des Direktorats und der ab August 1973 amtierende stellvertretende Direktor schriftlich bzw. mündlich befragt, ferner der Vorsitzende des Elternbeirats und ehemalige Landtagsabgeordnete Dr. Kaub, sowie vier führende Schülersprecher bzw. Schülersprecherinnen und ein damaliger Mitarbeiter des Kultusministeriums. Da eine Reihe der beteiligten Personen noch leben, war eine weitgehende Anonymisierung geboten. Viele Namen der Beteiligten sind allerdings in den Presseberichten, Schülerzeitungen und Jahresberichten im vollen Wortlaut erwähnt. Hier werden nur die öffentich erwähnten Namen von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und der des Direktors genannt. 2 Münchner Merkur vom 6./ 7.3.1971, Nr. 54, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal. Die Zeitung erschien erst am Tag nach dem Streik vom 5. März 1970. 3 Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal. 4 Flugblatt in: BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und als Anlage zu einem Schreiben des bayerischen Innenministeriums an das Landesamt für Verfassungsschutz vom 23.3.1971, BayHStA, MInn 97912. 5 Zu dem Abkommen auch: B. an MK, 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und MInn 97912; Aktennotiz K. vom 6.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 6 Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal. 7 Das Archiv des Vereins »Junge Presse Bayern e. V.«, das eine umfangreiche Sammlung von bayerischen Schülerzeitungen enthält, ist leider seit seiner Abgabe an die Nachlassabteilung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs noch nicht geordnet und daher nicht zugänglich. Die Bayerische Staatsbibliothek hat die Schülerzeitungen ebenso wie die Jahresberichte der Gymnasien nur sehr unzulänglich und lückenhaft gesammelt. Für die Einsicht in die Exemplare der Schülerzeitung »Die Meinung« musste auf eine private Sammlung zurückgegriffen werden. <?page no="294"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 295 8 Zu diesem Kongress des »Aktionszentrums unabhängiger und sozialistischer Schüler«: Gerd Langguth, Schulkampf als Klassenkampf. Protestbewegung und Schülerbewegung in der Bundesrepublik, Bonn 1975, S. 32; Gerhard Fürmetz, Zwischen Selbstbefreiung und Klassenkampf. Schülerprotest an bayerischen Gymnasien um 1968, in: Harald Parigger, Bernhard Schoßig, Evamaria Brockhoff, »Schön ist die Jugendzeit...? Das Leben junger Leute in Bayern 1899-2001 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 27/ 94), Augsburg 1994, S. 85-88, hier S. 85; Winfried Müller, Schülermitverantwortung, in: Max Liedtke [Hrsg.], Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, Bd. 4, Bad Heilbrunn 1997, S. 395-406, hier S. 403. 9 Die Meinung, 1967, Nr. 1, S. 3. 10 Die Meinung, 1967, Nr. 1, 14. 11 Die Meinung, 1967, Nr. 1, S. 15. 12 Schreiben vom 18.1.1971, interner Jahresbericht, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 13 Schreiben vom 15.10.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 14 Die Meinung, Juli 1968, S. 13. 15 Exemplar der Konventssatzung in: BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 16 Der Konvent hatte drei Vertreter im Schulforum, einer an allen bayerischen Gymnasien bestehende Institution. Ihr gehörten außerdem dem Schulleiter, zwei Lehrer und drei Delegierten des Elternbeirats an. Das Schulforum war eine Art Mitspracheorgan mit begrenzten Möglichkeiten. 17 Schreiben vom 18.1.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187; die folgenden Zitate ebd. 18 Darstellung o. D. Sie wurde wörtlich in die spätere 1. Dokumentation der protestierenden Schüler übernommen. 1. Dokumentation, Schülersammlung. 19 In Achternbuschs 1970 erschienen Prosaband »Die Macht des Löwengebrülls« geht es ironischerweise um einen hilflosen Lehrer. 20 Schreiben vom 18.1.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 21 Schreiben vom 13.11.1970, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 22 Schreiben vom 24.11.1970, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 23 Land- und Seebote vom 8.12.1970. 24 Zu den in der Glosse erhobenen Vorwürfen auch Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53. 25 Entwurf eines Schreibens des MK vom 30.11.1970, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 26 Schreiben vom 9.12.1970, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 27 MK an Staatsanwaltschaft beim Landgericht München II, 12.1.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. Zum Verdruss des Ministeriums wurde das Verfahren eingestellt. Oberstaatsanwalt am Landgericht München II an MK, 10.3.1971. 28 Schreiben vom 18.1.1971, BayHStAA6 A 5 DR 5 2187. 29 Es handelte sich um den Leiter der Abteilung II/ 9. Dieses Fachreferat war u. a. für die Schülermitverwaltung zuständig. S. dazu Bayerisches Jahrbuch 1969/ 70, 64. Jahrgang, München 1969, S. 60. 30 R Schreiben vom 2.2.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 31 Sicher ist, dass ihnen eine am 23. März vom Direktor beglaubigte Abschrift vorlag. Abschrift der KME vom 2.2.1971, Schülersammlung. 32 Schreiben vom 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und MInn 97912. 33 Nach dem Bericht des Direktors waren dort an die 50 Schüler versammelt, nach dem des »Münchner Merkur« dagegen 120. Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal; Land- und Seebote, Starnberg, vom 6.3.1971, Nr. 27; B. an MK, 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und MInn 97912. Der Land- und Seebote berichtete falsch, da er behauptete, der Streik habe gar nicht stattgefunden. Protokoll der Lehrerratsitzung vom 4.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. Ein Protokoll der Konventssitzung liegt nicht vor. Das wesentliche über sie geht aber aus dem Zeitungsbericht hervor. <?page no="295"?> 296 Paul Hoser 34 Dem Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53, zufolge solidarisierten sich nur geringe Teile des Konvents mit der Aufforderung zum Streik. Schreiben vom 15.10.1971, BayHStA AA6 A 5 DR 5 2187. Dagegen sprechen aber die 149 Unterschriften unter das Flugblatt (Unterzeichnet hatten vor allem Schüler der Oberstufe und zwar und 35 % aller Oberstufenschüler, daneben auch Schüler der Mittelstufe). Die Unterschriften in: Schülersammlung. 35 Erklärung des Lehrerrats vom 4.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und MInn 97912. 36 Aktennotiz vom 6.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 37 Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53. 38 Vormerkung zum Bericht der Schule vom 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 39 Undatierte Notiz BayHStAA6 A 5 DR 5 2187; 2. Dokumentation, BayHStA, A6 A 5 DR 5-2187 und Schülersammlung. 40 1. Dokumentation, Schülersammlung. 41 2. Dokumentation, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und Schülersammlung. Ein Exemplar der bereinigten Fassung fand sich nicht. Doch war sie vermutlich mit den S. 1-4 der an die Presse gegebenen Fassung identisch. Die S. 1-4 zählten sachlich die Vorwürfe gegen den Direktor auf. Die teilweise sehr polemischen Kommentare der 1. Dokumentation waren völlig weggefallen. 42 Notiz über das Treffen dreier Elternbeiratsvertreter vom 1.4.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 43 Notiz über die Sitzung des Elternbeirats vom 5.4.1971; 2. Dokumentation (diese ebd. und in Schülersammlung). 44 Schreiben vom 26.4.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und Schülersammlung. 45 Münchner Merkur vom 29.4.1971; Land- und Seebote vom 4.5.1971, Regionalanzeiger der SZ vom 4.5.1971; 2. Dokumentation, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und Schülersammlung; Ergänzung zur Dokumentation, ebd. 46 Vormerkung zum Bericht vom 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 47 Anmerkung des Referenten der für die Schulordnung zuständigen Abteilung II/ 12 auf der Vormerkung zum Bericht vom 5.3.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 48 Anweisung vom 25.5.1971; Schreiben vom 27.6.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 49 Schreiben vom 15.9.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 50 Süddeutsche Zeitung, Ausgabe Starnberg, vom 21.5.1971. 51 Resolution vom 12.5.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187; zu dem Treffen auch Schreiben vom 27.6.1971. 52 Vormerkung vom 14.6.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 53 Brief Dr. Kaubs vom 17.4.2009 an den Verfasser. 54 Schreiben vom 14.6.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 55 Vorbemerkung zur 2. Dokumentation, Schülersammlung. 56 Vormerkung vom 15.7.1971; Schreiben vom 17.7.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187; Münchner Merkur vom 17/ 18.7.1971, Nr. 161, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmsee; Land- und Seebote vom 17.7.1971, Nr. 84; tz, München, vom 17./ 18.7.1971; Abendzeitung vom 17/ .18.7.1971. 57 Die Dokumentation war von sieben Abiturienten aus allen drei Abschlussklassen namentlich gezeichnet. 58 Münchner Merkur vom 17/ 18. Juli 1971, Nr. 161. 59 Schreiben vom 4.8.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 60 Vgl. den Zettel in der Schülersammlung: »Verantwortlich für die Aktion« mit 19 Unterschriften und die diversen von Schülern namentlich unterschriebenen Erklärungen zu einzelnen Vorwürfen gegen B. 61 Vormerkung vom 27.7.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 62 2. Dokumentation, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187 und Schülersammlung; Münchner Merkur vom 17/ 18.7.1971, Nr. 161, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmsee. <?page no="296"?> Der Starnberger Schülerstreik vom 5. März 1970 und seine Folgen 297 63 Der gedankenlose Ausdruck von der »Judenschule« war offenbar unter der Elterngeneration weit verbreitet. Götz Aly, Unser Kampf 1968, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2008, S. 73. 64 Schreiben vom 2.4.1971; Notiz K über eine Besprechung mit am 1.4.1971; Schreiben vom 19.8.1971; Referentenvermerk (Abteilung II/ 10, Rechtsreferat u. a. für Personalangelegenheiten, Dienstordnung) vom 23.8.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 65 Schreiben vom 11.9.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 66 Anmerkung zu Schreiben MK an H., o. D., BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 67 Die Meinung. 1971/ 72, Nr. 1, S. 18. 68 Rundschreiben an Klassleiter und Klassen, 9.11.1971, Schülersammlung. 69 Schreiben vom 21.11.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 70 Flugblatt, Schülersammlung. 71 Schreiben vom 21.11.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 72 Beitrag für die Schülerzeitung vom 17.11.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 73 Vormerkung vom 29.11.1971, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. 74 Torsten Gass-Bolm, Revolution im Klassenzimmer? Die Schülerbewegung 1967 - 1970 und der Wandel der deutschen Schule, in: Christina von Hodenberg, Detlef Siegfried, Wo »1968« liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 113-138, hier S. 115-120. 75 Die Meinung 1971/ 72, 1. Ausgabe, S. 10f. 76 Protokoll des Treffens vom 10.2.1972, Schülersammlung. 77 Protokoll des Treffens vom 28.2.1972, Schülersammlung. 78 3 . Dokumentation, Schülersammlung. 79 Chronologische Aufstellung vom 16.6.1972, Schülersammlung. 80 3. Dokumentation, Schülersammlung. 81 Chronologische Aufstellung vom 16.6.1972, Schülersammlung. 82 Dazu Münchner Merkur vom 9.6.1972, Nr. 130, Starnberger Ausgabe; Land- und Seebote vom 8.6.1972, Nr. 68; Berichte des Verfassungsschutzes (eingegangen am 6.6. und 8.6.1972), BayHStA, MInn 97919/ a; MInn an MK, 8.6.1972, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2187. Die Angaben über die Teilnehmerzahlen schwanken. Dem Bericht des Verfassungsschutzes zufolge waren es 100, nach dem Land- und Seeboten 200, dem des Münchner Merkur zufolge nur 70. 83 Die Meinung 1971/ 72, S. 18; Staatsministerium des Innern an Ministerium für Unterricht und Kultus, 28.6.1972, BayHStA, MInn 97919/ a. 84 Chronologische Aufstellung vom 16.6.1972, Schülersammlung. 85 Verfügung vom 7.8.1972, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 86 Schreiben vom 18.10.1974, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 87 Münchner Merkur vom 15./ 16.3.1975, 1972, Starnberger Ausgabe: Schreiben vom 19.5.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 88 Land- und Seebote vom 15.3.1975. 89 Schreiben vom 22.2.1973, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 90 Abteilung II/ 3. 91 Vormerkung vom 16.4.1973, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188.. 92 Schreiben vom 18.10.1974, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 93 Andreas Neumeister, Äpfel vom Baum im Kies, Frankfurt am Main 1988, 2. Aufl. 1994, S. 92f.; vgl. auch BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 31.7.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 94 Münchner Merkur, Nr. 26, 1975. 95 F. an Th. M., 5.3.1975, Die Meinung, 2. Ausgabe 1974/ 75, S. 38. 96 Verwarnung vom 7.5.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 97 Bericht Benders vom 19.5.1975. Zu dem Zensurvorfall: Wolfgang Schwalbe, Gymnasium Starnberg (seit 1938), in: Iris v. Hoyningen-Huene (Hrsg.), Gott zur Ehr’, den Kindern zur Lehr’. 200 Jahre Schule in Starnberg (Starnberger Stadtgeschichte, Bd. 5), Starnberg 2010, S. 130-161, hier S.150. 98 Der Stern, 7.8.1975, Nr. 33, S. 116; s. a. Der Spiegel Nr. 29/ 1928, 12.7.1976, S. 77. <?page no="297"?> 298 Paul Hoser 99 Bei den Ministerialbeauftragten handelt es sich um Schulleiter, die im Auftrag des Ministeriums zusätzlich im Rang eines »Leitenden Gymnasialdirektors« die Oberaufsicht über die staatlichen Gymnasien eines Regierungsbezirks ausüben. Der Regierungsbezirk Oberbayern ist wegen seiner Größe zweigeteilt. In diesem Fall handelte es sich um den Beauftragten für Oberbayern-West. 100 S. an H., 18.6.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 101 Elternbeirat an S., 23.6.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 102 Schreiben vom 8.7.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 103 HR. an MK., 11.7.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 104 Vormerkung vom 17.7.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 105 S. an H., 13.6.1975, BayHStA, A6 A 5 DR 5 2188. 106 1. Dokumentation, Schülersammlung. 107 Aly, Kampf, S. 30f. 108 Bericht über extreme politische Bewegungen an bayerischen Schulen in der Zeit vom Januar 1971 bis April 1972, BayHStA MInn 97921. Der Bericht betonte, dass Schulen an sich keine Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes seien. 109 Anlage 5 zum Schreiben vom 5.3.1971, BayHStA MInn 97912; Landesamt für Verfassungsschutz an MInn, 13.10.1970, MInn 97928. 110 Schriftliche Auskunft von Frau U. vom 21.6.2008. 111 Münchner Merkur vom 9.6.1972, Nr. 130, Starnberger Ausgabe; MInn an MK, 8.6.1972, 112 Gass-Bolm, Revolution, S. 119f. Allgemein unterscheidet Wolfgang Kraushaar innerhalb der 68er Bewegung zwischen den Maximalisten und den Gradualisten der Gesellschaftsveränderung, d. h. zwischen Revolutionären und Reformern. Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008, S. 62-64. 113 Aly, Unser Kampf, S. 88f. Das von Aly, Unser Kampf, S. 117, der neuen Linken vorgehaltene Schwarz-Weiß-Denken beherrscht tatsächlich auch sein eigenes. 114 Aly, Unser Kampf, S. 106f. 115 Gass-Bolm, Revolution, S. 127. 116 Fürmetz, Selbstbefreiung, S. 85. 117 Münchner Merkur vom 5.3.1971, Nr. 53, Lokalausgabe Starnberger See, Ammersee, Würmtal. 118 Gass-Bolm, Revolution, S. 120. 119 Kraushaar, Achtundsechziger, S. 84. 120 Aly, Unser Kampf 1968, S. 17; ferner S. 169, wo er dies auf die ganze westliche Welt ausweitet. 121 1958 betrug die Zahl der Absolventen mit Hochschulreife in Bayern 7.024, 1968 10.222 und 1978 bereits 19.588. Bayern-Daten von 1950 bis 1982, München 1983, S. 27f. 122 Karte in: Vermögensteuerhauptveranlagung und Einheitswerte für das Betriebsvermögen zum 1. Januar 1972 (Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 361) bei S. 14. 123 Drei davon gaben Interviews für die Schülerzeitung »Die Meinung« 1971/ 72. f 124 Angaben bestimmt nach Realgymnasium Starnberg. Jahresbericht 1964/ 65. Dort sind im Gegensatz zu späteren Jahresberichten noch die Berufe der Eltern angegeben. Ergänzend wurden herangezogen: Würmtal-Adreßbuch, Ausgabe Starnberg, 6. Auflage, München 1968. 125 Er enthält letztmals die Berufsangaben des Vaters, bzw. der Erziehungsberechtigten Mutter. Von fünf Schülersprechern beim Streik ließen sich ihre späteren Berufe ermitteln: Finanzierungsmittler und Marktforscher, Universitätsprofessor für Psychologie, Abteilungsleiter des Caritasverbandes, Privatdozentin für Volkskunde und Psychotherapeutin. 126 Fürmetz, Selbstbefreiung, S. 88. 127 Gass-Bolm, Revolution, S. 132. 128 Gass-Bolm, Revolution, S. 128. <?page no="298"?