Des Googles Kern und andere Spinnennetze
Die Architektur der digitalen Gesellschaft
0311
2015
978-3-8649-6561-6
978-3-8676-4590-4
UVK Verlag
Arno Rolf
Arno Sagawe
Das Buch nimmt die Zukunft vorweg. Es beschreibt den genauen Weg unserer Gesellschaft in die Digitale Welt - in die Smarte Gesellschaft. Unsichtbares wird nun sichtbar: Erzählt wird, wie die Smartphones und Apps zu neuen Partnern in allen Lebenslagen werden konnten. Es werden die kalifornischen Tüftler dargestellt, die sich ursprünglich zwischen Garage und Universität tummelten, und bald die Herrscher der neuen Ökonomie sein werden. Wir beschreiben, was Des Googles Kern ist. Mit dem Internet der Dinge kommen wir zu den beiden aktuellsten Erzählungen, Smart Factory und Smartes Leben in der Smarten City.
Es werden die "Nebenfolgen" dieser Digitalen Transformation für Kultur, Arbeits- und Lebenswelt, die den Homo oeconomicus wenig interessieren, aus Sicht der Bürger und der Beschäftigten in den Mittelpunkt gerückt. Im Zentrum steht die Frage, ob die Digitale Transformation und stabile Gesellschaften überhaupt zusammen vereinbar sind, und ob sich die Spaltung der Gesellschaft in Vermögende, abrutschende Mitte und Habenichtse verstärken wird? Was sind die Optionen, was Zukunftspfade, was Sackgassen: Ausstieg und Muße statt Wettrennen um Effizienzsteigerungen? Vergnügungs- und Event-Ökonomie, also Brot und Spiele, die Arbeitsplatzverluste wie die aufkommende Langeweile kompensieren? Welche Vorschläge kommen von Politik, Wissenschaft, Querdenkern und Weltverbesserern?
<?page no="2"?> Arno Rolf / Arno Sagawe Des Googles Kern und andere Spinnennetze <?page no="4"?> Arno Rolf / Arno Sagawe Des Googles Kern und andere Spinnennetze Die Architektur der digitalen Gesellschaft UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-86764-590-4 (Print) ISBN 978-3-86496-462-6 (E-PUB) ISBN 978-3-86496-561-6 (E-PDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft Konstanz und München 2015 Einband: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: © amit erez - iStockphoto (rin*)& %" $)! #+"' UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> * Inhalt Einstieg........................................................................................................................................9 Worum es in diesem Buch geht ...................................................................................12 Der Homo oeconomicus, unser Schattenmann...................................................16 Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt - die digitale Transformation der "alten" Ökonomie nimmt Fahrt auf.........17 1. Eine mächtige Innovationswelle mit PC und Internet rollt auf die Lebenswelt zu...................................................................................................................... 17 Wer hat die Kontrolle über die Werkzeuge? H Die neue Unterneh mensArchitektur im Schatten von Outsourcing, Sozial und Künstlerkritik H Ein Vergelt‘s Gott für das Abschöpfen von Innovationen H Von Cloudworking und Clickworkern H Taylors Fußabdruck lebt weiter 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen ........... 44 Der Weg zum Smartphone als ständigem „Partner“ H Apps als Fenster zur Welt des Internets H „Mobile work“ - ein weiterer Arbeitsort im Angebot H Informatisierung der „unnötigen Dinge“ H Laptops und Smartphones im Kontor der vorindustriellen Zeit eine Träumerei Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie - von Spinnennetzen und Überlebensst@ategien ..................................................................................................................55 Zum Beispiel Amazon H Amazons Arbeitspolitik H Es regt sich was im klassischen Buchhandel H Die digitale Transformation im Einzelhandel H Des Googles Kern H Googles Arbeitspolitik H Ist die Welt nun eine Google? H Der vergiftete Trunk der Sharing Economy H Auf der Warteliste der Spinnennetze: Banken und Sparkassen H Appsichern mit „Versicherungentogo“ H Ein Spinnennetz für Hotelbetten H Das „Wesentliche“ der digitalen Ökonomie H Das Wesen von digitalen Spinnennetzen H „(Alb)traumhafte“ Wechselwirkungen erlauben Big Data H Hat der Homo oeconomicus ausgedient? H Werte und Diskurse der alteuropäische Kitsch von gestern H Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie <?page no="7"?> Inhalt 6 Teil III. Die smarte Transformation........................................................................... 129 H. O%= D.V QU=.@U.= D.@ : %U). R; @ 5VK@= 6KF=C@TLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL HE" Das Großprojekt „Internet der Dinge“ - Rechner sind allgegen wärtig und unsichtbar E Smart Factory, Industrie 4.0, Cyber physische Produktionssysteme - Neue Leitbilder werden gepusht E Die Nörgelei nimmt kein Ende E Alte Träume werden wahr? E Der Kampf gegen Silicon Valley und um neue Spinnennetze kann beginnen? E Illusionen sterben zuletzt oder gar nicht E Geht es auch übersc haubar und sozialverträglich? das Beispiel Hamburger Bücherhallen E. 5VK@=.> P.I.U %U D.@ >VK@=.U <%=T LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL H," Das neue Leitbild Smart City rollt auf die Städte zu E Die Smart CityPlaner erweisen dem Homo oeconomicus ihre Referenz E Es geht auch anders: Kritik und Alternativen E Smarter Alltag in der Kritik Teil IV. Digitale Transformation und stabile Gesellschaften - ist das vereinbar? ............................................................................................................................ 163 H. : %. 0; ! ; U+= D.@ 3.@VG).UD.UM D.@ O%==.W>F'%F'= ; UD D.@ SKI.- U%F'=>. LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL H(* Die Zukunft der Arbeit oder die CastingShow der IBM H Digitale Arbeitsmärkte - welche Berufe verschwinden und wer macht den Reibach? E. 0; ! ; U+=>B+KD. ; UD 5KF! )K>>.U LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL H&# Keynes Traum von 1929 H Das bedingungslose Grundeinkom men, ein Ausweg? H Vom Fabrikjungen mit dem Bindfaden zur Automatisierungsdividende H Urban Manufacturing - der Stadtteil ist unsere Fabrik? H Der Trunk der Sharing Economy, den man probieren sollte H Die Vision von Jeremy Rifkin: Entmachtung der Spinnennetze? H Rauschende Feste im Pent house? H Zeitdiebe beschäftigen uns - ein denkbarer Lauf der Dinge H Wie lässt sich die Notwendigkeit der digitalen Trans formation verankern? H Orientierungspunkte zwischen Pessimismus und Optimismus H Nationale und europäische Reaktionen H Startups, Querdenker und Weltverbesserer im Schatten der Spinnennetze H Und wo bleibt die Umwelt? <?page no="8"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten ............................................................... 231 H. 1! CUCV%. ELJM 7C %>= >%.A LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL E/ / Einige volkswirtschaftliche Binsenweisheiten und Thomas Pikettys Schlussfolgerungen H Schachspielen im „grenzenlosen Netz der Freiheit“ H Die internationale Ökonomie im Dschungel camp E. 9N.I.U+CW).U$ ; UD 2.F'>.W7%@! ; U).U LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL E,& / . 8 % U ? @ F'% =.! =; @VCD.W W D.@ D %)% =K W.U 4@ KU>+C @VK= % CU LLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLL E*/ Die Grundmauern des MikropolisModells H Die Plattform Ökonomie der Spinnennetze H Versprechen eingelöst? ..................266 Personen- und Sachverzeichnis................................................................................. 269 Anmerkungen .................................................................................................................... 275 Hinweis Die Abbildungen finden Sie auch als Download unter http: / / www.uvklucius.de/ kern <?page no="10"?> " Einstieg Wie konnte sich aus kalifornischen Computerfreaks, Querdenkern und Weltverbesserern eine informationstechnische Macht entwi ckeln, die dabei ist, die globale Ökonomie für sich zu okkupieren und Grundrechte global außer Kraft zu setzen? Unsere Bewunde rung für Tüftler wie Steve Jobs oder Marc Zuckerberg ist riesen groß. Sie tummelten sich einmal zwischen Garage und Universität und sind heute nah dran, die Herrscher einer „neuen“ Ökonomie zu werden. Sie sind das Leitbild für die jüngere Generation, aber auch Politiker träumen von Imitaten für ihre Staaten. Google & Co. bean spruchen für sich, unsere Daten sammeln und nutzen zu dürfen, ohne uns zu beteiligen oder offenzulegen, wie sie uns an die Leine legen, damit wir nach ihren ökonomischen Bedürfnissen tanzen. Selbst Regierungen, mit Ausnahme der NSA, sind nicht mehr in der Lage, sie zu domestizieren. Sie haben aus dem Netz mit ihren Ge schäftsmodellen Spinnennetze gemacht. Unser Aktionsradius wird zunehmend von ihren Spinnennetzen bestimmt. Wettbewerb wird ausgeschaltet, es darf nur einen Gewinner geben. Kompromisse sind in ihren Augen Demütigungen und Niederlagen. All das ge schieht mit einer ungeheuren Geschwindigkeit. Weder notwendige gesellschaftliche Debatten noch politische Regulierungen können damit Schritt halten. Mit dieser Gemengelage wird sich das vorliegende Buch beschäf tigen und das Wesen und das Wesentliche der digitalen Transfor mation verständlich machen. Die digitale Transformation der unaufhaltsame Übergang von der analogen in die durch Computer und Internet geprägte Welt zwingt viele ökonomische wie gesellschaftliche Bereiche dazu, sich anzupassen oder sich ganz neu zu erfinden, sofern sie überleben wollen. Auffällige Erscheinung dieser Verschmelzung von realer und digitaler Welt: Nicht nur die Internetgeneration, auch die älte ren Semester haben ihre Smartphones, Laptops, Tablets oder PCs immer dabei, sie füllen ihre Freizeit damit aus und schleppen sie mit ins Büro, wo die digitalen Objekte Teil der Arbeitsplatzausstat <?page no="11"?> Einstieg 10 tung geworden sind. Dabei ist die Internetgeneration oft beides: Nutzer und Entwickler von Innovationen. In Forschung und Entwicklung werden vor allem Informatiker, die als die „Ingenieure“ dieser Veränderungsprozesse gelten, durch großzügige nationale und europaweite Forschungsprogramme ge fördert, damit Deutschland und Europa im Wettbewerb mit Silicon Valley nicht weiter zurückfallen. Im Gegensatz dazu werden die „Nebenfolgen“ der digitalen Transformation für Arbeitsmärkte, Kul tur, Politik, Umwelt und Datenschutz eher als „Restposten“ in den Wissenschaften behandelt. So haben beispielsweise die deutschen Informatikfakultäten sämtliche, seit den 1980er Jahren bestehenden Lehrstühle für „In formatik & Gesellschaft“ abgeschafft. Bei den jüngeren Kollegen dürfte selbst der Name Joseph Weizenbaum, einer der frühen deutschamerikanischen Pioniere der Künstlichen Intelligenz und spätere differenzierte Kritiker einer Gesellschaft, die Computer nutzt ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen „Nebenfolgen“, kaum noch bekannt sein. Und die anderen Disziplinen? Die Betriebswirtschaftslehre inter essiert sich vor allem für ECommerce, OnlineMarketing und inter aktive Wertschöpfung, was vor allem meint, wie aus der Masse der Nutzer der Crowd kostenlos Innovationen abgeschöpft werden können. In den Sozialwissenschaften und in der Volks wirtschaftslehre nehmen nur wenige Wissenschaftler die Heraus forderung an, ihre Modelle mit der digitalen Transformation zu verknüpfen. Obwohl Wirtschaftswissenschaften als auch Informatik die ge sellschaftlichen „Nebenfolgen“ durch ihre Arbeiten zu einem guten Teil mitproduzieren, sehen sie keine Notwendigkeit, diese bei ihren Forschungen und Produktentwicklungen zu berücksichtigen; ihr passives Verhalten signalisiert: wir sind nicht zuständig! Das wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern, weil das Wis senschaftssystem trotz Wilhelm von Humboldt generell darauf aus gerichtet ist, disziplinäre wissenschaftliche Forschung zu belohnen. Begriffe und Spezialwissen sind für Außenstehende immer unzu <?page no="12"?> Einstieg 11 Hier ragte der jüngst verstorbene Heraus geber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher heraus. gänglicher geworden und die Sprachlosigkeit zwischen den Diszip linen ist heute offensichtlich 1 . Gleichwohl sind Appelle zu transdis ziplinärer Zusammenarbeit verbreitet, wirken aber, wenn sie denn einmal zustande kommen, kaum auf den Kern der Disziplinen zu rück. So konnte sich keine gemeinsame Sprache entwickeln, mit der eine Verständigung über die anstehenden Herausforderungen mög lich werden konnte. Unterbleibt aber ein solcher Austausch, so werden die „Nebenfolgen“ heima tlos und bleiben ungelöst, was die augenblickliche Situation der digitalen Welt in der Wissenschaft beschreibt. Es gibt keinen Blick fürs Ganze 2 . Und die Medien? Inter essanterweise ist das Feuille ton einiger deutscher Print medien in diese Lücke gesto ßen. Frank Schirrmacher gab beispielsweise den Repräsentanten des Chaos Computer Clubs Constanze Kurz und Frank Rieger regelmä ßig die Möglichkeit, kompetente Beiträge, u.a. zur NSA und zu Fol gen der digitalen Transformation für Pr ivatheit und Arbeitsmarkt zu veröffentlichen. Auch kritische amerikanische Stimmen wie Jaron Lanier, Evgeny Morozow und Shoshana Zuboff fanden in der FAZ ihren Platz. Ein Lichtblick sind auch die Wirtschafts und FeuilletonRedaktionen der Süddeutschen Zeitung wie der Wochen zeitung DIE ZEIT. Und last not least Sascha Lobo, der seine Kolum nen für sp iegelonline schreibt. Wir haben uns bei einigen Unterstützern und Helfern dieses Bu ches zu bedanken. Unser besonderer Dank gilt Christopher Elwart, der die Mühe auf sich genommen hat, die verschiedenen Versionen inhaltlich wie stilistisch zu prüfen und zu korrigieren. Das hat er mit großer Kompetenz und Geduld getan. Bedanken wollen wir uns au ch bei den Studierenden des Seminars „Des Googles Kern“, ver anstaltet im Wintersemester 2014/ 15 am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg. Sie hatten die Aufgabe, zu jeder Veranstal tung ein Kapitel des Manuskriptes zu lesen und eine Rezension zu schreiben. Ihre Rückmeldungen waren sehr hilfreich. Aus dem gro ßen Kreis der „V orleser“ und Helfer möchten wir nur einige her <?page no="13"?> Worum es in diesem Buch geht 12 ausgreifen: Janis Bullert, Peter Habit, Thomas Huggle, Michael KippThomas, Bernd Schröder und Sabine Schwörer. Und last not least danken wir unseren Frauen Monika RolfSchoderer und Jas min Taiebi, die in dieser Zeit sehr viel Geduld für uns aufgebracht haben. Sofern Sie Lust haben, mit uns zu diskutieren, vielleicht auch Kri tik loswerden oder Lob aussprechen wollen, so können Sie das tun unter: http: / / www.mikropolis.org/ Worum es in diesem Buch geht Das vorliegende Buch wird das Wesentliche und das Wesen der digitalen Transformation beschreiben. Ohne an dieser Stelle auf diese beiden Merkmale genauer einzugehen, gibt es bei vielen Men schen ein Empfinden für das, was die digitale Transformation aus macht: Es wurden unfassbar gebrauchstaugliche Bedürfnisse speziell von kalifornischen Internetkonzernen geweckt, von ihnen sogleich durch schnelle Umsetzung befriedigt, von denen der Nutzer vorher gar nicht wusste und ahnte, dass diese sein Leben bereichern und bequemer machen können. Denken Sie hier etwa an Googles Such maschine, an Apps, soziale Netzwerke, Smartphones und Tablets. Die Schattenseite dieser Entwicklung: Wir sehen uns einem Großangriff auf unsere Persönlichkeitsrechte ausgesetzt. Und über Jahrzehnte gewachsene und selbstverständlich gewordene Struktu ren der „alten“ Ökonomie werden über Nacht durch digitale Alter nativangebote in ihrer Existenz erschüttert und zum Teil abge räumt, nicht zuletzt mit einer Technologie, die unser Leben berei chert und bequemer macht. Die „alte“ Ökonomie mit Industrie, Einzelhandel, Banken etc. wurde über Jahrzehnte Schritt für Schritt mit vielen Arbeitsplätzen aufgebaut. Sie könnte durch die „neue“ digitale Ökonomie in kaum einem Jahrzehnt in großen Teilen verschwinden. Die „alte“ Ökonomie wird geleitet von Prinzipien wie Effizi enzsteigerung, Rationalisierung und Kapitalmaximierung. Das Leit <?page no="14"?> Worum es in diesem Buch geht 13 Die kalifornischen Garagentüftler entpuppen sich als die Internetgiganten einer „neuen“ Ökonomie. bild ist der Homo oeconomicus. Die „alte“ Ökonomie hat dafür ihre speziellen Techniken und Methoden entwickelt. Die Anfänge mach ten Taylors wissenschaftliche Betriebsführung und Fords Fließband arbeit. In der Mitte des letzten Jahrhunderts entdeckt die „alte“ Ökonomie das Potenzial der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV). Mit dem Computer bekommt der Homo oeconomicus einen Körper, mit den Algorithmen einen Geist. Durch die wachsende Nachfrage nach Computern und Netzwer ken entstehen aus der „alten“ Ökonomie die Anfänge einer „neu en“, mit Weltkonzernen wie IBM, Siemens, Cisco etc. Wettbewerbs druck und Marktzwänge führen zu einer weltweiten Nachfrage der „alten“ Ökonomie nach leistungsstarken Rechnern und Software produkten. So stehen wir vor der Situation, dass die „neue“ Ökonomie sich durch die Aufträge der „alten“ Ökonomie sprunghaft entwickeln konnte. Sie lieferte die Bauteile für eine globale ITInfrastruktur mit Großrechnern, Clients und Servern, PCs, Internettechnologien, pro tokollen und Software. Zwischen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Business welt tummeln sich seit den 1970er Jahren technisch versierte Tüftler mit großen Visionen - stellvertretend für viele seien hier Bill Gates, Steve Jobs genannt. Bald folgte eine zweite Generation der „neuen“ Ökonomie - u.a. Page, Brin, Zuckerberg -, die dabei ist, die Infra struktur der „alten“ Ökonomie zu übernehmen. Eine neue digitale Infrastruktur mit neuen Geschäftsmodellen wächst heran. Daten, mit nicht mehr sichtbaren Kleinstcompu tern und Sensoren er stellt, sind nun selbst zum Rohstoff geworden. Mit der Metapher „Big Data“ bündeln sie In transparenz und die Ängste vieler Menschen. Big Data verspricht der „neuen“ Ökonomie, Vorhersagen zwecks effizienter Steuerung der Infrastruktur und Trends für die Entwicklung neuer Produkte liefern zu können. Die Daten bleiben allein im Besitz der Eigentü mer der „neuen“ Ökonomie. <?page no="15"?> Worum es in diesem Buch geht 14 Einem „Spinnennetz“ gleich, legt sich das IT System der „neuen“ Ökonomie über die „alte“ Ökonomie und die Lebenswelt. Auf dieser Datenbasis und aufgrund neuer digitaler Produkte wie Haustechnik, Autoelektronik, Drohnen, digitale Währungen etc. dringt die „neue“ Ökonomie weiter in die Domäne der „alten“ ein. Mit Google, Facebook & Co. entstehen gigantische globale Monopole. Wir werden zeigen, was eigentlich das Wesen und das „Wesentliche“ der digitalen Öko nomie ist. Die digitale Transformation wird Arbeitsbedingungen, die private Lebensführung und unser Demokratieverständnis gründlich verändern. Wir werden exemplarisch an Amazon und Google be schreiben, wie sie im Netz agieren, ihre globalen Spinnennetze we ben, sich Branchen der „alten“ Ökonomie zur Beute machen und unser Zusammenleben und unsere Kultur verändern werden. Im Zentrum des Buches steht, ob die digitale Transformation mit einer stabilen Gesellschaft überhaupt vereinbar ist? Dazu wird die Zukunft der Arbeit analysiert, u.a. am Beispiel der CastingShow der IBM. Wir suchen Belege, ob Thomas Pikettys These der zwangs läufigen ökonomischen Spaltung in Vermögende und Habenichtse sich durch die digitale Transformation verschärfen wird. Wir setzen uns mit der Einschätzung der OxfordWissenschaftler Carl B. Frey und Michael A. Osborne auseinander, nach der 47 Prozent der heu tigen Berufe wegfallen werden. Was ist angesichts der Forschungs ergebnisse der amerikanischen HarvardÖkonomen Brynjolfsson/ McAfee, die eine Automatisierungs und Rationalisierungswelle pro gnostizieren, zu tun, wenn sie denn zutrifft? Oder werden sich ganz neue Beschäftigungsmöglichkeiten auftun, die der Mittelschicht keine adäquaten Jobs mehr bieten können? Was sind angemessene Reaktionen und Optionen auf die Her ausforderungen der digitalen Transformation, was Zukunftspfade, was Sackgassen? Jeremy Rifkins NullGrenzkostenGesellschaft? Was sind Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie? Wo bleibt die Umwelt bei all dem? Sind Ausstieg und Muße eine Alternative statt Wettrennen um Effizienzsteigerungen? Oder Vergnügungs und EventÖkonomie, also Brot und Spiele, die Arbeitsplatzverluste <?page no="16"?> Worum es in diesem Buch geht 15 Am Ende liefern wir einen Modellrahmen für eine Architektur der digitalen Gesellschaft. wie die aufkommende Langeweile kompensieren? Also Muße „eventisieren“, um aus ihr Profit zu schlagen? Welche Vorschläge kommen von Politik und Wissenschaft? Wir werden uns auch mit den vielen Startups, Quer und Schnell denkern, Eigenbrötlern und Weltverbesserern beschäftigen. Viele aus dieser Gruppe akzeptieren nicht mehr die mit dem Homo oeconomi cus und Homo informaticus verbundene scheinbar „s achlogische“ Entwicklung und die daraus resultierende Chancenverteilung. Sie fordern mehr Teilhabe und Autonomie und weniger zentrale Herr schaft. Andere wollen eine nachhaltige Ökonomie der Entschleuni gung und mehr Muße. Sie gründen nichtkommerzielle Initiativen: MakerSpaces, 3DFabLabs und Genossenschaften, die zum Teil mit AllmendeIdeen sympathisieren. Sie alle entdecken mit den digitalen Medien ga nz neue Möglichkeiten, ihre Ideen umzusetzen. Stärker politisch Orientierte fordern angesichts der erwarteten negativen Folgen für die Mittelschicht, die vielen Habenichtse und den Daten schutz gänzlich neue gesellschaftliche Entwürfe, wie das bedin gungslose Grundeinkommen oder die Automatisierungsdividende. Wir werden immer wieder historische Rekurse einbauen. Indem wir Vergangenes berücksichtigen, könne n wir Gegenwart und Zu kunft besser verstehen und erkennen, wie alles aufeinander aufbaut. Wir werden feststellen, dass wir auf den Schultern von Riesen ste hen und alte Ideen und Konzepte in neuem Gewande heute oft le bendig bleiben. Das gilt vor allem für die beiden „Platzhirsche“ der Industrialisierung Frederic W. Taylor und Henry Ford. Am Ende wo llen wir einige Angebote zur Orientierung in digita len Welten machen. Wir werden zeigen, dass ein Großteil der Wirt schaftswissenschaften dabei ist, sowohl die mit der digitalen Trans formation einhergehenden Verteilungsfragen von Einkommen, Ver mögen und Beschäftigung als auch die Herausforderungen für eine Ökonomie 2. 0 zu verschlafen. Es ist ein Kontrastprogramm zu den vielen Beiträgen, die dem Homo oecono micus oder Homo informaticus ihre Referenz erweisen. <?page no="17"?> Der Homo oeconomicus, unser Schattenmann 16 Der Homo oeconomicus, unser Schattenmann Wir werden die zunehmende Verflechtung der realen Welt mit dem „Web“ als Geschichte der fortschreitenden Ökonomisierung unter dem Leitbild des Homo oeconomicus erzählen. Die Grundannahme des Homo oeconomicus ist, dass der Mensch individuell und ratio nal ausschließlich unter KostenNutzenAbwägungen als Nutzen maximierer handelt. Dieses eigennützige Momentum ist bis heute die Grundlage der Ökonomie. Die Reduktion des Menschen auf einen rationalen Agenten hat für Einige einige Vorteile: Für das Management werden die Beschäf tigten so zu ihren emsigen „Ameisen“, die jederzeit einschätzbar und lenkbar und nur aufgrund ihrer Produktivität zu bewerten sind. Denn die Nutzenmaximierung schlägt in den Profiten der Un ternehmen positiv zu Buche. Für die Wissenschaften lässt sich das ökonomische Geschehen messen und in mathematische Berechnun gen fassen. Die Ökonomie konnte so zu einer angewandten Mathe matik und Statistik werden, ohne Werte und Diskurse jenseits öko nomischer Kategorien berücksichtigen zu müssen. Es ist die übliche, scheinbar sachlogische Erzählung, an die wir uns gewöhnt haben und die deshalb alternativlos erscheint. Unüblich ist es dagegen, dies mit den auftretenden nichtökonomischen „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen zu verbinden, was hier ins Zentrum rückt. Wir werden auch nach Beitrag und Verantwortung des Homo in formaticus in diesem Prozess fragen. Ihm geht es darum, den infor mationstechnischen Fortschritt voranzutreiben. Er übersieht dabei gern, dass seine Arbeit von Unternehmen oder durch staatliche For schungsprogramme finanziert wird. Er ist also Werkzeugbauer zur Erreichung ökonomischer oder militärischer Ziele. Einen hippokrati schen Eid für Informatiker, aufgrund dessen sie sich bei „Nebenfol gen“, die sie nicht vertreten möchten, aus der Affäre ziehen könnten, gibt es nicht. Ethische Regeln, wie wir es von der Schweigepflicht der Ärzte kennen, sind nicht Teil der Berufskultur der Informatiker. Googles Verhaltenskodex Don´t be evil, sei nicht böse, ist ähnlich un verbindlich und lächerlich wie die Aussage Seid nett zueinander. <?page no="18"?> H& Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt - die digitale Transformation der „alten“ Ökonomie nimmt Fahrt auf Lange Zeit war die Entwicklung und Anwendung von Informati onstechnik ausschließlich ein Wechselspiel großer ITHersteller wie IBM und SAP mit ITanwendenden Unternehmen. Dies änderte sich mit der Verbreitung der Personalcomputer (PC) und dem Aufkom men des Internets. Der PC wurde nicht von großen ITHerstellern, sondern von jungen Tüftlern für ihre Alltagszwecke entwickelt. Das Internet entstand eher „beiläufig“, Wissenschaftler der Schweizer Forschungseinrichtung CERN suchten nach einer Möglichkeit, den wissenschaftlichen Austausch zu beschleunigen. Sie entwickelten zu diesem Zweck den Hypertext, der die Basis des WorldWide Web (WWW) wurde. 1. Eine mächtige Innovationswelle mit PC und Internet rollt auf die Lebenswelt zu Shoshana Zuboff, emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftsleh re der Harvard Business School, sah wie viele andere durch PC und Internet eine neue wunderbare Welt entstehen, schreibt sie in ihrem kritischen Rückblick auf diese Jahre. Hoffnungen auf einen „de zentralisierten Kapitalismus“ kommen auf, weil dieser endlich den Nutzer außerhalb der hierarchisierten Arbeitswelt als sein wahres Kapital erkennt. Im Jahr 2013 schreibt sie, dass von ihren damaligen Hoffnungen wenig geblieben ist. Werkzeuge und Medien der Individualisierung wie EMail, Desktop und Laptop traten damals nach und nach auf die Bühne. <?page no="19"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 18 Eine große Technikeuphorie verbreitet sich weltweit. Andere wie iPad, Suchmaschinen, soziale Netzwerke und Smart phones waren am Anfang dieser Epoche noch nicht auf den globa len Märkten. Sie sind aber wahrscheinlich schon in den Laboren und Köpfen der Entwickler. Hoffnung keimt auf, dass die Fußspuren der Riesen Taylor und Ford mit ihrem strengen Ar beitsregiment von Arbeitszerlegung, Stand ardisierung und starren Hierarchien und sich darauf gründende Macht verschwinden wer den. In PC und Internet werden Werkzeuge gesehen, die ein freies Arbeiten erlauben, vielleicht sogar notwendig machen. Die Nutzer können dann selber entscheiden, wann und mit wem sie kommuni zieren, wo sie Automatisierungen in ihre Arbeit einbauen und wo sie Lücken bel assen wollen, so die Hoffnungen. Alles begann damit, dass sich junge Technikfreaks in ihren Gara gen am „Zusammenschrauben“ kleiner Rechner versuchten, aus probierten und den Rechner an ihre Bedürfnisse anpassten, pro grammierten und immer neue Ideen für die Verwendung der neuen Maschine entwickelten. So erzählt man sich jedenfalls heute di ese Zeit des Aufbruchs. Gleichzeitig wurde Software entwickelt, die ih re n Sie ges zug sowoh l im priva ten Umfeld antrat als au ch vo m unternehmerischen Umfeld übernommen wurde. Gerade die Los lösung von ökonomischen Zwecken förderte neue Kreativitäts potenziale. Der Computer trat mit dem PC über die Schwelle zur Lebenswelt. Mit der Verbreitung des Internets schließlich wuchs die Bedeutung des Computers als Informations und Kommunikations medium. Wenige Jahre später sollten daraus ITGiganten entstehen, die die globalen Märkte durcheinanderwirbeln und das gesamte Innovationsgeschehen beherrschen sollten. Es sind die Erzählungen, die vor allem von Microsoft, Apple, Google und Facebook geschrie ben wurden. Die im privaten Bereich neu entstehende Ha rd und Software lie ferte später auch immer wieder Anstöße für die Erschließung neuer Anwendungsfelder in der Welt der Organisationen. Vielfältige Kreuzungen und Übernahmen von der Welt der Organisationen und der Lebenswelt prägen bis heute ein unübersichtliches Bild. <?page no="20"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 19 Innovationen verlaufen von jetzt an kaum noch kon tinuierlich, sie sind langfristig kaum mehr planbar. Aus der GaragenfirmaEntwicklung PC ist längst ein globales öko nomisches Cluster geworden, das Open SourceProjekt Linux spielt in beiden Welten, Wikipedia scheint eine stabile Dienstleistung für die Lebenswelt geworden zu sein. Sie werden zu nehmend durch den Einfallsreichtum von Tüftlern mit hervorragenden Programmierkenntnissen vor Ort vorangetrieben, sie bezeichnen sich in der deut schen Szene selber gern als Frickler. In den Anfängen dieser Epoche in Kalifornien haben die Tüftler ihre Kenntnisse häufig an Universitäten erworben und dann auto didaktisch weiterentwickelt. Sie versuchen ihre technischen Vorha ben mühsam und kleinteilig, oft auch in InternetCommunities und in Open SourceProjekten, mit großer Ausdauer und zuwei len auch großem ökonomischen Erfolg umzusetzen. Die Leitfiguren Bill Ga tes, Steve Jobs, Linus Torvaldts oder Marc Zuckerberg stehen dafür, sie alle begannen einmal so. Die Tüftler sind bis heute wichtige Innovationsmotoren der digi talen Gesellschaft. Viele der heutigen „Alltagstechnologien“ gehen auf einen einzelnen Tüftler oder ein TüftlerTeam zur ück, vorwie gend angesiedelt im Silicon Valley. Der Kontext, in welchem sie zu „basteln“ begannen, lag oft irgendwo zwischen Universität, Garage und Business. Sie wurden zunächst durch die Angebote ihrer Uni versitäten neugierig. Dort konnten sie rund um die Uhr üben. Das Business wurde dann oft um diese Entwicklungen herum aufg e baut. Der Universitätsabschluss blieb dabei oft auf der Strecke. Die zentrale Frage für die Tüftler war zu Anfang, wie Computer und Internet als Teil des zukünftigen „Mobiliars“ in die Lebenswelt integriert werden können, ohne dabei Handlungen einzuschränken, sie eher zu erweitern. Die Frage nach dem Nutzer der Innovationen stellt sich de shalb neu. Der Nutzer ist nicht mehr primär das Ma nagement oder der Mitarbeiter in Organisationen, sondern der Mensch in der Lebenswelt. Der PC wurde in der Lebenswelt von den neuen Nutzern anfangs als eine Maschine der Muße willkom <?page no="21"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 20 men geheißen: eigene Urlaubsbilder archivieren, Spiele spielen, im Word Wide Web surfen. Während die klassischen Informationstechniken für betriebswirt schaftliche Zielsetzungen in der Unternehmenswelt eingesetzt wer den, werden die Nutzer mit dem Aufkommen von PC und Internet in ihrer Kommunikation unabhängig von Ort und Zeit, und das weltweit. Parallel dazu konnten diese Techniken auch in den Unter nehmen sinnvoll genutzt werden. Hier stießen sie schnellere und produktivere Kommunikationsprozesse an. Als alles anfing, war damals in Kalifornien die Flowerpower Zeit. Unter diesem Einfluss versuchten Softwareentwickler mit gro ßem Engagement, PeertopeerSoftware zur Unterstützung der Basisdemokratie in Betrieben voranzubringen, Computersupported cooperativework (cscw) genannt. Einer ihrer weitsichtigsten Vertreter war Douglas Engelbarth. Er schlug drei Klassen von Unterstüt zungssoftware vor, an denen er mit seiner Forschungsgruppe im CoLabProjekt des XEROX Palo Alto Research Center arbeitete: Software zur Sitzungsunterstützung, Konferenzsysteme sowie Soft ware für die ortsungebundene und zeitunabhängige Zusammen arbeit. Wenn man so will, wird hier bereits der Charakter der späte ren sozialen Netzwerke erkennbar. Es ist wohl kein Zufall, dass in der sogenannten „68erZeit“ ein Boom der Tüftler und Technikfreaks aufkam. Sie wollten für ihre politischen Vorstellungen von Partizipation und Kooperation die passenden „Werkzeuge“ entwickeln. Es war ihr Anliegen, die bis dahin üblichen Datenverarbeitungstechnologien zu überwinden, die darauf ausgelegt waren, Hierarchien und Herrschaft zu stabili sieren, zu steuern und zu kontrollieren. Das Internet wurde daher als ein dezentrales, kaum zu kontrollierendes Netz entworfen. Im InternetDesign finden sich die autonomen, fast anarchischen Vor stellungen der 68erZeit wieder. Die Entwicklung von PC und Internet noch einmal auf den Punkt gebracht: Die Nutzer begrüßten euphorisch die Verbreitung der Personal Computer am Ende der 1970er Jahre als dezentralen Ge genentwurf zur Welt der Großrechner und der Management <?page no="22"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 21 Der informationstechnische Fortschritt generiert unaufhörlich Regulierungslücken, die den Gesetzgeber permanent unter Druck setzen. Informationssysteme (MIS). Sie hoffen darauf, dass die Nutzung der neuen Technologien in Unternehmen ein hohes Maß an Teilhabe bringen wird. Mit dem Internet spannt sich seit den 1990er Jahren ein enges Netz über die Rechner und bindet die Lebenswelt der Nutzer an. Die Möglichkeiten der Nutzer können sich mit den neu en „Werkzeug en“ enorm erweitern. Für Arbeit und Kultur ist dies der Startpunkt für gigantische Veränderungen. In welche Richtung diese gehen, kann zu diesem Zeitpunkt allerdings noch kaum je mand in seiner Tragweite erahnen. Durch die rasante Entwicklung von Internet und IT spielen sich jetzt viele Zukunftsfragen außerhalb der Wissenschaften und auch der Unternehmen ab. Sie wi r ken aber permanent auf Politik, Ver bände und Rechtsprechung zurück. So wird heftig über Regulie rungen in den Feldern Datenschutz, ITSicherheit, Urheberrechte, Digital Rights Management und Netzpolitik gestritten. Diese The men bestimmen die digitale Gesell schaft bis heute. Denn mit dem Tempo der Technikentwicklung kann die na tionale Gesetzgebung nicht mithalten, zudem begrenzt die Globalisierung ihre Einfluss möglichkeiten. Wer hat die Kontrolle über die Werkzeuge? Mit PC und Internet keimen Hoffnungen auf nach „Demokratie am Arbeitsplatz“, da die Technik jetzt in den Händen der Vielen ist und theoretisch viele hierarchische Weisungssysteme in Unternehmen abgebaut werden könnten. Shoshana Zuboff nennt dies den „de zentralisierten Kapitalismus“. MenschzuMenschKommunikation ist zu jener Zeit das Leitbild vieler von dieser Entwicklung „a nge steckter“ ITGestalter und Nutzer in den Betrieben wie in der In formatik. Für das Management ist diese Entwicklung hin zur „Werkzeug Technologie“ mit Risiken verbunden. Warum sollten sie Herrschaft <?page no="23"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 22 teilen? Gemeinsam mit den „auf Linie laufenden“ Wirtschaftswis senschaften stehen sie vor der Herausforderung, Abweichungen vom „rechten Herrschaftsweg“ einzufangen und neue Konzepte der Arbeitspolitik anzubieten. Zum technischen Boom durch PC und Internet kommt eine neue gesellschaftliche Gemengelage aus kulturellen, sozialen und öko nomischen Anforderungen hinzu. Diese Zeit ist nicht mehr ver gleichbar mit den in der Industriegesellschaft geltenden Anforde rungen. Viele Beschäftigte haben jetzt eine bessere Ausbildung. Auch deshalb haben sie weitergehende Ansprüche. Sie müssen vom Management in „verträgliche“ Bahnen gelenkt werden, damit wei terhin stabile Herrschaftsverhältnisse bestehen bleiben, die auch von den Beschäftigten akzeptiert werden können. Die beiden bekannten französischen Sozial und Wirtschaftswis senschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello geben für die Reakti onen des Managements auf diese Herausforderungen eine nach vollziehbare Interpretation. Sie unterscheiden zwei grundlegende Formen, die Künstlerkritik und die Sozialkritik. Mit der Metapher Sozialkritik kritisieren sie die Ungleichheit, die Ausbeutung der Be schäftigten und den Individualismus, der zulasten der Gemein schaft geht. Die Künstlerkritik hingegen prangert die Unterdrü ckung, Fabrikdisziplin, Standardisierung und Uniformierung in der Arbeitswelt und Massengesellschaft an. Auf der Basis dieses Konzeptes weisen Luc Boltanski und Eve Chiapello den Ereignissen in Frankreich im Mai 1968 in ihren empi rischen Studien eine wegweisende Bedeutung zu. Sie sind auf Deutschland und andere westliche Staaten übertragbar. Künstler, Intellektuelle und Studierende protestierten damals zusammen mit Arbeitern gegen Entfremdung und „Fabrikdisziplin“, für mehr Freiheit, Autonomie, Wertschätzung und Eigenverantwortung auch in der Arbeit. Das Künstlerleben war von jeher für viele Angestellte ein attraktives Modell der Lebensführung, was ihnen aber uner reichbar erschien. Künstler führen, so sagt man, ein freies Leben und arbeiten selbstbestimmt. Es war schon immer Sehnsuchtsort und Alternative zum entfremdeten Leben. Boltanski und Chiapello <?page no="24"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 23 Es war die Zeit, als Methoden wie Managementby Objectves ins Kraut schossen. nennen diese Sehnsucht deshalb Künstlerkritik. Mit PC und Internet waren jetzt Techniken vorhanden, mit denen diese Sehnsucht ein Stück weit in der Arbeitswelt umgesetzt werden konnte, so eine Hoffnung der Beschäftigten. Die Managementlehre habe diese Kritik und Sehnsüchte aufge nommen, weil sie sich im Zugzwang sah, die sinkende Motivation vieler Beschäftigter du rch ein Konzept von mehr Freiheit ohne Herrschaftsabgabe auffangen zu müssen. Und sie musste auch eine Vorstellung haben, wie die partizipativen Technologien PC und Internet in Unternehmen nicht „aus dem Ruder laufen“. Das Ange bot war mehr Vernetzung, Kreativitätsförderung, Projekt und Teamarbeit, Flexibilität und Selbstorganisation für einen Teil der Beschäftigten. Diese Str ategien haben zum Überleben des Kapita lismus beigetragen, so die Autoren. Die Forderungen nach mehr Autonomie im Sinne des Managements wurden häufig durch Un ternehmensberater in die Betriebe getragen. Zugleich konnte so ein Bedeutungsverlust der Sozialkritik ein schließlich der Gewerkschaften erreicht werden. Die Strategie war, mehr Autonomie und Selbstorganisation zuzulassen, dafür aber lockere Arbeitsverhältnisse durchzusetzen, beispielsweise Fest anstellungen zu reduzieren und mehr Leiharbeit und Werkverträge anzubieten. Es war der Handel mehr Freiheit gegen weniger Ar beitsplatzsicherheit, der sich später noch sehr deutlich zum Nachteil der Beschäftigten bemerkbar ma chen sollte. Daraus folgten Verän derungen in der Organisation wie in der Personalführung. Das Leitbild des hierarchischen, alles integrierenden Großunternehmens wurde schwächer. In der Folge wurden mit den Beschäftigten sogenannte Zielvereinbarungen abgeschlossen. Damit konnte sich das Management von der mühsamen, alltäglichen Steu erung und Kontrolle entlasten und Selbststeuerung bei den Beschäf tigten implementieren. Parallel dazu wurden die zentralen Daten verarbeitungssysteme in den Unternehmen weiterentwickelt. So konnten die Beschäftigten, trotz erhöhter Freiräume in der Arbeit, <?page no="25"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 24 weiterhin durch Informationssysteme gesteuert und kontrollieren werden. Dem Management gelang es, die Künstlerkritik erfolgreich zu vereinnahmen und seine Interessen zu stärken. Die Motivation der Beschäftigten wurde durch mehr Projekt und Teamarbeit und Selbstorganisation verbessert. Welche Strategien das Management, angesichts der Verbreitung von PC und Internet, darüber hinaus konkret realisierte, um den Homo oeconomicus voranzubringen und die betriebliche Herr schaft durch IT zu sichern und dabei versuchte, die Künstlerkritik im Auge zu behalten, ist eine neue interessante Erzählung. Die neue UnternehmensArchitektur im Schatten von Outsour cing, Sozial und Künstlerkritik Zunächst einmal verschwinden mit der Verbreitung der PC die „unintelligenten“ Bildschirmterminals aus den Unternehmen. Die Beschäftigten können den PC im Rahmen der ihnen zugeteilten Aufgabenstellungen ungeplant und selbstorganisiert für ihre Auf gaben nutzen. Die sich dafür verbreitende WerkzeugMetapher ruft sofort Sympathie hervor. Sie steht für den PC, seine Icons wie für die überschaubaren Textverarbeitungs, Tabellenkalkulations, Prä sentationssoftwareProgramme. Durch Assoziation mit den Werk zeugen der Handwerkerzunft entsteht schnell Zutrauen, man will sie ausprobieren und beherrschen können. Zugleich ist der PC über Server in das Netzwerk eingebunden. Kommunikation mit Dritten wird möglich. Mit PC und Internet können jetzt auch die Privathaushalte an die Unternehmen angedockt werden. Die Geschäftsprozesse der Unter nehmen werden zu den Kunden verlängert, was Kunden wie Ma nagement Vorteile bringt: Der Konsument kann sich über ein Webportal über das Waren und Dienstleistungsangebot informie ren und direkt bestellen (ECommerce). Das Management kann Rou tineaufgaben auslagern und auf Konsumenten überwälzen („Über wälzung auf die Quelle des Geschehens“). Wir kennen das alles bei spielsweise durch OnlineKäufe oder durch Geld und Fahrkarten <?page no="26"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 25 automaten, die uns mittlerweile selbstverständlich geworden sind. Der Kunde ist jetzt direkt an die Geschäftsprozesse der Unterneh men angebunden. Der Komfortgewinn durch schnellere Abwick lung ist für manche Kunden kein Äquivalent für den lästigen Be dienungsaufwand. Das Unternehmen spart Kosten, die Produktivi tät erhöht sich, mit der „Nebenfolge“, dass der ein oder andere Ar beitsplatz überflüssig wird. Die Sozialwissenschaftler Voß und Rieger sehen in der Anbin dung der Nutzer durch PC und Internet die gelungene Überwäl zung von Arbeit auf den Konsumenten und damit eine neue Quali tät der Rationalisierung. Erstmals werde nicht mehr nur auf die be triebsinternen Strukturen, sondern auch auf die externen Aktivitä ten der Kunden zugegriffen. Für sie ist der arbeitende Kunde geboren, was sie eher kritisch sehen: „Inzwischen müssen die Kunden fast überall systematisch den Be trieben zuarbeiten - sie machen immer häufiger den Job, den bisher betriebliche Mitarbeiter hatten: Man kauft an unberechenbaren Au tomaten seine Fahrkarten und sucht mühsam nach Auskünften, man bucht im Internet die Flugtickets und die Übernachtung im Hotel, erledigt seine Bankgeschäfte online allein zu Hause, infor miert sich über alles oder jedes im www. (weil man eine kompeten te Beratung kaum mehr bekommt), die Steuererklärung geht nur noch online per ‚Elster‘, und demnächst konsultiert man den Arzt erst einmal online, bevor man eine wirkliche Praxis aufsucht. Der Kunde ist heute einerseits selbstbestimmter, informierter, aktiver, er ist stärker Subjekt als vorher. Zugleich unterliegt er aber einer ganz neuen Qualität von Entfremdung und Ausbeutung. Er hat gar keine Wahl, selbst wenn es ihn überfordert oder er keine Lust hat, er muss ‚mitarbeiten‘, Beratung entfällt. Kein Wunder, wenn die ein schlägige Managementliteratur den Kunden inzwischen zum ‚par tial employee‘ erklärt, von einer ‚Auslagerung von Arbeitsaufgaben auf den Kunden‘ spricht, den Konsumenten als ‚Teil der betrieb lichen Wertschöpfungskette‘ sieht, dessen ‚Kundenleistung‘ es zu optimieren gelte ... und das oft auch noch ‚Kundenorientierung‘ nennt“ (Voß/ Rieger 2005). <?page no="27"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 26 Abbildung 1 / Der arbeitende Kunde Die Grafik stellt ein Unternehmen dar, das erste Versuche unter nimmt, PC und Internet zu nutzen. Die neuen Technologien stellen die Unternehmen vor neue Herausforderungen, da alte Hierarchien zum Teil aufgebrochen werden. Zusammen mit der „Künstlerkri tik“ führen sie zu mehr Projekt und Teamarbeit, Flexibilität und Selbstorganisation für einen Teil der Beschäftigten. Eine klare Tren nung der Beschäftigten in innovative Projektarbeit einerseits und Arbeitsgruppen für Routine und Abwicklungsaufgaben anderer seits wird erkennbar. Der Konsument ist durch PC oder Automaten, z.B. Geldautomaten an die Geschäftsprozesse des Unternehmens angebunden. Auf diese Weise kann Routinearbeit auf die Kunden überwälzt werden. Was Sozialwissenschaftler skeptisch einschätzen, muss das Mana gement nicht unbedingt traurig stimmen. Denn die Überwälzung auf den Kunden bringt den Unternehmen viele Vorteile: Neben Kostensenkungen profitieren sie von der Beschleunigung der Transaktionen, den Zugriff auf Kundendaten und Kundenwünsche sowie von einer stärkeren Kundenbindung. Für die Konsumenten ist damit, nach Einarbeitung, oft ein Zugewinn an Bequemlichkeit <?page no="28"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 27 Für viele wird es bequemer, für andere mühseliger. verbunden, weil die Eingabe nur wenig Zeit in Anspruch nimmt. Für alle, die noch ein persönliches Gespräch erwarten oder sich nicht auf die Technik einlassen wollen oder können, geht damit ein Verlust an Dienstleistungsqualität einher. Möglicherweise muss die gewohnte Beratung auch bezahlt oder durch Wartezeiten erkauft werden. Die Ziele Rationali sierung und Automa ti sie rung sowie die Integration der Vielen in die Routinen des Sys tems wurden erreicht. Die Überwälzung von Routinearbeit auf Konsumenten durch Ein zug von PC und Internet in die privaten Haushalte, ist jedoch nicht die einzige arbeitsorganisatorische Offerte. Die Verbreitung von PC und Internet hat den Unternehmen neue Möglichkeiten er öffnet, feste Arbeit sverhältnisse unsicherer zu machen und den Beschäftig ten gleichzeitig mehr Freiheit und Selbstorganisation in der Arbeit zu geben, ohne dass dadurch der Herrschaftsanspruch aufgegeben werden muss. Das jetzt zu beschreibende Outsourcing macht die von Boltanski und Chiapelllo aufgezeigte Ambivalenz der Entwicklung von So zi al und K ü nst le rkri ti k noch einmal deut lich. Die durch Projekt und Arbeitsgruppen geschaffene arbeitsorga nisatorische Teilautonomie macht es möglich, da überall PC und Internet vorhanden sind, Routine wie innovative Tätigkeiten aus der Organisation auszulagern (siehe Abbildung 2). Für Mitarbeiter und Arbeitsgruppen mit ei ne r gefragten Expertise kann es auch eine Chance sein, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Sie grün den Startups oder sind als Freelancer tätig. Auf externe Mitarbeiter kann die Geschäftsführung auf Honorarbasis nach Bedarf zurück zugreifen. Internet und komfortables ITEquipment können die Einbindung in die Arbeitsorganisation jetz t relativ unkompliziert herstellen, so die Erwartungen; vorausgesetzt es funktioniert so ideal wie es im Lehrbuch der Managementlehre steht. Kundenkontakte und andere Dienstleistungen werden nicht nur bei Versicherungen und Banken oft in Callcenter ausgelagert. Die CallcenterMitarbeiter übernehmen mehr oder minder stark be <?page no="29"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 28 grenzte, taylorisierte Servicefunktionen wie Kundenanfragen, Re klamationen, Bestellungen und Routineberatungen. Sie sind häufig schlecht bezahlt. Ein vernünftiger Lebensunterhalt ist nicht gesi chert, in manchen Fällen handelt es sich um Arbeitszeiten auf Ab ruf. CallcenterTätigkeiten unterliegen außerdem permanent dem Risiko, ausgedünnt und durch technische Innovationen auf Kunden überwälzt zu werden. Callcenter haben sich, trotz endloser Warteschleifen zulasten der Kunden, zu einer blühenden Branche entwickelt. 2013 gab es 6900 Callcenter mit mehr als einer halben Million Beschäftigter, die vor allem von Finanzinvestoren als lohnende Branche entdeckt wurde. Es ist eines der kaum diskutierten Phänomene, wie diese Firmen es schaffen, dass Millionen Anrufer immer wieder ihren Frust in minu tenlangen Warteschlangen herunterschlucken und das Konzept dennoch stabil bleibt. Eine weitere Form des Outsourcings ist Teleheimarbeit. Für viele Beschäftigte ist mit PC und Internet die Hoffnung verbunden, Ar beit bequem von Zuhause aus erledigen zu können. Die Teleheim arbeit ist seit Jahrzehnten das Lieblingsthema vieler Trendforscher, die traumhafte oder traumatische Arbeitssituationen entwerfen. Da überrascht es, dass sich die Teleheimarbeit, trotz PC und Internet, nicht so stark verbreitete, wie die Diskussionen dies erwarten lie ßen. Die Unternehmen bevorzugen, wie wir sehen werden, preis wertere Modelle. Die amerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen Orlikowski und Barley haben in empirischen Untersuchungen mit dem oft publi zierten Traum der bequemen Teleheimarbeit aufgeräumt. Das Vor handensein von PC und Internet in Privathaushalten habe nicht im erwarteten Maß dazu geführt, Büroarbeit durch Teleheimarbeit zu ersetzen (substitute). Vielmehr verstärke sich der Trend, „Office work“ über die Arbeitszeit hinaus auszuweiten. Arbeit wird mit nach Hause genommen und auf die vorhandenen Schultern drauf gesattelt (supplement). PC und Internet schaffen dafür die notwendi gen Voraussetzungen. Sie tragen dazu bei, die Arbeitszeit zu ver längern. <?page no="30"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 29 So wird die drastische Einschätzung unter dem Titel „Ode an das Büro“ von Thomas Tuma verständlich: „Home Office ist eine Schi märe. Sie gaukelte uns Selbständigkeit vor und Unabhängigkeit, verschärfte dabei aber Isolation, Druck und Selbstausbeutung in einem Maß, das besorgniserregend geworden ist. Zugunsten der Arbeitgeber haben sich die Grenzen zwischen Job und Privatleben komplett aufgelöst. Wir sind permanent auf Empfang. Und dabei gaukeln wir uns auch noch vor, diese Art einer durchökonomisier ten IchGesellschaft sei ein Indiz für Modernität oder gar Freiheit“. 3 Die „Werkzeuge“ PC und Internet ermöglichen somit den Un ternehmen die OutsourcingStrategie. Mit der freiwilligen Entschei dung mancher Beschäftigter zur Selbstständigkeit, vielleicht auch mit der Gründung eines Startups, realisiert sich der Tausch, weni ger ArbeitsplatzSicherheit gegen mehr Freiheit und Selbstbestim mung, wie es Boltanski und Chiapello mit ihrer Künstlerkritik be schrieben haben. Das Management fährt hier eine doppelte Ernte ein: Produktivitätssteigerungen durch mehr Autonomie und Selbst organisation bei gleichzeitiger Reduzierung der Sicherheit der ehe mals Festbeschäftigten durch Outsourcing. Weniger soziale Sicherheit bedeutet vor allem, keine Zuschüsse zur Sozial und Krankenversicherung und keine dreißig Tage be zahlten Urlaub. Chiapello vermutet, dass die Arbeit heute weniger entfremdet ist als vor dreißig Jahren. Damals war Entfremdung ein zentrales Thema. Die fremdbestimmte Arbeit konnte allerdings mit viel größerer innerer Distanz erledigt werden. Nach dem Achtstun dentag begann das Leben jenseits des Berufes, das nicht unbedingt entfremdet war. Heute tauchen viele mit „intrinsischer Motivation“, d.h. mit Haut und Haaren in ihre Arbeit und in einen „Feierabend“ ein, den es nicht mehr gibt. Ist das eine neue Form der Entfremdung oder gibt es dafür eine treffendere Metapher? Man mag einwenden: Für viele selbstständige Berufe wie Ärzte, Anwälte oder Notare gilt seit langem Vergleichbares. Also weitet sich die Menge der Freiberufler doch lediglich aus. Allerdings sind diese Tätigkeiten seit Jahrzehnten in Kammern und Verbänden or ganisiert, die soziale Absicherung ist über Gebührenordnungen <?page no="31"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 30 Für die junge StartupGeneration sind soziale Bedrohungen noch sehr weit entfernt. garantiert. Diese Struktur fehlt den Freelancern und Startups. Auch der Einwand, Handwerker kennzeichne eine vergleichbar unsichere Auftragslage, stimmt nicht. Sie müssen sich zwar um Aufträge be werben. Sie konkurrieren aber nicht weltweit, sondern allenfalls regional und müssen deshalb auch nicht indische oder pakistani sche Löhne akzeptieren. Wenn man frisch von der Uni kommt, is t ma n mit einem Sack voller Ideen und ohne familiäre Verpflichtungen unterwegs. Viele verstehen sich auch als Avantgarde einer gesellschaftlichen Entwicklung. Das macht alles leicht. Die kleine Fallstudie Virtuell alles im Griff soll exemplarisch das Thema Outsourcing etwas lebendiger machen. Einer der Autoren hat den Fall so erlebt. Die Fallstudie macht auch deutlich, wie die Strategie Outsourcing im Widerspruch zu allen Werbesprüchen von Kundenfreundlichkeit steht, heute „CustomerRelationshipManage ment (CRM)“ genannt. Virtuell alles im Griff Am Bahnhof Aschaffenburg endete unsere MainRadtour. Meine beiden Mitfahrer und ich wollten mit der Deutschen Bahn nach Hamburg zurück, in der Hoffnung, dass unsere Räder mitgenom men werden. Ende September, so unsere Erwartung, ist ja keine Hochsaison. In den Zügen, die am Samstag und nachfolgenden Sonntag in Frage kommen, sind die Fahrradplätze ausgebucht. Dar aus ergibt sich folgender Dialog mit dem Schalterbeschäftigten der Deutschen Bahn: „Können wir denn die Räder aufgeben? “ „Natürlich bietet die Bahn diesen Service an. Wir haben diese Dienstleistung allerdings outgesourct. Der Transport wird von un serem Partner, Humus Logistics, durchgeführt. Sagen Sie mir Ihre Adresse hier am Ort, wo Sie ihre Räder deponieren, damit der Fah rer sie abholen kann.“ <?page no="32"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 31 „Wir haben keine Adresse hier und wollen doch heute nach Ham burg zurück.“ „Ja, aber Humus Logistics muss die Räder doch irgendwo abholen können.“ „Na, hier am Bahnhof, Sie haben doch ein Lager.“ „Die Zeiten sind vorbei, wo Sie am Bahnhof Räder deponieren konnten. Bleiben Sie über Nacht, genießen Sie unsere schöne Stadt und lassen Sie die Räder im Hotel.“ „Wir möchten aber heute fahren.“ „Fragen Sie im Hotel Adler dort drüben; die nehmen die Räder viel leicht auch so.“ Wir gehen rüber zum Hotel Adler. Tatsächlich, gegen ein Trinkgeld ist die Dienst habende Rezeptionsdame bereit, die Räder für zwei Tage zu deponieren bis sie von der Humus Logistics abgeholt wer den. Ich kehre mit den beiden Begleitern mit unserem schweren Radgepäck in der Hand zum Bahnhof zurück. Der Beamte tippt die notwendigen Informationen in seinen Computer ein, dabei erhält er gleichzeitig einige Abwicklungsinformationen aus dem Rechner. „Am Montag werden die Räder abgeholt und am Mittwoch bei ihnen Zuhause in Hamburg abgeliefert; das ist unser Service. Pro Rad kostet das 20 Euro.“ „Und zu welcher Uhrzeit am Mittwoch bitte? “ „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, so zwischen 10 und 18 Uhr. Humus Logistics übergibt die Räder einem lokalen Spediteur, der die Route nach seinen Aufträgen festlegt; das werden Sie verste hen.“ „Dann muss ich ja einen ganzen Tag Urlaub nehmen.“ „Das tut mir leid. Vielleicht ist ja ihr Nachbar da? “ - Als am Mittwoch um 6 Uhr abends die Räder nicht in Hamburg angekommen sind, rufe ich bei Humus Logistics an. Ich lande in ei nem CallCenter. „Da schau ich mal gleich in meine Datenbank“, sagt eine freundli che Frauenstimme. „Tut mir leid. Die Räder sind noch in Aschaf fenburg; der Fahrer war zweimal im Hotel Adler und keiner wusste Bescheid.“ <?page no="33"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 32 „Das kann nicht wahr sein. Dann soll er gleich noch einmal fahren.“ „Das geht leider nicht. Nach zwei Fehlversuchen wird ein Auftrag storniert.“ „Aber ich habe doch bezahlt.“ „Nun rufen Sie erst einmal im Hotel an und stellen Sie sicher, dass die Rezeptionskraft da ist. Dann wol len wir sehen, was sich machen lässt.“ Ich frage die Dame im CallCenter sicherheitshalber nach ihrem Namen - Frau Klein - und rufe im Hotel Adler an, informiere die Rezeption über das Gespräch mit Frau Klein, mache eine Zeit aus und rufe wieder bei Humus Logistics an und lande wieder im Call Center. Es meldet sich eine Männerstimme. „Geben Sie mir bitte Frau Klein. Sie weiß über den Vorgang Be scheid.“ „Frau Klein? Wir sitzen hier mit 200 Leuten! Ich kenne keine Frau Klein.“ Schließlich erklärt sich der Mitarbeiter bereit, Frau Klein zu suchen. „Ich renn mal durch den Saal und rufe ihren Namen, vielleicht ha ben Sie ja Glück und Frau Klein ist nicht gerade zu Tisch. Sie ruinie ren meine Jobrate für heute.“ Ich warte, denke an meine Handyrechnung und habe nach etwa zehn Minuten die freundliche Frau Klein am Telefon. „Ja, ich erinnere mich. Dann nehme ich den Vorgang neu auf. Aus Kulanzgründen müssen Sie nicht neu bezahlen. Die Fahrräder kommen am Freitag, ganz bestimmt.“ Sie kommen wirklich. Als ich den Mann mit dem Kleintransporter nach dem Spediteur frage, sagt er: „Ich arbeite für einen, von Humus Logistics beauftragten Kleinspe diteur, bin aber selber selbständig. Muss hart arbeiten, um auf 7 Eu ro brutto zu kommen. Heute sourcen doch alle alles aus. Das muss der Kunde doch verstehen, wenn nicht alles sofort klappt. Aber der Computer hat doch alles im Griff.“ (eine Animation dieser Erzählung finden Sie unter mikropolis.org). <?page no="34"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 33 Das kostenlose und freiwillige Abschöpfen von innovativer Kopfarbeit besitzt mit PC und Internet ideale Medien. Die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass ein HermesPaketfahrer pro Paket 50 Cent bekommt, sofern die Zustellung auch tatsächlich erfolgreich abgewickelt wurde. HermesGeneralunternehmer erhal ten zwischen 1 und 1,50 Euro, davon gehen 50 Cent an den Fahrer, der Rest für Steuern, Kfz, Miete etc. 4 Ein Vergelt‘s Gott für das Abschöpfen von Innovationen Die Aktivierung von Freelancern und mitarbeitenden Kunden lässt sich ausweiten, wenn Menschen mit gefragten Talenten freiwillig als kostenlose, qualifizierte, kreative und innovative Wissensarbei ter gewonnen werden können. Gleichzeitig sind Unternehmen be strebt, die andere Seite der Bühne zu „bespielen“, wo gering Quali fizierte Routinearbeit gegen ein geringes Entgelt leisten. Wenden wir uns zun ächst dem Abschöpfen von Innovationen zu. Bei der Programmentwicklung großer Softwarekonzerne ist das Einspannen qualifizierter Programmierer seit langem üblich. Sie setzen ihre noch fehlerhaften neuen Programmversionen - soge nannte BetaVersionen - in der Erwartung ins Freiland, dass Pro grammierer die Suche nach Programmfehlern als sportliche Heraus forderung betrachten und sie schnell an den Softwarehersteller zu rü ckmelden. Die Überlegung ist, Interessierte zu ge winnen und sie kos tenlos in die Produkt entwicklung einzubeziehen. Oder etwas salopp ausgedrückt: Wa rum viele Designer, Kreative, Ideengeber oder Programmierer be schäftigen, wenn die „Freaks“ weltweit auch freiwillig für ein „Ver gelts Gott“, heute in der z eitgemäßen Form des Verleihens eines Awards oder einer Namensnennung auf dem mitentwickelten Pro dukt („Codesigned by Willi Müller“), tätig werden? Gute Talente sind offensichtlich über ihre positive Neugier und Leidenschaft zu kostenloser Mitarbeit zu gewinnen. Medien und einschlägige Wis <?page no="35"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 34 senschaften nennen dies Crowdsourcing oder euphemistisch interak tive Wertschöpfung, Wertschöpfungspartnerschaften oder Open Innovati on bzw. User Innovation. In einschlägigen wirtschaftsinformatischen Kreisen werden Differenzierungen dieser Begriffe vorgenommen, die wir außer Acht lassen, weil es uns um die Motive und „Neben folgen“ geht. Abbildung 2 / Abschöpfen innovativer Kopfarbeit Fortgeschrittene PC und InternetAnwendungen werden von Un ternehmen genutzt, um Tätigkeiten auszulagern. Die neuen Schlagworte sind: Automatisieren, Überwälzen, Auslagern von Routinetätigkeit in Callcenter sowie von Angestellten, die jetzt als Freelancer, Unternehmensberater oder in Startups tätig sind. Über Crowdsourcing holen die Unternehmen sich kostenlos innovative Ideen von Konsumenten. Crowdsourcing hat das Potenzial, ganze Branchen umzustülpen, z.B. die klassische Marktforschung, die ihre Aufgabe darin sieht, Investitionsrisiken für Firmen zu reduzieren, indem sie Kunden nach ihren Bedürfnissen befragt. Das kann heute über das Internet <?page no="36"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 35 schneller und kostenlos erledigt werden. Beim Crowdsourcing oder bei Open Innovations werden das Wissen und die Kreativität der Kunden als Quelle für die Abschöpfung von Lösungen betrachtet. Die Entwicklung von Innovationen wird nicht mehr als organisati onsinterne Aufgabe verstanden, sondern als Möglichkeit, externe InnovationsNetzwerke zu etablieren und auszuschöpfen. Der In novationsauftrag wird jetzt an ein anonymes, unendlich großes Netzwerk als Aufruf zur Mitwirkung vergeben, so die Betriebswirte Reichwald und Piller. Aus Sicht des Managements bedeutet interaktive Wertschöpfung im Idealfall: keine Marktforschung, keine internen Designer; aktive Integration der Kunden; Broadcasting, d.h. das Aussenden von Problemen an die anonyme Masse; geringe Einbeziehung kosten trächtiger interner Beschäftigter, jetzt gern gestelzt „Aufgabenträ ger“ genannt; offene Teilnahme und Selbstselektion der Akteure; effizienter Auswahlprozess durch die Kunden selbst. All diese kal ten betriebswirtschaftlichen Vokabeln drücken ein Bemühen aus: an sticky informations zu kommen, an Informationen, die am Nutzer bzw. Kunden „kleben“. Der Homo oeconomicus hat damit eine neue Stufe in seiner Entwicklung erreicht: Der Konsument arbeitet ohne Bezahlung mit und ist gerade deshalb dann auch noch bereit, die mitentworfenen Waren und Dienstleistungen zu kaufen und für sie zu zahlen und Werbung via Social Network Postings zu machen. Interaktive Wertschöpfung sollte besser kostenloses Rahmabschöpfen heißen, vielleicht auch Wertschröpfung. Die übliche Metapher Inter aktive Wertschöpfung ist nicht mehr als ein Euphemismus. Kreative Arbeit soll durch neugierige Externe gemacht werden, die oft mit einem Award und dem Appell „die Firma sucht den Superstar“ geködert werden. Crowdsourcing kann aber auch eine positive Entwicklung einlei ten. Dafür steht beispielhaft das OnlineLexikon Wikipedia. Viele Teilnehmer schreiben auf Basis ihrer Fachexpertise Texte, noch mehr profitieren davon. Sie haben keine monetären Anreize. Sie motiviert die Erwartung, etwas Nützliches für die Gemeinschaft bereitzustellen. <?page no="37"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 36 Ähnliche Motive finden sich bei der OpenSourceSoftware entwicklung, bei der die Idealvorstellung darin besteht, gemeinsa me Entwicklungen allen zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Das Bild der weltweit verteilten Softwarewerker, die al lein aus altruistischem Engagement in ihren Stuben kreative Dinge entwickeln, ist heute zumindest in Teilen idealistisch. Open Source ist auch ein Geschäft geworden, in dem große Softwarehersteller mitspielen, um ihre Entwicklungskosten zu reduzieren. Von Cloudworking und Clickworkern Bislang ging es um Innovationen und das kostenlose Abschöpfen von intelligenten und kreativen Köpfen. Man nennt es u.a. Crowd sourcing. Daneben haben sich zwei weitere Formen etabliert, das Cloudworking sowie das Clickworking. Beim Cloudworking schiebt sich zwischen Unternehmen, die Arbeits aufträge anbieten, und nachfragende Freelancer ein Portal. Beide, Anbieter wie Nachfrager, legen auf Portalen wie TopCoder, dem australischen Freelancer.com oder dem deutschen Ableger Elance oDesk ihre jeweiligen Profile an. Auf ElanceoDesk finden sich mitt lerweile über 30.000 Unternehmensprofile. Freelancer können so schnell an Aufträge kommen, die ihren Qualifikationen entsprechen. Für Unternehmen ist das eine kostengünstige Art, Aufträge und Projekte ohne große Verpflichtungen hinsichtlich langfristiger Bin dung abzuwickeln. Deutsche Arbeitsschutzrechte spielen keine Rol le mehr. Der hiesige Programmierer steht jetzt mit der ganzen Ar beitswelt in Konkurrenz: mit dem indischen oder spanischen Kolle gen, denen zwei, drei Euro Stundenlohn vielleicht schon auskömm lich erscheinen. Die unkomplizierte Verfügbarkeit von Cloudwor kern wird sich auf dem Arbeitsmarkt für Angestellte negativ be merkbar machen. Und dann sind da noch die vielen, die nicht mit einer Expertise wie der Softwareentwicklung, der Übersetzung fremdsprachlicher Publikationen, oder Illustrationen für die Werbung wuchern kön nen. Für sie bleibt nur die Abwicklung monotoner Routinen übrig, <?page no="38"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 37 Clickworker sind eine Form des Outsourcings. die der Rechner übriggelassen hat, sogenannter HITs (Human Intel ligence Tasks). Hier geht es um die Ausbeutung derjenigen, die oh nehin schon ganz am Rand der Arbeitswelt hocken und auch durch Cloudworking keine Chance haben, in halbwegs auskömmliche Arbeitsverhältnisse zu kommen. Bei dieser Kategorie baut das Internet gering Qualifizierte gegen ein geringes En tgelt in automatisierte Geschäftsprozesse ein. Dafür hat sich die Metapher Clickworkerverbreitet, sie füllen Informatisie rungsslücken. In der globalen Ökonomie leisten mittlerweile Milli onen Menschen für ein paar Euro pro Stunde diese monotone Ak kordarbeit, wie zu Zeiten von Taylor und Ford am Fließband. Der Kontakt zwischen Anbietern und Nachfragern ist zumeist anonym. Ausbeuter und Ausgebeutete, die diese Aufträge aus Existenznot übernehmen, begegn en sich nicht. Beispiele sind die Überprüfung von CDCovern auf sexuelle In halte, das Extrahieren von Daten aus Webseiten oder das Versehen von Bildern mit Schlagworten. Weit verbreitet Amazons Mechani calTurkPlattform ( MTurk) und die Plattform MicroWorkers.com. Verbreitet auch die Anwerbung von Clickworkern, um positive Bew er tu ng en von Video s und Bei tr ä gen vorz u tä uschen . Ein kle in er Trost für alle Cloud und Clickworker: Auf der kostenlosen Platt form Turkopticon können sie die Aufträge anbietenden Unterneh men hinsichtlich Fairness und Vertragstreue bewerten. So wird et was mehr Waffengleichheit zwischen potenziellen Cloud und Clickworkern und Anbietern hergestellt. Das Scheitern von Outsourcing Bemühungen und ihre „Nebenfolgen“ kommen selten ans Tageslicht. Kommt es zu Störungen im Regelbe trieb, was nicht selten der Fall ist, werden die modernen, dig itali sierten UnternehmensArchitekturen offensichtlich. Taylors Fußabdruck lebt weiter F.W. Taylor wäre davon begeistert, welche ungeahnten Möglichkei ten er heute in Zeiten von Outsourcing und Internet vorfindet. Der <?page no="39"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 38 Name Taylor wurde bislang schon häufig erwähnt und er wird uns auch noch in den folgenden Abschnitten weiter begleiten. Sich an diese Lehren zu erinnern, macht Sinn, weil sie trotz vieler gegentei liger Äußerungen auch heute noch leitende Gestaltungsgewissheit für viele Praktiker und Wissenschaftler sind. Der Name F.W. Taylor (1856-1915) löst heute amb ivalente Gefühle aus. Für die einen ist er einer der großen Vordenker und die prägende Figur der Industrie gesellschaft, für andere der Scharlatan, der die Arbeiter zu Arbeits sklaven formte. Taylor versuchte mit seiner Wissenschaftlichen Betriebsführung die aufkommende Massenproduktion des Industriezeitalters in eine hierarchische und auf Arbeitszerlegung und Standardisierung von Aufgaben aufbauende Ordnung zu bringen. Viele werden die Trennung von Kopf und Handarbeit mit ihm verbinden. Taylors Konzepte zwingen dazu, auf sein Menschenbild einzu gehen. Es ist durch die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt. Taylor sah es als wichtigste Aufgabe des Managements an, aus jedem Arbeiter die maximale Leistung herauszuholen. Seiner Meinung nach gibt es ein stillschweigendes Übereinkommen der Arbeiter, „sich um die Arbeit zu drücken, d.h. absichtlich so lang sam zu arbeiten, dass ja nicht eine wirkliche ehrliche Tagesleistung zustande kommt: ‚soldiering‘ nennt es der Amerikaner, ‚hanging it out‘ der Engländer, ‚canac‘ der Schotte“, so F.W. Taylor in seiner Wissenschaftlichen Betriebsführung. Deutlich wird sein Menschenbild, das zu jener Zeit innerhalb seiner Klasse weit verbreitet war, an sei ner Beschreibung der Tätigkeit des Eisenverladers Schmidt: Der Eisenverlader Schmidt „Eine der ersten Arbeiten, die von uns übernommen wurden, als ich begann, meine Ideen bei den BethlehemStahlwerken einzufüh ren, war das Verladen von Roheisen nach dem Pensumsystem ... Wir stellten fest, daß in dieser Kolonne jeder einzelne durchschnitt lich ungefähr 12,5 t pro Tag verlud; zu unserer Überraschung fan den wir aber bei eingehender Untersuchung, daß ein erstklassiger Roheisenverlader nicht 12,5, sondern 47 bis 48 t pro Tag verladen <?page no="40"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 39 sollte. Dieses Pensum erschien uns so außerordentlich groß, daß wir uns verpflichtet fühlten, unsere Berechnung wiederholt zu kontrol lieren, bevor wir unserer Sache vollkommen sicher waren ... Schließlich suchten wir einen unter den Vieren aus als denjenigen, mit dem man am besten beginnen konnte. Es war ein untersetzter Pennsylvanier deutscher Abstammung, ein sog. Pennsylvania Dutchman. Unserer Beobachtung nach legte er nach Feierabend sei nen ungefähr halbstündigen Heimweg ebenso frisch zurück wie morgens seinen Weg zur Arbeit. Bei einem Lohn von 1,15 Doll. pro Tag war es ihm gelungen, ein kleines Stück Grund und Boden zu erwerben. Morgens, bevor er zur Arbeit ging und abends nach sei ner Heimkehr arbeitete er daran, die Mauern für sein Wohnhäus chen darauf aufzubauen. Er galt für außerordentlich sparsam. Man sagte ihm nach, er messe dem Dollar einen außerordentlich Wert bei; wie einer der Leute, mit dem wir über ihn sprachen, sagte, hatte sein Pfennig für ihn eine Bedeutung, als ob er so groß wie ein Wa genrad wäre. Diesen Mann wollen wir Schmidt nennen. Unsere Aufgabe bestand nunmehr darin, Schmidt dazu zu bringen, 47 t Roheisen pro Tag zu verladen, seine Lebensfreude jedoch nicht zu stören, ihn im Gegenteil froh und glücklich darüber zu machen. Dies geschah in folgender Weise. Schmidt wurde unter den anderen Eisenverladern herausgerufen und etwa folgende Unterhaltung mit ihm geführt: „Schmidt, sind Sie eine erste Kraft? “ „Well, - ich verstehe Sie nicht.“ „Heraus mit der Sprache! Ich möchte wissen, ob Sie eine erste Kraft sind oder einer, der den übrigen billigen Arbeitern gleicht. Ich möchte wissen, ob Sie Doll. 1,85 pro Tag verdienen wollen oder ob Sie mit Doll. 1,15 zufrieden sind, d.h. mit dem, was diese billigen Leute da bekommen.“ „1,85 Doll. pro Tag verdienen wollen, heißt man das eine erste Kraft? Well, dann bin ich so einer.“... „Nur langsam, guter Freund! Sie wissen so gut wie ich, daß eine erste Kraft vom Morgen bis zum Abend genau das tun muß, was ihr aufgetragen ist. Sie haben diesen Mann schon vorher gesehen, nicht? “ <?page no="41"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 40 Der Taylorismus lebt heute weiter: „Nein, nie.“ „Wenn Sie nun eine erste Kraft sind, dann werden Sie morgen ge nau tun, was dieser Mann Ihnen sagt, und zwar von morgens bis abends. Wenn er sagt, Sie sollen einen Roheisenbarren aufheben und damit weitergehen, dann heben Sie ihn auf und gehen damit weiter! Wenn er sagt, Sie sollen sich niedersetzen und ausruhen, dann setzen Sie sich hin! Das tun Sie ordentlich den ganzen Tag über. Und was noch dazu kommt, keine Widerrede! ‚Eine erste Kraft‘ ist ein Arbeiter, der genau tut, was ihm gesagt wird, und nicht widerspricht. Verstehen Sie mich? Wenn dieser Mann zu Ihnen sagt: Gehen Sie! , dann gehen Sie, und wenn er sagt: Setzen Sie sich nieder! , dann setzen Sie sich und widersprechen ihm nicht.“ Die Melange aus Taylors Erfahrungen und Vorurteilen ist die Grund lage für die so genannte Wissenschaftliche Betriebsführung. Sie haben die Fabriken und Büros des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere Lehre bis heute beeinflusst. Sie begegnen uns heute in den Lagerhal len von Amazon genauso wie in modernen Schlachthäusern, wo Millionen Schweine, Rinder und Geflügel im Akkord zerteilt wer den. Die wesentlichen methodischen Grundlagen sind: a Trennung von Hand und Kopfarbeit: Die Leitung plant die Ar beit präzise, der Arbeiter konzentriert sich auf die präzise Aus führung. a Die Arbeitsleiter oder das Management verschaffen sich durch Arbeitsanalyse Einblick in den Betriebsablauf und optimieren die Aufgaben, wo dies möglich und sinnvoll ist, durch Arbeitszerle gung, Standardisierung und Formalisierung, damit sie so zu Rou tinevorgängen werden, die sich in kurzen Zyklen wiederholen. In vielen Dienstleistungsbereichen fei ert der Taylorismus fröhliche Urständ: in mo bilen Pflegeberufen, in der Systemgastronomie, bei Callcen tern, bei Paketfahrern oder an den Fließbändern in der Automobil montage. Die Clickworker sind vielleicht die krasseste Form des heutigen Taylorismus. Sie haben zwar keinen „Einpeitscher“ mehr <?page no="42"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 41 wie es der Eisenverlader Schmidt mit F.W. Taylor noch hatte. Der Einpeitscher ist jetzt anonym und steckt in „geronnener Form“ in der Software. Es gilt damals wie heute: Der Beschäftigte soll nicht eigenen Vor stellungen des Arbeitsvollzuges folgen. Er soll vielmehr die verblei benden, hoch standardisierten kurzen Arbeitszyklen wie eine Ma schine abarbe iten. Taylors Menschenbild war: Es gibt zwei Klassen von Beschäftigten; auf der einen Seite das Management, die von der Hilfstruppe der Arbeitsanalytiker Unterstützung erhalten - heute im ITZeitalter nennen wir sie Systementwickler oder Organisatoren - und andererseits die „Malocher“, die Taylor nach dem Vorbild einer gut laufenden Maschine organisieren wo llte. Taylor wollte die Effizienz durch Arbeitszerlegung und kurze Arbeitstakte steigern. Der Arbeiter sollte keine neuen Erfahrungen in der Arbeit machen oder etwas lernen. Der Arbeiter als Mensch mit seinen Befindlichkeiten, Emotionen, Kümmernissen und Inteû essen hatte vor dem Fabriktor zu bleiben. Abbildung 3 / Zeittafel zur Einordnung von F.W. Taylor und Henry Ford War seine Lehre alternativlos? Mussten die Produktivitätsgewinne zwangsläufig auf Kosten unmenschlicher Arbeitsbedingungen und <?page no="43"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 42 Entmündigung gehen, mussten diese sozialen „Nebenfolgen“ in Kauf genommen werden? Es lassen sich Gründe für die Zwangsläufigkeit dieser Entwick lung anführen: Es existierte keine wissenschaftlich begründete, ar beitnehmerorientierte Forschung, die Alternativen aus der Sicht der Arbeiter hätte entwerfen können. Der Organisationsgrad der Arbei ter war schwach. Betriebsräte oder andere Beteiligungsformen in nerhalb der Organisation waren unbekannt. Die Voraussetzungen zur Teilhabe für die Beschäftigten waren denkbar schlecht. Die Schulbildung der Arbeiter war desolat oder nicht vorhanden. Sie waren aufgrund dessen vielleicht auch nicht in der Lage, quali fizierte Tätigkeiten auszuführen. Allerdings war beim Management auch kein Interesse vorhanden, sie zu qualifizieren. Die rigide Ar beitsorganisation in Wechselwirkung mit den Qualifikationen der Arbeiter schien in scheinbarer Harmonie zu sein. Diese scheinbare Harmonie wurde durch ein Ereignis in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts angekratzt und machte einige nachdenklich. Die Wissenschaftler Elton Mayo und Jules Roethlis berger untersuchten Näherinnen in den HawthorneWerken in Chi cago, um herauszufinden, ob eine stärkere Beleuchtung eine höhere Leistung der Näherinnen zur Folge haben könnte. Bei guter Be leuchtung stieg die Arbeitsproduktivität. Allerdings fiel sie auch nicht wieder, nachdem das Licht wieder die Ausgangshelligkeit hatte. Allein die Tatsache, dass das Untersuchungsteam mit den Näherinnen sprach und sich für ihre Arbeit interessierte, bewirkte eine höhere Arbeitsproduktivität. Die Schlussfolgerung der Wissen schaftler: Die Arbeitsleistung ist abhängig von der Aufmerksamkeit und Anerkennung, die den Beschäftigten entgegengebracht wird. Hier wird eine Wurzel der in den Wirtschaftswissenschaften bis heute vorhandenen unterschiedlichen Entwicklungspfade sichtbar: Auf der einen Seite die „HardcoreAnhänger“ der Formalisierer, Rationalisierer, Automatisierer, die alles in der Tradition von Taylor und Ford für berechenbar und messbar halten, und für die nur „Hard facts“ zählen. Und auf der anderen Seite die „Weichspüler“, die auf „SoftCoreAnhänger“, die auf „SoftSkills“ setzenden An <?page no="44"?> 1. Eine mächtige Innovationswelle rollt auf die Lebenswelt zu 43 hänger der Organisations, Personal und Unternehmensfüh rungslehre. Wenn man so will, gelingt der Gruppe um Elton Mayo und Jules Roethlisberger ein früher Nachweis für die zu kurz grei fende Gleichsetzung von Mensch und Maschine. Ihre Fortsetzung fanden diese Arbeiten bald in der Arbeitszufriedenheitsforschung, der HumanRelationsBewegung und aktuell in der Verh altensöko nomie. Ein interessanter Vorschlag kam damals vom Hitlergegner Eu gen RosenstockHuessy, studierter Jurist und Soziologe. Er sprach sich in seinem Buch Werkstattaussiedlung (1922) für die Aussiedlung kleiner rechtlich unabhängiger Werkstätten von etwa zwölf Mann aus. Sie sollten in enger Bindung mit ihren Mutterfabriken, aber auf eigene Rechnung, autonom fertigen. Heute würde man das wohl Outsourcing nennen. Allerdings nicht per ordre de mufti durch die Unternehmensleitung, sondern auf Wunsch der Beschäftigten. Der Vorschlag hatte damals keine Chance auf Umsetzung. Die Voraussetzungen haben sich heute im Vergleich zu Taylors Lebzeiten grundlegend verändert. Die Qualifikationen der meisten Beschäftigten sind erheblich höher als zu Taylors Zeiten. Es gibt Mitbestimmung in vielen Betrieben. Viele Beschäftigte sind in Ge werkschaften org anisiert. Das wären eigentlich gute Voraussetzun gen, um dem Taylorismus das Wasser abzugraben. Die Schlussfolgerung zu Taylors Fußabdruck: Es gibt immer noch viele Beschäftigte mit geringen Qualifikationen und geringen Entwicklungschancen, einen Überhang bei der Nachfrage nach Ar beit, schwache Arbeitnehmervertretungen sowie eine unzureichen de Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen bei der univer sitä ren Forschung. Die Clickworker haben uns darauf aufmerksam ge macht, dass viele Geschäftsprozesse in der digitalen Transformation so organisiert werden, dass am Ende immer (noch) Informatisie rungslücken übrigbleiben, die zu tayloristischen Routinetätigkeiten zusammengepackt werden. <?page no="45"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen Nach PC und Internet sind wohl keine Innovationen im privaten Bereich so schnell angenommen worden wie Notebooks und Lap tops. Damit war die Nutzung von Rechnern auch unterwegs mög lich. Mobilität, Miniaturisierung und Allgegenwärtigkeit von IT sind entscheidende Vehikel, um die Informatisierung der Lebens und die Welt der Unternehmen voranzubringen. An vie len Orten haben die Nutzer jetzt Zugriff auf das Internet, z.B. über öffentliche WLANHotspots oder Surfsticks. Die „tote Zeit“ ohne Rechner und Internetnutzung kann jetzt gefüllt werden. Der Weg zum Smartphone als ständigem „Partner“ Abbildung 4 / Der Pfad der TechnikEntwicklung und Nutzung vom Festnetz telefon zum Smartphone 5 Bereits in den 1990er Jahren erfreuten sich persönliche digitale As sistenten (PDA) großer Beliebtheit. Kontakte, Adressen, Termine und Daten konnten komfortabel gespeichert und verwaltet werden. Sie waren programmierbar und erlaubten mathematische Berech nungen. Für viele waren die PDAs ein nützliches Zweitgerät neben dem Handy. Der im BusinessBereich jahrelang sehr erfolgreich genutzte Blackberry war lange Ze it eine wichtige Verlängerung des 44 <?page no="46"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen 45 Büros, nicht nur hinsichtlich der Arbeitszeiten, sondern auch der Informationsflüsse. Die Präsentation des ersten Smartphones von Apple traf den bis dahin uneingeschränkten Herrscher Microsoft wie einen Boxer di rekt auf die Kinnspitze, von da an „gings bergab“. Der große Erfolg des Smartphones resultiert aus der Idee, die Konzepte Mobiltelefon und Personal Di gital Assistant (PDA) zu verknüpfen und weitere Dienste in das Gerät zu integrieren, so Fabian Krause. Smartphones sind Multifunktionsgeräte mit einem eigenen Betriebssystem. Der Nutzer kann über Mobilfunknetze telefonieren und weitere Verbin dungsmöglichkeiten zum Internet nutzen (Bluetooth, WLAN usw.). Sie besitzen mindestens die Funktionalitäten eines PDAs und ent halten zusätzlich u.a. eine Ka merafunktion und Ortungsmöglichkei ten wie z.B. GPS. Durch die Touchbedienung wurde außerdem ein großer Schritt in Richtung Usability getan. Das Smartphone ist in unglaublich kurzer Zeit zum universellen Informations und KommunikationsWerkzeug und für viele zu einem „Partner“ geworden. Die Metapher „Partner“ drückt aus, dass man „jemanden“ um sich ha t, mit dem man vertraut ist, der verlässlich ist und der hilft, an alles heranzukommen, was einen spontan interessiert. Lena Bergmann kann in ihrem ansonsten kriti schen Essay „Apokalypse now“ dennoch ihre SmartphoneFaszina tion nicht verbergen und drückt das so aus: „Tagsüber suchen wir sie in unseren Manteltaschen - und si nd beruhigt, wenn wir ihren schlanken Korpus spüren ... Wenn wir sie vergessen, fehlt sie uns. Die Töne, die ihre Funktionen begleiten, sind uns vertraut wie Atemgeräusche ... Sie lässt uns alles mit allen teilen. Gleichzeitig archiviert sie unser persönliches Erleben, ist Fotoalbum und Tage buch. Wir vertrauen ihr.“ 6 Ein Smartphone wird nicht als sperriges technisches Artefakt empfunden. Touchpads und Sprachsteuerung unterstützen die Ein fachheit der Bedienung. Die Zeit des Herumschlagens mit Ge brauchsanweisungen ist vorbei. Spielerisches Ausprobieren, Learn ingbydoing ist der Reiz, der mit der Gewissheit einhergeht, dass man nichts kaputt machen kann. Das war und ist stet s die latente <?page no="47"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 46 Sorge der älteren Generation, die sich ebenfalls nach und nach an das Gerät herantraut. Das Smartphone schafft Beziehungen, ist Sta tussymbol und wird durch seine handliche Form nicht weiter als Störelement empfunden. Aus der Möglichkeit der Vernetzung über soziale Netzwerke entsteht ein Anreiz, Daten zu teilen, das eigene Leben zu digitalisieren, ohne dabei groß an datenschutzrechtliche Folgen zu denken. Apps als Fenster zur Welt des Internets Ein weiterer Grund für den Erfolg des Smartphones liegt in seiner individuellen, wenn auch nicht immer kostenlosen Erweiterbarkeit durch Apps nach den jeweiligen Interessen der Nutzer. Apps stellen vielfältige Dienste bereit, mit denen sich viele traditionelle Aufga ben des Alltags auf komfortable Weise abwickeln lassen. Sie bieten viele neue Dienstleistungen an. So können Informationen zu aktuel len Geschehnissen abgefragt werden, Güter, Taxis und Fahrkarten bequem bestellt, die Freunde über die neuesten Ereignisse infor miert oder die direkte Umgebung umfangreich erfasst werden. App steht für Application. Es sind entweder eigenständige Pro gramme für Smartphones und/ oder TabletPCs oder sie dienen als Funktionserweiterungen von Internetservices. Apple hat den Begriff App geprägt. Apps sind die Fenster, durch die man ins Internet mit dem Versprechen schaut, die Unendlichkeit der Welt bequem grei fen zu können. Apps unterscheiden sich von klassischen Computer programmen durch ihre Fokussierung auf einen bestimmten Zweck. Durch Reduzierung auf wenige Funktionalitäten bleibt die Anwendung übersichtlich und leicht verständlich. Sie können be reits vor dem Kauf durch den Hersteller oder nach dem Kauf über einen AppStore installiert werden. Der Einsatzbereich von Apps ist weit gefächert. Er erstreckt sich von einfachen Anzeigeelementen wie Uhren, Wetterberichten, Nachrichtenticker über Unterhaltungsprogramme zum Abspielen von Video und Audiodateien bis zu einfachen und komplexeren Videospielen. Es werden standortspezifische Dienste zum Auffin <?page no="48"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen 47 Im Dezember 2013 wurden laut Apple knapp 3 Mrd. Apps heruntergeladen. den eines Lokals oder von Verkaufsportalen bis hin zu Spielen an geboten. Die Funktionserweiterungen der Internetservices umfassen u.a. Anwendungen für das OnlineBanking, mobile Bezahlsysteme, ShoppingApps diverser Internethändler oder Kommunikations werkzeuge sozialer Netzwerke. Es gibt diverse Tools, um die Tele fonfunktionen zu überwachen, zu modifizieren oder zu optimieren. Ein Geheimnis des AppErfo lges liegt darin, dass mit Apps bislang unentdeckte Geschäftsmodelle identifiziert wurden, dafür Algo rithmen entwickelt und so die Informatisierung der Lebenswelt vorangetrieben wurde. Dafür gaben die Nutzer 1 Mrd. USDollar aus. Es standen 1 Mio. Apps in Apples AppStore bereit. Googles PlayStore hat einen Marktanteil von 37 Pro z ent. Nach Schätzungen des Prognos Instituts haben die Deutschen 2014 insgesamt 717 Mio. Euro für diese Programme ausgegeben, ein Wachstum von 31 Prozent. Die andere Seite ist, dass die Chance mit der Programmierung von Apps Geld zu verdienen, gering ist. Von 10.000 Entwicklern verdie nen 1,6 Prozent mehr Geld als die übri gen 98,4 Prozent zusammen. Mehr als die Hälfte der Millionen Entwickler verdienen mit ihren Apps weniger als 500 Dollar im Monat. Schirrmacher nannte Apps Arbeitsbienen, die dazu dienen, Men schen effizient zu organisieren. Sie sind zu Managern unseres All tags geworden. Sie bieten zugleich Zerstreuung an, die für viele Nut zer zur aktuellen Form der Muße geworden ist. Mit Apps wird jederzeit die flexible Erweiterbarkeit des Endgerä tes möglich. Der Nutzer muss nicht bereits beim Kauf ein für alle mal seine Interessen definieren, die sich ja auch jederzeit ändern können. Er kann sie spontan nach Lust und Laune ergänzen. Viele Anwe ndungen könnten zwar auch über ein oder zwei ExtraKlicks im Netz erreicht werden. Die AppStrategie setzt auf Bequemlich keit der Nutzer und die sinnliche Veranschaulichung durch Mar kensymbole. So einfach sind wir angesichts des unüberschaubaren Angebots zu lenken. <?page no="49"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 48 In Deutschland nutzen etwa 21 Mio. Menschen Apps. Apps verstärken die Kundenbindung zu einer Marke. Die Hemmschwelle zu einem Kaufvorgang wird durch leicht zugängli che Apps gesenkt, der Webshop oder das OnlineAuktionshaus häufiger besucht. Der Kunde kann jederzeit, z.B. während der Ar beit oder in der Freizeit, einen Kaufvorgang tätigen. Der Homo oeconomicus lädt jetzt zum 24StundenKo nsum ein. Callcenter und Versandhandel können sich auf Umsatzsteigerungen und neue, gering bezahlte Arbeitsplätze freuen. Verbreitet sind sie besonders im E Commerce. Wer sich z.B. die Ede kaApp herunterlädt, wird über aktuelle Angebote und über 1.400 Rezepte informiert. Registrierte Kunden werden mit Gutscheinen belohnt, die sie über das Smart phone be im nächsten Kauf einlösen können. Als Nebenfolge wer den alle entstehenden Kundendaten gespeichert. Das Einverständ nis holt sich Edeka durch Anklicken eines 25seitigen Vertrages. Im Einkaufszentrum HamburgAlstertal erhält der Kunde, bei entspre chender App auf seinem Smartphone, beim Eintritt alle Sonderan gebote aufgelistet. Den wenigsten Kunden wird transparent sein, welche Daten zu welchem Zweck an wen übermittelt werden. Ganz zu schweigen davon, ob die Daten nach Löschen einer App durch den Kunden ebenfalls beim AppAnbieter gelöscht werden. Bei aller datenschutzrechtlichen Kritik ist eine Vielzahl positiver AppDienstleistungen vorhanden oder denkbar, die über immer mehr Konsum hinausgehen. Beispielsweise können Apps di e Schlüsselrolle für die effiziente Wahl von Verkehrsmitteln über nehmen, die alle Car oder FahrradSharingAngebote in der Nähe bündeln und mit den öffentlichen Verkehrsträgern kombinieren. Je nach Bedarf ließe sich so die schnellste, billigste, erlebnisreichste oder umweltfreundlichste Kombination planen. Apps können auch zum bewussteren Konsum beitragen, wenn be ispielsweise direkt im Laden Informationen zur Herkunft und Produktion der Ware abge rufen werden. Beispiele sind die BarcodeScanner Barcoo und Code check, die Hilfestellung beim nachhaltigen Einkauf geben. <?page no="50"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen 49 Nur wenige AppEntwickler haben heute angesichts dieser bei den weltweiten Herrscher noch den Mut, nicht mitzumachen und ihre Apps über Webseiten zugänglich zu machen, wodurch sie die 30prozentige Gebühr durch Apple bzw. Google vermeiden kön nen. Die Financial Times war einer der wenigen ContentAnbieter, der seine App aus dem App Store wieder aufgegeben hat. Er wollte weder seine Kundendaten noch die Einnahmen mit Apple teilen. Die Nutzer sind in der großen Mehrheit zu bequem, durch „Extra klicks“ eine App aus dem Netz zu laden. Der aktuelle Standard ist das Herunterladen aus einem AppStore sowie die Vorinstallation durch einen Hersteller, mit der Folge, dass im Wesentlichen zwei globale Anbieter den Markt kontrollieren und das Nutzerverhalten für diese transparent wird. Hoffnungen sind mit der MozillaEnt wicklung von Firefox OS verbunden, die die Marktbeherrschung von Apple und Google aufbrechen könnte. „Mobile work“ - ein weiterer Arbeitsort im Angebot Netzwerke wie Facebook, Blogs, Twitter etc. lassen sich nicht nur im privaten Bereich nutzen, sondern auch in Unternehmen, um die Kommunikation in Projekten und den Kontakt zu Außendienstmit arbeitern, zu Kunden, Lieferanten und Freelancern unkompliziert abzuwickeln. Wikis sind beliebt, um eine gemeinsame Wissensbasis zu etablieren. Die Beteiligung der Beschäftigten ist allerdings sehr unterschiedlich: etwa 20 Prozent sorgen für die meisten Texte. Soziale Netzwerke werden von Unternehmen auch genutzt, um mit jungen Konsumenten in Kontakt zu kommen und der Marke ein modernes Image zu geben. Darüberhinaus kann die Firma die Sozialen Netzwerke für Marktforschung nutzen, zur Information über neue Supportangebote und um so schnell Resonanz auf neue Produkte zu bekommen. Der Einsatz von Sozialen Netzwerken stellt die Unternehmen aber auch vor neue Herausforderungen: Die damit notwendigerweise verbundene hierarchiefreie Kommunika tion stößt in vielen Unternehmen auf eher klassische Hierarchien <?page no="51"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 50 Die Spirale der „Aufmerksamkeits ökonomie“ dreht sich weiter. mit einer wenig technikaffinen Generation von Vorgesetzten. Ein Kontext, aus dem Reibungspunkte entstehen. Viele Unternehmen bieten Beschäftigten wie Konsumenten mitt lerweile den direkten Zugriff über Smartphones, Tablets und Apps auf das firmeninterne EnterpriseResourcePlanning (ERP) oder zum CustomerRelationshipManagement (CRM). Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, sowohl orts und zeitunabhängig zu arbei ten als auch Arbeit auf Konsumenten zu überwälzen. Der Zu griff auf Kalender, Postfächer oder Kontaktdaten der Organisation wird ebenfalls möglich. Dieses Organisationskonzept stellt aller dings völlig neue Herausforderungen an die Datensicherheit des Unternehmens. Arbeit ist damit nicht mehr an einen Ort gebunden, sondern am Vorhandensein von Smartphones, Tablets oder La p tops. Das ermöglicht die Verlängerung der unternehmensinternen Ge schäftsprozesse bis in die Hosentaschen der Beschäftigten. Die „Ne benfolgen“: der Büroraum wird um einen 24Stunden geöffneten virtuellen Arbeitsraum erweitert. War bislang nur die Ergänzung der „Office work“ um „Home work“ angesagt, so kann der Homo oeconomicus jetzt noch stärker in di e „Poren der Freizeit“ eindrin gen. Arbeit und Privates verschwimmen, EMails und Statusmel dungen sind von überall und zu jeder Zeit zu bearbeiten. Für den Empfänger der Nachricht wird daraus eine Verpflichtung, zu rea gieren. Ob dies von den Beschäftigten als Last, als unabänderlich im globalen Wettbewerb oder als wün schens werte Dosis von eh schon nach Adrenalinsüchtigen Mitarbeitern empfunden wird, ist durch empirische Studien bislang wenig un tersucht. Mit Apps wiederholt sich, was wir über die Nutzung der ersten Personal Computer geschrieben haben: Anfangs wurden der PC und das Smartphone von Privatpersonen als ein Gerät für mehr Kreativität und Fre iheit gefeiert und daher angeschafft. Später je doch okkupieren Unternehmen diese Geräte, um die Unterneh <?page no="52"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen 51 mensziele in die private Lebenswelt „outzusourcen“. Aus einem PC wurde ein HomeOfficeArbeitsplatz, aus einem Smartphone ein permanent gesponnener, digitaler Faden zwischen Unternehmen und Mitarbeitern bzw. Kunden. Diese Fäden sind eine notwendige Voraussetzung für digitale Spinnennetze, die wir noch ausführlich beschreiben werden. Die Kommunikations und Informationsprozesse nehmen zu und beschleunigen sich. Die Menge der zu erledigenden Arbeiten wächst ebenso wie der Druck, sie umgehend erledigen zu müssen. Neben Büro und Heimarbeitsplatz ist über Smartphone und Apps schleichend der dritte Arbeitsplatz „Mobile work“ entstanden. Bei VW und BMW haben die Betriebsräte auf die Brisanz der dauernden Überlastung ihrer Beschäftigten durch Mobile work aufmerksam gemacht und eine Betriebsvereinbarung im Interesse der Beschäftigten abgeschlossen. Bei VW konnten sie erreichen, dass der Zugriff auf geschäftliche Mails am Abend und am Wochenende unterbunden wird. Bei BMW wird die geleistete Arbeitszeit nach Feierabend am Smartphone oder Laptop einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Die Möglichkeit, überall und zu jeder Zeit mit Smartphones und Tablets ins Internet zu gelangen und Informationen oder Nachrich ten abrufen bzw. erhalten zu können, wird auch die Mitarbeit der Kunden und damit die Überwälzung von Arbeit vorantreiben. Free lancer sind jetzt noch mobiler und können von unterwegs arbeiten. Der CrowdsourcingAnteil lässt sich weiter steigern, da Apps un kompliziert auf Ausschreibungen hinweisen können. Attraktive Prämien werden die Smartphone und AppNutzer dazu bringen, ihre Aufmerksamkeit „im Vorübergehen“ zu erlangen und sich zu beteiligen. Informatisierung der „unnötigen Dinge“ Der Homo oeconomicus hat es immer dann leicht, Informatisierun gen voranzutreiben, wenn damit Komfort und Zeitgewinn für den Nutzer einhergehen. Dieses symbiotische Wechselspiel zeigt sich <?page no="53"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 52 besonders bei den Apps. Apps auf Smartphones formalisieren Tä tigkeiten, Handlungen und Produkte. Sie entlasten den Nutzer von „unnötigen“ Dingen, sie machen die Welt im Sinne des Homo oeconomicus ein ganzes Stück produktiver und gleichzeitig können die Umsätze durch RundumdieUhrBereitschaft steigen. Apps holen Dinge auf das Smartphone und stellen sie dort über sichtlich dar. Die Dinge waren auch bisher schon verfügbar, aber nur mit Zusatzaufwand erreichbar, und deshalb unterblieb dies in den meisten Fällen. Beispiele sind Kalender, Taschenrechner, Kon taktlisten, Telefonbuch oder das schon Oma bekannte Kochbuch von Dr. Oetker. Sie bauen eine Brücke zu eh schon formalisierten Produkten, die separat vorhanden sind, z.B. zu Navigationssyste men. Sie machen ohne Umwege und egal, wo der Aufenthaltsort gerade ist, formalisierte Such und Recherchetätigkeiten möglich, wie Fahrplanauskünfte oder neueste Nachrichten. Über Apps ent stehen aber auch völlig neue bzw. bis dahin nicht denkbare Dienst leistungen und Geschäftsmodelle, z.B. das Carsharing. Das ist das Feld, wo sich eine Vielzahl von Startups mit mehr oder minder guten Aussichten auf Erfolg tummeln. Informatisierte Dienstleistungen in den Alltag zu integrieren ist erfolgreich, weil sie das Leben bequemer und bunter machen. Dabei werden Datenschutzrisiken verdrängt; die Erfolge der NSA konnten nur auf der Basis umfangreicher Formalisierungen und Automati sierungen aller Lebensbereiche entstehen. Und über die Formalisie rung der „unnötigen“ Dinge durch Apps sind vermutlich massen haft Daten über die Internetkonzerne bei NSA gelandet, da alles über amerikanische Server läuft. Über den Blick des Marktes kann der Konsument politisch und strategisch eingeordnet werden. Laptops und Smartphones im Kontor der vorindustriellen Zeit eine Träumerei Ein Blick auf einen Kontorschreibtisch etwa zu Beginn des 20. Jahr hunderts. Die anfallenden Aufgaben sollen vor allem durch eine übersichtliche Ordnung, die schnelle Handgriffe erlaubt, rationell <?page no="54"?> 2. Smartphones und Apps, die neuen „Partner“ für alle Lebenslagen 53 abgewickelt werden können. Dem strengen Vorgesetzten ist der Anblick dieser Ordnung eine Wonne. Könnte die Anordnung der Icons auf einem PCDesktop eine gewisse Verwandtschaft signa lisieren? Abbildung 5 / Kontorschreibtisch Das Kontor ist die vorindustrielle Organisationsform des Büros. Sie reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Es lohnt sich einmal darüber nachzudenken, welche Gemeinsamkeiten und Un terschiede mit heutigen Büros von Startups, Selbstständigen, Free lancern sowie Klein und Mittelständlern gegeben sind. Der Grad der Arbeitsteilung und Standardisierung der Aufgaben ist in der VorTaylor und FordZeit noch gering. Der Arbeitsstil der Beschäf tigten ist in hohem Maße von damals geltenden kulturellen Leitbil dern wie Korrektheit, Ordnung, Pünktlichkeit und Disziplin ge prägt. Der Inhaber ist der Patriarch, seinen Weisungen ist Folge zu leisten, er hat die Kontrolle über alles. <?page no="55"?> Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt 54 Eine stärkere Arbeitsteilung und Standardisierung setzt mit der Technisierung des Büros durch Telegraph, Telefon vor allem durch die Schreibmaschine ein. Diese Techniken haben die Büroorganisa tion verändert. Es werden überwiegend Frauen zur Bedienung der Bürotechnik und zum Maschineschreiben eingesetzt. Die Schreib arbeiten sind von den Beschäftigten und ihren übrigen Arbeitsauf gaben abgespalten und konzentrieren sich bei den weiblichen Schreibkräften. Mit dem Aufkommen der Industrialisierung weitet sich der Verwaltungsaufwand, insbesondere durch Kontrolltätig keiten und Schriftverkehr, enorm aus. Wir träumen: Möchten Sie als Freelancer an diesem Kontor schreibtisch (Abbildung 5) arbeiten, der vor gut hundert Jahren Bü roStandard war? Selbstverständlich haben Sie die aktuelle informa tionstechnische Ausrüstung zur Verfügung: Laptop, Tablet, Smart phone. Vielleicht sind auch einige Icons auf Ihrem Rechner, die Sie an die Oberfläche des Kontorschreibtisches erinnern? Sie sind wie der Mensch im Kontor für alles zuständig: Einkauf, Terminabstim mung, Verkauf, Buchhaltung. Möglicherweise sind Sie das als Free lancer heute auch, was ein Grund für Ihre Anspannung und Über forderung sein könnte? Allerdings haben Sie nicht einen Chef mit Ärmelschonern, son dern Sie leben in vielen Projektabhängigkeiten mit verschiedenen, zumeist unsichtbaren Chefs, die alle den Namen „Zielvereinba rung“ tragen. Ihre Arbeitszeit ist wahrscheinlich auch länger als acht Stunden. Vielleicht arbeiten Sie auch von Zuhause aus oder in ihrem Café an der Ecke. Der Chef achtet weder auf die Einhaltung der „Tischzeit“ noch der Arbeitszeit. Sie können selbst entscheiden, wann Sie mit Freunden zwischendurch in ein Restaurant gehen und „netzwerken“ wollen, ohne dass Sie wegen mangelnder Dienstauf fassung abgemahnt werden. Also ist doch fast alles dank der Tech nik bequemer, leichter und besser geworden? <?page no="56"?> ** Google, Facebook, Amazon und Apple schaffen Fakten und Regeln. Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie - von Googles Kern und Spinnennetzen In der Wochenzeitung DIE ZEIT war die Titelüberschrift „Vier She riffs zensieren die Welt“ zu finden. Das Internet als Ort der Freiheit ist nach Auffassung der Autoren Götz Hamann und Marcus Roh wetter längst durch Apple, Facebook, Google und Amazon zu Gra be getragen worden: „Vier amerikanische Konzerne beherrschen das Internet und zä hlen zusammen einen signifikanten Anteil der Weltbevölkerung zu ihren Kunden. Sie vereinen auf sich rund 80 Prozent des grenzüberschreitenden Datenverkehrs. 40 Prozent der Zeit, die Menschen online verbringen, vereinen die Seiten der gro ßen vier auf sich. Facebook hat zehnmal mehr Nutzer als Deutsch land Einwohner. Google beantwortet eine Milliarde Su chanfragen pro Tag“. Sie profitieren von der Datenfrei giebigkeit von uns Nutzern. Der geniale Schachzug der Internet konzerne war, jeden Klick kostenfrei zu lassen und mit digitalen Anzeigenverkäufen und anderen Geschäftsstrategien Milliarden Dollar Gewinne zu machen. Sie veränderten in kaum zehn Jahren die Welt gründlich. Diese und andere Plattformen haben das ursprünglich „freie“ Netz in Spinnennetze verwandelt. Tatsächlich entspricht das eher neutrale Wort Netz nicht mehr dem Geschehen im Internet. Das Netz ist heute in weiten Teilen nicht mehr frei. Es wird dominiert von Monopolen, die sich wie Spinnen verhalten. Staaten und Politik stehen dieser Entwicklung staunend und hilflos gegenüber. Einige kalifornische Schnelldenker mit Unterstützung von viel Investment kapital erkannten zuerst das Potenzial des Internets. Innerhalb we <?page no="57"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 56 niger Jahre gelang es ihnen, eine digitale PlattformÖkonomie zu formieren. Die angemessene Metapher dafür ist das Spinnennetz. Die Plattformen herrschen mittlerweile mit ihrer Strategie der Ein verleibung, des Beutemachens und der Zerstörung auch in vielen Bereichen der „alten“ Ökonomie. Zum Wesen von Spinnen und Spinnennetzen werden wir später ausführlich zurückkommen. Die ser Paradigmenwechsel ist bislang weder in der Politik noch in den dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen, deren Aufgabe eigentlich darin bestehen sollte, das Wesentliche neuer Entwicklun gen frühzeitig zu erkennen, angekommen. Wir werden in den nächsten Abschnitten die Geschäftsmodelle von Amazon und Google ausführlich beschreiben. Sie stehen bei spielhaft für eine Reihe weiterer Plattformen, etwa Facebook, Apple, Yahoo und Zalando. Die Strategien der Internetkonzerne können als Referenzmodell der sich jetzt so rasch entwickelnden digitalen Ökonomie gelten. Wir werden dann digitale Geschäftsmodelle ken nenlernen, die sich noch im Embryonalzustand befinden, wobei einigen der Schritt zum Spinnennetz gelingen könnte. Mit dem We sen und dem „Wesentlichen“ dieser Entwicklung werden wir uns anschließend beschäftigen. Zum Beispiel Amazon Man kann sich mit Amazon auseinandersetzen, indem man die Bio graphie über den Firmengründer Jeff Bezos, Der Allesverkäufer liest, verfasst von Brad Stone, und den Eindruck eines besessenen und getriebenen Mannes bekommt, dem man besser nicht über den Weg laufen sollte. Am Beispiel Amazon lässt sich sachlich beschreiben, wie die digitale Transformation genutzt werden kann, um für be trächtliche Teile der alten analogen Ökonomie ein Spinnennetz zu weben und so in kaum einem Jahrzehnt ein Imperium zu bauen. Das Beutemachen beschränkt sich nicht etwa nur auf einzelne Bran chen, sondern hat „Nebenfolgen“ bis weit in die Kultur der Lebens welt. Die bislang eher neutrale Metapher digitale Transformation füllt sich so mit einem spannenden Wirtschaftsdrama. <?page no="58"?> Zum Beispiel Amazon 57 Viele hilflose Akteure der „alten“ Ökonomie nehmen nur noch als Statisten teil. Zugleich kann die Ge schichte nicht erzählt wer den ohne die Anmerkung, dass Jeff Bezos eine faszinierende Innovation im Handel kreiert hat, die auch wir, die Autoren, zuweilen nutzen. Er hat neue Standards kreiert und den Versandhandel revolutioniert. Das kann uns aber nicht davon abhalten, einen sehr kritischen Blick auf das entst ande ne Imperium zu werfen. Wir sehen den Widerspruch zwischen un serer eigenen Nutzung der innovativen Komfortzone Amazon und unserer kritischen Analyse. Wir nutzen selbst, was wir scharf kriti sieren. Doch die gesellschaftlichen „Nebenfolgen“ zu erkennen, verpflichtet auch, nicht darüber zu schweigen. Möglicherweise sind auch Sie als Leser ein Teil des Wi derspruchs, da Sie dieses Buch bei Amazon als Print oder EBook gekauft haben. Das „Drama Amazon“ beginnt mit dem OnlineVerkauf von PrintBüchern. Bezos erkannte, dass es für Buchkäufer im zu erwar tenden Zeitalter von Internet, Smartphone und Laptop bequemer ist, vom Sofa aus oder in der UBahn Bücher du rch einen Klick mit der Erwartung zu bestellen, die Lieferung am nächsten Tag an der Ha us t ür zu haben. Di e Le is tu ng von Am azon be st and vo r al lem darin, ein internetgerechtes Handels und Logistiksystem mit vielen Beschäftigten, die man schlecht bezahlt, so zu organisieren, dass es zuverlässig funktioniert. Steht erst einmal das Ha ndels und Logistiksystem, so ist es na heliegend, das Sortiment über Bücher hinaus auf eine breite Pro duktpalette weltweit auszuweiten. Mit diesem Generalangriff auf den gesamten stationären Einzelhandel dominiert Amazon nicht nur den Buchmarkt im Internet, sondern auch große Teile des glo balen OnlineHandels. In Hallen, größer als Fußballfelder, lagern unterschiedlichste Pr odukte: Bücher, DVDs, Fahrradschläuche, Waschmaschinen etc. Zusätzlich können Privatleute wie professio nelle Händler ihre Produkte auf dem Amazon Marketplace anbieten. Als weiteres Geschäftsfeld begann Amazon früh damit, Print Bücher zu digitalisieren und sie über das Lesegerät Kindle, eine Eigen produktion, zu vermarkten. Der Kindle Fire wurde 2010 zu einem <?page no="59"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 58 subventionierten Preis in den Markt gebracht. Mit dem EReader erreichte Amazon beim Leser einen Zeitvorsprung und appellierte erneut erfolgreich an seine Bequemlichkeit. Verlage und ihre Ver bände staunten eine Zeitlang. Ehe sie, u.a. mit dem Tolino, reagier ten, war Amazon enteilt, der Wettbewerbsvorsprung war beträcht lich, wahrscheinlich uneinholbar. Amazon schottete seinen EReader ab, indem nur das von Amazon entwickelte EBookFormat genutzt werden kann, auch wenn im Internet Informationen von und für Experten kursieren, wie diese Sperre zu überwinden ist. Wer den Kindle kauft, muss auch bei Amazon die EBücher kaufen. Wechselt er zu einem Gerät der Konkurrenz, verliert er die bisher gespeicher ten und bezahlten Bücher. Viele Leser tun sich schwer mit dem Verzicht auf das haptische Lesevergnügen eines PrintBuches. Es spricht allerdings auch eini ges für das EBook: Man hat seinen (Amazon)Buchbestand überall dabei, die Suche nach Buchangeboten kann bequem vom häuslichen Sofa aus erledigt werden. Der Kauf geht ruckzuck und das Lesever gnügen kann sofort beginnen. Kauft man ein Printbuch bei Amazon, so muss man in der Regel einen Tag warten. Die Anlieferung erfolgt in der Regel am nächsten Tag. Ist man allerdings nicht zuhause, so endet die Muße und die Buße beginnt in Form eines Ganges zu einer unbekannten und meist entfernten Abholstelle. Mit dem Erreichen dieser starken Marktposition setzt sich ein Jeff Bezos nicht zur Ruhe. Eine der folgenden Strategien war, das Imperi um durch Beutemachen bei Buchhändlern wie Verlagen weiter wach sen zu lassen. Wenn man diese schleift, kann man die Autoren direkt an sich binden und das Spinnennetz wäre fertig gewebt. Auf dem Weg dorthin muss man den Verlagen kräftige Nadelstiche austeilen, die sie bis zur Weißglut reizen und auf Dauer den Garaus machen. Den Buchautoren, von denen viele ohnehin zu den „Kümmerexisten zen“ zählen, macht man attraktive Angebote, die sie gegenüber ihren Verlagen, den „Honorardrückern“, ins Grübeln bringen. Genau dies verfolgte Amazon im Jahre 2014 in den USA wie in Europa. In den USA werden drei von fünf Büchern über Amazon <?page no="60"?> Zum Beispiel Amazon 59 Die Strategie Amazons war durch sichtig. verkauft. In Deutschland sind es aufgrund der Buchpreisbindung zwar weniger. Immerhin verkauft Amazon hier etwa die Hälfte aller EBooks. Vor allem den kleineren Verlagen dürfte als erste die Luft ausgehen, weil Amazon nicht nur die im stationären Handel üblichen Rabattsätze für Buchhändler verlangt, sondern es verblei ben den Verlagen bisweilen dur ch zusätzliche Gebühren wie Porto und Logistikkosten und sonstige Abzüge nur noch bis zu einem Drittel des Verkaufspreises, so der Autor Daniel Leisegang. Amazon wollte die Verlage zwingen, höhere Rabatte für EBooks einzuräumen, statt dreißig sollen es fünfzig Prozent sein. Als Druckmittel dienten verzögerte Auslieferungen der Bücher einiger bedeutender Verlage (Hachette sowie BonnierGruppe mi t den Verlagen Piper, Ullstein und Carlsen) sowie unseriöse Angebote an Autoren der betroffenen Verlage, die hundert Prozent der EBook Erlöse erhalten sollen, solange der Konflikt andauert. Im September 2014 steckte Amazon im Kampf um höhere Rabatte (zunächst) zu rück. Der BonnierGruppe wurde ein Angebot gema cht, die EBook Rabatte auf unter vierzig Prozent mit vierjähriger Laufzeit zu be schränken. Dieser Rückzieher ist offensichtlich dem öffentlichen Widerstand von Buchhändlern, Autoren, Verlagen, Verbänden und der Politik geschuldet. Es hat sich gelohnt. Amazons Forderung nach höhe ren Rabattsätzen geht zulasten der Verlage. Sie können ihren Autoren dann weniger Honorar zahlen. Für die Autoren wird es attraktiv, ihre EBücher direkt über Ama zon bei (in der Anfangsphase) sicherlich höheren Autorenhonora ren zu vertreiben. Die Verlage sind in der misslichen Situation, beim Zukunftsmarkt EBook sc hon jetzt in Amazons Spinnennetz gefan gen zu sein: Amazon hat sich bei den EBooks schnell so gut wie ein Monopol geschaffen. Des Weiteren werden über kurz oder lang Autoren angesichts der von Amazon angebotenen Honorare ihren Absprung von ihren Verlagen vorbereiten, wenn denn der ein oder andere na mhafte Autor die Lunte anzündet. <?page no="61"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 60 Als Privatmann hat Jeff Bezos die Washington Post übernommen. Bei den Autorenhonoraren sind bei Amazon 35 Prozent die Re gel, 70 Prozent vom Erlös möglich. Amazon drängt mittlerweile selber ins Verlagsgeschäft, der Konzern animiert Autoren, ihre Ma nuskripte über Create Space zu veröffentlichen und anschließend über den Konzern als Print oder digital zu verkaufen. Neben die sem Selfpublishing jenseits der traditionellen Verlage und Ver triebsstrukturen bemüht sich Ama zon, prominente Großverlage durch Kauf in das Imperium zu integrieren. Amazon verkündet, die Autoren so aus der Knechtschaft der Verlage zu befreien. Die Verlage da gegen meinen, der Ver such mit Bonnier sei erst der Anfang und das werde auch für die Autoren böse enden. Die nächste Etappe auf dem Weg der Ausschaltung der Verlage ist der AboDienst „Kindle unlimited“, einer EBookFlatrate in den USA, mit der Lesern für 9,99 Dollar im Monat Zugang zu rund 60 0. 00 0 Ti tel n erhalt en. Da s d ü rfte an di e Subst anz der V er lage gehen. Muss man sich das fertige Spinnennetz Amazon Buch etwa so vorstellen? Das Urheberrecht ist außer Kraft gesetzt, alle Leser sind Amazon Ab o nnente n von „Kindle unlimited“, die Kosten für die Lie ferung elektronischer Bücher tendieren gegen Null, die Autoren erhalten minimale Honorare, Amazon stellt seinen PrimeKunden nichts mehr in Rechnung, kann aber so darüber entscheiden, was lesenswert ist und was nicht. Der Journalist Michael Hanfeld tut seine Meinung zu Amazon in der FAZ mit drastischen Sätzen kund: „Jeff Be zos ist ein Händler, der Preise drückt, ein Monopolist, der die Buchbranche vernichtet, ein Verkäufer, der in Tagesfrist die Ware zum Kunden bringt, koste es die Produzenten, was es wolle. Er beherrscht die Wertschöp fungskette, ohne selbst Werte zu schaffen“ 7 . Wollen wir ihm, der die Buchhändler wie die Verlage aus dem Weg räumen will, der vom Händler zum Kulturproduzenten werden will, die Monopolherr schaft über ein ganzes Kulturgut überlassen? Auf politischer Ebene wird die Schlacht um den europäischen Buchmarkt im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandels <?page no="62"?> Zum Beispiel Amazon 61 abkommen TTIP zwischen den USA und Europa geschlagen. Wer den EBooks, die in Deutschland noch preisgebunden sind, rechtlich als Dienstleistung und nicht als Kulturgut eingestuft, so wird die Buchpreisbindung, die Überlebensgarantie der Buchhändler und Verlage, gekippt werden. Die Folge wäre die Kannibalisierung des PrintBuchmarktes, ausgelöst durch den zu erwartenden Preisverfall des von Amazon beherrschten EBookMarktes. Auf der ganzen Linie ein Sieg für Amazon, mit der Aussicht, nicht nur traditionelle Verlage als Zwischenhändler ausschalten, sondern Buchmarkt und Buchkultur zukünftig beherrschen zu können. Ein Blick in die USA zeigt, wohin die Reise auch in Europa gehen kann. Nachdem das Department of Justice Apple und Buchverlagen die Quasipreisbindung untersagte, war die Dumpingpreispolitik von Amazon offiziell legitimiert. Zugleich hat Amazon mitgeholfen, große amerikanische Buchhandelsketten wie Borders oder Barnes & Noble mit seinem KindleAngebot in die Enge zu treiben. Amazon ist permanent dabei, mehr Profit zu generieren und gleich wieder zu investieren, um dem Kunden mehr Annehmlich keiten und Bequemlichkeit bieten zu können. Amazon baut aktuell in Konkurrenz zur Deutschen Post elektronische Schließfächer für Pakete auf. Es wird mit Paketdrohnen experimentiert, um den Pa ketdienst zu rationalisieren und schneller zu machen. Seit Mai 2013 hat Amazon das virtuelle Zahlungssystem coins ins Freiland gelas sen. Das 2014 auf den Markt gebrachte Smartphone Fire Phone sticht durch eine Scanfunktion hervor, mit der Gegenstände, Musik und Videos identifiziert und über einen Knopf umgehend (bei Amazon) bestellt werden können. Amazon webt derweil kräftig an seinen Spinnennetzen, die weit über Buchhandel und Einzelhandel hinausgehen. Gewinne werden sofort wieder in Zukäufe investiert, ob es der Schuhhändler Zappos oder der DVDVerleih Lovefilm ist. Darüberhinaus gibt es zahlrei che eigene Gründungen: Vertrieb für Lebensmittel, Serverfarmen, ein Filmstudio oder auch einen MusikStreamingdienst. Das Unter nehmen betreibt große Rechenzentren (Amazon Web Services AWS); es bietet Cloud Computing für Unternehmen mit einer Viel <?page no="63"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 62 Amazon kann über den Kindle jeden Leser beobachten und daraus Schlüsse ziehen. zahl von ITDiensten an. Im Herbst 2014 musste ein erheblicher Quartalsverlust verkündet werden. Ein vorübergehendes Warnsig nal oder Zeichen einer verfehlten Geschäftsstrategie? Der Konzern ist mit der Etablierung einer profitablen Cloud Infrastruktur in der Lage, aus allen Daten der Lieferanten über Be stellungen bis zur Logistik in Echtzeit Schlussfolgerungen für neue Kundenangebote und Ges chäftsmodelle zu ziehen. Nicht nur damit sind sie dem klassischen Einzelhandel weit überlegen. Naheliegend, dass Amazon automatisch Konsumbiografien für jeden Kunden erstellt, um ihm nahezulegen, was er eigentlich sucht. Eine ganz neue Form partizipa tiver Kultur, „genau das ist das Beunruhigende: Wenn nicht nur wir im Kindle lesen, son dern der Kindle uns liest, weiß Amazon von uns Dinge, die wir womöglich selbst nicht wissen“ 8 . Die Geschäftspolitik ist auf geringe Preise und absolute Kosten minimierung bei Steuervermeidung ausgelegt. Amazon hat seinen Firmensitz in Luxemburg und kann dort seine Steuerlast auf unter sechs Prozent drücken, da der Konzern seine Einkünfte aus geisti gem Eigentum erwirtschaftet. Zum anderen geht es Amazon noch nicht um Gewinnmaximierung, sondern um Marktbe herrschung und Beutemachen. Amazon setzte in Deutschland 2012 mit 9.000 Beschäftigten 6,5 Mrd. Euro um, davon betrug der Buchumsatz 1,6 Mrd. Euro, was 74 Prozent des gesamten OnlineVersandbuchhandels ausmacht. Laut einer Studie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels kauften im Jahre 2013 insgesamt 3,4 Mio. Menschen 21,5 Mio. EBooks. In Großbritannien war der Umsatz von Amazon 320 Mio. Pfund, die Steuerzahlung 3,2 Mio. Pfund, also ein Prozent. Die Verkaufs verträge sind auf Luxemburg ausgestellt. Die Begründung: Amazon habe in GB keine permanente Niederlassung, das Warenlager sei kein fester Unternehmenssitz. Gleichzeitig erhielt der Konzern 2,5 Mio. Pfund Subventionen. Weltweit hat Amazon 2013 insgesamt 91.300 Beschäftigte na ch 65.600 in 2012. Im Jahr 2012 machte Ama <?page no="64"?> Amazons Arbeitspolitik 63 Es wird in den Versandhallen von Amazon in drei Schichten und vier Kategorien gearbeitet. zon einen Umsatz von 61 Mrd. USDollar bei einem Verlust von 39 Mio. USDollar, so eine Meldung bei www.heise.de. Amazons Arbeitspolitik In Deutschland bezahlt der Konzern seinen Beschäftigten nach dem Tarif der Logistikbranche. Die Gewerkschaften fordern den Einzel handelstarif. Die Personalpolitik orientiert sich eng am „reinen“ Homo oeconomicus, d.h. ohne den bundesdeutschen „Schnick schnack“ wie Kündigungsschutz, Betriebsräte und Mitbestimmung. Der Geist von F.W. Taylor mit seiner hochgradigen Arbeitszerle gung hat in allen Lagerha llen überlebt. Selbst Henry Ford könnte mit seiner Fließbandfertigung noch als fortschrittlich gelten. In der Arbeitspolitik sehen wir Standards, die vor hundert Jahren üblich waren. Dieses Verhalten kann nur deshalb einen so durchschlagen den Erfolg haben, weil Amazon Beschäftigte, genauso wie das deut sche Finanzamt und andere Akteure, für irrelevant hält und aus s chließlich auf den Kunden setzt, der auf „Konsum! Konsum! Kon sum! “, „Geiz ist geil“ und höchste Bequemlichkeit konditioniert ist. So machen auch wir uns zu einem Teil dieses dissozialen Gesamt systems und graben kräftig an der Grube der sozialen Marktwirt schaft und wahrscheinlich auch an der Demokratie mit. Frederick Winslow Taylor würde mi t großer Genugtuung durch die Versandhallen von Amazon gehen, hätte er noch die Gelegen heit. Er würde vermutlich überrascht sein, wie leicht es heute mit neuer Technik ist, viele Eisenverlader nach seinen hundert Jahre alten Vorstellungen zu Höchstleistungen zu zwingen. Zwar beträgt der Krankenstand in mehreren AmazonHa llen, laut einer Befra gung von Betriebsräten, zwischen 15 bis 20 Prozent, bei einem Bun desdurchschnitt von 3,8 Prozent. Aber das hat Taylor auch damals wenig gekümmert. Es gibt die Recei vers, Stowers, Pickers und die Packers. Die Receivers nehmen die Ware entgegen, die Stowers sortieren sie in die <?page no="65"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 64 Regale ein. Die Laufwege der Pickers, die die Ware aus den Regalen holen, werden von einer Software optimiert. Die Packers machen die Ware für den Kunden versandfertig. Die Pickers kommen auf fünf undzwanzig Kilometer pro Schicht. Der Caddy darf nie rückwärts fahren. Die Packers wiederum verrichten ihre monotone Arbeit im Stillstand, ihre Gesten sind genau vorgegeben. Die Bezahlung liegt knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn. Die Überwachung mit elektronischen Mitteln ist ähnlich pervers wie die Methode der Motivierung. Wie in den RealityShows des Fernsehens scheidet das System am Ende der Woche die weniger leistungsfähigen Elemente aus. Wer nicht erste Kraft ist, muss weg. Nun ist es allerdings keineswegs so, dass diese monotonen taylo ristischen Arbeitsstrukturen nur bei Amazon anzutreffen wären. Der Fußabdruck, den Taylors Lehre hinterlassen hat, durchzieht bis heute die Modelle der deutschen Betriebswirtschaftslehre. Auch im Handeln vieler Praktiker in der Industrie und im Dienstleistungsbe reich ist Taylor noch heute zuhause. McDonald‘s ist da nur ein typi sches Beispiel für die sogenannte Systemgastronomie. Ein beträchtlicher Teil der AmazonWare dürfte über die ver schiedenen Paketdienste an die Besteller ausgeliefert werden. Damit ist Amazon zwar nicht direkt, aber doch indirekt für die Arbeits bedingungen dieses Gewerbes mitverantwortlich. 2013 haben die Deutschen 2,3 Mrd. Pakete und Päckchen über Paket oder Kurier dienste verschickt, sechs Prozent mehr als 2012, so DER SPIEGEL. Die Stiftung Warentest hat in ihrer Zeitschrift Test im Dezember 2014 die fünf führenden Paketdienste DHL, Hermes, GLS, UPS und DPD hinsichtlich Zustellung und Arbeitsbedingungen getestet. Bei drei der fünf Paketdienste bewertete die Stiftung die Arbeitsbedin gungen mit „mangelhaft“. Die Zustellung von Paketen sei „ein Knochenjob für wenig Geld“. Laut Aussagen von Zustellern, die bei Subunternehmen beschäftigt waren, dauern die Arbeitstage bis zu 15 Stunden, ohne Pause bei körperlicher Anstrengung, da Pakete teilweise bis zu 70 Kilogramm Gewicht hatten. Die Löhne lagen unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde. DHL bekam die Note gut, Hermes ein befriedigend, da die Paketfahrer hier meist mehr Geld bekommen und weniger lang arbeiten müssen. <?page no="66"?> Es regt sich was im klassischen Buchhandel 65 Ein effektiveres Marketing kann man sich für ein Buch kaum vorstellen. Es regt sich was im klassischen Buchhandel Wie konnte es fast ohne Gegenwehr zu dieser Monopolstellung kommen? Und gibt es Optionen, nicht zur Beute von Amazon im Spinnennetz zu werden? Der Handel hat Amazons Kriegführung, und vor allem das Tempo der Veränderungen, lange Zeit unterschätzt. Das Vorgehen einer autoritär geführten Zentrale ist einer dezentralen Anbieter struktur, z.B. der Verbandsstruktur der Buchhändler immer überle gen. Letztere haben einen aufwändigen Abstimmungs und Ent scheidungsaufwand, der gezwungenermaßen Folge der eher demo kratischen Organisationsstrukturen ist. Vor diesem grundlegenden Dilemma stehen viele Akteure der „alten“ Ökonomie in der Ausei nandersetzung mit Spinnennetzen in Zeiten der Informatisie rung und des schnellen Internets. Drei interessante Versuche in der Buchbranche, die Amazon Pa roli bieten wollen, sollen kurz erwähnt werden: Sascha Lobos frisch gegründetes Unternehmen Sobooks - steht für Social books - will den „Markt nach Amazon bauen und der BertelsmannBuchclub des 21. Jahrhunderts werden“. Große Verlage wie Random House wollen mitmachen. Der Leser benöt igt kein Lesegerät, er kann über sein Smartphone, Tablet oder Laptop über das Internet kostenlos acht Seiten eines Buches durchblättern. Kommentare oder Seiten aus dem Buch können über Facebook an Dritte gepostet werden. Hat das Buch das Interesse des Lesers gefunden und er will weiterlesen, muss es ge kauft werden. La ut Lobo sollen auch Daten gesammelt werden, die allerdings wohl nicht dazu dienen sollen, das Leseverhalten des einzelnen Lesers zu verdichten. Lobo kann sich vorstellen, aus den Daten eine digitale Bestsellerliste, ein BookRank, zu erstellen. Hellwach sind mittlerweile auch einige Fachbuchverlage. So prä sentierte der Haufe Verlag mit vier weiteren Fa chverlagen 2014 auf der Frankfurter Buchmesse die erste verlagsübergreifende Recher chePlattform für Steuerexperten. Die Kunden haben so die Mög <?page no="67"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 66 lichkeit, in verschiedenen Kommentaren auf einer Plattform zu re cherchieren. Dieses Modell wird wahrscheinlich schnell auf andere Fachgebiete übertragen werden. Die Angst vor Amazon hat Koope rationen bewirkt, die alle Beteiligten vor wenigen Jahren noch für undenkbar hielten. Die Strategien von Amazon haben die Medien in den letzten zwei Jahren beherrscht. Das hat zwar bei vielen Lesern zu Problem bewusstsein geführt, gleichzeitig war es eine unglaubliche und da zu kostenlose Marketingkampagne für Amazon. Völlig übersehen wurde von den Medien, dass EBooks in über 800 Stadtbibliotheken quasi kostenlos zur Verfügung stehen. Für die Onleihe benötigt der Leser lediglich einen gültigen Benutzerausweis. Jede Stadtbibliothek hat ein individuelles Titelangebot und unter schiedliche Ausleihfristen. Nach Ablauf der Frist ist es nicht mehr möglich, das EBook zu lesen. Andere Benutzer können dann da rauf zugreifen. Jedes ausgeliehene EBook kann vorgemerkt wer den. Eine Benachrichtigung erfolgt per EMail. Eine kostenlose On leiheApp gibt es für iOS und Android. Zum Lesen wird die kosten lose App Bluefire Reader benötigt. Ein Recht zum Mitschnitt und/ oder sonstigen Aufzeichnung der gestreamten Inhalte wird damit nicht eingeräumt. Um Vervielfälti gungen zu verhindern, werden technische Schutzmaßnahmen, wie z.B. DigitalRightsManagementSysteme (DRM) und digitale Was serzeichen genutzt. So sind im EBook an sichtbaren und unsichtba ren Stellen Wasserzeichen eingetragen, z.B. die EMailAdresse des Ausleihers. Illegale Kopien eines EBooks können so zurückverfolgt werden. Die digitale Transformation im Einzelhandel Die Erfolge von Amazon, Zalando & Co. resultieren aus der Fähig keit, die Konsumenten, die mittlerweile mit Laptops, Smartphones und Tablets gut ausgerüstet sind, umfassend, schnell und vor allem bequem mit Waren und Dienstleistungen bedienen und beliefern zu können. Das geschieht im Vorübergehen oder vom Sofa aus, ohne <?page no="68"?