> Freiräume vom Provinzalltag Jugendzentrumsinitiativen im ländlichkleinstädtischen Raum in den 1970er Jahren d avid t emplin »Junge Menschen, oftmals in Kleidung und Haartracht ohne nähere Inspektion schlecht unterscheidbar, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, lassen uns eine Welle der bewußten Nichtanpassung erleben, des gewollten und gesuchten Infragestellens, des Reformeifers, des kritischen Bewußtseins. […] Berechtigte Bedenken stellen sich in den Raum durch die Gründung der ›roten Zellen‹, deren Existenz bereits von der Hochschule bis zur Werkbank festzustellen ist. […] Dieser aktiven und wortführenden Minderheit, die ›Diskussion‹ ruft und Umfunktionieren meint, die Reform sagt und Revolution will, noch über Steuergelder eine Bleibe zu verschaffen, ist eine Utopie.« 1 Mit diesen Worten meldete der stellvertretende Bürgermeister der baden-württembergischen Kleinstadt Wertheim Skepsis gegenüber der Forderung nach einem Jugendzentrum an, die der Stadtjugendring des Ortes Anfang 1971 gegenüber der Stadt erhoben hatte. Die im Wertheimer Gemeinderat vorgebrachten Äußerungen verweisen auf Entwicklungen, die für viele kleinere Städte und Gemeinden zu Beginn der 1970er Jahre typisch waren. Initiativgruppen von Jugendlichen hatten sich gebildet, die sich für die Einrichtung von Jugendzentren in Selbstverwaltung stark machten. Der Spiegel konstatierte im Januar 1974: »Kaum eine kleinere Stadt, kaum ein größeres Dorf, in dem nicht neuerdings Heranwachsende für ein ›Jugendhaus‹, ein ›Freizeitheim‹, ein ›Kommunikationszentrum‹ streiten […] Ihr Schlachtruf: ›Was wir wollen: Freizeit ohne Kontrollen.‹« 2 Lokalpolitiker, Stadtverwaltungen und Gemeinderäte reagierten auf diese Forderung in vielen Fällen mit starken Vorbehalten, die bis zur offenen Ablehnung reichten. Im Folgenden soll ein Überblick über die Entwicklung und die spezifischen Ausprägungen der Jugendzentrumsbewegung in der westdeutschen »Provinz«, also den ländlich geprägten Regionen und Kleinstädten abseits der Ballungszentren, gegeben werden. 3 Die starke Konzentration jugendlicher Initiativen in Klein- und Mittelstädten macht das Spezifische dieser Bewegung aus, weshalb Albert Herrenknecht die Jugendzentrumsbewegung auch als »größte autonome, nicht verbandlich-organisierte Massenbewegung von Jugendlichen auf dem Lande« bezeichnet hat. 4 Eine zeitgenössische Umfrage war bereits 1974 zu dem Ergebnis gekommen, dass 80 Prozent der Jugendzentrumsinitiativen in Städten und Gemeinden zwischen 5.000 und 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern entstanden waren. 5 <?page no="299"?> 300 David Templin Herausbildung der Jugendzentrumsbewegung Die Freizeitsituation von Jugendlichen im ländlichen und kleinstädtischen Raum war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren noch geprägt von der traditionellen Verbandsarbeit - insbesondere im Rahmen der Kirchengemeinden - und einem Mangel an offenen Angeboten, die sich auch an nicht in Verbänden organisierte Jugendliche richteten. Die Gruppenarbeit der Jugendverbände sprach allerdings immer weniger Jugendliche an, stattdessen orientierten sich viele an den Entwicklungen in den Großstädten, den kulturellen und politischen Aufbrüchen, der neuen Mode und Musik. Der Aufstieg einer neuen Jugendkultur vollzog sich dabei vor dem Hintergrund einer spürbaren Ausweitung an frei verfügbarer Zeit auch für die ländlich-kleinstädtische Jugend. 6 Den informellen Gruppen Jugendlicher boten sich in den Kleinstädten und Gemeinden allerdings kaum Orte zur eigenständigen Freizeitgestaltung. 1965 existierte nur in etwa jeder vierten westdeutschen Kleinstadt ein Jugendfreizeitheim. 7 Die Fernsehsendung Jour fix versuchte 1971 auf das Problem der Jugendlichen in diesen Orten aufmerksam zu machen: »Sie möchten aus dem Elternhaus wenigstens ab und zu weggehen, um sich unter Gleichaltrigen aufzuhalten, die dieselben Interessen, Bedürfnisse und Probleme haben. Aber sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen.« 8 Die Protestbewegung der Jahre um 1968 ging auch an den Kleinstädten und Gemeinden der Bundesrepublik nicht spurlos vorüber. Mit zeitlicher Verzögerung zu den Entwicklungen in den Metropolen und Universitätsstädten gründeten sich auch hier Schüler- und Lehrlingsgruppen, und Jugendliche versuchten die Impulse der urbanen Gegenkultur aufzunehmen. Die Zeitschrift Pardon registrierte 1970: »Bisher blieb es weitgehend unbemerkt: die Außerparlamentarische Opposition hat bei ihrem langen Marsch durch die Institutionen endlich auch die Provinz erreicht. Überall zwischen Flensburg und Konstanz haben sich lokale APO-Gruppen gebildet. Ihr Ziel: gesellschaftliche Veränderung durch konkrete Basisarbeit in den Dörfern und Kleinstädten.« 9 Während sich in den Großstädten linke Milieus mit einem breiten Spektrum an unabhängigen politischen Gruppen herausgebildet hatten, übernahmen diese Rolle in kleineren Orten oftmals lokale Gruppen von Jungsozialisten oder Jungdemokraten, die Gewerkschaftsjugend oder linke Pastoren. 10 Parallel dazu entdeckten Jugendliche in der Provinz Beat- und Rockmusik für sich. Im Rahmen kirchlicher Jugendarbeit oder in privaten Kellerräumen entstanden in den späten 1960er Jahren vermehrt Jugendclubs, in denen Schallplatten aufgelegt und zur neuen Musik getanzt wurde. Seit 1970 gründeten sich die ersten Initiativgruppen Jugendlicher, die sich vor Ort für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum einsetzten. In den folgenden Jahren breiteten sich Jugendzentrumsinitiativen in der ganzen <?page no="300"?> Freiräume vom Provinzalltag 301 Bundesrepublik aus, 1974/ 75 wurde ihre Zahl auf über 1.000 geschätzt. 11 Die Wurzeln dieser Bewegung liegen im ländlichen und suburbanen Raum. Bevor die Bewegung die Großstädte erreichte, hatten sich bereits um 1970/ 71 Initiativgruppen in kleinen Orten wie Kusel in Rheinland- Pfalz, in Schorndorf bei Stuttgart oder im saarländischen Merzig herausgebildet. 12 Die Kluft zwischen einer prosperierenden Jugendkultur in den größeren Städten und kaum vorhandenen Freizeitangeboten im ländlichkleinstädtischen Raum war Ausgangspunkt dieser Initiativen. Vermittelt über die Medien war »ein Nachholbedarf entstanden, der befriedigt werden musste«. 13 Insbesondere die in der ARD ausgestrahlten Jugendsendungen Jour fix (1971-72) und Diskuss (1973-74), in denen Jugendzentrumsinitiativen vorgestellt und über ihre Aktivitäten berichtet wurde, sorgten für eine mediale Sichtbarmachung des neuen Phänomens und beschleunigten die bundesweite Ausbreitung der Bewegung. Hatten sich rebellierende Jugendliche in den Jahren um 1968 noch an den Entwicklungen in den großen Städten orientiert, wurde im Verlauf der Kämpfe für unabhängige Jugendzentren und für jugendliche Freiräume in den Klein- und Mittelstädten etwas Eigenständiges entwickelt. 14 Gruppen von Schülern im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, aber auch Lehrlinge und junge Arbeiter bildeten die soziale Basis der Initiativen. Auch wenn die Freizeitsituation der nicht in Verbänden organisierten Jugendlichen im Fokus der Bewegung stand, ging der Anstoß zur Gründung einer Initiativgruppe nur in wenigen Fällen von völlig unorganisierten Jugendlichen aus. Als Initiatoren von Jugendzentrumsinitiativen traten vielmehr mit lokalen Parteijugendorganisationen, unabhängigen Basisgruppen von Schülern und Lehrlingen, konfessionellen Jugendgruppen und Orts- oder Stadtjugendringen vier unterschiedliche Akteure in Erscheinung, die jedoch alle von der 68er-Bewegung geprägt - und teilweise radikalisiert - worden waren. Insbesondere die Jungsozialisten, die von einem rasanten Anstieg der SPD-Neumitglieder unter 35 Jahren profitiert und 1969 eine politische »Linkswende« vollzogen hatten, gaben in etlichen Fällen den Anstoß zur Gründung lokaler Jugendzentrumsinitiativen. 15 Orts- oder Stadtjugendringe repräsentierten als Zusammenschlüsse der Jugendverbände zwar die klassische Form der Jugendarbeit, aber auch an den Verbänden war die Jugendrevolte nicht spurlos vorübergegangen. Die Jugendringe erhoben deshalb an manchen Orten als erste die Forderung nach einem Jugendzentrum. Zum anderen versuchten jugendliche Aktivistinnen und Aktivisten teilweise gezielt, diese Jugendringe als Plattform für die Auseinandersetzung mit der Kommune zu nutzen. 16 Eine ambivalente Rolle spielten die Kirchen, die an vielen Orten oftmals die einzigen offenen Angebote für Jugendliche zur Verfügung stellten. In konfessionellen Gemeindehäusern wurden, teilweise auf Initiative progressiver <?page no="301"?> 302 David Templin Pastoren, Jugendclubs eingerichtet, deren Aktivitäten allerdings schnell an die Grenzen kirchlicher Toleranz stießen. So zog ein Jugendclub, der 1970 in Kressbronn am Bodensee im katholischen Gemeindehaus eingerichtet worden war, zwei Jahre später aus, nachdem die Kirchengemeinde von den Jugendlichen eine stärkere konfessionelle Bindung eingefordert hatte. Nach Verhandlungen mit der Stadt entstand so 1973 ein selbstverwaltetes Jugendhaus. 17 Die Rolle von progressiven Pastoren, kirchlichen Jugendgruppen und Ortsjugendringen macht deutlich, wie stark zu Beginn der 1970er Jahre noch die Bedeutung der organisierten Jugendarbeit war. Die Jugendzentrumsbewegung in der Provinz entwickelte sich erheblich stärker als in den Großstädten innerhalb oder am Rande dieser traditionellen Jugendarbeit, auch wenn sie mit dem Ruf nach Selbstverwaltung und nach Räumen für »nicht-organisierte« Jugendliche deren Vormachtstellung offensiv in Frage stellte. An manchen Orten gründeten aber auch vorher gänzlich unorganisierte Jugendliche Initiativgruppen. Im bayerischen Garmisch-Partenkirchen kam es dazu, als die örtliche Diskothek die Eintrittspreise erhöhte und (männliche) Jugendliche mit langen Haaren und Jeans nicht mehr hereinließ. Drei Jugendliche ergriffen die Initiative und mobilisierten zu einem Treffen, um ein »selbstverwaltetes, jugendeigenes Lokal« einzurichten. 18 Charakteristisch für alle Initiativen war die Forderung nach Einrichtung von möglichst selbstbestimmten Räumen. In der Formel vom »Jugendzentrum in Selbstverwaltung« oder in Parolen wie »Was wir wollen - Freizeit ohne Kontrollen« 19 kam dieses jugendliche Autonomie-Bestreben am deutlichsten zum Ausdruck. Gleichzeitig ging es darum, im Unterschied zum »passiven« Konsumverhalten beispielsweise in kommerziellen Diskotheken, eine »sinnvolle« Freizeitgestaltung zu ermöglichen. 20 Dabei reichten die Vorstellungen, was sich in einem selbstverwalteten Jugendzentrum abspielen sollte, von kulturellen bis zu politischen Aktivitäten. Neben dem Hören eigener Musik, dem Auflegen von Schallplatten, Tanzen und Feten - ungestört von Erwachsenen - ging es den Jugendlichen auch um gemeinsame Diskussionen, inhaltlichen Austausch und selbstorganisierte Politik. Im Konflikt mit den Kommunen Die Forderung der Initiativen nach einem Jugendzentrum in Selbstverwaltung rief bei den verantwortlichen Lokalpolitikern, Bürgermeistern und Stadtverwaltungen unterschiedliche Reaktionen hervor. Während es an manchen Orten relativ zügig zur Einrichtung eines Jugendhauses kam, zogen sich die meisten Auseinandersetzungen teilweise über mehrere Jahre hin. Im Gegensatz zu Großstädten existierte im ländlich-kleinstädti- <?page no="302"?> Freiräume vom Provinzalltag 303 schen Raum nur selten ein Jugendamt, so dass oftmals der Bürgermeister als Verwaltungsspitze zum direkten Ansprechpartner der Initiativen wurde. 21 Die lokalen Konflikte um Jugendzentren liefen zudem in viel stärkerem Maße in personalisierten Formen ab, da den Jugendlichen - wie auf einem Seminar von Initiativgruppen 1977 formuliert wurde - »kein anonymer Apparat gegenüber[stand], sondern ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten«. 22 Die ersten Aktivitäten der Initiativgruppen waren in der Regel darauf ausgerichtet, durch Fragebogenaktionen, Veranstaltungen, Flugblätter und Unterschriftensammlungen eine breitere Öffentlichkeit, aber vor allem weitere Jugendliche anzusprechen und die mangelnden Freizeitangebote vor Ort zu thematisieren. In Anschreiben an die Stadtverwaltung wurden Forderungen nach Einrichtung eines selbstverwalteten Jugendzentrums explizit artikuliert. Die Reaktionen der Stadtvertreter auf diese Forderungen und Aktionen waren nicht selten geprägt von Unverständnis und Verunsicherung angesichts des neuen Phänomens, dass sich Jugendliche jenseits klassischer Verbände und Vereine selbstorganisiert zusammenschlossen und politisch agierten. Zudem bestand anders als in größeren Städten oftmals eine viel stärker ausgeprägte prinzipielle Skepsis gegenüber offener Jugendarbeit. Die Kritik an der Freizeitsituation vor Ort wurde mit dem Verweis auf bestehende Angebote von Verbänden oder Kirchen als unbegründet zurückgewiesen. Der Forderung nach einem Jugendzentrum begegneten Gemeindevertreter mit dem Hinweis auf fehlende finanzielle Mittel. In anderen Fällen wurde auf die geplante Einrichtung einer Jugendfreizeiteinrichtung in einigen Jahren hingewiesen und zur Geduld gemahnt. Nur an wenigen Orten zeigten sich eine prinzipielle Offenheit von Stadtvertretern und die Bereitschaft zur Unterstützung der Jugendlichen. 23 In der Regel zog sich die Bereitstellung von Gebäuden oder Räumlichkeiten aber auch in diesen Fällen über mehrere Monate oder Jahre hin. Der Vorwurf städtischer »Hinhaltetaktik« zieht sich wie ein roter Faden durch die Publikationen von Jugendzentrumsinitiativen. So äußerte die »Aktionsgruppe Jugendzentrum« aus der Kleinstadt Merzig im Saarland Ende 1972, nachdem die Stadt nicht auf ihre Anträge zur Bereitstellung von Räumlichkeiten geantwortet hatte, die Vermutung: »Es scheint eine alte Behördentaktik zu sein, zunächst einmal abzuwarten, ob sich ein solch störendes Unterfangen nicht von selbst totläuft«. 24 Und die Initiative aus Kusel wusste zu berichten: »Als wir in der Presse waren, als wir Flugblätter verteilt haben, als wir Plakate aufgehängt haben, da haben die Verwaltungsleute immer was versprochen und […] teilweise noch was gemacht […] sobald wir nicht mehr in der Öffentlichkeit waren, weil wir gedacht haben, das läuft jetzt, da passierte auch nichts mehr.« 25 <?page no="303"?> 304 David Templin In anderen Städten ließ sich noch deutlicher eine gezielte »politische Verhinderungsstrategie« 26 ausmachen. Nach einem formellen Antrag einer Initiative aus Schweich (Rheinland-Pfalz) an die Gemeindeverwaltung, ein leer stehendes Haus als Jugendzentrum übernehmen zu dürfen, reagierte diese zwei Tage später einfach mit dem sofortigen Abriss des betreffenden Hauses. 27 Jugendlichen Initiativgruppen wurde die Fähigkeit, ein Jugendhaus zu verwalten, oftmals gezielt abgesprochen. Eine allgemeine Ablehnung der neuen Formen von Jugendkultur sowie Befürchtungen vor linken und kommunistischen Umtrieben, Alkohol- und Drogenkonsum oder »sexuellen Ausschweifungen« bestimmten nicht nur das Verhältnis großer Teile der lokalen Kleinstadtbevölkerung zu einem Jugendzentrum, sondern auch die Positionen nicht weniger Stadtvertreter. 28 In einer Umfrage unter Initiativgruppen wurden 1974 als am häufigsten auftauchende Argumente von Politikern gegen ein Jugendzentrum die Unfähigkeit der Jugend, die linke Ausrichtung (»rote Kaderschmiede«), die fehlenden finanziellen Mittel, die fehlende Notwendigkeit eines Jugendzentrums und der Drogenkonsum genannt. 29 Um sich gegen diese starken Widerstände vieler Kommunen gegen die Einrichtung offener Jugendeinrichtungen im Allgemeinen und das Modell der Selbstverwaltung im Besonderen durchzusetzen, mussten die Initiativgruppen einen langen Atem beweisen. Die Aktivitäten reichten dabei von Öffentlichkeitsarbeit, der Ausarbeitung von detaillierten Modellen der Selbstverwaltung und der Organisation von Diskussionsveranstaltungen bis hin zum Auftauchen größerer Gruppen Jugendlicher bei Ratssitzungen und lautstarken Demonstrationen. Mit der Veranstaltung von Musikkonzerten oder Disko-Abenden in städtischen oder kirchlichen Räumlichkeiten versuchten die aktiven Jugendlichen bereits vor der Einrichtung eines Jugendzentrums, kulturelle Angebote zu leisten. Solche Aktivitäten trugen nicht nur zur Herausbildung einer ländlich-kleinstädtischen Jugendkultur bei, sondern stellten für die Initiativen darüber hinaus den Kontakt zu einem sympathisierenden Umfeld Jugendlicher sicher und dienten dazu, die Idee eines eigenen Jugendzentrums zu popularisieren. 30 Im Gegensatz zu den großstädtischen Zentren der Jugendzentrumsbewegung, in denen leer stehende Häuser besetzt und diese in manchen Fällen auch militant zu verteidigen versucht wurden, fielen die Aktionen der Initiativen in der Provinz in der Regel moderater aus. Der gesellschaftliche Druck, dem politisch aktive Jugendliche in Kleinstädten ausgesetzt waren, machte sich hier bemerkbar. Eine erfolgreich verlaufene Hausbesetzung wie im Juni 1971 in Schwetzingen, Eierwürfe auf Stadtvertreter im schleswig-holsteinischen Mölln 1973 oder das Beispiel Wertheim, wo es zwischen 1971 und 1975 zu drei Besetzungen kam, die von einer grö- <?page no="304"?> Freiräume vom Provinzalltag 305 ßeren »Sponti-Szene« vor Ort getragen wurden, bildeten die Ausnahme. 31 Allerdings entfalteten großstädtische Hausbesetzungen wie die des »Georg-von-Rauch-Hauses« 32 in West-Berlin eine Ausstrahlungskraft, die auch die Initiativen im ländlichen Raum erreichte und wenn nicht zur Nachahmung inspirierte, so doch die Grundlage dafür lieferte, sich auch im »hintersten Winkel« der Provinz als Teil einer größeren Bewegung zu fühlen. Letztlich vermochten sich im Verlauf der Hochphase der Jugendzentrumsbewegung zwischen 1971 und 1974 relativ viele Initiativgruppen gegen die Widerstände in den Verwaltungen und Stadtvertretungen durchzusetzen. Der Umfrage des Fernsehmagazins Diskuss zufolge hatten 30,5 Prozent der Initiativen 1974 einen Erfolg vorzuweisen, weiteren 24 Prozent war ein Provisorium bewilligt worden. 33 Zum einen lässt sich dies auf den anhaltenden politischen Druck der Jugendlichen zurückführen, der dazu beitrug, dass das mangelnde Freizeitangebot in der lokalen Öffentlichkeit als Problem anerkannt und die Kommunen so in jugendpolitische Erklärungsnot gebracht wurden. Die Notwendigkeit offener Jugendarbeit konnte immer seltener geleugnet werden. Zum anderen hatte sich im Zuge des von der sozialliberalen Koalition auf Bundesebene beförderten Reformklimas ein jugendpolitischer Diskurs verbreitet, der in jugendlicher Selbstverwaltung ein »Experiment« mit neuen Formen der Jugendarbeit erblickte. Diese insbesondere von sozialdemokratischer Seite vertretene Perspektive war jedoch in größeren und mittleren Städten vermutlich wesentlich häufiger anzutreffen als in kleinen, stärker konservativ geprägten Gemeinden. Bei den Gebäuden, die den Jugendzentrumsinitiativen zur Verfügung gestellt wurden, handelte es sich in den meisten Fällen um ältere, inzwischen leer stehende Einrichtungen wie nicht mehr genutzte Schulen. In vielen Fällen wurden die Jugendlichen mit provisorischen Unterkünften abgespeist, die aus Baracken, zum Abriss bestimmten baufälligen Häusern oder lediglich aus Kellerräumen bestanden. Die Einrichtung selbstverwalteter Jugendzentren ging mit lokal unterschiedlichen Ausformungen dieser jugendlichen Selbstverwaltung einher. Dabei lassen sich zum einen verschiedene Konstruktionen der (formellen) Trägerschaft der Häuser ausmachen. Neben dem verbreiteten Modell eines unabhängigen Trägervereins gab es Formen einer weitgehenden Selbstverwaltung bei kommunaler Trägerschaft oder die Übernahme der formellen Trägerschaft durch einen Orts- oder Stadtjugendring. 34 Zum anderen differierten - als Ergebnis der Aushandlungsprozesse zwischen Initiativen und Kommunen - der Grad und die Reichweite der jugendlichen Selbstverwaltung. Über Nutzungsverträge versuchte die Stadt sich eine Einflussnahme auf das Geschehen im Jugendzentrum zu sichern und die Option <?page no="305"?> 306 David Templin einer Schließung offenzuhalten. Über die Festlegung von Hausbzw. Nutzungsordnungen kam es beispielsweise zu Reglementierungen der Öffnungszeiten, dem Verbot von Alkoholausschank und mitunter sogar von politischen Veranstaltungen. Eine städtische Einflussnahme erfolgte zumindest indirekt auch über die Bereitstellung finanzieller Mittel, die die Initiativen zur Instandhaltung und Programmgestaltung benötigten. Selbstverwaltete Jugendzentren waren daher in kaum einem Fall vollständig »unabhängig« von den Kommunen. Probleme der Selbstverwaltung - zum Innenleben der Jugendhäuser Die Aktivitäten in den eingerichteten selbstverwalteten Jugendzentren reichten von kulturellen über handwerkliche bis hin zu politischen Aktivitäten. Neben Konzerten, Disko-Abenden und Filmvorführungen wurde Theater gespielt und Informationsveranstaltungen abgehalten. In selbstorganisierten Arbeitskreisen, sei es zu Fotografie oder Kriegsdienstverweigerung, Betriebsarbeit oder dem Cafébetrieb, gingen Jugendliche ihren Interessen nach. Selbstverwaltete Jugendzentren wurden so zu zentralen Stützpunkten einer jugendlichen Sub- und Gegenkultur in der Provinz, die sich damit zugleich für urbane, alternative Lebensstile öffnete. Neben ihrer Funktion als Zentren eines sich herausbildenden alternativen Milieus in der Provinz, sprachen sie aber auch breitere Kreise Jugendli- Ausbau des Jugendclubs Stetten, 1971. (Foto: Eberhard Kögel) <?page no="306"?> Freiräume vom Provinzalltag 307 cher an. Detlef Siegfried weist darauf hin, dass Jugendzentren in der Provinz - anders als in Großstädten - »nicht nur eine Option in einem weiten Spektrum an Freizeitangeboten« darstellten, sondern eine bestehende Lücke ausfüllten und so »oftmals einen beträchtlichen Teil der örtlichen Jugendlichen« anzogen. 35 Die Organisation des Betriebs im Jugendhaus sollte auf dem Prinzip der Selbstverwaltung beruhen. Dabei ging man von der Vorstellung aus, die Angelegenheiten im Jugendzentrum in die Hände aller Nutzerinnen und Nutzer zu legen. Konkret bildeten sich daher in fast allen Einrichtungen mehr oder weniger basisdemokratische Strukturen heraus, die meist aus einer Vollversammlung auf der einen und einem kleinen Gremium aktiver Jugendlicher - in manchen Fällen der Vorstand des Trägervereins, in anderen ein gewählter oder aus Delegierten der Arbeitsgruppen zusammengesetzter Zentrumsrat - auf der anderen Seite bestanden. Der Anspruch einer Einbeziehung aller Nutzerinnen und Nutzer in die Organisation und Verwaltung des Hauses ließ sich jedoch, wenn überhaupt, nur ansatzweise verwirklichen. Eine entstehende Kluft zwischen politisch aktiven, oftmals besser gebildeten Jugendlichen, die sich in den Selbstverwaltungsstrukturen engagierten, und der Masse der Besucherinnen und Besucher war in allen Häusern festzustellen. Die Jugendzentrumsbewegung zeichnete sich auch in der Provinz dadurch aus, dass in ihr Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammentrafen und gemeinsam agierten. Auch eingerichtete Jugendzentren wiesen in der Regel eine heterogene soziale Zusammensetzung auf. Schülerinnen und Schüler, Lehrlinge und junge Arbeiter frequentierten die Zentren ebenso wie Rocker und migrantische Jugendliche. Mit dem Einzug in ein Haus zerbrach allerdings oftmals die bisherige Einheit einer Initiative, divergierende Interessen und Bedürfnisse kamen stärker zum Vorschein. 36 Gesellschaftliche Widersprüche und soziale Spaltungen reproduzierten sich auch in den selbstverwalteten Jugendzentren. Nicht nur eine zunehmende Kluft zwischen »aktiven« und »passiven«, lediglich konsumierenden Jugendlichen tat sich auf, auch innerhalb der Aktivenkerne artikulierten sich unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. So macht beispielsweise Friederike Kamann für die baden-württembergische Gemeinde Stetten eine Polarisierung zwischen einer »Politfraktion« und einer »Freizeitfraktion« aus - Letztere überwiegend aus Lehrlingen bestehend, die sich praktisch für ihr Zentrum einsetzten: »Im Jugendzentrum trafen sich zwei ganz verschiedene Haltungen. Wo die einen versuchten, ihren Standpunkt politisch zu begründen, theoretisch auf den Punkt zu bringen, handelten die anderen ganz intuitiv und stellten nicht mit Worten, sondern einfach mit ihrem So-Sein die Welt der Erwachsenen infrage«. 37 <?page no="307"?> 308 David Templin Jugendzentren in der Provinz stellten - vermutlich stärker als in Großstädten mit ihren ausdifferenzierten Freizeitangeboten und politischen Szenen - Räume neuer jugendlicher Gemeinschaftsbildung dar. Oftmals bildete eine Clique von Jugendlichen die Kerngruppe, für die das Jugendzentrum nicht nur ein »zweites Zuhause« darstellte, sondern die auch außerhalb der Einrichtung gemeinsam ihre Freizeit verbrachte. Im alltäglichen Zusammensein, aber auch in Festen, Seminaren, Ferienfahrten oder Zeltlagern entstand so eine Art »Großfamilienverband des Jugendzentrums«. 38 Der Verein Jugendzentrum Illingen aus dem Saarland betonte 1978: »Genauso wichtig wie die Arbeit in der Gruppe, die am Problem orientiert ist, ist das Zusammensein außerhalb der Initiative (z.B. gemeinsam die Freizeit verbringen)«. 39 Ähnliches war bei der Mosbacher Initiative der Fall: »Man traf sich nicht nur bei wöchentlichen Sitzungen, sondern fast jeden Tag, wodurch ein festerer Zusammenhang entstand.« 40 Neben der Organisation des alltäglichen Betriebs wurden Alkoholkonsum und aggressives Verhalten zu einem der Hauptprobleme in den Jugendzentren. Ein Jugendzentrumsaktivist aus Rodenkirchen beklagte sich im Oktober 1974 in einem Brief an die Diskuss-Redaktion über die »Aggressivität vieler Jugendlicher, die zuhause und im Betrieb unterdrückt, sich bei uns Luft macht. So wurden Möbel demoliert, eine Druckmaschine zerstört und weiteres Inventar des Jugendzentrums beschädigt. Wir stehen diesem Verhalten ziemlich ratlos gegenüber«. Hinzu käme »die Passivität eines Großteils der Besucher«, die »mit den gleichen Erwartungen in’s JZ kommen, mit denen sie auch in eine Diskothek gehen. Sie erwarten ein Programm, das sie, möglichst auch noch kostenlos, gedankenlos konsumieren können.« 41 Über ähnliche Erfahrungen wussten Aktivistinnen und Aktivisten aus fast allen Jugendzentren zu berichten. Albert Herrenknecht sprach angesichts dieser Probleme, vor denen sich die aktiven Jugendlichen gestellt sahen und deren Bewältigung sie oftmals überforderte, von einer »latenten inneren Krise« 42 , die sich mit der Etablierung selbstverwalteter Jugendzentren seit den frühen 1970er Jahren einstellte. Jugendzentren und Kleinstadtöffentlichkeit Jugendzentrumsinitiativen und selbstverwaltete Jugendzentren sahen sich in der westdeutschen Provinz mit einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit konfrontiert, die in vielen Punkten konservativer war und weit weniger anonym als in der Großstadt. Viele Jugendliche erlebten diese Atmosphäre, die mit Begriffen wie »Kleinstadtenge« oder »Kleinstadtunterdrückung« zu fassen versucht wurde, als bedrückend. 43 Hinter der Idee eines eigenen Jugendzentrums stand deshalb nicht zuletzt das Bestreben, <?page no="308"?> Freiräume vom Provinzalltag 309 sich einen Freiraum vom Provinzalltag zu verschaffen und »einen klaren Trennungsstrich zur Welt der Erwachsenen [zu] ziehen«. 44 Jugendliche aus dem baden-württembergischen Gaildorf erklärten ihre Motivation zur Gründung einer Initiative im Januar 1972 damit, dass sie den rund 8.700 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Ort »als ein so trostloses, konservatives und reaktionäres Kaff [empfanden], daß ihnen der Kragen platzte«. 45 Jenseits einer dominierenden bürgerlichen (Erwachsenen-)Kultur sollten alternative Lebensentwürfe verwirklicht, die Freizeit selbst gestaltet werden. Dem entgegen wirkte jedoch ein gegenüber urbanen Regionen erheblicher stärkerer Konformitätsdruck auf die Jugendlichen ein. Die »andere Form der Öffentlichkeit« 46 in der Provinz äußerte sich in der fehlenden Anonymität der Akteure, im alltäglichen Tratsch und den Vorhaltungen in der Familie, der Schule oder dem Betrieb, denen politisch aktive oder nonkonform auftretende Jugendliche ausgesetzt waren. Für die politische Mobilisierung Jugendlicher schuf dies erschwerte Voraussetzungen, wie eine zeitgenössische Darstellung über die Bewegung in der Kleinstadt Mosbach verdeutlicht: »Die Jugendlichen der JZ-Initiative hatten zum Teil auch Angst, sich an Demonstrationen oder Aktionen der Initiative zu beteiligen, ihnen wurde das im Betrieb oder bei Einstellungsgesprächen vorgehalten.« 47 Auch in den späten 1970er Jahren war dieser starke gesellschaftliche Druck noch spürbar. Aktive Jugendliche aus Bad Schussenried berichteten 1978 in einem Interview von »heftigen Diskussionen« mit ihren Eltern, die vom Bürgermeister nicht mehr gegrüßt worden waren, da ihre Kinder für eine umstrittene Jugendzentrumszeitung verantwortlich zeichneten: »›Wegen Dir kommt die ganze Familie in Verruf‹ oder dergleichen, ist oft zuhause als Argument zu hören. Die Rücksicht auf die Umwelt - jeder kennt fast noch jeden - spielt eine enorme Rolle«. 48 Selbstverwaltete Jugendzentren wurden in der strukturkonservativen Kleinstadtwelt zum Gegenstand verbreiteter Vorurteile, die sich mit den Stichworten »Drogen«, »Sexualität« und »Kommunismus« charakterisieren lassen. Die Abneigungen konservativer und reaktionärer Kleinstädter gegenüber dem Treiben der Jugendlichen, begleitet vom Unwissen vieler Erwachsener und realen Vorfällen führten dazu, dass viele Jugendzentren in der lokalen Bevölkerung einen Ruf als »Haschhöhle« oder »rote Kaderschmiede« erhielten: »An manch einem Stammtisch wurden Pläne geschmiedet, wie man diesen Gammlern, Haschern und Kommunisten wieder ›Recht und Ordnung‹ beibringen könnte. […] Zum Teil wurden langhaarige Jugendliche massiv bedroht, wenn sie in der Öffentlichkeit auftraten.« 49 Insbesondere mit den unmittelbaren Anwohnerinnen und Anwohnern der Einrichtungen kam es in vielen Fällen zu jahrelangen Konflikten, die sich in der Regel an nächtlichem Lärm <?page no="309"?> 310 David Templin entzündeten. Besonders engagierte Anwohner erhoben im Laufe dieser Auseinandersetzungen aber oftmals weitere Vorwürfe, die von sexuellen Handlungen Jugendlicher in der Öffentlichkeit bis hin zu Drogenexzessen reichten. Mit Anschreiben an die Stadtverwaltungen versuchten einzelne Anwohner, aber auch ganze Bürgerinitiativen die Schließung von Jugendhäusern zu erreichen. Einen wichtigen Faktor für die Anerkennung oder Ablehnung eines Jugendzentrums in der lokalen Öffentlichkeit stellte die Lokalpresse dar, die mit ihrer Berichterstattung bestehende Antipathien bekräftigen oder ihnen entgegenwirken konnte. Diese Berichterstattung fiel von Ort zu Ort unterschiedlich aus. Während lokale Tageszeitungen in manchen Gemeinden die Artikel von Jugendzentrumsinitiativen abdruckten und wohlwollend berichteten, taten sie sich andernorts als Vorreiter von Anfeindungen hervor. 50 Eine regelmäßige diffamierende Berichterstattung trug nicht selten zu einem feindseligen gesellschaftlichen Klima mit bei. Ein Bericht aus Schwäbisch Hall macht deutlich, wie die Rolle eines Jugendzentrums als »ungeliebtes Kind« im Ort auch das Verhalten kommunaler Institutionen bedingte, das seitens der Jugendlichen als diskriminierend erlebt wurde: »Werden in der Nacht Parolen an Haller Hauswände geschrieben, sucht die Polizei […] die Farbeimer im Club alpha 60. Als in den Club mehrmals eingebrochen wurde, konnte es sich nach den Vorstellungen der Polizei nur um einen fingierten Einbruch handeln. Finden sich irgendwo im Schnee verdächtige Fußspuren, werden erst einmal sicherheitshalber die Schuhe einiger Clubler vermessen.« 51 Die geringere Anonymität und erhöhte Aufmerksamkeit für Jugendzentren im ländlich-kleinstädtischen Raum musste sich aber nicht per se negativ für die Initiativen auswirken, sondern konnte durchaus auch Chancen bieten. Jugendzentrumsaktivisten aus Bad Schussenried betonten 1978, dass ihre Aktivitäten oft »Gesprächsstoff für Wochen und Monate« boten und mit »relativ einfachen Mitteln« eine große Resonanz erzeugt werden konnte: »Wenn hier was in der Zeitung steht über’s JUZE, dann werde ich im Betrieb oder sonstwo sofort von den Leuten darauf angesprochen.« 52 Um die örtliche Bevölkerung über ihre Vorstellungen und Arbeit aufzuklären und für Sympathien zu werben, entfalteten Jugendzentrumsinitiativen in der Provinz eine Fülle an öffentlichen Aktivitäten. Mit »Tagen der offenen Tür« wurden Anwohnerinnen und Anwohner eingeladen, sich selbst ein Bild der Einrichtungen zu machen, und über lokale Jugendzentrumszeitungen wurde versucht, eine Gegenöffentlichkeit in der Provinz herzustellen. Dabei bewegten sich die Aktivitäten der Jugendzentren und Initiativen in einem Spannungsfeld zwischen jugendlicher Abgrenzung und dem Versuch, sich in das Gemeindeleben zu integrieren. Wenn der Jugendclub in Kress- <?page no="310"?> Freiräume vom Provinzalltag 311 bronn ein »Gattnauer Volksfest« ausrichtete, die Initiative in Eppelborn Spenden für den Paritätischen Wohlfahrtsverband sammelte, sich Jugendliche in Ottweiler mit einem eigenen Wagen am Fastnachtsumzug beteiligten oder der Bevölkerung - wie in Stetten - ihre ehrenamtlichen Dienste vom »Holzspalten über Schneeschieben bis zum Tragen schwerer Gegenstände« anboten, handelte es sich um Bemühungen, als Teil des Gemeindelebens anerkannt zu werden. 53 Gleichzeitig wurden selbstverwaltete Jugendzentren allerdings auch zu Ausgangspunkten der Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in kleinen Städten und Gemeinden. Sie trugen damit auf lange Sicht nicht nur zu einer Wandlung des gesellschaftlichen Klimas in der Provinz mit bei, sondern bildeten mancherorts auch erste Ansätze alternativer Formen von Kommunalpolitik heraus. Regionale Netzwerke und neue soziale Bewegungen Nachdem die Jugendzentrumsbewegung in den Jahren 1971 bis 1974 eine Hochphase erlebt hatte, in deren Verlauf hunderte selbstverwaltete Jugendzentren eingerichtet wurden, waren die folgenden Jahre von ambivalenten Entwicklungen bestimmt. Während die Zentren auf der einen Seite mit zunehmenden inneren Problemen und darüber hinaus vermehrten Angriffen der Kommunalverwaltungen zu kämpfen hatten, kam es gleichzeitig zum Entstehen regionaler Vernetzungen und Interaktionen mit in der Provinz neu entstandenen sozialen Bewegungen wie der Anti- AKW- oder Ökologie-Bewegung. Bereits 1972/ 73 hatte es erste Ansätze regionaler und landesweiter Vernetzung von Jugendzentrumsinitiativen gegeben. Insbesondere dem Rems-Murr-Kreis im Umland von Stuttgart kam hier eine Vorreiterrolle zu. 54 Ebenfalls 1973 hatte sich auf bundesweiter Ebene das »Koordinationsbüro für Initiativgruppen der Jugendzentrumsbewegung« konstituiert, das aus einer Initiative aus Neustadt an der Weinstraße hervorgegangen war und der SDAJ nahe stand. 55 Seit 1975/ 76 bildeten sich immer mehr regionale und landesweite Zusammenschlüsse, Koordinationsbüros oder Dachverbände heraus. 