> Die digitale Transformation im Einzelhandel 67 dass der Kunde die Puschen ausziehen muss. Dieses Organisati onsmodell benötigt keine stabilen Arbeitsverhältnisse mehr, es kommt mit Leiharbeit, Werkverträgen oder Minijobs aus. Die Steu ern bezahlt man dann beiläufig in einer Steueroase. Bei so unglei chen Ausgangsbedingungen bleibt es nicht aus, dass Arbeitsplätze der Mittelschicht wegfallen. Die Konsumenten haben in den meis ten Fällen nur die andere Seite der Medaille im Blick: die günstige Preise, schnelle Preisvergleiche, angenehmer Komfort. Das passt, solange der Konsument als Beschäftigter im Einzelhandel nicht sel ber davon betroffen ist. Die Konsumenten erwarten heute, dass sie alle Produkte und Dienstleistungen im Netz finden und sie sich jede weltweit verfüg bare Ware schnell und unkompliziert beschaffen können. Dieser Anspruch wird selbst bei beratungsintensiven Dingen durch ent sprechende Präsentationen im Netz für normal gehalten. Beispiele dafür sind Autos, Fahrräder, Möbel, Reisen. Der Direktkauf ist für die Konsumenten selbstverständlich ge worden, d.h. Zwischenhändler, wie der Großhandel mit seinen Ar beitsplätzen, entfallen. Die analoge Vermittlung durch Händler ist durch die digitale Transformation zugunsten des digitalen Platt formherrschers obsolet geworden. Da mittlerweile vierzig Prozent der Bevölkerung immer das Smartphone dabei haben, informieren sie sich direkt im Geschäft über Waren und vergleichen Preise, um letztendlich dann doch bei Amazon, Zalando & Co. zu ordern. Die Ware soll schnell, zeitzuverlässig und situationsgerecht gelie fert werden und auch wieder umgetauscht und zurückgeschickt werden können. Same Day Delivery (SDD), Wunschterminbestel lungen, Zeitfensterbelieferungen und alternative Zustellorte sind die aktuellen Stichworte und Komfortansprüche der Konsumenten. Der verallgemeinerungsfähige Kern dieser Entwicklung mit er heblichen „Nebenfolgen“ für Arbeitsplätze ist, dass die Transakti onskosten der traditionellen Wertschöpfungskette, also die Kosten für wirtschaftliches Handeln im stationären Einzelhandel, durch das Geschäftsmodell Onlinehandel radikal reduziert werden kön nen bei größerer Bequemlichkeit für die Konsumenten. Das wird <?page no="69"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 68 deutlich, wenn man sich die klassische Wertschöpfungskette vor Augen führt: sie besteht aus der Anlieferung der Waren zum Laden sowie den dort anfallenden Aufgaben des Verkaufspersonals. Diese sortieren u.a. die Ware, beraten den Kunden, verpacken und rech nen die Ware ab; einige Beschäftigte sind für Inventuren, Preispoli tik, Werbung und Buchhaltung verantwortlich. Das alles kann ver schwinden, womit auch Arbeitsplätze, die eine qualifizierte Ausbil dung erforderten, wegfallen. Die Ausdünnung des lokalen Einzelhandels geht durch die digi tale Transformation, verursacht durch die damit möglich werden den exorbitanten Einsparungen bei den Transaktionskosten, mit großen Schritten voran und wird kaum aufzuhalten sein. Globale OnlineHändler wie Amazon, OTTO, Zalando etc. können die Transaktionskosten auf ein Minimum dessen reduzieren, was der Einzelhändler vor Ort zu bewältigen hat, auch wenn Kosten für die meisten auszuliefernden Pakete eingerechnet werden müssen. Bedroht sind im stationären Einzelhandel in erster Linie Buch handlungen und Geschäfte, die Medien, Spielwaren, Unterhal tungselektronik und Modeartikel wie Bekleidung und Schuhe an bieten. Bis 2020 rechnet das Kölner Institut für Handelsforschung über alle Branchen hinweg mit einem Verlust im stationären Ein zelhandel von zehn Prozent bzw. einen Rückgang von 448 Mrd. auf 405 Mrd. Euro. Der Umsatzanteil reiner Onlinehändler wird dage gen um 50 Mrd. von 27 Mrd. auf 77 Mrd. Euro steigen, so die Prog nose. Die KleintransporterLogistik wird weiter boomen, schlecht be zahlte und stressige Arbeitsplätze schaffen, und mehr und mehr zu einem Problem für den innerstädtischen Verkehr werden. Laut Aussagen des Logistikunternehmens Hermes Fulfillement lag 2013 die Retourenquote bei vierzig Prozent: Besonders die Jün geren sind schnell dabei, mehr zu bestellen, als sie tatsächlich behal ten und bezahlen wollen. Bei den Retouren sind es im Wesentlichen zwei Gru9nde: Viele Kunden kaufen den gleichen Artikel in unter schiedlichen Größen und Farben. Die Retourenquote steigt immer dann, wenn die Lieferzeit länger dauert. Viele Kunden sind Spon <?page no="70"?> Die digitale Transformation im Einzelhandel 69 Natürlich wird der stationäre Einzelhandel sich seinem Schicksal nicht kampflos ergeben. tankäufer, längere Bedenkzeit führt beim Kunden oft zu dem Ent schluss, den Artikel eigentlich doch nicht zu benötigen. Bestellun gen von gleichen Artikeln in unterschiedlichen Ausfu9hrungen kön nen auch aus unzureichenden Artikelbeschreibungen oder aus nicht eindeutigen Fotos auf den jeweiligen Websites resultieren. Gegenmaßnahmen sind bei den Onlinehändlern in der Erpro bung. Neben schnelleren internen Arbeitsabläufen und der Redu zierung ähnlicher Artikel können Kundinnen etwa per Webcam eine Videoberatung in Anspruch nehmen, oder ihnen werden auf grund frühere r Bestellungen im Vorwege die passende Kleidergrö ße oder bestimmte Schnitte vorgeschlagen. Andererseits verwun dert es schon, weshalb sich so große Konzerne wie Karstadt, Kaufhof oder Metro überhaupt nicht, spät oder sehr unprofessionell die OnlineSchuhe angezogen haben. Mittlerweile rüsten zumindest einige elektronisch auf, um die Vorteile von Smartphone und Internet mi t Vorteilen des stationären Handels zu verknüpfen. Relativ simpel ist die „click & collectLösung“; hierbei wählt und bestellt der Kunde zuhause über die jeweilige Webplatt form aus und holt und bezahlt die Ware im Laden. Eine weiterge hende Überlegung: An die Waren werden elektronische Preisschil der gestellt, die je nach Na chfrage flexibel variieren können; wir kennen das von Tankstellen. Apple hat am Eingang seiner Stores sog. Beacons, kleine Funksender mit BluetoothFunktion installiert, die den Kunden über eine vorher zu installierende App durch den Laden navigiert und ihm Nachrichten zu den ausgestellten Produk ten übermittelt. Ein weiterer Versuch ist, den Kunden über insta l lierte Kameras wiederzuerkennen und ihm auf seine Person zuge schnittene Angebote zu machen. Amazon und Zalando bieten ihren Kunden hingegen eine App an, mit der sie über die Fotofunktion den Kauf des fixierten Produk tes mit ein paar Klicks abwickeln können. Amazon hat dafür das Handy Firephone auf den Ma rkt gebracht. Mit der Funktion Firefly werden Objekte über die Kamera identifiziert, ein SofortKauf <?page no="71"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 70 Button macht den Kauf bei Amazon perfekt. Man kann sich das daraus entstehende Szenario leicht vorstellen, der stationäre Einzel handel wird „not amused“ sein: Der Kunde lässt sich im Laden um fangreich beraten, recherchiert den Preis und ordert bei Amazon, Zalando & Co. Setzen wir noch einen drauf: Am nächsten Tag wird die Ware geliefert, der Kunde ist nicht erreichbar, der „abgelichtete“ Einzelhändler übernimmt die Depotfunktion. Da mag es auf den ersten Blick überraschen, dass Internetkon zerne wie ebay (in Bremen) und Amazon (in New York) damit be ginnen, stationäre Läden zu eröffnen. Hier wird das Konzept der offenen digitalen Plattformen, wie im Internet üblich, auf die reale Welt der lokalen Geschäfte übertragen. Ausgewählte Geschäfts partner, in Bremen der MetroKonzern, mieten Regalmeter gegen Gebühr. Der Brückenschlag zwischen Off und Online ist der Ver such der Internetkonzerne auszuloten, ob dieses Geschäftsmodell ein größeres Investment lohnt. Traditionelle Einzelhändler und Filial unternehmen sehen das verständlicherweise mit Unbehagen. Viel leicht ist dies aber auch für die Nachzügler Karstadt, Kaufhof und Metro eine Chance, genau hinzuschauen und sich Nachhilfeunter richt zu holen, wie eine Brücke zwischen den analogen und digita len Welten aussehen könnte. Eine vorläufige Einschätzung für die Zukunft der Arbeit im Han del, ohne empirische Absicherung, sieht für die Mittelschicht und die Habenichtse etwa so aus: Der lokale Einzelhandel wird Jobs, die zur Mittelschicht zu zählen sind, verlieren. Neue Jobs entstehen nicht nur in den Logistikhallen der Onlinehändler, sondern auch bei den Paketzustellern und im Umfeld der System und AppEntwick lung. Laut einer Studie der Association for Competitive Technology sind angeblich in Europa 800.000 ITJobs in den letzten fünf Jahren ent standen. Wie diese Zahl zustande kommt, bleibt unklar, sie scheint sehr hoch gegriffen. Unklar bleibt auch, ob damit nur die Program mentwicklung gemeint ist. Die Daten zeigen auch, dass in Deutsch land 19 Prozent der AppEntwickler weniger als 1.000 Euro im Mo nat verdienen, in Großbritannien liegt diese Zahl bei 39 Prozent. <?page no="72"?> Des Googles Kern 71 Tendenziell ist im Handel die Spaltung der Arbeit erkennbar. Diese Jobs verlangen ja durchaus qualifizierte Akteure. Hier werden sie zu Habenichtsen oder Kümmerexistenzen degradiert. In jedem Fall werden sie davon auf Dauer nicht ihren Lebensunterhalt finan zieren können. Qualifizierte Tätigkeiten finden sich vor allem beim Management und bei den Systementwicklern, jen seits der AppEntwickler, die die notwendigen Infrastrukturen schaffen. Auf der an deren Seite befinden sich die Beschäftigten, die lediglich mehr oder minder stark ausgeprägte tayloristische Restar beiten machen müssen. Bei ausbleibender Regulierung unterliegen sie dem Risiko, im Orkus der Leiharbeit, der Werkverträge und Minijobs zu landen. Des Googles Kern Wer hätte es für möglich gehalten, dass aus einem Doktoranden Projekt an der Stanford University die führende Suchmaschine im Internet hervorgehen wird? Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens (1995) beschäftigten sich die Studenten Sergey Brin und Larry Page, jeder für sich, mit diversen Themen der Informatik, vor allem aber mit dem Schürfen in großen Datenbeständen. Heute würde ma n das Big Data nennen. Brin und Page dachten zunächst nicht daran, ihr TechnikKnowhow zu nutzen, um ein weltweit agierendes Un ternehmen zu gründen. Ihnen ging es um die Erforschung von Suchalgorithmen. Das klassische FricklerMotiv. Um ihr Forschungs projekt finanzieren zu können, sollten Lizenzen ihrer S uchtechnolo gie (PageRank) an Unternehmen verkauft werden; die Versuche waren erfolglos! Die 1998 erfolgte Gründung der Google Inc. kann als Notlösung als letzte Chance gesehen werden, mit der Page und Brin hofften, ihre Entwicklung vor dem Aus retten zu können. Ein Jahr nach der Unternehmensgründung investierten die Risikokapitalgeber Kleiner Perkins und Sequoia Capital zusammen 25 Millionen USDollar. Noch im selben Jahr arbeitete das Garagenunternehmen mit damaligen <?page no="73"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 72 ITGrößen wie AOL und Netscape zusammen; Google ist im Silicon Valley angekommen. Der Vater von Page war Professor an der Universität Michigan. Page hatte schon als Kind Einblick in die wissenschaftliche Publika tionsweise und wusste um die Bedeutung der Zitationen für die Reputation eines Wissenschaftlers. Sogenannte „linktopologische Verfahren bei wissenschaftlichen Zitationsindizes“ sind ihm gut bekannt. Die grundlegende Annahme bei diesen Verfahren ist, dass die Wertschätzung einer Quelle sich durch das Zitieren der Quelle ausdrückt. Je häufiger eine Quelle zitiert wird, desto größer der Wert im Zitationsindex; die zitierte Quelle steigt im Ranking, der sortierten Auflistung. Die Quelle mit dem größten Indexwert steht auf Platz Nummer eins. Als Informatikstudent war Page das Internet und das Word Wide Web bekannt. Die Links erinnerten Page an die Zählweise wissen schaftlicher Aufsätze aufgrund der Häufigkeit der Zitate. Page will eine Gemeinsamkeit im Zitierverhalten zwischen wissenschaftli chen Publikationen und dem Verlinken in HypertextDokumenten erkannt haben. Ebenso wie beim Erstellen wissenschaftlicher Zitationsindizes weist der PageRankAlgorithmus jedem indexierten Dokument ei nen PageRankWert zu. Der PageRankAlgorithmus ist eigentlich nichts anderes als das Erstellen von Zitationsindizes in einem neuen Kontext, dem World Wide Web: Die Methode PageRank kann dop pelt gedeutet werden, denn sie hat sowohl mit Larry Page als auch mit der Rangordnung einer Webseite (WebPage) zu tun. Die Inno vation, für die Google zuallererst steht, ist der PageRankAlgo rithmus, mit dem die Popularität einer Webseite gemessen wird. Des „Googles Kern“ beruht auf drei Säulen: (1) Dem Suchalgorithmus PageRank. Die Entwicklung des PageRank Algorithmus ist der Anfang des unternehmerischen Erfolges, das ers te SoftwareAngebot, das Google entwickelte. Alle nachfolgenden Entwicklungen aus dem Hause der „Google Guys“ stehen in direk ter Verbindung mit dem PageRankAlgorithmus. <?page no="74"?> Des Googles Kern 73 Der Wirtschaftssoziologe Robert K. Merton präsentierte bereits vor knapp vierzig Jahren den sog. MatthäusEffekt. Er zeigte, wie Vortei le durch häufige Zitationen ein Leben lang erhalten bleiben; be kannte Autoren werden häufiger zitiert als weniger bekannte und dadurch noch bekannter. Für Jeff Jarvis, einem bekannten US Autor, ist der MatthäusEffekt ein „Engelskreis“, im Gegensatz zu einem Teufelskreis. Danach werden die Reichen reicher, die Googe lianer googeliger. „Googelig“ heißt, vom PageRankAlgorithmus weit oben in der Ergebnisliste aufgeführt zu werden: Google zeigt mich, also bin ich. (2) Googleware steht für die Herausforderung, die enorme Rechen leistung zu bewältigen, die das PageRankVerfahren benötigt. Die GoogleIngenieure hatten nie die Absicht, den perfekten Computer zu entwickeln. Vielmehr setzten sie auf die Vernetzung vieler PCs zu einem großes Rechnernetzwerk. Sie akzeptierten damit, dass HardwareAusfälle nicht zu vermeiden sind. So können defekte Computer schnell aus dem Rechnerverbund herausgelöst und durch neue ersetzt werden. Dieses Konzept benötigt ein Dateisys tem (Google File System), welches sich selbst überwachen, Kompo nentenausfälle entdecken und aushalten kann und sich selbst wie derherstellt. Diese Kombination aus Hard und Software (Google ware) ist einer der Gründe für Googles Überlegenheit. Hier lässt sich unschwer die Pionierarbeit von Google für das erkennen, was wir heute Big Data nennen. (3) Das Geschäftsmodell - „Refinanzierung durch Erlöse mittels kon textsensitiver Werbung“ - wird durch die Software Adwords und Adsense umgesetzt. Die meisten der allesamt kostenfreien Dienste sind internetbasierte Anwendungen, die auf den GoogleServern laufen und dort auch ihre Daten speichern. Alle Daten, die mit die sen Anwendungen generiert werden, werden gesammelt, ausge wertet und lassen sich so für neue Strategien und Geschäftsmodelle nutzen. Die kostenfreien GoogleAnwendungen dienen dem Sammeln von NutzerInformationen (Verhalten, Interessen, Gewohnheiten etc.) und können in Wechselwirkung auf die jeweilige Person ausgerich tete Werbung generieren. AdWords platziert Werbung von externen <?page no="75"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 74 Zugleich frisst Google sich durch Allianzen in die „alte“ Ökonomie hinein. Firmen, indem sie Schlüsselworte angeben, passend zu den Inhalten der Suchergebnisse. Die Anzeigen sind von der Ergebnisliste ge trennt und entsprechend gekennzeichnet. AdSense ist die Auswei tung von AdWords. Werbetreibende können hier neben dem Plat zieren von Anzeigen auf der GoogleHomepage auch Werbung auf entfernten Webseiten schalten. So können Netzwerkeffekte erzielt werden, die ebenfalls an Google zur Auswertung zurückgespielt werden. Nicht unter den Tisch fallen sollte, dass die beiden Google Gründer sich ganz zu Anfang dagegen aussprachen, die Suchma schine Google mit Werbung zu verknüpfen. Heute betragen die Gewinne aus Werbung 10 Mrd. USDollar. Google und die anderen Internetgiganten wie Amazon, Facebook & Co. besitzen riesige Datenmengen, die auf monströs anmutenden HardwareSoftwareFarmen gesammelt und ausgewertet werden. Sie ermöglichen im Hintergrund ganz neue monetäre Wertschöp fungen. Durch den MatthäusEffekt - extrem hohe Nutzerzahlen und der Verdrängung von Konkurrenten - entsteht Marktmacht. Die Internetgiganten gehen über ihr ursprüngliches Kerngeschäft hinaus in Bereiche, die ursprünglich nicht ihr Revier waren. Viele Anbieter der „alten“ Ökonomie dagegen konzentrieren sich weiter hin auf ihre Kerngeschäfte. Nur diesen Kern gibt es nicht mehr in der digitalen Transformation. Mit dem Börsengang 2004 wird Google zu einem der finanz stärksten Unternehmen der Internetbranche. Mit dieser Finanzkraft im Hintergrund investiert Google in die Weiterentwicklung der Suchtechnologie, in neue Dienste und kauft erfolgversprechende Startups und deren Knowhow. Gekauft wird alles, was nach ei nem Hipp riecht, auch wenn es ein Flop wird. Bei einem Kassenbe stand am Ende des 2. Quartals 2014 von 61,2 Mrd. USDollar - 2,5 Mrd. USDollar kamen in drei Monaten hinzu, vor allem realisiert durch Textanzeigen im Umfeld der Suchmaschine - kann man sich schon einige Fehltritte erlauben. Nimmt man die Aussagen des GoogleGründers Page auf der I/ O Entwicklerkonferenz, so <?page no="76"?> Des Googles Kern 75 steht die „GoogleÖkonomie“ erst am Anfang, da erst ein Prozent dessen umgesetzt sei, was möglich ist. Die knappe Darstellung der GoogleDienste im Folgenden kann nur ein Schnappschuss der unglaublichen GoogleAktivitäten, Stra tegien, Zukäufen und Neugründungen sein, die sich fast täglich erweitern und die überwiegend im amerikanischen Steuerparadies Delaware registriert sind. Google hat in den letzten 13 Jahren etwa 160 Unternehmen gekauft, so der FAZJournalist Stefan Schulz. Die bekanntesten selbst entwickelten oder zugekauften Produkte sind neben der Suchmaschine die Kartendienste Google Maps, Google Earth, Google Street View, das freie Betriebssystem Android, Goog le Mail, das soziale Netzwerk Google Plus, die SkypeAlternative Google Hangouts, Youtube, das sich immer mehr zum weltweiten TVKanal entwickelt, der Webbrowser Chrome, die Bildverwal tungssoftware Picasa und die NexusSmartphones. Mit Google Books will Google das in Büchern enthaltene Wissen der Welt durch Digitalisierung für die Volltextsuche bereitstellen. Mit Google Maps stellt das Unternehmen einen kostenlosen Kar tendienst zur Verfügung. Google möchte jeden beim Streifzug zu nächst durch die Welt und dann durch die Kommerzwelt an die Hand nehmen. Der Kartendienst ist Routenplaner, Branchenbuch und Reiseführer. Google Earth stellt Satellitenbilder von großen Tei len der Erde mit der Möglichkeit bereit, dreidimensional über die Erde zu schweben. Google möchte seine Kartendienste personalisie ren, damit Nutzer schnell prüfen können, ob Freunde die in der Nähe liegenden Geschäfte bewertet haben. Gleichzeitig speichert er die Orte, die häufiger besucht werden, um personalisierte Karten mit Empfehlungen und Gutscheinangeboten anbieten zu können. Da ist naheliegend, Google Maps so auszubauen, dass Sehenswür digkeiten und Restaurants von innen betrachten werden können, die mittels Crowdsourcing durch Nutzer ergänzt und aktualisiert werden. Google Street View ergänzt Google Maps um eine fotorealistische Straßenansicht. Das Projekt, von vielen nationalen Regierungen und Datenschützern heftig kritisiert, macht Nutzern das Angebot, virtu <?page no="77"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 76 ell durch komplette Straßenzüge zu wandern. Das Fotomaterial wird nicht wie bei Google Earth per Satellit aufgenommen, sondern wurde mit auf Autodächern montierten 360°Kamera erfasst. Gegen die Dokumentation von Personen, Grundstück oder AutoAufnah men kann Widerspruch eingelegt werden. Google verpflichtete sich, diese auf den Rohdaten unkenntlich zu machen. Die sogenannte Google Mashups stehen für die Kategorie der pas siven kommerziellen Nutzung der GoogleKartendienste durch Dritte: Ein Restaurant kann z.B. den Kartendienst nutzen, indem es sich mit einem Foto, einem Video oder einer Speisekarte an den Kartendienst andockt. Kleine Betriebe versprechen sich mit der An bindung ihrer Dienstleistungen an Google mehr Aufmerksamkeit für ihr Geschäft. Googles NavigationsApp Waze ist eine kostenlose App mit 50 Millionen Nutzern, die sich nach dem CrowdsourcingPrinzip bei Staus informieren, Unfälle oder Polizeikontrollen melden, die Kar ten aktualisieren, Spritpreise von Tankstellen übermitteln und vor Radarfallen warnen. An den Kartendiensten lässt sich GooglesStrategie beim Angriff auf die „alte“ Ökonomie und dem Versuch die „neue“ Ökonomie zu etablieren, recht gut erkennen. Dem potenziellen Nutzer wird ein, im Vergleich zu den PrintStadtplänen, äußerst bequemes Ori entierungswerkzeug an die Hand gegeben. Nach und nach kom men viele komfortable und dabei kostenlose Zusatzfunktionen hin zu, die den Nutzer in eine bis dahin nicht gekannte Erlebniswelt hineinführen. Der Nutzer ist fasziniert, die neue Welt wird schnell zu einem unverzichtbaren Bestandteil seines Alltags. Produkte der „alten“ Ökonomie wie Stadtpläne, Landkarten, Reise und Restau rantführer etc. werden obsolet und nur noch von Liebhabern nach gefragt. Eigentlich ist es schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr notwendig, die Nutzer durch neue Dienste bei der GoogleStange zu halten. Googles Kartendienste sind mittlerweile so verbreitet, dass Einzelhandel, Restaurants und Eventveranstalter sich z.B. über Mashups andocken. In Wechselwirkung entwickeln sich Googles Kartendienste zu universellen Informationsdiensten. <?page no="78"?> Des Googles Kern 77 Wir wollen versuchen, „des Google Kern“, der auch für die an deren kalifornischen Anbieter in weiten Teilen zutrifft, auf den Punkt zu bringen: Unfassbar gebrauchstaugliche Bedürfnisse wur den und werden von kalifornischen Internetkonzernen geweckt, von ihnen sogleich durch schnelle Umsetzung befriedigt, von denen der Nutzer vorher gar nicht wusste und ahnte, dass diese sein Le ben bereichern und bequemer machen können (u.a. Suchmaschine, Apps, Smartphone, Tablet). Dies wird sich fortsetzen. Und: Über Jahrzehnte gewachsene und selbstverständlich gewordene Struktu ren der „alten“ Ökonomie werden über Nacht durch digitale Alter nativangebote in ihrer Existenz erschüttert und zum Teil abge räumt. Das konnte auch aufgrund mangelnder Kompetenz und Erfahrung des Managements der „alten“ Ökonomie geschehen. Unsere Widersprüche, die wir als Autoren bei Amazon einge standen haben, tauchen für uns verstärkt bei Google auf. Nicht nur die Suchmaschine, auch andere GoogleDienste sind für uns nach und nach zu hilfreichen Werkzeugen geworden. Sie machen Alltag und Arbeit einfacher und reichhaltiger, wir möchten sie nicht mehr missen. Amazon kann man mit konsequentem Verhalten noch ver meiden, Google umgehen zu wollen, wäre gleichbedeutend mit dem Gang ins „digitale Kloster“. Und gerade wegen des Mangels an Wahlfreiheit und Alternativen nehmen wir das Imperium mit seinen gesellschaftlichen und ökonomischen „Nebenfolgen“ unter die Lupe und weisen auf die Gefahren hin. Google nicht mehr um gehen zu können, ist der empirische Belege für das Vorhandensein eines Spinnennetzes, in das wir uns mehr und mehr verfangen - weil wir merken, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Dennoch kön nen wir konstatieren, dass besonders Google immer wieder ge brauchstaugliche Bedürfnisse wecken konnte, von denen der Nut zer vorher gar nicht wusste, dass diese sein Leben bereichern. Dies wird sich fortsetzen. Im Folgenden werden wir Googles innovative Technologien und profitable Geschäftsidee kritisieren, ohne immer ihren positiven Nutzen explizit hervorzuheben, der uns absolut bewusst ist und zweifelsohne existiert. Jedoch werden Googles Technologien und <?page no="79"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 78 Geschäftsmodelle zur Genüge hoch gelobt. Wir verzichten wegen dieser Einseitigkeit auf Ausgewogenheit. Uns geht es um die zu kurz kommenden „Nebenfolgen“. In welchen Kategorien Google denkt, wird auch an der Einschät zung des globalen Werbemarktes erkennbar, wo Google mit Ad words und Adsense ja bereits prominent vertreten ist. Ein Satz eines GoogleManagers macht das deutlich: „Wir wollen uns nicht mit Konkurrenten um den 4ProzentAnteil der OnlineWerbung strei ten. Wir wollen die restlichen 96 Prozent des WerbeMarktes“. Google will das „Betriebssystem der Werbeindustrie“ sein, um so zur „weltweit größten Werbeplattform“ zu werden. Es soll eine „crossmediales Werbenetzwerk“ entstehen, das offlineWerbung einschließt. Werbetreibende sollen ihre MarketingKampagnen bei Google starten und ihre Werbebotschaften per Mausklick in TV und Radiosendungen sowie in Videospielen streamen, direkt in Printmedien einstellen oder auf Außenwerbeflächen (von Haus wänden, Litfaßsäulen etc.) auftragen können. Mediaagenturen, die dafür bezahlt werden, die optimale Schaltung der Anzeigen und Videos ohne Streuverluste zu organisieren, werden so obsolet, das wird in Zukunft Google machen. Google scheint schon so akzeptiert zu sein, dass der Gigant meint, das Vertrauen in seinen „Goldesel“ Suchmaschine verletzen und so seine Nutzer täuschen zu können. Der Nutzerglaube, dass bei Eingabe des jeweiligen Suchbegriffs die Reihenfolge aufgrund seiner tatsächlichen Relevanz im Ranking ausgewiesen wird, trifft offensichtlich oft dann nicht zu, wenn ein GoogleProdukt im Spiel ist oder ein neuer GoogleDienst ins Freiland gelassen wird. Google hat seine Suchmaschine mit einer „Universal Search“Funktion er gänzt. So kann sie die eigenen Dienstleistungen nach vorne rücken und die Konkurrenz im Orkus des unendlichen Internets ver schwinden lassen. So macht die Spinne fast unmerklich Beute. Der Verbraucher merkt davon nichts, der Wettbewerber dagegen kann nur die Fäuste ballen, wenn er sich plötzlich auf der GoogleSuch seite 3 plus x wiederfindet. Der vom EUWettbewerbskommissar Almundia zunächst vorgeschlagene, untaugliche und dann zurück <?page no="80"?> Des Googles Kern 79 Googles Gesamtstrategie lässt sich bislang auf den Punkt bringen. gezogene Vergleich mit Google wäre darauf hinausgelaufen, dass Googles Wettbewerber ihre Darstellung gegen Bezahlung hätten nach „vorne schieben“ können. Da lacht des Googles Herz: Sie kön nen weiter manipulieren und den Wettbewerbern auch noch in die Tasche greifen. Wie das funktioniert und welche Macht Google aufgrund des Nutzerverhaltens - 90 Prozent su chen in Deutschland bei Google - ausüben kann und wie Google in der Lage ist, Märkte mit der Be fürchtung in Angst zu versetzen, sie könnten zerstört oder einver leibt werden, zeigt sich im Reisemarkt im Herbst 2014. Im Abschnitt „Ein Spinnnetz für Hotelbetten“ werden wir näher darauf eingehen. Google will dur ch Forschung & Entwicklung im Hause, Allianzen mit Fremdfirmen, Ankauf von zu kunftsträchtigen Startups und durch RankingManipulation der eigenen Produkte möglichst viele Branchen und Bereiche global besetzen. Der Automotivebereich ist ein Beispiel, wie Google versucht, sich über Allianzen und Eigenentwicklungen in ein bislang völlig frem des Feld zu wag en, um Ausschau nach Beute zu halten. Vor dem Hintergrund von Milliarden Dollar Kassenbestand kann man sich aber auch, wenn notwendig, wieder abseilen. Zusammen mit dem Autozulieferer Continental plant Google die Entwicklung neuer Systeme für das autonome Fahren. Google schwebt ein Roboterauto vor, das völlig autonom ohne Lenkrad und Bremse fahren so ll. Zu nächst sollen hundert Prototypen gefertigt werden. Sie sollen vor allem als Taxis eingesetzt werden. Gleichzeitig hat Google auf der ElektronikMesse CES 2014 in Las Vegas gleich mit mehreren Auto bauern Allianzen angekündigt, darunter auch mit Audi. Bei dieser Open Automotive Alliance geht es auf den ersten Blick nur um di e Integration des Betriebssystems Android in die Fahrzeuge und die Verfügbarkeit bekannter Dienste und Apps. Google will zusammen mit Audi das Fahren sicherer und einfacher machen. Die Entwicklung des selbstfahrenden Roboterautos ist für alle großen Hersteller ein Alarmsignal. Seit Jahren schon experimentiert <?page no="81"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 80 Google damit. Ob die klassischen Autohersteller sich mit der Open Automotive Alliance in das Spinnennetz von Google begeben und wer davon langfristig profitiert, Google oder die Hersteller, ist of fen. Bislang haben sich Kooperationspartner Googles Bedingungen unterwerfen müssen. Man kann natürlich der Meinung sein, dass Google mit einer Kampfansage an VW, Toyota, Daimler und General Motors end gültig größenwahnsinnig geworden ist. Diese Konzerne mit ihrer gewachsenen Ingenieurskunst wird sich Google wohl kaum einver leiben können? Möglicherweise will Google die Autokonzerne ver unsichern, damit sie Google „reinlassen“. Google will wahrschein lich nicht mit eigenen Autos, aber dennoch bei Autokonzernen mit fahren. Googles Währung heißt eher Nutzer, Daten und Informati onen und nicht unbedingt Absatzzahlen. Auch an den Rändern tun sich für Google neue Geschäftsmodelle auf. So hat Google Ventures neben anderen 260 Mio. USDollar in den Fahrdienst Uber gesteckt. Uber vermittelt über eine App Mit fahrgelegenheit in Privatautos. Ein Großangriff auf das professio nelle Taxigewerbe. Eine weitere GoogleAktivität ist die Gründung von „Google Compare“, ein Preisvergleichsportal für Autoversicherungen. Es nutzt die Daten, die Google über seine Nutzer gespeichert hat. Die Versicherer zahlen eine Provision für jede vermittelte Police an Google. Naheliegend, sich Gedanken zu machen, ob das Ge schäftsmodell nicht auch für Preisvergleiche, z.B. bei Mietwagen, Gastarifen und Mobilfunkpreisen funktioniert. Erste Fäden für ein weiteres Spinnennetz werden von Google im Januar 2014 mit der Übernahme der Firma Nest Labs für 3,2 Mrd. USDollar gesponnen. Man stutzt: Will Google nun auch Rauch melder und Thermostate verkaufen? Kevin Kelly, der Mitgründer des Onlinemagazins „Wired“, offensichtlich ein Zyniker, vermutet, dass Google nun, wo sie über Google Books informiert sind, was die Leute lesen, über die mit dem Internet verbundenen Rauchmelder und Thermostate erfahren wollen, wie sie leben. <?page no="82"?> Des Googles Kern 81 Google verschafft sich mit dem „Internet der Thermostate“ ein Einfallstor in die Haushalte. Google will mit Nest möglichst viele Sensoren in den Haushalten etablieren und Daten der Menschen quasi mit einem „Informationsstaubsauger“ abgreifen. Sie sind auch deshalb eine attraktive Quelle, weil sie mit Smartphones und Lap tops der Nutzer verbunden werden können. Auf dieser Grundlage kann Google ein weiteres Spinnennetz erschaffen und sich in der „alten“ Ökonomie festsetzen. Die NestThermostate erfassen mit eingebauten Sensoren eine Vielzahl von Informationen über alles, was in einer Wohnung passiert, u.a. Temperatur und Luftfeuchtig keit. Über das Internet werden sie in Googles Datenwolke geleitet. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, ob jemand anwesend ist und welchen Raum er gerade nutzt. Der Anschluss weiterer Haus haltsgeräte wird ein umfassendes Profil der Bewohner und ihrer Haushalte generieren. Dieses Wissen wird zur kommerziellen Nut zung in der GoogleCloud verschwinden. Kurz nachdem wir dies geschrieben haben, flattert eine kurze Pressenotiz auf den Tisch: Die GoogleTochter NestLabs über nimmt die Firma Dropcam für 555 Mio. USDollar. Dropcam entwi ckelt einfache vernetzte Überwachungskameras für zuhause. So können Bewohner auch von unterwegs, z.B. über ihr Smartphones, jederzeit in ihre Wohnung schauen. Über die Cloud können die Bil der gespeichert und ausgewertet werden. Welcher Respekt, um nicht zu sagen welche Angst, in den höchs ten Chefetagen mittlerweile herrscht, zeigt eine kleine Pressemittei lung. AirbusChef Thomas Enders will zukünftig u.a. mit Google kooperieren: „In Zukunft wird unsere Industrie viel enger mit die sen neuen Firmen zusammenarbeiten müssen, nicht zuletzt, weil diese Leute auf unser Terrain vorrücken ... Die Raumfahrtindustrie ist noch relativ jung, aber diese Leute sind noch jünger, und ohne Frage noch dynamischer“. Durch Googles Kauf eines Solardroh nenherstellers konkurriert Google bereits mit Airbus. Dazu passt auch, dass Google zur Stärkung seines Kartendienstes den Satellitenspezialisten Skybox Imaging für 500 Mio. USDollar gekauft hat. Skybox bietet detailreiche Fotos und kurze Videos bei <?page no="83"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 82 Oft erschließen sich Googles Investitionen und Allianzen erst spät. spielsweise über die Aufsicht von Pipelines, von Containerbewe gungen in Häfen, Aktivitäten von Flughäfen oder die Bestände der Stellplätze von Autohändlern. Man kann sich noch viele weitere fantasiereiche Geschäftsmodel le der Überwachung vorstellen. Bevor die „Nebenfolgen“ dieser Geschäftsmodelle überhaupt diskutiert werden können, ist Google schon dabei, in ein eigenes Satellitennetz eine Mi lliarde USDollar zu investieren. Googles Begründung: Bislang seien ein Großteil der Weltbevölkerung ohne Zugang zum Netz (und damit noch keine Kunden von Google). Man fragt sich, was bezwe cken sie damit? So etwa bei Investitionen in „Erneuerbare Energiequellen“. Mehrere 10 Mio. USDollar wurden im Jahre 2008 für Forschung und Entwick lung und das Zehnfache noch mal für Projekte bereitgestellt. Kurzfristig will Google so die Stromkosten für seine Rechenzentren senken und unabhängig werden. Damit hat Google einen Kostenvorteil gegenüber seinen Konkurrenten. Die Investition könnte strategisch sinnvoll werden, weil sie irgendwann auch mit dem „Internet der Thermostate“ verknüpft werden kann. Page kommentiert di e Investition in „Energie StartUps“ entspre chend nüchtern: „Wir erwarten, dass dies für uns ein gutes Geschäft wird“. Google ist ohne Zweifel im Besitz einer Suchmaschine. Genauer: Google ist eine Suchmaschine innerhalb unserer Lebenswelt! Google durchsucht nicht mehr nur das Internet. Google durchsucht unsere Lebensgewohnheiten, die dank modernster Technologien - wie Apps, Sm artphones, PC, Autos, Thermostaten, Zahnbürsten und SatellitenSystemen etc. - jene Daten an das GoogleSystem übermitteln, die durchsucht werden können, um weitere Dienstlei tungen auf der Basis unserer Daten anzubieten. Die passende Metapher für Googles Aktivitäten ist das Weben von Spinnennetzen mit Beutefang in der „alten“ wie der di gitalen Ökonomie. Im Englischen ist das Wort Netz (Net), ähnlich wie im Deutschen eher neutral bis positiv konnotiert. Mit dem Web wird im <?page no="84"?> Des Googles Kern 83 Englischen dagegen eher ein Spinnennetz (cobweb oder spiders web) assoziiert. Im Spinnennetz geht die Macht von einem Zentrum aus mit dem Ziel der Einverleibung. Spinnen sind Kannibalen und in der Lage, sehr belastbare und dehnbare Netze zu weben. Mit ihrem Netz können sie ihre Beute fesseln und konservieren. Mit Signalfäden ergreifen sie aktiv ihre Beute. Mit einem angehefteten Faden als Si cherungsleine können sie sich bei Gefahr abseilen. Damit sind sie auch in der Lage, durch die Luft zu reisen und neue Lebensräume zu besiedeln. Die Seidenfäden werden auch zur Kommunikation eingesetzt. Die Fäden schwingen mit unterschiedlichen Frequenzen, so kann die Spinne an den Schwingungen schnell spüren, wo wel che Beute hängt. Die Funktion der Spinnenfäden findet sich in den Kommunikationsleitungen wieder. Sie leiten die Daten von Kun den, Startups etc. an die Zentrale bzw. Cloud weiter, hier werden sie für neue Strategien genutzt. Für die digitale Welt nicht ganz un wichtig: Spinnen, die auf engem Raum gehalten werden, würden sich gegenseitig auffressen. Was wir als Spinnennetz bezeichnen, nennt der Harvard Busi ness SchoolProfessor Cayton M. Christensen „Disruptive Innovati on“. Damit beschreibt er die zerstörerischen Auswirkungen neuer Technologien auf Märkte und Unternehmen am Beispiel von Google: Zuerst gelang es Google mit PageRank, die Suchmaschinen konkurrenten (Altavista, Lycos etc.) zu verdrängen und ein Quasi Monopol zu erlangen. Das war die Grundlage für den innovativen Einsatz der kontextsensitiven Werbung, mit der Google die bis da hin herrschende OnlineWerbung und Vermarktung zerstörte. Ein Projekt, an dem möglicherweise die Geburt eines giganti schen Spinnennetzes gerade miterlebt werden kann, ist das Projekt Google Baseline. Es ist eines von Googles „MoonshotProjekten“, die für hohes Risiko, aber auch für viel Profit stehen. Freiwillige lassen von Medizinern im Auftrag von Google ihre Genomsequenz analy sieren und diese mit zahlreichen individuellen Körperdaten wie Blutprobe, Speichel, Urin in Beziehung setzen und über einen lan gen Zeitraum kontrollieren. Google will so verstehen, wie „gesund <?page no="85"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 84 sein“ bis zur molekularen und zellulären Ebene zu definieren ist. Wenn erst einmal die Genomdaten von Millionen Menschen über Google Genomics zugänglich sind und mit Bewegungsdaten, die über das Smartphone abgerufen werden, sowie mit Patientenakten ver knüpft werden, stellt sich die Frage, ob Larry Page mit seiner Auf fassung richtig liegt, dass hunderttausend Menschenleben auf diese Weise jährlich gerettet werden können? Oder ob damit der finale Zeitpunkt erreicht ist, wo jegliche Privatheit, Autonomie und Frei heit des Menschen verloren ist. Zumindest sollte man darüber schnell eine Diskussion anzetteln. Der Pfad von Googles Anfängen bis zum Spinnennetz ist gewal tig. Ursprünglich sollte die Refinanzierung der kostenfreien Such maschine Google ausschließlich über die Lizenzvergabe des Page RankAlgorithmus erfolgen. Die Werbefreiheit galt Bin und Page zu Anfang als hoher Wert und Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Im bes ten Sinne des Wortes war es ein Sozialmodell. Heute ist daraus das vermutlich aggressivste Geschäftsmodell weltweit geworden. Über die Motivwechsel der beiden GoogleGründer lässt sich trefflich streiten. Mit dem wachsenden Erfolg könnten die Dollar Zeichen ihre Augen geblendet haben. Möglich auch, dass sie zu Anfang unter dem Druck der Kapitalgeber standen, die schnell eine erkleckliche Rendite ihres Investments erwarteten. Der ungezügelte Homo oeconomicus könnte auch mit dem Auftreten des cleveren Strategen Eric Schmidt zu tun haben. Vielleicht war es auch die Ein sicht, besser andere zu fressen als selber gefressen zu werden. In einem SPIEGELInterview vermutet Jaron Lanier bei Page und Brin wie Zuckerberg und Bezos zwar auch gewisse Profitabsichten. Stärker verankert sieht er bei ihnen jedoch einen digitalen Utopis mus, getragen von dem Ziel, die gesamte Gesellschaft durch Ma schinen und künstliche Intelligenz in eine perfekte digitalisierte Welt führen zu können. Sie wollen „eine bessere Welt schaffen, oh ne dass sie wissen, wie diese Welt aussieht ... Diese Unternehmer ... haben eine Mission, die größer ist als der Kapitalismus. Und sie hat religiöse Züge ... im Silicon Valley gibt es diese Einstellung, die sagt: Wir wissen am besten, wie es geht. Technik löst alle Probleme“. <?page no="86"?> Googles Arbeitspolitik 85 Google forscht nicht nur im Silicon Valley, sondern weltweit. Googles Arbeitspolitik Über den Globus verteilt wur de eine Vielzahl von For schungs und Entwicklungs zentren gegründet. Google galt lange Zeit als „Spitzenarbeitgeber“ und tut einiges dafür, dieses symbolische Kapital zu pflegen. Im Schnitt erreichen Google 100.000 Bewerbungsschreiben im Jahr. Die Kriterien sind neben perfektem Englisch und einem Hochschulabschluss ein Nachweis für mindestens ein „(finan ziell) erfolgreiches Projekt“. Google spricht von „more elite“ und „most elite“. „Most elite“ sind ca. 7.000 Programmierer und Ingenieure. Die Mitarbeiter sollen zwanzig Prozent der Arbeitszeit zum Ent wickeln neuer Ideen, Produkte und Geschäftszweige nutzen. Was sich hier so menschenfreundlich ausnimmt, ist die Fortentwicklung von Boltanskis und Chiapellos Künstlerkritik, angepasst an die digitale Ökonomie. Google nützt es wenig, wenn Mitarbeiter während der Arb eit szei t ode r am Feiera bend ihre Le idenschaft ei ge nen Entwic k lungen schenken und so von der Tätigkeit bei Google abgelenkt sind. Mit der 20ProzentRegel können die Beschäftigten sich ihren Ideen hingeben. Das Ergebnis kann sich dann Google einver leiben. Etwas Neues zu entwickeln ist Teil des Jobs. Die Angestellten werden an ihrer Innovationskraft gemessen, so wächst Google. Im Jahre 2006 verkündet die damalige Vizepräsidentin Marissa Mayer, die Hälfte der neuen SoftwareAngebote seien in der zweiten Jah reshälfte 2005, in nur sechs Monaten im Rahmen der 20Prozent Regel entst anden. Welche Informatik oder Technische Fakultät will sich mit dieser Produktivität aber auch mit diesen Arbeitsbedin gungen messen? Mayer hat 2006 die Prinzipien der Innovationskultur bei Google erläutert: 1. Innovation nicht sofortige Perfektion; 2. Ideen kommen von überall; 3. Eine Lizenz zum Träumen; <?page no="87"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 86 4. Verwandle Projekte, ermorde sie nicht; 5. Teile soviel Informationen wie Du kannst; 6. Benutzer, Benutzer, Benutzer; 7. Daten sind nicht politisch; 8. Kreativität liebt Einschränkung; 9. Du bist brillant: Wir stellen ein. Komm und arbeite für uns. Nassim Nicholas Taleb gilt als Anhänger des „maximalen Her umprobierens“. Taleb, ein moderner Philosoph, beschäftigt sich mit dem Zufall und der Rolle von Unbestimmtheit und Resilienz, der Belastbarkeit in Wissenschaft und Gesellschaft. Er interessiert sich für die Rolle von glücklichen oder unglücklichen Zufallsereignissen mit großen Auswirkungen, die er „schwarze Schwäne“ nennt. So deutet er auch Googles erstaunliche Erfolge. Nach seiner Auffas sung ist noch nie ein Unternehmen so schnell gewachsen und so dominant geworden. Im Gegensatz zu traditionellen Sozialwissenschaften argumen tiert Taleb, dass alle bemerkenswerten Entdeckungen oder Techno logien nicht aus Absicht und Planung hervorgegangen sind, son dern schlichtweg „Schwarze Schwäne“ sind. Die beste Strategie sei, möglichst viel auszuprobieren, um „Schwarze Schwäne zu ergrei fen. Talebs Philosophie findet sich bei Brin und Page wieder. Sie hal ten wenig von Ingenieuren, die im Laufe von Wochen oder Mona ten ausgeklügelte Projekte konstruieren, ihnen geht es um Spontani tät. Man soll sich dem Zufälligen stellen und mit diesem Zufälligen umgehen können. „Weniger Planung ist besser“, sagt Page. Googles Milieu wie Arbeitspolitik sind vermutlich stark von der Studienzeit der beiden Gründer an der Universität Stanford beeinflusst. Page und Brin konnten dort als Studenten frei experimentieren und for schen. Während die Vertreter der „alten“ Ökonomie planen, was als nächstes zu tun ist, probiert die „neue“ Ökonomie einfach mal aus der Cyberspace ist dafür ideal. Dieses „Einfachmalausprobieren“ wirkt bis heute in die Arbeitspolitik von Google hinein. Google vermittelt vielleicht zuweilen den Eindruck einer Studentenklitsche. Auf der Plattform Google Labs bindet Google den „mitarbeitenden <?page no="88"?> Googles Arbeitspolitik 87 Nutzer“ bei der Entwicklung neuer Anwendungen ein. Es ist Googles ‚Spielwiese‘. Dort heißt es: „Google Labs präsentiert einige (...) Lieblingsideen, die noch nicht ganz für die Öffentlichkeit bereit sind. (...) Feedback kann (...) dabei helfen, sie weiter zu verbes sern“... „Spielen Sie ein wenig mit diesen Prototypen und senden Sie Ihre Kommentare direkt an die GoogleMitarbeiter, die sie ent wickelt haben“. So kann Google die Akzeptanz der Nutzer bzgl. der neuen Anwendungen frühzeitig prüfen. Im Silicon Valley heißt es zuweilen, Googles Anwendungen seien für alle Ewigkeiten Beta Versionen. Der Prototyp garantiert Google, sich für Pannen niemals entschuldigen zu müssen. Denn wie erwähnt geht es Google nicht um Perfektion, sondern um Innovation. Wir lernen bei Google das Pendant zu Amazons Arbeitspolitik kennen, was kein Widerspruch ist, sondern exakt die Spaltung be schreibt, die für die digitale Gesellschaft in Zukunft typisch sein wird. Die abgehängten Malocher in tayloristischen Arbeits umgebungen in den Lagerhallen von Amazon und die „Smart crea tives“ bei Google, die ihre Arbeit als leidenschaftliches Hobby bei guter Bezahlung und der Gewissheit erleben sollen, zur absoluten Elite zu gehören, die daran beteiligt ist, eine funktionierende, (fast) paradiesische Welt der Maschinen und künstlichen Intelligenz, das „interplanetarische Internet“, so Erich Schmidt und Jonathan Ro senberg in How Google works. In einem solchen Biotop verwundert eine ganz spezielle Auffas sung über Mitbestimmung nicht. In einem Interview erklärte der Personalvorstand von Google Europa, Frank KohlBoas, auf die Frage, weshalb Google in Deutschland keinen Betriebsrat habe, dass hier sogar 700 Betriebsräte anwesend seien: „Ein Betriebsrat wäre ein Verlust an Meinungsvielfalt und direkter Mitsprache. Denn dann könnte nicht mehr jeder sagen, was ihm nicht passt, sondern es gebe ein Gremium, das stellvertretend für die Mitarbeiter spricht“. So hört sich die moderne Betriebsdemokratie à la Silicon Valley an: nur einzeln sind wir stark! <?page no="89"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 88 Google bestimmt (per Rangliste), was relevant bzw. richtig ist. Ist die Welt nun eine Google? Etwas „googeln“ ist nicht nur ganz alltäglich, sondern zur selbst verständlichen Metapher geworden. Obwohl heute täglich Millio nen Menschen mit MicrosoftProdukten arbeiten und mit Produk ten, die auf die „Plattform Microsoft“ aufsetzen beeinflussen MicrosoftProdukte die Weltwahrnehmung der Nutzer kaum. Microsoft ist ein Werkzeug für den digitalen Alltag, Google dage gen hat die Kultur der Weltwahrnehmung verändert. IBM steht für Großrechner, Microsoft für PC und Google für In formationszugangsvermittlung. In dieser Metaposition wird Google selbst zum Internet. Als Webplattform ist Google herstellerunab hängig. Ob Apple, Microsoft oder Linux, immer heißt es: Google inside! Google wie Microsofts Expansionsstrategien zielen beide darauf ab, erfolgversprechende Geschäftsfelder auszumachen und sich diese anzueignen. Jedoch geht Google dabei zügiger vor, Microsoft läuft hinterher. Während Microsoft sich auf entwickelten Märkten ausbreitet, entwickelt Google neue Märkte. Insidern zufolge hat Google Dutzende Anwendungen „in der Hinterhand“ und kann diese binnen Stunden ins Freiland lassen bzw. in die bestehende Anwendungslandschaft integrieren. Google verändert global Gesellschaften, das Leben, Beziehungen, die Weltanschauung, wahrscheinlich selbst die Gedanken in einer Art und Weise, die schwer und nur allmählich erfasst werden kann. Diese Veränderungen gehen nicht nur von Informationen im Sinne von Wissen aus, sondern von Informationen, die ein Individuum über sich bereitstellt. Für das Gros der Internetnutzer wird die eine Realität, die Google (als Ergebnisliste) präsentiert, zur Wahrheit. Was Experten als Fehler erkennen würden, muss von Laien als Tatsache hingenom men werden. Für die einen führt das Internet zur „Weisheit der Vielen“, für andere beginnt mit der GoogleÄra „Die Stunde der Stümper“. Es <?page no="90"?> Ist die Welt nun eine Google? 89 sind überwiegend Amateure, also keine Experten, die Wissen gene rieren bzw. wissen, was richtig und falsch ist. Der wissenschaftliche Laie erhält im Internet die gleiche Aufmerksamkeit wie der Wissen schaftler bzw. Experte. Google als Großforschungseinrichtung und Aggregator hat be reits und wird „die“ globale Gesellschaft weiter verändern. Was Google als Ergebnis liefert, gilt als Wissen. Google ist „Wissensliefe rant“. Doch ist die Welt deshalb bereits eine Google? Google hat den Anspruch, die Informationen der Welt zu organi sieren und allgemein zugänglich zu machen. Google will der Wel tinformationsorganisator sein. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Google möglichst viele Informationen speichern, die sich im World Wide Web, in Büchern und Magazinen befinden und von Nutzern (unbewusst) generiert werden. Doch Google präsentiert nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was Welt ist. Zugleich leistet Google dem Glauben Vorschub, dass dieser Ausschnitt der allein relevante ist. Neun Zehntel dessen, was im Internet abgerufen werden kann, ist mit Google und anderen Suchmaschinen nicht auffindbar. Google SearchBots durchsuchen nur das sog. „Visible Web“. Meist passwortgeschützte Datenban ken, in denen beispielsweise Fachartikel gespeichert sind, können nicht durchforstet werden. Das fundierte Wissen ist eher dort zu finden, wo Google nicht hinkommt: im Tiefenweb („Deep Web“). Es ist jener Bereich des Internets, wo die Daten verschlüsselt oder durch Passwörter geschützt sind. Dazu gehören auch die Algorith men von Google, die Datenbestände der Geheimdienste und Chat foren für Dissidenten. Google distanziert sich aus verständlichen Gründen vom Deep Web, denn Datensätze, auf die Google nicht zugreifen kann, bedro hen im Kern den Einflussbereich und die Reputation von Google. „Das Unternehmen hat daher ebenso wie das FBI oder die CIA nach außen hin ein starkes Interesse an der Verteufelung des Deep Web. Für sein Selbstverständnis braucht es so etwas wie das böse Netz“, so der Journalist Uwe Ebbinghaus. <?page no="91"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 90 Das sichtbare Netz, das von Google SearchBots durchsucht wird, wie das Deep Web auch, enthalten auch viel amateurgenerier tes Wissen, auch Falschmeldungen und persönlichste Informatio nen. Beide liefern ein Gemisch aus „Wahrheit und Dichtung“. Der vergiftete Trunk der Sharing Economy Die Geschäftsmodelle von Amazon und Google stehen exempla risch für eine Reihe weiterer Plattformen. Sie können als Referenz modell der sich so rasch entwickelnden digitalen Ökonomie ange sehen werden. Wir werden im Folgenden digitale Geschäftsmodelle vorstellen, die man schon als Spinnennetze bezeichnen kann, und andere, die ein gutes Stück des Weges dorthin zurückgelegt haben. In einigen Branchen wurde der Pflug der digitalen Transformati on schon sehr früh und ziemlich radikal angesetzt; das gilt z.B. für die Musik und die Zeitungsbranche. Einzelhandel, Buchhandel und Verlage sind mittendrin in diesem Prozess. Industrie und Stadtentwicklung sind noch in den Startlöchern. Vermutlich wird kaum eine Branche ungeschoren davonkommen. Drei Branchen greifen wir heraus, die Share Economy in diesem sowie die Finanz und Hotelbranche im nächsten Abschnitt. Unter dem Label Sharing Economy schwappt ein unreglementier ter „kalifornischer Kapitalismus“ nach Deutschland. Er ist dabei, ganze Branchen mit ihren Arbeitsplätzen plattzumachen. Er unter läuft bislang selbstverständliche Arbeitsstandards und Rechtsvor schriften und greift damit die soziale Marktwirtschaft frontal an. Die bekanntesten Marken sind Airbnb und Uber. Beim Startup Uber kann über eine App eine private Mitfahrgelegenheit quasi auf der Basis von Trinkgeld gebucht werden, ohne Versicherungsschutz der Fahrgäste, ohne Personenbeförderungsschein, Gesundheits zeugnis, bei zu vermutender Steuerverkürzung durch Schwarz arbeit und bei 20 Prozent Vermittlungsgebühr für Uber. <?page no="92"?> Der vergiftete Trunk der Sharing Economy 91 Uber will gleich beide, Taxizentralen wie Taxifahrer „wegrationalisieren“. Das deutsche Finanzamt geht bei diesem Geschäftsmodell vermutlich ziemlich leer aus. Zunächst war es das Startup MyTaxi, das sich vor wenigen Jah ren mit einer App zwischen Taxi zentralen und fahrer drängte und den deutschen Taximarkt verän derte. Gelingt ichnen das, so schaffen sie ein neues Proletariat von Tagelöhnern. In San Francisco ist ihnen das schon fast gelungen: Die lokale Taxivereinigung meldet einen Rückgang der Taxifahrten von mehr al s zwei Dritteln. Ein anderes Beispiel dieser Sharing Econo my werden wir mit oDesk, der Versteigerungsplattform für Online jobs und Dienstleistungen noch vorstellen. Ein weiterer Star der Sharing Economy ist Airbnb, der weltweit privaten Wohnraum vermittelt. Mit 800.000 Unterkunftsangeboten und einer Mio. Übernachtungen pro Monat ist Airbnb ein Touris musriese. Die Provision: drei Prozent vom Vermieter, sechs bis zwölf Prozent vom Mieter. Die mit dem philosophischen Überbau des Teilens hausierenden Startups sind mittlerweile die Lieblinge der Anlage suchenden Investoren. Uber wird mit 17 Mrd. USDollar gehandelt, die Wohnungsbörse Airbnb mit 10 Mrd. USDollar. An ders als die Hotels muss sich Airbnb nicht um Vorschriften wie Brandschutz und Hygiene bei den Vermietern kümmern. Aibnb wirbt damit, dass Privatleute über Airbnb vorübergehend Teile oder ganze Wohnungen an Touristen vermieten, um so ei n Zubrot zu verdienen. Die Berliner Designerin Alice Bodnar hat für den Wrangelkiez in BerlinKreuzberg kartographiert, wie es dort mit dem Verhältnis von Miet und AirbnbAngeboten für Touristen aussieht. Im Dezember 2014 kam auf 100 Airbnb ein einziges Miet angebot. Fachleute schätzen in Berlin die Zahl auf 15.000 Ferien wohnungen, die auf diese Weise dem Mietwohnungsmarkt entzo gen sin d. Die Firma versteuert ihren Gewinn in den USA. Die Tauschwirtschaft a lá Air bnb nützt vor allem denen, die selbst etwas anzubieten haben und besitzen, denn schicke Wohnungen in guten Vierteln bringen natür lich die höchste Rendite. <?page no="93"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 92 Doch was ist der Kern dieser Form der Sharing Economy, was trägt sie zum besseren Verständnis der digitalen Transformation bei und wie soll man dieser Ökonomie begegnen, die sich über beste hende Gesetze und Regelungen hinwegsetzt? Der Ruf liegt nahe, verbieten, zumindest regulieren. Die neuen Konkurrenten fordern dagegen: Deregulieren und neue Gesetze, die Konkurrenz zum Ta xi bzw. Hotelgewerbe zulassen. Denn der Kunde kann durch nied rigere Preise profitieren. Dieser Konflikt ist nicht lösbar, ohne dass eine Partei in die Knie gezwungen wird. Man muss sich entschei den, will man Arbeitsplätze erhalten oder günstigere Preise und möglicherweise auch mehr Komfort für die Verbraucher zulassen? Eine Koexistenz erscheint nicht möglich. Werden dieselben Regeln der Personenbeförderung an Uber gestellt, werden sie ihren Preis vorteil einbüßen, möglicherweise durch die exorbitant hohen Uber Provisionen sogar teurer sein. Es ist der Konflikt, der der Interne tökonomie inhärent ist. Hinzu kommt: Airbnb wie Uber, als exemplarische Vertreter der Sharing Economy, setzen darauf, durch schnelle Ausbreitung neue globale Spinnennetze zu errichten, und zerstören dadurch etablierte Geschäftsmodelle. Sie haben das Potenzial, ganze Branchen umzu pflügen, und vernichten dabei eine Vielzahl zwar nicht blendend bezahlter, aber tradierter Arbeitsplätze im Hotel und Taxigewerbe. Ihr Ziel ist, durch Digitalisierung Monopole zu errichten. Die beiden exemplarisch vorgestellten Apps provozieren die Frage, was vom Sozialstaat durch die digitale Transformation üb rigbleibt? Ohne dass der Rechtstaat schnell Grenzen setzt, werden die Chancen der eher Schwachen zugunsten einiger weniger „Schnelldenker“ neu verteilt, die durch Finanzierung von Invest mentbanken, Google und Amazon neue Spinnennetze weben. Be gleitet von in Deutschland bislang wenig bekannten Werbestrate gien wird das Verbot des Verwaltungsgerichts Frankfurt vom Uber Management als falsch bezeichnet. Deshalb aber sich das Recht zu nehmen, den Spruch zu negieren, ist dreist. Dahinter steckt die Stra tegie, den Medien über Wochen eine Story zu bieten, damit sie so für Uber kostenlose Werbung machen. Für die müsste man sonst Millionenbeträge zahlen. <?page no="94"?> Der vergiftete Trunk der Sharing Economy 93 Das alles sieht der General Manager Westeuropa von Uber Pierre Dimitri GoreCoty selbstverständlich anders. In der FAZ beschreibt er unter der Überschrift „Das UberVerbot ist zu simpel. Deutsch land sollte nicht zurückfallen“ seine Sicht. Der Beitrag zählt einige Argumente auf, die in naher Zukunft in der Auseinandersetzung um Beibehaltung der sozialen Marktwirtschaft und der Etablierung globaler Spinnennetze aufkommen könnten: „Neue Plattformen für gemeinschaftlichen Konsum entstehen als Antwort auf gesellschaftliche Anforderungen, die man nicht igno rieren darf. In Deutschland und weltweit müssen Regierungen da für sorgen, dass ihre Bürger von den Vorteilen dieser auf gemein same Nutzung ausgerichteten Wirtschaft profitieren können. Dieses neue Wirtschaftsmodell bietet den Verbrauchern greifbare Vorteile: bessere Dienstleistungen, mehr Auswahl und niedrigere Preise. Ge setze und Vorschriften sollten die Rechte der Verbraucher schüt zen... <Uber Pop> hilft dabei, die Auslastung der Fahrzeuge, die sowieso auf der Straße unterwegs sind, zu erhöhen, und senkt gleichzeitig die Kosten der Fahrzeughalter ... Von allen verlangt Uber ein Führungszeugnis, Führerschein, Personalausweis und ein viertüriges Auto, das auf den Fahrer zugelassen und nicht älter als zehn Jahre ist ... So wie das Internet Computer miteinander ver bunden hat, so verbindet und bewegt Uber weltweit Menschen mit tels eines virtuellen Transportnetzes“. Sollten sich diese Modelle der Sharing Economy breit durchsetzen, dann würden viele Beschäftigungsverhältnisse in Freizeitangebote mit Zubrotcharakter überführt werden. So könnte der Kern der „neuen“ Arbeitspolitik aussehen: Privatleute werden ihre Produkte und Kompetenzen (Autos, Wohnungen, handwerkliche und kauf männische Fähigkeiten) online anbieten. Das Netz wird zum uni versellen Marktplatz, der die Beteiligten zusammenführt. Wir bieten Amazon eine neue Geschäftsidee an: Warum nicht die Ware via Uber ausliefern? Oder über eine App jedermann auffordern, gegen ein Taschengeld die Ware zuzustellen? Die Einkünfte der Leis tungsanbieter wie der Vermittler können vor der Steuer versteckt <?page no="95"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 94 Es kommen erste Zweifel auf, ob die digitale Trans formation überhaupt mit stabilen Gesellschaften vereinbar ist. werden. Das erhält dann den Stempel „Sachzwänge der digitalen Ökonomie“. Am Beispiel der Sharing Economy wird einer der „Urkonflikte“ der digitalen Transformation erneut sichtbar: Für die Konsumenten wird vieles billiger und bequemer, für eine wachsende Zahl der Beschäftigten geht es um die Existenz. Die urliberale Sichtweise wird argumentieren, das muss der Ma rkt regeln, die konservative dazu neigen, Regulierungen des Ausgleichs für die Benachteiligten zu fordern. Ganz nebenbei entstehen neue Spinnennetze mit sagen haften Börsennotierungen und Profiten für wenige. Dass die Sha ring Economy auch ganz anders gestaltet werden kann, wird das Thema in Abschnitt IV, 2 sein. Entscheidend wird sein, in welchem Ausmaß di e heutige M ittelschicht durch Abrutschen in schlechtbezahlte Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit betroffen sein wird. Denn wie unsere Kanzlerin mit feinem Gespür für Bür gerruhe gern wiederholt: „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Deshalb werden später noch einige volkswirtschaftliche Binsenweisheiten zu erörtern sein, um bei dieser Frage Grund unter die noch wackligen Füße zu bekommen. Auf der Warteliste der Spinnennetze: Banken und Sparkassen Beim Präsidenten des deutschen Sparkassenverbandes Georg Fah renschon läuten die Alarmglocken. Er befürchtet für die etablierten Banken und Sparkassen starke Verluste von Marktanteilen im Zah lungsverkehr. Fahrenschon bestätigt auch den Vorstandsvorsitzen den des SpringerVerlages Martin Döpfner, der in einem FAZ Beitrag bekannt hatte: „Wir haben Angst vor Google! “. Die Kunden kaufen verstärkt Waren im Internet und nutzen da bei Zahlungssysteme wie beispielsweise das der ebayTochter PayPal oder von ClickandBuy, einer TelekomTochter. Eine Reihe mä chtiger Player haben die Chance der Neuverteilung eines Milli <?page no="96"?