56 Albert Herrenknecht führt diese Entwicklung zum einen auf eine »zweite Welle« der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz zurück, die angesichts anhaltend schlechter Freizeitangebote und im Unterschied zum Niedergang der Bewegung in den Großstädten von einem »Boom an neuen Initiativgruppen« begleitet worden sei. Hinzugekommen seien ein generationeller Umbruch in den bestehenden Zentren und Initiativgruppen und ein damit verbundenes Bedürfnis der verbliebenen »Alt-Aktiven« nach neuen Betätigungsfeldern. Diese beiden Faktoren bildeten die Basis einer verstärkten regionalen und überregionalen Zusammenarbeit und Vernetzung. 57 <?page no="311"?> 312 David Templin Die Zusammenschlüsse nahmen unterschiedliche Formen an, die vom eingetragenen Verein (beispielsweise dem »Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.« 58 ) über lose Vernetzungstreffen im Abstand von mehreren Wochen oder Monaten bis hin zu festen Koordinationsbüros reichten. Oftmals fungierten besonders aktive Einzelpersonen als regionale Kontaktpersonen, die wiederum mit anderen Aktivisten, sei es über Briefkontakte oder persönliche Treffen, im Austausch standen. Die Hauptfunktionen der regionalen Zusammenschlüsse bestanden in einem losen Erfahrungs- und Informationsaustausch, der gemeinsamen Koordination von Veranstaltungen und in der gegenseitigen praktischen und politischen Unterstützung bei akuten Problemen, beispielsweise drohenden Schließungen. Ein Agieren als repräsentative Interessenvertretung bzw. »Lobby« der örtlichen Initiativen wurde nur von manchen Zusammenschlüssen explizit angestrebt und umzusetzen versucht. Ein stärker dezentral aufgebautes Modell der Vernetzung stellte etwa der Zusammenschluss Franken-Hohenlohe dar, der im Dezember 1974 entstanden war. 59 Neben unregelmäßigen Treffen wurden halbjährlich Seminare organisiert, die von den Jungdemokraten (der FDP-nahen Jugendorganisation) finanziert wurden, und ein regionaler Rundbrief herausgegeben. Über gemeinsame Feste im Anschluss an die Treffen, Lagerfeuer und Fußballturniere entwickelten sich auch persönliche Kontakte zwischen den Jugendlichen. Ein zentrales Problem stellte offenbar die Rückkopplung der Aktivitäten und Koordinationsergebnisse mit der »Basis« vor Ort dar. Hinzu kamen Mobilitätsprobleme und unterschiedliche Ansprüche der einzelnen Initiativen. Die regionalen Zusammenschlüsse trugen maßgeblich zur Überwindung der Isolierung lokaler Initiativen mit bei. Nachdem Anstöße zur Vernetzung zwischen 1971 und 1974 v.a. von den Fernsehsendungen Jour fix und Diskuss ausgegangen waren, die hunderte Adressen von Initiativen gesammelt und weiterverschickt hatten, übernahmen die Initiativen diese Aufgabe nun selbst. Auch wenn die Bewertung dieser Netzwerke als »Bewegung innerhalb der Jugendzentrumsbewegung« 60 durch Albert Herrenknecht sicherlich diskussionswürdig ist, muss seiner Einschätzung recht gegeben werden, dass sich die Jugendzentrumsinitiativen in der Provinz durch die regionale Vernetzung von »der Vorbildfunktion der großstädtischen Bewegungen« lösten und eigenständige politische Perspektiven vor Ort entwickelten. 61 Neben der Herausbildung regionaler Netzwerke kam es in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit Initiativen und »neuen sozialen Bewegungen«, die sich mit Fragen wie Ökologie, Kernkraft, Geschlechterverhältnissen oder alternativen Arbeits- und Lebensformen beschäftigten. 62 Teilweise waren Initiativen, die sich als <?page no="312"?> Freiräume vom Provinzalltag 313 Teil dieser Bewegungen verstanden, auch in selbstverwalteten Jugendzentren aktiv - beispielsweise trafen sich in manchen Häusern Frauengruppen oder Anti-AKW-Initiativen. In anderen Fällen kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen bestehenden Jugendzentrums- und lokalen Bürgerinitiativen. Im hessischen Dorf Dreihausen beispielsweise arbeitete der selbstverwaltete Jugendclub seit 1975 eng mit einer Bürgerinitiative zusammen, die sich gegen den geplanten Bau einer Mülldeponie zur Wehr setzte. Die vom Club herausgegebene »Dorfzeitung« entwickelte sich in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen alternativen Informationsorgan, da die etablierte Lokalzeitung sich weigerte, über die Bürgerinitiative zu berichten. Im April 1977 hatten bereits 150 Haushalte - bei rund 1.300 Einwohnerinnen und Einwohnern - die »Dorfzeitung« des Jugendclubs abonniert. 63 Am Beispiel Dreihausen wird deutlich, wie die Aktivitäten von Jugendzentrumsinitiativen über ihr ursprüngliches Anliegen hinaus ausgeweitet wurden und mit dazu beitrugen, eine außerparlamentarische kommunalpolitische Opposition in der Provinz zu etablieren. Selbstverwaltete Jugendzentren bildeten in den späten 1970er Jahren die Keimzellen alternativer Projekte - von alternativen Stadtzeitungen über kollektive Betriebe bis zur Alternativen Liste. Im Zuge der Alternativbewegung in der Provinz etablierten sich aber auch neue Räume, beispielsweise in Form von Kommunikations- und Kulturzentren - eine Entwicklung, die wiederum mit einer Entpolitisierung der Jugendzentren einhergehen konnte. Vor dem Hintergrund von Jugendzentrumsbewegung und Landkommunen, aber vor allem des Aufschwungs der Anti-Atomkraft-Bewegung und einer zunehmenden Kritik am Fortschritts- und Wachstumsparadigma kapitalistischer Industriegesellschaften war seit Mitte der 1970er Jahre ein spezifischer »Provinz«-Diskurs in Teilen der Linken und des alternativen Milieus aufgekommen. Das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Kursbuch wählte im April 1975 das Thema »Provinz« als Schwerpunkt. 64 In literarischer und analytischer Form setzten sich Artikel mit der Ökonomie und Kultur, den Erfahrungen von Jugendlichen und sozialen Bewegungen im ländlich-kleinstädtischen Raum auseinander. Zwei Jahre später konstatierte Albert Herrenknecht, Jugendzentrumsaktivist aus der baden-württembergischen Kleinstadt Wertheim, in einer Aufsatzsammlung mit dem Titel »Provinzleben«, dass die Linke die bis dahin als unwichtig und reaktionär abgeschriebene »Provinz wiederentdeckt« habe. 65 Herrenknechts Anliegen war es, einerseits »Provinz« als »Kampfbegriff […] gegen den technokratischen Zentralismus der Städte« 66 wieder positiv zu besetzen, und andererseits konkrete Perspektiven für den politischen Kampf in der Provinz zu entwickeln. Diese sah er insbesondere in der »Organisierung eines alternativen Lebenszusam- <?page no="313"?> 314 David Templin menhangs« vor Ort, einer alternativen Infrastruktur, in der Schaffung »kleine[r] ›befreite[r] Gebiete‹« 67 , u.a. in Form von selbstverwalteten Jugendzentren: »Wir brauchen Treffs, Anlaufstellen, Bezugspunkte, Feste, um die Provinzverhältnisse lebendig zu machen […] Nur so können wir uns gegen die Strukturen, die uns fertigmachen, wehren. Wir brauchen eine lebbare Provinzalternative! « 68 Der »Provinzstolz« 69 und die neue linke Provinz-Identität, die Herrenknecht zu befördern versuchte, korrespondierten mit Entwicklungen, die sich in der Jugendzentrumsbewegung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts vollzogen hatten. Über die Institutionalisierung und regionale Vernetzung selbstverwalteter Jugendzentren hatte sich auch das Verhältnis alternativer, linker Jugendlicher zu ihren Herkunftsorten zumindest in Ansätzen gewandelt. Verstärkt wurden das Leben, der Alltag und die politische Arbeit in der Provinz zum Thema auf Vernetzungstreffen, Seminaren oder Zeltlagern von Jugendzentren und Initiativen. 70 Das ambivalente Verhältnis vieler linksalternativer Jugendlicher zu »ihrer« Kleinstadt oder Gemeinde brachten Jugendzentrumsaktivisten aus Bad Schussenried auf den Punkt, als sie in einem Interview mit der undogmatischlinken Zeitschrift ID zum Thema »Leben in der Provinz« betonten, wie sehr die Provinz für sie einerseits verbunden sei mit »kleinbürgerlichem Mief«, »nix los« und alltäglichem »Tratsch«, andererseits aber auch ein Stück »Heimat« verkörpere, denn: »hier bin ich aufgewachsen, kenne Jugendzentrum Stetten 1973, nach der Kündigung durch die Kirche. (Foto: Eberhard Kögel) <?page no="314"?> Freiräume vom Provinzalltag 315 die Leute«. 71 Die positive Aneignung des Provinz-Begriffs durch Teile der ländlich-kleinstädtischen Jugendzentrumsinitiativen spiegelte so zwar die Festigung alternativer Strukturen in diesen Regionen wider, bedeutete aber nicht, dass der »Sog der Großstädte«, der sich beispielsweise in Form des Wegzugs vieler Aktivistinnen und Aktivisten nach ihrer Ausbildung äußerte, zum Stillstand gekommen wäre. Innerer Wandel der Jugendzentrumsbewegung nach 1975 Die zweite Hälfte der 1970er Jahre war jedoch neben einer Festigung alternativer Strukturen in ländlich-kleinstädtischen Regionen auch geprägt vom Niedergang vieler selbstverwalteter Jugendzentren. Aus Sicht nicht weniger Stadtverwaltungen und Bürgermeister war das »Experiment Selbstverwaltung« nach ernüchternden Erfahrungen gescheitert. Schlägereien unter Jugendlichen, Alkohol- und Drogenkonsum, Anwohnerbeschwerden oder die Präsenz kommunistischer Jugendgruppen in den Häusern wurden oftmals als Begründungen herangezogen, die Selbstverwaltung zu beenden. Seit etwa 1975 kam es vermehrt zu Eingriffen der Stadtverwaltungen, zu Schließungen von Häusern oder zur Kommunalisierung bestehender Einrichtungen. Die ersten Jugendzentren waren bereits kurz nach ihrer Einrichtung wieder geschlossen worden. So wurde das Jugendzentrum im schleswig-holsteinischen Ratzeburg 1975 nach nur vier Monaten Betrieb vom Magistrat geschlossen und in einer Blitzaktion abgerissen. Begründet wurde die Schließung mit nächtlichen Aufenthalten, Alkoholkonsum und mangelnder Hygiene. 72 In anderen Fällen führten politische Aktivitäten oder die linke Ausrichtung von Jugendzentren zu Schließungsversuchen seitens der Stadtvertretung. Das Jugendzentrum Eutin wurde 1978 - im Jahr nach dem »Deutschen Herbst« - geschlossen, nachdem auf der Toilette der Einrichtung Parolen wie »Schleyer fressen jetzt die Geier« aufgetaucht waren. 73 Nicht überall waren allerdings Stadtvertretungen für das Ende der Selbstverwaltung verantwortlich. Nicht wenige Jugendzentren scheiterten auch an inneren Problemen. Das Jugendzentrum in der bayerischen Kleinstadt Aichach wurde 1975 nur fünf Monate nach der Eröffnung von den jugendlichen Aktivisten, die mittlerweile resigniert hatten, freiwillig an die Kommunalverwaltung zurückgegeben. 74 Der Sozialpädagoge Peter Spengler macht mehrere Faktoren für die Krise der selbstverwalteten Jugendzentren verantwortlich. Mit der ökonomischen Krise und dem Ende der innenpolitischen Reformbegeisterung hatte sich das gesellschaftliche Klima verändert. Der Spielraum und die Bereitschaft von Kommunen für jugendpolitische »Experimente« hatten sich zunehmend verringert. Hinzu kam »die Überforderung der Jugendzentrumsorganisatoren, die <?page no="315"?> 316 David Templin den hohen Anspruch auf Selbstverwaltung wegen mangelnder Erfahrung und fehlender politischer Unterstützung nicht dauerhaft und wirkungsvoll realisieren konnten.« 75 Allerdings war die Entwicklung der westdeutschen Jugendzentrumsbewegung von starken lokalen Ungleichzeitigkeiten und unterschiedlichen Verlaufsformen geprägt. Während viele Häuser geschlossen wurden, konnten sich andere dauerhaft vor Ort etablieren und institutionalisieren. Relativ selten gelang es Initiativen, mit längeren Kampagnen ihre Selbstverwaltung erfolgreich gegen städtische Angriffe zu verteidigen. 76 In den Jahren 1977/ 78 kam es dabei zu einigen Hausbesetzungen in Kleinstädten, die sich oftmals gegen die Schließung bestehender Einrichtungen richteten und teilweise zu erstaunlichen Erfolgen führten. So konnten Jugendliche aus Stetten nach 102 Tagen Besetzung 1977 einen Nutzungsvertrag aushandeln und die Initiativgruppe aus Königstein im Taunus erhielt nach über zwei Monaten Besetzung vom Magistrat ein neues Haus zur Verfügung gestellt. 77 Manchen Initiativen gelang es nach jahrelangen Auseinandersetzungen erst in diesem Zeitraum, ein selbstverwaltetes Jugendzentrum einzurichten. Insbesondere im Saarland war die zweite Hälfte des Jahrzehnts von zahlreichen Neugründungen selbstverwalteter Zentren geprägt. 78 Deutlich spürbar war jedoch in fast allen Jugendhäusern ein Wandel in der Zusammensetzung der Nutzerinnen und Nutzer. Neue Besuchergruppen mit eigenen Interessen tauchten in den Einrichtungen auf und die 68er- und »Post-68er«-Generation politisch aktiver Jugendlicher zog sich mehr und mehr aus der Jugendzentrumsarbeit zurück. Zu dem allgemeinen Problem, das der Wegzug von Aktivisten in größere Städte für die Arbeit ländlich-kleinstädtischer Initiativen auch bisher schon dargestellt hatte, kam nun ein Generationswechsel hinzu, der in vielen Fällen als Entpolitisierung wahrgenommen wurde. So beklagten sich die Aktivisten Albert Herrenknecht und Rainer Moritz im Juni 1978: »Es tritt zusehends ein Generationswechsel in der JZ-Bewegung ein; die erste Jugendhaus- Generation, die meist eine Kampf-Generation war, die das JZ erkämpft hat und sich mit dem Haus identifiziert, hat das JZ kampflos (Privatisierung, Ausstieg) oder aufgrund persönlicher Weiterentwicklung (andere politische Projekte) verlassen und das Haus somit einer zweiten Generation ohne Geschichtsbewußtsein, ohne politische Massenbewegung (wie bei der ersten die Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung) im Rücken, zwangsangepaßt durch Arbeitslosigkeit und Schulstreß, überlassen. Viele Initiativ-Gruppen gingen dadurch kaputt.« 79 Am Beispiel des baden-württembergischen Ortes Stetten lässt sich dieser Ablösungsprozess der alten »Jugendzentrumsbewegungs-Generation« verdeutlichen. Seit dem Frühjahr 1979 hatte sich der Charakter <?page no="316"?> Freiräume vom Provinzalltag 317 des örtlichen Jugendzentrums geändert. Vermehrt nutzten arbeitslose Jugendliche das Haus, während für die bereits dem Jugendalter entwachsenen Aktivistinnen und Aktivisten berufliche und persönliche Veränderungen anstanden oder sich ihr Engagement thematisch und räumlich verlagerte. Eine Vermittlung von Erfahrungen an die nachfolgende Generation fand nicht statt, so dass die Einrichtung in relativ kurzer Zeit »heruntergewirtschaftet« war und im Sommer 1980 vorläufig geschlossen werden musste. In den 1980er Jahren bestand die Selbstverwaltung zwar weiter, aber nunmehr »unter Anleitung« eines Sozialarbeiters und ohne von einem politisierten Kern von Aktiven getragen zu werden. 80 Diese Entwicklung scheint für viele selbstverwaltete Jugendzentren typisch gewesen zu sein. Während sich selbstverwaltete Jugendzentren in Großstädten (wie beispielsweise das UJZ Kornstraße in Hannover) zu zentralen Treffpunkten einer linken und alternativen »Szene« entwickelt hatten, ließen sich im ländlich-kleinstädtischen Raum oftmals Tendenzen der Entpolitisierung beobachten. In einer sozialwissenschaftlichen Studie zur Situation selbstverwalteter Jugendzentren in Hessen kam Leo Teuter zu Beginn der 1980er Jahre zu dem Fazit, dass sich die Mehrzahl der bestehenden Einrichtungen zwar erfolgreich durchsetzen konnte, dass es andererseits aber zu einer Institutionalisierung bzw. Integration in die öffentliche Jugendpflege gekommen sei, die in der Regel mit einer Entpolitisierung und einem sinkenden Interesse an der Selbstverwaltung einherging. 81 Das Selbstverständnis selbstverwalteter Jugendzentren hatte sich gewandelt. Daran änderte auch die »zweite Jugendrevolte« von 1980/ 81, die mit einer Welle von Hausbesetzungen v.a. in Großstädten wie West-Berlin einherging, auf längere Sicht kaum etwas - auch wenn ihre Impulse teilweise die Neugründung von Jugendzentrumsinitiativen oder spektakuläre Protestaktionen lokaler Gruppen auch in der »Provinz« befördert hatten. 82 Selbstverwaltete Jugendzentren existierten auch in den 1980er Jahren weiter, nur wurden sie immer weniger - wie noch im Jahrzehnt zuvor - von einer politischen Bewegung getragen. 83 Wandel kommunaler Jugendarbeit im ländlich-kleinstädtischen Raum Mit der Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre hatte sich auch die Jugendarbeit der Kommunen, die auf die Forderungen und Ansprüche der jugendlichen Initiativen reagieren musste, gewandelt. Konzepte offener Jugendarbeit und offene Jugendfreizeiteinrichtungen, die sich in den 1950er und 1960er Jahren noch in den Großstädten konzentrierten, durchdrangen zunehmend auch den ländlich-kleinstädtischen Raum, in <?page no="317"?> 318 David Templin dem bisher eine Orientierung auf Verbände und Vereine vorgeherrscht hatte und andere Ansätze marginalisiert gewesen waren. 84 Die Jugendzentrumsinitiativen trieben mit ihren Aktivitäten die flächendeckende Durchsetzung von offenen Jugendfreizeiteinrichtungen in der Bundesrepublik voran, auch wenn sich ihr Modell der Selbstverwaltung nur in wenigen Fällen dauerhaft durchsetzen konnte. 85 Als Reaktion auf die neuen Bedürfnisse Jugendlicher, die in den selbstorganisierten Initiativgruppen artikuliert wurden, kam es auch zu einer Modernisierung der kirchlichen und verbandlichen Jugendarbeit. 86 Insofern hatte die Jugendzentrumsbewegung am »spektakulären Umbruch in der Entwicklung der kommunalen Jugendpflege auf dem Lande« 87 entscheidenden Anteil. Diese langfristigen Auswirkungen der Bewegung waren in den 1970er Jahren noch Gegenstand von oftmals heftigen und langjährigen Konflikten. In vielen Gemeinden und Kleinstädten stießen die Aktivitäten der Initiativgruppen erstmals tiefergehende Debatten über die Ausrichtung kommunaler Jugendpolitik an. 88 Diese wurden nicht nur in den Gemeinderäten, Stadtverwaltungen und der lokalen Presse geführt, sondern auch in den Orts- und Stadtjugendringen. Jugendringe entwickelten sich nicht selten zu Foren der jugendpolitischen Debatte. Viele Initiativgruppen und selbstverwaltete Jugendzentren waren in die lokalen Jugendringe eingetreten, um ihr Anliegen stark zu machen, in anderen Orten dominierten dagegen die traditionellen Verbandsinteressen deren Arbeit. Dementsprechend umstritten war die Frage der offenen bzw. selbstverwalteten Jugendarbeit. Im Laufe der 1970er Jahre kam es zu einer Ausdifferenzierung kommunaler Jugendarbeit, die von Institutionalisierungs- und Professionalisierungstendenzen begleitet war. Während kleinere Kommunen zu Beginn der 1970er Jahre die Jugendarbeit oftmals weitgehend den »freien Trägern« überließen, bewirkte der Druck der jugendlichen Initiativen ein stärkeres städtisches Engagement. Die zunehmende Professionalisierung kommunaler Jugendarbeit äußerte sich vor allem in der Einstellung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, deren Anstellung und Einsatz in selbstverwalteten Jugendzentren hochgradig umstritten war. Während ein kleiner Teil der Jugendzentrumsbewegung diesen Einsatz als kontrollierenden Eingriff der Stadt in die Selbstorganisation und Autonomie von Jugendzentren ansah, forderte die Mehrzahl der Initiativgruppen die Einstellung von Sozialarbeitern. Dahinter stand die Vorstellung, dass Sozialarbeiter die Jugendlichen beim Aufbau einer Einrichtung wirkungsvoll unterstützen könnten, ihnen im Rahmen der Selbstverwaltung aber lediglich eine Beraterfunktion zukommen sollte. Viele Gemeinden und Kleinstädte weigerten sich dagegen oftmals - in der Regel mit Verweis auf fehlende finanzielle Mittel -, hauptamtliche Kräfte einzustellen. <?page no="318"?> Freiräume vom Provinzalltag 319 Die Sozialarbeiterfrage war insofern sowohl für die Kommunen als auch die Initiativen ambivalent. In der Regel trug der Einsatz von Sozialarbeitern oder auch Stadtjugendpflegern zu einer stärkeren Einbindung der Jugendzentren in die kommunale Jugendarbeit mit bei. Dabei war die Haltung der Initiativgruppen zum jeweiligen Sozialarbeiter in der Regel auch von dessen politischer Einstellung abhängig. Während manche Initiativen »ihre« Sozialarbeiter, die teilweise in politischen Organisationen wie der DKP organisiert waren, gegen Entlassungen verteidigten, wurden andere Hauptamtliche verdächtigt, »die Bewegung wieder unter städtische Kontrolle« bringen zu wollen. 89 Am Ende der 1970er Jahre hatte sich das von den Jugendzentrumsinitiativen propagierte Modell der Selbstverwaltung nicht flächendeckend durchsetzen können, einige wenige hundert selbstverwaltete Einrichtungen hatten sich jedoch mehr oder weniger erfolgreich behaupten können. 90 Begleitet war diese Selbstverwaltung jedoch immer von konfliktbeladenen Aushandlungsprozessen mit den Kommunen. Fazit: Bedeutung der Jugendzentrumsbewegung für die »Provinz« Die Jugendzentrumsbewegung - und nicht die Jahre um »1968« - bildeten für viele Jugendliche im ländlich-kleinstädtischen Raum den eigentlichen politischen und kulturellen Aufbruch. Die bereits in den 1960er Jahren erfolgte Herausbildung und Ausbreitung einer eigenständigen Jugendkultur wurde zu Beginn der 1970er Jahre von einer zunehmenden Politisierung begleitet und forciert. Dabei gerieten die klassischen Formen der Jugendarbeit ebenso in die Kritik wie kommerzielle Einrichtungen. Das Bestreben nach autonomer Freizeitgestaltung und der Mangel an Möglichkeiten dazu in ländlichen und suburbanen Regionen bildeten den Ausgangspunkt für die Entstehung hunderter Jugendzentrumsinitiativen in Westdeutschland. Jugendliche formulierten unter den Slogans von »Selbstorganisation« und »Selbstverwaltung« eigene Forderungen, führten Auseinandersetzungen mit Gemeinderäten und Stadtverwaltungen und stellten die bisherigen Leitlinien kommunaler Jugendpolitik in Frage. Langfristig trug die Jugendzentrumsbewegung zu einem Wandel des gesellschaftlichen Klimas, aber auch der politischen Kultur in der »Provinz« mit bei. Indem sie als »Medium für die soziokulturelle Freisetzung der Jugend« 91 wirkte, beförderte die Bewegung auch das Aufbrechen traditioneller gesellschaftlicher Konventionen und die Etablierung alternativer Lebensstile in kleinen Städten und Gemeinden. Selbstverwaltete Jugendzentren bildeten neben ersten Wohngemeinschaften Stützpunkte <?page no="319"?> 320 David Templin eines sich auch in ländlich-kleinstädtischen Regionen herausbildenden alternativen Milieus, das vorherrschende Lebensformen und Ordnungsvorstellungen in Frage stellte. Dabei war die Jugendzentrumsbewegung Teil eines Emanzipationsbestrebens Jugendlicher, die traditionelle Vorstellungen des Freizeitverhaltens einer »anständigen Jugend« in Frage stellten, sich aber auch offensiv ihren Raum in der Provinz erkämpfen mussten. Die kapitalistische Modernisierung ländlich-kleinstädtischer Regionen in den 1960er und 1970er Jahren ging einher mit einer zunehmenden Ausbreitung urbaner, stärker individualisierter und auf Selbstverwirklichung orientierter Lebensmuster. Detlef Siegfried spricht in diesem Zusammenhang von einer »Entgrenzung des Städtischen«. 92 Alternative Bewegungen wie die Jugendzentrumsinitiativen trieben diese Entwicklungen einerseits mit voran, indem sie Ideen und Praktiken aus den urbanen Milieus und Bewegungen aufgriffen und traditionelle Lebensstile und Werte praktisch in Frage stellten. Zum anderen bildeten sich in den Bewegungen jedoch neue Formen von Kollektivität und jugendlicher Gemeinschaft heraus. Die oftmals jahrelangen Konflikte um Jugendzentren führten zugleich zur Belebung und zu Ansätzen einer Demokratisierung der lokalen politischen Kultur in der westdeutschen »Provinz«. Die Einmischung von Jugendlichen in die politische Sphäre betraf zunächst die Jugendpolitik und die eigene Freizeitgestaltung, weitete sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre - parallel zum Aufkommen von Bürgerinitiativen - aber auch auf andere Felder des gesellschaftlichen Lebens aus. Die Übergänge zwischen Jugendzentrumsinitiativen und anderen neuen sozialen Bewegungen bzw. ersten Formen alternativer (und später grüner) Kommunalpolitik sind hier fließend und - wie die Jugendzentrumsbewegung insgesamt - noch kaum erforscht. Anmerkungen 1 Protokoll Gemeinderat Wertheim vom 15.2.1971, in: Stadtarchiv Wertheim, Protokolle Gemeinderat. 2 Der Spiegel, 28. Jg., Nr. 3, 14.1.1974, S. 38. 3 Dabei handelt es sich um einen Zwischenstand meiner Dissertation zur Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Einen ersten zeithistorischen Überblick über das Thema liefert: Detlef Siegfried, Time Is On My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Bd. 41), Göttingen 2006, S. 655-661. 4 Albert Herrenknecht, Die Jugendbewegung in der Provinz als alternative »Beheimatungsbewegung« - 25 Jahre Jugendzentrumsbewegung in der Provinz, in: Friederike Kamann/ Eberhard Kögel, Ruhestörung. Eine moderne Heimatgeschichte. 25 Jahre Jugendzentrum Stetten in Selbstverwaltung. Teil 1: April 1968 bis Ende 1975, Grafenau 1993, S. 10-22, <?page no="320"?> Freiräume vom Provinzalltag 321 hier: S.-17. Allerdings entstanden zahlreiche Initiativen auch im suburbanen Raum oder in Großstädten, weshalb es sich nicht um eine ausschließlich ländliche oder »Provinzbewegung« handelt. 5 Deutsche Jugend, Heft 11, November 1974, S. 501. 6 Peter Spengler, Jugendfreizeit zwischen Kommerz und Pädagogik. Empirische Studien in einer Kleinstadt (1945-1990), Weinheim 1994, S. 169-172. Vgl. auch: Siegfried, Time Is On My Side, S. 33-50. 7 Von 1.355 Kleinstädten waren lediglich 316 mit Jugendfreizeitheimen ausgestattet. In den 22.977 Dörfern und Gemeinden (mit weniger als 2.000 Einwohnerinnen und Einwohnern) existierten lediglich 118 solcher Einrichtungen (Gustav Grauer, Jugendfreizeitheime in der Krise. Zur Situation eines sozialpädagogischen Feldes. Teil 1 der Untersuchung von Jugendfreizeitheimen (Pädagogisches Zentrum. Veröffentlichungen. Reihe E, Untersuchungen, Band 1), Weinheim/ Basel 1973 (2. Auflage 1975), S. 18 f.). 8 Manuskript Jour fix 4, 8.10.1971, in: Historisches Archiv des SWR, FS Nachmittagsprogramm, 29/ 01089. 9 Pardon, Nr. 3/ 1970, S.-14. 10 Deutlich wird das an den Kontaktadressen im 1970 herausgegebenen »APO-Adressbuch« (Rolf Schwendter (Hg.), apo adressbuch ’69/ 70. Bundesrepublik Deutschland, Westberlin, Österreich, Schweiz, München/ Berlin-West 1970). 11 Klaus-Peter Emrich, Selbstverwaltete Jugendzentren - Eine Alternative, in: Neue Praxis, Nr. 4/ 1974, S. 323-329; Egon Schewe, Selbstverwaltete Jugendzentren. Entwicklung, Konzeption und Bedeutung der Jugendzentrumsbewegung (Bielefelder Hochschulschriften. Abteilung: Freizeitpädagogik/ Sozialpädagogik. Band 54), Bielefeld 1980, S. 27. 12 Allerdings kam es im Zuge der 68er-Revolte vereinzelt auch zu ersten Ansätzen selbstverwalteter Jugendarbeit in Großstädten, so im West-Berliner Jugendfreizeitheim Prisma (Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit, Westberlin, Sozialpädagogische Arbeit im Jugendfreizeitheim, in: Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 13, Mai 1976, S. 9-44). Vgl. auch: Hans Rüdiger, Selbstbestimmung in der Freizeitstätte? , in: Deutsche Jugend, Heft 7, Juli 1969, S.-305-314. 13 Detlef Siegfried, Urbane Revolten, befreite Zonen. Über die Wiederbelebung der Stadt und die Neuaneignung der Provinz durch die »Gegenkultur« der 1970er Jahre, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte. Band 17), Stuttgart 2006, S.- 351- 365, hier S. 356. 14 Werner Schretzmeier, der im Schorndorfer Jugendzentrum »Hammerschlag« aktiv war und für den Süddeutschen Rundfunk Jour fix und Diskuss entwickelte, bezeichnet die Jugendzentrumsbewegung deshalb auch als »ländliche Antwort« auf die Studentenbewegung (Interview Verfasser mit Werner Schretzmeier und Eberhard Kögel, 15.3.2011). Albert Herrenknecht betonte, es sei Ziel der JZ-Bewegung gewesen, »Anschluß an die Städte und ihre Bewegungen zu bekommen, um nicht provinziell abgehängt zu werden und den Zeitgeist zu verschlafen« (Herrenknecht, Die Jugendbewegung in der Provinz, S. 18). 15 Laut einer Umfrage von 1974 unter 254 Gruppen ging die Initiative in 41,5 Prozent der Fälle von Jusos aus (aus einer Befragung der Initiativgruppen für Jugendzentren, in: Deutsche Jugend, Heft 11, November 1974, S. 501-503). Zur Entwicklung der Jusos vgl. Dietmar Süß, Die Enkel auf den Barrikaden. Jungsozialisten in der SPD in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 44 (2004), S. 67-104; Wolfgang R. Krabbe, Parteijugend in Deutschland. Junge Union, Jungsozialisten und Jungdemokraten 1945-1980, Wiesbaden 2002. 16 In Schorndorf wurde der Stadtjugendring zu Beginn der 1970er Jahre von den Jugendzentrumsaktivisten »übernommen« (Interview Verfasser mit Werner Schretzmeier und Eberhard Kögel, 15.3.2011). <?page no="321"?> 322 David Templin 17 Jugendhaus Kressbronn (Hg.), s’maul it haltê selbst verwalte. Eine Documentation. 5 Jahre Jugendhaus Kressbronn Gattnau in Selbstverwaltung, [Kressbronn am Bodensee 1978], in: Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg, 6.0.2, 6-a4-6 und 6-a4-7. Eine ähnliche Entwicklung gab es in Stetten, wo 1968/ 69 im evangelischen Pfarrhaus ein Club eingerichtet worden war, aus dem sich Anfang der 1970er Jahre ein selbstverwaltetes Jugendzentrum entwickelte, dem 1973 von der Kirche gekündigt wurde (Friederike Kamann/ Eberhard Kögel, Ruhestörung. Eine moderne Heimatgeschichte. 25 Jahre Jugendzentrum Stetten in Selbstverwaltung. 2 Bde., Grafenau 1993). 18 Michael S. Winter, Jugendzentrum in Selbstverwaltung. Geschichte und Analyse einer Bürgerinitiative, Frankfurt a.M. 1976, S. 9-13. Auch in anderen Orten wie Bebra (Hessen) lieferte die Unzufriedenheit über die Eintrittspreise der örtlichen Diskothek den Anstoß zur Initiative (Wir wollen alles, Nr. 2, 19.3.1973, S. 11 f.). 19 Albert Herrenknecht/ Wolfgang Hätscher/ Stefan Koospal (Hg.), Träume, Hoffnungen, Kämpfe … Ein Lesebuch zur Jugendzentrumsbewegung, Frankfurt a.M. 1977, S. 13. 20 »Für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum! Engagiert Euch für eine sinnvolle Freizeit«, lautete z.B. die Forderung der Initiative aus Schweich (Initiativkreis Jugendzentrum an Redaktion Diskuss, 8.3.1974, Anhang, Flugblatt Initiativkreis Jugendzentrum Schweich, [1974], in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21214). 21 Bürgermeister und Verwaltung kamen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik oftmals eine stärkere Stellung als den kommunalen Vertretungskörperschaften zu. Diese Dominanz schwand im Zuge einer zunehmenden »Parteipolitisierung« der Kommunalpolitik in den 1970er Jahren ( Jörg Bogumil/ Lars Holtkamp, Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyorientierte Einführung (Grundwissen Politik. Band 42), Wiesbaden 2006, S. 31-38). 22 Protokoll Seminar »Jugendzentren in der Provinz« in Seckach-Klinge, 20.-22.5.1977, in: Albert Herrenknecht, Provinzleben. Aufsätze über ein politisches Neuland, Frankfurt a.M. 1977, S. 170. 23 Albert Herrenknecht, »Kleinstadt 1968« - Die Politischen Jugendbewegungen in der Provinz von den 1950er bis 1970er Jahren, in: Pro-Regio-Online. Zeitschrift für den ländlichen Raum, Nr. 5 (2008), S. 16-146, [http: / / www.pro-regio-online.de/ downloads/ klein1968. pdf], zum Umgang der Stadtverwaltungen mit den Initiativen, S. 88-93. Die Initiative in St. Wendel (Saarland) stieß bereits wenige Monate nach ihrer Gründung auf eine positive Resonanz, im Stadtrat bestritt »niemand die Notwendigkeit der geplanten Einrichtung«. Der Bürgermeister gab die Zusage, ein Haus zur Verfügung zu stellen ( Jugendzentrum St. Wendel e.V. an Redaktion Jour fix, 29.6.1972, in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21214). Im bayerischen Burghausen unterstützte der Bürgermeister aktiv die Einrichtung eines offenen Jugendzentrums (Alexander Simmeth, Die Jugendkultur der 1960er und 1970er Jahre in Westdeutschland und der Kleinstadt Burghausen: eine oder zwei Geschichte(n)? , unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 2010, S. 94). 24 Jugendzentrum Merzig an Redaktion Jour fix, 15.10.1972, in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21212. 25 Manuskript Jour fix 7, 26.5.1972, in: Historisches Archiv des SWR, FS Nachmittagsprogramm, 29/ 01089. Vgl. auch die Klagen der saarländischen Initiativen aus Bubach und Eppelborn über die »Hinhaltetaktik der Gemeinde« bzw. »leere Worte« ( Jugendzentrumsvereine von Eppelborn, Illingen, Dirmingen, Ottweiler, Wustweiler und Neunkirchen [Hg.], Jugendzentren und JUZ-Initiativen im Landkreis Neunkirchen. Dokumentation, Neunkirchen 1978, S. 5-8, S. 50, in: Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg, 6.0.2, 6-a5-11). 26 Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 92. 27 Initiativkreis Jugendzentrum [Schweich] an Redaktion Diskuss, 8.3.1974, in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21214. <?page no="322"?> Freiräume vom Provinzalltag 323 28 So machte die christdemokratisch dominierte Gemeindevertretung im schleswig-holsteinischen Gettorf eine Zusammenarbeit mit der örtlichen Aktion Jugendzentrum im August 1976 davon abhängig, dass »keine Kommunisten oder kommunistenfreundliche Jugendliche« in der Initiative geduldet würden (Blinkfüer. Landeszeitung des KB für Schleswig- Holstein, Nr. 7, September 1976, S. 7). 29 Deutsche Jugend, Heft 11, November 1974, S. 502. 30 So plante beispielsweise die Jugendzentrumsinitiative in Mosbach (Baden-Württemberg) ein Pop-Konzert, um »die Idee JZ bekannt zu machen« (Alex Riederer, Entstehungsbedingungen, Geschichte und Analyse der Jugendzentrumsinitiative Mosbach, [Neckargemünd 1979], S. 20). 31 Zu Schwetzingen: Manuskript Jour fix 2, 4.6.1971, in: Historisches Archiv des SWR, FS Nachmittagsprogramm, 29/ 01089. Zu Mölln: Lübecker Nachrichten, 23.5.1973, S. 3. Zu Wertheim vgl. Aktion Jugendhaus (Hg.), Dokumentation. Die Geschichte der Aktion Jugendhaus ist eine Geschichte von Hausbesetzungen, Wertheim [1976]; Herrenknecht, Provinzleben, S. 179-211. 32 Beim Georg-von-Rauch-Haus, das im Dezember 1971 nach einem Konzert von »Ton Steine Scherben« besetzt wurde, handelte es sich allerdings weniger um ein Jugendzentrum i.e.S., als um ein Jugendwohnkollektiv für Trebegänger und Lehrlinge (Georg v. Rauch- Haus, Kämpfen Lernen Leben, Berlin-West 1972; Georg v. Rauch-Haus Kollektiv (Hg.), Friede den Hütten! Krieg den Palästen! 6 Jahre Selbstorganisation, Berlin-West 1977). 33 Deutsche Jugend, Heft 11, November 1974, S. 503. 34 Eine jugendliche Selbstverwaltung unter kirchlicher Trägerschaft, wie sie beispielsweise in Heide (Schleswig-Holstein) zwischen 1973 und 1976 bestand, lässt sich eher selten ausmachen (Stadtarchiv Heide, III 1047). 35 Siegfried, Time Is On My Side, S. 656. 36 Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 108. 