> Auf der Warteliste der Spinnennetze: Banken und Sparkassen 95 ardenMarktes erkannt, die sich mit der digitalen Transformation auf dem Finanzmarkt eröffnet. Entsprechend tummeln sich auf die ser Bühne neben traditionellen Banken und Sparkassen die Mobil funkanbieter, globale Kreditkartenunternehmen, mächtige Internet konzerne wie Apple, Google, Amazon & Co. sowie spezialisierte Mobile PaymentStartups. Verständlich, dass bei dieser Gemengelage Banken und Sparkas sen fürchten, zerrieben zu werden. Sie wollen Lösungen, die sich unabhängig von Banken und Sparkassen auftun, verhindern. Ihre Vorstellung ist momentan noch die Abwicklung eines Zahlungs vorganges, indem der Kunde seine ECKarte mit NFCChip an ein Lesegerät hält. Der Plan der Telekommunikations und Internet konzerne hingegen ist, die EC und Kreditkarten auf lange Sicht gänzlich überflüssig zu machen. Near Field Communication (NFC) ähnelt der RFIDTechnologie und ist eine drahtlose Kommunikationstechnologie für den Daten austausch. Die Reichweite ist auf maximal zehn Zentimeter be schränkt. Mit dem Nahfunk kann an entsprechend ausgerüsteten KassenTerminals kontaktlos über kompatible Karten oder sogar über ein Smartphone bezahlt werden. Das Smartphone dient dabei als Kartenersatz zur Ausführung der Zahlung. Bankfremde Kon kurrenten wie Internet und Telekommunkationskonzerne drängen mit digitalen Geldbörsen auf NFCBasis in den Markt. Mit Google Wallet oder MyWallet der Deutschen Telekom wird das bargeldlose Bezahlen per Handy möglich. Die App wird auf das Smartphone geladen, der Kunde meldet sich bei dem jeweiligen Dienst an und hinterlegt eine „virtuelle Kreditkarte“ auf dem Smartphone. In diese unübersichtliche Situation, in der es, wie in den 1970er Jahren bei den Videogeräten, um die Festlegung eines einheitlichen Standards geht, platzt im Herbst 2014 Apple mit seinem iPhone 6 und mit seinem Dienst Apple Pay. Die Kultmarke Apple hat offen sichtlich auch auf diesem Markt die Macht, eine „KillerApplikati on“ zu landen und so einen weiteren globalen Markt für sich zu erschließen. Apple Pay funktioniert ohne PIN, mit Daumenabdruck auf dem Homebutton und über NFC. Im ersten Schritt soll Apple <?page no="97"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 96 Pay die Funktion einer elektronischen Geldbörse übernehmen. Ko operationen sind mit den großen Kreditkartenunternehmen ge plant. Die Transaktionskosten hat Apple auf 0,15 Prozent festgelegt. Nur wenige Tage nach dem Start in den USA haben laut Apple eine Million Nutzer ihre Kreditkarten bereits für das System registriert (siehe Abbildung 6). Die deutschen Sparkassen haben sofort ihr allergrößtes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Apple signalisiert. Lassen sich die Sparkassen da mit dem Beelzebub ein? Die zunächst so verlockend klingende Kooperation zwischen Endkunden, Kreditkartenkonzer nen, Banken/ Sparkassen und Apple als „Zwischenhändler“ wird sich wahrscheinlich nicht auf den Zahlungsverkehr beschränken. Sie muss auch nicht in dieser Konstellation stabil bleiben. Spinnen wollen Beute machen, und wenn es nur ein paar Cent pro Transak tion sind. Worauf alle Aktivitäten hinauslaufen werden, ist ziemlich klar: Egal ob My Wallet von der Telekom, PayPal von eBay, Facebook oder Appel Pay, alle wollen die digitale Brieftasche, in der u.a. EC, Kredit und Kundenkarten verschwinden. Facebook hat mittlerwei le in Irland eine EMoneyLicense beantragt, die für den gesamten EURaum Gültigkeit haben wird. „FacebookFreunde“ können sich dann Geld überweisen. Unternehmen, die in Facebook vertreten sind, können ihre Produkte anbieten und die Zahlungen über Face book abwickeln. Internetkonzerne gehen über ihr eigentliches Kerngeschäft hinaus, so bauen sie ihr Spinnennetz aus. Der Zahlungsverkehr ist das Einfallsfallstor für alle anderen Bankgeschäfte. Neue Konkurrenten bieten bereits Dienstleistungen an, so beispielsweise bei der Kreditvergabe die OnlineAnbieter Lendico und Auxmoney. Wagniskapital lässt sich über Kickstarter oder Seedmatch beschaffen. PeertoPeerPlattformen vermitteln Kredite zwischen Privaten. Auch die Bündelung von vielen kleinen Kreditgebern wird bereits vorgenommen. Investmentbanken könn ten ebenfalls mit ihren Emissionsgeschäften nicht ungeschoren da von kommen, wenn Plattformen Aktien und Anleihen für Investo <?page no="98"?> Auf der Warteliste der Spinnennetze: Banken und Sparkassen 97 Die Angst der Banken und Sparkassen um ihr Geschäft ist berechtigt. ren anbieten. Die Gesamtabwicklung ist für automatisierte Systeme kein Problem. Abbildung 6 / Entwicklung der Bezahlsysteme Abbildung 6 zeigt beispielhaft den verwirrenden Technikentwick lungs und nutzungspfad, neuer Bezahlsysteme im stationären Ein zelhandel. Welches System sich durchsetzen wird, ist noch unklar, obwohl der Einstieg von Apple mit Apple Pay eine Richtungsent scheidung ist und langfristig ein neues Spinnennetz kreieren könnte. Die Rochaden der Player spielen sich weitgehend unsichtbar von der Öffentlichkeit ab. Sichtbar ist, dass immer mehr Sparkassen und BankFilialen schließen. Die Kunden nutzen Geldautomaten und Kreditkarten oder gehen ins Internet. Zudem haben Anlagebe rater durch die Finanzkrise mächtig an Kredit verloren. Viele Bank kunden informieren sich heute lieber im Internet. Die neuen Anbieter verfügen im Gegensatz zu den traditionel len Banken oftmals über einen großen Datenpool. Banken und Sparkassen sind zuweilen noch nicht einmal im Besitz der Mailadresse ihrer Kunden. Mit dem vor handenen Datenschatz können die neuen Anbieter schnell das Kon sumverhalten ihrer Kunden recherchieren, sie ansprechen, neue Konsumwünsche generieren und Kredit und Bonusangebote ma chen. Bei Banken und Sparkassen steht das Umpflügen einer Branche mit dem Verlust vieler Arbeitsplätze an, die bislang zur Mittel <?page no="99"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 98 schicht zu zählen sind. Das wird vermutlich nicht von heute auf morgen passieren. Wahrscheinlich muss die interaffine Generation erst durchwachsen. Noch ist der Barzahlungsanteil in Deutschland hoch (82 Prozent), anders als in den USA mit 46 Prozent. Der Kampf um den oder die Sieger bei der Etablierung globaler Spinnennetze in der Finanzbranche ist im vollen Gange. Startups tauchen auf und umkreisen wie Begleitboote die PlayerGeschwader. Besonders agile werden an Bord genommen. Sie übernehmen dann die Kärr nerarbeit. Erwähnt sei noch eine „Nebenfolge“: Eine bargeldlose Volks wirtschaft könnte (ihren Vertretern zufolge) vermeintlich die Schat tenwirtschaft ebenso wie kriminelle Zahlungen trockenlegen. Jeder Zahlungsstrom wird transparent und kann bis in einzelne Veräste lungen nachverfolgt werden. Vermeintlich deshalb, weil auch in bargeldlosen Gesellschaften wird es noch Edelmetalle und den Tauschhandel geben. Die Kehrseite ist, dass Barzahlung Anonymi tät garantiert. Ein totales bargeldloses Zahlungssystem würde ein brisantes privates Feld offenlegen und den Datenschutz weiter aus höhlen. Appsichern mit „Versicherungentogo“ Zur Versicherungsbranche: Versicherungen in Deutschland verkaufen ihre Versicherungspolicen heute überwiegend über ein enges Ver treternetz. Beispielsweise hat die Allianz fast 9.000 Vertreter. Mitt lerweile haben sich digitale Vergleichsportale etabliert, die Interes senten einen schnellen Marktüberblick über Kosten und Konditio nen anbieten. Ganz im Sinne des Homo oeconomicus. Schließt der Kunde über ein Portal einen Vertrag ab, so erhält der Portalbetreiber von der Versicherung eine Provision. Die Versicherungen versuchen den Anschluss an die Digitalisie rung nicht ganz zu verpassen. Eine etwas späte Reaktion auf Ver gleichsportale wie Check 24, nachdem sich diese zwischen Versi cherungskonzerne und Kunden geschoben haben und beträchtliche Provisionszahlungen fordern. Immer mehr Versicherungen bieten <?page no="100"?> Ein Spinnennetz für Hotelbetten 99 jetzt kurzfristige MiniVersicherungen an, die über das Smartphone spontan abgeschlossen werden können, sozusagen „Versicherun gentogo“. So bietet beispielsweise die Allianz eine ReiseApp an. Der Tourist kann sich für 90 Cent gegen Krankheit und Unfall bei einer Höchstdauer von 30 Tagen versichern. Die Plattform App sichern hat sieben Versicherungen in ihrem Portefeuille. Man darf gespannt sein, ob Google & Co. hier über kurz oder lang ein ertragreiches Geschäft für sich sehen. Sie könnten aufgrund ihrer Daten, die keine Versicherung in diesem Ausmaß hat, auf sehr individuelle Bedürfnisse und Krankheiten der potenziellen Versi cherungsnehmer eingehen. Sie könnten ihnen angepasste Angebote machen bzw. die Finger von bestimmten Menschen lassen. Versi cherungen wissen zwar auch über Einkommen und Krankheiten Bescheid, dürfen diese aber aus datenschutzrechtlichen Gründen, anders als Google & Co., nicht nutzen. So baut der Gesetzgeber durch Ungleichbehandlung möglicherweise mit an Spinnennetzen. In Großbritannien bietet Google bereits Versicherungspolicen an. Sie vermitteln private Kranken und Lebensversicherungen und setzen dabei auch auf die Telefonberatung. Ein Spinnennetz für Hotelbetten Schließlich zum Geschäft der Reiseagenturen und Hotelreservierungs systeme: Zurzeit beherrschen booking.com und expedia.com den Markt der OnlineReservierungen. Bei den Hotelbuchungsportalen liegt in Deutschland das HRSPortal mit 250.000 Hotels in 190 Län dern und 80 Mio. Kunden im Jahr vorn. Zusammen mit dem assozi ierten hotel.de ergibt sich eine Marktmacht von mehr als 50 Prozent, so Timo Kotowski. Während booking.com mit Urlaubsreisen wirbt, konzentriert sich HRS auf Städte und Geschäftsreisen. An HRS lassen sich Aufbau und Macht von branchenspezifi schen Spinnennetzen beschreiben und ihre Zukunft mit aller Vor sicht prognostizieren. HRS war zunächst lediglich ein neues Ge schäftsmodell. Man begann bereits 1989 mit BildschirmtextAnge boten. Nach und nach verleibte sich HRS Wettbewerber wie das <?page no="101"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 100 Portal HolidayInsider ein. Aus einem Geschäftsmodell wurde eine erfolgreiche digitale branchenspezifische Plattform. Bald wurde HRS sich der ökonomischen Macht gegenüber ihrer Klientel be wusst, die aus verstreuten und kleinen mittelständischen Betrieben bestand, und man spielte sie aus. Den Hotels wurde die Verpflich tung auferlegt, nirgendwo sonst ihre Zimmer günstiger anzubieten. Diese BestpreisKlausel wurde mittlerweile vom Bundeskartellamt gekippt. Die Vermittlungsprovision konnte aufgrund der überra genden Marktposition von 13 auf 15 Prozent heraufgesetzt werden. Verallgemeinerungsfähig über diesen einzelnen Branchenfall hinaus ist: Die digitale Transformation bietet für diejenigen, die früh und schnell dabei sind, die Chance der Marktbeherrschung einer Branche, indem sie sich als digitaler Zwischenhändler zwischen Konsumenten und vielen verstreuten Kleinbetrieben schalten. Dazu ist es nicht notwendig, Eigentum an den Betrieben zu erwerben. Weshalb allerdings, so fragt man sich, sind die Klein und Mittelbe triebe nicht selber darauf gekommen, sich rechtzeitig beispielsweise über ihre Verbände in Form einer Genossenschaft zu organisieren? Der Hamburger Hotelier Eugen Block will die Abhängigkeit von den großen Buchungsportalen wie HRS nicht akzeptieren. Er fordert die Portale in seinem „WakeupCall“ auf, „partnerschaftliche Provi sionen“ von den Hoteliers zu verlangen. Solange diese nicht um gesetzt sind, erhalten alle Direktbucher in seinem Hotel den besten Preis ohne PortalAufschlag. Der Fall ist spannend, weil erstmals ein David gegen einen schnell gewachsenen Goliath antritt, der mittler weile in der Hotelbranche ein Spinnennetz weben konnte. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende erzählt. Wer gewinnt den Wettbewerb zwischen booking.com und HRS? Booking wächst schneller und ist internationaler. Und welche Rolle übernimmt Google in dieser Branche? Die Mehrzahl der Hotelsuchenden in formiert sich vermutlich auch heute schon zuerst über Google. Googles „Tatwaffe“ ist in diesem Fall der HotelFinder. Der Vor wurf der Branche: Google stelle den HotelFinder wesentlich pro minenter dar als die Angebote der Konkurrenz, was nur durch Werbeaufwand, der wiederum in Googles Kasse fließt, auszuglei <?page no="102"?> Das „Wesentliche“ der digitalen Ökonomie 101 chen ist. Das läuft auf den Kampf von Spinnen hinaus: die Bran chenvertreter HRS und booking.com, die in der Vergangenheit so manche kleine Plattform eingesammelt haben, gegen die universelle Spinne Google, die über eine „Feinabstimmung“ seiner Algorith men seine Dienste nach vorn stellen und die der Konkurrenz im Orkus des Internets verschwinden lassen kann. Bekanntlich enden Kämpfe von Spinnen, die sich ins Gehege kommen, tödlich. Un wahrscheinlich, dass das für Google gilt. Vielleicht wird Google seine Kriegskasse öffnen und die Konkurrenten übernehmen. Das „Wesentliche“ der digitalen Ökonomie Die Internetkonzerne haben alle einmal mit einer überzeugenden Geschäftsidee begonnen und konnten daraus ein erfolgreiches Ge schäftsmodell kreieren. So Google mit seiner Suchmaschine, Face book mit seinem Sozialen Netzwerk, Apple mit seinem technischem Equipement iPod, iPad und iPhone und daran angepassten Soft wareanwendungen oder Amazon mit dem OnlineBuchversand. Mit einem funktionierenden Geschäftsmodell wurde eine weltweite Infrastruktur etabliert. Mit viel Kreativität und Mut zum Risiko ge lang es, über das ursprüngliche Geschäftsmodell hinaus, mit neuen Produkten und Dienstleistungen nach und nach in zahlreiche Bran chen und gewachsene ökonomische Strukturen einzudringen und diese durch digitale Angebote zu beherrschen. Ökonomisch kam ihnen aufgrund ihrer globalen Präsenz eine internationale Steuerge setzgebung entgegen, die ihnen das Privileg von legalen Steuer flüchtlingen einräumte. Nationale Konkurrenten können bis heute bei solchen Wettbewerbsnachteilen kaum mithalten. Klein und mittlere Produzenten und der Zwischenhandel verlieren ihre Über lebensfähigkeit. Die Imperien haben freies Feld. Was ist der Kern der „neuen“ Ökonomie? Die kurze Antwort mit Adorno lautet, das Internet mit Google, Amazon, Facebook & Co. ist zum „Wesentlichen der Gesellschaft“ geworden. Das Internet schafft weltweit eine Infrastruktur, die alle Bereiche der Ökonomie und Lebenswelt durchdringt. Wer in der Lage ist, die Informations <?page no="103"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 102 flüsse zu steuern und zu kontrollieren, wird zu den Infrastruktur unternehmen der Datenwelt gehören, die die Herrschaft über die Informationsökonomie beanspruchen und Einfluss auf die Entwick lung von Ökonomie, Wissen und Kultur nehmen können. Durch das Smartphone - 2013 wurden in Deutschland 22 Mio. verkauft - und die damit verbundene System und Internettechno logie können eine Vielzahl von Dingen dematerialisiert werden, mit der Folge, dass ganze Industrie und Dienstleistungsbranchen in ihrer bisherigen Form wenn nicht überflüssig so doch umgepflügt und in Mitleidenschaft gezogen werden. Drastisch ausgedrückt: Nur noch Liebhaber oder die Generation der über 60Jährigen nut zen Schallplatten, Tonbänder, Diktiergeräte, Telefonbücher, Kalen der, Hobbycameras, Landkarten, Reiseund Restaurantführer etc. Sie sind in Smartphones, in Tablets und Clouds verschwunden. Auch die Anbieter von Zeitungen und Büchern fürchten mit ihrem Verfallsdatum rechnen zu müssen. Die Masse der Nutzer bedient sich heute nicht mehr, wie Frank Schirrmacher schrieb, der alten händischen Produkte, sondern nutzt die Angebote des Smartphones mit den Apps als Arbeitsbienen. Andere Produkte des digitalen Zeitalters, die bislang ein selbst ständiges „Leben“ führten, wie etwa nicht internetfähige Handys, Navigationssysteme, MP3Player und Spielekonsolen wie der Game boy, wurden durch das Smartphone kannibalisiert. Der Absatz von digitalen Kameras ging um ein Drittel, derjenige der MP3Player um zwei Drittel zurück. Hier wird bereits deutlich, weshalb Apple, Google & Co. durch Textwerbung, Dematerialisierung und darauf aufbauenden monetarisierbaren Apps von dreißig Prozent zu be herrschenden Infrastrukturunternehmen der neuen Ökonomie wer den konnten. Bislang wurde vermutlich erst ein Bruchteil der Möglichkeiten ausgeschöpft. Gänzlich neue Dienstleistungen warten noch auf ihre Entdeckung. Aber weshalb konnte das Beutemachen bei Google, Facebook, Apple und Amazon in diesem gigantischen Ausmaß und in diesem Tempo funktionieren? Der „genetische Kern“ der digita len Transformation, Analoges durch Digitales zu ersetzen, wurde <?page no="104"?> Das „Wesentliche“ der digitalen Ökonomie 103 zur ökonomischen Macht von Google & Co., weil sie die Welt der digitalen Transformation als erste verstanden und mit einer attrak tiven, innovativen Geschäftsidee umsetzten. Sie dominierten schnell mit ihren Innovationen eine digitale Plattform, die sowohl Spezial anbieter, Startups wie Nutzer frühzeitig an sich binden konnte. Allianzen und Zukäufe rundeten die Strategie ab. Die Geschäftsideen der kalifornischen Internetgiganten zielten al le auf die Kommunikations, Informations und Unterhaltungs bedürfnisse der Kunden. Zusammen decken sie heute schon be trächtliche Teile der Ökonomie und Lebenswelt ab. Anders als App le, Facebook, Google und Microsoft hat Amazon zu Anfang keinen neuen Markt erfunden. Amazon verkaufte ursprünglich „nur“ ge druckte Bücher, später Waren online und schließlich kam der neue Markt der EBooks hinzu. Apple entwickelte mit dem iPad, iPod, den Apps und dem Smartphone neue, die Ökonomie und Gesell schaft verändernde Technologien; Google und Facebook brachten mit der Suchmaschine bzw. dem Sozialen Netzwerk Software auf den Markt, die weltweit gänzlich neue Dienstleitungen der Recher che bzw. neue Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation eröffneten. Alle Internetkonzerne setzten erfolgreich auf die Strategie, pas sende Dienste und Produkte um ihre Ursprungsidee herum zu entwickeln oder zuzukaufen: Apple mit Tablets, Smartphones, iOS Betriebssystem und Appstore; Amazon u.a. mit seinem Kindle Fire; Google u.a. mit dem AndroidBetriebssystem und Kartendiensten; Facebook u.a. mit dem Foto und VideoSharingDienst Instagram und dem Messenger WhatsApp. Das schafft Kundenbindung. Die Kundschaft tut sich schwer, auf neu auf den Markt kommende Marken und ihre Geschäftsmodelle umzusteuern. Lieber bleibt man abhängig. Dies gelingt Google mit dem mobilen Betriebssystem Android und Apple mit iOS. Viele Kunden zahlen beim iPhone Kauf von Apple nicht den tatsächlichen Preis, sondern mit den Ge bühren ihres Mobilfunkvertrages, ein perfekter LockinEffekt. Das Motto heißt: Alles muss in der Familie bleiben. <?page no="105"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 104 Das Wesen von digitalen Spinnennetzen In der „alten“ Ökonomie geht es darum, Märkte zu durchdringen und, was Gottseidank durch staatliche Regulierungen selten ge lingt, sie zu beherrschen. Die Unternehmen müssen sich aber im mer, auch dank staatlicher Aufsicht, auf umkämpften Märkten dem Wettbewerb stellen. So soll Dominanz verhindert werden. In einer von Spinnennetzen geprägten Ökonomie schaffen Inter netkonzerne durch digitale Innovationen neue Märkte in der Ab sicht, diese allein und ausschließlich zu beherrschen. Gleichzeitig geht es um Beutemachen in der „alten“ Ökonomie. In Spinnennet zen gelingt es den Monopolen zumeist erfolgreich, Wettbewerb auszuschließen. Nutzern soll ein Wechsel so schwer wie möglich gemacht werden. Die Herrscher der Spinnennetze spielen nicht MenschärgereDichnicht, sondern eher Monopoly, um von der Schlossstraße aus die ganze Stadt, besser die Welt abzuräumen. Was aber sind die Faktoren, die den Pfad zu Spinnennetzen offen sichtlich möglich machen und warum ist es im Zuge der digitalen Transformation offenbar so leicht, frühkapitalistische Verhältnisse zum Leben zu erwecken? a In der digitalen Welt bekommt der Sieger häufig alles, auch wenn die Konkurrenten nicht schlechter sind (siehe u.a. Facebook ver sus MySpace oder StudiVZ). Digitale Produkte können praktisch millionenfach ohne zusätzlichen Kostenaufwand repliziert wer den. Rifkin nennt dies die NullGrenzkostenGesellschaft. Taleb nennt diese Produkte „skalierbar“: Ein Auto muss gebaut werden, um verkauft zu werden. Soll nun ein weiteres Auto verkauft wer den, so ist ein weiteres Auto zu bauen. Bei Software ist das an ders, einmal gebaut, xmal verkauft. Dies gilt auch für Musiker und ihre Lieder, Filmproduzenten und ihre DVDs, Autoren und ihre Bücher, Banken und ihre Finanzprodukte etc. a Sieger ist der Anbieter, der mit seinem Produkt früh am Markt ist, weitere attraktive Angebote „drumrum“ entwickeln kann und Startups zu gewinnen vermag. Natürlich muss er auch in der La ge sein, sich mit großem Marketingaufwand Gehör zu verschaf <?page no="106"?> Das Wesen von digitalen Spinnennetzen 105 fen. Die Nutzerseite leistet ebenfalls ihren Beitrag. Die potenziel len Nutzer orientieren sich an Entscheidungen und Aufenthalten ihrer Freunde und schrecken davor zurück, eine einmal eingegan gene „Familienbindung“ mit dem Anbieter zu lösen. a Spinnennetze binden gleich mehrere Gruppen: die Nutzer, die Werbekunden, die Startups, die den Monopolisten mit Innovati onen umschwirren, sowie zunehmend auch assozierte Unter nehmen der „alten“ Ökonomie. Zahlen müssen lediglich die An zeigenkunden, für die Nutzer ist alles „just for free“. a Durch stillschweigende Übereinkunft können die Nutzer auf eine Vielzahl von Informationen und Daten im Netz kostenlos zugrei fen. Im Gegengeschäft nehmen die Internetkonzerne das Recht für sich in Anspruch, die privaten Daten für ihre Zwecke auswer ten und manipulieren zu können. Mit dem Unterbinden dieser Wechselwirkung durch eine Bezahlschranke würde das Ge schäftsmodell der meisten Konzerne nur noch sehr eingeschränkt funktionieren. Genauso verhält es sich, wenn die Internetkonzer ne die Daten der Nutzer nicht mehr kostenlos nutzen könnten. a Die Herrscher erhalten durch ihre Plattformen laufend Nutzerda ten, die sie in der Cloud vorhalten, aus denen sich neue digitale Geschäftsmodelle auch für die „alte“ Ökonomie generieren las sen. Wer den größten Datenpool hat und ausgefeilte Algorithmen besitzt, verfügt über die besten Chancen, neue Geschäftsmodelle und Märkte zu generieren. Diese Ressource hat die analoge Öko nomie nur sehr eingeschränkt, z.B. über Kundenkarten. Aus die sen Datenmassen lassen sich neue Geschäftsmodelle und Produk te generieren, die für die Nutzer über Apps mit einem Höchstmaß an Bequemlichkeit abrufbar sind. Die „alten“ Branchen können dann mit der angesammelten Macht überrollt werden. a In vielen Fällen scheint es so zu sein, dass keine technologischen Innovationen auf den Markt gebracht werden, wie sie für Google und Apple typisch sind. Es geht vielmehr darum, auf vorhandene Netztechnologien neoliberale Geschäftsmodelle zu setzen, also möglichst frei von bestehenden und neuen Regulierungen. Der Fokus liegt dabei auf der Identifizierung von Effizienz und Regu <?page no="107"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 106 lierungslücken. Bei näherem Hinschauen entpuppen sich diese Lücken oft als Umgehung oder Aushebeln von Regelungen, Ar beitnehmerSchutzrechten oder Versicherungspflichten. Ein Bei spiel ist der Privattaxivermittler Uber. „Der Schlachtruf“ ist, so Constanze Kurz: Zerstörung von gesellschaftlichen Regelungen, die oft in langwierigen demokratischen Prozessen errungen wur den. a Die Inhalte vieler Dienstleistungen in Spinnennetzen ändern sich durch Digitalisierung in den meisten Fällen nicht. Die Vermitt lung erfolgt jetzt „lediglich“ über eine Internetplattform. Zusam men mit Smartphones, Tablets und Apps ist es genau das, was dem Nutzer einen nie dagewesenen Komfort schenkt. Er ist über sein Gerät mit allen Konsum, Informations und Unterhaltungs zonen verbunden. Das schafft ein hohes Maß an Bequemlichkeit und Informationsmöglichkeiten. a Durch das Netz hat die internetaffine Generation wie keine Gene ration vor ihr die Chance, als Freelancer oder durch Aufbau von Startups eigenverantwortlich eine Existenz zu begründen und sich so zu verwirklichen. Sie hat damit auch die Aussicht in den meisten Fällen die Illusion hohe Gewinne bei Übernahme durch einen Monopolisten oder Investor zu erzielen. Sollte das Vorha ben nicht über den Status der „Kümmerexistenz“ hinauskommen, so könnte auch das zum Vorteil des Monopolisten sein, der so auf ein Reservoir an Kreativität und Innovationen begabter junger Leute zugreifen kann. a Um schnell und früh am Markt zu sein, braucht z.B. ein Startup viel Geld. Deshalb muss es sich an einen Investmentkapitalgeber binden. Dieser will für sein Risiko eine ordentliche Rendite sehen. Die Ideengeber und Entwickler verlieren so in der Regel genauso schnell ihre Unabhängigkeit. a Spinnennetze schotten sich ab, um Nutzern den Wechsel so un bequem wie möglich zu machen. Dazu nutzen sie spezifische Be triebssysteme, Apps und Hard und SoftwareProdukte. Die Auf lösung der „Familienbindung“ soll für den Nutzer ähnlich schwierig sein wie das Entkommen der Beute aus dem Spinnen <?page no="108"?> Das Wesen von digitalen Spinnennetzen 107 netz. Das Smartphone ist eben kein Handy mehr, sondern der Partner, der Eintritt in die Familie verschafft und den Austritt be hindern soll. Beispielhaft steht dafür Apple mit der Metapher Continuity. Es geht dabei um die Verzahnung der mobilen Geräte Macbook und iPhone und die dort abgelegten Dokumente und Software: „Die Botschaft an die Kunden ist klar: Entscheide dich für das Betriebssystem deines Lebens“, so Marcus Rohwetter in der Wochenzeitung DIE ZEIT. a Monopole wie Google & Co. verwalten hohe Profite, die ihnen ohne Aufnahme von Fremdkapital erlauben, jederzeit Zukäufe zu tätigen und Eigenentwicklungen vorzunehmen. Ihr Börsenwert ist so hoch, dass sie durch Ausgabe kleiner Aktienanteile sehr viel Kapital einsammeln können. Allianzen mit interessanten Playern werden gesucht, um in die „alte“ Ökonomie vorzudringen und Beutefänge auszuloten. Unternehmen der „alten“ Ökonomie su chen die Kooperation, weil sie in der Regel keine Erfahrungen mit der digitalen Ökonomie haben und sich so ohne Anlaufverluste einen schnellen Einstieg in eine, für sie fremde Welt versprechen. Eine riskante Strategie! Spinnennetze können offensichtlich nur dann entstehen, wenn zu Beginn, neben einer attraktiven Idee, kapitalkräftige, risikofreudige Investoren bereit sind, hohe Anfangskosten zu stemmen. Die weite ren Kosten pro Nutzer sind in der Regel durch Replizierung des Produktes gering. Für weitere Einsteiger wäre es zu riskant, die hohen Entwicklungskosten erneut in dieselbe Idee zu investieren. Es ist der typische Stoff, aus dem sich Monopolbildung entwickeln kann. Die so gewonnene Macht legt es nahe, weitere Innovationen um dieses Produkt herum zu schaffen und angrenzende Märkte zu besetzen. Die Herrschaft der Monopole verstärkt sich sowohl durch ihre gewonnene Kapitalmacht wie durch ihren Datenschatz, den sie durch ihre vielfältigen Aktivitäten wie durch ihre bereits etablierten Plattformen und die dort angesammelten Datenmassen in der Cloud vorhalten. Die den Nutzern angebotenen kostenlosen Diens te, füllen in Wechselwirkung den Datenschatz der Internetkonzerne. <?page no="109"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 108 Sie sitzen heute auf einem Schatz gewaltigen Ausmaßes, den sie gut hüten, da sich daraus permanent neue digitale Konsum und Inno vationswelten generieren lassen. Auch Startups und Spezialanbieter sind Teil des Beuteplans, sie sind für Internetkonzerne überlebenswichtig. Sie sorgen für einen permanenten Zufluss an Kreativität und Innovationen. Neue Spezi alanbieter und qualifiziertes Personal können jederzeit aus dem schier unendlichen Fundus der Startups geschöpft werden. Sofern ein Anbieter hoch innovativ ist, wird der Internetkonzern ein gut dotiertes Übernahmeangebot machen, auch dann, wenn er damit nur bezweckt, ein anderes Spinnennetz um eine Chance zu bringen. Mit der Einverleibung können neue Geschäftsmodelle angeboten und das Imperium ausgebaut werden. Allianzen mit interessanten Playern (Stichwort Automotive) werden jederzeit eingegangen oder auch wieder verworfen. Beispiele führen Facebook, Google, Ama zon und Apple fast wöchentlich vor. Selbstverständlich erweitern sie ihr Portfolio auch durch Eigenentwicklungen. Der Forschungs etat von Google beträgt immerhin acht Milliarden USDollar. Junge Akteure, die innovative Idee haben, werden durch finanzielle Betei ligung und durch Gründung und Bindung an sogenannte Inkuba toren bzw. Acceleratoren gewonnen. Hier sollen sie eine Zeitlang frei werkeln können. Aus dieser Bündelung, zusammen mit dem Geburtsfehler des „IchgebeeuchmeineDatenundallesistfürmichumsonst“ für Nut zer, konnten die Internetkonzerne Google, Amazon, Facebook, App le & Co. ihre Dominanz entwickeln. Neue Geschäftsmodelle, Pro dukte und spezielle Plattformen, die für die Nutzer über Apps mit einem Höchstmaß an Bequemlichkeit und Komfort abrufbar sind, überrollen alte Branchen, um immer größere Teile der globalen Sys tem und Lebenswelt zu dominieren. Die Tragödien dagegen spielen sich aktuell in der „alten“ Öko nomie ab. Das Management dort weiß mittlerweile sehr genau, dass Google & Co. mit der digitalen PlattformÖkonomie die „alte“ Öko nomie mit großer Geschwindigkeit „ummodeln“ und die Struktu <?page no="110"?> Das Wesen von digitalen Spinnennetzen 109 ren und Konditionen zahlreicher Bereiche bestimmen werden. Sie sehen, dass ihr Businessmodell nicht mehr trägt. Der unschlagbare Vorteil von Google & Co., wir haben dies im mer wieder in den Vordergrund gerückt, liegt im Wissen über Ver halten der Bürger und Unternehmen, gespeichert in der Cloud, und jederzeit nutzbar, um neue Ideen und Kombinationen entwickeln können. Sie sind im Besitz der Infrastruktur des für den Homo oeconomicus digitalis wie für die Geheimdienste relevanten Bür gerwissens. Hier zeichnet sich die Beherrschung von Märkten ab, eigentlich ein Fall für die Monopolkommission, um einen Prüfvorgang einzu leiten. Diese sieht zwar in ihrem Hauptgutachten 2014, dass sich der Wettbewerb auf einem Markt zu einem Wettbewerb um einen Markt wandelt. Im besten Juristendeutsch legt sie ihre Verantwortung zum Eingreifen dann erst einmal auf Wiedervorlage: Denn sie hält die Netzwerkeffekte und Synergien der Internetkonzerne für un verstanden, die wie „Hebeleffekte die Übertragung der Marktposi tion von einem beherrschten Markt auf andere beherrschte Märkte“ erlauben. Die Monopolkommission verneint die Frage, ob Suchan bieter Monopole erringen könnten, genauso wie die Gefahr, dass natürliche Monopole in digitalen Märkten schlummern! Speziell der Vorsitzende der Monopolkommission Daniel Zimmer hat sich da eine etwas eigentümliche Meinung zurechtgelegt: Er meint, dass viele digitale Unternehmen eine Tendenz zum Monopol haben. Das sei aber doch eigentlich gar nicht so schlecht, denn solange Mono polrenditen winken würden, würde das doch Erfindergeist und Innovationen kräftig pushen. Zum Wesen der „neuen“ Ökonomie zählt neben der angespro chenen Steuervermeidungsakrobatik die massive Ausweitung der Spaltung in der Arbeitspolitik. So lässt Apple, wie andere Internet konzerne auch, seine Geräte in Südostasien zu Billigstlöhnen bauen und nutzt damit das weltweite Armutsgefälle. Das Verkaufsperso nal in Europa wird in großen Teilen mäßig bezahlt, bei eher schwa cher sozialer Absicherung. <?page no="111"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 110 Den Gegenpart in der sozialen Spaltung bilden die Shareholder, das Management, die Kreativen und Softwareentwickler. Der Kreis der knappen, jungen Kreativen und hochqualifizierten Nerds wird bei Google & Co. gepäppelt. Für sie wird eine Arbeitslandschaft, so Niklas Maak, nach dem Leitbild des „Corporate Kindergarden“ mit Skateboardpisten und Computerspielecken bereitgestellt, was Face book mit seinen Plänen bei ihrem neuem Domizil Menlo Park vor hat, entworfen vom Stararchitekten Frank O. Gehry. Die Entwickler und Smart creatives im Silicon Valley sollen ihre Arbeit in ihre Hobbys integrieren, um die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit aufzuheben. Bemerkenswert, dass die weltbekannten Architekten sich jetzt bei ihren Entwürfen von den Hobbys leiten lassen, die vor allem die pubertierende Jungenswelt anspricht. So ganz neu ist das nicht. Schon Google hat mit seinem „Googleplex“ gezeigt, welche idealen Arbeitsbedingungen geschaffen werden, um die meist junge „Elite“ kreativer Entwickler anzulocken. Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit und Hobby soll nicht mehr existieren. „(Alb)traumhafte“ Wechselwirkungen erlauben Big Data Der polnische Autor Zygmunt Baumann meint, die Bürger müssen mittlerweile das Smartphone nutzen, „um sich selbst in gebrauchs fähigem Zustand zu erhalten und ihren störungsfreien Betrieb zu gewährleisten“. Das sind paradiesische Zustände für Google, Ama zon & Co. Sie haben es geschafft, die Nutzer mit Smartphones und Apps zu locken, die Bequemlichkeits und Komfortansprüche mit einem Ent deckergeist verknüpfen, der durch permanent fließende technische Innovationen befriedigt wird. Viele hecheln geradezu nach allen neu aufkommenden Innovationen. Verwundert sehen wir die Fotos von der „Nachtwache“ Hunderter vor den AppleNiederlassungen, wenn ein neues iPhone in den Handel kommt. Die Dienste und Tools von Facebook, Google, Amazon und Apple bieten nicht nur attraktiven Nutzen, sondern schaffen offensichtlich ein suchtähn liches Verhalten. <?page no="112"?> „(Alb)traumhafte“ Wechselwirkungen erlauben Big Data 111 Tatsächlich geben wir dafür unsere privaten Daten preis, mit ei ner zukünftig nicht mehr kontrollierbaren Einflussnahme auf unser Verhalten. Oder wie der SiemensChef Jo Kaeser es ausdrückt: „Wenn etwas for free ist, dann ist man nicht der Profiteur, sondern das Produkt“. Diese Mahnungen dringen nicht durch gegen das elementare menschliche Bedürfnis nach unbeschränkter Kommuni kation und schneller Information. Dies geschieht bei einer enormen Befriedigung der Bequemlichkeit, mit der Facebook mit seinem Sozi alen Netzwerk, die Apps von Apples Smartphone, die schnellen Suchergebnisse von Google oder die unkomplizierte Bestellung bei Amazon locken. Vieles spricht dafür, dass sich diese Wechselwir kungen der Nutzer mit den InternetGiganten beschleunigen wer den. Das sind gute Voraussetzungen sowohl für den Aufbau von Spinnennetzen wie für schnelle technische Innovationen. Spinnen netze werden zu Herrschern über die Infrastruktur des für den Homo oeconomicus wie für die Geheimdienste relevanten Bürger wissens. Oder wie Wolfgang Streeck das in der FAZ formuliert hat: „Big Data sieht den einzelnen als Risiko: einmal als Kunden, der falsch, also zu wenig, konsumieren könnte, oder aber als Gefährder der imperialen Sicherheit“. In seinem Buch Ego schreibt Frank Schirrmacher, dass vier In stanzen unsere Daten haben wollen: 1. Der Konsumbereich will Wissen über unser Kaufverhalten be kommen, um uns lenken und noch mehr verkaufen zu können. 2. Im Produktionsbereich geht es darum, Wissen über unser Wissen zu erlangen, um uns in unserer Arbeit ersetzen zu können. 3. Für den staatlichen Bereich sind unsere Daten interessant, um sie bei Bedarf u.a. für polizeiliche Fahndungszwecke auswerten zu können. 4. Der wissenschaftliche Bereich, z.B. die Medizin, erhofft sich neue Erkenntnisse durch verbesserte empirische Forschungsmöglich keiten. Algorithmen durchstöbern die Datenmassen, die jeden Tag aufs Neue durch unseren Griff in die Hosentasche, wo das Smartphone sitzt, generiert werden und durch die kalifornischen „Taschendie <?page no="113"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 112 Der Vorläufer, das DataMining, wollte nur die Nadel im „DatenHeuhaufen“ finden. be“ abgegriffen werden. Aus der Perspektive der Internetkonzerne „kippen ihnen die Nutzer die Daten vor die Tür“. Mit mathema tischstatistischen Verfahren werden aus Milliarden Informations splittern Muster identifiziert, die dem Nutzer, um seine Vorlieben verdichtet, über das Smartphone zurückgespielt werden. Aus den Datenmassen können aber auch Prognosen für Dienstleistungen, neue Geschäftsmodelle und neue Produkte sowie wissenschaftliche Erkenntnisse generiert werden. Die mit der Metapher Big Data belegte Strategie ist offensichtlich ambivalent. Sie ist sowohl eine kommerzielle Goldader, kann aber auch die wissenschaftliche Forschung erheblich voranbringen. Der Begriff Big Data bezeichnet Datenmengen, die zu groß und/ oder zu komplex, und/ oder sich zu schnell ändern, um mit herkömmlichen Datenverarbeitungssystemen effektiv gespeichert und verarbeitet werden zu können. Entwicklungen wie die In MemoryTechnologien, neue DatenbankenManagementSysteme und neue Algorithmen schufen erst die Grundlage für InTime Analysen von gigantischen Datenmengen. Die meisten Top Technologien stammen aus dem Hause Google (bspw. Hadoop, MapReduce, Google BigTable, GoogleFS etc.) oder sind in Koopera tion mit Google entstanden. Auch Amazon und Facebook sind hier aktiv, da auch sie zu den großen Akteuren im Internet gehören, die gigantische Datenmengen auswerten wollen. Es mussten neue Technologien her, damit Google & Co. ihre Ziele erfüllen konnten. Nach Einschätzung des Hamburger Informatikprofessors Han nes Federrath konnte sich Big Data zu diesem heute so mächtigen Instrument aufgrund von Sprüngen auf drei informationstechni schen Feldern entwickeln: der enorm beschleunigten Verarbeitung von Daten, der gewaltig gewachsenen Speicherungsvolumen für Daten und weil heute nicht nur strukturierte, sondern auch un strukturierte Daten, also Texte, Video, Sprache etc. verarbeitet wer den können. Big Data dagegen geht es zunächst um die Bevorra tung möglichst vieler Daten <?page no="114"?> „(Alb)traumhafte“ Wechselwirkungen erlauben Big Data 113 und die Möglichkeit, gigantische Daten in wenigen Sekunden bzw. in Echtzeit zu analysieren; mit DataMining und den damaligen Technologien dauerte eine Analyse oft Stunden bis Tage. Die Frage, wonach zu suchen ist, muss zum Zeitpunkt der Spei cherung noch nicht bekannt sein. Sie liegt in der Zukunft und wird sich immer wieder neu stellen. Mit entsprechend entwickelten Al gorithmen können stets neue Fragestellungen definiert und die Da tenmengen immer wieder neu ausgebeutet werden. Daten, die permanent wachsen und sich aktualisieren, werden beim Cloud Anbieter langfristig gespeichert und bei Bedarf abgerufen. Das hat „Nebenfolgen“: Datenschutzgesetzgebung und ITSicher heitskonzepte sind darauf kaum eingestellt. Angriffe auf Personen und Unternehmen erhalten einen völlig neuen Charakter, die Ge heimnisse der Betroffenen sind danach offen wie ein Scheunentor. Brisant ist das deshalb, weil heute private Geräte auch für den dienstlichen Gebrauch genutzt werden und eine saubere Trennung kaum noch möglich ist (Bring your own Device; BYOD). Die Smart phoneDaten können ferngesteuert, gelöscht und beobachtet wer den. Ein Blick auf die Sensorik, die heute in Smartphones eingela gert ist, belegt die Brisanz: u.a. GPS, Bewegungs, Lage und Be schleunigungssensoren sowie Anschlussmöglichkeiten für persönli che Sensoren wie Herzschlag, Atemfrequenz, Muskelkontraktion. Es geht weiter mit den Umgebungssensoren im Haus, die mit dem Smartphone verbunden werden können: Smart Meter, Hei zung und Alarmanlage. Man erhält eine Ahnung, welche Daten mengen über Big Data bevorratet und welche Persönlichkeitsprofile möglich werden. Hinzu kommen die zahlreichen Apps als Daten schleuder für Big Data. Federraths Schlussfolgerung: Orwells Meta pher 1984 war Big Brother und bedeutete die lückenlose Überwa chung und Bevormundung von Menschen durch Menschen. Big Data heißt lückenlose Überwachung und Profilbildung von Men schen mit Hilfe von Computern. In dem Moment, wo alles Wissen über uns in die Cloud fließt, hat der Homo oeconomicus, kommerzielle Nutzung vorausgesetzt, eine neue Stufe erreicht. Er hat uns in der Hand, während wir noch <?page no="115"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 114 glauben, mit dem Smartphone den Homo oeconomicus in der Hand zu halten. Er kann uns rund um die Uhr mit personengenauer Wer bung beschießen. Der ein oder andere mag dies auch positiv als Zugewinn an Bequemlichkeit empfinden. Die klassische Werbung mit ihren Streuverlusten ist passé, sie musste noch mit Kanonen auf Spatzen schießen. Der Homo oeconomicus flüstert uns jetzt laufend über unseren „Partner“, das Smartphone mit geobasierten Daten ein, welche Be dürfnisse wir „sinnvollerweise“ an bestimmten Orten und zu be stimmten Zeiten befriedigen sollten. Für das ökonomische System sind wir wieder ein Stück effizienter und produktiver geworden. Stellen wir uns einmal vor, Versicherungen können auf all unsere Daten, die wir im Laufe der Jahren durch Einkäufe im Netz, durch Bewegungen auf unserem Konto, durch Meldungen in sozialen Netzwerken und durch EMail hinterlassen haben, für ihre Zwecke auswerten. Abgesehen davon, dass sie damit unsere Persönlich keitsrechte verletzen, werden sie auf unser Verhalten Einfluss neh men wollen, um ihre Kosten zu reduzieren. Was hindert sie daran, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Schlaganfalles zu be rechnen und uns von bestimmten Versicherungsleistungen auszu sperren? Man mag argumentieren, dass Versicherungsleistungen und kosten sich viel stärker an der Person des einzelnen Individu ums orientieren sollten. Heute hat man die Techniken, um diesen Paradigmenwechsel in der Versicherungswirtschaft vollziehen zu können. Das ist alles keine Fantasie oder Schwarzmalerei mehr. Der Köl ner Versicherungskonzern Generali hat genau dieses Szenario im November 2014 ins Freiland gelassen. Er will in den kommenden zwölf bis 18 Monaten auch in Deutschland von seinen Kunden Da ten zu Fitness, Ernährung und Lebensstil abgreifen. Die Kunden sollen für eine gesunde Lebensführung Gutscheine, Geschenke und Rabatte auf ihre Krankenversicherungsverträge erhalten, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Danach arbeiten auch die Konzerne Alli anz und Axa an ähnlichen Projekten. Basis ist das Gesundheitspro gramm Vitality. Über eine App werden Vorsorgetermine dokumen <?page no="116"?> „(Alb)traumhafte“ Wechselwirkungen erlauben Big Data 115 tiert, Schritte gezählt und sportliche Aktivitäten gemessen. Generali Konzernchef Mario Greco dazu: „Damit stärken wir die Bindung zu unseren Kunden. Außerdem beeinflussen wir das Verhalten unserer Kunden, und gesündere Kunden sind besser für uns“. Der Transfer dieses Szenarios lässt sich auf andere Kontexte übertragen, z.B. auf Personalbewerbungen und Kreditanträge. Die unzähligen Daten aus unserem früheren Leben können sich jeder zeit gegen uns wenden. Die Gnade des Vergessens schützt uns nicht mehr. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ist ein erster vorsichtiger Schritt, Persönlichkeitsrechte zu schützen. Es verpflich tet Google, Verweise aus den Ergebnislisten zu streichen, sofern die Persönlichkeitsrechte einer betreffenden Person verletzt wurden. Personen müssen nicht mehr akzeptieren, dass ihr Name mit sen siblen Informationen aus der Vergangenheit verknüpft wird, die zwar möglicherweise richtig sind, aber die Persönlichkeitsrechte des Betreffenden verletzen. Es geht dabei aber lediglich um die Lö schung der Verbindung zu einzelnen Informationen. Nun muss man ja an dieser Entwicklung nicht teilnehmen, man kann ja sein Smartphone auch aus der Hand legen und „datenspar sam“ durchs Leben gehen. Diese Einschätzung übersieht, dass Da ten immer stärker zur eigentlichen Währung in der digitalen Öko nomie werden. Zwischen dem Konsumenten und dem datennut zenden Unternehmen bildet sich ein marktwirtschaftliches Verhält nis: Wer bereit ist, aktiv mitzumachen, wird ein auf seine Person und Bedürfnisse zugeschnittenes Angebot und erkleckliche Rabatte erhalten. Alle anderen werden über höhere Preise entsprechend „sensibilisiert“. Wer sich völlig raushält, ist verdächtig, er hat beste Chancen auf der schwarzen Liste zu landen. Das hört sich etwas weit hergeholt an, ist aber die Einschätzung der beiden Google Manger Eric Schmidt und Javed Cohen. Wenn alles Wissen, das wir absondern und das über uns in den verschiedensten digitalen Quellen in der Cloud vorhanden ist und der Nachschub dorthin gesichert ist, dann ist ein zweites virtuelles Leben geboren, das Leib und Seele entgegentritt und Teile der <?page no="117"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 116 Selbstbestimmung übernimmt. Schmidt und Cohen sprechen von einem Wandel der Identitätsbildung. Die Identität entsteht nicht mehr in der physischen Welt und bildet sich dann in der virtuellen Welt ab, sondern sie wird in der virtuellen Welt geschaffen und in der physischen gelebt. Wir sollten unsere digitale Identität zukünf tig sorgfältig managen: Denn „Daten im 21. Jahrhundert sind Erzäh lungen über unsere Zukunft, die wir nicht kennen“. Juli Zeh nennt das „eine Zeitmaschine, die aus unseren Daten der Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft schreibt“. Es ist auch deshalb schwierig, das Smartphone aus der Hand zu legen oder den Laptop zugeklappt zu lassen, weil die schleichende Gewöhnung an diese Dienstleistungen im Alltag, wie z.B. EMails, das Leben bequemer, effizienter und bunter machen. Die heftigen Diskussionen um Datenschutz, Vorratsdatenspeicherung oder NSAAusspähung konnten erst auf der Basis umfangreicher Infor matisierungen aller Lebensbereiche entstehen. In einer auf schnellen technischen Fortschritt bedachten Ökono mie war kein Raum, frühzeitig den Diskurs über notwendige In formatisierungslücken in der Gesellschaft zu führen. Er findet von Teilen der Bevölkerung jetzt nachträglich statt. Manche überlegen, aus der formalisierten Welt der Apps, EMails und Sozialen Netz werke auszusteigen, weil sie das Vertrauen in Datenschutz und Datensicherheit verloren haben. Kurioserweise hat der russische Geheimdienst FSA diese Ent scheidung für den russischen Präsidenten und die Regierung bereits getroffen, vermutlich angesichts der NSAVorkommnisse. Er hat deutsche TriumphAdlerSchreibmaschinen bestellt. Besonders heik le Dokumente sollen überhaupt gar nicht erst in den elektronischen Umlauf gebracht und dadurch gesichert werden. Die Älteren wer den sich erinnern, dass die Verwendung von Kohlepapier allenfalls noch die sechste Kopie lesbar erscheinen lässt. Die Hoffnung bleibt: Wer seine Privatheit tatsächlich nachhaltig schützen will, dem sei empfohlen, sich über seine ihm wichtigen Informatisierungslücken Gedanken zu machen und sie sorgfältig zu hüten, auch wenn er sich dadurch verdächtig macht. <?page no="118"?> Hat der Homo oeconomicus ausgedient? 117 Hat der Homo oeconomicus ausgedient? Der Homo oeconomicus mit seiner kontextlosen Sicht geht mit Big Data seiner Vollendung entgegen. Mit Big Data hat der Homo oeco nomicus Zugriff auf jedes Individuum und ist im Besitz entspre chender Lenkungsmöglichkeiten. Eine wissenschaftlich eher unzu reichende Theorie ist an ihr vorläufiges, wenn auch nur betriebs wirtschaftlich erfolgreiches Ende gekommen, mit beträchtlichen gesellschaftlichen „Nebenfolgen“. Jaron Lanier wurde mit seiner Einschätzung erwähnt, dass die Si liconValleyGeneration die Profitoptimierung zwar für eine not wendige Voraussetzung hält, sie tatsächlich aber schon andere Mo tive hat. Diese Generation glaubt daran, durch Technik eine bessere Welt schaffen zu können, in der Konflikte und globale Probleme ohne Politik, d.h. ohne zähe Aushandlungsprozesse auf nächtelan gen Konferenzen und ohne Verträge gelöst werden können. Algo rithmen und Codes ersetzen Regulierungen, sie sind eindeutiger und zuverlässiger und in der Lage, die Probleme der Welt schneller zu lösen. Die GoogleManager Eric Schmidt und Jared Cohen sind Propa gandisten dieser Ideologie. In ihrem Buch Die Vernetzung der Welt bringen sie dies auf sehr subtile Weise unters Volk. Nach dieser Logik, so die ZEITAutoren Götz Hamann, Khué Pham und Hein rich Wefing, werden für alle von der Politik nicht lösbaren Proble me, z.B. Klimawandel oder Gesundheitsversorgung, einfach neue Spinnennetze etabliert: „Die Staaten bringen es nicht fertig, die teu ren, überregulierten Gesundheitssysteme zu reformieren? Dann entwickeln eben Internetkonzerne digitale Patientenakten und Kon taktlinsen für Diabetiker, die einfach und schnell den Blutzucker wert messen. Oder sie erdenken Methoden, die eigene DNA zu durchleuchten, damit jeder Mensch erfahren kann, wie er länger gesund bleibt“. Wenn der Satz des amerikanischen Rechtsinformatikers Law rence Lessig Code is law zutrifft, so gibt er den Internetkonzernen eine beispiellose Macht. Denn indem sie ihre Regeln global über <?page no="119"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 118 ihre Codes in alle Poren hineingießen können, üben sie eine kaum noch kontrollierbare Macht aus. Bauen Google & Co. mit ihren Codes die globale Architektur und sind sie zugleich mit der Etablie rung immer neuer Spinnennetze im Besitz des Goldesels? Beides zusammen gäbe ihnen die Macht, die Ökonomie der Welt zu be herrschen. Mit den Codes setzen sie Regeln, mit Spinnennetzen er schließen sie sich immer neue Profitquellen mit prächtigen Rendi ten. Der Besitz des unendlichen Datenschatzes schafft Ruhe durch Ausleuchten und Manipulation. Das digitale Perpetuum Mobile schlechthin. In dieser Wohlfühlwelt würden die Überzeugungstäter der „bes seren digitalen Technikwelt“ herrschen. Gebaut wird sie von einer Jungenswelt im Corporate Kindergarden. Der Stanford Professor Robert Pogue Harrison, der viele seiner ehemaligen, heute im Si licon Valley tätigen Studenten kennt, beschreibt deren Arbeitsorte: „Bei Facebook können sie Sushi und Burritos essen, Gewichte stem men, sich die Haare schneiden lassen, ihre Kleidung in die Reini gung geben und zum Zahnarzt gehen, alles ohne den Arbeitsplatz zu verlassen ... Solche autarken und autoreferentiellen Orte (wie sie Apple mit seiner ringförmigen Zentrale plant) erschweren Ange stellten sogar zufälligen Kontakt mit der umliegenden Gesellschaft ... Unternehmen, die eine derartig regressive Umgebung für ihre Mitarbeiter schaffen, erwarten im Gegenzug unbegrenzte Hingabe für die Arbeit. Tatsächlich macht dort jeder Überstunden auf Kosten des eigenen privaten, sozialen oder politischen Lebens“. Sofern man Politik und Staaten für überflüssig und die digitale Technik für die Lösung hält, Staaten und Politik sich aber diesen Zumutungen widersetzen sollten, so kann man auch zu ganz neuen Weltentwürfen kommen. Davor warnt der amerikanische Verfas sungsrechtler Philip Bobbitt in seinem Buch Terror and Consent. The Wars for the TwentyFirst Century: „Die Nationalstaaten werden ab gelöst und die Welt in „InformationsMarktStaaten“ transferiert. Die Märkte sind dort so mächtig, dass sie und nicht mehr die Staa ten die Tagesordnung von Politik und Gesellschaft bestimmen. Das Angebot der Märkte ist: Lasst uns ran an alle Informationen über <?page no="120"?> Hat der Homo oeconomicus ausgedient? 119 das, was ihr denkt, plant und konsumieren wollt. Im Gegengeschäft bieten wir neue Entfaltungs und Karrieremöglichkeiten, allerdings ohne Garantie von Wohlfahrtansprüchen“. Der Staat hat sich in Bobbitts Szenario nach dem Vorbild von Spinnennetzen organisiert, er hat viele seiner Aufgaben ausgelagert und erzwingt von seinen „Bürgern“ besser Marktteilnehmern entsprechend angepasste Verhaltensweisen. Der „InformationMarktStaat“ okkupiert positiv besetzte Metaphern und Leitbilder und schmilzt sie für seine Deu tungen zurecht. Bobitt vermutet, dass sich nicht die Staaten zu Überwachungsstaaten entwickeln, sondern Überwachungsmärkte die Organisationsformen der Zukunft in demokratischen Staaten sein werden. Dieses Szenario mag einige Entwicklungen vorwegnehmen, konnte aber noch nicht die konkreten Entwicklungen berücksichti gen, die durch die Enthüllungen Edward Snowdens ans Tageslicht kamen. Glenn Greenwood, der Snowden bei seinen Veröffentli chungen sehr geholfen hat, berichtet in seinem Buch Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen über den engen Schulterschluss zwischen Internetkonzer nen und NSA. Lange Zeit galt das Internet als Werkzeug, das ame rikanische Kultur, Freiheit und Demokratisierung in die Welt brin gen konnte, allerdings mit enormen Profiten. Die amerikanische Regierung kam im Zuge von 9/ 11 zu der Auffassung, dass dieses weltweite Netzwerk die Macht der USA untergrabe. Heute sind die Bemühungen darauf gerichtet, dass niemand der amerikanischen Kontrolle entgeht: „Damit entsteht ein Einwegspiegel: Die amerika nische Regierung sieht, was der Rest der Welt tut, während nie mand Einblick in ihr eigenes Handeln bekommt. Es ist ein nicht zu überbietendes Ungleichgewicht, das die gefährlichste aller mensch lichen Möglichkeiten eröffnet: die Ausübung grenzenloser Macht ohne jede Transparenz oder Rechenschaftspflicht“. Das Imperium der Vereinigten Staaten ist damit vollkommen, es besteht aus der Verknüpfung ökonomischer Macht einiger Internetkonzerne und der Kontrolle aller Individuen, Unternehmen und ihrer Geschäfte durch die NSA. <?page no="121"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 120 Werte und Diskurse der alteuropäische Kitsch von gestern Mancher Leser mag jetzt glauben, er sitzt in einem schlechten Film. In diesem Film amüsiert sich das Volk mit seinem technischen Spielzeug, dessen Spiele ihm geschenkt wurden. Als kleine Gegen leistung erwarten die Schenkenden, dass man ihnen automatisch, also ohne Aufwand mitteilt, was und wie sie spielen. So kann man ihnen, entsprechend ihrer dann bekannten Spielneigungen, passen de Konsumangebote machen. In Zukunft kann man sie mit noch schöneren Spielen beschenken. In diesem großzügigen Szenario muss man als Spieler nicht unbedingt wissen, dass die persönlichen Daten an staatliche Überwachungsbehörden weitergeleitet werden, damit diese in der Lage sind, alle Spieler ausnahmslos kontrollieren zu können, ob sie auch nicht falsch spielen, wovon man selbstver ständlich auf grundsätzliche kriminelle Neigungen schließen muss. Der schlechte Film ist Realität. Kommerzielle Daten sind nicht nur für den Homo oeconomicus interessant, sondern für staatliche Überwachungsbehörden. Laut der Unterlagen von Edward Snow den haben u.a. die Internetgiganten Google, Yahoo, Microsoft und Facebook auf geheime Anordnungen hin Nutzerdaten über techni sche Schnittstellen herausgegeben. Demnach hat die NSA den Fir men mehrere Millionen USDollar für ihre Kooperationsbereitschaft gezahlt. Diese Kollaboration lässt Befürchtungen wahrwerden, dass nicht mehr ein einzelner Verdächtiger überwacht wird, sondern jeder aus dem riesigen Datenpool aufgrund bestimmter Muster her ausgegriffen und ohne sein Wissen als verdächtig angesehen wer den kann. Der ZEITAutor Thomas Assheuer nennt dieses Modell soziale Kybernetik: Die Gesellschaft ist eine große Maschine, die sich durch Datensammlung, Algorithmen und Mustererkennung steuern und kontrollieren lässt: „In einer solchen Maschine geht es nicht mehr um Argumente und Werte, um Diskurse oder öffentliche Willens bildung, das ist der alteuropäische Kitsch von gestern. Es geht da rum, die einzelnen Teile der Gesellschaftsmaschine störungsfrei miteinander zu verschalten, es geht um systemische Bestandserhal <?page no="122"?> Werte und Diskurse der alteuropäische Kitsch von gestern 121 tung und Gleichgewichtszustände, um Prävention und Substanzer haltung ... Perfekt läuft die Maschine immer dann, wenn der Bürger genau das will, was er auch soll“. Die totale Ökonomisierung und Monopolisierung hat in der digi talen Welt ein hohes Maß an Vollkommenheit erreicht. Der zweite Durchbruch ist die Transparenzherstellung des menschlichen Indi viduums und damit verbunden die Einschleichung in seine Identi tätsbildung. Solche Versuche haben eine lange Tradition. Sie muss ten sich jedoch bislang auf weit weniger komfortable Hilfsmittel stützen. Oft beschrieben das PanopticonPrinzip von Jeremy Bent ham (1748 - 1832). In wikipedia ist dazu vermerkt: „Allen Bauten des PanopticonPrinzips ist gemeinsam, dass von ei nem zentralen Ort aus alle Fabrikarbeiter oder Gefängnisinsassen be aufsichtigt werden können. Im Mittelpunkt steht ein Beobachtungs turm, von welchem aus Zelltrakte abgehen (in sog. Strahlenbauwei se). So kann der Wärter in der Mitte in die Zellen einsehen, ohne dass die Insassen wiederum den Wärter sehen können. Das liegt daran, dass die Gefangenen aus der Sicht des Wärters im Gegen licht gut sichtbar sind, der Wärter selbst jedoch im Dunkel seines Standortes nicht ausgemacht werden kann. Mithin wissen diese nicht, ob sie gerade überwacht werden. Tatsächlich kann ein einzel ner Wärter aber eine große Zahl von Menschen nicht permanent und total überwachen. Von diesem Konstruktionsprinzip erhoffte sich Bentham, dass sich zu jeder Zeit alle Insassen unter Überwa chungsdruck regelkonform verhalten (also abweichendes Verhalten vermeiden), da sie jederzeit davon ausgehen müssten, beobachtet zu werden. Dies führe vor allem durch die Reduktion des notwen digen Personals zu einer massiven Kostensenkung im Gefängnis und Fabrikwesen, denn das Verhältnis zwischen effektiv geleisteter Überwachungsarbeit und erzeugter Angst, beobachtet zu werden, ist sehr hoch“. Damit ist die Hoffnung auf Konditionierung verbunden: Wer sich über längere Zeit „ordnungsgemäß“ durch ständige Kontrolle ver halte, werde dies auch außerhalb der Fabrik bzw. nach Haftentlas <?page no="123"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 122 sung in der Freiheit tun. Foucault deutete dieses Prinzip in seinem Buch Überwachen und Strafen als Symbol für das Ordnungsprinzip westlichliberaler Gesellschaften. Mit Big Data ist ein mächtiges Medium für die Realisierung die ses Machttraumes vorhanden. Shoshana Zuboff spricht vom Infor mationspanoptikum, das vorauseilendes Konformitätsdenken so sub til produziert, dass es schließlich aus unserem Bewusstsein ver schwindet. Schon als Schüler haben wir gelernt, den Erwartungen des beobachtenden Lehrers zu entsprechen. Wenn das durch die neuen Technologien im Alltag umfassend wird, so wird diese „Selbstzensur zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Nichts Neues kann geschehen, wenn wir erst einmal unsere Gedanken zensieren“. Das Internet hat seinen weltweiten Nutzern, auch durch Apple, Facebook & Co., eine bis dahin nie dagewesene offene Landschaft der Information, Kommunikation und Kooperation bereitgestellt. Mit dem Siegeslauf des Homo oeconomicus bis zum vorläufigen Endpunkt Big Data, gemeinsam vollendet durch InternetGiganten und Überwachungsbehörden, geht der abrupte Niedergang des dem Internet entgegengebrachten Vertrauens als „Nebenfolge“ ein her. Shoshana Zuboff drückt das so aus: „Wir hatten angenommen, dass uns, weil uns die Geräte gehörten, auch die Inhalte gehörten, die wir mit ihnen generierten. Doch als Google, Facebook und die anderen noch mehr Geld verdienen wollten, verkauften sie einfach unsere Daten an Werbefirmen und Einzelhändler, die uns gezielt ansprechen konnten, um noch mehr Windeln oder Rasenmäher oder Diätpillen zu verkaufen. Uns gehörten die Geräte, aber ihnen gehörten die Server. Sie hatten die Macht“. Die technologischen Voraussetzungen für eine umfassende Durchdringung der Lebens und Arbeitswelt, wie Zuboff, Assheuer, Morozow, Schmidt und Cohen oder Schirrmacher sie beschreiben, sind vorhanden. Entschleunigen lässt sich die schnelle Einführung der Systeme wohl nur dadurch, dass das Unbehagen über den Kon trollverlust der eigenen Daten und die Unsichtbarkeit der Systeme, nicht zuletzt durch die NSAAffäre, noch massiv anwächst. <?page no="124"?> Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie 123 Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie Wenn wir nach gesellschaftlichen Erörterungen jetzt mit Über lebensstrategien für die „alte“ Ökonomie eher wirtschaftsinformati sche Themen ansprechen, so tun wir das, weil sie sehr konkret das Hauptaktionsfeld für Management wie Beschäftigte in den nächsten Jahren sein werden. Hierzu wollen wir einige Anregungen geben. Google, Amazon & Co. haben mit dem Internet in wenigen Jah ren große ökonomische Macht etabliert. Zahlreiche Branchen sehen sich einem ökonomischen Tsunami ausgesetzt. Viele Unternehmen der „alten“ Ökonomie hatten in der Vergangenheit zu wenig Fanta sie, aber auch weder vergleichbar solvente private wie öffentliche Investoren, noch besaßen sie diesen Datenschatz, um rechtzeitig und mit genug Masse reagieren zu können. Sie sehen sich jetzt mit „kalifornischen Spinnennetzen“ und einem Erfahrungs, Geld und Datenschatz konfrontiert, der sie händeringend nach Strategien des Überlebens suchen lässt. Wir wollen uns an der Suche beteiligen. Wie lässt sich die Anatomie der Internetökonomie beschreiben? Welche Modelle sind jenseits von Google, Amazon & Co. erfolg reich? Was ist ihr Geheimnis, worauf setzen sie? Daraus ergeben sich erste Hinweise, welche Voraussetzungen Unternehmen der „alten“ Ökonomie schaffen müssen, um bei der digitalen Transfor mation noch mitmischen zu können, aber auch der ein oder andere Hinweis, welche „Spielfelder“ noch nicht durch Spinnennetze be setzt sind. Erste Überlebensstrategien werden so sichtbar. Die Architektur erfolgreicher digitaler Plattformen zeigt als ers tes, wie sich die unzähligen, bislang übers Internet nicht orga nisierten Akteure oder Objekte über eine digitale Plattform orga nisieren und wie sich daraus neue Geschäftsmodelle entwerfen las sen. Dies geschieht in der Weise, dass Kunden über ihr Smartphone, Tablet oder PC, z.B. mittels einer App, schnellen und bequemen Zugriff auf die dort angebotenen Produkte, Informationen oder Dienstleitungen haben können. Die Volkswirte sprechen bei solchen ökonomischen Strukturen von atomistischen Märkten. <?page no="125"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 124 Es ist eigentlich immer das gleiche Grundprinzip: zwischen vie len Anbietern und vielen Nachfragern schiebt sich eine digitale Vermittlungsplattform. Einige Beispiele: Die OnlineReinigungs dienste Putzfee, Helpling oder Book a Tiger versuchen die vielen, bis lang unorganisierten Putzfrauen über ein InternetPortal an Privat kunden zu vermitteln. Das gleiche Prinzip lässt sich auf die Organi sation zahlreicher anderer Akteure übertragen: Kinder und Senio renbetreuung, Nachhilfeunterricht, Hotelzimmer, Transportmöglich keiten etc. Selbst Dating und SinglePortale wie Parship gehören in diese Kategorie. Sie bringen Akteure mit dem gleichen Anliegen mehr oder minder erfolgreich zusammen. - Der Taxidienst Uber steht für die Vermittlung privater Objekte (Autos) mit einer Dienst leistung durch Privatfahrer, über eine dafür eingerichtete Plattform. - myTaxi bietet über eine App eine professionelle Dienstleistung mit mobilen Objekten (Taxis) an. Bei Airbnb geht es um die Ver mittlung privater, immobiler Objekte (Privatzimmer oder wohnun gen) mit geringer Dienstleistung. - HRS oder booking.com stehen für Preisvergleiche und die Vermittlung von immobilen professio nellen Objekten (Hotelzimmer) mit Dienstleistungen. - Preisver gleichsportale wie check 24 stellen Transparenz her über konkurrie rende Produkte, u.a. Versicherungen, und vermitteln zwischen den beiden Akteuren Anbieter und Interessent. Gemeinsam ist allen Fällen, dass sich zwischen vielen Anbietern und vielen Nachfragern eine digitale Vermittlungsplattform schiebt, die neben der Schaffung von Transparenz, in einigen Fällen mit Preisvergleichen, eine provisionsabhängige Vermittlung als neues Geschäftsmodell anbietet. Doch weshalb eigentlich sind fast immer fachfremde Dritte auf diese Geschäftsmodelle gekommen und haben sie für sich okku piert? Warum nicht Genossenschaften oder die zuständigen Berufs verbände? Warum nicht der Taxiverband bei myTaxi oder Verbän de des Hotelgewerbes? Die gleiche Frage geht auch an die Gewerk schaften, für die man sich die Organisation einer Plattform für Putz frauen hätte vorstellen können. <?page no="126"?> Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie 125 Es ist wohl etwas dran an dem Satz „Nicht der Stärkere schlägt den Schwächeren, sondern der Schnellere den Langsamen.“ Gewerk schaften und Berufsverbände haben zeithemmende Hierarchien zu überwinden. bevor Entscheidungen getroffen und Ideen umgesetzt werden können. Die Entwickler von Uber, Airbnb & Co. agieren in Nischen. Sie respektieren nicht die Regeln des Systems. Sobald ihre Softwarelösungen ausgewildert sind, entwickelt die Software eine gesellschaftliche Eigendynamik, schneller als Berufsverbände denken und handeln können. Die Tüftler tauchen erst auf dem Radar der Verbände auf, wenn es für sie zu spät ist. Durch die schnelle Verbrei tung über den AppStore gibt es auch kaum eine Inkubationszeit. Eine weitere Klasse in der Anatomie erfolgreicher digitaler Ge schäftsmodelle beruht zunächst weniger auf Vermittlung als auf Ver drängung. Google & Co. haben allein aufgrund ihres Erfahrungs, Finanz und Datenschatzes die Macht, tradierte Branchenunterneh men zu verdrängen, die vielleicht gerade dabei sind, ihre analogen um digitale Geschäftsmodelle zu erweitern. Für das Überleben der Unternehmen in der „alten“ Ökonomie ist interessant, welche „Spielfelder“ noch nicht von Spinnennetzen oder anderen Akteuren besetzt sind. Dazu gehören das Internet der Dinge bzw. die Industrie 4.0 und die Smart City. Darauf werden wir im sich anschließenden Teil III noch ausführlich eingehen. Hier wird in den nächsten Jahren die ökonomische und technische Zu kunft spielen, es wird auch um die Etablierung weiterer Spinnen netze gehen. Außer Hoffnungen und erstem Herantasten sind noch keine konkreten Geschäftsmodelle erkennbar. Welche Voraussetzungen sollten Unternehmen der „alten“ Öko nomie unabhängig von ihrer Branchenzugehörigkeit intern schaf fen, um überhaupt bei der digitalen Transformation mitspielen zu können? Als erstes muss an der Digitalisierung der Prozesse im Unter nehmen wie an denen zwischen assoziierten Unternehmen bis hin zum Kunden gearbeitet werden. Medienbrüche, z.B. indem noch Teile der Geschäftsprozesse über Papier abgewickelt werden, müs sen aufgelöst werden. <?page no="127"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 126 Datenbestände und Prozesse, die für Kunden relevant sind und von ihnen nachgefragt werden könnten, z.B. über die ökologische Herkunft einer Ware, sollten digital, z.B. über das Smartphone des Kunden abzurufen sein. Das Stichwort ist hier: digitale Transparenz für Kundenwünsche. Die vorhandenen Daten sollten flexibel aus gewertet werden können, um sowohl schnell auf Änderungen des Käuferverhaltens reagieren als auch proaktiv neue Produkte, Ge schäftsmodelle oder zusätzliche Dienstleistungen anbieten zu kön nen. Besserer Service und Erkennen neuer Geschäftsfelder sind hier die Orientierungsmarken. Die Schaffung der internen Voraussetzungen mündet für die Un ternehmen der „alten“ Ökonomie in Überlegungen zur Gestaltung der PlattformArchitektur. Dabei ist die Plattform so zu organisie ren, dass die Beschäftigten mit der Kundenseite und extern assozi ierten Unternehmen auf ein gemeinsames System zugreifen und kooperieren können. Bei der Gestaltung der digitalen Plattform muss ein Unterneh men entscheiden, ob eine autonome Plattform Sinn macht oder ob von Anfang an auf ein bestehendes überbetriebliches Netzwerk gesetzt werden sollte. Wer die Akzeptanz für eine eigene Plattform bekommen kann, wird im Wettbewerb eine prominente Rolle spie len können, vielleicht mit der Aussicht, dass sich daraus ein Spin nennetz entwickeln kann. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Unter nehmen sich in längst bestehende Plattformen einordnen und dort ihren Platz finden müssen. Beispiele für überbetriebliche Plattfor men haben wir mit HRS oder den Preisvergleichsportalen zuhauf kennengelernt. Aber auch die Beteiligung an Plattformen, die die unternehmensübergreifende Koordination von Wertschöpfungsket ten organisieren - typisch dafür ist das Zuliefernetz eines Automo bilherstellers oder die Hafenlogistik - ist ein Muss für beteiligte Un ternehmen. Der Verzicht auf Beteiligung wäre gleichbedeutend, mit dem Verschwinden vom Markt. <?page no="128"?> Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie 127 Ein Beispiel für die unternehmensübergreifende Koordination von Wertschöpfungsketten ist das Hafeninformationssystem DAKOSY, das 2000 Firmen vernetzt: Spediteure, Reedereien, Linienagenten, Zoll, Wasserschutzpolizei, Feuerwehr, Handelskonzerne und In dustrieunternehmen. Plattformen für den Import und Export ver netzen alle Daten, angefangen vom Containerinhalt über den Zoll status und die Transportwege. Alle teilnehmenden Akteure stellen ihre Daten ein. Von der Anatomie vergleichbar sind Verbundplattformen, die einen großen Endkundenkreis ansprechen können. Beispiele finden sich im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), wo unterschiedliche Verkehrsträger kooperieren, um dem Fahrgast eine komfortable Entscheidung, u.a. hinsichtlich Zeitaufwand, Pünktlichkeit und Preis zu ermöglichen. Die App ÖFFI gibt europaweit Auskunft über den ÖPNV. Sie wurde bislang ca. 5 Mio. Mal auf AndroidSystemen heruntergeladen. Doch bei allen Überlegungen zu erfolgreichen digitalen Überle bensstrategien kann es nicht isoliert um digitale Plattformen und um die Suche nach „freien Spielfeldern“ gehen. Wer gedanklich ganz in die digitale Transformation eingetaucht ist, läuft das Risiko nach dem Motto zu handeln, wer einen Hammer in der Hand hat, sucht stets nur den Nagel oder umgekehrt. Dann übersieht man schnell, dass auch sehr einfache analoge Möglichkeiten, zuweilen in Kombination mit Plattformen, das Überleben sichern können. So sind im stationären Einzelhandel erste Ansätze erkennbar, die Ware zum Kunden zu bringen. Und was spricht dagegen, dass die Geschäfte einer Einkaufsstraße sich zu einer Digital Community zu sammenfinden, um über ihre unterschiedlichen Angebote hinweg eine dezentrale digitale Plattform einzurichten. Sie können so ihr Warenangebot gemeinsam präsentieren und mit einem Lieferser vice verknüpfen. Hinsichtlich Kundenberatung, Einkaufserlebnis und Wohlfühlatmosphäre sind die lokalen Geschäfte den Amazons <?page no="129"?> Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie 128 eh überlegen. Startups werden Aufbau und Organisation der Digi tal Communities gern übernehmen. Der Einwand, die Geschäfte einer Einkaufsstraße wären niemals in der Lage eine vergleichbare Bevorratung bzw. Lagerhaltung zu bieten wie Amazon, überzeugt nur auf den ersten Blick. Selbstver ständlich müssten Großhandel und Produzenten mit den Commu nityPlattformen verbunden sein. Bei Buchhändlern und Apotheken bestehen diese Strukturen über Grossisten und Gr oßhändler bereits seit langem. Wahrscheinlich werden sich ganz neue Strukturen bil den, aber im Vergleich dazu war die Herausforderung für Amazon, das diese Strukturen erst global und mit großer Geschwindigkeit aufbauen musste, erheblich größer. Besserer Service und Erkennen neuer Geschäftsfelder sind auch hier die Orientierungsmarken. Die Herausforderung ist jetzt, die Einzelkämpfertugenden des Einz elhändlers zu Gunsten des Den kens in Gemeinschaften zu reduzieren. Schwierig in einer Gesell schaft, die seit Jahrzehnten auf Wettbewerb und Niederringen des Nachbarn konditioniert ist. Offen geblieben ist, ob der Kuchen für Vermittlungsgeschäfte über digitale Plattformen, wie beispielsweise im Taxigewerbe, bei der Hotel und Reisevermittlung oder bei den Putzfeen ein für alle mal verteilt ist? Auch wenn die Verbände die digitale Transformati on total verschlafen haben, muss das ja nicht so bleiben. Das Prob lem besteht nicht darin, ihre Anbieter für eine eigene Plattform zu gewinnen, beispielsweise die Hotels. Die meisten Kunden haben nämlich bereits die entsprechende App der etablierten Plattform auf ihrem S martphone und werden sich nicht ohne Anlass davon tren nen. Phantasie und großer Marketingaufwand sind gefragt, um sol che Abhängigkeiten und Monopole abzulösen. <?page no="130"?> HE" Teil III. Die smarte Transformation 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory Arbeits und Lebenswelt haben sich unter dem Einfluss der Infor matisierung massiv verändert: In Unternehmen sind mittlerweile viele Routinefunktionen automatisiert, neue tayloristisch organisier te Restaufgaben sind zuhauf entstanden, viele wurden in Callcenter verlagert oder auf Kunden überwälzt. Abteilungen wurden durch Arbeitsgruppen mit Abwicklungsaufgaben und durch Projektgrup pen ergänzt oder ersetzt. Viele wurden auch in die Selbstständigkeit entlassen. Standardsoftwaresysteme haben stabile Prozesse, Strukturen und Funktionen der Organisation übernommen. Sie koordinieren Akti vitäten und Arbeitsgruppen. Automatisieren, Überwälzen, Verla gern und Crowdsourcing sind angesagte Organisationsstrategien. Der alte Traum, ein ManagementInformationssystem (MIS) nach dem Vorbild der klassischen Maschine zu etablieren, bleibt ein ver stecktes Gestaltungsleitbild. Ein großer Innovationsschub, der auch die Arbeitswelt veränderte, kam von Tüftlern aus der Lebenswelt. Smartphones und TabletPC mit Apps als Einstiegstüren haben vie le Kontaktaufnahmen bequemer und komfortabler oder überhaupt erst möglich gemacht. Insgesamt ist eine hochkomplexe Welt ent standen, für die der Blick auf eine einzelne Organisation nicht mehr angemessen ist. Eine erweiterte Sicht mit neuen Metaphern wird für traditionelle Unternehmen durch Digitalisierung und Globalisierung der Öko nomie notwendig. Sie müssen sich jetzt der Herausforderung stel len, in globalen, Internetgestützten Netzwerken bestehen zu müs sen. Angetrieben durch große Player wie Google, Facebook, Apple, <?page no="131"?> Teil III. Die smarte Transformation 130 Microsoft, Yahoo und Amazon ist eine globale Ökonomie entstan den, die sich in die „alte“ Ökonomie mit zerstörerischer Kraft hin einfrisst. Während es dort noch darum ging, Märkte zu durchdrin gen und sie vielleicht auch zu beherrschen, werden von den kali fornischen Internetkonzernen neue digitale Märkte eröffnet und analoge in digitale verwandelt. Die Absicht ist, diese sofort und allein zu beherrschen. Wettbewerb wird systematisch ausgeschaltet. Alle Räuber, die Beute machen wollen, sind zu erlegen. Und gibt es nur noch einen Räuber, kann dieser sein Netz nach Belieben weben und die Maschen des Spinnennetzes immer enger machen. Die Ironie der Geschichte ist, dass der Startschuss für diese Ent wicklung ursprünglich einmal von den GaragenTüftlern und Fricklern kam, die den Computer als Werkzeug und Medium zur Unterstützung für den Privatbereich entwickeln wollten. Heute sind sie die Herrscher der „neuen“ Ökonomie. Unternehmen, Wissen schaften wie Politik hatten ebenso wenig die Entstehung von Spin nennetzen auf ihrer Agenda wie ihre Rolle als Datenlieferanten für staatliche Spähsoftware. Das Großprojekt „Internet der Dinge“ - Rechner sind allgegen wärtig und unsichtbar Parallel zur digitalen Transformation der „alten“ Ökonomie kommt mit der Metapher Internet der Dinge ein zweites informationstechni sches Großprojekt ins Rollen. Europa und besonders Deutschland machen sich jetzt große Hoffnungen, die Niederlage, die ihnen die SiliconValleyAkteure Google & Co. zugefügt haben und wo die Felle des Bären offensichtlich verteilt sind, kompensieren zu kön nen. Wie die Chancen stehen und ob sie hier im globalen Wettbe werb die Nase vorn haben können, darum wird es in diesem Ab schnitt auch gehen. War der Fokus bislang, Menschen untereinander und mit Orga nisationen über das Internet zu vernetzen, so will das Internet der Dinge, die Dinge der realen Welt einbeziehen, sie mit einem Chip versehen, ihnen so eine digitale Repräsentation geben und sie über <?page no="132"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 131 das Internet vernetzen. Objekte sollen selbstständig ihr Umfeld er kunden und messen können, Anfragen generieren, Informationen austauschen, Daten senden und empfangen. Passive Gegenstände des Alltags werden dadurch smart, so die neue Metapher. Sie müs sen nicht mehr nur auf Befehle der Entwickler oder Nutzer warten, sondern reagieren autonom auf ihr Umfeld und sind dabei stets in das globale Internet eingebunden. In Wechselwirkung können Ak tionen auch von Nutzern angestoßen werden. Gelingt das Großprojekt Internet der Dinge, so wäre die Infor matisierungslücke erneut ein ganzes Stück kleiner. Für den Prozess der Technisierung in den Unternehmen wäre das ein Sprung. Im mer mehr Bereiche der Arbeitswelt wären von IT durchdrungen, weitere menschliche Handlungen würden ersetzt werden können. Der Computervisionär und Chefentwickler des Forschungs instituts Xerox Parc, Mark Weiser, und seine Forschungsgruppe hatten in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts als erste die Idee der Allgegenwärtigkeit von Informationstechnologie in All tagsgegenständen. Sie waren der Auffassung, dass die Potentiale der IT nicht ausgeschöpft sind, solange Laptops und Personal Com puter noch sichtbar sind. Den größten Einfluss schrieben sie den Technologien dann zu, wenn sie der allgemeinen Wahrnehmung entzogen sind und sich lückenlos in die Lebenswelt jedes Einzelnen einbauen ließen. Diese embodied virtuality ist zu unterscheiden von der virtual reality, die künstliche Realitäten und den Zugang zu imaginären Welten schaffen will. Durch Integration und Unsichtbarkeit der IT sollte so wenig Be dienung und Aufmerksamkeit seitens des Nutzers wie möglich er forderlich sein, mit der Folge einer enormen Produktivitätserhö hung des gesamten ökonomischen Systems! Weiser wollte technische Virtualität in die Arbeits wie Lebens welt transferieren, ohne dass dies bemerkt wird. Anders als die tra ditionellen sollen die neuen Rechner kontextsensitiv sein, also auch Wissen über ihren Einsatzort und zweck besitzen. Bei der manuel len Eingabe von Daten, z.B. über Tastatur und Maus, ist noch ein hohes Maß an Interaktion mit dem Medium erforderlich. Überle <?page no="133"?> Teil III. Die smarte Transformation 132 gungen sind notwendig, das jeweilige Programm muss beherrscht werden. Eingabefehler entstehen durch mangelnde Erfahrung und fehlendem Fachwissen. Auch mit der TouchFunktion der Smartphones und Tablets können die Hürden der sogenannten MenschMaschineSchnitt stelle leichter überwunden werden. Der konsequente nächste Schritt kann nur sein, die menschliche Eingabe da, wo es möglich ist, über flüssig zu machen. Dies ist der Hintergrund vor dem die Entwick lung zum Internet der Dinge plausibel wird. In der smarten Welt sollen die vernetzten Gegenstände autonom Entscheidungen treffen können. Das setzt die Automatisierung vie ler Aufgaben voraus, die eingehenden Ziele, Präferenzen und der jeweilige Kontext sind zu beschreiben, zu formalisieren und dann zu informatisieren, was eine große Herausforderung darstellt. Din ge, Geräte, Maschinen, Sensoren sind jetzt selbst „Akteure“. Der französische Technik und Wissenschaftssoziologe Bruno Latour hat diesen Sprung mit seiner AktorNetzwerktheorie schon vor Jahren vorweggenommen und dafür ein theoretisches Modell entworfen. Die ursprünglichen Denk wie Eingabearbeiten sind dann formali siert, werden programmiert und in das Informatiksystem verlagert. Der Anspruch ist, von jeglichem Input unabhängig zu werden. Selbstverständlich können Smartphones, Tablets und Apps verblei bende Aufgaben im Internet der Dinge als Mediatoren übernehmen bzw. wenn nötig mit diesen „Werkzeugen“ eingreifen. Heute haben sich eine Reihe weiterer Bezeichnungen für diese Grundidee durchgesetzt: Pervasive Computing, Ubiquitous Computing (auch UbiComp oder UC genannt) und Ambient Intelligence (AmI) neben dem Internet der Dinge. Sie beschreiben alle das Zukunftssze nario der Verschmelzung von realer und digitaler Welt und betonen jeweils unterschiedliche Merkmale. Ubiquitous Computing drückt die Allgegenwart der Informationstechnologie aus. Pervasive Computing kommt aus der Industrie und betont den Prozess der Durchdrin gung der industriellen Anwendungspraxis. Ambient Intelligence wurde von der Europäischen Kommission ins Spiel gebracht und betont stärker die Benutzerinteraktion sowie die Einbindung der <?page no="134"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 133 Technologie in die Gesellschaft. Das Internet der Dinge legt den Fo kus auf die Wechselwirkungen von realer und virtueller Welt. Die digitale Welt soll in die Lebenswelt eindringen, während die Dinge der realen Welt Teil der digitalen Welt werden sollen, so der Wirt schaftsinformatiker Fabian Krause. Smart Factory, Industrie 4.0, Cyberphysische Produktionssyste me - Neue Leitbilder werden gepusht Die meisten Unternehmen sind heute und für die nächsten Jahre noch gut mit der Automatisierung ihrer Geschäftsprozesse und der Koordination der Wertschöpfungsketten mit ihren Lieferanten und Kunden beschäftigt. In dieser Phase kündigt sich mit den Meta phern Smart Factory, Industrie 4.0 oder cyberphysische Systeme die nächste Herausforderung an. Die Smart Factory wurde als großes deutsches Forschungsprogramm 2012 angekündigt, um die führen de Stellung des deutschen Maschinenbaus zu sichern. Die Autoren der Forschungsunion Kagermann, Wahlster und Helbig beschrei ben in einer Studie ihr Vorhaben wie folgt: „Über Internet vernetzte Maschinen, die mit allen anderen Ma schinen in der Fabrik und den zu produzierenden Dingen stän dig Informationen austauschen, bilden die Basis für die vierte industrielle Revolution auf der Grundlage des Internets der Dinge. Nicht nur alle Fabrikkomponenten, sondern auch alle entstehenden Produkte werden in Zukunft über eine eigene IP Adresse digital ansprechbar sein. Dazu tauschen alle Gegen stände, Materialien, Maschinen und Umgebungen der Fabrik welt, die in die IT eingebettet sind, nicht nur Bits untereinander aus, sondern stellen in einer gemeinsam verständlichen Sprache inhaltliche Informationen bereit, bieten ihre Dienste an und ver einbaren Kooperationen zwischen physischen Objekten. Es ent stehen sogenannte cyberphysische Produktionssysteme (CPPS), welche die Cyberwelt des Internets mit der physischen Welt der Fabrikwelt verzahnen“. <?page no="135"?> Teil III. Die smarte Transformation 134 Die kontextsensitive Industrie 4.0 soll mit ihrer überall eingebetteten digitalen Intelligenz, in Echtzeit mittels Sensorik die jeweilige Situa tion sowie alle laufenden und erforderlichen Aktionen erkennen und sie mit den Fertigungs und Logistikprozessen der globalen Netze verknüpfen. Die Smart Factory soll nach Jahrzehnten der Massenfertigung die Rückkehr zum Unikat ermöglichen. Das Para digma der zentralen Steuerung in der Industrie würde durch de zentrale Selbstorganisation der Maschinen ersetzt: „Das Produkt steuert seine Herstellung selbst. Es wird vom passiven Objekt zum Akteur. Im Ergebnis entscheidet das Produkt selbst über seinen Produktionsweg auf der Basis eigener und auch übergeordneter Prozessdaten“... „In der Smart Factory herrscht eine völlig neue Produktionslogistik: Die Produkte sind eindeutig identifizierbar, jederzeit lokalisierbar und kennen ihre Historie, den aktuellen Zu stand sowie alternative Wege zum Zielzustand“, so die Autoren. Der Anspruch ist gigantisch und man fragt sich beim Lesen der Studie, ob nicht der ScienceFictionGaul mit den Wissenschaftlern durchgangen ist: Alle autonom agierenden, wissensbasierten, sen sorgestützten und räumlich verteilten Produktionsmaschinen, Hunderte von Robotern, Förder und Lagersysteme und auch die Betriebsmittel sollen Teil dieses Vernetzungsimperiums werden, sich situativ selbst steuern und konfigurieren, inklusive ihrer Pla nungs und Steuerungssysteme. Das zu fertigende Produkt teilt beispielsweise mit, dass es nicht mehr als ein Kilo wiegen darf und einen blauen Anstrich benötigt; der Roboter, dass er in der nächsten Stunde ausgelastet ist, die Fräsmaschine, dass sie altersschwach ist, die Akkus ihren Ladezu stand und alle Maschinen ihre Energieverbräuche. Die Daten fließen zusammen, werden ausgewertet und zu neuen Steuerungsbefehlen verarbeitet. Die smarten Objekte können über Smartphones und Apps angesprochen werden, d.h. bei Bedarf ist ein Zugriff möglich. Iestyn Hartbrich nennt das in der Wochenzeitung DIE ZEIT nicht mehr Orchestrierung, sondern Jazz oder Free Jazz. Ein Dirigent ist nicht mehr vorhanden, alles ist scheinbar chaotisch, tatsächlich ist es aber eine Einheit. Diese „Musik“ wird das Bundeswirtschaftsminis <?page no="136"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 135 terium im Forschungsprojekt „Industrie 4.0“ mit 200 Mio. Euro för dern. Es ist hilfreich und riskant zugleich, immer dann, wenn ein Vor gang zu komplex wird und sich dem Verstand nicht gleich er schließt, ihn zu „vermenschlichen“. So macht es Franz Gruber, der Geschäftsführer des Unternehmens Forcam, der ein Pionier der ver netzten Fabrik ist. Er spricht davon, dass in der schönen neuen Welt auch die Maschinen miteinander reden: „Die Maschinen darin <re den> mit den Produkten, die sie herstellen sollen. Die Produkte wie derum wissen selbst, welche Bauteile sie für ihre Zusammensetzung brauchen, und teilen das den Maschinen mit. Betriebsmittel und Bauteile sind auch nicht dumm und melden sich dank eingebauter Mikroprozessoren von allein, wenn sie knapp werden. Alle Teile <reden> zudem selbstverständlich mit der Datenwolke (Cloud): das heißt, sie übermitteln den Menschen in der Fabrik, aber auch denje nigen, die über ein Smartphone oder einen Computer zugeschaltet sind, wie die Produktion läuft und wann die Arbeit erledigt ist. In der Vision Smart Factory übernimmt das System bei Verände rungen in der realen Welt die Nach bzw. Neujustierung selbst. Es wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die smarten Produkte und Prozesse zukünftig ganz neue Serviceleistungen ge nerieren können, die ertragreiche Geschäftsmodelle und Beschäfti gung nach sich ziehen würden. In der Studie der Forschungsunion tritt neben den drei genann ten ein weiterer Begriff auf, was eher zur Verwirrung beiträgt. Die Autoren sprechen von Globalen Smarten Wertschöpfungsnetze, bei IBM taucht noch Smart assembly auf. Damit ist vermutlich die anzu strebende Architektur der Smart Factory gemeint. Kagermann et. al. nennen drei Kernmerkmale: a Globale Smarte Wertschöpfungsnetze sollen horizontal integriert sein, d.h. die Vernetzung erstreckt sich von der Eingangslogistik über die Produktion, das Marketing, die Ausgangslogistik bis zum Service, wobei im Unterschied zu klassischen Wertschöpfungsket ten, jetzt auf Echtzeit optimierte und kundenspezifische Smart Objects „durchgeschleust“ werden. <?page no="137"?> Teil III. Die smarte Transformation 136 a Die Wertschöpfungsnetze sollen vertikal integriert werden, d.h. alle Ressourcen, Produkte, Materialien und Teile in einem Produkti onssystem vernetzen sich ad hoc. Sie sind jederzeit lokalisierbar, navigieren selbständig durch das Produktionssystem und spei chern die Historie der Bearbeitungsschritte. Bestandsführungs, Buchungs und Inventurprozesse entfallen. Die Fabrik steuert und überwacht sich selbst. a Schließlich: Die Smart Factory soll für ihre eigenen Innovationen zuständig sein, indem sie durch maschinelles Lernen in die Lage versetzt wird, neue Entwicklungen für das Produktionssystem bereitzustellen. Erreicht werden soll dies durch ein durchgängiges Engineering bei der Entwicklung von Produkten, angefangen vom Produktdesign, über Produktionsplanung, Produktionsenginee ring, Produktion und Services. Eine steile Vision! Seit Beginn der Computernutzung in Unternehmen war es selbst verständlich, dass Informationssysteme durch aktive Eingabe „ge füttert“ werden müssen. Das wird sich durch das Internet der Dinge in der Smart Factory grundlegend ändern. Die menschliche Eingabe von Kontextinformationen soll zukünftig nicht nur für möglichst viele Bereiche überflüssig sein, sondern sie kann auf Bereiche aus geweitet werden, wo dies bislang aus ökonomischen Gründen nicht vertretbar war. Zustände und Zustandsänderungen in der realen Welt werden automatisch erkannt. Der jeweilige Kontextstatus ei nes Objekts wird erfasst und über das Internet transferiert. Viele Nutzungskontexte, deren Zustände bislang noch durch Mitarbeiter erfasst wurden, z.B. durch Arbeiter im Lager, werden dann automatisch abgefragt. Die bislang notwendigen Beschäftigten in ihrer Rolle als Bindeglied zwischen realer und virtueller Welt sind dann überflüssig. Zugleich kann die Erfassung von Kon textinformationen beliebig ausgeweitet werden. Die Bearbeitung von Vorfällen, die bereits starke Anteile der Formalisierung und Standardisierung enthalten, kann dann auto matisiert werden. Die Zahl der zu erfassenden Objekte und ihrer Kontexte lassen sich ohne großen Aufwand und zusätzliche Kosten erheblich ausweiten. Physische Objekte werden durch die virtuelle <?page no="138"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 137 Welt gesteuert und kontrolliert. Das cyberphysische Informations system gewinnt ein großes Maß an Selbstorganisation. Informatisie rungslücken werden geschlossen, damit verbundene Arbeitsfelder entfallen. Die Nörgelei nimmt kein Ende Wir haben schon an anderer Stelle auf ScienceFictionLiteratur hin gewiesen. Ob all das realisierbar sein wird oder nicht, man muss den Autoren schon allein wegen ihrer Kreativität und Fantasie Res pekt zollen. Es werden gewaltige technologische Herausforderun gen zu lösen sein, zuvorderst die Beherrschbarkeit solch hochkom plexer Systeme: Dinge kooperieren bislang nur in einem lokalen Umfeld, in der Industrie 4.0 müssen sie in einem globalen Umfeld heterogener Endgeräte funktionieren und unterschiedliche Daten quellen aus dem Internet der Dinge nutzen, wie u.a. RFIDChips, Sensoren etc. Die smarten Objekte sollen sich spontan organisieren und konfigurieren, ohne Eingriff und Anpassung von Personen an die jeweilige Situation. Die heterogenen ITLandschaften müssen über weitgehend gleichartige Prinzipien und Standards kooperie ren. Zu berücksichtigen ist darüberhinaus, dass in der Realität schnelle und überraschende Änderungen der Kontextbedingungen an der Tagesordnung sind. Neben technischen Herausforderungen sind rechtliche und ge sellschaftliche Fragen zu lösen: ITSicherheitsfragen sind in über greifenden Prozessen nicht mehr lokal zurechenbar, wer haftet im Schadensfall? Werden Beschäftigte und Kunden die Systeme akzep tieren? Welche Qualifikationen werden zukünftig notwendig sein? Werden die Qualifizierungsprozesse mit der Schnelligkeit der tech nischen Veränderungen mithalten können? Zudem ist die Gefährdung der Vertraulichkeit personenbezoge ner Daten noch nicht im Ansatz gelöst. Das Sammeln und Einbin den möglichst umfangreicher Daten ist der Kern der Smart Factory, ohne die die Vision nicht funktioniert. Im Datenschutzgesetz ist die Datensammlung dagegen an Zweckgebundenheit und Datenspar <?page no="139"?> Teil III. Die smarte Transformation 138 samkeit vorgesehen. Wie soll das noch eingehalten werden ange sichts der Unsichtbarkeit der Schnittstellen sowie der immensen Komplexität der Systeme? Die Möglichkeit der Kontrolle durch den Nutzer muss zwangsläufig schwinden, Eingriffe werden für ihn fast unmöglich. Die großräumige Vernetzung funktioniert nur bei einheitlichen Standards, die aber das Risiko der Angreifbarkeit verstärken. In der vernetzten Fabrik muss mit Cyberangriffen gerechnet werden, die die Produktionsanlagen und Fließbänder lahmlegen können. Dieses Risiko besteht bei einer traditionellen Fabrik nicht im selben Maße. Der Anspruch, Fertigungs und Logistikprozesse in globalen Net zen zu etablieren, kollidiert mit der Notwendigkeit nach Robustheit und Sicherheit der Vision Industrie 4.0. Das oberste Prinzip der In dustrie 4.0 ist das Schließen der noch bestehenden Informatisie rungslücken. Im Szenario Smart Factory wird es Beschäftigung im Entwurf und Engineering, in der Installation, der Umrüstung, der Wartung und Reparatur des smarten Produktionssystems sowie der Netz komponenten geben. Das konstruktive Wissen der Ingenieure und Facharbeiter, das benötigt wird, um die Smart Factory zu schaffen, ist der Wissenspool, der ausgeschöpft werden muss und heute noch als Informatisierungslücke brachliegt. Im Prozess der Etablierung muss dieses Wissen ans Tageslicht gebracht und informatisiert werden. Wirken diese technischen Profis jetzt bei der Vorbereitung ihrer eigenen Beerdigung mit? Die Realisierung der Smart Factory ist zwar extrem aufwändig und sie wird noch viele Jahre beanspruchen. Sie kann nur von den Experten umgesetzt werden, die sich mit den Anlagen und Maschi nen auskennen. Die Smart Factory ist im Idealfall nach Vollendung von konstruktiven Tätigkeiten unabhängig, denn diese werden im Prozess der Erstellung der Smart Factory aufgesogen. Die Informa tisierungslücke wird kleiner und kleiner und der Homo oeconomi cus wird sich ein zufriedenes Lächeln kaum verkneifen können. Wenig diskutiert wird aber, dass mit der Smart Factory Vertrau en an ein kaum mehr durchschaubares System abgegeben werden <?page no="140"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 139 muss. Es wird „bevormundende Imperative“ setzen, die zur Sach logik werden und dann nicht mehr diskutiert werden können. Un vorhersehbares Systemverhalten und Fehlinterpretationen werden auftreten. Was ist der Maßstab für die angemessene Autonomie des Systems und wer entscheidet darüber? Die alte Weisheit, bei Nicht Beherrschbarkeit eines undurchschaubaren Systems auf kleine Ein heiten zu setzen, würde den Kern der Architektur treffen, der auf totale Vernetzung setzt. Alte Träume werden wahr? Welche Umwälzungen mit den Plänen zur Smart Factory bevorstehen, wird deutlich, wenn der Blick zurückgeht in die Zeit, als Henry Ford sein Konzept des modernen Fabriksystems realisierte. Damals be merkte Kurt Tucholsky ironisch: Fortschritt ist Fordschritt. Ford (1863 1947) führte das Fließband (Gleitbahnen) bei der Automobilprodukti on ein. Die Arbeiter sollten nicht mehr „übereinander stolpern“. Er entwickelte neue Produktionspläne, da seiner Meinung nach der Arbei ter mehr Zeit verwendet „mit Suchen und Heranholen von Material und Werkzeugen als mit Arbeit und er erhält dafür geringen Lohn, da das Spazierengehen bisher immer noch nicht sonderlich hoch bezahlt wird“. Alles, was der Arbeiter zur Montage benötigt, sollte an seinen Arbeitsort gebracht werden, damit er schnell und bequem darüber verfügen kann. Der Arbeiter sollte nicht mehr als einen Schritt tun und sich nicht mehr nach den Seiten oder vornüber bücken müssen. Ford verfolgte eine Reduzierung der Bewegungen auf ein Min destmaß. Wie F.W. Taylor wollte er die Arbeitszerlegung und Stan dardisierung der Arbeitsvorgänge und die Reduzierung der Denk tätigkeit der Arbeitenden erreichen. Das hatte er sich bei der Zerle gung der Rinder bei den Chicagoer Fleischern abgeguckt. Geist und Gestaltungsmaxime von Taylor und Ford haben nicht nur Fabriken und Verwaltungen mit standardisierten Arbeitsabläu fen geprägt. Sie haben den Grundstein für die später computerisier ten Organisationen gelegt. Sie reichen bis in die aktuelle Phase der digitalen Transformation. <?page no="141"?> Teil III. Die smarte Transformation 140 Taylor und Ford haben keine Computer gebaut. Sie haben jedoch Organisationen und Men schen nach dem Leitbild der Maschine ge staltet und damit die Grundlage für die Übernahme der vielen standardisierten und formalisierten Arbeiten durch Computer gelegt. Im Kontext der Smart FactoryPläne werden auch Erinnerungen an die Vision ManagementInformationSystem (MIS) wach, die zu Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Hochzeit der Kybernetik aufkamen. Auch Metaphern wie Computerintegrated Manufacturing (CIM) in den 1980er und 1990er Jahren kommen ins Gedächtnis. Mit MIS war die Idee verbunden, die gesamte Organisa tion eines Unternehmens in ihren Hierarchien, ihren Funktionen und Abläufen in Pr ogrammen abzubilden und zu automatisieren. An den Schaltknöpfen sollten die Manager im Cockpit als Piloten der Steuerung und Kontrolle sitzen. Die Planer der Smart Factory sind vermutlich davon überzeugt, die Produktion über autonome, intelligente cyberphysische Systeme aus der Managementperspek tive abbilden und steuern zu können. Wie schrieben damals die Organisationstheoretiker Kirsch und Kle in (1977): „Das Ideal eines mechanistischen Managementsystems ist die Maschine als mechanisches System. Eine Organisation ist ideal, wenn sie wie eine Maschine funktioniert und auch wie eine Ma schine vollständig ‚durchkonstruiert‘ ist... Die Mitglieder einer Organisation sollten sich unter Zurückstellung ihrer Persönlich keit wie ‚Rädchen‘ in das Gesamtsystem einordnen. Ihre Funk tion ist dabei ganz genau zu beschreiben. Durch geeignete Lohn und Anreizsysteme und durch umfassende Kontrollme chanismen ist ein funktionsgerechtes Arbeiten der Teile des Sys tems zu garantieren. Das Ineinandergreifen der Rädchen soll unpersönlich bleiben. Das Schlimmste sind ‚Reibungsverluste‘ durch Konflikte. Die Vorgesetzten mit ihren klaren Weisungen geben die Steuerimpulse für die einzelnen Maschinenteile, wo bei durch die Realisierung des Prinzips der Einheit der Auf tragserteilung sicherzustellen ist, dass die einzelnen Maschinen <?page no="142"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 141 nicht sich widersprechende Steuerimpulse erreichen. Alle Teile sind so zu konzipieren, dass die Zielsetzungen der Maschine, die durchaus auch als relativ flexible Mehrzweckmaschine kon struiert werden kann, optimal erreicht werden. Mit anderen Worten: Aus dem Studium einer störungsfrei laufenden Ma schine kann man einiges für den Entwurf von Organisationen lernen.“ Mit diesem mechanistischen Maschinenmodell war die Auffassung verbunden, einen Teil der Beschäftigten fest an die Maschine zu binden. Das hat für das Management den Vorteil, Verhalten wie Leistung der Angebundenen leichter steuern und überwachen zu können. Nach dieser Auffassung kann Realität objektiv aus der Führungsperspektive abgebildet werden. Das Management versteht sich als „Benutzer“ des MIS, während die übrigen Beschäftigten die Rolle der „Beplanten“ übernehmen. Die Vision MIS war in der Praxis nicht nur aufgrund der fehlen den Leistungsfähigkeit der damaligen Informationstechnik (IT) der 70er Jahre wenig erfolgreich. Sie musste auch scheitern, weil MIS in Organisationen allein als technisches Problem gesehen wurde, eben weil die Beschäftigten mit Maschinen gleichgesetzt wurden. Der Kampf gegen Silicon Valley und um neue Spinnennetze kann beginnen? Sind die Hoffnungen realistisch, die besonders in Deutschland ins Kraut schießen, mit der Industrie 4.0 den SiliconValleyAkteuren Google & Co. das nächste Zukunftsfeld streitig machen zu können? Beim Großprojekt Industrie 4.0 wird momentan aufgrund der deut schen Landschaft im Maschinenbau und in der Automatisierungs technik ein Vorsprung gegenüber der amerikanischen Industrie vermutet. Aber auch die amerikanischen Konkurrenten schlafen nicht. Der Kampf geht momentan um Standards und Systeme. In den USA hat sich Anfang 2014 die Initiative Industrial Internet Consortium (IIC) gegründet, um globale Standards für die Architektur des Internets <?page no="143"?> Teil III. Die smarte Transformation 142 der Dinge zu etablieren. Dabei sind General Electric, AT&T, Cisco, IBM, Intel, Toyota und Bosch, als einziges deutsches Unternehmen. General Electric hat mittlerweile eine Mrd. USDollar in die Indust rie 4.0 investiert, ein Forschungslabor in Silicon Valley eröffnet und einige Softwarefirmen gekauft. Die Siemens AG meinte, abwarten zu können, weil sie einen Vorsprung beim Wissen im Maschinen und Anlagenbau, dem Kern der digitalen Fabrik für sich reklamiert. Sie wollte offensichtlich mit mehreren europäischen Unternehmen und Forschungsstätten zusammen einen Gegenpol zum IIC etablie ren. Rochaden und Geheimniskrämerei werden verständlich ange sichts der Schätzungen von General Electric, die allein für Europa in den nächsten zwanzig Jahren einen Markt in Höhe von 2,8 Billionen USDollar sehen. Am Ende des Jahres 2014 ist Siemens nun doch dem ICC beigetreten. Sind hier neue Spinnennetze am Horizont erkennbar? Noch lie gen Kompetenz und internationale Wettbewerbsfähigkeit bei vielen dezentral verteilten mittelständischen Maschinenbaufirmen. Unter stellen wir einmal, dass es zukünftig zwei konkurrierende Industrie 4.0Verbünde geben wird, in den USA um General Electric und in Europa um Siemens. Es dürfte für mittelständische Firmen schwie rig werden, die Produktionsdaten dann noch exklusiv zu verwalten. In digitalen Plattformen von Verbünden sind Daten kaum exklusiv zu halten. Die PlattformOrganisatoren wie General Electric bzw. Siemens werden versuchen, sich, so unsere Vermutung, nach und nach das Gesamtsystem einzuverleiben. Oder wird auch Google noch ein Wörtchen mitreden? In welcher Cloud landen die Daten und wer wird aus der Aggregation und Auswertung der Daten Dienste zum Schaden der Maschinenbauer anbieten? Die Herausforderung, die Industrie 4.0 wie geplant umzusetzen, ist schon allein eine Herkulesaufgabe, aber diese soll noch getoppt werden. Die digitale Industrialisierung soll nicht nur hoch automa tisiert Produkte und Waren produzieren. Aus den dabei entstehen den Daten können digital neue anschlussfähige Dienste gestaltet und dem Kunden als sogenannte ProduktServicePakete zur Ver fügung gestellt werden. <?page no="144"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 143 Die Zukunftsfrage für SiemensChef Joe Kaeser definiert sich über den Wertschöpfungsanteil eines Unternehmens. Dieser ergibt sich nach seiner Auffassung vor allem durch den Zugriff auf Pri märdaten, aus denen sich neue Geschäftsmodelle entwickeln lassen. Als Beispiel nennt er eine Gasturbine, die mit 1.500 Sensoren ausge rüstet ist. Aus diesen Daten lassen sich für die SiemensKunden attraktive Geschäftsmodelle für Service und Wartung entwickeln. Daten sind die Ressource, aus der neue Dienste gestrickt werden können. Entsprechend werden sich Geschäftsmodelle in Richtung Dienstleistungen verändern. Aus dem Internet der Dinge wird zu sätzlich ein Internet der Dienste mit vielen neuen, umsatzträchtigen Geschäftsmodellen. So die Hoffnungen. Und die „Nebenfolgen“? Es wird ein frucht barer Acker eröffnet für die Etablierung neuer Spinnennetze. Für eine traditionsreiche Maschinenbaufirma wird es erforderlich, sich auch als industrieller Dienstleister zu verstehen, um die Wertschöp fung ihrer Daten nicht Internetkonzernen zu überlassen. Denn so fern es einem Internetkonzern gelingt, an die Kunden, Konstrukti ons wie ProdukteDaten heranzukommen, hat er damit einen zent ralen Kontrollpunkt geschaffen, „der möglicherweise den Hersteller und Anbieter intelligenter Dienste und Produkte vom Leitanbieter zum austauschbaren Zulieferer degradiert“, so eine Äußerung auf der Dienstleistungstagung des BMBF im Mai 2014. Die Konsequenz für die deutsche Industrie und ihre Verbände: Sie müssen zeitgleich mit dem Aufbau der Industrie 4.0 eigene Plattformen schaffen und besetzen. Der deutsche Maschinenbauverband VDMA beobachtet bereits bei seinen Mitgliedsfirmen, dass die Bedenken wegen der Befürch tung mangelnder Datensicherheit wachsen. Er sieht den Elan für eine Industrie 4.0 in den Führungsetagen bereits deutlich gebremst: „Wenn die produzierenden Unternehmen nicht sicher sind, wo ihre Daten bleiben, wird es keine breite Anwendung der Industrie 4.0 geben ... Die Horrorvision ist doch bei vielen, dass bei den ange strebten ITPlattformen nicht mehr der Hersteller exklusiven Zugriff auf seine Daten hat, sondern Internetkonzerne wie Google“, so <?page no="145"?> Teil III. Die smarte Transformation 144 M. Wocher im Oktober 2014 im Handelsblatt. Wenn unsere Ein schätzung richtig ist, dass Daten in diesem vernetzten System der cyberphysischen Systeme nicht exklusiv gehalten werden können, dann verbleiben für mittelständische Hersteller zwei Optionen: Au tonomie aufgeben und sich einer Verbandsplattform anschließen oder nicht mitmachen, den Anschluss verpassen und vom Spinnen netz Industrie 4.0 eingefangen werden. Illusionen sterben zuletzt oder gar nicht Man kann bei der Darstellung der Smart Factory auch alle „Neben folgen“ und Wechselwirkungen außen vor lassen und ein Bild vom bevorstehenden Paradies malen, so wie es dem geschäftsführenden Institutsleiter des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logis tik, Michael ten Hompel gelingt. Diese niedliche Sicht ist unter In genieuren und Informatikern hoffentlich nicht sehr verbreitet: Eine (schön gemalte) neue Welt „Die vierte industrielle Revolution wird alles verändern. Aber wie wird diese Zukunft konkret aussehen? Werfen wir doch gemeinsam einen Blick ins Jahr 2020. Ein durchaus ernst ge meintes Essay. John hat sich längst an die leichte Brille gewöhnt, die ihm jede erdenkliche Information auf seine Netzhaut projiziert. Er schaut herüber zu dem kleinen Schwarm von Cellular Transport Sys tems (über RFIDSystem gesteuerte Transportbehälter, die die Warenverteilung in einem Lager automatisiert abwickeln, A.R./ A.S.), die ihn durch die Lagergassen begleiten. Stets bereit, ihm einen leeren Karton zu bringen, oder den unablässigen Nachschub der Waren zu organisieren. John ist ein so genannter LCP, ein Logistics Cyber Professional. Als er vor sechs Jahren eingestellt wurde, stand noch „Hilfskraft für Lagerarbeit“ in der Stellenausschreibung. Nicht nur das hat sich seitdem geändert. John schaut ein leeres Fahrzeug an. Nach wenigen Augenbli cken erscheint ein virtuelles Fragezeichen über dem CTS. John winkt das Fahrzeug mit einer lässigen Geste heran, worauf sich <?page no="146"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 145 gleich ein weiteres mit einem Ausrufezeichen meldet und eine freundliche Frauenstimme fragt, ob er einen leeren Karton wünscht. Er beantwortet die Frage mit einem kurzen „Ja“ und folgt den riesigen grünen Pfeilen, die aussehen, als wären sie auf das Regal vor ihm aufgemalt. Die CTS folgen ihm im Gänsemarsch, und ohne hinzuschauen, greift John nach einer leeren Kiste, stellt sie auf das tischhohe Fahrzeug vor sich und beginnt mit der Kommissionierung. Le sen und Rechnen ist nicht wirklich seine Stärke. Er denkt daran, als vor sechs Jahren die ersten Brillen mit dem Coaster (ur sprünglich Untersetzer für Biergläser, hier wohl GrafikDisplay der Datenbrille A.R./ A.S.) auf den Markt kamen und wie froh er war, nicht mehr mit langen Listen durch das Lager laufen zu müssen. DER KOLLEGE „RACK RACER“ Sein Coaster meldet sich: Frühstückspause. Auf dem Grafik Display des flachen kleinen Geräts erscheint die dampfende Kaffeetasse seines Kollegen Bernie, dessen Bild sogleich vor ihm auftaucht. John entscheidet, den Kommissionsauftrag noch zu beenden und schickt das CTS mit einem leichten Wisch seiner rechten Hand zum Warenausgang. Anschließend nimmt er den Coaster, hält ihn vor sein Gesicht und meldet sich mit einem kurzen „Pause“ ab. Die virtuellen Bilder vor seinem Auge lösen sich auf und er hört nur noch ein schnarrendes „Bye“. Während John zum Pausenraum geht, der schon seit einem Jahr nicht mehr Pausenraum, sondern „LogistikLounge“ heißt, fällt sein Blick auf die neue Generation von CTS, die vor zwei Wo chen im Lagerblock drei eingezogen sind. Die Jungs nennen sie „Rack Racer“ (Paketrennmaschine). Ein wenig sehen sie aus wie Außerirdische und John kann nicht umhin, immer wieder hin zuschauen. Sie sind aus schneeweißem Kunststoff gefertigt und ihre Karosserie sieht aus wie ein Skelett. Die Raupen, auf denen sie sich fortbewegen, recken sich wie Fangarme nach oben, wenn sie ins Regal fahren. Vor ein paar Jahren hätte er das noch als Science Fiction belächelt. Schon die Vorgängerfahrzeuge konnten sich einen Lift rufen und ins Regal fahren. Aber die Rack Racer klettern wie von <?page no="147"?> Teil III. Die smarte Transformation 146 Geisterhand diagonal die Regalwand hoch. Leise summend schwirrt ein Dutzend von ihnen kreuz und quer durch das La gerregal und manchmal fährt eines heraus, um seinen Behälter an einer der Arbeitsstationen abzuliefern, die im Halbkreis vor dem Lagerblock aufgebaut sind. Nicht mehr lange, und er wird mit ihnen und den kooperativen Robotern an den Montageplät zen zusammenarbeiten dürfen. LERNAPP IN DER KAFFEEPAUSE Bernie sitzt noch nicht an seinem Stammplatz, als John die Lounge betritt und von der Kaffeemaschine mit einem lässigen „Hi John“ begrüßt wird. Er nimmt sich den bereitstehenden, dampfenden Becher, auf dem sein Name steht, und während er auf Bernie wartet, coastet John noch für ein paar Minuten in ei ner seiner LernApps. Er klickt mit seinem Daumen vor, bis sein Bild erscheint und ihn ein Schriftzug fragt, ob er ein wenig mehr zum „Rack Racer“ lernen möchte. John freut sich, dass er die neue Technik in aller Ruhe anschauen und testen kann und niemand über seine Fragen lacht. Er lehnt sich zurück und denkt daran, wie sehr sich seine Welt in sechs Jahren verändert hat. Wie schnell hat er sich doch daran gewöhnt, mit Maschinen und Regalen zu sprechen“. Frage: Woher nimmt der Autor die Gewissheit, dass John in sechs Jahren statt in der LogistikLounge nicht im Warteraum der Arbeitsagentur sitzt? Geht es auch überschaubar und sozialverträglich? Das Beispiel Hamburger Bücherhallen Der Anspruch der Industrie 4.0Planer nach Überbrückung des Grabens zwischen immer komplexer werdenden Systemen einer seits und den gleichzeitig steigenden Anforderungen an Robustheit und Sicherheit andererseits, steht ganz oben auf ihrer Agenda. Ob sie das einlösen können, ist keineswegs sicher. Die avisierten Zeit horizonte sind zumindest großzügig bemessen: So geht der wissen schaftliche Direktor für Innovative Fabriksysteme am Deutschen <?page no="148"?> 1. Mit dem Internet der Dinge zur Smart Factory 147 Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (DFKI) Detlef Zühlke davon aus, dass erst in drei Jahren erste Produktionsstraßen ver netzt sein werden „und die erste vollvernetzte Fabrik erst in 20 Jah ren zu besichtigen sein wird“. Erste Ansätze auf der Basis von RFIDChips und Funketiketten laufen bereits im Handel und in der Warenlogistik. Sie sind, wenn man so will, Aufgalopp oder Probebühne für das Großprojekt In dustrie 4.0. RFID ist ein Verfahren zur kontaktlosen Identifikation von Perso nen oder Objekten. Anders als der Barcode, z.B. bei Waren im Ein zelhandel, basiert RFID auf Funktechnik und braucht zur Identifika tion des jeweiligen Objektes weder Sicht noch Berührungskontakt. RFIDTransponder sind bereits weit verbreitet: zur Diebstahl sicherung in Geschäften, bei Zugangssystemen in Unternehmen, bei Reise und Skipässen und auf und in Produkten des Einzel und Versandhandels. Sportartikelhersteller rüsten Laufschuhe mit Trans pondern und Sensoren aus, die die gelaufenen Meter und andere Informationen an ein Endgerät des Sportlers melden. Smarte Auto reifen melden den Fahrern nachlassenden Reifendruck. Auch Haus haltsgeräte und Kleidungsstücke werden mit Chips bestückt. Im Handel werden an Paketen oder Paletten beispielsweise RFIDChips angebracht. Auf diese Weise können Produktnummer, Herstellerangaben etc. ohne Sichtverbindung über einige Meter mit einem Lesegerät ausgelesen, identifiziert und an das Wareninforma tionssystem gemeldet werden. In industriellen Prozessen unterstützen die vorhandenen Soft warelösungen bislang lediglich einzelne Anlagen und Maschinen, das Zusammenwirken ist noch unzureichend. Das wirft die Frage auf, ob es nicht klüger ist, in dezentralen überschaubaren Einheiten die vorhandene menschliche Expertise und Erfahrung der Beschäf tigten zu nutzen und sie eben nicht als Informatisierungslücke zu betrachten. Wie dies aussehen könnte und wie die informations technischen Hintergründe den Nutzer auf verständliche Weise vermittelt werden kann, zeigt das Beispiel der Hamburger Bücherhal <?page no="149"?> Teil III. Die smarte Transformation 148 len, das allerdings nicht für die Industrie 4.0 steht, aber in ihrem Anliegen leicht übertragbar ist. Wie erwähnt, werden wir täglich, ohne es zu wissen oder gefragt zu werden, mit der RFIDTechnologie konfrontiert. Da tut es gut, auf ein gelungenes Beispiel der RFIDAnwendungspraxis zurück greifen zu können, das als Muster dienen kann, wie ein geschlossenes RFIDSystem unter Mitsprache der Beschäftigten und Kunden zum Erfolg führen kann. Wir greifen hier auf die Untersuchung des Wirtschaftsinformatikers Christopher Elwart von der Universität Hamburg zurück: Die Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen (HÖB) setzt in insgesamt 37 Bücherhallen seit 2009 auf den Einsatz von RFIDTranspondern. Transponder werden für die Medienaus leihe, die Medienrückgabe und für die Diebstahlsicherung ein gesetzt. Alle auszuleihenden Bücher und CD sind mit einem Transponder versehen. An den Ausgängen stehen Gates als Diebstahlschutz. In der Zentralbibliothek stehen sieben Selbst verbuchungs und vier Selbstrückgabestationen sowie eine Rückgabeanlage inklusive automatischer Sortieranlage, bei der die Kunden die Medien selbständig rund um die Uhr (24/ 7) zu rückgeben können. Die Investitionssumme für das Projekt be trug 4,7 Millionen Euro, die Kosten pro Transponder sind 13,5 Cent. Es wurde von Anfang an eine konsensuale Lösung ange strebt, d.h. Kunden, Beschäftigte, Arbeitnehmervertreter und Führungskräfte wurden beteiligt, um ein gemeinsames Prob lembewusstsein zu schaffen. Bereits am ersten Tag der Einführung wurden die Selbstverbu chungsstationen von 95% der Kunden benutzt. Auch die Rück buchungsstation in der Zentralbibliothek wird mittlerweile von 95% der Kunden benutzt. Sie erwarten diese Technik auch in den kleineren Bibliotheken, weil der Nutzen höher eingeschätzt wird als die damit notwendig gewordene Überwälzung von Arbeit auf den ausleihenden Kunden. In einer Betriebsvereinba rung wurde allerdings auch festgeschrieben, dass keine be triebsbedingten Kündigungen damit verbunden sein sollen. <?page no="150"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 149 Die HÖB einigte sich mit ihrem Datenschutzbeauftragten auf ein schlankes Datenmodell. Die Kundenkarten wurden nicht auf RFID umgestellt. Es werden zur Markierung der Medien passi ve, wiederbeschreibbare Transponder verwendet, die auf eine Reichweite von etwa 30 cm beschränkt sind. Es werden auf den Transpondern weder bibliographische noch personenbezogene Daten gespeichert. Dieses Datenmodell ist als sog. „Dänische Datenmodell“ bekannt. Durch die Selbstverbuchungsstationen wurde der Ausleihvor gang beschleunigt, Warteschlangen zu den Stoßzeiten und da mit verbundener Kundenfrust gehören der Vergangenheit an. Durch Einsatz der RFIDTransponder wurden Informatisie rungslücken geschlossen, die in den Ausleih und in den Rück gabevorgängen vorlagen. Die Überwälzung von Arbeit auf den Kunden wird von diesen offensichtlich als weniger relevant an gesehen als der Nutzen, der ihm durch die schnelle und ano nyme Selbstabwicklung geboten wird. Für die Mitarbeiter erge ben sich freie Arbeitskapazitäten, die für Beratung und Schu lung genutzt werden“. Dieses Beispiel für eine geschlossene Systemanwendung der RFID Technologie hat ein überschaubares Umfeld und den Vorteil, dass alle mit RFID markierten Objekte im System bleiben. Dadurch kön nen teurere wiederbeschreibbare Transponder genutzt werden. Of fene Systeme haben einen weitergehenden Anspruch. Sie wollen ein erheblich komplexeres Umfeld abdecken, z.B. Wertschöpfungsket ten, die sich über Unternehmens und Ländergrenzen hinweg er strecken und dabei zahlreiche Unternehmen und Geschäftsprozesse einbeziehen. 2. Smartes Leben in der smarten City Nicht nur die Industrie, sondern auch die Städte werden von der digitalen Transformation erfasst. Diese stehen vor vielfältigen Her ausforderungen: Die Stadt soll möglichst urban sein, ein reichhalti <?page no="151"?> Teil III. Die smarte Transformation 150 ges Angebot an innovativen Unternehmen und Bildungsstätten mit ausreichenden, attraktiven Arbeitsplätzen, eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur und bezahlbare Mieten haben. Zudem sollte sie der umweltgerechten Entwicklung verpflichtet und für Touris ten attraktiv sein, damit Reputation für Stadt und Bewohner entste hen kann und das kommunale Stadtsäckel gefüllt wird. Es sind vor allem die „weichen Standortfaktoren“ Urbanität, Wissen, Innovati onsfähigkeit, kulturelle Attraktivität und Nachhaltigkeit, die zum Wunschbild einer lebenswerten Stadt zählen. Städte sind komplexe Gebilde, deren Veränderungsprozesse eng mit ökonomischen und technischen Entwicklungen einhergehen. Zusammen mit virulenten gesellschaftlichen Orientierungen bün deln sie sich zu Leitbildern. Sie geben für eine bestimmte Zeit die Richtung der Stadtentwicklung vor. So galt es in den 1950er Jahren die Stadt für den Autoverkehr optimal auszurichten. Jeder Autofah rer sollte direkt und schnell in die Stadt kommen, um seine Kon sumwünsche realisieren zu können. Bald verband sich die zuneh mende KfzDichte mit dem eigenen Häuschen im Grünen. Derzeit rückt die „Nachhaltige Stadtentwicklung“ in den Vordergrund. Die EUStaaten haben im Rahmen der LeipzigCharta das Leitbild der nachhaltigen „Europäischen Stadt“ konkretisiert. Nachhaltigkeit und Urbanität sind, so die Ansicht des Architek turkritikers Hanno Rauterberg in seinem Buch Wir sind die Stadt Urbanes Leben in der Digitalmoderne in das Stadtleben zurückgekehrt. Sie drücken sich in der Sehnsucht der Bewohner nach überschauba ren und begreifbaren Gestaltungsräumen aus. Es gibt einen „Urba nismus von unten, der die Stadt wiedererweckt“. Das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung werde in der Stadt neu bestimmt. Es kündige sich „nichts Geringe res als ein gesellschaftlicher Wandel an: Gegen die Ökonomie der selbstsüchtigen Herzen setzen viele der urbanistischen Bewegungen einen Pragmatismus der Anteilnahme und des Teilens“. Stadtentwicklung ist vermutlich noch schwerer zu wenden als ein großer Tanker. Die Entwicklung der Stadt erscheint zuweilen als chaotischer Selbstlauf. Dennoch versucht eine Armada von Stadt <?page no="152"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 151 planern, Architekten, Sozialwissenschaftlern, Juristen, Ökonomen, Kommunen und Bürgern mit Erfolg darauf Einfluss zu nehmen. Sie streiten tagtäglich vor Ort und in der Wissenschaft über die „richti ge“ Stadtentwicklung. So hat sich ein umfangreicher Schatz an Wis sen entwickelt, der in vielen Sitzungen und Publikationen verhandelt wird und das Stadtbild formt. Es geht um die Aushandlung von Inteû essen der Investoren und der Kommunen sowie um die Berücksich tigung von Bürgerinteressen. Das neue Leitbild Smart City rollt auf die Städte zu Nun rollt mit dem Aufkommen von Internet und neuen Technolo gien wie Ubiquitous Computing ein neues, mächtiges Leitbild auf die westlichen Metropolen zu: Die Smart City. Laut Verband der Elektrotechnik (VDE) geht es dabei in erster Linie um die Steige rung der Effizienz der städtischen Infrastrukturen und um neue effektivere Formen der Verwaltung von Städten. Über die Stadt soll ein intelligentes Netz sensorgestützter Knoten gelegt werden, um so auf Basis der gesammelten Messdaten ein effizientes CityManagement zu realisieren. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Urheberschaft für die SmartCityVorstellungen liegt nicht bei den Stadtplanern, Architekten oder Kommunen. Sie wird in Mountain View, Palo Alto und im Silicon Valley ausge heckt. Die in Fahrbahnen eingelassenen Sensoren können beispielswei se die Anzahl der Fahrzeuge und ihre Geschwindigkeit messen. Der ÖPNV kann durch kontinuierliche Aufzeichnung der Fahrzeugpo sitionen überwacht werden. Fahrgastinformationen wie Fahrpläne und Störungen im Regelbetrieb können dank Sensoren und Big Da taAnalysen in Echtzeit erstellt und gegebenenfalls aktualisiert wer den. Auch für Autofahrer ergeben sich neue Möglichkeiten in der Smart City. Freier Parkraum wird auf ihrem Smartphone oder den Boardcomputern angezeigt und kann von dort aus reserviert wer den. Die Belastung durch den Individualverkehr lässt sich so im <?page no="153"?> Teil III. Die smarte Transformation 152 innerstädtischen Bereich vermindern, eine nicht ganz unwichtige positive Folge, zumal sich die Anzahl der Staus innerhalb der Städte in Westeuropa zwischen 2006 und 2010 verdoppelt hat. Weitere Handlungsfelder sind u.a. die Implementierung intelli genter Gebäudetechnologien, wo heute rund vierzig Prozent des weltweiten Energieverbrauchs anfallen, sowie der Schutz und die Sicherheit der Bürger und kritischer Infrastrukturen. Das Verspre chen dieser Technologien ist letztendlich, effizientere Nutzung der Lebenszeit und Beseitigung bestehender Nebenfolgen, die sich aus den bisherigen technologischen Errungenschaften ergeben haben. Technik löst zunehmend die Probleme von Technik, so die Leitidee. Dass dieses Vorgehen letztlich neue Nebenfolgen auslöst, wird übersehen. SmartCityKonzepte stehen für eine umfassende städtische In formatisierung, damit das Leben sowohl in der Freizeit wie zuhause bequemer (Smart Home) und die städtische Mobilität (Smart Mobi lity) erleichtert und effizienter wird. Das übergeordnete Verspre chen ist Stärkung der Energie und Klimaschutzziele (Smart Ener gy). Eine lohnende Zielsetzung, da 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen und dort 80 Prozent der Emissionen entstehen. Die Botschaft des Leitbildes Smart City ist: Reduzierung der städ tischen Umweltbelastungen und des Energieverbrauchs, erhöhte Absicherung vor Gefahren aller Art sowie rationellere Ausnutzung des städtischen Raumes bei mehr Komfort und Bequemlichkeit für den Bürger bzw. Autofahrer. Dass er dabei von seinem „Partner“ Smartphone unterstützt wird, ist er vom Konsumbereich her ja be reits gewohnt. Deshalb wird der Bürger dies, so die Hoffnung der SmartCityPlaner, über kurz oder lang auch für den städtischen Lebensraum erwarten. Die meiste SmartCityProjekte setzen auf verlässliche Sensoren auf, die Objekte erst „smart“ machen und über Netzwerke, z.B. das Internet verbunden werden. Sie sind in der Lage, die gewünschten System und Umfelddaten zu erheben, die sie zu einer Leitzentrale oder Cloud weiterleiten. Hier werden diese zu Steuerbefehlen ver dichtet, um dann die gewünschten Aktionen im Netz auszulösen. <?page no="154"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 153 Technisch aufwändig und anspruchsvoll wird es sein, die Konnek tivität und Interoperabilität herzustellen, d.h. funktionierende Sen sornetze aufzubauen und die Kompatibilität zwischen den unter schiedlichen Applikationen zu sichern, damit die Objekte system übergreifend Daten übermitteln können. Doch die bei SmartCity Projekten anfallenden riesigen Datenmengen nützen nur dann et was, wenn entsprechende Algorithmen und Verfahren entwickelt werden, die die Daten zu Metainformationen verdichten, die dann als automatisierte Entscheidungen abgerufen werden können, so der VDE in seinen 10 Thesen zur Entwicklung von Smart Cities. Den SmartCityPlanern kommt zupass, dass eine Teilinfrastruk tur durch die RFIDTransponder bereits vorhanden ist, die im Rah men des Internets der Dinge an Waren, Werkzeugen, Nutzfahrzeu gen und Maschinenteilen angebracht wurden. Damit wird die Ver folgung des logistischen Flusses smarter Objekte durch die Stadt als wichtiger Teilaspekt der Smart City möglich. Smart Factory und smarte Wertschöpfungsnetze sind wichtige Teilstücke der Smart City. Experten vermuten, dass smarte Wertschöpfungsnetze mit in telligenten Transportsystemen die smarte Stadt und Regionalent wicklung beschleunigen werden. Die Smart City wird sich vermut lich durch Verknüpfung von Einzelprojekten zu einem umfassen den Konglomerat verdichten und sich so nach und nach realisieren. Viele europäische Städte und Forschungsprojekte arbeiten längst an der Planung und Umsetzung der Smart City, was wohl auch auf die EUFörderungsinitiative „Smart Cities and Communities“ zu rückzuführen ist Die Beispiele zeigen, dass es kein einheitliches Verständnis gibt. Oftmals soll mit dem Label Smart City, ähnlich wie bei der inflationären Nutzung der Metapher Nachhaltigkeit, eine schicke Marketingfarbe und die Einwerbung von EUGeldern er reicht werden. In Amsterdam hingegen werden Projekte zu Energie und Klima schutz unter der Initiative „Amsterdam Smart City“ zusammenge fasst. Amsterdam hat sich das Ziel gesetzt, die erste „intelligente“ Stadt Europas zu werden und bis 2025 die CO 2 Emissionen um 40 Prozent zu senken. Ziemlich unabhängig von diesen anspruchsvol <?page no="155"?