37 Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil 1, S. 128, 133ff. 38 So Eberhard Kögel, Jugendzentrumsaktivist aus Stetten, im Rückblick (Interview Verfasser mit Werner Schretzmeier und Eberhard Kögel, 15.3.2011). Herrenknecht spricht von der Jugendzentrumsbewegung als »Gegen-Familie« (Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 107). 39 Jugendzentren und JUZ-Initiativen im Landkreis Neunkirchen, S. 12. 40 Riederer, Entstehungsbedingungen, S. 50. 41 Jürgen Wigger an Redaktion Diskuss, 20.10.1974, in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21216. Auch für Westerland auf Sylt galt im Juli 1977: »Hauptproblem sind betrunkene Jugendliche, die im JZ randalieren« (Protokoll Bezirkstreffen der Jugendzentren und Häuser der Jugend im Norden Schleswig-Holsteins, 10.7.1977, in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), 814-68, SDAJ S-H 8-1). 42 Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 132. 43 Riederer, Entstehungsbedingungen, S. 48, S. 52. Albert Herrenknecht zufolge sollte ein Jugendhaus eine »Art Schutzwall gegen die übermächtige Provinzkultur« bieten (Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 82). 44 Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil 1, S. 81. 45 Peter Noack an Redaktion Jour fix, 21.10.1972, Anhang, Fragebogen zu Gaildorf, in: Historisches Archiv des SWR, FS Familie, 29/ 21210. 46 Riederer, Entstehungsbedingungen, S. 13. 47 Ebd., S. 12. Vgl. auch die Aussagen Wasserburger Jugendlicher: »Schwierig ist in der Kleinstadt vor allem das Heraustreten, das tatsächliche Bekennen: Wir wollen dies und jenes. In der Großstadt kannst du das ungestraft sagen, […] da kennt dich keiner. Aber in der Provinz ist das immer gleich mit der Bedrohung verbunden, daß man eins auf den Schädel kriegt […], eben weil man nicht die Möglichkeit hat, […] in die Anonymität unterzutau- <?page no="323"?> 324 David Templin chen mit seiner roten Fahne.« (Michael Buckmiller/ Josef Fenzl, »Auf ‹m Land is nix los ...« Ein Gespräch über die Dialektik von Spontaneität und Organisation in der Provinz am Beispiel Wasserburg, in: Kursbuch, 39, April 1975, S. 155-181). 48 ID, Nr. 247, 15.9.1978, S. 4. 49 Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil 1, S. 81. 50 Die Initiative aus Kusel betonte beispielsweise 1972, wie »wertvoll« die positive Presseberichterstattung für den Erfolg ihrer Bemühungen war (Manuskript Jour fix 7, 26.5.1972, in: Historisches Archiv des SWR, FS Nachmittagsprogramm, 29/ 01089). 51 Sozialmagazin, September 1977, S. 15. Neben dem Verhalten der örtlichen Polizei wird in dem Artikel auch eine diffamierende Presseberichterstattung und die Diskriminierung von aktiven Jugendlichen am Arbeitsplatz und in der Schule thematisiert (ebd., S. 16-17). 52 ID, Nr. 247, 15.9.1978, S. 4 f. Auf die »Dichte der örtlichen Kommunikationsnetze und das große Maß an lokaler Öffentlichkeit« als gute Ausgangsbedingungen für Mobilisierungserfolge von Initiativen im ländlichen Raum weist auch Cornelia Nowack hin (Cornelia Nowack, Lokale Öffentlichkeit und Mobilisierungserfolge. Bürgerproteste in einer Großstadt und einer Kleinstadt im Vergleich, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 4/ 1991, S. 40-49, hier S. 48). 53 Jugendhaus Kressbronn, s’maul it haltê selbst verwalte, S. 48; Jugendzentren und JUZ-Initiativen im Landkreis Neunkirchen, S. 6, S. 31; Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil 1, S. 182 (Zitat). Das Jugendzentrum Stetten initiierte darüber hinaus ein Straßenfest und führte u.a. Altpapier- und Möbelsammlungen durch (ebd., S. 172 f., S. 183). Herrenknecht weist auf die Ambivalenz dieser »volkstümliche[n] Aktionen« und die Gefahr der Anpassung und des »Ausverkauf[s] politischer Positionen« hin (Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S.-97 f.). 54 Vgl. Kreisverband der Jugendzentren Rems-Murr (Hg.), Dokumentation Rems-Murr- Kreis, Geradstetten [1974], in: Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg, 6.0.2, 6-a4-19. 55 Links, Nr. 44, Mai 1973, S. 27; Rainer Moritz/ Albert Herrenknecht/ Wolfgang Hätscher (Hg.), Offene Kritik der Regionalzusammenschlüsse von JZ´s am Koordinationsbüro für Initiativgruppen der Jugendzentrumsbewegung e.V. Dokumentation, Stuttgart 1977, in: Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg, 6.0.2, 6-a5-15. 56 Einen zeitgenössischen Überblick liefern: Albert Herrenknecht/ Rainer Moritz, Jugendzentrumskoordination 1971-1977, in: Informationdienst Sozialarbeit, Heft 20, Juni 1978, S. 79-92. 57 Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 115-121. In einer Analyse von 1978 hatten Herrenknecht und Moritz den Trend zur Vernetzung allerdings noch als Ausdruck einer zunehmenden »Defensive« und eines »Abflauen[s] der Bewegung« gedeutet (Herrenknecht/ Moritz, Jugendzentrumskoordination, S. 87f.). 58 Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung (VSJS) e.V. (Hg.), Jugendzentrumsbewegung im Saarland 1979 (VSJS-Informationen 2), Saarbrücken 1979. 59 Herrenknecht, Provinzleben, S. 137-154. 60 Herrenknecht, »Kleinstadt 1968«, S. 136. 61 Ebd., S. 121. 62 Zu den »neuen sozialen Bewegungen« existiert eine umfangreiche politik- und sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur. Erst in jüngster Zeit sind sie verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt. Vgl. die Sammelbände: Cordia Baumann/ Sebastian Gehrig/ Nicolas Büchse (Hg.), Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren (Akademiekonferenzen. Band 5), Heidelberg 2011; Sven Reichardt/ Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Band 47), Göttingen 2010. Zu neuen sozialen Bewegungen im ländlichen Raum vgl. die Beiträge im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 4/ 1991, v.a.: <?page no="324"?> Freiräume vom Provinzalltag 325 Albert Herrenknecht/ Jürgen Wohlfahrt, Vom Kampf gegen die Provinz zum Kampf mit der Provinz. 20 Jahre politische Emanzipationsbewegungen in der Provinz, in: ebd., S. 21- 31. 63 Sozialmagazin, April 1977, S. 48f. 64 Kursbuch, 39, April 1975. Vgl. auch Klaus B. Vollmar, Alternative Selbstorganisation auf dem Lande. Beiträge zur Theorie und Praxis von Gruppen in der BRD, Berlin 1976. 65 Herrenknecht, Provinzleben, S. 17f., S. 37. Vgl. auch die Berichte in pädagogischen Fachzeitschriften über »Selbstorganisation« - im Rahmen der Serie »Leben auf dem Land« (Sozialmagazin, September 1977, S. 13-17) - und »Sozialarbeit in der Provinz« (Päd.extra Sozialarbeit, Heft 9, September 1977, S. 22-34). 66 Herrenknecht, Provinzleben, S. 23. 67 Ebd., S. 26, S. 10. 68 Ebd., S. 30. 69 Ebd., S. 10. 70 Auf einem vom Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) organisierten Zeltlager in Bingen im Juni 1978 stand u.a. das Thema »Jugendzentrumsarbeit in der Provinz« im Mittelpunkt. Das Regionaltreffen der Jugendzentren aus der Region Franken-Hohenlohe nannte sich explizit »Provinztreffen« (ID, Nr. 233, 10.6.1978, S. 1, 18). 71 ID, Nr. 247, 15.9.1978, S. 4. 72 Jugend- und Sportamt Ratzeburg an Hans-Joachim Wilms, Karsten Koop und Manfred Müller, 4.10.1975, in: Stadtarchiv Ratzeburg, Bestand III, Nr. 1630; Rebell, Nr. 11, November 1975, S. 18; Rebell Nr. 12, Januar 1976, S. 17. 73 Schüler-Info IV, Mitte Januar [1978], S. 7, in: Gemeinschaftsarchiv Kreis Schleswig-Flensburg und Stadt Schleswig, Nr. G10/ 131. 74 Spengler, Jugendfreizeit zwischen Kommerz und Pädagogik, S. 345. 75 Ebd., S. 342. 76 So konnte das JZ Westerland auf Sylt im Dezember 1978 sein vierjähriges Bestehen feiern. Vorausgegangen waren zwei Jahre heftiger Auseinandersetzungen mit der Stadt, in deren Verlauf letztere u.a. den Nutzungsvertrag fristlos gekündigt hatte und es zu juristischen Auseinandersetzungen gekommen war. Vgl. entsprechende Dokumente in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), 814-68, SDAJ S-H 8-1. 77 Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil II, S. 343-380; ID, Nr. 179, 28.5.1977, S. 2 f.; ID, Nr. 186, 16.7.1977, S. 17. Weniger erfolgreich war eine Hausbesetzung in Schwäbisch Gmünd im April 1977, die von den Jugendlichen nach einer Strafanzeige der Stadt und polizeilichen Räumungsandrohungen freiwillig beendet wurde (ID, Nr. 176, 7.5.1977, S. 9; ID, Nr. 177, 14.5.1977, S. 19). 78 Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung (VSJS) e.V. (Hg.), Jugendzentrumsbewegung im Saarland 1979 (VSJS-Informationen 2), Saarbrücken 1979. 79 Herrenknecht/ Moritz, Jugendzentrumskoordination, S. 87. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatten beide konstatiert: »Das Problem des Generationswechsels in der JZ-Bewegung ist unübersehbar. Mit dem Aussterben der ersten Generation tritt auch ein Verlust an Erfahrung, Energie und vorhandener Gegenmacht ein.« (Albert Herrenknecht/ Rainer Moritz, Die Jugendzentrumsbewegung lebt! , in: Päd. Extra Sozialarbeit, Heft 11, November 1977, S. 13-16, hier S. 13). 80 Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil II, S. 453-494. 81 Leo Teuter, Selbstverwaltung und Professionalität. Möglichkeiten und Probleme professioneller Jugendarbeit in selbstverwalteten Jugendfreizeiteinrichtungen (Veröffentlichungen des Instituts für Jugendforschung und Jugendkultur e.V., Band 3), Frankfurt a.M. 1984, S. 16, S. 79f. 82 Während die Hausbesetzungen im großstädtischen Raum vor allem die Aneignung von Wohnraum zum Ziel hatten, ging es in kleineren Städten nicht selten um Jugendzentren, <?page no="325"?> 326 David Templin beispielsweise in Hofheim im Taunus (ID, Nr. 339, 20.6.1980, S. 12f.) oder Radolfzell (Dokumentation für ein Jugendzentrum im Feuerwehrhaus, [Radolfzell] 1980, in: Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg, 6.0.2, 6-a4-8). Vgl. Der Spiegel, 35. Jg., Nr. 13, 23.3.1981, S. 26-32. 83 Auch Lothar Böhnisch und Reinhard Winter kamen zu dem Schluss, dass Ende der 1980er Jahre ein politischer Charakter selbstverwalteter Jugendzentren im ländlich-kleinstädtischen Raum »nur noch vereinzelt zu spüren« sei (Lothar Böhnisch/ Reinhard Winter, Pädagogische Landnahme. Einführung in die Jugendarbeit des ländlichen Raums, Weinheim/ München 1990, S. 70). 84 Böhnisch/ Winter, Pädagogische Landnahme, S. 61, S. 69. 85 »[D]ie JZ-Bewegung hatte […] mitbewirkt, dass Mitte der 70er Jahre erstmals in den allermeisten Städten und in vielen Dörfern eine Jugendfreizeiteinrichtung überhaupt vorhanden war und diese Angebotsform der Jugendarbeit damit allgemeine Verbreitung gefunden hatte« (Franz Josef Krafeld, Geschichte der Jugendarbeit. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Weinheim/ Basel 1984, S. 190). 86 Friederike Kamann macht am Beispiel Stetten die »Sogwirkung« deutlich, die das selbstverwaltete Jugendzentrum auch auf die Jugendarbeit der Kirchengemeinde hatte (Kamann/ Kögel, Ruhestörung. Teil I, S. 142-146). 87 Böhnisch/ Winter, Pädagogische Landnahme, S. 68. 88 »Die ländlichen Jugendzentrumsinitiativen wurden so zum Auslöser für eine erstmalige jugendpolitische Diskussion auf dem Land. Jugendthemen wurden in die Gemeinderäte hineingetragen. Mit den Jugendzentren beginnt eigentlich erst die kommunalpolitische Auseinandersetzung mit der Jugend.« (ebd., S. 69 f.). 89 So lautete beispielsweise der Vorwurf, den 1975 kommunistische Jugendzentrumsaktivisten aus Eutin dem Stadtjugendpfleger machten. Dieser war Mitglied der Jungen Union und von der Stadt angestellt worden, um das selbstverwaltete Jugendzentrum zu betreuen (Zitat aus: Arbeiterkampf, Beilage SH wird rot, Nr. 3, Okt. 1975, S. 5, in: Archiv der sozialen Bewegungen Bremen). 90 Detaillierte Zahlenangaben liegen dazu leider nicht vor. Schewe schätzte die Zahl selbstverwalteter Einrichtungen für 1976 grob auf mindestens 272 (Schewe, Selbstverwaltete Jugendzentren, 31). Die Angabe Teuters von rund 200 selbstverwalteten Jugendzentren allein in Hessen 1981/ 82 beruht auf relativ »weichen« Kriterien, da er Selbstverwaltung als »Autonomie in programmatischen, finanziellen oder personellen Entscheidungen« definierte (Teuter, Selbstverwaltung und Professionalität, S. 90, S. 106-108, hier S. 107, Hervorhebung DT). 91 Lothar Böhnisch/ Heide Funk, Jugend im Abseits? Zur Lebenslage Jugendlicher im ländlichen Raum, Weinheim/ München 1989, S. 139. 92 Siegfried, Urbane Revolten, S. 351. Roland Roth weist auf die Unvollständigkeit und Ungleichzeitigkeit der Modernisierung traditionaler Sozialstrukturen hin, die von »städtischen« Lebensmustern eher »überlagert bzw. ergänzt« als vollständig abgelöst wurden (Roland Roth, Proteste und soziale Bewegungen im Odenwald, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 4/ 1991, S. 60-72, hier S. 60). <?page no="326"?> Überlieferung und Dokumentation <?page no="328"?> 1968 und die Archive Überlieferung und Erinnerung G eRhaRd F üRmetZ Worum geht es? - Ein Problemaufriss »Zeitgeschichtliche Forschung ohne Archiv-Quellen? « Mit dieser Suggestivfrage überschrieb Clemens Rehm vom Landesarchiv Baden-Württemberg im September 2009 seinen Vortrag im Rahmen einer Tagung in Heidelberg über »Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren«. Dass wir die schriftliche und bildliche Überlieferung in den Archiven aktiv in den zeitgeschichtlichen Forschungsprozess einbringen müssen, ist unbestritten und dennoch nicht selbstverständlich. Zeitzeugenberichte und veröffentlichtes Material reichen nun einmal nicht aus, um etwa ein differenziertes Bild der konfliktreichen Jahrzehnte zwischen 1960 und 1980 zu zeichnen. Dabei stehen Archivare und Historiker gleichermaßen vor großen Herausforderungen. Jüngeres Archivgut von den Abgabebehörden zu übernehmen, zu erschließen und zugänglich zu machen, ist eine komplexe, mühsame und zeitaufwändige Aufgabe - einschlägige Archivalien zu ermitteln, zu sichten und quellenkritisch auszuwerten allerdings nicht weniger. In diesem Kontext ist der folgende Versuch angesiedelt, die Bandbreite der archivischen Überlieferung zur 68er-Bewegung und ihrer Zeit zu skizzieren, zentrale Fragen der Überlieferungsbildung anzusprechen und die Bedeutung der Archive als »Erinnerungsorte« herauszustellen. 1 Dabei sollen auch Fehlstellen - die berühmten »weißen Flecken« - und Zugangsprobleme nicht ausgespart bleiben. 2 Der Blick richtet sich in erster Linie auf den studentisch-jugendkulturellen Protest und dessen Wahrnehmung durch die Organe des Staates, weniger dagegen auf die Auswirkungen der 68er-Bewegung auf Staat, Gesellschaft und Kultur (z.B. in Theater, Kunst und Kirche) im Allgemeinen 3 - Konfliktfelder, die durchaus auch ihren Niederschlag in den Akten gefunden haben. Die angeführten Beispiele stammen zwar nicht aus der Bodensee-Region, sondern vorwiegend aus Bayern und beziehen sich primär auf den Münchner Fall - damals auch eher »Protestprovinz« als »Protestmetropole« 4 - sie sind aber grundsätzlich auf andere Räume übertragbar. Der lokale Bezug hängt mit früheren Beschäftigungen mit dem Thema zusammen: Bereits 1999 habe ich eine Archivausstellung zu den 68er-Protesten in der bayerischen Landeshauptstadt konzipiert 5 und seitdem mehrere größere Protestereignisse in München wissenschaftlich erforscht, darunter die <?page no="329"?> 330 Gerhard Fürmetz Ladenschlussunruhen von 1953/ 54 und die spektakulären »Schwabinger Krawalle« von 1962. 6 Was bleibt? - Archivische Überlieferung zu Protesten um 1968 Zunächst einmal ist die enorme Masse und Vielfalt an schriftlichen Unterlagen und Dokumenten zu den Protesten der 1960er und frühen 1970er Jahre anzuführen, die sich mittlerweile in den Archiven der unterschiedlichsten Sparten angesammelt haben. 7 Das Spektrum der Verwahrstellen 8 reicht von staatlichen und kommunalen Archiven, die primär das Schriftgut von Verwaltungs- und Justizbehörden speichern, über die Archive bzw. Registraturen von Universitäten, Hochschulen, Gymnasien, Studentenwerken und sonstigen Wissenschaftseinrichtungen 9 , die Kirchen- und Wirtschaftsarchive, die Archive von Parlamenten, politischen Parteien und Gewerkschaften 10 , die Rundfunk- und Fernseharchive 11 bis hin zu den Archiven der sozialen Bewegungen. 12 Im Bereich der Archive in öffentlicher Trägerschaft ist im Wesentlichen Quellenmaterial der folgenden vier Typen - mit unterschiedlich hoher Relevanz für das jeweilige Forschungsvorhaben - anzutreffen: • funktionales Verwaltungsschriftgut, das zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht für den öffentlichen Gebrauch gedacht war, • privates Schriftgut, überliefert in Form persönlicher Nachlässe, • vervielfältigte und bewusst verbreitete Druckerzeugnisse, zum einen aus der Hand von Studenten, Schülern und Vereinen/ Verbänden, zum anderen aus der Medienproduktion, • audiovisuelles Material wie Fotos, Filme, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen, deren Rezeption in der historischen Forschung an Bedeutung gewinnt. 13 Im Unterschied zum Behördenschriftgut übernehmen die staatlichen und kommunalen Archive Nachlässe und gedrucktes Material nicht im Rahmen ihrer archivgesetzlich festgelegten Zuständigkeiten, sondern durch gezielte Sammlung. Während sich in den Behördenakten vor allem ungedruckte Schriftstücke, aber auch Zeitungsausschnitte, Lichtbilder und gelegentlich sogar Filme finden, zählen zum Sammlungsgut hauptsächlich Flugblätter, Plakate, Transparente, Broschüren und Zeitschriften. 14 Derartige Druckerzeugnisse begegnen freilich auch in Akten, etwa wenn Polizeidienststellen Dokumentations- oder Beweismaterial sammelten. 15 Eine klare Trennung ist also nicht immer möglich. Exemplarisch für die staatlichen Archive sei an dieser Stelle der Blick auf das Bayerische Hauptstaatsarchiv und das Staatsarchiv München gerichtet, in denen die Überlieferung der Ministerien und Landesober- <?page no="330"?> 1968 und die Archive 331 behörden des Freistaats Bayern bzw. der staatlichen Mittel- und Unterbehörden im Regierungsbezirk Oberbayern einschließlich Münchens verwahrt wird. 16 In den Akten der Staatskanzlei, des Innen-, Kultus- und Justizministeriums, der Präsidien der Bayerischen Bereitschaftspolizei und der Bayerischen Landpolizei (bis 1968), des Landeskriminalamtes und des Landesamtes für Verfassungsschutz - alle im Bayerischen Hauptstaatsarchiv - finden sich ebenso wie in der im Staatsarchiv München lagernden Überlieferung der Regierung von Oberbayern, des städtischen Polizeipräsidiums München 17 und der regional zuständigen Gerichte und Staatsanwaltschaften vielfältige Bezüge zu einzelnen Protesten und Demonstrationen in der Landeshauptstadt, insbesondere aber zur Reaktion des Staates auf Protestbewegungen, deren Träger und Protagonisten. 18 Daneben gibt es vor allem im Bayerischen Hauptstaatsarchiv große Plakat- und Flugblattsammlungen sowie Unterlagen studentischer Gruppen und Gremien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nachlässe bayerischer Kultus- und Innenminister sowie höherer Beamter beider Ressorts in der Abteilung für Nachlässe und Sammlungen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs runden das Spektrum ab. Welches Erkenntnispotential allein in den Unterlagen aus Behördenprovenienz steckt, soll an folgendem Beispiel deutlich gemacht werden. In der äußerst dichten Überlieferung der Abteilung Staats- und Verfassungsschutz des bayerischen Innenministeriums, die im Jahr 2000 ins Bayerische Hauptstaatsarchiv gelangt ist, gibt es eine 32-bändige Aktenserie über die Beobachtung »linksradikaler Bestrebungen«, die 1968 auf dem Höhepunkt der Studentenproteste beginnt und bis in die 1990er Jahre reicht, mit einer sich rasch ausweitenden Bandbreite polizeilich observierter Gruppierungen und teils potenzieller, teils realer Täterpersonen. 19 Dass in diese Akten auch Material über »anarchistische Gewalttäter« und »Terroristen« eingeflossen ist, kann als Indiz dafür gelten, dass der Linksterrorismus der 1970er/ 80er Jahre von den Sicherheitsbehörden als fester Bestandteil des seinerzeitigen links-alternativen Milieus interpretiert wurde. In diesen Unterlagen - wie auch in zahlreichen weiteren, von der Staatsschutzabteilung des Innenministeriums gebildeten Akten über diverse »Politische Parteien, Vereine und Organisationen« und über »Versammlungen und Aufzüge« - befinden sich allerdings auch Dokumente mit geringerer sicherheitspolitischer Brisanz, die vielmehr Aufschluss über die mannigfaltigen, oftmals kleinen Versuche des Aufbegehrens gegen und des Ausbrechens aus den Konventionen des Bildungssystems und der herrschenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung geben, und zwar in ihrem jeweiligen lokalen »Setting«. 20 Von Polizei- und Verwaltungsbehörden an das Innenministerium eingesandt und dort in die Akten eingespeist wurden nicht zuletzt viele Flugblätter und andere <?page no="331"?> 332 Gerhard Fürmetz flüchtige Texte, die ansonsten möglicherweise verloren gegangen wären. Wenn also in der behördlichen Überlieferung auch der Blickwinkel von Polizei und Justiz, Universitätsbürokratie und Professoren sowie Regierungspolitikern dominiert, die in den Protestaktionen von Studenten, Schülern und APO-Aktivisten in erster Linie Störungen eines nach festen Regeln ablaufenden Universitäts- und Schulbetriebs oder einer rechtlich definierten, unbedingt zu verteidigenden »öffentlichen Sicherheit und Ordnung« sahen, so bieten die Akten doch auch Einblicke in die Protestrealität und -vielfalt seit den 1960er Jahren. Was fehlt? - Grenzen des Erinnerungsorts Archiv Zur Überlieferungsbildung - dem archivischen Fachbegriff für das Aussondern, Bewerten und Übernehmen von Aktenschriftgut, also der Auswahl »archivwürdigen« Materials - sei grundsätzlich angemerkt, dass es sich um einen geregelten Prozess handelt, in dem die jeweilige Behörde ihr als entbehrlich erachtetes Schriftgut dem zuständigen Archiv anbietet, das dann die Bewertung vornimmt. Die Bewertungsentscheidung orientiert sich an der Aussagekraft für die Aufgaben und das Handeln der Akten abgebenden Stelle, aber auch am zu erwartenden Wert für die historische Forschung und zur Rechtswahrung der Bürger. Je nach Art der Unterlagen werden Einzelbewertungen vorgenommen, systematische, auf Aktenpläne gestützte Bewertungsmodelle genutzt oder Sample-Auswahlverfahren verwendet, etwa bei massenhaft gleichförmigen Akten. Überlieferungsbildung findet zunehmend auch archivübergreifend statt. Ob sich daraus künftig eine »multiperspektivische Gesamtüberlieferung« erzeugen lässt, an deren Genese auch Vertreter der Forschung beteiligt sind, wird sich zeigen. 21 Ungeachtet aller Theorie kann es bei der Aussonderung und Bewertung von Aktenschriftgut, aber auch von den Akten beigeordneten Fotos, Filmen und Publikationen zu Überlieferungslücken kommen. In solchen Fällen ist in der Tat ein multiperspektivischer Forschungsansatz vonnöten. Ein Beispiel ist der Justizbereich, gelangen doch Akten zu eingestellten Ermittlungsverfahren - im Gegensatz zu Prozessakten - trotz aussagekräftigen Inhalts oft nicht an die zuständigen Archive, vor allem, wenn es sich um minderschwere Delikte handelt, die gerade für die 68er-Proteste typisch sind. Überlieferungsstörungen können sich auch aus unintendierten Aktenverlusten ergeben, die in der Praxis wegen unzureichender Aktenführung, falscher Lagerung oder schierer Nachlässigkeit auf Seiten der Provenienzbildner gelegentlich vorkommen. Werden Akten erst spät an die Archive abgegeben, entsteht bisweilen der falsche Eindruck, es sei nichts vorhanden oder Unterlagen seien vorsätzlich vernichtet worden. 22 <?page no="332"?> 1968 und die Archive 333 Erschließungsrückstände oder eine schlechte Verzeichnung können ein Übriges tun, um existierendes Material »unsichtbar« zu machen. Fehlstellen gibt es aber noch in anderer Hinsicht. Nicht alle Aspekte eines Themas, etwa einer Protesthandlung, werden in vollem Umfang amtlich »aktenkundig«, weil die damit befassten Stellen nicht daran interessiert sind oder keine Kenntnis erlangt haben. Auch bei der Komplementärüberlieferung in nichtstaatlichen Archiven, die sich um die Korrespondenzen, Selbstzeugnisse und Publikationen der Protagonisten von Protestbewegungen und -initativen kümmern, kann es indes zu »weißen Flecken« kommen. 23 Neue Forschungsfragen können ebenfalls Defizite sichtbar werden lassen. So sind in letzter Zeit verstärkt die kommunikative Schlüsselfunktion der Medien und die damit in Wechselwirkung stehenden »performativen Praktiken« der Studentenbewegung ins Blickfeld der Forschung zu »1968« geraten. 24 Beispielsweise werden aus Fotos weit mehr als Illustrationsobjekte, wenn man ihre Bildersprache und Inszenierung näher betrachtet. 25 Hier zeigen sich die Grenzen der Rekonstruierbarkeit historischer Prozesse aus Aktenmaterial. Ein ganz anderes Problem stellt die mitunter eingeschränkte Zugänglichkeit zu archivischen Unterlagen dar. Nach welchen Kriterien Forscher Akteneinsicht erhalten und wie Schutzfristen gehandhabt werden, ist im staatlich-kommunalen Bereich zwar grundsätzlich in den Archivgesetzen geregelt, unterliegt aber dennoch einem gewissen Ermessensspielraum. Selbst bei Bewegungsarchiven ist nicht generell sichergestellt, dass jedermann alles einsehen darf. 26 Die Überlieferung von Rundfunk- und Fernsehanstalten muss in diesem Zusammenhang als besonders kritisch gesehen werden. 27 In den staatlichen Archiven Bayerns gilt, dass behördliches Archivgut erst 30 Jahre nach seiner Entstehung benützt werden darf. Unzugänglich sind auch Unterlagen mit unmittelbarem Personenbezug, wenn die Betroffenen nicht bereits mindestens zehn Jahre verstorben oder im Zweifelsfall jünger als 90 Jahre sind. In der Praxis kommt dieses Hindernis weitaus häufiger vor als eine weitere Einschränkung, nämlich dass die Akteneinsicht die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nicht gefährden darf. Besonderen Bedingungen unterliegen außerdem Dokumente, die als »Verschlusssachen« (VS) gekennzeichnet sind. 28 In allen genannten Fällen ist eine Verkürzung der gesetzlichen Schutzfristen erforderlich, um die Unterlagen einsehen zu können. Dabei muss jeder Einzelfall geprüft werden, unter Einbindung der Akten abgebenden Stelle. Das wissenschaftliche Forschungsinteresse wird gegen die gesetzlichen Schutzrechte, speziell die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, abgewogen. 29 Bei Untersuchungen zur Protestgeschichte der 1960er, 70er und 80er Jahre kann dies durchaus zu einer <?page no="333"?> 334 Gerhard Fürmetz Limitierung der Zugänglichkeit führen, insbesondere wenn es sich um Schülerprojekte, studentische Seminararbeiten oder sonstige nichtwissenschaftliche Forschungen handelt. Enthalten die Akten gar Schriftstücke mit VS-Vermerken - wie bei den erwähnten Unterlagen der Staatsschutzabteilung des bayerischen Innenministeriums gelegentlich der Fall - sind selbst wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen Grenzen gesetzt. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv wird mancher Problemfall freilich dadurch gelöst, dass die (noch) gesperrten Dokumente vorübergehend aus einem ansonsten zugänglichen Akt entnommen oder verhüllt werden. Auch können dem Benützer bestimmte Verpflichtungen auferlegt werden, etwa Personendaten in einer Veröffentlichung zu anonymisieren. Hinzuweisen ist schließlich noch auf die Gefahr des Informationsverlusts durch physische Schwächen des Materials oder fehlende Sorgfalt bei der Archivgutlagerung. Der schleichende Zerfall säurehaltigen Papiers - etwa bei billig hergestellten Flugblättern oder Zeitungen - das Verblassen der Schrift auf Thermokopien und Fax-Ausdrucken oder die mangelnde Alterungsbeständigkeit von Foto- und Filmmaterial können zum Beispiel langfristig Probleme aufwerfen. Hier sind insbesondere die kleinen, nicht professionell betreuten Archive gefährdet, denen die nötigen Mittel und Kenntnisse für adäquate Bestandserhaltungsmaßnahmen oder Schutzmedien fehlen. Wenn Mikroverfilmung und Digitalisierung nicht möglich sind, sollte zumindest größter Wert auf eine sachgerechte Verpackung und Entmetallisierung sowie ein angemessenes Magazinklima gelegt werden, um beispielsweise Rost- und Schimmelschäden zu vermeiden. 30 Archive - so lässt sich abschließend feststellen - wirken an der Erinnerungsbildung zur jüngeren Protestgeschichte in Deutschland aktiv mit, ja sie sind selbst Teil der Erinnerungskultur. Sich selbstbewusst in diesen Prozess einzubringen, sollte für die Archivare aller Sparten und Träger daher selbstverständlich sein. Die Deutungshoheit über »1968« und die Folgen darf nicht allein den Medien und den Zeitzeugen überlassen bleiben. <?page no="334"?> 1968 und die Archive 335 Anmerkungen 1 Vgl. dazu auch den materialreichen Tagungsband von Robert Kretzschmar/ Clemens Rehm/ Andreas Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre«. Überlieferungsbildung und Forschung im Dialog (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. A 21), Stuttgart 2008. 2 Mit ähnlichem Ansatz, bezogen auf das Thema »Terrorismus«: Gerhard Fürmetz, Das Archiv als Ort der Wissensgenerierung über Terrorismus, in: Christine Hikel/ Sylvia Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter, Bd. 61), Frankfurt a.M./ New York 2012, S. 123-142. 3 Vgl. für München aus populärwissenschaftlicher, persönlich geprägter Sicht Karl Stankiewitz, München '68. Traumstadt in Bewegung, München 2008. 4 Begriffspaar zitiert nach Martin Klimke/ Joachim Scharloth, Maos Rote Garden? »1968« zwischen kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis - Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/ Weimar 2007, S. 1-11, hier S. 2. 5 Vgl. Gerhard Fürmetz, Protest oder »Störung«? Studenten und Staatsmacht in München um 1968 (Staatliche Archive Bayerns - Kleine Ausstellungen, Bd. 12), München 1999. 6 Vgl. Gerhard Fürmetz, Polizei, Massenprotest und öffentliche Ordnung: Großeinsätze der Münchner Polizei in den frühen fünfziger Jahren, in: Christian Groh (Hg.), Öffentliche Ordnung in der Nachkriegszeit (Pforzheimer Gespräche zur Sozial-, Wirtschafts- und Stadtgeschichte, Bd. 2), Ubstadt-Weiher 2002, S. 79-106; Gerhard Fürmetz (Hg.), »Schwabinger Krawalle«. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre (Villa ten Hompel, Schriften, Bd. 6), Essen 2006; Gerhard Fürmetz, Fünf Protestnächte mit weit reichenden Folgen. Die »Schwabinger Krawalle« vom Juni 1962, in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945, München 2011, S. 71-79; Gerhard Fürmetz, Die unruhigen 60er Jahre in München: Von den »Schwabinger Krawallen« zu den Studentenprotesten, in: Stefan Krimm/ Martin Sachse-Weinert (Hg.), Only Rock’n’Roll? Unser Bild von den 60er Jahren (Acta Hohenschwangau 2010), München 2011, S. 73-112. 7 Vgl. die mittlerweile bereits leicht veralteten Archivführer: Philipp Gassert/ Pavel A. Richter (Hg.), 1968 in West Germany. A Guide to Sources and Literature of the Extra-Parliamentarian Opposition (Reference Guide 9), Washington (DC) 1998; Thomas P. Becker/ Ute Schröder (Hg.), Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer - Chronik - Bibliographie, Köln 2000. - Vgl. auch Thomas P. Becker u.a., Die 68er-Bewegung und ihre archivischen Quellen, in: Der Archivar 52 (1999), S. 116-124; Peter Dohms, Studentenbewegung und Überlieferungsvielfalt - das Beispiel Nordrhein-Westfalen, in: Ebd., S. 225-233. 8 Zur Archivlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland vgl. http: / / www.archivschule.de/ service/ archive-im-internet/ archive-in-deutschland/ deutsche-archive-im-internet.html (Zugriff: 15.3.2013). 9 Vgl. Thomas Becker, Archivische Bewertung der Unterlagen in Universitätsarchiven und anderen öffentlichen Archiven, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 75-85. 10 Vgl. exemplarisch Christoph Becker-Schaum, Überlieferungsbildung der Anti-Atom-Bewegung im Grünen-Archiv, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti- Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 187-191. 11 Vgl. am Beispiel der Proteste gegen Kernenergie Edgar Lersch, Die Anti-Atomkraft-Bewegung in Bild und Ton. Zur Überlieferungsbildung in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti- Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 177-185. <?page no="335"?> 336 Gerhard Fürmetz 12 Vgl. den kurzen Problemaufriss von Michael Koltan, Sammlung von Dokumenten in Archiven sozialer Bewegungen, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 87-93. 13 Zur Wahrnehmung der Studentenproteste der späten 1960er Jahre im Bayerischen Rundfunk vgl. Antje Eichler, Protest im Radio. Die Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks über die Studentenbewegung 1967/ 68 (Studien zur Geschichte des Bayerischen Rundfunks, Bd. 3), Frankfurt a.M. u.a. 2005. 14 Vgl. zu Letzterem die Quellenkritik bei Barbara Brunotte, Rebellion im Wort. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation. Flugblatt und Flugschrift als Ausdruck jüngster Studentenunruhen ( Jugend- und Pädagogische Probleme, Bd. 15), Frankfurt a.M. 1973; Jürgen Miermeister/ Jochen Staadt (Hg.), Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965-1971, Darmstadt/ Neuwied 1980; Uta C. Schmidt, »Alle reden vom Wetter. - Wir nicht.« Das Plakat als Medium, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Um 1968. Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998, S. 46-63. 15 Vgl. z.B. die 13-bändigen Ermittlungsakten der Münchner Kriminalpolizei zu den »Osterunruhen« vom April 1968: Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 9570/ 1-13. 16 Zuständigkeiten und Beständestrukturen beider Archive siehe http: / / www.gda.bayern. de/ archive/ hauptstaatsarchiv/ bzw. http: / / www.gda.bayern.de/ archive/ muenchen/ (Zugriffe: 15.3.2013). Zu zeitgeschichtlichen Überlieferungsschwerpunkten vgl. Andrea Schwarz, Quellen zur Zeitgeschichte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, in: Forum Heimatforschung 6 (2001), S. 23-36; Christoph Bachmann, Zeitgeschichtliche Quellen von Justiz und Polizei im Staatsarchiv München, in: Ebd., S. 37-51. 17 Neben zahlreichen Sachakten und Personendossiers der Schutz- und Kriminalpolizei existieren eine umfangreiche Presseausschnittsammlung sowie ein Foto- und Filmbestand aus den Jahren 1953-1980. 18 Ähnliches gilt z.B. für Baden-Württemberg; vgl. Elke Koch, 1967-1977. Die staatliche Überlieferung zum »roten Jahrzehnt«, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 63-74. 19 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MInn 97031-97062. 20 Vgl. den Beitrag von Paul Hoser in diesem Band, der für den Fall des Starnberger Schülerprotests einschlägiges Aktenmaterial im Bayerischen Hauptstaatsarchiv ausgewertet hat. 21 Vgl. als Überblick Robert Kretzschmar, Komprimierter Pluralismus. Methodische Ansätze zur Informationsverdichtung und Integration verschiedener Perspektiven in der archivischen Überlieferungsbildung, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 15-28, Zitat S. 28. 22 Dass Letzteres tatsächlich passieren kann, hat jüngst das Bundesamt für Verfassungsschutz mit der bewussten Vernichtung von Ermittlungsakten gegen rechtsextreme Täter vor Augen geführt. 23 Vgl. hierzu Wolfgang Kraushaar, Weiße Flecken der Überlieferung, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 95-103. 24 Klimke/ Scharloth, Maos Rote Garden? (wie Anm. 4), hier S. 4. 25 Vgl. z.B. für München Elisabeth Angermair, »Ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen«. Die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre im Spiegel der Pressefotografie, in: Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden (wie Anm. 6), S. 80-88. 26 Vgl. Koltan, Sammlung von Dokumenten in Archiven sozialer Bewegungen (wie Anm. 12), S. 91-92; Clemens Rehm, »1968« - Was bleibt von einer Generation? Überlieferung und Überlieferungsbildung zu einer nicht alltäglichen Zeit. Tagungsbericht, in: Kretzschmar/ Rehm/ Pilger (Hg.), »1968« und die »Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre« (wie Anm. 1), S. 37-44, hier S. 42. <?page no="336"?> 1968 und die Archive 337 27 Vgl. zuletzt Christoph Classen/ Thomas Großmann/ Leif Kramp, Zeitgeschichte ohne Bild und Ton? Probleme der Rundfunk-Überlieferung und die Initiative »Audiovisuelles Erbe«, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History (Online-Ausgabe) 8 (2011), H. 1, http: / / www.zeithistorische-forschungen.de/ 16126041-classen-grossmannkramp-1-2011 (Zugriff 15.3.2013). 28 Je nach Schutzwürdigkeit werden VS-Sachen in unterschiedliche Geheimhaltungsgrade unterteilt. So sieht die Verschlusssachenanweisung für die Behörden des Freistaats Bayern folgende Abstufungen vor: »VS - Nur für den Dienstgebrauch«, »VS - Vertraulich«, »Geheim«, »Streng geheim«. 29 Vgl. dazu als Überblick Hermann Rumschöttel, Das Bayerische Archivgesetz und die Lokal-, Regional- und Landesgeschichtsforschung, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 17 (1996), S. 1-21; aus aktueller Perspektive Margit Ksoll-Marcon, Ist die Zugangsregelung zu Archivgut im Bayerischen Archivgesetz noch zeitgemäß? , in: Archivalische Zeitschrift 90 (2008), S. 51-64. - In den übrigen Bundesländern ist die Rechtslage meist ähnlich. 30 Vgl. als Einstieg Gerhard Fürmetz, Verfilmung, Digitalisierung, Bestandserhaltung: Konkurrenz oder Kombination? , in: Archive in Bayern 7 (2012), S.-195-207. <?page no="338"?> Zu den Autorinnen und Autoren Gerhard Fürmetz, M.A. ist Archivoberrat und seit Mai 2013 Leiter der Abteilung II Neuere Bestände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte von Polizei, Protest und Kriminalität sowie Militärgeschichte und Archivgeschichte im 19./ 20. Jahrhundert in Bayern. Prof. Dr. Hans Heiss (geb. 1952 in Brixen) war von 1985 bis 1993 Leiter des Stadtarchivs Brixen und von 1994-2003 Archivar am Südtiroler Landesarchiv Bozen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören regionale Zeitgeschichte, Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Raum- und Tourismusgeschichte. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift »Geschichte und Region / Storia e regione«. Seit 2003 ist Hans Heiss Abgeordneter der Grünen / Verdi / Verc im Südtiroler Landtag. Dr. Paul Hoser (geb. 1974) ist Freier Historiker und lebt in München. Er ist Autor von Monographien sowie Zeitschriften- und Buchbeiträgen zu Themen der Presse- und Regionalgeschichte. Heike Kempe, M.A. studierte Geschichts- und Politikwissenschaften an der Universität Konstanz und promoviert am Arbeitsbereich für Zeitgeschichte zum Thema »Vom ›metropolen Sein‹ zum ›provinziellen Werden‹ - Politische, soziale und kulturelle Aus- und Aufbrüche in der Provinz seit den 1960er Jahren. Eine Studie zu Konstanz«. Thomas Klagian (geb. 1970 in Bregenz) ist seit 1998 Stadtarchivar von Bregenz. Er publizierte u.a. zur Geschichte der Stadt Bregenz, der Vorarlberger Landstände und der Appenzellerkriege. Mag. Werner Matt (geb. 1962) ist Leiter des Stadtarchivs Dornbirn. Er studierte Geschichte, Volkskunde, Politische Bildung und Museumspädagogik an den Universitäten Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt. Dr. Marcel Mayer (geb. 1954) ist Stadtarchivar der Politischen Gemeinde St. Gallen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Wirtschafsgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie kultur- und archivwissenschaftliche Themen. Er besuchte zwischen 1969 und 1973 die in seinem Beitrag mehrfach genannte Kantonsschule St. Gallen. <?page no="339"?> 340 Zu den Autorinnen und Autoren Katrin Netter, M.A., ist seit 2008 Leiterin des Bregenzerwald Archivs in Egg. Sie studierte Bautechnik und Restaurierung an der HTL Krems sowie Geschichte, Kunstgeschichte, Digitales Sammlungs- und Bildmanagement an den Universitäten Wien und Krems Prof. Dr. Sven Reichardt lehrt Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik, Geschichte des europäischen Faschismus, Diktaturen im Vergleich sowie Geschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert. Prof. Dr. Karin M. Schmidlechner lehrt Zeitgeschichte an der Universität Graz und ist Herausgeberin der Grazer-Gender-Studies (= Veröffentlichungen zur interdisziplinären historischen Frauen und Geschlechterforschung). Jürgen Schremser (geb. 1964 in Vaduz/ Liechtenstein) ist Historiker, Autor und Illustrator in Vaduz. Er veröffentlicht unter anderem Beiträge zur Kultur- und Zeitgeschichte Liechtensteins. Karl Schweizer (geb. 1953 in Lindau) ist Grund- und Hauptschullehrer an einer Werkrealschule in Friedrichshafen und seit rund 30 Jahren einer der Lindauer Lokalhistoriker. David Templin, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und promoviert zur Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Dr. Eva Wonneberger (geb. 1951) ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und lebt im Allgäu. Sie war langjährige Lehrbeauftragte an der Fachhochschule für Sozialwesen in Weingarten und ist heute freiberuflich als Journalistin und Soziologin tätig. Dr. Gert Zang leitete Forschungsprojekte zur Regionalgeschichte an der Universität Konstanz. Er war maßgeblich an der Begründung und Verbreitung der neuen Regional- und Alltagsgeschichte, die sich mit vernachlässigten und tabuisierten Themen befasste, beteiligt und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur jüngeren Geschichte im Bodenseeraum. <?page no="340"?> Zu den Autorinnen und Autoren 341 Die Schülerinnen: Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katrin Genseleiter und Ines Gersky waren Schülerinnen am Robert-Gerwig-Wirtschaftsgymnasium in Singen und machten dort 2012 ihr Abitur. Nicole Ehnert und Mirjam Kunz sind Schülerinnen am Friedrich- Hecker-Gymnasium in Radolfzell. Für ihre gemeinsam verfasste Arbeit »Skandal in unserer Stadt! Der Abriss eines Denkmals« beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten »Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte« im Jahr 2011 erhielten sie einen Förderpreis. <?page no="342"?> Register Personenregister A Aberer, Rolf 131 Achleitner, Friedrich 162, 163, 168 Achternbusch, Herbert 280 Adenauer, Konrad 41, 42 Adorno, Eduard 78, 79 Adorno, Theodor W. 21, 211, 226, 239 Aicher, Otl 41, 43, 44 Alberoni, Francesco 239 Albrecht, Herbert 148 Aly, Götz 100, 107, 292, 293, 297, 298 Amann, Bernhard 167 Amery, Carl 22 Andreatta, Beniamino 241 Andrè, Fabrizio De 252 Artmann, H.C. 137 Ausserhofer, Karl-Heinz 251 B Bär, Anton 160 Bär, Ernst 145 Bangemann, Martin 58 Barber, Chris 145 Bassetti, Silvano 245, 257 Batliner, Gerard 109, 121, 126 Batruel, Walter 130, 131, 132, 133, 137 Battisti, Lucio 252 Beauvoir, Simone de 269, 270 Bechtold, Gottfried 135, 146 Beig, Maria 37 Bender, Dr. Georg Friedrich 277, 278, 279, 280, 283, 284, 286, 288, 289, 291 Bennato, Edoardo 252 Benzer, Arnulf 132, 133, 134 Berchtold, Hubert 146 Berghofer-Weichner, Dr. Mathilde 290 Bermann, Michael 119 Bertel, Franz 146, 162 Besson, Waldemar 81 Biedermann, Josef 126 Bilgeri, Reinhold 131, 133 Bindig, Rudolf 76 Bischof, Burkhard 155, 157, 158, 159, 160, 166, 170, 174 Blauhut, Robert 146 Bloch, Ernst 211, 225, 226 Boato, Marco 238, 241 Bobbio, Norberto 241 Bohle, Karl 136 Böll, Heinrich 127 Bonetti, Emil 136 Borchert, Wolfgang 101, 102 Bösch, Carmen 136 Brandt, Willy 59, 63 Brecht, Bertolt 133, 144, 250 Breschnew, Leonid 40 Brugger, Bernhard 52 Brus, Günter 143, 144 Burtscher, Heli 131, 133, 134 C Camuffo, Ettore 238 Canestrini, Sandro 240, 247, 257 Capote, Truman 127 Curcio, Renato 239, 241 D Degenhardt, Franz Josef 49, 133 Detzel, Eugen 66 Dietenberger, Martin 53, 60, 67, 69 Diez, Kurt 33, 35 Dubček, Alexander 113 <?page no="343"?> 344 Register Dutschke, Rudi 48, 49, 53, 237, 238, 259 E Eberhardt, Henry 228 Ebner, Paulus 143 Ebner, Toni 248, 249, 253 Eckert, Wolfgang 46, 52, 68 Enderle, Georges 94 Enzensberger, Hans Magnus 313 Eyermann, Walter 213, 226 F Felder, Franz Michel 162 Feurstein, Gottfried 164, 165, 173, 174 Fiala, Franz 42, 48 Fickler, Joseph 222 Filbinger, Hans Karl 84 Fink, Walter 148, 157, 159, 162, 171, 173 Fo, Dario 252 Forcato, Sandro 252 Frei, Norbert 143 Fugmann, Fritz 34 Funk, Hans-Jörg 194 Fürmetz, Gerhard 293, 295, 298 G Gagarin, Juri 40 Gass-Bolm, Torsten 297, 298, Gasser, Siegi 139 Gerwig, Andreas 101 Gisel, Ernst 115, 124 Gleeson, Benny 127, 131, 140 Goop, Peter 122, 126 Grass, Günter 63 Greissing, Heinz 146 Greussing, Kurt 146, 159, 162, 171, 172 Guevara, Ernesto Che 45, 53, 253 Gui, Luigi 245, 253, 257 H Haffner, Leo 145, 146, 151 Hagen, Günther 127, 132, 133, 134, 138, 140, 141, 144 Hahn, Otto 83, 84 Hahn, Wilhelm 55 Haley, Bill 42 Hammerer, Franz 166 Hämmerle, Martin 129, 130, 131, 132, 133, 135, 140, 141 Hanisch, Ernst 143 Hartmann, Christine 161, 172, 173 Hartwig, Johann 84 Harz, Otto 60 Heidegger, Martin 12 Helmle, Bruno 213, 226, 227 Henze, Hans Werner 238 Herrenknecht, Albert 221, 299, 308, 311, 312, 313, 314, 316, 320, 321, 322, 323, 324, 325 Herz, Otto 81, 82 Hess, Gerhard 72, 75, 86, 87, 213 Hiemer, Leo 180 Hilbe, Alfred (»Freddy«) 109 Hitler, Adolf 59 Höfle, Willi 136 Holl, Adolf 162, 168 Hoßfeld, Joachim 36, 37 Hüsch, Hanns Dieter 101 I Imboden, Max 92, 107 Innerhofer, Franz 163 J Jaeger, Franz 106 Jäger, Josef 165 Janker, Josef W. 37 Jansen, Norbert 119 Johannsen, Jens H. 38 Juen, Ernst 156, 157, 158, 159, 160, 170, 171 Jungk, Robert 164 <?page no="344"?> Personenregister 345 Jurmann, Fritz 131, 140 Jussel, Ulrike 137, 138, 139, 141 K Kaser, Norbert C. 250 Katschger, Hans 213 Katschger, Martin 88 Kaub, Dr. Reinhold 277, 280, 283, 284, 285, 286, 294 Kessler, Bruno 235, 236 Keßler, Herbert 133, 135, 139 Kieber, Georg 118, 119, 124, 125 Kiesinger, Kurt Georg 54, 72, 78, 79 King, Martin Luther 48, 253 Klarsfeld, Beate 54 Köberlein, Georg 44 Kohler, Ferdinand 165, 167, 174 Köhlmeier, Michael 133, 137 Konzett, Lorenz 134 Kössler, Franz 245 Kramer, Josef 163 Kraushaar, Wolfgang 293, 298 Kreisky, Bruno 136, 145, 262 Kurras, Karl-Heinz 45 Kurz, Jan 240 Kuthan, Peter 132, 133, 144 L Landmann, Salcia 100 Langer, Alexander 246, 249, 253, 257, 258 Lang, Erwin 157, 158 Lang, Jürgen 67 Lanz, Heinz 129, 140 Lasch, Christopher 13, 19 Lehner, Gerhard 163, 172 Leipold, Jürgen 73, 74, 75, 76, 87 Lerch, Irmgard 228 Lindner, Uwe 72, 73, 74, 75, 82, 87 Loderer, Benedikt 115 Luger, Reinhold 132, 133, 134, 136, 144, 146, 151, 160 Lukács, Georg 239 M Macek, Dieter 153, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 171, 172, 173 Magulski, Rainer 198, 203, 207 Marcuse, Herbert 37, 239 Marx, Karl 40, 239 Matt, Wolfgang 146 Mätzler, Josef 105 Maunz, Theodor 41 Mayer, Fritz 145, 148 Meissner, Rudolf 50 Methlagl, Walter 162 Metzger, Oswald 67 Metzler, Edwin 159, 160, 172 Moosbrugger, Anton 160 Moritz, Rainer 316, 324, 325 Moro, Aldo 235 Moroder, Giorgio 251 Mühl, Otto 143, 144 Mußgnug, Martin 46 N Natter, Richard 165, 173 Nenning, Günther 158 Neurohr, Günther 184-209 Neven du Mont, Christian 73, 74, 87 O Obser, Hans 213 Ohnesorg, Benno 45, 49, 75, 76 Ottinger, Ulrike 216 Ott, Stefan 34 P Palma, Gianni 238 Peterson, Oscar 145 Peters, Ursula 136 Pichler, Meinrad 148 Pinter, Bruno 127 Plessner, Helmuth 12 Pramstaller, Willi 136 Presley, Elvis 42 <?page no="345"?> 346 Register Pruner, Herbert 150 R Reiche, Reimut 211 Reile, Holger 228 Reisacher, Erwin 82 Renz, Peter 40, 49, 51, 61, 68 Revelli, Marco 233, 256 Rheinberger, Hans-Jörg 120, 126 Richter, Karl 53 Ritter, Barbara 167, 173, 174, Ritter, Hubert 167 Rossi, Paolo 240 Rostagno, Mauro 238, 239, 241 Rousseau, Jean Jacques 12 Rusch, Hartwig 133, 134, 136, 144 S Sagan, Françoise 127 Sandner, Oscar 144-151 Sartre, Jean Paul 12 Schädler, Karl 47 Scheer, Günther 163 Schleyer, Hans-Martin 65 Schmid, Josef 249, 257 Schmid, Peter 45, 58 Schneider, Peter 237, 238, 239, 256 Schneider, Walter 43 Schrade, Ewald 63 Schwab, Eugen 35 Schwarzer, Alice 265, 270 Schwendter, Rolf 215 Sedlmayr, Gerty 130, 131, 140 Sennett, Richard 13, 20 Siegfried, Detlef 320, 321, 323, 324, 325, 326 Simma, Kaspanaze 160, 169, 172, 173 Sing, Elmar 226 Sinowatz, Fred 139, 145, 146, 150, 160 Sohm, Günther 137 Sombart, Werner 24 Sorbi, Paolo 238 Spengler, Peter 315, 321, 325 Springenschmid, Ingo 137 Springer, Axel Caesar 76 Stamm, Karl-Heinz 14, 15, 20 Stather, Hans 85 Stetter, Hilmar 119, 121, 125 Steurer, Wilfried 66 Stier, Siegfried 183, 184, 197, 199, 204, 207, 209 Strauß, Franz Josef 38, 56, 58, 59, 69 Strauß, Max 67 Strehle, Res 96, 100, 107 Stuffer, Siegfried 249 Sutter, Manfred 160 Svoboda, Ludvik 113 T Taylor, Charles 13, 14, 20 Teuter, Leo 317, 325, 326 Thadden, Adolf von 45 Thoma, Alois 39, 53 Tizian, Karl 144, 145 Trilling, Lionel 12, 13, 20 Tucholsky, Kurt 211, 226 V Venedey, Hermann 48, 82 Vestner, Willy 93, 94 Viellieber, Hermann 78, 79 Vocelka, Karl 143 Vögel, Edgar 63 Vögel, Johanna 156, 157, 158, 160, 164, 169, 170, 172 W Wäger, Rolf 136 Walser, Martin 41, 150 Wanner, Gerhard 133 Weber, Karl 39, 40 Wechner, Bruno 144 Weiß, Paul 34 Wieland, Christoph Martin 56 <?page no="346"?> Ortsregister 347 Wilder, Thornton 144 Winder, Ernst 136 Winkel, Gottfried 169, 171, 173 Witwer, Werner 158, 161, 166, 170, 174 Wolaskowitz, Friedrich 161, 168, 172, 173 Z Zambanini, Burkhard 136 Zeil, Martin 290 Zodel, Chrysostomos 49 Zoderer, Joseph 250, 258 Ortsregister A Adrazhofen 43 Aichach 315 Ailingen 64 Allgäu 153 Altusried 179 Andelsbuch 162, 163, 165, 167, 171, 172, 173, 174 Arnach 67, 175, 181 B Bad Schussenried 65, 67, 219, 222, 224, 309, 310, 314 Berlin 71, 75, 76, 78, 84, 169, 211, 212, 219, 226, 238 Bern 25 Bezau 161, 163, 164, 169, 172, 174 Biberach 33, 35, 44, 45, 46, 56, 58, 61, 62, 67, 68, 69 Bludenz 132, 133, 159 Bonn 47, 65 Bozen 233 - 258 Brand 166 Bregenz 129, 143 - 152, 156, 159, 171, 174, Bregenzerwald 153-174 Bruneck 251 Bubach 322 Burghausen 322 D Dornbirn 127 - 144, 153, 160, 170 Dreihausen 313 Dürmentingen 65 E Egg / Bregenzerwald 39, 153-174 Ehingen 61 Eppelborn 311, 322 Etschtal 242 Eutin 315, 326 F Feldkirch 133 Fischbach 66 Florenz 238, 246 Frankfurt a. M. 211, 212, 226, 229, 230 Friedrichshafen 33 -70, 224 G Gaildorf 309, 323 Garmisch-Partenkirchen 302 Gettorf 323 Gorleben 65 Götzis 150 Graz 259-276 Grödental/ Val Gherdëina 251 Großdorf 39 H Hannover 317 Heidelberg 212, 229 Höchst 161 <?page no="347"?> 348 Register Hofheim 326 Hohenems 146 I Icking 292 Immenstaad 64 Innsbruck 131, 139, 140 Isle of Wight 251 Isny 179 K Karlsruhe 25 Kempten 175, 179, 181 Königseggwald 67 Königstein im Taunus 316 Konstanz 21, 22, 25, 26, 27, 71 - 88, 153, 211 - 232 Kressbronn 64, 302, 311, 322, 324 Kusel 301, 303, 324 L Laimnau 64 Langenargen 64 Laupheim 66 Leutkirch 41, 43, 67, 177, 179 Lindau 34, 38, 42, 48, 49, 55, 59, 64, 66, 67, 68, 69, 76, 180, 181 Lindenberg 48, 175, 180 Lochau 53, 54, 55 London 122, 126 M Maierhöfen 175 Mailand 238 Mariabrunn 64 Markdorf 64 Meersburg 25 Mengen 61 Merzig 301, 303, 322 Mölln 304, 323 Mosbach 308, 309, 323 München 25, 212, 226, 230 N Nordvietnam 44, 259 O Oberschwaben 21, 33 - 70 Oberstaufen 179, 181 P Paris 26 R Radolfzell 183-210, 326 Ratzeburg 315, 325 Ravensburg 33 - 70, 219, 220, 224 Rems-Murr-Kreis 311, 324 Riedlingen 65 Rodenkirchen 308 Rom 235, 237, 238, 240 Ruine Neuburg 133 S Salem 67 Saulgau 61 Schorndorf 301, 321 Schussental 59 Schwäbische Alb 177 Schwäbisch Gmünd 325 Schweich 304, 322 Schwetzingen 304, 323 Sigmaringen 61, 62, 66 Singen 153, 220 Starnberg 277 - 298 Steiermark 259, 260, 263, 264 Sterzing 246 Stetten 307, 311, 316, 320, 322, 323, 324, 326 Stetten am kalten Markt 61 St. Gallen 89 - 110, 153 Stuttgart 25, 29, 301, 311, 321, 324 St. Veit 163 Südtirol 234 Sulzberg 179 <?page no="348"?> Ortsregister 349 T Tettnang 33, 35, 37, 39, 40, 64, 67 Tirol 139 Trentino 234 Trient 233 - 258 Tübingen 60 Tuttlingen 66, 220, 224 U Überlingen 21, 61, 64 Ulm 38, 41, 42, 44, 61, 62, 63, 68 USA 259 V Vaduz 109 - 126 Vorarlberg 153, 154, 157, 159, 162, 163, 168, 169, 170, 171, 172 W Wackersdorf 22 Wangen im Allgäu 59, 61, 64, 66, 69 Wasserburg 324 Weingarten 34, 40, 47, 49, 50, 59, 61, 62, 66, 67, 68, 69, 224 Weißenau 59 Wertheim 299, 304, 313, 320, 323 Westerland 323, 325 Whyl 22 Wien 259, 260, 261, 266 Woodstock 133, 176 Z Zürich 111