> Teil III. Die smarte Transformation 154 len Zielen hat Amsterdam das „Kennzeichenparken“ eingeführt: Am Parkautomaten muss der Autobesitzer die Daten des Num mernschildes eingeben, bezahlt wird mit einer Karte oder dem Mo biltelefon. Im ÖPN ist der Zutritt nur mit Chipkarten möglich, die alle privaten Daten erfasst. Das sind prächtige Aussichten für das Recht auf Privatsphäre. „Smarter“ wäre es allerdings, wenn die Da ten, inklusive Bezahlvorgang, ebenfalls auf eine „intelligente“ Art, ähnlich dem deutschen MautSystem abgewickelt würden. Kopenhagen hat ähnlich ehrgeizige Reduktionsziele, setzt dabei aber auch auf den Ausbau der Stadt zu einer Fahrradmetropole. In Helsinki steht „Smart City“ für Ubiquitous ComputingProjekte im Verkehr und Tourismus, für Events sowie in Kindergärten. Die Stadt möchte zu einem führenden Entwicklungs und TestHub für ubiquitäre Dienste und als Referenzmodell für Investoren attraktiv werden. Das ist nicht unabhängig zu sehen vom spektakulären Niedergang des Handyherstellers „Nokia“ und dem Versuch, so eine neue Innovationskompetenz zu gewinnen. Eine umfangreiche Auflistung von Städten mit SmartCityAmbitionen findet sich bei wikipedia.org unter dem Schlagwort <Smart City>. In Deutschland hat die Bundesregierung in ihrer HightechStrate gie 2020 das Zukunftsprojekt „Die CO 2 neutrale, energieeffiziente und klimaangepasste Stadt“ formuliert, um „einen Leitmarkt für nachhaltige Stadtsysteme für die Zukunft zu schaffen“. In diesem Rahmen hat die FraunhoferGesellschaft zusammen mit zahlreichen Instituten die „Morgenstadt: City Lab Challenge“ gegründet, um die digitale Transformation unserer Städte voranzubringen. Der VDEJahreskongress 2014 in Frankfurt/ M. war voll mit Pro phezeiungen, was die Smart City bringen und kosten wird. Kern stück sei, die öffentliche Infrastruktur mit Sensoren und Messstatio nen auszurüsten, um so Millionen von Einzeldaten des öffentlichen und IndividualVerkehrs erfassen und lenken sowie Schutzsysteme gegen Feuer und Kriminalität installieren zu können. Die öffentliche Verwaltung werde rationeller agieren bzw. in Teilen zu ersetzen sein. Welche Investitionen erforderlich werden, zeigt die über schaubare Stadt Santander, die zur Verkehrserfassung immerhin <?page no="156"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 155 30.000 Sensoren installiert hat. Dazu gehören auch der Ausbau des Glasfasernetzes bis zum Anwender sowie der Einbau von Smart Meter in alle Gebäude, um das vernetzte Haus herzustellen. Die SmartCityPlaner erweisen dem Homo oeconomicus ihre Referenz Bei allen SmartCityProjekten fällt auf, dass allgemein akzeptierte Ziele wie Energieeinsparung, Nachhaltigkeit, Resilienz und Le bensqualität in den Vordergrund gerückt werden. Offensichtlich um die Akzeptanz für die Eroberung neuer Märkte für städtische Systeme und Produkte zu erhöhen. Etwas geschwollen formuliert, drückt sich das dann so aus: Es geht darum, „bevorstehende Tech nologiesprünge und disruptive Entwicklungen für die Stadt von morgen zu identifizieren und neue Produktsysteme und Geschäfts modelle dafür zu konzipieren (revolutionäre Innovation)“, so das Forschungsprojekt morgenstadt.de. Eines ist klar: Deutschland will Leitanbieter für SmartCityGesamtlösungen werden. Das setzt vor aus, frühzeitig Standards zu setzen; nur so lassen sich Märkte ge winnen. Im April 2014 wurde bereits die „Deutsche Normungs Roadmap Smart City“ vorgelegt. Ist es denkbar, dass bei Durchsetzung der VDEPläne und bei weitgehender privater Finanzierung der Strukturinvestitionen, die Kommunen das Nachsehen haben werden, weil ihre Autonomie und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt werden? Können sich neue Spinnennetze für den Bereich Smart City etablieren? Sind dies reine Spekulationen oder realistische Bedenken? Die SmartCityPlaner zeigen keinen übertriebenen Ehrgeiz, mit den traditionellen Stadtentwicklern, den Planern, Architekten, Ex perten der Kommunen etc. ins Gespräch zu kommen. Ihre Erfah rungen und ihr Rat sind ihnen offensichtlich nicht wichtig. Sie möchten „Rom“ alleine erbauen, das möglichst schnell und ohne lange Diskussionen. So zumindest der Eindruck der einschlägigen Publikationen, die weder den Wunsch nach interdisziplinären Pro jekten verströmen noch eine gewisse Demut vor tradierter Fach <?page no="157"?> Teil III. Die smarte Transformation 156 kompetenz erkennen lassen. Bedürfnisse, die für Hanno Rauterberg wichtig sind Wiederentdeckung des Urbanismus von unten tau chen bei diesen SmartCityEntwürfen nicht auf. Der Beigeordnete des Deutschen Städtetags und Leiter des De zernats Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr des Städte tages NordrheinWestfalen, Hilmar von Lojewski, hat zu diesen SmartCityEntwürfen eine ziemlich eindeutige Meinung: „Das Thema ‚Smart City‘ richtig einordnen! “ Springer für Professionals: Wie sehen Sie die Diskussion um „Smart City“ durch die Brille des Deutschen Städtetags? Hilmar von Lojewski: Aus unserer Sicht ist das gesamte Thema derzeit vor allem durch die Industrie und deren Marketingabteilungen getrie ben. Das Ziel der Unternehmen ist es, als erster auf dem Markt zu sein bzw. technische Standards zu setzen, um sich möglichst frühzeitig Marktanteile zu sichern. Der ursprüngliche Gedanke hinter der Idee „Smart CityG, also technikgestützte Verbesserungen für die Bürgerin nen und Bürger, rückt hierbei leider zu sehr in den Hintergrund. Woran machen Sie diesen Eindruck fest? Diese Entwicklung lässt sich sehr einfach und deutlich an den aktuell laufenden Forschungs, Normungs und Modellvorhaben ablesen. „SmartCityGProjekte gehen auf der EUEbene von der Generaldirek tion „EnergieG aus und werden in erster Linie als Wirtschaftsförde rung betrieben. In Deutschland setzen sich die jeweiligen Plattformen ebenfalls mehrheitlich aus Bundesministerien und Vertretern der In dustrie zusammen. Kommunale Akteure, die Kraft ihres Mandats die öffentlichen Interessen vertreten, bleiben dabei weitgehend außen vor bzw. sind nur bei einzelnen Themen beteiligt. Was schlagen Sie vor, um diese von Ihnen als zu einseitig emp fundene Entwicklung wieder in eine andere Richtung lenken? Ich denke, das Thema „Smart CityG sollte zuerst einmal richtig einge ordnet werden. In der Stadtentwicklung gibt es seit 2007 das unter breiter Mitwirkung und Abstimmung aller EUStaaten im Rahmen der LeipzigCharta konkretisierte und politisch operational gefasste Leitbild der nachhaltigen „Europäischen StadtG. Diese wie auch die <?page no="158"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 157 darauf aufbauende ToledoDeklaration aus dem Jahr 2010 weisen uns bereits den Weg. Essentiell bei allen verabschiedeten Leitbildern ist der integrierte Ansatz für die zukünftige Stadtentwicklung, der auf eine effiziente Ressourcennutzung, einen Interessenausgleich im Sinne des Allgemeinwohls und auf eine nachhaltige Stadtentwicklung abzielt. Es geht auch anders: Kritik und Alternativen Es gibt aber auch Projekte, die nicht gleich mit Geschäftsmodell Visionen ins Haus fallen, beispielsweise das von der EU finanzierte Forschungsprojekt „European Smart Cities“ der TU Wien (siehe Abbildung 7). Die Wissenschaftler betrachten und vergleichen nicht Abbildung 7 / Kriterien für eine nachhaltige Smart City 9 <?page no="159"?> Teil III. Die smarte Transformation 158 Ungeklärt ist bislang auch die Finanzierungsfrage. europäische Metropolen, sondern haben einen integrativen Ansatz für mittelgroße europäische Städte entwickelt (100.000 bis 500.000 Einwohner). Die Absicht ist, Lernprozesse für urbane Innovationen anzustoßen. Der Entwurf zeichnet sich durch eine bemerkenswert reichhaltige SmartCitySicht aus. Die Bewertung der Städte erfolgt in den sechs Bereichen Smart Economy, Smart Governance, Smart En vironment, Smart People, Smart People und Smart Living, die jeweils durch eine Reihe von Indikatoren ausdifferenziert werden. Im 3. Ran king im Jahr 2014 lagen Luxemburg und Aarhus von 77 bewerteten Städten auf den ersten Plätzen. Die beste deutsche Stadt war Regens burg auf Platz 18. Die SmartCityKonzepte, wie sie beispielsweise dem VDE vor schweben, sind nicht zu kritisieren, weil sie Energie, Ressourcen und Klima schonen wollen, und auch nicht, weil daraus neue Ge schäftsmodelle entstehen können. Die Entwürfe können auch die Effizienz des Stadtmanagements verbessern. Zu kritisieren ist die ausschließlich ökonomie und technikdeterminierte Sicht auf die SmartCityInfrastruktur, die mögliche negative Effekte unberück sichtigt lässt. Vorsicht ist auch deshalb angesagt, weil die Verfechter ein überaus schlankes Bild vom Leben in der Stadt haben. So taucht etwa die Frage nach der Urbanität einer Stadt nicht auf. Ist eine effi ziente, durchorganisierte Stadt auch eine lebenswerte Stadt? Die Dominanz ökonomischer Ziele als entscheidender Treiber wird mit großer Wahrscheinlichkeit die urbane Stadtentwicklung erschlagen. Wenn alles dem Homo oeconomicus untergeordnet ist, wird das, was Stadtleben ausmacht, stranguliert. Konflikte mit den Bürgern sind absehbar. Sollen die beträchtlichen Investitionen aus den kommunalen Haushalten oder durch privates Kapital finanziert werden? Privat finanzierte SmartCityEntwürfe sind riskant. Das mobile Kapital hat seine eigenen Interessen, es wird möglicherweise nur solange in der Stadt bleiben, bis es woanders bessere Renditen sieht. Für die erfolgreiche Umsetzung der SmartCityKonzepte ist es notwendig, möglichst viele Aktionen und Bewegungen im öffentli <?page no="160"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 159 chen Raum zu messen und zu automatisieren. Das kennen wir von Taylor und Ford. Nur so können Energie und RessourcenVer schwendungen identifiziert und reduziert werden. Das öffentliche Leben in der Stadt soll auf wissenschaftlicher Basis, nach Maß und Zahl vermessen werden. Ökologische Zielsetzungen werden damit zum Ausgangspunkt, vielleicht auch manchmal zum Vorwand, für massenhafte Datensammlungen. Nach den Bereichen Konsum und Arbeitswelt wird mit dem öffentlichen Raum ein dritter Lebensbe reich erschlossen, der über das Nutzerverhalten Aufschluss geben kann. Big Data wird so auf seiner Etappe eine weitere Festung schleifen. Mit der Realisierung des Smart Home wird es zusätzlich möglich, ein umfassendes Bild der Persönlichkeit des Nutzers zu erstellen. Auch der VDE sieht hier Probleme und fordert, dass „die Gesetzgeber strikte Vorgaben und Gesetze hinsichtlich des Daten schutzes erlassen, um die Akzeptanz der Nutzer für diese Systeme nicht zu gefährden“. Was ist nun von den SmartCityPlanern zu fordern? Holt euch bei euren Entwürfen und Projekten den Rat der Stadtplaner, Archi tekten, Sozialwissenschaftler, Juristen, Ökonomen, Kommunen und Bürger, die sich seit Jahrzehnten professionell mit der Stadtentwick lung beschäftigen oder in der Stadt leben und sich auskennen! Lasst sie mitentscheiden! Setzt eure Homo oeconomicusBrille mit der GeschäftsmodellLinse ab, erweitert euren Blick und akzeptiert die Notwendigkeit zu interdisziplinären Kooperationen. Auch damit ihr mit euren Entwürfen nicht total scheitert. Smarter Alltag in der Kritik Es lohnt sich, die SmartCityPlaner und auch Google & Co. einmal auf ihre Vorstellungen hin abzuklopfen, die sie vom smarten Alltag in der City haben. Evgeny Morozow vermutet: „Wenn es nach Google geht, wird der öffentliche Raum bald aussehen wie das kaliforni sche Suburbia, in dem das Unternehmen angesiedelt ist - hübsch aber isoliert, sonnig, aber ohne funktionierende Infrastruktur, or dentlich, aber nach Einkommen separiert ... In der schönen Google <?page no="161"?> Teil III. Die smarte Transformation 160 Welt ist der öffentliche Raum bloß etwas, das zwischen der eigenen Haustür und dem gut bewerteten Restaurant steht, das man unbe dingt aufsuchen will“. Unter dem Label Smart City werden uns noch einige Projekte in unserer Freizeit überraschen. Exemplarisch steht dafür der vielfache deutsche Meister FC Bayern München. Er ist 2014 eine „Technolo giepartnerschaft“ mit dem Softwarekonzern SAP eingegangen. Die neuen Partner wollen über die Datenbankplattform Hana ein Sys tem etablieren, das Laufleistungen, Passqouten und Ballbesitz der Spieler erfasst, um daraus Spielabläufe abzuleiten. Noch verbieten es die Regeln, diese Informationen auf die GoogleGlassBrille von Pep Guardiola zeitnah auf die Trainerbank zu übertragen. Die Hoffnung ist auch, Gesundheitszustand und Verletzungsrisiken frühzeitig erkennen zu können. Zur „kompletten digitalen Welt“ des FC Bayern, so der Vorstandsvorsitzende Rummenigge, gehört auch die Organisation der betriebswirtschaftlichen Prozesse, der Dialog mit 292 Mio. Fans auf der Welt sowie das Merchandising der Fanartikel. Die Prinzipien sind aus der Welt der Produktion längst bekannt: Was hier nachdenklich macht, ist die Nutzung von Big Data, um den gläsernen Fußballer herzustellen. Warum auch sollte diese Entwicklung vor einem Markt halt machen, der ein geschätztes Marktvolumen von 20 Mrd. Euro hat? Die Fußballspieler sind Pro duktionsfaktoren, ein nicht rechtzeitig erkannter Leistungsabfall muss als Geschäftsschädigung, wenn nicht als Zerstörung des Ge schäftsmodells durch Abstieg gesehen werden. Deshalb sprechen wir heute auch von Spielermaterial. Vor gar nicht langer Zeit hieß das noch die schönste Nebensache der Welt. Wir wollen spekulieren und das Konzept Smart Stadium auf eine weitere Institution übertragen, wie es die beiden Wirtschaftsinfor matiker Mathias Mäser und Lucas Fandrey ironisierend getan ha ben: Wie wäre es beispielsweise mit einer Smart Church, die An wendung von IT gestützten „smarten” Ideen für den Kirchenalltag, um den Gottesdienst für jüngere Kirchengänger attraktiver zu ma chen. Interaktive Informationen über das Thema der Predigt mit <?page no="162"?> 2. Smartes Leben in der smarten City 161 Hilfe von Apps sowie die Planung und Inhalte des Kindergottes dienstes als Anwendungen sind naheliegend. Würde das die Besu cherzahlen in der „Smart Church“ erhöhen? Wäre es der Würde eines Gottesdienstes angemessen? Einen umfangreichen Markt auch außerhalb des Sportmarktes versprechen sich Hersteller in den nächsten Jahren vom Mobil geschäft der Wearables, wozu intelligente Uhren, Brillen oder Fit nessarmbänder zählen. Durchgesetzt haben sich bereits die Fitness tracker, die u.a. Puls und Herzfrequenz messen. Noch sind diese Geräte, wie es einmal bei den ersten Smartphones war, Statusobjek te. Schon heute sind Krankenkassen an diesen Daten interessiert. Die Datenabgabe wird nicht erzwungen werden können, günstige Tarife bei freiwilliger Bereitstellung werden das organisieren. Smart soll das Leben auch Zuhause werden. Zumindest sehen einschlägige Hersteller gewinn und wachstumsträchtige Bereiche in der Vernetzung von Haushaltsgeräten, also von Kühlschränken, Klimaanlagen, Wasch und Kaffeemaschinen. Sie sollen über Smart phone gesteuert und kontrolliert werden. Die Digitalisierung der Privathaushalte wird aber auch Türen, Fenster, Strom, Lampen und Heizung einschließen. Es wird am kabellosen Internet der Dinge gearbeitet, das in der Lage ist, unterschiedliche Objekte unterschied licher Firmen zu vernetzen, also beispielsweise den Bosch Kühlschrank mit der MieleWaschmaschine. Es darf schon die Frage gestellt werden, welcher Sinn darin liegen soll? Nils Maak nennt das: das Haus, das weiß, was du wollen wirst. Es verwundert nicht, dass die Zahl der Kritiker dieser Konzepte rasant wächst. Sehr prononciert bringt das die FAZJournalistin Carolin Wiedemann auf den Punkt: „Im Smart Home verbinden sich kybernetische Ideen und neoliberale Logik und machen das Leben erfassbar, entschlüsselbar, berechenbar. Nichts wird mehr schiefgehen in diesem Zuhause ... Der Zufall wird verbannt ... In dieser Logik ist das ein zivilisatorischer Auftrag. Sie helfen dem Menschen bei der permanenten Selbstoptimierung ... Aus diesem Haus zieht niemand mehr aus, hier emanzipiert sich keiner mehr ... <?page no="163"?> Teil III. Die smarte Transformation Ding und Mensch haben sich perfekt aufeinander abgestimmt. Bei de können jetzt noch besser funktionieren“. Ein weiterer Kritiker, der FAZJournalist Helmut MartinJung, gibt zu bedenken, dass die Geräte das Leben doch eigentlich einfa cher machen sollten. Tatsächlich aber müssen ihre Nutzer zu Sys temadministratoren werden. Er fragt, wer denn in einem so mit Technik vollgestopften Haus leben möchte, und findet auch keine Erklärung, weshalb der Garagenöffner zwingend mit der Heizung vernetzt sein sollte. Seine Befürchtung ist, dass die neue Technik Probleme löst, die man ohne sie gar nicht haben würde. „Eigentlich bräuchte der ganze TechnikZoo auch einen Wärter. Aber wer kann sich den schon leisten? “ Auch ohne die oft zitierten und vielleicht auch zu dramatisch er zählten Szenarien über Google Glass reicht vielleicht schon der Hinweis, dass der Mensch für seine Persönlichkeitsentwicklung private Räume braucht, wo er sich nicht kontrolliert fühlt und keine gesellschaftskonforme Maske tragen muss und wo er nicht im vo rauseilenden Gehorsam sein Verhalten bestimmten Normen an passt, um eine positive Sanktionierung zu erheischen. Es sind die Unordnung wie die Unübersichtlichkeit einer Stadt, die eine Stadt lebendig werden lässt. <?page no="164"?> H(/ Die Mitte fragt sich, was noch auf sie zukommen wird. Teil IV. Digitale Transformation und stabile Gesellschaften - ist das vereinbar? Der Publizist Nils Minkmar stellt in seinem Buch Der Zirkus. Ein Jahr im innersten der Politik dem Exportweltmeister Deutschland von dem gern Medien und Politik sprechen den ermatteten Bür ger gegenüber, der seit Jahren zur Kasse gebeten wird und sich eher in einem Zustand der Ohnmacht und Angst befinde. Als einen Ausgangspunkt sieht er die Finanzierung der Wiedervereinigung, die zu einem großen Teil über die Sozialversicherung, al so von An gestellten, Arbeitern und Verbrauchern bezahlt wurde und in der Folge dann auch eine Ursache für die Agenda 2010 war. Auch diese traf vor allem diesen Ausschnitt der Bevölkerung. Die durch Ban ken 2008 weltweit verursachte Finanzkrise, die sich dann zur Euro krise ausweitete, entwertet Ersparnisse und Lebensversicherungen und schafft weitere V erunsicherungen und Belastungen für diesen Kreis: Die in Deutschland so beliebten Apelle vom Gür telengerSchnallen scheinen durchaus nicht für alle Hosenträger zu gelten, wobei Deutschland im Vergleich zu den meisten anderen EULändern noch goldig dasteht. Wir befinden uns mitten in der nächsten Herausforderung, dem doppelten Wandel durch Dig ita lisierung und Globalisierung. Er steht für das grenzenlose Vorantreiben der digitalen Transformation mit der Aussicht auf Ökonomisierung weiterer Lebensbereiche. Einfacher ausgedrückt, es geht um die permanente Maximierung von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft zwecks Optimierung der Effizienz und Steigerung des Konsums. Minkmar vermutet, dass dies zu einer Gesellschaft der erschöpf ten Men sch en führen wird mit dem Gefühl permanenter Arbeits <?page no="165"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 164 Vergleichbare Sätze hat man zuletzt zu APOZeiten von Rudi Dutschke und den 68ern gehört. platzunsicherheit. Die Mittelschicht fühle sich destabilisiert, weil sich die Welt so schnell drehe. Der Anstieg der Burnout Erkrankungen werde von den Medien nicht als strukturelles Prob lem, sondern als individuelle Überforderung wahrgenommen. Minkmar zitiert den Psychologen Stephan Grünwald: „Die Leute fragen sich, was an die Stelle dieses turbokapitalistischen Systems treten sol l, in dem die Krise der neue Normalzustand geworden ist“. Radikaler als Minkmar und Grünwald und mit dem Blick auf die westliche Welt ist da Papst Franziskus in seinem ersten Apostoli schen Schreiben Evangelii Gaudium: „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und Disparität der Einkommen. Diese Wirtschaft tötet. ... Die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu überleben - und oft wenig würdevoll zu le ben“. Dieser epochale Wandel habe seine Ursachen im wissen schaftlichen Fortschritt und in technologischen Neuerungen. Es herrsche „d ie Diktatur einer Wirt schaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“. Für unseren Kontext stellen sich daraus Fragen: Ist das von Politik, Wirtschaft und Medien so selbst verständlich verkündete Credo „OhneWachstumistalles Nichts“, das vor allem durch Globalisierung und Digitalisierung erreicht werden soll, gleichzeitig mit der Entwick lung einer stabilen Gesell schaft zu haben, die nicht einen Großteil ihrer Bürger mit den „Ne benfolgen“ Erschöpfung und Ohnmacht zurücklässt? Und kann dabei auch noch der Erhalt von Klima und Umwelt berücksichtigt werden? Was entfällt und was kommt hinzu an Wertschöpfungsar beit durch die Digitale Transformation? Wie sieht der Arbeitsmarkt saldo aus und welche Qualifikationen sind gefordert? Lassen sich hierzu Aussagen machen, die über Spekulationen hinausgehen? Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus, die sich permanent an die Anforderungen der Ökonomisierung anpassen muss? Ist Gutes Le ben im Wohlstand ohne die permanente Ökonomisierungskeule möglich? Gibt es eine Lösung, ohne dass wir in ein „digitales Klos <?page no="166"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 165 ter“ gehen müssen, wo wir an der Eingangspforte unser Smartpho ne abgeben müssen? Was sind Zukunftspfade, was Sackgassen? Welche Alternativen sind zu dem heute propagierten Wachstums modell denkbar? 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse Ökonomische Erfolgsmeldungen in den Medien orientieren sich zumeist an pauschalen Wachstumsraten und Vermögenssteigerun gen. Da ist es üblich, durchschnittliche Vermögenszuwächse pro Bürger zu verkünden, ohne auf die Verteilung des Kuchens auf Vermögende, die Mittelschicht und die Unterschicht einzugehen. Oder frei nach Franklin D. Roosevelt: Laut Statistik haben ein Milli onär und ein Habenichts je eine halbe Million. Der Durchschnitts bürger wird grübeln und sich fragen, weshalb die Verteilung an ihm seit mehr als einem Jahrzehnt vorbeigeht? Deshalb die Frage, wer wird zukünftig von dem zu erwartenden digitalen Wohlstand voraussichtlich profitieren? Was bei der Verteilung des Reichtums für Deutschland und die EU typisch ist, gilt auch für die USA. Der HarvardÖkonom Law rence Katz vergleicht die Gesellschaft der USA mit einem instabilen Haus: Ganz oben sehen wir ein Penthouse, das bombastische Aus maße angenommen hat und die Statik des gesamten Gebäudes überfordert. Ganz unten überfüllte Untergeschosse, die den Zufluss aus den Mitteletagen kaum noch aufnehmen können. Im mittleren Teil des Gebäudes herrscht Leerstand. Der mit Menschen besetzte Fahrstuhl fährt nur nach unten. Er hat keine ausreichende Kraft mehr, Menschen in die mittleren Etagen zu befördern. Die Mecha niker sind nicht willens oder überfordert und nur im Besitz sich konträr widersprechender Reparaturanleitungen. Für die Bewohner der Untergeschosse steht ein umfangreiches Angebot an Events bereit. Über Magazine wie die Gala sind sie eh beim Treiben der PenthouseEtage dabei. Und nun stürzt die Herausforderung der digitalen Transformation auf dieses deformierte Gebäude ein. <?page no="167"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 166 Bevor wir einige Anregungen für die Reparatur und für neue, wohnlichere Gebäude geben werden, soll es zunächst um einige „Nebenfolgen“ der Digitalen Transformation gehen, wobei wir Vermögende, die Mittelschicht und die Habenichtse nicht in einen Topf werfen werden. Dabei konzentrieren wir uns auf drei Kom plexe: Wie schätzen bekannte Autoren und große Unternehmen die Zukunft der Arbeit ein? Welche Antworten gibt die Volkswirt schaftslehre, also die Wissenschaftsdisziplin, in deren Bereich diese Fragen fallen und schließlich drittens welche Berufe verschwinden und wer zieht daraus Profit? Wie sieht es angesichts dieser Entwick lungen mit einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung aus? Die Zukunft der Arbeit oder die CastingShow der IBM IBM hat 2012 ein neues Organisationskonzept mit der Hoffnung auf radikalen Stellenabbau präsentiert. Der Plan des LiquidProgramms ist, die Kernbelegschaft um 8.000 Stellen, also um 40 Prozent zu re duzieren. Viele Aufgaben sollen zukünftig von Cloudworkern, Free lancern, SoloUnternehmern oder ArbeitskraftUnternehmern übernom men werden. Von ihnen wird ein hohes Maß an Fachexpertise, Fle xibilität und Mobilität erwartet. Die Anwerbung soll eine eigens dafür aufgebaute Internetplattform übernehmen, auf der sich welt weit freie Mitarbeiter präsentieren können. Sie werden nach be stimmten, von IBM entworfenen Kriterien zertifiziert. Bewertungen aus früheren Arbeitsbeziehungen spielen eine Rolle. Das Spektrum dürfte dann zwischen „FünfSterneJobber“ und „Nullnummer“ liegen. Bei Taylor war es die „Erste Kraft“, die es zu erkennen galt. Die in der Global TalentCloud von IBM registrierten Arbeitskräfte erhalten internationale Arbeitsverträge, so muss IBM sich nicht mehr an den Löhnen der Hochlohnländer orientieren. Die Gering qualifizierten werden nur befristet für die Dauer eines Projektes gebunden. Im Deutschland des Betriebsverfassungsgesetzes und der Be triebsräte wird nicht jeder abenteuerliche Plan so umgesetzt, wie es sich neoliberale Geister vorstellen. Von daher dürfte der Liquid <?page no="168"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 167 Entwurf vermutlich noch durch einige kräftige Mühlsteine abge schliffen werden. Offensichtlich haben sich bei den Protesten inner halb der IBM auch schon Erfolge seitens der Mitarbeiter und Be triebsräte gezeigt. Dennoch ist Liquid für andere Manager und Un ternehmen ein Zeichen und Orientierungspunkt, wo die Reise hin gehen sollte, wenn man denn freie Hand hätte. Mit Liquid hat sich IBM vier unterschiedliche Arbeitsmodelle ausgedacht: a Bei der Auction formuliert IBM Arbeitseinheiten, zertifizierte Freelancer geben ihre Preisangebote ab. a Die Bid steht für ausformulierte Arbeitseinheiten zu einem festen Preis, interessierte Freelancer melden sich, IBM wählt aus. a Auch beim Contest formuliert IBM Arbeitseinheiten, verbindet diese aber mit einem Wettbewerb, an dem zertifizierte Freelancer teilnehmen können. IBM bestimmt den Sieger mit einem Award, wobei nur dieser die volle Prämie erhält. a Beim Partnership schließlich machen zertifizierte Freelancer als einzelne oder Gruppe ein Dienstleistungsangebot, die IBM behält sich die Annahme vor. Die Leistungsdaten der Freelancer wer den fortlaufend erfasst und zum Integrierten Digitalen Reputations Index kondensiert. Irgendwie hat man den Eindruck, dass das Volk durch TV Castingshows und Dschungelcamps schleichend an Auslese und groteske Wettkämpfe gewöhnt wurde, sodass man die IBMShow für ganz normal halten könnte. Dazu passt die Meldung, dass das BusinessPortal Xing seine Nut zerprofile komplett überarbeitet. Die mehr als 13 Mio. Mitglieder sol len sich in Zukunft in Portfolios mit Fotos, Texten, Projekten, Twitter Daten etc. präsentieren. Begründet wird dies mit der allgemeinen Aussage, angehängte Lebensläufe seien nicht mehr zeitgemäß, da die Arbeitswelt sich radikal verändere. Das mag für die Präsentation vor teilhaft sein, lässt natürlich die Frage aufkommen, ob damit nicht ein Brückenkopf für Talent Clouds à la IBM geschaffen wird. Die IBM Global Talent Cloud als Vorreiter vieler ähnlicher Sehn süchte weist auf eine grundsätzliche Umwälzung des Arbeitsmark <?page no="169"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 168 Festanstellung wird zum Privileg, freie Arbeit führt dagegen oft zum Prekariat. tes hin. Fest angestellte Beschäftigung wird mehr und mehr auf rei ne Managementfunktionen eingedampft. Das gilt für Verlage, Dienstleistungsbetriebe ebenso wie für Industriebetriebe. Nicht mehr Wissensarbeit im Sinne der Generie rung von Inhalten steht hoch im monetären Kurs, sondern die betriebswirtschaftliche Verwaltung und das Organisieren von Wis sen und Inhalten, das Wis sensmanagement. „Die Inhalte aber, von denen man eigentlich meinen könnte, es kä me auf sie an, produzieren oft jene Personen, die auf prekären Stel len sitzen oder überhaupt freiwillig und unbezahlt Content erstel len“, so die Journalistin Andrea Rödig. Mit einer Festanstellung wird nur noch die betriebswirtschaftliche oder technische Fachex pertise belohnt, sofern sie das A lleinstellungsmerkmal einer Firma abdecken kann. Ist das Konzept der Global Talent Cloud von IBM nicht eher aka demisch und möglicherweise nur sehr begrenzt für Einzelaufgaben geeignet? Vielleicht ist sie mehr eine MarketingNummer, woran sich Medien und einschlägige Wissenschaftler dankbar abarbeiten sollen, sie als scheinbar kommende Realität verbreiten und so das Denken in andere Pfade verstopfen? So grotesk das IBMKonzept aus Sicht der deut schen Arbeitspolitik mit Betriebsrat und Mitbe stimmung auch erscheinen mag, das IBMCasting ist für den globa len Arbeitsmarkt angelegt, der einen deutlichen Angebotsüberhang der Beschäftigten zeigt. Das wird über kurz oder lang Druck auf die „Privilegien“ der deutschen Beschäftigten ausüben und sie in einem schleichenden Prozess einebnen. Natürlich will IBM da mit Pflöcke für den zukünftigen Pfadver lauf von Praxis wie Wissenschaft einschlagen. In den USA wurde dieses Konzept bereits in Teilen umgesetzt. So arbeitet etwa die On lineJobvermittlung oDesk nach diesem Muster. Ihr Chef Gary Swart schwärmt von dieser neuen Arbeitsorganisation, die die Inter essen von Arbeitgeber und Freelancer „harm onisch“ vereine, so seine Aussage in einem ZEITInterview. Als Beispiel zieht er eine Frau heran, die in der Finanzkrise ihren Job verloren hat: „Heute ist <?page no="170"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 169 Verletzen solche grotesken Zukunfts entwürfe nicht Grundrechte? diese Frau nicht mehr abhängig von einem Arbeitgeber. Sie arbeitet für sechs verschiedene Kunden. Sie ... kann sich die Arbeit frei ein teilen, ihre Kinder von der Schule abholen, zwischendurch zum Yoga gehen, von zu Hause oder von Starbucks aus arbeiten. Für sie ist das wunderbar“. Wenig später fügt Swart an: „Ein Auftra ggeber auf oDesk bekommt sechsmal pro Stunde ein Foto vom Bildschirm des Auftragnehmers übermittelt. So kann er sehen, ... ob derjenige gerade Zeit auf Facebook verbringt. Bei uns ist eine bezahlte Stunde auch eine geleistete Stunde“. Sind sie zumindest in Deutschland überhaupt umzusetzen? Die Grund rechte, so das Hugo Sinzheimer In sti tut für Arbeit srecht in Frankfurt, nutzen faktisch nichts, wenn Men schen in tayloristischer Tradition als Maschinen betrachtet werden. Hier wachsen sich Leistungsüberprüfungen aus zu Mitarbeiter überwachungen im Stile von Rasterfahndungen. Dazu passt, dass SAP für 3,5 Mrd. eine Firma mit dem Orwell schen Namen „Success Factors“ gekauft hat, eine CloudSoftware im so gena nnten HumanCapitalManagementSektor. Sie zerlegt die Beschäftigten in feinste Datensplitter, die alle Feedbackgesprä che aufnimmt, Einschätzungen von Kollegen auswertet und Zeug nisse ebenso parat hat wie die Werte der ständigen Leistungsdiag nostik. Bringt man dieses Monitoring zusammen mit der allseits verbreiteten Managementmethode der persönlichen Zielvereinba rung, da nn las sen sich Leistungs und Verhaltenserwartungen bis ins Detail vorgeben und wie bei einer Maschine überwachen. Die mit der Zielvereinbarung verkündeten Rechtfertigungen der angeb lichen Freiheit zur Selbstorganisation werden so zur Farce. Das HugoSinzheimerInstitut hat auch die Geschäftsbedingun gen von Bieterportalen ausgewertet, bei denen Arbeitssuchende sich um Aufträge für ha ndwerkliche und kreative Aufträge bewer ben: „Die Arbeiter verschreiben sich einem der Portale exklusiv; sie erfahren nie, warum sie für einzelne Jobs abgelehnt werden; und die Nutzungsrechte an ihren Vorleistungen gehen an die Portale über.“ <?page no="171"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 170 Wohin die Reise bei der Industriearbeit gehen soll, zeigt „Deutschlands beste Fabrik 2013“, das BMWWerk in Leipzig, so jedenfalls die Auffassung der Managementschulen INSEAD und WHU. Bei BMW in Leipzig gibt es die FünfKlassenGesellschaft. Der Trennungsstrich verläuft aufgrund von Lohnhöhe und vom Grad der Unsicherheit des Arbeitsplatzes: a Klasse 1 stellt die BMWStammbelegschaft dar, a Klasse 2 sind die direkt bei BMW beschäftigten Leiharbeiter, a Klasse 3 Beschäftigte der Werkvertragsunternehmen, a Klasse 4 die für diese Werkvertragsfirmen arbeitenden Leiharbei ter, a Klasse 5 Leiharbeiter bei Werkvertragsfirmen mit Befristung. Auf dem Fabrikgelände arbeiten 6.000 Menschen, davon gehören 3.700 Mitarbeiter zur Stammbelegschaft. Realistisch über den Tag hinaus beschrieben erscheint die digita le Zukunft der Arbeit im Essay Das digitale Evangelium von Hans Magnus Enzensberger, den er interessanterweise schon im Jahr 2000 verfasst hat. Mit dieser Einschätzung bringt er die Klasseneinteilung der Digitalen Gesellschaft auf den Punkt. Es ist eine heute noch ak tuelle Aussage über die „Nebenfolgen“ der Digitalen Transformati on unter der Zielsetzung der Ökonomisierung. a Ganz oben rangieren laut Enzensberger die Chamäleons, die Wor kaholics, die mit der materiellen Produktion nichts zu tun haben. Es sind Agenten, Makler, Vermittler, Anwälte, Consultants, Wis senschafts, Geld und Informationsmanager. Ihre abstrakteste Form findet sich in Finanzkonzernen. Diese Klasse, die einst Überbau hieß, schöpft traumhafte Gewinne ab, von denen andere nur träumen. a Eine zweite Klasse nennt Enzensberger Igel, weil sie, bei hoher Sesshaftigkeit, ein Mangel an Flexibilität auszeichnet. Ihr Gehäu se sind Institutionen, also Behörden, Verwaltungen, Verbände. a Die Biber, die „handfest arbeitenden Malocher“ in den klassi schen Produktivitätssektoren, werden durch Automatisierung, Rationalisierung und Auslagerung in Niedriglohnsektoren wei ter schwinden. <?page no="172"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 171 a Die vierte Unterklasse passt nicht in den Tugendkatalog des digi talen Kapitalismus und ist daher aus Enzensbergers Perspektive überflüssig, sie nimmt in den reichen Ländern jedoch stetig zu. Es sind die Arbeitslosen, Asylbewerber, Leute ohne Berufsaus bildung, allein erziehende Frauen. Der digitale Kapitalismus, so Enzensberger, wird die Tendenz zu diesen für überflüssig Erklär ten verschärfen, da ein großer Teil der Bevölkerung den Anfor derungen, die er stellt, schlechterdings nicht gewachsen ist 10 . Zu ergänzen wäre die Klasse der Systemtechniker, die die digitale Transformation informationstechnisch voranbringt. Sie besteht vor allem aus Informatikern, Ingenieuren und Softwareentwicklern. Seit dem Jahr 2000 hat diese Klasse enorm an Bedeutung gewonnen. David Graeber, Professor für Anthropologie an der London School of Economics und eine erfrischend polemische Stimme, in terpretiert einen Report, nachdem in den USA zwischen 1910 und 2000 Jobs in der Industrie, im Agrarsektor und in privaten Haushal ten dramatisch gefallen sind. Produktive Jobs wurden zu einem großen Teil durch Automatisierung „wegrationalisiert“. Neu aufge taucht sind Finanzdienstleistungen, Callcenter, Anwälte (speziell im Unternehmensrecht), Verwaltungsjobs im Wissenschafts und Ge sundheitsbereich, Personalmanager und Public RelationsJobs. Daneben finden sich heute Jobs, die nur deshalb so boomen, weil andere soviel arbeiten. Viele haben keine Zeit mehr für die Abwick lung persönlicher Dinge, sie schaffen so neue Jobs, z.B. für Pizza Auslieferer, die 24 Stunden parat stehen. Auch das enorme Wachs tum der Bestellungen bei Amazon dürfte hier eine Ursache haben. Als weitere „kleine Nebenfolge“ dieser Entwicklung erkennen wir die Expansion der Paketdienste mit blockierten Straßen durch ge duldetes ZweiteReiheParken. Graeber formuliert eine bedenkenswerte These: Je stärker ein Job anderen Menschen nützt, umso schlechter wird er bezahlt, siehe Pfleger, Krankenschwester, Sozialarbeiter, Physiotherapeut etc. Für Graeber ist der Maßstab für gesellschaftliche Nützlichkeit die Be antwortung der Frage, was passieren würde, wenn die ganze Sorte von Beschäftigten in Gänze schlicht und einfach entfallen würde. <?page no="173"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 172 Wenn Krankenschwester, Müllmänner, Lehrer oder Mechaniker auf einen Schlag wegfielen, so käme das einer sozialen Katastrophe gleich. Auch ohne Schriftsteller und Musiker wäre die Welt deutlich ärmer. Aber nach Graebers Meinung ist nicht ganz klar, ob etwas an Menschlichkeit verloren ginge, falls Investmentmanager, Lobbyis ten, Public RelationsManager, Verwaltungsleute, Telefonverkäufer, Anwälte oder ähnliche Jobs verschwinden würden. Er spricht in diesem Zusammenhang von BullshitJobs 11 . Digitale Arbeitsmärkte - welche Berufe verschwinden und wer macht den Reibach? Vertreter der Volkswirtschaftslehre sind bislang nicht zu Wort ge kommen. Das sollte man nicht uns anlasten. Für die deutschen Ver treter ist die digitale Transformation von wenigen Ausnahmen ab gesehen kein Thema. Dazu zählt die Münchener Volkswirtschafts professorin Dalia Marin. Über Jahrzehnte war es in der Ökonomie Common Sense, dass Gleichgewichtswachstum, auf der Basis von stetigem technischen Fortschritt und Bereitschaft zur halbwegs angemessenen Verteilung der Produktivitätszuwächse, möglich und anzustreben ist. Frühere Innovationswellen, wie Dampfmaschine und Elektrizität, brauchten Dekaden bis sie sich verbreitet hatten und die Lebens und Arbeits welt durchdringen konnten. Diese Glaubensgewissheit scheint mit der Digitalisierung nicht mehr tragfähig zu sein: Sie ist mit einer unglaublichen Geschwin digkeit in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen. Von den vielen Menschen ganz zu schweigen, die nicht mehr hinterherkommen. Diese Auffassung wird von den beiden MIT Sloan SchoolWissen schaftlern Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee in ihrem Buch „The Second Machine Age“ vertreten. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee beschreiben das am Bei spiel von Instagram und Eastman/ Kodak. Instagram ist, so der Originalton des InstagramBlogs, „a fast, beautiful and funny way to share your life with friends through a series of photos“. 130 Mio. <?page no="174"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 173 Menschen haben über eine App bislang 16 Mrd. Fotos eingestellt und teilen sie mit anderen. Der Fotodienst wurde 2012 für 1 Mrd. USDollar an Facebook verkauft. Einige Monate nach dem Verkauf musste Eastman/ Kodak Insolvenz anmelden. Die beiden Autoren leiten von diesem Fall mehrere Botschaften ab: Der Unternehmens wert von Instagram ist erheblich höher als der von Eastman/ Kodak zu seinen besten Zeiten. Die Digitalisierung, in diesem Fall in der Fotografie, hat eine neue Klasse von superreichen Kapitalinvestoren geschaffen und sie entlässt massenhaft ihre Beschäftigten. Zum Zeit punkt des Verkaufes waren bei Instagram 12 Mitarbeiter beschäftigt, Eastman/ Kodak hatte 145.000 überwiegend MiddleClassJobs. Im ersten Maschinenzeitalter, der Eastman/ KodakEpoche, wur de die Entwicklung von Produktivität, Beschäftigung und Durch schnittseinkommen halbwegs im Gleichgewicht angestrebt. Im zweiten Maschinenzeitalter, der digitalen Transformation, ist das nicht mehr im Lot, so Brynjolfsson/ McAfee. Durch die Digitalisie rung hat sich das in dieser Höhe noch nie dagewesene Produktivi tätswachstum von der Beschäftigungs und Einkommensentwick lung vollkommen entkoppelt. Der Gleichgewichtswachstumspfad ist nur noch eine fantastische Erzählung aus längst vergangenen Zeiten. Das ist, laut Brynjolfsson/ McAfee, der brisante ökonomische Kern der digitalen Transformation, für den ihrer Auffassung nach, Eastman/ Kodak nur exemplarisch steht. Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne von der University of Oxford gehen ebenfalls der Frage nach, wie anfällig der Arbeits markt, in ihrem Fall der USArbeitsmarkt, zukünftig durch die Infor matisierung sein wird. Neu an ihrem Vorgehen ist, dass sie eine Brü cke bauen wollen zwischen absehbaren Entwicklungen in der In formatik und der dadurch möglicherweise entstehenden Anfälligkeit von über 700 unterschiedlichen Berufen. Die internationale wissen schaftliche Literatur wurde unter diesem Aspekt ausgewertet. Ihre Untersuchung ist eine gute Ergänzung zu unserer Vorge hensweise: Frey und Osborne legen ihr Augenmerk weniger auf die möglichen Verwerfungen bei Dienstleistungen, Produkten und Branchen und auch nicht auf Einbrüche, die durch die Spinnennetze <?page no="175"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 174 der Internetkonzerne entstehen können. Sie untersuchen, wie be troffen Beschäftigtengruppen durch vorhandene oder anstehende technische Entwicklungen sind, z. B. durch Apples Spracherkennungs system Siri, durch den Einsatz von Algorithmen des Maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz, durch Roboter als persön liche Assistenten wie in der Produktion, durch selbstfahrende Autos und automatisierten S traßenverkehr oder durch den Einsatz von Massive Open Online Courses (MOOCS) in der Bildung. Sie interes sieren sich auch für die Anfälligkeit der anspruchsvollen geistigen Tätigkeiten, die wenig mit Routine zu tun haben. Abbildung 8 / USArbeitsmarkt Ihre Ergebnisse (Abbildung 8): 47 Prozent aller amerikanischen Be schäftigungsverhältnisse sind innerhalb der nächsten zwei Jahr <?page no="176"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 175 zehnte stark gefährdet. In der ersten Welle werden die meisten Ar beiter im Transport Logistik und Fertigungsbereich zusammen mit einem Großteil der sachbearbeitenden Tätigkeiten in Büro und Ver waltung betroffen sein. Es überrascht etwas, dass ein substantieller Teil der Beschäftigten im Service und Verkauf ebenfalls auf dieser Liste steht. Eine Rolle soll dabei auch der verstärkte Einsatz von Robotern spielen. Auffälliges Kennzeichen ist die Aushöhlung der middleincome jobs durch Informatisierung. Zur Kategorie mit geringem Risiko werden Tätigkeiten im Bereich „fine arts”, „originality”, „negotiati on”, „persuasion”, „social perceptiveness”, und „assisting and caring for others” gezählt. Dort werden auch Tätigkeiten im Management, Business und Finanzbereich eingeordnet, zu denen vor allem Gene ralisten gepaart mit sozialer Intelligenz zählen. Stabilität zeigen auch die meisten Tätigkeiten in der Erziehung, im Gesundheitsbe reich, in den Medien und in der Kultur. Zukünftige Anfälligkeit des USArbeitsmarktes durch Informati sierung nach Beschäftigtengruppe, kategorisiert nach geringer, mitt lerer und hoher Gefährdung auf der Basis von 2010. Die Grafik ist wie folgt zu interpretieren: Wenig betroffen durch Digitalisierung werden z.B. die Berufim Bereich Health Care und Education (grün). Stark gefährdet sind dagegen z.B. BüroBerufe (helles braun) und Tätigkeiten im Verkaufsbereich (rot). 12 Das Ergebnis ist ziemlich eindeutig. Staatliche Eingriffe und Re gulierungsversuche, die sich diesen Trends entgegenstellen, werden aufgrund globaler Verwobenheit nur wenig erfolgversprechend sein: Auf der Sonnenseite befinden sich die Finanzinvestoren der digitalen Ökonomie und alle, die mit ihrer Expertise für die schnelle Umsetzung der Digitalisierung sowie für die fortgesetzte Generie rung stabiler Exportüberschüsse benötigt werden. Folgt man dem Szenario von Brynjolfsson/ McAfee, so werden Beschäftigte auf der Schattenseite stehen, für die hocharbeitsteilige Restarbeiten übrigbleiben, die von Taylor und Ford her noch be kannt sind. Wir haben zwar immer noch die Versprechungen im Ohr, dass diese durch Automatisierung längst verschwunden sein <?page no="177"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 176 sollten. Brynjolfsson/ McAfee bringen das mit einen Satz auf den Punkt: In Zukunft wird es eine wachsende Zahl von Beschäftigten geben, die den Computern sagen, was sie zu tun haben und den vielen, denen die Computer sagen, was sie zu tun haben. Umrahmt werden diese beiden Kerngruppen von einem Kranz an kostenlos mitarbeitenden Konsumenten. a Wir haben die neu entstehenden Arbeitsprofile an anderer Stelle Cloudworking und Clickworking genannt. Bei Clickworkern über nehmen gering Qualifizierte gegen ein geringes Entgelt Resttä tigkeiten, die in automatisierten Geschäftsprozessen übrigblei ben. In der globalen Ökonomie leisten mittlerweile Millionen Menschen für ein paar Euro pro Stunde diese monotone Akkord arbeit. Ausbeuter und Ausgebeutete, die diese Aufträge aus Exis tenznot übernehmen, müssen sich im anonymen Internet nicht begegnen. a Beim Cloudworking schiebt sich zwischen Unternehmen, die Ar beitsaufträge anbieten, und die nachfragenden Freelancer ein Portal. Ihre Einkommensverhältnisse wie ihre soziale Absiche rung sind eher dürftig. Diese Beschäftigungsverhältnisse werden weit in den Bereich hineinreichen, der sich heute noch Mittel schicht nennt. Denn Roboter, Software und die Überwälzung von Arbeit wie In novationsschöpfung auf die Konsumenten werden zunehmend qualifizierte Arbeit verdrängen. Davon betroffen sind vor allem Tätigkeiten im mittleren Einkommenssegment, deren kognitive Fä higkeiten bislang durch die Informatisierungslücke geschützt schie nen, jetzt aber zunehmend durch Digitalisierung und neue Organi sationskonzepte obsolet werden. Die Münchener Professorin der Volkswirtschaftslehre Dalia Ma rin bestätigt in dem FAZBeitrag Die brillanten Roboter kommen, dass sowohl die Zahl der Hochlohnjobs als auch die der Niedriglohnjobs durch Digitalisierung ansteigt, nicht aber die der Mittelschicht. Da rin sieht sie aber nicht das einzige Problem der Digitalisierung. Noch brisanter ist für sie die eklatante Spaltung in der Verteilung zwischen denen, die am Computer arbeiten und denen, die sie be <?page no="178"?> 1. Die Zukunft der Vermögenden, der Mittelschicht und der Habenichtse 177 Der uralte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit nimmt durch die digitale Transformation noch weiter an Fahrt auf. sitzen. Sie schreibt damit die historischen Trendaussagen von Thomas Piketty für die digitale Transformation fort. Auf den fran zösischen Wirtschaftswissenschaftler Piketty werden wir noch zu sprechen kommen. Dalia Marin belegt das mit dem Verfall der Lohnquote: Bis in die 1980er Jahre betrug die Lohnquote etwa 70 Prozent des Volkseinkom mens, die Quote der Kapit aleigner lag bei 30 Prozent. Derzeit entfallen 58 Prozent auf die Beschäftigten und 42 Prozent auf die Kapitaleigner. Und das, obwohl Manager gehälter, die Einkommen der Hochlöhner und andere Supergehäl ter auf der Lohnseite verbucht werden. Zur Hälfte sei die Digitali sierung für diese Spaltung verantwortlich. Die „Wertschöpfungs Logik“ scheint zu sein, dass Arbeit durch Digitalisierung ver schwindet, wozu Kapitaleinsatz notwendig ist, der durch eine er kleckliche Rendite belohnt werden will. Kann eine so doppelt gespaltene Gesellschaft - in der die arbei tende Mittelschicht verschwindet und bei der die Kluft zwischen kapitalbesitzenden Vermögenden und Habenichtsen immer größer wird - trotz all em ökonomisch stabil sein? Laut Brynjolfsson/ McAfee hat sie das Potenzial wirtschaftliches Wachstum kollabieren zu lassen 13 . Die Begründung ist plausibel: Die gesamte Nachfrage sinkt, da die Hochlohnbeschäftigten und Kapitaleigner ihre Sparquote erhö hen, während bei der wachsenden Zahl der Niedriglöhner Kon sumnachfrage ausfällt. Darüber hinaus sitzen die „Superwealthy superstars“ der Digitalisierung jetzt auf viel Geld, während Kon sum und Investitionen der wegkonkurrierten Wettbewerber der „alten“ Ökonom ie entfallen. Was machen die digitalen Superrei chen mit ihren Windfallprofits? Auf die hohe Kante legen, zwei Steaks pro Tag mehr essen, Immobilien kaufen, an der Börse speku lieren und Preise und Kurse nach oben treiben? Ist diese Dynamik, wie wir sie jetzt bei der digitalen Transformation erleben, der Stoff, aus dem Dep ressionen sind? <?page no="179"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 178 Die wachsende Spaltung der Gesellschaft und die unterschiedli chen Berufschancen lassen sich an kleinen Notizen in den Medien erkennen. Nur einige Meldungen, die innerhalb einer Woche am Ende des Jahres 2013 in der Tagespresse erschienen sind und die disparate Entwicklung zwischen den wenigen Vermögenden und den vielen Habenichtsen zeigen: Der Markt für Luxushäuser in Metropolen hat im Jahre 2012 deutlich zugelegt, in Hamburg allein um 30 Prozent, so eine Studie des Maklers Dahler & Company. Re kordpreise auf dem Kunstmarkt haben dem Auktionshaus Sot heby`s in 2013 ein deutliches Plus von 19 Prozent auf 5,2 Mrd. US Dollar beschert. Das Marktvolumen von Luxusgütern in Deutsch land - dazu zählen neben Luxusautos, Schmuck und Parfums u.a. Produkte von Louis Vuitton, Cartier, Gucci, Hermès und Prada - ist von 2009 bis 2011 von 11 Mrd. auf 12,8 Mrd. Euro gewachsen. Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes der Freien und Hansestadt Hamburg dagegen zeigt, dass die Armuts quote dort trotz sinkender Arbeitslosigkeit und zurückgehender HartzIVQuoten auf dem höchsten Stand seit 2006 ist. Dies sei ein Beleg für die Zunahme von Niedriglöhnen und prekären Beschäfti gungsverhältnissen. Wir sollten noch einmal die hier vorgenommene isolierte Be trachtung der Arbeitsmarktfolgen der digitalen Transformation betonen. Es ist durchaus möglich, dass in anderen Bereichen Kom pensationen stattfinden. Dazu später mehr. 2. Zukunftspfade und Sackgassen Das Spektrum der Vorschläge und Entwürfe, wie mit den Heraus forderungen der digitalen Transformation umzugehen sei, reicht von Überlebensstrategien für die „alte“ Ökonomie, die wir bereits angesprochen haben, über dezentrale Projekte von kreativen Vor denkern mit vielen unkonventionellen Ideen bis hin zu Empfehlun gen, welche Initiativen die EU ergreifen sollte. Wir werden im Fol genden dieses Spektrum ausleuchten. <?page no="180"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 179 Darüberhinaus gibt es eine Reihe von „verbreiteten“ Meinungen und Empfehlungen, vorwiegend in den Medien, zum Umgang mit der digitalen Transformation. Da findet sich die eher naive Forde rung nach Stopp der Digitalisierung. Oder der Ruf nach Entschleu nigung, um das Tempo der Technologieschübe in Übereinstim mung mit gesetzlichen Regulierungen zu bringen. Stopp wie Ent schleunigung sind im herrschenden System globaler Konkurrenz kaum durchsetzbar. Dennoch wird man für erkennbar riskante TechnologieAnwendungen, z.B. für bestimmte Big DataAnwen dungen, Regulierungen unter Datenschutzaspekten fordern müs sen. Die verbreitete Meinung, die Digitalisierung schon allein des halb zu beschleunigen, weil sie tayloristische Restarbeitsplätze zum Verschwinden bringe, ist empirisch nicht zu belegen. Es ist ziemlich zwecklos, einige Köpfe der Hydra abzuschlagen, da sie schnell an anderen Stellen nachwachsen werden. Eine besondere Herausforderung stellen die digitalen Technik euphoriker dar. Für sie gibt es kein gesellschaftliches Problem, das nicht durch digitale Technologien gelöst werden kann. Oder einfa cher ausgedrückt, schildere mir dein Problem und ich zeige dir mit meiner digitalen Universalwaffe die Lösung. Für die Technikeupho riker gibt es beim Thema digitale Transformation nur den Tunnel blick in die Informatisierung, die Kultur der Reflektion ist da nicht angesagt. Keynes Traum von 1929 Wir wollen John Maynard Keynes Traum aus dem Jahre 1929 noch einmal aus der Schublade holen. Er nimmt die heute wieder aktuel le Frage auf, wie damit umzugehen ist, wenn einer Gesellschaft durch technischen Fortschritt die Arbeit auszugehen droht. Keynes hat ihn auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise in einer Rede über die „Wirtschaftlichen Aussichten für unsere Enkel“ formuliert. An seinem Traum wird klarer, weshalb vielleicht wünschenswerte Alternativen gegen herrschende Systemzwänge, auch in der digita len Transformation, kaum eine Chance haben. <?page no="181"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 180 Die durch technischen Fortschritt bedingte Arbeitslosigkeit des 20. Jahrhunderts schaffe, so seine Prophezeiung, die Voraussetzun gen für kommende paradiesische Zustände. Die Produktivität wer de die industrialisierten Länder in ein oder zwei Generationen mit allen notwendigen Gütern ausgestattet haben. Wachstum und Ar beitsplätze könnten dann in arme Länder wandern. In den hoch produktiven Zonen aber werde eine Zeit anbrechen, in der wir „be friedigt unsere Energie anderen Zielen zuwenden können“. Eine Menschheit, die aus dem „Tunnel der Notwendigkeit“ tritt, werde nur noch das Problem haben, die übrig gebliebene Arbeit gerecht zu verteilen. „Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird also der Mensch vor seine wirklich beständige Aufgabe gestellt sein: wie er seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen nutzen soll, wie seine Muße auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben (...). Wir werden uns (bemühen müssen), die übrig gebliebene Arbeit auf alle Schultern zu verteilen. Drei StundenSchichten oder die FünfzehnStundenWoche werden das Problem eine Weile hinausschieben. Denn drei Stunden am Tag sollen genügen“. Wie konnte der große Keynes, der bis heute mit seinen Modellen und Theorien weltweit Anerkennung gefunden hat, scheinbar so ein Träumer sein? Andererseits steht diese Prognose im Einklang mit Versprechungen vieler Zukunftsforscher und PRAbteilungen. Von ihnen hören wir die Botschaft, dass mit immer mehr Rationali sierungstechnologie das Paradies mit mehr Freizeit und Müßigang bevorsteht. Es ist nie eingetroffen und wird vermutlich auch in Zu kunft bei Festhalten an der bestehenden Systemlogik nicht Realität werden. Das Gegenteil ist eingetroffen: längere Arbeitszeiten, mehr Arbeitshetze. Keynes macht auf den eigentlich banalen Tatbestand aufmerk sam, dass Produktivitätszuwächse, z.B. durch Informatisierung, ent weder durch Lohn und Gewinnerhöhungen oder in Form von Arbeitszeitverkürzungen genutzt werden können. Bei der ersten Option werden Konsum, Investitionen und Steuereinnahmen stei gen und so Wachstum generiert. In Keynes Traum wird eine <?page no="182"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 181 Die gutbezahlten Manager seien vor allem zu dem Zweck da, „keeping us all working“. Volkswirtschaft zwar immer produktiver, sie wächst jedoch nicht mehr, zumindest nicht mehr durch traditionelle Lohnarbeit. Diese Strategie wurde in den 1990er Jahren ansatzweise von den deutschen Gewerkschaften mit ihren Forderungen nach Reduzie rung der Arbeitszeit verfolgt. Sie ist damit kräftig auf den Bauch gefallen. Im Zuge der Globalisierung und neoliberaler Kampagnen ha t sich diese Entwicklung eher umgekehrt. Unternehmerverbände konnten Arbeitsverlängerungen zum Teil ohne Lohnausgleich mit dem Argument durchsetzen, dass so Arbeit billiger wird und des halb nicht in Niedriglohnländer abwandern werde. Noch einmal der britische Anthropologe David Graeber, der eine radikal andere Meinung vertritt. Es stimme nicht, dass die Beschäf tigten, wenn sie denn gefra gt würden, sich bei der Wahl zwischen weniger Arbeitsstunden und „more toys and pleasures“ für das letztere entscheiden würden. Im Ergebnis sei statt der massiven Reduzierung der Arbeitszeit, die man mit privaten Projekten, Visio nen, Ideen oder Muße hätte ausfüllen können, der Verwaltungs und ManagementSektor mit seinen Finanzdienst leistungen, Tele marketing, Unternehmensjuristen, Gesundheitsmanagement, Public Relations und PersonalManager aufgeblasen worden, woraus in der Folge viele Servicejobs entstanden sind. Einer merkwürdigen Alchemie gleich, arbeiten heute mehr und mehr Beschäftigte in den Manage mentetagen 40 oder 50 Stunden, sind davon aber tatsächlich nur, wie Keynes vorhersagte, 15 Stun den effektiv tätig, so Gr aeber in seinem Essay On the Phenomenon of Bullshit Jobs. Die Differenz verbringen sie mit Organisieren, Meet ings, dem Besuch von Motivationsseminaren, Updaten der Face bookProfile etc.: „The ruling class has figured out that a happy and productive population with free time on their hands is a mortal danger“. Graeber tippt mit seiner Provokation die richtige Frage an: Sind hochtechnisierte Org anisationen und Gesellschaften durch die digi tale Transformation mittlerweile auf einem Pfad, der immer weni <?page no="183"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 182 ger schaffende Menschen benötigt, mit Ausnahme vielleicht von Technikern und Sozialberufen? Keynes Traum vom DreiStunden Arbeitstag hat sich nicht erfüllen können, weil er die Widerstands kraft der Systemherren unterschätzte. Hinzu kommt, dass viele we gen der ungleichen Einkommens und Vermögensverteilung 40 Stunden arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Und last not least wurden die Denk und Möglichkeitsräume eines bes seren Lebens ohne Ökonomisierung und Wachstum nur von weni gen Politikern und Wissenschaftlern aufgenommen. Allenfalls öko logische Gründe wurden angeführt, um einen Wachstumsstopp zu begründen. Eine weitere interessante Perspektive hat in jüngster Zeit der So zialpsychologe Harald Welzer in die Diskussion gebracht. Er plä diert dafür, über das Maßhalten nicht als eine Haltung zu sprechen, die einem durch lästige äußere Zwänge wie den Klimawandel auf gezwungen wird, sondern als eine Praxis, die uns ein freieres Leben anbietet. Der Verzicht auf den Zwang, viele überflüssige Dinge kau fen zu müssen, sei kein Verzicht oder Opfer, sondern ein Zeitge winn. Er bedeutet weniger Stress, mehr verfügbares Einkommen, letztendlich mehr Lebensqualität. Wer Geld und Aufwand für viele überflüssige Dinge spart, so Welzer, bekommt Lebensqualität zu rück: „So betrachtet sind der SUV und die ShoppingFlugreise die Einschränkungen und nicht der fröhliche Verzicht darauf“. Und er zitiert den britischen Ökonomen Tim Jackson, „dass wir mit Geld, das wir nicht haben, Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht ausstehen können“. Der Zeitforscher Hartmut Rosa ist wenig optimistisch, das Regi me Systemzwang durchbrechen zu können: Das, was wir in der Produktion an Zeit gewinnen - wir nennen es Produktivitätszu wächse - im Konsum wieder ausgegeben müssen, was wir dann Wirtschaftswachstum nennen. Das gesteigerte Produktionstempo habe „ökonomisch zwingend“ eine „Erhöhung der Konsumtions akte zur Folge“. Ethische Ziele des Wirtschaftens müssen auf der Strecke bleiben, die Sachzwanglogik nimmt ihren Platz ein: Wir produzieren, damit die Produktion weiterlaufen kann, Wachstums <?page no="184"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 183 und Beschleunigungszwang greifen ineinander, so Hartmut Rosa in seinem Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Gibt es nicht zumindest Denkanstöße, die diese Logik durchbre chen können? Das bedingungslose Grundeinkommen, ein Ausweg? Viele Volkswirtschaften sind laufend produktiver geworden und schaffen so Wirtschaftswachstum. Was ein Zeichen für Wohlstand ist, hat sich, unter Umweltaspekten, zu einem zentralen gesellschaft lichen Problem verwandelt. Laut Keynes, Graeber und Welzer könnten wir in den hochentwickelten Ländern einen wachsenden Teil unserer Zeit den Dingen widmen, die wir wirklich tun wollen, ohne z.B. die Umwelt weiter zu belasten. Wenn durch Produktivitätsfortschritte Umwelt beschädigt und ein Teil der Bevölkerung um ein selbstbestimmtes Leben gebracht werden, so sind Optionen gefragt. Eine ist, staatliche Unterstüt zungsleistungen nicht mehr an die Illusion der Vollbeschäftigung zu binden, die gleichzeitig Verwaltung und Kontrolle durch eine kostenintensive Bürokratie erforderlich macht. Die Automatisie rungserfolge zwingen auch deshalb darüber nachzudenken, weil sie einen enormen Druck auf viele Beschäftigte und Arbeitssuchende ausüben. Auch die Politik setzt sich permanent unter Zugzwang, da sie immer wieder Hoffnung machen muss, das Problem Arbeitslo sigkeit in den Griff bekommen zu müssen. Hier setzt die Idee des staatlichen Grundeinkommens an, auch Bürgergeld oder Sozialeinkommen genannt. Die Idee geht, das mag überraschen, auf einen der Väter des Neoliberalismus, Milton Friedmann, zurück. Er wollte so das amerikanische Sozialsystem in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts sanieren. Das Grund einkommen würde je nach Ausgestaltung viele bisher anfallende staatliche Zahlungen wie Arbeitslosengeld, Bafög etc. ersetzen. Je nach politischem oder ökonomischem Standort gibt es sehr un terschiedliche Vorschläge für die Ausgestaltung dieser Idee. Die <?page no="185"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 184 Und wenn dennoch einige vor dem Fernseher liegen blieben, wäre das auch kein Problem. rigide Vorstellung ist, nur denen ein sehr geringes Bürgergeld - zum Teil unterhalb der heutigen Hartz IVSätze - zuzubilligen, die keine Arbeit ablehnen. Primäres Ziel ist hier, die staatliche Bürokra tie abzubauen und Arbeitslose zu zwingen, auch schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Jeremy Rifkin und Ulrich Beck dagegen fordern, für gemeinnützige und ehrenamtl iche Tätigkeiten ein Grundein kommen zu zahlen. Gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben könnten so gefördert und entgolten werden. Einen Schritt weiter geht das be dingungslose Grundeinkommen, das jedem ohne Prüfung zustehen soll. Bei Besserverdienern, die es nicht benötigen, holt sich der Staat diese Zahlung durch einen entsprechend höheren Steuersatz wieder zurück. Zur Finanzierung könnte eine Anhebung der Mehrwert steuersätze bzw. die Einführung der Erbschafts und Vermögens steuern herangezogen werden sowie die anfallenden Einsparungen bei den heute zu fin anzierenden Sozialleistungen. Ein Einwand kommt sofort: Dann verabschieden sich die meisten Menschen von der Lohnarbeit und liegen nur noch faul auf dem Sofa. Tom Reuter erwähnt eine Umfrage, nach der 90 Prozent der Befragten versichern, dass sie auch bei Erhalt eines Grundeinkom mens weiterarbeiten würden. Zugleich glauben 80 Prozent, dass an dere aufhören würden zu arbeiten. Sie wollen weiterarbeiten, weil Arbeit eine Sinn stiftende Funktion hat, vielleicht auch, weil viele den Druck der Gemeinschaft spüren und nicht als Faulpelze gelten möchten. Das tun sie wahrscheinlich auch heute schon. Könnte ein bedingungs loses Grundeinkommen den Druck von vielen nehmen, Ängste ab bauen und zu einem se lbstbestimmteren Leben beitragen? Würde die Arbeit davon vielleicht kaum tangiert werden und der Wunsch etwas Sinnvolles zu tun, möglicherweise steigen? Wäre eine „Ne benfolge“, dass ausbeuterische oder ethisch fragwürdige Arbeit eher abgelehnt werden würde? Das Grundeinkommen entkoppelt Arbeit vom Einkommen und könnte so mehr Freiräume für sinnvolle Tätigkeiten eröffnen: Ge <?page no="186"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 185 sellschaftliches Engagement würde wahrscheinlich dann eine grö ßere Rolle spielen. Bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne könnten die Folge sein. Viele stünden nicht mehr unter dem Druck, jede angebotene Beschäftigung annehmen zu müssen. Viele Wissenschaftler und Institutionen haben sich daran ge macht, Modelle der Finanzierung für das bedingungslose Grund einkommen zu entwickeln. Sie gehen von unterschiedlichen An nahmen aus. Gemeinsam ist ihnen, die Sinnhaftigkeit und Realisier barkeit nachzuweisen. Zu nennen sind hier u.a. das Transfergrenz modell von Pelzer, das AlthausModell, das RheinErftModell der SPD und das Konsumsteuermodell von Götz Werner. Die Perspektive bedingungslose Grundeinkommen mag idealis tisch erscheinen. Unterstützung kommt aber auch aus einem Lager, von dem man es am wenigsten erwartet hätte. Der Berliner Organi sationsforscher Ayad AlAni sieht darin die Möglichkeit, den aktu ellen Ökonomisierungspfad zu stabilisieren. Die Unternehmen sind heute durch die Verbreitung von Internet, PCs, Tablets etc. in der Lage, immer mehr Arbeit an Freelancer und in die Crowd auszula gern. Dies ist kostengünstiger oder gar kostenlos. Die Crowd kann monotone Restarbeiten machen, aber auch die Kreativität und In novationen in den schlank gewordenen Firmen stabil halten oder gar steigern: „Wenn man pausenlos neue Ideen braucht, kann man nicht mehr auf die eigenen Mitarbeiter setzen ... Unternehmen sind meist nicht mehr in der Lage, die Kreativität ihrer Mitarbeiter zu nutzen. Die toben sich woanders aus, verwirklichen sich privat ... Auch wenn ich mir als Ökonom bei dem Wort jedes Mal auf die Zunge beiße: Dann brauchen wir vielleicht so etwas wie ein Grund einkommen für alle“ 14 . In der Freizeit verwirklichen kann sich nur der, so AlAni, dessen Existenz halbwegs gesichert ist. Da greift auf wundersame Weise das bedingungslose Grundeinkommen ein, die kostengünstigste Art für Unternehmen ihre Profite zu realisieren. Und die Gehälter, die heute noch die Unternehmen zahlen, würde der Steuerzahler mit dem Grundeinkommen übernehmen: Eine weitere Form der Über <?page no="187"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 186 wälzung, diesmal von Personalkosten über das Grundeinkommen auf die Allgemeinheit? Wäre das bedingungslose Grundeinkommen trotz aller Wider sprüchlichkeit nicht ein sinnvolles Kontrastprogram zu Hartz IV? Das bedingungslose Grundeinkommen setzt auf Freiwilligkeit und hofft, dass daraus positive Ergebnisse für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit entstehen. Es geht davon aus, dass nicht ausreichend sichere Vollzeitarbeitsplätze für alle vorhanden sind und es allein schon aus ökologischen Gründen kein permanentes wirtschaftliches Wachstum geben kann. Hartz IVGesetze dagegen wollen Arbeitslose aktivieren, damit sie nicht auf der faulen Haut liegen. Als Entgelt erhalten sie Sozial leistungen. Es liegt ein gänzlich anderes Menschenbild als beim bedingungslosen Grundeinkommen zugrunde. Der SZJournalist Heribert Prantl hält Hartz IV für ein Verunsicherungsgesetz, das den Lebensstil jedes Einzelnen überwacht und sanktioniert mit der Möglichkeit, das Existenzminimum jederzeit zu kürzen. Mit Hartz IV haben Elemente des Strafrechts in das Sozialrecht Einzug gehal ten, so Prantl. Es gebe Missbrauch, die Mehrzahl aber kämpfe um Arbeit, Anerkennung und Respekt der Gesellschaft. Hartz IV ist vermutlich in Zeiten der digitalen Transformation, die Freiwilligkeit, Kreativität und Innovation benötigt, auch öko nomisch der falsche Pfad. Der Organisationsforscher Ayad AlAni scheint das erkannt zu haben, wenn auch mit der Absicht, den Steu erzahler zugunsten erhöhter Profite zur Kasse zu bitten. Vom Fabrikjungen mit dem Bindfaden zur Automatisierungsdi vidende Stellen wir doch einfach mal die wenig beliebte Frage nach der Ver teilung des Reichtums in der digitalen Wissensgesellschaft. Sie ist wahrscheinlich die zentrale Frage angesichts der digitalen Transfor mation, aber aus der politischen Diskussion weitgehend verschwun den. Der Journalist Matthias Greffrath nimmt Bezug auf Adam Smith in einer Passage seines Buches „Der Reichtum der Nationen“: <?page no="188"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 187 „Viele Maschinen sind ursprünglich von einfachen Arbeitern erfunden worden. Da sie ständig die gleichen Handgriffe aus führen mussten, suchten sie nach Methoden, wie sie ihre Tätig keit erleichtern könnten. So war bei den ersten Dampfmaschi nen ein Junge dauernd damit beschäftigt, den Durchlass vom Kessel zum Zylinder abwechselnd zu öffnen und zu schließen. Einer dieser Jungen beobachtete dabei Folgendes: Verbindet er den Griff des Ventils (...) durch eine Schnur mit einem anderen Teil der Maschine, so öffnet und schließt sich das Ventil von selbst, und es bleibt ihm dadurch Zeit, mit seinen Freunden zu spielen“. Dieser Fabrikjunge hat, so Greffrath, seine Entdeckung weder pa tentiert noch eine Lizenzgebühr erhalten. Er sei einer der namenlo sen Erfinder in der Geschichte, die zur Wissensgesellschaft gewor den ist. Eine Nation sei reich, weil alle mit ihrer Arbeit die Technik entwicklung in einer unsichtbaren Verkettung mitgestaltet haben. Die Produktivität einer Gesellschaft beruhe auf der Arbeit vieler in der Vergangenheit. Und weil diese unsichtbare Verkettung so er folgreich war, könne man heute von der Wissensgesellschaft spre chen. Allerdings habe sich das Menschheitswissen sehr einseitig und fast unbemerkt in „geistiges Eigentum der Maschinenbesitzer“ verwandelt. Der Fabrikjunge mit dem Bindfaden wirft die nicht ganz neue Frage auf, wer die Lorbeeren der Generierung des technischen Fort schritts erhält, d.h. wie sie verteilt werden sollten. In den 1960er Jahren hat Erich Preiser, einer der Großen der deutschen Volkswirt schaftslehre, einen Anstoß mit dem sogenannten Investivlohn gege ben. Wie beim Grundeinkommen kommt es bei der Gestaltung des Investivlohnes auf die Deutungshoheit an: Arbeitgeber interpretie ren Investivlöhne als Arbeitsentgelt, das nicht ausgezahlt wird, sondern zwangsweise gespart und für Investitionen genutzt wird. Investivlohn ist hier ein Teil des Lohnes, der in eine Beteiligung am Unternehmen umgewandelt wird. Eine gänzlich andere Sichtweise besteht darin, den Investivlohn aus dem Unternehmensgewinn zu <?page no="189"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 188 Sie plädieren zur Finanzierung des Gemeinwesens für eine Automatisierungsdividende. finanzieren, der dann in Investitionen fließt und den Beschäftigten gut geschrieben wird. Selbst Henry Ford beteiligte seine Arbeiter am Unternehmensgewinn, was nicht zuletzt zu mehr Kaufkraft auf Seiten der Arbeiter führte und gegebenenfalls den Kauf eines Au tomobil der Marke Ford förderte. Den beiden Informatikern und Sprechern des Chaos Computer Clubs Cons tanze Kurz und Frank Rieger gelingt es, diese uralte Ver teilungsfrage mit der digitalen Transformation zu verbinden. Sie stellen die Frage, wie eine Gesellschaft mit ihrem Gemeinwesen und ihrer Wirtschaft weiter funktionieren soll, wenn das ungebremste Streben nach Produktivitätswachstum und Optimierung des Kapi taleinsatzes durch Informatisierung mit diesem Tempo anhält? Wenn der Ante il der monotonen und schlechtbezahlten Arbeiten (McJobs) steigt und derjenigen abnimmt, die noch dauerhaft Arbeit haben, die gut genug entlohnt wird, dass davon ausreichend Steu ern, Sozial, Renten und Krankenkassenbeiträge gezahlt werden können. „Die Ersetzung von körperlicher Arbeit durch Roboter und Maschinen, der Rückzug des Menschen auf die Rolle des Konstr uk teurs und Befehlsgebers, die Ablösung vieler geistiger Tätigkeiten durch Algorithmen wird zwangsläufig profunde Auswirkungen auf die Struktur unserer Sozialsysteme und das Machtgefüge von Wirtschaft und Gesellschaft haben“. Da der Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung nicht aufzuhalten ist, so Kurz und Rieger, und auch nicht aufgehalten werden sollte, weil vi ele schlecht bezahlte Tätigkeiten wegfallen. Konkret schlagen sie vor, nicht mehr die menschliche Arbeit durch Lohn und Einkommenssteuer und auch nicht den Konsum durch die Mehrwertsteuer zu belasten, son dern schrittweise zur „indirekten Be steuerung von nichtmenschlicher Arbeit und damit zur Vergesell schaftung der Automatisierungsdividende“ überzugehen ... „Robo ter und Algorithmen mü ssen unsere Renten und ein allgemeines Grundeinkommen erarbeiten“. Mit der Automatisierungsdividende werde die Automatisierung der Arbeit wie der Arbeitsplatzverlust <?page no="190"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 189 nicht mehr als Teufelszeug und Einzelschicksal, sondern positiv gesehen werden können 15 . Über die Automatisierungsdividende hinaus gibt es im Zeitalter der digitalen Transformation weitere Möglichkeiten den Nutzer am zunehmenden Reichtum der Internetkonzerne zu beteiligen. Sie kommen vom amerikanischen Internetkritiker Jaron Lanier. Er kündigt schon im Titel seines Buches seine Botschaft an: „Wem ge hört die Zukunft? Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt“. Er will Waffengleichheit mit Google, Facebook & Co. herstellen. Die großen Unternehmen würden ja nicht nur Da ten über einzelne Personen sammeln, sondern Algorithmen ver wenden, um sie zu manipulieren. Durch Datenschutzgesetze werde nur das rohe Datenmaterial erreicht, jedoch nicht der wertvolle Kern. Für ihn gibt es nur zwei Optionen: Entweder sind alle Inter netnutzer Bürger erster Klasse, oder das Netz muss kommerzfrei sein: „Ein teilkommerzielles Internet, indem nur ein paar IT Giganten die Macht haben und alle anderen, die süchtig sind nach praktischen Gratisangeboten, nichts zu melden haben, ist inakzep tabel“. Lanier hält eine Abschaffung des kommerziellen Sektors für illu sorisch. Sein Vorschlag: dem Netznutzer wird über den sog. „Zwei WegeLink“ die Möglichkeit gegeben, seine Äußerungen und Bei träge im Netz zu verfolgen, um sich seine Datenlieferungen durch ein System von Mikrozahlungen, gemessen an der Zahl der Nutzer Klicks, von den Internetgiganten bezahlen zu lassen. Alternativ könne man auch eine Datensteuer einführen, wobei die Unterneh men Steuern auf den Gewinn zu entrichten hätten, „den sie dank freiem Zugang zu Daten der Bürger erzielen“. Schließlich generie ren diese über Werbung Milliardeneinnahmen. Warum sollte, so Lanier, ein Mensch bzw. die Gemeinschaft nicht auch kommerziell über ihre Daten verfügen können, die sich aus ihren Netzaktivitäten ergeben? Ganz so illusionär wie es im ersten Moment erscheint, ist Laniers Vorschlag durchaus nicht. Die deutsche Musikindustrie liegt seit längerem mit Google im Streit. Sie hat ihre Musikvideos für you <?page no="191"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 190 tube gesperrt, weil der Mutterkonzern Google sich weigert, dafür zu zahlen. Zentraler Streitpunkt zwischen dem Rechteverwalter Gema und Google ist, welche Abgaben Google bei Musikvideos, die werbefrei sind, an die Gema zu zahlen hat. Lanier macht die permanente Enteignung unserer Verfügungs gewalt über unsere Daten zum Thema. Dritte forschen uns aus, ma chen ihr Milliardengeschäft damit, ohne dass wir wissen, was sie mit unseren Daten anstellen. Zwei Dinge sind für Lanier prioritär zu lösen: die Totalüberwachung und der Reibach der Internetgigan ten. Der SPIEGELJournalist Georg Diez bläst in dasselbe Horn, wenn er von der riesigen Umverteilung und Abschöpfung durch die Intergiganten spricht, die „von den eigentlichen Lieferanten der Informationen zu den Maklern, Dealern, den derzeitigen Besitzern der Informationen“ fließen. Die digitale Transformation mit ihrer „Nebenfolge“ der verstärk ten Spaltung zu Lasten vieler hat Lösungsvorschläge wie das be dingungslose Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzungen, die Au tomatisierungsdividende, Abschöpfen des Reibaches der Inter netgiganten und andere Vorschläge zur Neuverteilung aufkommen lassen, die von einer politischen und wissenschaftlichen Avantgarde seit langem vertreten werden. Die Umsetzung setzt erheblichen politischen Einfluss und Unterstützung voraus, was nicht erkennbar ist. Die bestehenden Privilegien werden aufgrund massiver Interes sen mit Zähnen und Klauen verteidigt werden und nur mit einem dicken Bohrer vielleicht langfristig zu überwinden sein. Denn das wird zu Lasten der wenigen Vermögenden gehen und selbstver ständlich sofort die internationale Wettbewerbsfähigkeit zerstören, wenn nicht sogar in den Sozialismus führen, so hört man schon den Chor der Gegenattacke. Tatsächlich würde nur ein Teil des von al len erarbeiteten Reichtums gerechter verteilt. Es macht Sinn, auch über digitale Optionen nachzudenken, die eher lokal und dezentral wirken und umgesetzt werden können. <?page no="192"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 191 Urban Manufacturing - Der Stadtteil ist unsere Fabrik? Die bislang präsentierten Ansätze konzentrieren sich darauf, die gesellschaftliche Spaltung durch eine andere Verteilung von Wachs tum und Vermögen zugunsten der Vielen angesichts der durch die digitale Transformation zu erwartenden Arbeitsplatzverluste zu mindern. Eine andere Perspektive ist, ob und wie die digitale Trans formation genutzt werden kann, um zu einem guten Leben und einer motivierenden Arbeit in der Stadt oder Region beizutragen. Viele Politiker und Wissenschaftler haben über Jahre das Leitbild der postindustriellen Gesellschaft vertreten. Sie wollten Arbeitsplät ze in der Industrie zugunsten des Dienstleistungssektors abschaf fen. So etwa stellvertretend für viele andere der HarvardÖkonom und Professor an der HumboldtUniversität Michael C. Burda im Jahre 1997: „Jedes Land muss sich den Herausforderungen der post industriellen Gesellschaft stellen, es kann nicht herumgeredet, noch kann sie aufgehalten werden“. Deutschland muss seiner Meinung nach von seiner Industrielastigkeit wie vom Leitbild des Merkanti lismus Abschied nehmen, „der behauptet, dass das wirtschaftliche Überleben eines Landes eine produzierende Industrie voraussetzt“. Das hört sich heute, wo Präsident Obama die Reindustrialisierung der USA fordert und Deutschland gerade wegen seiner industriel len Infrastruktur in der ökonomischen Championsliga spielen kann, eher nach Kaffeesatzlesen an. Der Stadtökonom Dieter Läpple hat auf die Folgen dieses Irrtums hingewiesen: In den neuen Dienstleistungsökonomien mit Arbeits plätzen in der Werbung, Finanzierung, Beratung, in Medien, For schung & Entwicklung, EDV, Bildung und Gesundheit sind zwar neue Jobs in der Regel mit höheren Qualifikationsanforderungen entstanden. Die Kehrseite aber war, dass Beschäftigte in der Indust rie, wie es vor allem in den USA und in England zu besichtigen ist, ihren Arbeitsplatz verloren und häufig dauerhaft in die Arbeitslo sigkeit oder minderwertige Jobs geschickt wurden. Das hatte weit reichende „Nebenfolgen“ für die Stadtentwicklung, betroffen davon waren vor allem die traditionellen Arbeiterquartiere. <?page no="193"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 192 Die postindustrielle Entwicklung zog in den USA zusätzlich und zwangskäufig die Erosion der Innovationsfähigkeit nach sich. Es hat sich als Illusion erwiesen, die Fertigungsfunktion in asiatische Län der auszulagern und die wichtigen Forschungs, Entwicklungs und Entwurfsaktivitäten im Land behalten zu wollen. Nach und nach sind auch diese Funktionen abgewandert, die gesamte Wertschöp fungskette, einschließlich der einmal vorhandenen Innovationsfä higkeit, ging verloren. 16 Läpple plädiert zusammen mit der Brookings Institution für „die Entwicklung der > nächsten Ökonomie < der Städte: einer Ökonomie, die nicht mehr getrieben ist von Konsum und Schulden, sondern fokussiert ist auf Produktion und getrieben wird durch Innovation“. Die Zukunft werde dabei nicht in der Rückkehr der Großindustrie in die Städte liegen, sondern in urbanen Manufakturen, z.B. Werk höfen für Textilien, Handwerk, Einzelfertigung und das in Vernet zung mit der lokalen Kreativ und Kulturwirtschaft. Damit verbun den sind Hoffnungen auf vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten für unterschiedliche Qualifikationsniveaus, Aufstiegsmöglichkeiten in die Mittelklasse, Stabilisierung der sozialen Struktur der Städte, Schaffung von Robustheit gegenüber den Turbulenzen des Welt marktes. Die passende Metapher dafür ist Urban Manufacturing. Wie aber sind Urban Manufacturing und die Digitale Transformation zusammenzubringen? Neil Gershenfeld, Professor am MIT, gilt als Vater der Idee, den »Personal Computer« zum »Personal Fabricator« weiterzuentwi ckeln. Er gründete die FabLabBewegung, eine nichtprofitorientierte MakerhoodBewegung, die ihre Erfahrungen mit der Technik des 3DDruckens ins Netz stellt und so allen zugänglich macht. Daraus ist mittlerweile eine globale Bewegung geworden. Sie verspricht sich die Rückkehr der materiellen Produktion ins tägliche Leben der Stadt. Ein Beispiel von vielen ist das Fabrication Laboratory FABLAB St. Pauli in Hamburg. Die Aktivisten beschreiben ihr Leitbild so: „Die Produktion von High und LowTechKonsumgütern wird persön lich und passiert direkt in der Stadt, dort, wo die Konsumenten le <?page no="194"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 193 ben. Produzieren lassen sich: individuelle Objekte für den alltägli chen Bedarf; Gegenstände, die es nicht mehr gibt; Dinge, die man sich sonst nicht leisten oder gar nicht erst finden kann; aufwändige Bauteile, um eine Idee auszuprobieren; oder nicht mehr lieferbare Ersatzteile für defekte Geräte“. Die Idee ist, Vorlagen für nützliche Dinge als CADEntwurf zu entwerfen. Sie sind die Grundlage für den 3DDrucker, der hauch dünne Schichten aufhäuft und so das gewünschte Produkt fertigt. Die 3DDrucker können mittlerweile über hundert verschiedene Pulver, u.a. aus Metall oder Kunststoff, zu festen Gegenständen verarbeiten. Am Anfang stand die Idee, auf diese Weise traditionel le handwerkliche Strukturen wieder aufleben zu lassen. Dinge soll ten nicht einfach nur konsumiert, sondern selber gemacht werden. Die Aneignung von Dingen rückte ins Zentrum. Mittlerweile ist der 3DDrucker auch in der industriellen Fertigung angekommen. So werden bereits Zahnkronen und die Außenschalen von Hörgeräten mit 3DDruckern gefertigt. Auch im Flugzeugbau wird mit Proto typen experimentiert, um Teile in ihrem Gewicht zu reduzieren. Einige Anhänger sehen als „Nebenfolge“ der 3DDrucker bereits einen Trend zur DeGlobalisierung und Rationalisierung der Lager haltung und Logistik. Der 3DDruckerEinsatz in der Fertigung, könne die Anlieferung von Bauteilen, z.B. aus China überflüssig machen. Die Wirtschaftskreisläufe könnten wieder regionaler wer den. Tauschbörsen auf einer OpenSourceSeite im Internet, die ei nen Zugriff über Apps erlauben, würden die Verbreitung von digi talen Druckvorlagen erheblich beschleunigen. Chris Anderson, der langjährige Chefredakteur von wired sieht schon den Aufstieg einer neuen Heimindustrie, die das Ende für das Industriemodell bedeu ten könne. Dem Traum von einer Kleinfabrik in den eigenen vier Wänden, die jedes Produkt herstellen kann, indem die notwendigen Kon struktionspläne aus dem Internet heruntergeladen werden können, steht neben dem Preis der 3DDrucker noch einiges im Wege. Ist es realistisch anzunehmen, dass viele Verbraucher Lust haben werden, ihre Produkte selbst zu fertigen? Sicherlich wird es viele Technik <?page no="195"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 194 freaks und Bastler geben, die daran Freude haben werden. Wahr scheinlicher ist jedoch, dass Konsumenten zu professionellen 3D Druckzentren gehen und sich dort über teure 3DDrucker ihre indi viduellen Wünsche professionell anfertigen lassen. Es ist auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass Amazon & Co. hier ein attraktives Geschäftsfeld entdecken und die wünschenswerten regionalen Blü tenträume niederwalzen werden. Passend zum Weihnachtsgeschäft lädt der Elektronikeinzelhänd ler Saturn in Hamburg zum „3D Fotoshooting“ ein. Der Internet blog www.3dgeneration.com schreibt dazu: „Vor Ort in Hamburg lassen sich Menschen, Tiere und Objekte im Bruchteil einer Sekunde via 65 simultan geschalteter Spiegelreflexkameras scannen. Aus dem daraus entstehenden Datensatz wird in professioneller Post produktion ein virtuelles 3DModell erzeugt, welches anschließend mit neuester 3DDruckertechnologie in eine 3DFigur umgewandelt wird.“ Miniaturabbildungen seiner selbst sind schon ab 99 Euro zu haben. Die 3DDrucker kommen in die Stadt, nur sind es schon die finanzstarken Player, die mit ihren Angeboten locken. Es bleibt zu fragen, wem der 3DDatensatz gehört, dem Kunden oder Saturn? 17 Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass Intellektuelle, Stadtteil gruppen und Jugendliche Interesse an der materiellen Produktion und am Machen entwickeln werden. Sie würden die Produktion wieder in die Stadt zurückbringen. Das sehen wir wohlwollend, aber skeptisch. „Kaufen! Kaufen! Kaufen! “ hat nämlich über die Jahre bei den meisten Konsumenten zu einer „genetischen Programmierung“ geführt, verstärkt durch beständige Werbebombardements, die schwer „umzuswitchen“ sein werden. Zusätzlich ist durch Online Käufe ein Schub an SofaBequemlichkeit entstanden, die für die neue stadteilnahe Fertigung allenfalls Platz für eine Avantgarde übriglässt. Offensichtlich sind zwei Megatrends der Zukunft mit 3DDru ckern und der Industrie 4.0 in der Diskussion, die bislang in Wis senschaft wie Praxis noch weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Ein komplexes Netz der smarten Dinge in der Industrie ist <?page no="196"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 195 konfrontiert mit dezentraler Fertigung von Produkten und Objek ten. Lassen sie sich erfolgversprechend kombinieren oder werden sie konkurrieren? Der Trunk der Sharing Economy, den man probieren sollte Wir haben darüber geschrieben, wie mit der Sharing Economy ein unreglementierter „kalifornischer Kapitalismus“ nach Deutschland rüberschwappt. Er ist dabei, Branchen und ihre Arbeitsplätze platt zumachen. Vertreter wie Uber und Airbnb unterlaufen selbstver ständliche Arbeitsstandards und Rechtsvorschriften der sozialen Marktwirtschaft. Das ist die problematische Seite der Sharing Economy. Es gibt ei ne andere: Teile der innovativen Elite sympathisieren mit Commons und AllmendeIdeen und würden ihre Dienstleistungen und Produkte gerne im Rahmen einer Sharing Economy oder von Genossenschaften umsetzen. Sie zählen zu den Akteuren, die wir mit Startups, Quer und Schnelldenkern, Eigenbrötlern und Weltverbesserern beschrie ben haben. Sie haben unsere Sympathie. Vorab einige Erklärungen zu den angesprochenen Begriffen: Ge nossenschaften sind Zusammenschlüsse von Personen. Sie wollen gemeinsam im Interesse und mit ihren Mitgliedern Projekte entwer fen und umsetzen. Allerdings haben heute nicht alle Genossen schaften diese idealistischen Zielsetzungen. Etwa 18 Millionen Men schen sind in Deutschland derzeit Mitglied einer Genossenschaft. Schwerpunkte sind die Bereiche Energie/ Wasser, Wohnen/ Bauen und Konsum/ Mobilität. Genossenschaften setzen auf Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Die Allmende (mittelhochdeutsch almende, al(ge)meinde) ist etwas, was allen gemeinsam gehört, also der Teil des Grundes einer Gemein de, der sich im Gemeineigentum der Dorfbewohner befand. Vorwie gend waren dies Weiden, Wald und Ödland; sie wurden von den Dorfbewohnern gemeinsam genutzt, z.B. um Vieh weiden zu lassen. Nutzungsbedingungen wurden abgesprochen, um keine Übernut zung der Dorfwiese entstehen zu lassen, die allen schaden würde. <?page no="197"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 196 In den 1960er Jahren vertrat der Mikrobiologe und Ökologe Gar rett Hardin in seinem Essay „The Tragedy of the Commons“ die Auffassung, dass ein Gemeingut, z.B. eine Weide, zwangsläufig durch Übernutzung zu Grunde gehen müsse. Deshalb sei die Priva tisierung, die dem Gemeingut einen Marktpreis aufgrund von An gebot und Nachfrage gebe, die einzige Lösung. Das hat die amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom herausge fordert, eine Vielzahl von erfolgreich arbeitenden AllmendeProjek ten und die Bedingungen ihres Funktionierens zu erforschen. Dafür erhielt sie 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Es muss nicht zur „Tragedy of the CommonsJ kommen, sofern klare Regelungen und Konfliktlösungsmechanismen verbindlich sind so wie die Kontrolle ihrer Einhaltung gesichert ist. Rechte und Pflich ten müssen von allen Beteiligten akzeptiert werden. Die AllmendeDiskussion hat durch die Digitalisierung einen Aufschwung erhalten, weil geistige Arbeit wie Verfassen von Tex ten oder Musikinterpretationen über das Internet verteilt und belie big oft repliziert werden kann. Eine Übernutzung findet nicht statt. Viele Menschen können sogar über große Distanzen hinweg bei der gemeinsamen Gestaltung eines Werkes kooperieren, wodurch das Ergebnis häufig besser ist als eine Einzelleistung („Komödie der Allmende“). Eine solche Commonskultur lässt sich auf viele Berei che, wie z.B. Musik, Wissenschaft und Bildung übertragen. Aller dings taucht dann die Frage auf, ob und wie die Schöpfer für ihr Werk entlohnt werden und welche Rechte bei ihnen verbleiben. Eine Antwort wurde mit dem Creative CommonsProjekt versucht, das verschiedene Lizenzstufen unterscheidet. Die Sharing Economy setzt auf gemeinschaftliche Nutzung, also auf Verleihen, Teilen, Verschenken oder Vermieten von Gegenstän den (u.a. Autos, Geräte, Maschinen, Nahrungsmittel, Kleidung), von Räumen und Kenntnissen. Damit ist die Hoffnung verbunden, Ressourcenverschwendung, Überproduktion und Umweltbelastung zu reduzieren - damit argumentiert auch Uber - und gleichzeitig die Kooperation und soziale Verantwortung der Beteiligten zu stärken, was bei Uber fehlt. <?page no="198"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 197 Beispiele gibt es mittlerweile zuhauf: gemeinsame Autonutzung durch Ausleihe, Nutzung des öffentlichen Raums für Gemein schaftsgärten, Kleidertauschbörsen, Schneiderwerkstätten; all dies sind Beispiele für eine Kultur des Teilens, des Umnutzens, Umbaus und des Einsparens. Es wurde durch das Internet in diesem Aus maß erst möglich, weil das Matchen von Anbietern und Nachfra gern so leicht wie nie ist. Im Idealfall, sofern die Projekte nicht wie bei Uber oder Airbnb in den „kalifornischen Kapitalismus“ abdriften, können sie die herr schenden ökonomischen Strukturen verändern: Dem Credo „Kon sum! Konsum! Konsum! “ setzen sie Genügsamkeit und Gierbeherr schung entgegen. Das ist Gift für die digitale Wachstumsgesell schaft, weil sie so zumindest in Teilen ihre Rechtfertigung - Besitz und Eigentum als Statussysmbol - verlieren würde. Offene Internetplattformen sind ideal geeignet, Ideen auszutau schen, die dann dezentral in gemeinsamen Aktivitäten umgesetzt werden können. Investmentfonds wären ebenso überflüssig wie globale Datensammlungen. Regionale Produktionsstätten könnten mit 3DDruckern organisiert werden. Lokale Kreisläufe würden die Turbulenzen des Weltmarktes abfedern und die Städte umweltge rechter machen. Eine Verflechtung mit regionalen Dienstleistungen könnte so entstehen, wie es dem Stadtentwickler Dieter Läpple vor schwebt. Die Sharing Economy benötigt keine zentralistisch ausge richteten ManagementInformationssysteme (MIS), ihre Leitbilder sind Dezentralisierung, Lokalität und Autonomie. Aber springen wir zurück in die Wirklichkeit. Bislang beherr schen Uber, Airbnb, Google, Amazon & Co. die digitale Ökonomie. Commons und AllmendeAnsätze dümpeln in ihrem Fahrwasser dahin, immer in der Gefahr, geschluckt oder durch staatliche Regu lierungen beschädigt zu werden, die eigentlich nur die Spinnennet ze treffen wollen, so der Umweltpolitiker und Hochschullehrer Reinhard Loske. Denn überall dort, wo getauscht und geteilt wird, entsteht für das Finanzamt beispielsweise ein intransparenter Raum. Ein steuerlicher Zugriff ist kaum noch möglich. Bei starkem Wachstum der SharingEconomy könnten die Steuereinnahmen <?page no="199"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 198 sinken, was den Finanzministern nicht recht sein kann. Auch die Gewerkschaften befürchten, dass die SharingEconomy ihr Ni schendasein verlässt und sich arbeitsrechtlichen Bindungen ent zieht. Und zu guter Letzt sind auch viele Geschäftsmodelle in der „alten“ Ökonomie von der „guten“ Sharing Economy betroffen. Reinhard Loske bringt in der ZEIT den zu lösenden Konflikt auf den Punkt: „Wie kann diese Konfliktlandschaft politisch so bearbei tet werden, dass dabei ökologisch, sozial und ökonomisch etwas für die Gesellschaft Nützliches herauskommt? “ Ginge es nach Uber und Airbnb, so gibt es überhaupt keinen Regulierungsbedarf. Im Gegenteil, bestehende Regulierungen sollten in den Orkus des Ver gessens geworfen werden. Riskant wäre es aber wohl auch, den Branchen der „alten“ Ökonomie, wie einst der Kohleindustrie, eine staatliche Bestandsgarantie zu geben, zulasten wünschenswerter Entwicklungen in der SharingEconomy. Diese müsste man dann in der Konsequenz wohl „kaputtregulieren“. Damit die Commons und AllmendeProjekte nicht durch Spinnen aufgefressen werden und die Gesellschaft durch ihr Überleben posi tiv mitgestalten können, gibt es eine Reihe von Stellschrauben: Kei ne diskriminierende Netzpolitik, Berücksichtigung bei der Wirt schaftsförderung und Steuerpolitik, unterstützende Maßnahmen für Beschäftigte, die oft Kümmerexistenzen sind. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde diesen Projekten vermutlich einen enor men Schwung geben können. Aber auch das folgende Szenario dürfte nicht ganz unwahr scheinlich sein: Arbeitsplatzverluste in den „alten“ Branchen durch Ausbreitung der Spinnennetze. Den so „Freigestellten“ bleibt dann nicht anderes übrig, als über Airbnb ihre Zimmer zu vermieten und sich als Privattaxifahrer gegen eine ObulusZahlung bei Uber zu verdingen. Zusätzlich wird man (gezwungenermaßen) durch Aus leihe, Gemeinschaftsgärten, Kleidertauschbörsen, Schneiderwerk stätten oder Eigenproduktion mit dem 3DDrucker sein Auskom men sichern? Die Schlussfolgerung ist wohl: Auch in der ShareEconomy ste hen sich zwei Weltanschauungen gegenüber: die Ideologie der Sili <?page no="200"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 199 con ValleyYoungster, die weder konservativ noch links noch wer tegebunden, in diesem Sinne unpolitisch sind. Ihr Glaube ist, mit ihren Apps und Smartphones eine bessere Welt programmieren zu können. Im Kontrast dazu die politisch motivierten Weltverbesse rer, Querdenker und Eigenbrötler, die mit Unterstützung des Inter nets autonom, selbstbestimmt und in überschaubaren Gemeinschaf ten leben wollen. Sie wollen sich nicht einverleiben lassen, obwohl viele als „Kümmerexistenzen“ leben. Sie glauben daran, dass sie mit den jetzt vorhandenen technischen Mitteln eher kleinteilige, genos senschaftliche und AllmendeIdeen realisieren können. Sie sehen im Internet die Chance, eine demokratische Ökonomie und Lebenswelt mit lokalen Arbeitsplätzen schaffen zu können. Es ist die Antwort der Weltverbesserer „auf ein System des Misstrauens, des Ausspio nierens und der Verselbständigung globaler Finanzsysteme“, so Ranga Yogeshwar. Die Vision von Jeremy Rifkin: Entmachtung der Spinnennetze? Die Verheißungen der Industrie 4.0 erschienen uns zuweilen als Science Fiction, allerdings mit allen nur denkbaren und unerwähnt bleibenden „Nebenfolgen“, in jedem Fall mit ungewissem Ausgang. Die implizite Begründung der Treiber lautete, nur so könne der Wohlstand im Rahmen der globalen Konkurrenz gesichert werden. Eine Vision ganz anderer Art hat Jeremy Rifkin jüngst mit seinem Buch Die NullGrenzkostenGesellschaft vorgelegt. Durch die digitale Transformation, so seine grundlegende These, werden die Kosten für jede zusätzliche produzierte Einheit gegen Null gehen, etwa bei Musikstücken oder EBooks, aber auch bei den erneuerbaren Ener gien. Schon der Subtitel weist die Richtung: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Billionen von Sensoren, so Rifkin, werden Menschen, Maschinen und Umwelt in einem intelligenten Internet der Dinge verknüpfen. Dabei wird die Energie durch erneuerbare Energiequellen mittel fristig nach Rückzahlung der Fixkosten zu Grenzkosten von fast Null verfügbar sein. Kostenlose Open SourceSoftware wird es mit <?page no="201"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 200 Im Ergebnis kommt es, so Rifkin, zu einer radikalen Umverteilung von wirtschaftlicher Macht. Nach Rifkin wird der Kampf der Welt verbesserer gegen Uber, Google & Co. ein brutaler und schmutziger Kampf werden. tels 3DDruckern möglich machen, vor Ort erhältliche Gegenstände zu fast NullGrenzkosten herzustellen. Eine Allmende mit kollabo rativen Gemeingütern könnte so entstehen. Elektrisch betriebene, mit Brennstoffzellen ausgerüstete fahrerlose Fahrzeuge werden Wa ren und Personen befördern können. Rifkins Vision gründet sich auf der Hoffnung, dass der Wandel vom Besitz zum Zugang bzw. zum Tei len unter den Men schen massiv und schnell zunehmen wird. Menschen werden lernen, dass Sozialkapi tal wichtiger ist als Finanzkapital, Nachhaltigkeit bedeutender als Konsum, Kooperation ebenso wichtig wie Wettbewerb, und der „Gegenwert“ sich zunehmend durch den „zu teilenden Wert“ in Gemeinschaften ergibt. Das Internet ist für ihn das ideale Med ium, um diesen Wandel befördern zu können. „Der rasante Vorstoß in eine Gesellschaft der Grenzkosten von fast null und das Teilen von fast kostenfreier grüner Energie sowie eine Vielzahl an umverteilten Gütern und Dienstleistungen im kollaborativen Gemeinschaftsraum führen zu einem Wirtschaften, das ein Höchstmaß an ökologischer Effizienz sichert“. Rifkin glaubt, da ss die Menschen es auf Dauer nicht mehr zulas sen werden, dass Spinnennetze wie Uber oder Google auf ihre Kos ten gigantische Gewinne einfahren und Macht über Konsumenten ausüben. Regionale Kooperativen werden ihre Fahrdienste zukünf tig über das Internet selbst organisieren. Die Weltverbesserer wer den nicht ewig dasitzen und sich die Butter vom Brot nehmen und au sbeuten lassen. Google, Amazon und Co. sind für ihn nur Akteu re einer Übergangsphase. Sie sind unnötige Zwischenhändler, die über kurz oder lang, wie die Großhändler im Einzelhandel, wegfal len werden. In der zukünftigen Allmende und CommonsÖkonomie werden sie genauso wenig gebraucht wie Plattenfirmen, Kaufhäuser, Strom konzerne und all die anderen Zwischenhändler. Ihre Profite sind nur <?page no="202"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 201 noch von kurzer Dauer. Über kurz oder lang, glaubt Rifkin, wird die Crowd die Steuerung und Kontrolle dieser Ökonomie übernehmen. Rifkins Vorstellung läuft auf eine hybride digitale Plattform Ökonomie hinaus, mit teils kapitalistischem Markt und teils kolla borativem Gemeinschaftsraum. Die Produktivität werde enorm steigen. Neue Arbeitsplätze kämen durch den Aufbau der Plattform für das Internet der Dinge unter dem Leitbild der Null Grenzkosten Gesellschaft hinzu. Rifkins Hoffnung ist, dass damit eine gerechtere, humanere und nachhaltige Gesellschaft einhergehen werde. Auch wenn man Sympathie für diese basisdemokratische Varian te der digitalen Transformation angesichts des kalifornischen Kapi talismus haben wird, einiges steht der Umsetzung im Wege. Rifkin unterschätzt die heute schon bestehende Macht der Internetkonzer ne mit ihren global gesponnenen Spinnennetzen. Sie hat zahlreiche Branchen umgepflügt und eine neue digitale Ökonomie nach ihrer Logik geschaffen. Ihre Machtressource ist die Abhängigkeit vieler kleiner und mittlerer Anbieter von den Internetkonzernen, das In ternetSuchtverhalten vieler Nutzer sowie die Datenherrschaft, mit der Google & Co. jederzeit beliebig neue Geschäftsmodelle etablie ren und Konkurrenten zerstören kann. Die digitale Infrastruktur ist im Besitz der Monopolisten. Sie werden sie bis aufs Messer vertei digen. Die Instrumente dafür sind in ihrer Waffenkammer. Urban Manufacturing, Automatisierungsdividende, Sharing Eco nomy und NullGrenzkostenGesellschaft, all das hört sich zumin dest sympathisch an. Der bisherige Lauf des nur schwer umzusteu ernden globalen Riesentankers Ökonomie mit seinen mächtigen Reedern und Kapitänen lassen den Optimismus für diese Entwick lung aber leider nicht gerade glühen. Rauschende Feste im Penthouse? Die deutsche Volkswirtschaft steht im Winter 2014/ 15 trotz einer sich abschwächenden Weltkonjunktur blendend dar. Die Arbeitslo senquote ist gering, Fachexperten werden in vielen Branchen ge sucht. Da verwundern die Prognosen von Brynjolfsson/ McAfee und <?page no="203"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 202 Kurz/ Rieger schon, die hohe Arbeitslosenzahlen durch die digitale Transformation vorhersagen. Bislang ist davon doch nichts zu spü ren, obwohl wir doch schon mitten in diesem Prozess sind. Vielleicht sitzen wir hier alle einem großen Trugschluss auf? Schenkt man den Aussagen des Frankfurter Sozialrichters Jürgen Borchert Glauben, laut Süddeutscher Zeitung einer der streitbarsten Sozialrichter Deutschlands, so ist das Arbeitsvolumen in Deutsch land seit 2000 gleich geblieben. Es wurde nur durch Leih und Teil zeitarbeit auf mehr Personen verteilt. Dadurch konnte eine Ab wärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt werden, auch mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen. Diese Marktverzerrung gehe nicht zuletzt auf Kosten der europäischen Nachbarn, die „in Grund und Boden konkurriert werden“. Und das könnte sich im Zuge der digitalen Transformation fort setzen. Sie könnte vor allem für die südlichen EULänder, die mit Arbeitslosenzahlen der Jugendlichen in Griechenland und Spanien von über 50 Prozent (in Deutschland knapp 8 Prozent) und hohem Schuldenstand ohnehin miserabel dastehen, zu einer zusätzlichen Belastung werden. Die Unternehmen wie die Regierungen dort werden sich die notwendigen digitalen Investitionen nicht leisten können. Die Digitalisierung ist für diese Staaten heute verständli cherweise von sehr überschaubarer Diskursintensität. Dies mit der Folge, dass in Ländern wie Deutschland, wo u.a. die Etablierung der Industrie 4.0 mit finanzieller staatlicher Förderung vorangetrie ben wird, der Wohlstandsvorsprung noch weiter wachsen wird. Brynjolfsson/ McAfee und Kurz/ Rieger weisen zwar zu Recht auf die Beschleunigung hin, mit der die Digitalisierung in alle Poren der Gesellschaft eindringt und die Gleichgewichtswachstum kaum noch möglich erscheinen lässt. Auch viele Menschen werden vermutlich nicht mehr mithalten können. Frühere Innovationswellen, die von Erfindungen der Dampfmaschine oder der Elektrizität ausgingen, benötigten Dekaden, bis sie die Lebens und Arbeitswelt durch dringen konnten. Für Brynjolfsson/ McAfee und Kurz/ Rieger ist die Dynamik der digitalen Transformation der Stoff, aus dem ökonomische Depressi <?page no="204"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 203 onen sind. Ihre Argumentation lautet sehr verkürzt: In einer hoch automatisierten Gesellschaft finden die Unternehmen immer weni ger Absatzmöglichkeiten, da aufgrund der Digitalisierung immer mehr potenzielle Konsumenten ohne Beschäftigung und ohne Ein kommen sein werden. Diese Argumentation greift zu kurz. Eine gewisse Kompensation auf dem Arbeitsmarkt findet statt zumindest gilt das für Deutsch land sofern die Exportüberschüsse stabil und die dort Beschäftig ten in Lohn und Brot bleiben. Das wachsende Kapitalvermögen, resultierend aus Exportüberschüssen und Finanzspekulationen, wird allerdings insofern immer weniger lohnende Anlagemöglich keiten im Inland finden, da sich Investitionen aufgrund der unzu reichenden Binnennachfrage wenig lohnen. Dies gilt allerdings nur solange wie eine eher statische Betrachtung volkswirtschaftlicher Zusammenhänge unterstellt wird. Soweit die Theorie. In der Praxis ist sehr viel überschüssiges Ka pital vorhanden noch verstärkt durch die Geldpolitik der EZB das permanent auf der Suche nach lohnender Anlage ist, um sich zu vermehren. Einkommen und Beschäftigung entstehen dann, wenn lohnende Anlagemöglichkeiten für das überschüssige Kapital in Sichtweite sind. Die zentrale Frage ist dann nicht mehr, wo Arbeits plätze wegfallen, sondern wo sich lohnende Investments auftun, die Investoren mit einer überzeugenden Kapitalrendite zufriedenstellen können. In der Praxis ist es dann auch zweitrangig, ob diese Investi tionen gesellschaftlich sinnvoll sind oder ob die neu entstehenden Arbeitsplätze die ausgedünnten der Mittelschicht ersetzen können. Im Vordergrund steht auch nicht, ob sich die Spaltung der Gesell schaft, die Thomas Piketty in seinen Studien für die Vergangenheit beschrieben hat, dadurch weiter verschärfen wird. Womit wir wieder bei unserer Ausgangsfrage sind: Wo tun sich lohnende Investments auf, die Investoren mit einer überzeugenden Kapitalrendite zufriedenstellen und Arbeitsplätze schaffen können? Einen solchen nicht ganz unwahrscheinlichen Entwicklungspfad werden wir entwerfen. Wir werden dabei auch darauf achten, ob damit positive oder negative Folgen für die Statik des Hauses ver <?page no="205"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 204 bunden sein werden. Wir sind, ohne dass wir es bemerkt haben, bereits längst auf diesem Pfad. Zeitdiebe beschäftigen uns - ein denkbarer Lauf der Dinge Einige renommierte Autoren, wie Brynjolfsson/ McAfee, warnen vor einen Kahlschlag auf den Arbeitsmärkten, verursacht durch die digitale Transformation. Sie weisen auf die Radikalität und das ho he Tempo hin, mit der die Digitalisierung die „alte“ Ökonomie überfällt und keine Zeit lässt, sich auf diese Veränderungen einzu stellen. Diese Sorge ist berechtigt, unterschätzt aber vielleicht doch die Anpassungsmechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft. Es sind einige Bereiche denkbar, wo sich Investitionen für das private Kapitalvermögen lohnen werden und in der Folge Arbeits plätze erwartet werden können, u.a. in der Altenbetreuung, im Wohnungsbau, in der Verkehrsinfrastruktur, im digitalen Netz ausbau, im Gesundheits und wohl auch im Energiebereich. Auch die Umsetzung der SmartCityPläne kann Arbeitsplätze schaffen. Ganz entscheidend aber ist das hochprofessionelle Niveau der Mar keting und Werbebranche, die heute bereits in der Lage ist, aus dem Stand neue Waren und Dienstleistungsbedürfnisse in die Köp fe der Menschen zu zaubern. Sie wird in Zeiten der digitalen Trans formation, angesichts möglicher Arbeitsplatzverluste, weiter und verstärkt boomen müssen. Auch die Politik kann einiges dafür tun, eine erkleckliche Verzin sung des Kapitals der Vermögenden sicherzustellen, allerdings auf Kosten der Steuerzahler. Ein aktuelles Beispiel ist die marode Ver kehrsinfrastruktur. Da die Politik unbedingt einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren will, möchte sie den Bau von Straßen und Brücken im Rahmen von ÖffentlichPrivaten Partnerschaften (ÖPP) an Unternehmen vergeben. Die finanzierenden Betreiber können über 30 Jahre vom Staat oder von Privatleuten Nutzungsgebühren erheben. Der Bundesrechnungshof hat sieben, bereits realisierte ÖPP Projekte geprüft und kommt zu einem vernichtenden Urteil: für den <?page no="206"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 205 Mit der Kommerzialisierung der Muße tut sich ein neuer Markt auf Staat bzw. die privaten Nutzer unwirtschaftlich, mit erheblichen Mehrkosten verbunden, Finger davon lassen! Den privaten Sektor dazwischen zu schalten ist eindeutig kostspieliger. Es ist sinnvoller, wenn der Staat mehr Schulden macht als fragwürdige Finanzge schäfte einzugehen, so Mark Schieritz in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Dieses Thema wird hier auch deshalb erwähnt, weil die aktu elle Regierung entsprechende ÖPPProjekte im großen Stil plant, um auf eigene Investitionen bei der Verkehrsinfrastruktur verzichten zu können. So kann man die „schwarze Null“ im Haushalt einhalten. ÖPPProjekte werden im Folgenden nicht unser Thema sein. Wir werden uns exemplarisch mit dem bislang wenig beachteten kom merziellen Event und Erlebnisbereich beschäftigen, der positive Effekte für den Arbeitsmarkt und zugleich Unterhaltung und Ab lenkung verspricht. Er kann Hinweise geben, ob hier ein Auffang becken für die durch die Digitalisierung ausgedünnten Arbeitsplät ze der Mittelschicht entstehen kann. Zugleich hat dieser Bereich das Potenzial, unbemerkt deutliche kulturelle Veränderungen anzusto ßen. In Zeiten ökonomischer Beschleunigung entwickeln viele Men schen ein Bedürfnis nach Entschleunigung in der Freizeit. Die ErlebnisÖkonomie erschließt sich erst, wenn einzelne bruchstück hafte Meldungen zusammengefügt werden, die das dahinterstehende Mo saik erkennen lassen. Da heißt es z.B. in einem Beitrag von Miriam Opresnik im Hamburger Abendblatt: „Kindergeburtstage werden zum Event. Ob Tonstudios, Museen oder Kletterhallen: das Ange bot an extravaganten Feiern wächst. Das Geschäft ist einträglich.“ Im Tonstudio Singpoint „können die Gäste eine CD aufnehmen, sich für das Cover fotografieren sowie Autogrammkarten und Star poster von sich erstellen lassen. Der Hype um Castingsshows wie ‚Deutschland sucht den Superstar‘ hat bei uns zu einer großen Nachfrage geführt. Wir haben schon länger mit Kindergärten zu sammengearbeitet und dort CDs aufgenommen“. Hinter dieser Meldung wird exemplarisch ein Trend zur Öko nomisierung der Lebenswelt durch Schaffung kommerzieller Erleb <?page no="207"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 206 nisse und FreizeitEvents sichtbar. Sie ernähren mittlerweile ganze Industrien und Dienstleistungsbranchen. Beispiele lassen sich in großer Zahl aneinanderreihen: Bundesligafußball, Olympische Spie le, FußballWM und -EM, von denen private und gebührenpflichti ge TVSender, Sportschuh und Trikothersteller, Merchandising Agenturen, PublicViewingVeranstalter etc. gut leben können; StädteMarathons, von denen u.a. Laufschuhersteller, EventAgen turen und viele kurzfristig Beschäftigte profitieren; Freizeit und Vergnügungsparks, Musicals, Red BullSpektakel mit einem Heer von Managern, Künstlern und Arbeitern; Kreuzfahrten und Wo chenendStädtereisen; Frühlings, Sommer, Herbst, Winter und Weihnachtsmärkte sind ein gutes Geschäft für die Fleisch und Süßwarenindustrie und für viele kleine Markthändler. In Deutschland haben 33 Mio. Menschen im Jahre 2013 eine Live Veranstaltung von Rock, Musical, Klassik, Volksmusik, Theater oder Shows besucht. Die Konzertveranstalter steigerten ihren Um satz um 15 Prozent. Im Durchschnitt wurde für ein Ticket 31,70 Eu ro bezahlt. Konzertbesucher setzten 120,6 Mio. Tickets mit einem Wert von 3,82 Mrd. Euro um. Hier kompensiert die Musikindustrie ihre Verluste aus dem Verkauf von CDs etc. Viele Bürger der Stadt Hamburg fühlen sich allerdings zuneh mend von den in den Sommermonaten abgehaltenen Outdoor Events belastet und belästigt. Der Zukunftsrat Hamburg hat die Belastungen mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Positiv und Negativkriterien bewertet. Positiv wurden die Steigerung der Übernachtungs und Gastronomieumsätze, die Innovationsförde rung sowie die Förderung von Bildung und Kultur gesehen. Nega tiv bewertet wurden u.a. der Verbrauch fossiler Ressourcen, Emis sion von Klimagasen, erhöhte Luftverschmutzung oder die Beein trächtigung der lokalen Wirtschaft. In der Gesamtbewertung über zeugen konnten eigentlich nur Laufveranstaltungen wie Marathon, Triathlon und der Alsterlauf. Bei der Steigerung der Übernach tungs und Gastronomieumsätze lagen die Harley Days und der Hafengeburtstag an der Spitze, die zugleich beim Verbrauch fossiler Ressourcen, der Emission von Klimagasen und bei der Luftver schmutzung die negativen Spitzenwerte erzielten. <?page no="208"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 207 All diese Events generieren Jobs, schaffen oder erweitern Pro dukt und Dienstleistungsmärkte und füllen Restaurants und Ho tels vor allem in den Metropolen. Zwei Beispiele aus dem Bereich Sportevent: Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) schätzt, dass der Bundesligaverein HSV neben seinen eigenen etwa 250 Beschäftigten weitere 700 Arbeitsplätze durch die Zuschauer in der Region über Hotelübernachtungen, Verzehr etc. generiert. An jedem Wochenende finden in der FußballBundesliga große Unterhaltung und Abwechslung für Millionen statt. Dazu die Be wertung eines Insiders, des Vorstandsvorsitzenden des Bundesliga vereins Eintracht Frankfurt, Heribert Bruchhagen. Ihn mache es traurig, wenn er an seinen früheren Dorfverein denke, wo sich heu te bei Spielen statt eintausend nur noch fünfzig Zuschauer verirren: „Das <Wir>Gefühl geht im Berufs wie im Privatleben verloren, ebenso wie die Vereinskultur zurückgeht. Dieses Gefühl vermitteln nun Massenevents. Das <Thinkbig>Gefühl erleben die Leute dort. Das ist eine Sehnsucht, die einen wegtreibt von der Entfremdung am Arbeitsplatz, im sozialen Umfeld und in der Familie“ 18 . FußballBundesliga und Events sind nur die erkennbare Spitze der Vergnügungsindustrie. Sie sind die Lokomotiven, die viele prall gefüllte Waggons, beladen mit Produkten und Dienstleistungen hinter sich herziehen und so Arbeitsplätze generieren - wenn auch nicht immer in Europa. Es wäre deshalb zu kurz gegriffen, allein auf die unmittelbare Arbeitsmarktbilanz der Events zu schauen. Ganze Branchen mit ihren Arbeitsplätzen sind mittlerweile davon abhän gig. So machen Fernsehhersteller und Sportschuhindustrie unmit telbar vor der Austragung der FußballWelt oder Europameister schaften und Olympischen Spielen die größten Umsätze. Ohne die se Konjunkturspritzen fielen wahrscheinlich ganze Branchen ins Koma. Über das Event und Städtemarketing gibt es kaum konsolidierte Daten, obwohl dieser explodierende Bereich erfolgreich dafür sorgt, Jobs in großer Zahl zu generieren. Sein Geschäftsmodell besteht darin, immer wieder neue kommerzielle „Erlebnisse“ zu erzeugen, <?page no="209"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 208 die Kapitalinvestoren und Touristen anziehen und so jedenfalls vorübergehende Jobs schaffen. Die entstehenden Jobs in der „ErlebnisÖkonomie“ haben die Aufgabe, die aktuellen Events zu planen und abzuwickeln. Ob diese Entwicklung zur modernen „EventKultur“ mit dem Aufbau von Beschäftigung für die Mittelschicht oder aber mit billigen Malocher Jobs verbunden sein wird, ist für die Stabilität der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Zu vermuten ist, dass hier viele prekäre und FreelancerArbeitsverhältnisse entstehen. In Hamburg gehört die „BergmannGruppe“ zu den großen Eventagenturen, die von Stadt teilfesten bis zu Massenspektakeln wie Harley Days und Cruise Days viele Events organisiert, bei einem Umsatz zwischen 8 und 10 Mio. Euro pro Jahr. Die Gruppe beschäftigt dreißig Angestellte und bis zu 240 Aushilfen. Der Trend zur Eventgesellschaft mit offensichtlich lohnenden In vestments und vermutlich überwiegend kurzfristigen Beschäfti gungsverhältnissen ist aber nur ein Teil der ErlebnisÖkonomie. Für die Beschäftigung noch relevanter ist der „digitale Vergnügungs park namens Content“, wie Morozow ihn nennt. An ihn docken wir über Smartphones oder Tablets stündlich an. Er beansprucht mitt lerweile unsere Aufmerksamkeit rund um die Uhr. So nutzen welt weit 1,23 Mrd. Menschen Facebook, 61,5 Prozent davon täglich. Mit Michael Endes Momo lässt sich von Zeitdieben sprechen. Für viele Nutzer gilt: Während es früher langweilig wurde, ist heute Kom munikation in einem sozialen Netzwerk oder der Zugriff auf Apps angesagt. Natürlich stehen über Apps heute auch eine Vielzahl von sinn vollen, schnell informierenden Angeboten bereit, die Zeit einsparen: Von exakten Wettermeldungen über Fahrplanänderungen und Staumeldungen bis zu Radarkontrollanzeigen. Über die Online Angebote großer Zeitungshäuser kann man sich stundenaktuell und kostenlos über Veränderungen im Weltgeschehen informieren. All das ist nicht unbedingt dem digitalen Vergnügungspark zuzu rechnen, fällt vielleicht eher in die Kategorie Muße oder Wissens erwerb. <?page no="210"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 209 Wie steht es generell mit der Jobgenerierung in der digitalen ErlebnisÖkonomie? Die Gamebranche hingegen gehört mit ihren zahlreichen Jobs für Automatisierungsund Internetexperten eher zum „digitalen Ver gnügungspark“. Für informatikferne Tätigkeiten wird es in diesem Geschäftsfeld wenig Arbeit geben. Laut Branchenverband BIU wurden 2013 in Deutschland immerhin 1,82 Mio. Euro für Online Spiele ausgegeben, wobei viele zumindest zu Beginn sogar noch kostenlos si nd. Mehr als die Hälfte der Spieler sind älter als 30 Jahre. Die Hardware für den di gitalen Vergnügungspark, also Smartphones, Tablets, Server, Netzwerke etc. wird zum überwiegenden Teil in Billiglohn ländern hergestellt, wird also für Europa nur in den Bereichen Ver trieb und Kundenbetreuung arbeitsmarktrelevant. Die großen „Zeitdiebe“, die Morozow mi t sein er ContentMetapher anspricht, wie Google, Facebook, Yahoo, sitzen in den USA und schaffen in unseren Breiten nur begrenzt Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Dann ist da noch die Gruppe der Startups und SoloSelbst ständigen, die u.a. die heute über Apps möglich gewordenen Ange bote entwerfen, etablieren und abwickeln. Na türlich sind nicht alle der ErlebnisÖkonomie oder der AppEntwicklung zuzurechnen. Die StartupHochburgen sind Berlin mit 545 Startups, München (163), Hamburg (149) und Köln (94). Ihr Beitrag zur Arbeitsmarktbi lanz kann nur von Fall zu Fall beurteilt werden. Ein Beispiel, das verdeutlicht, wie schwierig eine JobBilanz zu er stellen ist: Der Ticketverkauf ist für die ErlebnisÖkonomie ein wichtiger Bestandteil. Beim Übergang des traditionellen Verkaufs vor Ort auf digitale Ticketshops lassen sich, nach Abschluss der Softwareentwicklungsphase, zwei Effekte erkennen: Rationalisie rung vieler, oft dezentral verteilter Arbeitsplätze vor Ort, bei gleich zeitiger Schaffung eher zentraler, meist Callcenterähnlicher Ar be itsp latzstrukturen. Per Saldo also wahrscheinlich eine negative Arbeitsmarktbilanz. Apps haben in vielen Fällen zwei Seiten: Die Schaffung neuer wie die Rationalisierung alter Arbeitsplätze. Am Ende fällt es schwer einzuschätzen, ob die ErlebnisÖko nomie das Potenzial für lohnende Investments hat? Reichen sie aus, <?page no="211"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 210 Er sieht die westliche Welt auf dem Trip in die totale PartyKultur. um genügend auch dauerhafte und für die bürgerliche Mittelschicht attraktive Arbeitsplätze zu schaffen? Ihr möglicher Beitrag ist bis lang kaum zu Kenntnis genommen worden. Die Lokomotive der kommerziellen Eventisierung dürfte schon in der Vergangenheit zahlreiche befristete Arbeitsplätze beigesteuert haben. Es fällt auch nicht leicht, die „digitale Vergnügungsökonomie mit Content“ von der Möglichkeit schnellen Wissenszugewinn im Netz zu trennen, z.B. indem man sich über Googles Suchmaschine schnell kundig macht. Die sozialen Netzwerke haben große Eingangstüren, die überall lauernden Zeitdiebe schlüpfen dort gern und häufig durch. Ist in dieser Entwicklung die digitale Form von „Brot und Spiele“ zu sehen? Gehen die Forderungen nach aufregenden Spielen heute wie im alten Rom vielleicht eher von den Vielen als von den Weni gen aus? Wahrscheinlich ist, dass sich mit der Eventisierung und der kommerziellen ErlebnisÖkonomie unsere Kultur schleichend verändert. Ob Hochkultur und Muße dabei unter die Räder kom men, wird jeder aufgrund seiner Interessen, seiner Ausbildung und seines Wertesystems individuell beantworten. Der italienische Philosoph Frances co Masi hat da eine eindeutige Meinung. Was er exemplarisch für die Berliner Szene beschreibt, lässt sich unschwer auf die Eventisie rung und ErlebnisÖkonomie übertragen. Berlin sieht er als Tag und NachtTraum der vereinigten PartyPeople aller Länder, mit der Konsequenz der total entpolitisierten, befriedeten Gesellschaft. Statt Debatten gibt es nur noch News, Bilder, Ereignisse und Events. Die Stadt ist für Masi zu einem Vorposten der kulturellen Welt eroberung geworden, wo nur noch Trends, Moden und Stilfragen im Vordergrund stehen. Was zählt, ist der „zyklisch sich wiederho lende Zeitrhythmus von Erwartung und Eintritt des Ereignisses“ 19 . Schließlich: Was ist eigentlich gegen „Brot & Spiele“ einzuwen den, die durch die digitale Transformation Auftrieb erhalten wer den? Es gibt doch viele, die davon angesprochen werden, und zu gleich werden Arbeitsplätze geschaffen? Mit Kant wäre zu sagen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst <?page no="212"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 211 Die meisten werden mit einer „Bulimie Didaktik“, in großer Ferne zu Kants Idealen, durchs Studium geschleust, ohne Orientierungs und Bildungsangebote. verschuldeten Unmündigkeit“ oder „Sapere aude - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ Sofern man nicht gleich Kant bemühen will, so könnte man auch eine Beziehung zum bedingungslosen Grundeinkommen herstellen. Beim Grundeinkommen bleibt es jedem Empfänger überlassen, sei ne Zeit in eigner Regie zu nutzen. Die kommerzielle Verwertung der Zeit steht dabei nicht im Vordergrund. Die EventÖkonomie kommerzialisiert dagegen Zeit zum Zweck der Profi tgenerierung und der Schaffung überwiegend schlecht bezahlter Jobs. Sie können wiederum als Auffangbecken für Hartz IVEmpfänger dienen. Welche Position man dazu auch einnimmt, das heutige Hochschulangebot scheint hier kaum für die angesprochene Aufklärung zu sorgen. Vor allem in technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen wurde das Bachelorstudium so ausgerichtet, dass die Ehrgeizigen zw ar ein Fachstudium erhalten, dies allerdings ohne Orientie rungswissen über die Zusammenhänge der digitalen Transformati on. Mit dem Ziel der ökonomischen Verwertbarkeit und im Kon sum die Erfüllung des Lebens zu sehen, die die Muße eher verlernen lässt. „Lauter BWLer, die das Leben dem Überleben opfern. Lauter Vermeider des Wagnisses, sie sel bst zu werden“, so der Journalist Reinhard Kahl. Ist es den Absolventen in dieser Verwertungskette vorzuwerfen, dass sie keine, über „Brot & Spiele“ hinausgehende Ansprüche stellen? Der ein oder andere wird jetzt vielleicht auch an Keynes Traum von 1929 denken. Er träumte davon, dass der technische Fortschritt mit seinen Pr oduktivitätszuwächsen in spätestens zwei Generatio nen eine FünfzehnStundenWoche möglich machen würde. Er glaubte daran, dass sich die Menschen in den Industrieländern bei der Wahl zwischen Gewinn und Einkommensverbesserungen oder Arbeitszeitverkürzungen für mehr Lebenszeit entscheiden würden. Dann könne die Menschheit aus dem Tunnel der Notwendigkeit heraustreten und überlegen, wie sie ihre Muße au sfüllen will. <?page no="213"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 212 Tatsächlich arbeiten die Menschen heute mehr als je zuvor. Möglicherweise kompensieren sie den dabei aufgebauten Stress durch die fantasiereichen Angebote der Zeit diebe. In dem seit Jahrhunderten weltweit akzeptierten ökonomischen System will das Kapital sich durch Investitionen und die dadurch entstehende Konsumnachfrage vermehren. Simple Sätze, wie „sozi al ist, was Arbeit schafft“ sind durch ständige Wiederholung zu einem Glaubensbekenntnis geworden, sie prägen unser Denken und Verhalten. Welzers einfache Wahrheit, Konsumverzicht bedeu tet mehr Zeitgewinn und weniger Stress, ist in einer Ökonomie, die von Werbung, Design, Marketingkampagnen und schneller Überal terung von Produkten geprägt ist, nicht en vogue. Arbeit gibt sehr vielen Menschen eine Tagesstruktur und ermöglicht Selbstverwirk lichung, die sie in der Freizeit bislang aufgrund fehlender Muße nicht ausbilden konnten. Die Spaltung in der Einkommens und Vermögensverteilung schafft bei den vielen Habenichtsen und den abrutschenden bürgerlichen Mittelschichten permanent Konsum Nachholbedarf. Die Bessergestellten haben ihn bereits realisiert und werden so zu ihren Leitbildern des Konsums. Der Zeitgewinn durch Produktivitätsverbesserungen zieht im geltenden ökonomi schen System zwangsläufig Konsum nach sich. Der „Sachzwang“ ist, wir arbeiten, damit die Arbeit weitergehen kann. Die Digitalisierung mit Big Data wird diese Situation noch ver schärfen. Bei bereits hohem Konsumsättigungsniveau muss sicher gestellt werden, dass die Beschäftigten länger und härter arbeiten wollen, um ihren Konsum weiter zu steigern. Das wird nur gehen, wenn die Wünsche des Einzelnen zu jeder Zeit identifiziert werden können: Dieses Geschäft übernimmt Big Data für jeden einzelnen Kunden bzw. Beschäftigten. Nur, wer mehr arbeitet, hat weniger Zeit zu shoppen und Geld auszugeben. Dieser Widerspruch ist dank Amazon & Co. aufgehoben. So fügt sich eines zum anderen: Rund um die Uhr zu arbeiten und das „Kaufen! Kaufen! Kaufen! “ dank Amazons 24 Stunden geöffneter Türen nicht zu vernachlässi gen, so der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck. <?page no="214"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 213 Wird das bedingungslose Grundeinkommen diese Logik durch brechen können? Es hätte den Charme, dass die Lücke, die durch Produktivitätsverbesserungen entsteht, nicht mehr zwangsläufig durch Beschäftigung in der ErlebnisÖkonomie ausgefüllt werden müsste. Menschen mit Grundeinkommen werden schon aus finan ziellen Gründen nicht an der ErlebnisÖkonomie teilnehmen kön nen, sie müssen sich mit „Muße begnügen“. Muße ist der Gegenpol zur permanenten Effizienzsteigerung. Muße zu „eventisieren“ liegt in der Logik der Penthausbewohner, auch wenn sie dabei überse hen, dass sie die Statik des Hauses weiter destabilisieren. Aber das Haus wird nicht zusammenfallen, denn die im Untergeschoss Wohnenden sind weiterhin mit stützenden Arbeiten beschäftigt. Wie lässt sich die Notwendigkeit der digitalen Transformation verankern? Damit die digitale Transformation umfassend vorankommt, müssen Rechtfertigungsgründe tief und breit verankert werden. Für die ehr geizige junge Elite und Avantgarde braucht es positive Merkmale der Stärke, die eine positive Orientierung bieten, auch damit sich viele anschließen und als Mitpaddler ins Boot kommen. Die neuen Leitbilder sind: die Fähigkeit, Netzwerke zu etablieren, sich in un durchschaubaren Organisationsstrukturen zurechtzufinden, Ehr geiz zur Innovationsentwicklung, Bereitschaft zu ständigem Wan del und Mobilität sowie die Lust, Startups zu gründen oder als SoloSelbständige tätig zu werden. Gelingt es nicht, diese Merkmale beim Nachwuchs zu verankern, so droht das gesamte Boot der Ökonomie im Meer der globalen Konkurrenz unterzugehen. Sind diese Leitbilder und Rechtfertigungen erst einmal implan tiert, so werden sie zu Normen, die für angemessenes Handeln und die neue Gerechtigkeit stehen. Dann wird der idealtypische Bürger Freiheit und Autonomie der Sicherheit vorziehen. Sicherheit defi niert sich entsprechend durch die Mobilen und Anpassungsfähigen. Noch einmal Boltanski/ Chiapello: „Er ist ein Nomade. Die Forde rung nach Leichtigkeit setzt das Ablehnen von Stabilität, Verwurze <?page no="215"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 214 „Wenn das Internet überall ist, dann ist Politik nirgendwo mehr“ 23 lung, Bindung an Personen und Dinge voraus. Er ist auch leicht, ‚leger‘ in dem Sinne, dass er sich vom Gewicht seiner eigenen Lei denschaften und Werte befreit hat. Er hat keine ‚Werte‘, an die er für immer gebunden wäre, es sei denn die Toleranz aller Werte“ 20 . Mit diesem RechtfertigungsÜberbau sind die Wertschöpfungspotentia le des modernen, unpolitischen Bürgers auszuschöpfen. Schwieriger wird es, überzeugende Rechtfertigungsgründe zu for mulieren angesichts der mit Digitalisierung verbundenen Abschaf fung der Privatsphäre durch privatwirtschaftliche Überwachung, radikalisierte Geheimdienste und aggressive Internetgiganten und Werbekonzerne, die die Handlungsfreiheit des Einzelnen massiv einschränken, ohne dass er sich wehren kann. Vielleicht ist es aber auch müßig, sich um die Akzeptanz zu be mühen. So befürchtet Evgeny Morozow etwa, dass mit dem anste henden „Internet der Dinge“, Big Data und digitalen Vergnügungs parks ein politischer Reinigungsprozess kommen wird. Politische Themen und Bereiche, über die wir heute noch streiten können, sind dann in „Mikroelektronik gegossen“ und werden so in nicht mehr diskutierbare verwandelt. Zeitraubende Diskussionen über alternative Ziele wirken dann anachronistisch, da wir doch ausge feilte Algorithmen haben, um aus den gesammelten Datenmassen die optimalen Strategien auswählen zu können. Morozow sieht in diesem naiven Glauben und der Abgabe von politischen Entschei dungen an Technokraten die allmähliche Erosion des demokrati schen Systems. Der einzige Grund für eine Regulierung der vernetz ten Welt, der dann noch übrigbleibt, ist, Innovationen der Marke Silicon Valley abzusegnen: 21 Wie will man rechtfertigen, dass das Optimum der ökonomischen Stabili tät in einem globalen virtuellen Ge fängnis erreicht wird, in dem Morozows dunkle Visionen und Benthams Gefängnis weltweit in alle Poren der Demokratie ein dringen? Und in der Foucaults Vermutung Wirklichkeit werden könnte: Wer permanent durchleuchtet werden kann und davon <?page no="216"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 215 Eine sehr generelle Orientierung ist der Zugewinn an Freiheit und Handlungsmöglichkeiten, die mit der digitalen Transformation verbunden sein sollten. weiß, unterwirft sich dieser Fremdherrschaft, passt sein Verhalten an und wird Teil des Systems. Es ist keineswegs sicher, dass die Rechtfertigungslogik der digita len Transformation unkompliziert hergestellt werden kann. Sie kann zwar damit punkten, dass die neue Welt hochproduktiv ist und ein hohes Maß an Bequemlichkeit, Komfort, Unterhaltung und Vergnügen bereitstellt, sie also auch „Brot und Spiele“ versprechen kann. Auch die Drohung, dass bei Ablehnung des Pf ades das ganze Boot leckschlägt, mag Eindruck hinterlassen. Sie kann mit den Er folgreichen und Qualifizierten argumentieren, für die es Sinn ge bende, gut bezahlte Arbeit gibt. Für viele andere bleibt allerdings ein Abrutschen aus der Mittelschicht mit kaum zu rechtfertigenden, unsicheren Abruf und Aufstockertätigkeiten und tayloristische Rest arbeiten übrig. Orientierungspunkte zwischen Pessimismus und Optimismus Was sind die Optionen, was wäre der wünschenswerte Lauf der Dinge? Was könnten Orientierungspunkte für einen wünschenswer ten Verlauf der digitalen Transformation und ihrer Umsetzung sein? Ganz oben auf der Agenda sollte die Ab wehr der Sammelwut stehen, die zu einer geheimen digitalen Parallelwelt im Interesse der Geheimdienste sowie der Unternehmen geg enüber ihren Beschäftigten und Kun den führt. Ein wünschenswerter Lauf der Dinge garantiert die Rech te auf Privatheit und Datensicherheit sowie die Unversehrtheit der freien und geheimen Kommunikation in sicheren Netzen. Die gewählten Regierungen unternehmen Maßnahmen, um die Marktmacht von Finanzkapital wie von Internetkonzernen einzu hegen. In den Fokus rückt der Kampf ge gen die Spaltung der Ge sellschaft in wenige Vermögende und die vielen Habenichtse, die mit der Entwicklung der digitalen Transformation ohne Regulie rung kontinuierlich zunimmt. Die Politik unternimmt Anstrengun <?page no="217"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 216 gen, damit ein auskömmliches Leben durch Arbeit oder alternativ, z.B. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen möglich wird. Ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz regelt, dass Unternehmensge winne nicht länger Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht rechtferti gen. Die Startups und SoloSelbständigen erhalten eine soziale Ab sicherung und verabschiedeten sich von ihren Illusionen, als Ein zelkämpfer die Welt verändern und so ein zweites Silicon Valley aufbauen zu können. Unterstützt werden weiterhin alle Anstrengungen, Technik zu dezentralisieren und zu regionalisieren, die globalen Herrschafts systeme der Internetgiganten einzuhegen und sie zu dezentralisie ren. Schließlich stellt der wünschenswerte Lauf der Dinge Transpa renz her über die „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen des digi talen Ökonomisierungspfades. Leitbild sollte eine sozialökologi sche Marktwirtschaft als Maßstab für die Welthandelsordnung und die Digitalisierung sein. Aber zu berücksichtigen ist auch, worauf der Informatiker Radermacher bereits 2002 hingewiesen hat: Durch setzbar ist sie nur bei hoher Wettbewerbsfähigkeit: denn Spielregeln werden nur durch Sieger verändert. Die pessimistische Position hält die Umsetzung dieser Orientie rungspunkte für aussichtslos, da die ökonomischen Strukturen so verfestig sind, dass selbst chaotische Ereignisse wie die globale Fi nanzkrise 2008 mit ihren ruinösen Folgen, der drohende Klima wandel oder Snowdens Offenlegungen keine wesentlichen Pfadkor rekturen nach sich gezogen haben. Auch ein starker weltweiter An stieg der Arbeitslosigkeit durch Automatisierung, wie Brynjolfsson und McAfee sie ankündigen, werde weder die Automatisierungs dividende noch das bedingungslose Grundeinkommen auf die Agenda setzen. Die Diskussion um den wünschenswerten Lauf der Dinge wird demnach eine rein akademische, ohne „Nebenfolgen“ bleiben. Die optimistische Position steht zwischen ÄrmelHockrempeln und Partisanenkampf. Sie versucht Mitstreiter zu finden, um im Kleinen und Lokalen Ideen und Dinge auszuprobieren, auch mit der Möglichkeit zu scheitern. Dazu zählen diejenigen, die sich aus <?page no="218"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 217 Es sind merkwürdige Koalitionen, die sich da auftun. ökologischen oder sozialen Gründen aus dem Karrierelauf des Ökonomisierungspfades verabschiedet haben und von Rechtferti gungsdiskursen nicht mehr tangiert werden. Sie wollen ihre Vor stellung von Leben und Arbeit, zumeist auf finanziell schmaler Ba sis, realisieren. Es sind des Weiteren technische Tüftler, die in ihre Ideen vernarrt sind und sie zu einem Erfolg bringen möchten, ohne dabei primär ökonomische Ziele im Blick zu haben. Zu der optimis tischen Position zählen auch viele StartupGründer, Kreative und SoloSelbständige, die im Verständnis der Kulturkritik frei schaffen und eine Idee zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einem kreativen Kulturangebot umsetzen wollen. Und es sind oft die als Sozialromantiker Verspotteten, die politische Konzepte, wie das bedingungslose Grundeinkommen oder die Fabrik in der Stadt in die Diskussion bringen und geschickt und mutig wie Partisanen und mit langem Atem Einfallstore suchen, um diese zunächst im Klei nen als Referenzmodelle umzusetzen. Entwicklungen und Konflikte verlaufen interessanterweise exakt zwischen den Wenigen, die den digitalen Ökonomisierungspfad unangetastet sehen wollen, gemeinsam mit den Pessimisten, die keine Abweichungen für möglich halten einerseits und den Opti misten andererseits. Grotesker ist, dass die Verfechter des unantast baren Ökonomisierungspfades die Ideen, die Kreativität und die Un angepasstheit der Optimisten brau chen und nutzen. Nationale und europäische Reaktionen Die nationale wie die europäische Politik ist von vielen Entschei dungen der kalifornischen Internetkonzerne überrollt worden. Zum einen träumen Politiker davon, Silicon Valley für ihre Staaten kopie ren zu können. Zum anderen denken sie darüber nach, wie sie die Folgen durch Regulierungen sozial und ökonomisch beherrschbar machen können. Der ZEITJournalist Heinrich Wefing sieht die Ge schichte illusionslos: die Innovationszyklen im Silicon Valley be <?page no="219"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 218 messen sich nach Monaten, die in Berlin und Brüssel nach Jahren, wenn nicht nach Jahrzehnten. Der Vorsprung der „Sachzwänge“ wächst exponentiell. Längst schaffen Ingenieure und Softwareent wickler und nicht die Politiker Fakten: „Es braucht mehr Expertise, es braucht mehr Experten, die für die Demokratie arbeiten, nicht für die großen Konzerne oder die Geheimdienste. Die Parlamente müs sen auch in der digitalen Welt steuerungsfähig bleiben.“ 22 Es rächt sich jetzt auch, dass die Technikwissenschaften in Lehre und Forschung nicht den Blick auf gesellschaftliche „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen in ihrem Repertoire haben. Diese gesell schaftlich relevante „Wertschöpfungskette“, ein für die Technikdis ziplinen bislang unentdecktes Fabelwesen, funktioniert offensicht lich nicht. Die Folge ist, dass frühzeitige Signale an Politik oder Me dien unterbleiben. Da nützt auch der Ruf nach immer mehr Infor matikern mit Tunnelblick wenig. Das heißt allerdings nicht, dass die nationale wie die europäische Politik den Weckruf nicht empfangen hat. Die ehemalige niederlän dische EUKommissarin Neelie Kroes spricht von einem beispiello sen technologischsozialen Epochenwandel, in dem alles auf dem Spiel stehe. Sie möchte einen offenen, vernetzten digitalen europäi schen Kontinent schaffen, um das europäische Modell der sozialen Sicherheit zu erhalten. Sie verweist auf das weltweit größte For schungsprogramm, mit dem von der Hirnforschung bis zur Ent wicklung von Materialien, die Weltmarktführerschaft in zahlreichen Bereichen wie Mobilfunk und Chipproduktion bis 2020 erreicht werden soll. Die Konzentration auf Datenschutz und Datensicher heit und daraus resultierenden Sicherheitsprodukten soll der EU einen globalen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Hier ist unüberhör bar, die Datensammelwut einzuschränken, Privatheit und Datensi cherheit zu schützen sowie die Unversehrtheit der freien und ge heimen Kommunikation herstellen zu wollen. Die EURealität hinsichtlich Datenschutz sieht allerdings anders aus: Die im Januar 2012 von der Europäischen Kommission vorge stellte DatenschutzGrundverordnung ist bis heute nicht in trocke nen Tüchern. Parlament und Kommission sind sich zwar einig, je <?page no="220"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 219 Die EU kann beim Datenschutz durchaus von Schwellenländern lernen, was ein Blick nach Brasilien zeigt. doch blockieren im Rat der EU die deutschen Vertreter die Verab schiedung unter Flankenschutz der ITLobby. Nach Verabschie dung dürfen personenbezogene Daten nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung des Einzelnen erhoben und verarbeitet werden. Die Grundverordnung soll auch für ausländische Firmen, die ihre Dienstleistungen auf dem europäischen Markt anbieten, gelten. Verstöße können da nn mit bis zu fünf Prozent des Umsatzes ge ahndet werden. Eine offene, Datenschutzregulierte Region wäre die Grundvo raussetzung für die Akzeptanz der digitalen Transformation in der Bevölkerung und hierdurch auch ein Wettbewerbsvorteil gegen über den USA. Dort ist die Verarbeitung personenbezogener Daten grundsätzlich erlaubt, es sei denn, sie ist au sdrücklich verboten. Man mag darüber spekulieren, ob dieser fundamentale Unterschied beim Datenschutz auch zum Aufstieg der kalifonischen Spinnen netze beigetragen hat. Dringend notwendig ist die Herstellung der Gleichbehand lung: Deutsche Anbieter dürfen beispielsweise SMSVerbindungs daten, anders als Facebook mit dem WhatsAppMessenger, nur be fristet speichern. Facebook erhält den Vorte il, eine riesige Daten sammlung für neue Geschäftsmodelle aufbauen zu können. Und was könnte wichtiger sein, als dass der Internetnutzer die Autono mie über seine Daten, die sein Leben abbilden, zurückerhält und in Zukunft darüber entscheiden kann, was mit seinen Daten passiert? Es geht aber nicht nur um Datenhoheit und Respektierung der Pr ivatsphäre jedes Einzelnen. Heute nutzen die kalifornischen In ternetkonzerne ihren über die Jahre angesammelten Datenschatz, um Wettbewerber kaputt zu machen bzw. gar nicht erst aufkom men zu lassen. Das funktioniert am Beispiel von Google so: Über die Suchmaschine werden für Google viele kommerzielle Aktivitä ten wie das Verhalten der Konsumente n transparent. So lassen sich erfolgreiche Geschäftsmodelle Dritter identifizieren und konkurrie rende Modelle etablieren. Wen wundert es da, wenn der Wett <?page no="221"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 220 Ein wenig Entamerikanisierung wäre auch für europäische Köpfe gut, wenn es um den Mythos Silicon Valley geht. bewerber dann in der Suchmaschine im Orkus der Unendlichkeit verschwindet und virtuell quasi aufhört zu existieren? Das ist Goog les ökonomisches Perpetuum mobile, eine geniale und teuflische Infrastruktur zugleich, mit der die ökonomische Weltherrschaft möglich wird. Auch Amazon und Facebook besitzen einen Teil die ser Möglichkeiten. Die EU ist dringend gefordert, da einzugr eifen. Sie müsste dem Nutzer das sogenannte OptOutRecht geben, d.h. er kann den In ternetkonzernen verbieten, seine Daten zu sammeln und auszuwer ten. Ein europäisches Datenschutzrecht kann damit nicht nur die Daten des Bürgers schützen, sondern es wird zur schärfsten Waffe gegen die ökonomische Weltherrschaft der Internetkonzerne. Es wäre vermut lich das Ende des Geschäftsmodells von Google & Co. in Europa. Hoffentlich bricht darüber nicht das atlantische Bündnis zusammen. Oder ernsthafter: Eine europäische Datenschutzgesetz gebung sollte im geheimnisumwitterten TTIFFFreihandelsabkom men enthalten sein. Ende 2014 hat die deutsche gemeinsam mit der französischen Regierung der EU einen Regulierungsrahmen vorgelegt. Darin ste hen immerhin Sä tz e wie: alle Anbieter sollen „einen transparenten und nicht diskriminierenden Zugang zu den wichtigen Plattformen erhalten“. Des Weiteren sollen „ungerechtfertigte Gewinnmitnah men“ von Vermittlungsplattformen der Kontrolle unterzogen wer den. Sind damit HRS und Uber gemeint und was sind angemessene Profite? Die Politiker sind, wie viele andere auch, von Google, Facebook und Co. über all e Maßen fasziniert. Sie unternehmen gro ße Anstrengungen, dieses kontinuierlich gewachsene Innovations mileu durch Forschungsförderung nachzubauen. Doch die Ge schichte von Silicon Valley als Treibhaus für weltweite Innovatio nen ist tatsächlich viel komplexer. Schon in den dreißiger Jahren entstand dort der „Stanford Industrial Park“. Nach erfo lgreichen Pro jekten, u.a. durch William Hewlett und David Packard im Jahre <?page no="222"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 221 1938, begannen die Rüstungsindustrie und das amerikanische Ver teidigungsministerium Forschungszentren im Silicon Valley einzu richten. Ihren Namen erhielt die Region durch die Herstellung von Transistoren auf Basis des Halbleiters Silizium („Silicon“) durch William Shockley und die Firma Lockheed. Um den Nucleus der Universität Standford versammelten sich seit Ende der 60er Jahre nicht nur die amerikanische Rüstungsin dustrie, sondern auch Tüftler und Frickler. Talente aus der ganzen Welt fühlten sich angezogen, wahrscheinlich auch durch die Hip piekultur. Dieses Potential war für Militärs, etablierte ITUnter nehmen und bald auch für Investmentfonds und anlagesuchende Millionäre hoch attraktiv. So konnte ein Schmelztiegel aus Talenten, DollarMilliarden und Internetgiganten entstehen. In vielen Län dern wurde erfolglos versucht, das zu kopieren. Heute residieren dort die Internetkonzerne und bestimmen von diesem Tal aus den Lauf der digitalen Transformation. Sie haben eine große Routine darin entwickelt, jedes innovative Pflänzchen mit ihren Dollar Milliarden in ihren blühenden Garten umzutopfen. Und diese Dol larMilliarden machen das Zehnfache der privaten europäischen Töpfe aus. Richtig ist andererseits auch, dass die Entwicklung der digitalen Transformation nicht an ihr Ende gekommen ist, und neue Felder wie das Internet der Dinge den Industriestaaten, die im Maschinen bau eine weltmarktführende Tradition haben, neue Chancen eröff nen können und nicht zwangsläufig von Silicon Valley ausgehen müssen. Wahrscheinlich wird hier das digitale Wettbewerbsfeld der Zukunft liegen. In Deutschland haben drei Ministerien der Bundesregierung den Entwurf „Digitale Agenda 20142017“ vorgelegt. Er ist voller An kündigungen, was die Regierung für eine erfolgreiche digitale Transformation zu tun gedenkt. Da heißt es z.B. zur digitalen Infra struktur: „Mittels eines effizienten Technologiemix soll deshalb eine flächendeckende Breitbandinfrastruktur entstehen. Die Digitale Agenda sieht dafür die Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Unterstützung des marktgetriebenen Ausbaus und eine hochleis <?page no="223"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 222 Die Kritik am Entwurf „Digitale Agenda 2014-2017“ ist heftig. tungsfähige Netzausstattung auch in ländlichen Gebieten vor“. Zum Thema digitale Wirtschaft und digitales Arbeiten werden alle relevanten Vokabeln innerhalb eines Satzes genannt: Big Data, Smart Data, Smart Services, mobile Internetnutzung, Cloud Compu ting, Social Media, Industrie 4.0. Sie sollen vorangebracht werden, genauso wie die Energiewende, GreenIT und die digitale Trans formation in der Öffentlichen Verwaltung. Die Digitale Agenda berücksichtigt darüberhinaus die Bereiche digitale Integration, Bil dung und Wissenschaft sowie Sicherheit, Schutz und Vertr auen für Gesellschaft und Wirtschaft. Selbstverständlich müssen „die Regeln und Rahmenbedingungen für das globale Netz auch auf europäi scher und internationaler Ebene eingebettet und flankiert werden“. Schließlich wird die Forderung nach Weiterentwicklung des „Völ kerrechts des Netzes“ erhoben. Der Entwurf ist enttäuschend, weil darauf bedacht, alle in den Medien kursierenden digitalen Schlagworte und al le Gruppen, die aufmüpfig werden könnten, sofern sie übersehen werden, zu er wähnen, ohne irgendwelche Verbindlichkeiten einzugehen. Schmal lippig ist der Entwurf beim allgemeinen drahtlosen Internetzugang, dem WLAN. Die Regierung will offensichtlich die anonyme Nut zung des Internets über WLAN verhindern, soweit ihr dies tech nisch überhaupt möglich is t. Das steht mit der in Deutschland gel tenden sog. Störerhaftung in Verbindung. Danach haftet ein priva ter WLANAnbieter, etwa ein Restaurant, wenn sich ein Gast bei spielsweise illegal einen Spielfilm herunterlädt. Für kommerzielle Provider trifft das nicht zu. Die Justiz hat diese Rechtssprechung im November 2014 erneut bestätigt. Der Inform atiker Sandro Gayken von der FU Berlin spricht von einem kras sen Rückschritt, geprägt von Desinte resse, geringen Mitteln und Planlosigkeit. Er kritisiert die fehlende Auseinandersetzung mit den problematisch gewordenen Prämissen des weltweiten Datenaustausches für die Entwicklung der Demo kratie. Der naive Leitgedanke der Digitalen Agenda sei, das Internet bringe zwan gsläufig Freiheit und Demokratie, und Ausspähung <?page no="224"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 223 und Überwachung sei mit ein bisschen Verschlüsselung in den Griff zu bekommen: „Das ist der von Regierung und ITLobbyisten im mer wieder vorgetragene Sermon“. Das gebe den Unternehmen lediglich die Möglichkeit, ihre Umsätze in der Sicherheitstechnik zu steigern. Und die Spinnnetze können in Ruhe ihre Daten weiter sammeln und verwerten. Mit der Aufrechterhaltung des Mythos vom freien, antiautoritären Netz werde die Bevölkerung tatsächlich weiter im Unklaren gelassen 23 . Was die bisherige Zurückhaltung der EU gegenüber den Inter netkonzernen betrifft, ist Shoshana Zuboff noch radikaler in ihrer Kritik. Die EUPolitik weigere sich, aus welchen Gründen auch im mer, die Zukunftsentwürfe von Google & Co. zur Kenntnis zu neh men. Sie würden als schiere Fantasien abgetan. Die Ausspähung und Analyse der privaten Lebens und Verhaltensmuster über Smartphones, Sensoren, Kameraaugen, Drohnen und Haustechnik werde zukünftig von regulierungsfreien Pontons auf den Weltmee ren gesteuert. Die Absicht sei, eine intelligente Infrastruktur zu schaffen, die über alle Objekte und Menschen Auskunft gebe, egal wo sie sich gerade aufhalten. Sie wollen so Einfluss auf Handeln und Verhalten nehmen, mit dem finalen Ziel, ein „Weltinformati onssystem“ zu besitzen. Selbstverständliche Regeln und Normen des sozialen Umgangs würden dann ihre Geltung verlieren. Zuban off nennt das Absolutismus mit göttlicher Perspektive, der über Datenimperialismus daherkomme. Die Herausforderung der EU Politik sei nicht die ohnehin schon vorhandene Herstellung freier Märkte, sondern die Wiederherstellung und Sicherung der Freiheit der Menschen in einer demokratischen Gesellschaft. Startups, Querdenker und Weltverbesserer im Schatten der Spin nennetze Zurück zum wünschenswerten Lauf der Dinge, bei dem die EU Politik eine eindeutigere Rolle übernehmen muss. Denn mit Google, Amazon, Facebook, Apple & Co. sind globale Herrschaftsimperien entstanden, die bisherige Monopole, Oligopole und klassische <?page no="225"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 224 Querdenker und Weltverbesserer haben oft etwas von Partisanen. ManagementInformationssysteme (MIS) der „alten“ Ökonomie fast niedlich aussehen lassen. Innovationen und spannende Auseinandersetzungen über den zukünftigen Pfad der Technikentwicklung und nutzung sind auch von den „Autonomen“, den Startups, den InternetQuerdenkern und Weltverbesserern zu erwarten. Dieselben Techniken, die Mo nopole haben entstehen lassen, machen auch die Dezentralisierung von Herrschaft mögl ich. Die manufakturähnliche Rückführung der Arbeit und Produktion in Gemeinschaften, Genossenschaften und Kommunen wird denkbar. Hier vor allem sehen die Querdenker und Weltverbesserer ihr Betätigungsfeld. Konkrete Aktivitäten ha ben wir in den vorhergehenden Abschnitten beschrieben. Sie sind sich ihrer Außenseiterrol le bewusst und versuchen gerade deshalb durch trickreiche Inter netstrategien Wirkung zu er zielen. Sie haben oft ein politisches An liegen, z.B. finden sie sich nicht damit ab, dass das Vermögen schneller wächst als die Einkünfte aus Arbeit, wie Thomas Piketty das in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert beschrieben hat. Viele verlieren auch nicht die Interessen der Habenichtse, der Leih arbeiter und tayloristischen Restarbeiter z.B. in Callcentern, als Pa ketfahrer und in Logistiklagern sowie der Arbeitslosen aus dem Blick. Selbstverständlich ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Querdenker und Weltverbesserer nicht in Stein gemeißelt. So man che wechseln schon aus f inanzieller Notwendigkeit die Seiten zu den kommerziellen Startups. Die Akteure in kommerziellen Startups sind pragmatischer und mehr auf sich bedacht, aber auch nicht über einen Kamm zu sche ren. Die einen hoffen auf potente Investoren, die anderen wollen mit ihrer Idee lieber unabhängig bleiben. In jedem Fall ist di e Bin dung an einen Investor mit dem Verlust der Unabhängigkeit ver bunden. Der Investor ist in der Regel kein Weltverbesserer, er will mit seinem investierten Kapital eine Rendite erwirtschaften. Es sind die Startups und SoloSelbständigen mit ihren hierar chiearmen Projektorganisationen, die heute vielfach die Impuls <?page no="226"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 225 geber und Schöpfer von Innovationen für große Unternehmen sind. Diese haben sich mit ihren Bürokratien oft selbst lahmgelegt oder diese Aufgabe bereits ausgelagert. Zugleich wird kaum eine Be schäftigtengruppe von den auftraggebenden Unternehmen so aus gebeutet wie die „Freien“: Entweder beuten sie sich selber aus mit 7x12 Stunden Arbeitstagen und ohne jegliche soziale Absicherung, oder ihre Resultate werden weit unter Wert oder kostenlos über interaktive Wertschöpfung abgegriffen. Den Startups, „freien“ Freelancern, SoloSelbständigen etc. ist oft nicht bewusst, in welche wichtige ökonomische und gesellschaftli che Rolle sie hineingewachsen sind. Von daher wäre es längst an der Zeit, die „geraubte Sozialkritik“ im Verständnis Boltanskis/ Chi apellos zurückzufordern. Die Einheit von „Künstler und Sozialkri tik“ könnte das neue Leitbild sein. Bislang können sich die Unter nehmen durch Zukauf vereinzelter Dienstleistungen sowie durch Out und Crowdsourcing aus einem gut gefüllten Schmelztiegel der Innovationstreiber bedienen und sich dabei häufig der Lohn und Sozialversicherungskosten entledigen. Die große fachliche Begeisterung der „Freien“ für ihr Projekt geht einher mit der Vernachlässigung oder Unfähigkeit, sich gemeinsam zur Berücksichtigung ihrer Interessen zu organisieren. Sie sind ab hängig von denen, die auf sie angewiesen sind. Sie sind weder in Berufsverbänden, Gewerkschaften noch Genossenschaften organi siert. Sie sind arbeitsrechtlich „vogelfrei“, ohne eigentlich selbstver ständliche Rechte. In StartUps sind die Hierarchien flach und wohlklingende Titel schnell vergeben. Manche werden sich zur Gruppe der Unternehmer zählen, immer in der Erwartung, dass der große Investor mit dem Geldkoffer durch die Tür tritt. Einige Dol larMilliardenGeschäfte wie die Verkäufe von Nest an Google oder What´s App an Facebook fördern diese Haltung. Sie werden für alle zur Bewunderung ins globale Schaufenster gestellt und halten die Besten einer Generation im Wachtraum bei der Stange. Für einen wünschenswerten Lauf der Dinge müssten sie ihre fachliche Exper tise um politisches Handeln ergänzen. <?page no="227"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 226 Die sozialen und ökologischen Folgen werden als „Nebenfolgen“ abgebucht. Und wo bleibt die Umwelt? Die Globalisierung wird seit den 1980er Jahren durch die großen Industriestaaten vorangetrieben, die mehr Deregulierung, Liberali sierung und Privatisierung fordern, um das Wirtschaftswachstum der Weltwirtschaft zu steigern. Unterstützt wurde dieser Prozess auch durch die Informatisierung und die Existenz des Internets. Die Beschleunigung von Informationen, Waren, Arbeit und Kapital hat gewaltig an Fa hrt aufgenommen. Weltweit agierende Unternehmen konnten unter diesen Voraus setzungen ihre Produktion an Standorte verlagern, wo Löhne güns tiger und die Arbeitnehmerschutzrechte und Umweltstandards niedrig sind. Die Waren werden in westliche Industrieländer trans portiert, dort leben die kaufkräftigen Konsumenten. Steuernachläs se, und subventionierte Schiffs und Flugtransporte haben diese Entwicklung gestärkt und beschleunigt. Di e World Trade Organiza tion (WTO) und die Weltbank sehen ihre Aufgabe darin, das freie Spiel der Marktkräfte zu intensivieren. Der Prozess der Globalisierung hat die ökologischen Probleme massiv verstärkt. Zwei Leitbilder konkurrieren: Durch Deregulierung getriebenes, uneingeschränktes globales Wirtschaftswachstum mit Vorfahrt für den Homo oecono micus einerseits und austarierte ökonomi sche, ökologische und so ziale Entwicklung andererseits, wofür die Metaphern Nachhaltige Entwicklung bzw. sustainable development stehen. Die Diskussionen laufen immer auf eine zentrale Frage hinaus: Schließen sich beide Leitbilder aus oder sind sie gleichzeitig zu er reichen? Ist der globale ökonomische Pfadverlauf das grundlegende Problem? Wird damit eine Pfadbrechung notwendig oder lassen sich Leitplanken einbauen, die eine nachhaltige Pfadkorrektur zu lassen? Pfadbrechung könnte beispielsweise heißen, die ökolog i schen Kosten der Globalisierung in die Produkte einzurechnen, De regulierungen zurückzuführen oder alles Schnelle und Große zu beschränken. <?page no="228"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 227 In dieser Diskussion wird von vielen die Informatisierung mit dem Internet als Retter gesehen. Die Informationstechnik ist aber auch ein Wegbereiter der Globalisierung und gehört damit zu den mittelbaren „Umwelttätern“. Die Globalisierung mit ihren Handels und Informationsströmen wäre in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen. Gleichzeitig kann sie das Potenzial zum Umweltretter haben, indem sie die Ökonomie auf einen Pfad mit fortwährendem Wachstum mit weniger Ressourcen und Energieverbrauch und Emissionsreduzierung führt: Entkopplung des Wirtschaftswachs tums vom Ressourcenverbrauch. Wir dürfen weiter sündigen, ohne etwas opfern zu müssen. Schon in den 1990er Jahren haben sich Informatiker mit der Gründung der Environmental Informatics an diese Aufgabe gemacht. Zunächst wurden Modelle und Software für globale Produktions, Logistik und Informationsflüsse entwickelt, die die ökologischen Fußabdrücke (Ecological Footprints) dieser Prozesse berücksichtigen konnten. Mit Betrieblichen Umweltinformationssystemen (BUIS) und Ökobilanzen sollte das ökologische Pendant der industriellen Ströme, die bis dahin nur unter Kosten und Beschleunigungsaspek ten erfasst wurden, einbezogen werden. Die Umweltinformatiker hatten mit ihrem Aktivitäten in der Praxis zumeist nur Erfolg, wenn sie dem Management eine winwinSituation versprechen konnten: Wir tun etwas für die Umwelt, wenn sich dadurch unsere Kosten reduzieren. Der Homo oeconomicus würde das wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Gegen diese betriebswirtschaftliche Sichtweise gibt es Bedenken. Die Versuche, die Ressourceneffizienz zu verbessern, können in die „ökologische Innovationsfalle“ laufen: Ein Produkt oder eine Dienstleistung kann aufgrund besserer Technologie mit weniger Ressourceneinsatz und Umweltverbrauch erstellt werden. Aus be triebswirtschaftlicher Sicht ist damit eine winwinSituation gege ben. Was aus einzelwirtschaftlicher Sicht plausibel ist, muss die volkswirtschaftliche Ökobilanz nicht unbedingt entlasten. Die Ver besserung der Ressourceneffizienz führt zwar zu einer Reduzierung des Umweltverbrauchs pro Produktionseinheit, dadurch werden <?page no="229"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 228 sich aber oftmals die Produkte oder Dienstleistungen verbilligen, was zu einer erhöhten Nachfrage führen kann. Die Einsparungen pro Leistungseinheit auf der Inputseite, z.B. im Verbrauch von Res sourcen, werden dann durch Wachstumsprozesse auf der Output seite, also bei der Produktmenge, (über)kompensiert. Radermacher hat dafür die Metapher Reboundeffekt geprägt. Ein Beispiel: Der Ressourcenverbrauch zur Herstellung und Nutzung eines PCs ist erheblich geringer als derjenige für einen Großrechner alter Prägung, z.B. der IBM 370, bei gleichzeitig deutlich höherer Leistung. Die Ressourceneinsparungen pro Computerleistung wurde jedoch bei weitem überkompensiert durch die Zahl der zwischenzeitlich verkauften PCs. Vermutlich sind die Schadstoffemissionen bei der Herstellung des innovati ven PC sowie die damit verbundenen Energieverbräuche eben falls erheblich gestiegen, sofern die Gesamtzahl der produzier ten Kleinrechner addiert wird. Unter Berücksichtigung des Reboundeffektes könnten viele der gut gemeinten Aktivitäten auf dem Weg zur Dematerialisierung durch Informationstech nik eher zu einer Erhöhung als zu einer Reduzierung der Um weltbelastung führen. Eine weitere beliebte Argumentation: Viele Medien, Politiker und Praktiker vermuten durch die breite Nutzung des Internet eine be trächtliche Verkehrsreduzierung. So könne eine Erhöhung der Res sourcenproduktivität und eine geringere Umweltbelastung erreicht werden. In der Tat können über das Internet schnell und billig Ab sprachen getroffen und Daten, Bilder und Dokumente verschickt werden. Das macht persönliche Anwesenheit und Reisen zum Teil überflüssig. Auch Teleheimarbeit und Kontakte mit CallCentern sind vom heimischen Computer aus zu tätigen. Das Auto kann in der Garage bleiben. Hoffnungen auf Dematerialisierung sind nahe liegend. Die Achillesferse dieser Argumentation ist jedoch, dass sie denk bare technische Potenziale einer Technik zugrundelegt, ohne die Bedingungen ihres Einsatzkontextes zu berücksichtigen. Sie gibt <?page no="230"?> 2. Zukunftspfade und Sackgassen 229 isoliert die technischen Potenziale als die kommende, gesicherte Realität aus. Sie betrachtet einen wünschenswerten Ausschnitt und setzt darauf, dass sich ansonsten nichts verändert. Es ist das altbe kannte ceterisparibusDenken (bei Konstanz aller anderen Parame ter) der Wirtschaftswissenschaften. Es lässt Wechselwirkungen und „Nebenfolgen“ draußen vor. So hat sich beispielsweise die Teleheimarbeit nicht, wie oft ange kündigt, breit durchgesetzt. Stattdessen sind CallCenter wie Pilze aus dem Boden geschossen, die nach wie vor Anfahrten erforderlich machen. Eine Forschungsgruppe um den Münchener Wirtschaftswissen schaftler Reichwald hat schon 1996 den Ersatz von Mobilität durch EMail in einer empirischen Untersuchung nicht bestätigt gefunden. Vielmehr reisen diejenigen Manager am meisten, die auch besonders intensiv mit dem Medium EMail arbeiten. Reichwalds Erklärung - er benutzt dafür die Metapher Telekommunikationsparadoxon - er scheint plausibel: Bei Abschlüssen von Aufträgen und Verträgen ist immer noch das persönliche Kennenlernen und so etwas wie die Herstellung von Vertrauen wichtig. Wer viele Kontakte über EMail aufbaut - und die EMail ist neben dem Telefon das ideale Werkzeug zum schnellen und unkomplizierten Kontaktaufbau - tätigt logi scherweise auch entsprechend mehr Abschlüsse, für die offensicht lich immer noch persönliches „Beschnuppern“ angesagt ist und Ver trauen aufgebaut werden muss, bevor etwas unterschrieben wird. Es gibt viele weitere Fälle, bei denen entweder die Nutzung des Internets Verkehr erzeugt oder im ersten Schritt eingetretene Ein sparungen wieder kompensiert werden. Beispielsweise beim Onli neShopping: Zwar fallen Einkaufsfahrten der Konsumenten weg, dafür fällt aber Lieferverkehr für die Zustellung der Pakete an. Mit dem Einkauf und Vertrieb über weltweite Netze entsteht ein Schub an globalem Verkehr. Wir, die Kunden, erwarten die schnellstmög liche Lieferung von allen Orten weltweit, mit Einzelsendungen, sog. Paketierung und schnellen Verkehrsträgern wie Flugzeug und LKW. Die gegebene Rückgabemöglichkeit fördert es außerdem, im Zweifel mehr zu bestellen und die nicht passenden bzw. nicht ge <?page no="231"?> Teil IV. Digitale Transformation und stable Gesellschaften 230 wollten Artikel wieder ressourcenaufwändig zurückzuschicken. Das Paketaufkommen wächst mit immensen Raten. Eine Zwischenbilanz: Einen Automatismus zwischen Informati sierung und einem ökologischen Entwicklungspfad gibt es nicht. Unter ökonomischen Gesichtspunkten lassen sich Transaktionskos tensenkungen und Zeitgewinne für die Unternehmen durch Nut zung des Internet realisieren. Sie können für zusätzliche Aktivitäten und Nachfrage genutzt werden (Reboundeffekt). Die Ökobilanz kann bei ehemals materiellen InformationsProdukten wie CDs/ DVDs, Zeitungen etc., durch Wegfall der materiellen Wertschöp fungskette bei gleichzeitigem Download durch den Kunden, eine deutlich positive Tendenz ausweisen. Aber durch Paketierung, Zu nahme schneller Verkehrsträger und Wegfall regionaler Märkte ist mit einer negativen Ökobilanz zu rechnen. Das Anwachsen zu nächst anonymer WebKontakte (z.B. EMail) kann zu mehr Reisen führen (Vertrauensbildung! ). NichtRegierungsOrganisationen (NGO), Umweltverbände und aktivisten haben durch das Internet zusätz lich eine große Chance, Gehör zu finden und umfassend und aktu ell zu informieren. Der ungehinderte Fluss von Waren, Arbeit und Kapital hat zu Produktionsverlagerungen an Standorte geführt, wo auf Arbeit nehmer und Umweltschutzrechte wenig Wert gelegt wird („Um weltdumping“). Rechner und Softwareinfrastrukturen und das Internet forcieren globale Arbeitsteilung und Güterverkehr. Trans porte in kaufkraftstarke westliche Länder haben enorme Steige rungsraten. Allein die Zuwachsraten von Produktion und Verkehr machen wenig ökologische Hoffnung. Die erwähnten Pfadbrechungen sind angesichts mächtiger Ak teure nicht durchsetzbar. Die realistische Option liegt deshalb bei der Pfadkorrektur durch Einziehen von Leitplanken in Form von intelligenten Regulierungen. Dazu zählen global verpflichtende Klimaschutzabkommen sowie Emissionszertifikate, die Treibhaus gasen einen Preis geben und diese vielleicht beherrschbar machen. Dazu gehört auch, dem Reboundeffekt bzw. der „ökologischen In novationsfalle“ eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. <?page no="232"?> 231 Teil V. Orientierung in digitalen Welten Die nächste Phase der Digitalen Transformation ist in Umrissen erkennbar: Die Internetkonzerne Google & Co. werden neue Märkte in Afrika, vor allem aber wohl in China suchen. Apple flirtet bereits mit Alibaba, dem chinesischen Amazon. Alibaba hingegen sieht großartige Möglichkeiten für sich in den Vereinigten Staaten. Die amerikanischen Internetkonzerne werden sich mit ihren Spinnennetzen ins Gehege kommen. Sie werden sich mit identi schen aber inkompatiblen Produkten und Dienstleistungen auf grund unterschiedlicher „BetriebssystemGene“ zulasten der Nut zer bekämpfen. Bei ihrem rasanten Wachstum werden die noch zu besetzenden Lücken immer kleiner. Das Wettrennen mit der digita len Konkurrenz wird zunehmen. Sie werden auf ihren Märkten auf einandertreffen, die sie für so sicher wie uneinnehmbare Burgen hielten. Die Erzählung Des Googles Kern und andere Spinnennetze ist damit an ihr Ende gekommen. Sie ist ein Gegenentwurf zu der verbreite ten Ansicht, mit dem Smartphone in der Hand habe man die digita le Welt im Griff. Der Subtitel Die Architektur der digitalen Gesellschaft lässt erwarten, dass über die Erzählung hinaus auch stärker theoretische Grundla gen sowie ein Modell oder ein Orientierungsrahmen angeboten werden. Diese Angebote sollten die Erzählung auf den Punkt brin gen und über die traditionelle Homo oeconomicusSicht hinauswei sen. Dem werden wir uns jetzt stellen. Wer daran weniger interes siert ist, der kann das Buch oder den Laptop jetzt mit ruhigem Ge wissen zuklappen. Die digitale Transformation setzt in diesem Buch mit der Epoche der kalifornischen Tüftler ein, aus der u.a. PCs, Internet, Laptops, Smartphones und Suchmaschinen hervorgingen. Das ist natürlich <?page no="233"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 232 nicht ganz korrekt. Denn vor ihnen gab es längst eine Computer grundausstattung in Unternehmen, für die große Computerkonzer ne, u.a. IBM, Cisco und die deutsche Firma SAP, stehen und Pro dukte und Dienstleistungen bis heute bereitstellen. Aus der Wech selwirkung von IT nachfragenden Unternehmen nach Computer und Netzwerktechnologien einerseits und ITKonzernen, die sie entwickeln andererseits, konnte aus der „alten“ nach und nach die „neue“ Ökonomie ihr Gewicht bekommen. Die ITGroßkonzerne lieferten die Bauteile für eine globale ITInfrastruktur mit Groß rechnern, Clients und Servern, PCs, Internettechnologien und Soft ware. Es geht zunächst um einige ökonomische Grundlagen, die man kennen sollte, um den Pfad der digitalen Transformation besser ein ordnen zu können. Da die digitale Transformation ja Anlass zu der Befürchtung gibt, dass sich die Spaltung zwischen Arm und Reich weiter fortsetzen wird, sollten wir uns die volkswirtschaftlichen Grundlagen der Verteilung von Einkommen und Vermögen mal etwas genauer ansehen. Wir setzen aber kein Studium der Volks wirtschaftslehre voraus. Anschließend werfen wir einen Blick auf frühere wie aktuelle Sichtweisen der internationalen Ökonomie. Wir wollen herauszu finden, was sie zum besseren Verständnis der digitalen Transforma tion beitragen können. Hier geht es vor allem um den aktuell hoch gehandelten Business EcosystemsAnsatz. Die unserer Auffassung nach unzureichenden ökonomischen wie informatischen Modelle haben uns motiviert, einen transdisziplinä ren Orientierungsrahmen - das MikropolisModell - zu entwickeln. Es kann eine Grundlage für eine Architektur der digitalen Gesellschaft sein. Der Ausgangspunkt ist, dass ein Orientierungsrahmen sowohl das Einmalige der digitalen Transformation auf den Punkt bringen, als auch die „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen der digitalen Transformation mit ihrem Einfluss auf Kultur, Lebens und Ar beitswelt aufnehmen muss. Das Modell versucht die Struktur und Dynamik der digitalen Gesellschaft wie das „Wesentliche“ und Un verwechselbare herauszuarbeiten. <?page no="234"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 233 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? Einige volkswirtschaftliche Binsenweisheiten und Thomas Piket tys Schlussfolgerungen Die digitale Transformation wird die Spaltung zwischen Arm und Reich weiter fortsetzen. Um auch hier Grund unter den Füßen zu haben, werden wir die volkswirtschaftlichen Grundlagen der Ver teilung von Einkommen und Vermögen etwas genauer betrachten. Unsere Ausgangsfrage lautet: Wie erklärt die Volkswirtschafts lehre den schillernden Begriff des Gleichgewichtswachstumspfades, bei dem wirtschaftliches Wachstum und stabile Beschäftigung in Harmonie sind. Er bildet den Idealzustand, wonach Politik und Politikberatung stetig auf der Suche sind. Auf dieser Grundlage wird die zweite Frage zu behandeln sein: Wie sieht die Einkom mens und Vermögensverteilung angesichts der digitalen Trans formation faktisch aus und wie weit ist sie vom Idealbild des Gleichgewichtswachstum entfernt? Mit der Informatisierung wird die Erwartung verbunden, volks wirtschaftliches Wachstum durch Rationalisierungen und Innovati onen zu generieren und so Produktivitätszuwächse zu erzielen. Ein Teil des Arbeitsvolumens einer Volkswirtschaft (VW) fällt weg, gleichzeitig entstehen durch Innovationen neue Strukturen und kulturelle Veränderungen. Die Auffassung ist weit verbreitet, dass die Rationalisierung durch IT permanent Arbeitsvolumen einer Volkswirtschaft „auf frisst“ und deshalb immer mehr Menschen zwangsläufig arbeitslos werden müssen. Der Wegfall von Arbeit durch Rationalisierung ist aber nur die eine Seite der Rationalisierungsmedaille, dargestellt in Abbildung 9: Hier frisst sich die Rationalisierung durch IT in das bestehende Arbeitsvolumen einer Volkswirtschaft hinein. Damit das möglich ist, müssen Informatiker Software entwickeln, die Ar beit überflüssig macht. Das muss aber nicht zwangsläufig das Ende der Erklärung sein. Vielmehr wird hier nur ein Teilaspekt heraus gegriffen. <?page no="235"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 234 Abbildung 9 / Rationalisierung I Die eine Seite der „Rationalisierungsmedaille“: Informationstechnik „frisst“ sich in das Arbeitsvolumen einer Volkswirtschaft und macht so Beschäftigte überflüssig. Gleichzeitig werden neue Ar beitsplätze durch ITArbeit, z.B. Softwareentwickler geschaffen. Sind die Rationalisierungseffekte größer als die Kosten für die dazu notwendigen ITArbeitskräfte, so sprechen wir von Produktivitäts zuwächsen. Denn Produktivitätszuwächse durch IT können durchaus zum Gleichgewichtswachstumspfad führen und haben dann auch für die Beschäftigten positive Effekte. Es tritt kein Verlust beim Arbeitsvo lumen ein, wenn die Produktivitätsgewinne einer Periode über eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik (auch) an Beschäftigte bzw. durch Preissenkungen an Konsumenten weitergegeben werden. So kann zusätzliche Nachfrage bei ihnen entstehen, die dann in der Folge neue Arbeitsvolumina für die Volkswirtschaft generiert. Die eigentlich „wegrationalisierten“ Arbeitskräfte bleiben auf diese Weise durch zusätzliche Nachfrage in „Lohn und Brot“ bzw. wer den für die Herstellung neuer Produkte oder Dienstleistungen ge braucht. Das muss nicht unbedingt am selben Arbeitsplatz sein. Diese „zweite Seite der Rationalisierungsmedaille“ zeigt Abbildung 10 für eine geschlossene Volkswirtschaft, d.h. ohne Berücksichti gung von Exporten und Importen. <?page no="236"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 235 Abbildung 10 / Rationalisierung II Die zweite Seite der Medaille bei angestrebtem Gleichgewichts wachstum: Produktivitätszuwächse, die auch an Lohnempfänger und/ oder über Preissenkungen an die Konsumenten weitergegeben werden, können (in unserem einfachen Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft) zu zusätzlicher Nachfrage und damit zu neuer Nachfrage nach Arbeitskräften führen (Wachstum), ohne dass Ar beitslosigkeit entstehen muss. Denn die verbleibenden Arbeitskräfte haben mehr Geld „in der Tasche“ und können damit zusätzliche Konsumnachfrage ausüben, die die eigentlich Überflüssigen wieder „in Lohn und Brot“ setzen können. Insgesamt entstehen so durch IT neben Innovationen, Produkti vitätszuwächse und Effizienzgewinne, die die Voraussetzungen für Wachstum einer Volkswirtschaft sind und als zusätzliche Einkom men, Investitionen und als Steuereinnahmen verteilt werden kön nen (Abbildung 11). In unserem Idealmodell wird ein Teil der Produktivitätszuwäch se nicht in den Konsum gehen, sondern in Unternehmen investiert werden müssen, damit Innovationen getätigt werden können und in der Folge Wachstum und die internationale Wettbewerbsfähig keit, z.B. durch Förderung der Forschung erhalten bleiben. Des Wei teren beansprucht der Staat über Steuern seinen Anteil, um Sozial und Rentenzahlungen bedienen zu können und notwendige Inves titionen in Bildung und Erhaltung der Infrastruktur realisieren zu können. <?page no="237"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 236 Abbildung 11 / Rationalisierung III Abbildung 11 zeigt die Verteilung der Produktivitätszuwächse in einer Volkswirtschaft auf Beschäftigte (Löhne), Unternehmer/ Kapitalgeber (Gewinne) und Staat (Steuereinnahmen) sowie ihre Verwendung. In jeder Periode wird aufs Neue zwischen Arbeitgebern und Ge werkschaften gekämpft, in welchem Verhältnis Lohn und Gewinn anteile verteilt werden: Während die Unternehmer Lohnzurück haltung fordern, um Investitionen und Innovationen realisieren zu können, mahnen die Arbeitnehmer eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik an, da nur so die notwendige zusätzliche Binnennach frage erzeugt werde, die zum Gleichgewichtswachstumspfad führt. Beide Seiten haben die Möglichkeit, ihr Ausgabeverhalten so zu gestalten, dass kein ausreichendes Wachstum erreicht wird, z.B. durch eine zu hohe Sparquote der Arbeitnehmer bzw. Investitions zurückhaltung der Arbeitgeber. Fließen die Produktivitätszuwächse allein oder zum überwiegenden Teil in die Unternehmergewinne, so fehlt zusätzliche Nachfrage der Arbeitnehmer. Die Folge: für Un ternehmen lohnen sich weder Investitionen noch die Generierung von Innovationen, da keine ausreichende Binnennachfrage zu er warten ist. <?page no="238"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 237 Die Produktivität der Arbeit hat in den Jahren 2000 bis 2005 um über 7 Prozent zugenommen. Die Real löhne sind in dieser Zeit um weniger als 1 Prozent gestiegen. Das Bild von der „deutschen Tüchtigkeit“ relativiert sich somit. Dies war in Deutsch land lange der Fall. 6 Prozent des Pro duktivitätszuwach ses müssen folglich an die Arbeitgeber gegangen sein. In den USA wurden die Reallöhne in dieser Zeit um 9 Prozent angehoben, bei einer Produktivitätssteigerung um über 11 Prozent 24 . Dadurch hat sich Deutschland, z.B. auch gegenüber Frankreich, Wettbewerbs vorteile verschafft, mit allen „Nebenfolgen“, die jetzt im EURaum erkennbar sind. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger nennt das drastisch „Vampir Deutschland“. Für unser volkswirtschaftliches Basiswissen ist es deshalb not wendig, den Außenhandel in das Modell einzubauen. Die Im und ExportBeziehungen sin d für die Stabilität von Staaten von größter Bedeutung. In kaum einem großen Industriestaat kann von einer ausgeglichenen Bilanz gesprochen werden. So haben Deutschland und China enorme Überschüsse, die USA und Frankreich dagegen massive Defizite. An der Formel, des einen Leid ist des anderen Freud, ist etwas dran. Exportüberschüsse können aus einem hohe n technischen Innova tionsstand und Bildungs bzw. Qualifikationsniveau und/ oder ver gleichsweise geringen Lohnkosten sowie einer, im internationalen Vergleich zahmen Gewerkschaften resultieren. All diese Faktoren treffen für Deutschland zu. Das Land erfreut sich eines innovations fähigen Mittelstandes auf hohem Niveau. Die über Jahre gezähmte Arbeitspolitik mit lange fehlendem Mindestlohn, staa tlichen Auf stockerZahlungen, schlechtbezahlter Leiharbeit und Werkverträ gen sind staatliche Subventionen zugunsten einer besseren Position im internationalen Wett bewerb. In jedem Fall können Länder wie Frankreich, Ita lien und Spanien mit ihren Kulturen des „entschleunigten Wohlle bens“, das uns im Urlaub so gut gefällt, mit Mindestlohn und ge <?page no="239"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 238 ringerer Lebens und Wochenarbeitszeit, da nicht mithalten. Im Kern geht es hier auch um einen ökonomischen Kampf der Kultu ren, wobei klar ist, wer Sieger und wer Verlierer sein wird und wer seine Kultur anpassen muss. Die Exportüberschüsse bezahlen die importierenden Länder durch Kredite. Das NettoAuslandsvermögen Deutschlands betrug 2012 laut der Deutschen Bundesbank 1,107 Billionen Euro. Es stellt sich die Frage, wann und wie diese Kredite jemals zurückgezahlt werden sollen. Voraussetzung wäre, dass die Defizitländer im inter nationalen Wettbewerb Überschüsse erwirtschaften, was von einer wachsenden deutschen Nachfrage begleitet sein müsste. Wahr scheinlicher ist, dass der deutsche „Malocher“ bei zunehmendem Stress mehr leistet, damit Wettbewerbsfähigkeit und Überschüsse erhalten bleiben und er in „Lohn und Brot“ bleiben kann. Zur Erinnerung noch einmal die zweite Frage, die wir eingangs gestellt haben: Wie sieht die Einkommens und Vermögensvertei lung angesichts der digitalen Transformation faktisch aus, wie weit ist sie vom Idealbild des Gleichgewichtswachstums entfernt? Wir haben uns an anderer Stelle schon auf die Aussagen der Hochschullehrerin Dalia Marin bezogen. Ihre Auffassung ist, dass mit der digitalen Transformation sowohl die Zahl der Hochlohnjobs als auch die der Niedriglohnjobs ansteigt, die Jobs für die Mittel schicht dagegen ausgedünnt werden. Das stimmt mit unserer Ein schätzung überein. Exemplarisch wurde das am Auffangbecken EventÖkonomie gezeigt. Noch brisanter ist, dass die Spaltung in der Verteilung zwischen denen, die am Computer arbeiten und de nen, die sie besitzen, stetig größer wird. Wir stellen eine sich poten zierende, hochgradig ungerechte „Verteilungslogik“ fest: die digita le Transformation spaltet die Beschäftigungsverhältnisse. Um die digitale Transformation voranzutreiben, ist Kapitaleinsatz erforder lich, der durch eine erkleckliche Rendite belohnt werden will. Im Ergebnis nimmt der uralte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch die digitale Transformation weiter an Fahrt auf. Schenkt man den Aussagen des französischen Wirtschaftswis senschaftlers Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahr <?page no="240"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 239 hundert Glauben, so ist die Entwicklung hoher Kapitalrenditen auf Kosten der Arbeitseinkommen ein Trend, der seit Jahrhunderten zu verfolgen ist. Seine Ergebnis knapp formuliert: Die Kapitalrendite, d.h. Einkommen aus Zinsen, Dividenden, Mieten und anderen Ein kommen aus Eigentum übertrifft seit langem die Wachstumsrate. Das Kapital, also der Wert von Unternehmen, Immobilien, Aktien und Anleihen, wächst seit Jahrzehnten schneller als die Volkswirt schaft. In den USA haben die reichsten ein Prozent der Bevölkerung ihren Anteil innerhalb von 30 Jahren von neun auf 22 Prozent er höht. Wenn die Kapitalrendite höher ist als das Wachstum, geht das zu Lasten der Arbeitseinkommen. Ihr Anteil am zu verteilenden Kuchen ist dann unangemessen klein. Ein Beispiel: Steigt das Wirtschaftswachstum um 1,5 Prozent, die Kapitalrendite in der gleichen Zeit aber um 4,5 Prozent, so nimmt die gesellschaftliche Ungleichheit rasend schnell zu. Pikettys Einschätzung: die Kapitalanhäufung hat zu immer größe rer Ungleichheit in der Gesellschaft geführt, wodurch ihr Zusam menhalt aufgrund der empfundenen Ungerechtigkeit permanent brüchiger wird; die Bruchlinien sind bereits zu sehen. Hierzu zählen unter anderem das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Europa und Forderungen nach Renationalisierung, weil dann an geblich alles gerechter wird. Pikettys Forderung: Die Regierungen sollten sich gemeinsam auf eine gestaffelte Vermögenssteuer eini gen. Nach Piketty ist es eine gefährliche Illusion zu glauben, die Demokratie würde der wirtschaftlichen Entwicklung folgen. Der freie Wettbewerb führe eben nicht zu einer reinen Leistungsgesell schaft. Eine Ende 2014 veröffentlichte Studie der Organisation für wirt schaftliche Zusammenarbeit (OECD) kommt zu dem Ergebnis, dass die starke Ungleichheit in der Einkommensverteilung eine Wachs tumsbremse ist. Die Ursache liege vor allem in den zu geringen Bil dungsausgaben durch ärmere Bevölkerungskreise. Eine ganze Volkswirtschaft leide dann unter einem Nichtausschöpfen der <?page no="241"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 240 Wäre das Verhältnis zwischen Arm und Reich zwischen 1990 und 2010 gleich geblieben, so hätte das Wachstum um sechs Prozent höher sein können. Kompetenzen. Das treffe auch für Deutschland zu, wo sich der Ab stand zwischen Arm und Reich seit den 1980er Jah ren vergrößert habe. Schachspielen im „grenzenlosen Netz der Freiheit“ Nach diesem volkswirtschaftlichen Ausflug, jetzt zur betriebswirt schaftlichen Perspektive. Das Management in Unternehmen steht vor der Herausforderung, die digitale Transformation, die sich mit vielfältigen Aktivitäten der Internetkonzerne Google, Amazon und Co. und mit Metaphern wie Industrie 4.0, Smart Cities ankündigt, bewältigen zu müssen. Da schaut man zuerst auf die Arbeiten der ökonomisc hen Disziplinen, um Orientierungshilfe zu bekommen. Die Betriebswirtschaftslehre blickte lange Zeit starr auf das ein zelne Unternehmen und versucht aus dieser Perspektive Organisa tion und Abläufe zu optimieren. Die Unternehmen haben noch alles unter einem Dach: Die Verwaltung, den Vertrieb, die Produktion, das Lager und den Fuhrpark. Das Verhalten der Konkurrenz is t einschätzbar und die Veränderung auf den Märkten und in der Ge sellschaft spielt sich in einem überschaubaren Tempo ab. Das änderte sich spätestens in den 1980er Jahren. Dabei kamen mindestens drei Faktoren zusammen: In der Regierungszeit von Reagan und Thatcher hielt die neoliberale Wirtschaftspolitik welt weit Einzug. Regulierungen, Zölle und Arbeitne hmerrechte wurden geschleift, um das freie Unternehmertum von der Leine lassen zu können. Die Globalisierung nahm an Fahrt auf und schließlich be schleunigte und veränderte die Informatisierung das Geschäftsge baren der Unternehmen. Die betulichen Zeiten waren vorbei, Unternehmen wie Ökono mie gezwungen, sich neu auszurichten. Wettbewerber, Lieferanten und internationale Regelwerke in globalisierten Mä rkten spielen jetzt eine prominente Rolle. Unternehmen müssen in Netzwerken denken und agieren. Dafür entwickeln Ökonomie und Sozialwis <?page no="242"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 241 Das Management muss sich umstellen, vom MenschärgeredichnichtSpieler zum Schachspieler. senschaften die Metapher Netzwerkorganisationen. Die Metapher soll Orientierung geben, um die weltweit wachsende Komplexität und Beschleunigung ins Zentrum zu rücken. Denn durch Globalisierung und Informatisierung ist das Umfeld der Unternehmen undurch schaubarer geworden. Sie müssen in einem liberalisierten Wettbe werb in einem nunmehr weltweiten Aktionsfeld agieren. Die Komplexität verschärft sich noch einmal als das Internet weltweit Org anisationen und Privathaushalte über global verteilte Rechner verbindet und die Begrenzungen von Zeit und Ort aufhebt. Die Nutzer - Unternehmen, private Nutzer, Verbraucher, Lieferan ten, Regionen oder staatliche Behörden - werden zu Knoten im Netz und „arbeiten“ über das Internet zusammen. Die Netze haben offene Strukturen, können grenzenlos expandieren, ne ue Knoten einbeziehen und überflüssige rasch abschalten. Netzwerke auf der Basis von Informationstechnologie heben die Distanz zwischen den Knoten zeitlich wie örtlich auf. In diesem scheinbar „grenzenlosen Netz der Freiheit“ wird härter um Positionen gekämpft als je zuvor. Es bilden sich Hierarchien heraus und wer die Position des Netz werkführers er kämpft hat, hat zumindest vorübergehend das Sagen. Rochaden sind in einem globalen Umfeld zu antizipie ren, um als Sieger oder zu mindest als Überlebender im Spiel zu bleiben. Wer sich nur ärgert oder allein auf sein Glück verlässt, wird das Spielfeld bald verlassen müssen. In Netzwerkorganisationen haben einzelne Unternehmen keine scharf umr issenen Grenzen mehr. Das Management zieht sich auf die „Kernkompetenzen“ des Unternehmens zurück, lagert vieles aus, was nicht dazu zählt. Die Dienste von Freelancern, Lieferanten und assoziierten Produktionsstätten werden nach Bedarf abgerufen, mit dem Risiko, dass das nicht immer klappt. Manche Beziehungen sind dabei stabil, andere flüchtig. Da vieles nicht mehr sel bst entwi ckelt und hergestellt, sondern an Spezialisten im Netzwerk ausgela <?page no="243"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 242 gert ist, wird das Management vor allem daran gemessen, die rich tigen externen Netzwerkpartner auszuwählen und zu koordinieren. „Herrscher“ in den Netzwerken sind die Unternehmen, die über Jahre eine weltweit funktionierende „Marke“ etablieren konnten. Beispiele im Sportschuhbereich sind adidas, Puma, Nike, im Textil bereich Joop, Hennes & Mauritz (H&M), in der Automobilindustrie BMW, AUDI, Toyota oder Daimler. Ihre Hauptaktivitäten sind Markenpflege, Innovationsentwicklung, Design und Vertrieb. Sportschuh und Textilfirmen benötigen dafür einen, in Relation zu ihrem Umsatz, überschaubaren eigenen Mitarbeiterstab. Die Ferti gung ist oft ausgelagert. Die Unternehmen siedeln Produktions und VertriebsKnoten dort an, wo die für sie nützlichen Leistungen vorhanden und kostengünstig sind. Das sind in der Regel Billig lohnländer. Wissenschaftler mit internationaler Reputation wie Manuel Cas tells haben dicke Bücher geschrieben, um dem Wesen des Um bruchs, der sich unter der Metapher Netzwerkorganisation abspielt, auf den Grund zu kommen. Er sieht als „Nervenbahnen“ der Netz werke globale Finanzströme, die die Entwicklung des internationa len Handels, transnationaler Produktionsstätten, globaler Wissen schaften und spezialisierter Arbeitskräfte vorantreiben. Netzwerke sind für ihn zugleich die Metapher für eine Kultur der endlosen Zerstörung und des nie endenden Neuaufbaus. Sie sorgen für eine gesellschaftliche Organisation, die auf die Verdrängung des Rau mes, die Vernichtung der Zeit und gesellschaftliche Spaltung aus ist. Es sind Instrumente der Macht, über die die Neuorganisation von Machtbeziehungen ausgetragen wird. Der Philosoph Oskar Negt sieht, mit seinem politökonomischen Hintergrund, die neue Qualität der globalen Vernetzung in der Ent fesselung der Kapital und Marktlogik von bisherigen Barrieren, Kontrollen, Widerständen und Gegenmachtpositionen. Gesellschaf ten haben sich mit drei neuen Wirklichkeitsschichten auseinander zusetzen: der Welt der Börse, des Freihandels und der Völkerwan derung. Castells wie Negts Analysen und Sichtweisen sind den An hängern des Homo oeconomicus bis heute fremd. <?page no="244"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 243 Die Informatisierung hat die technischen Potenziale für die Glo balisierung bereitgestellt. Die Fließgeschwindigkeit der ökonomi schen Transaktionen kann so radikal verkürzt werden. Sie hat der globalen „JustintimeÖkonomie“, die unabhängig von den Rest riktionen Raum und Zeit agieren kann, zum Durchbruch verholfen. Technologische Entscheidungen werden gemäß der Logik interna tional organisierter Kapitalbewegungen getroffen: „Der Mausklick eines Investmentbankers in einem der Finanzzentren dieser Welt kann mehr Folgen für das Leben der Bürger in einem Gemeinwesen haben als die Abstimmung in einem demokratisch legitimierten Parlament“, so der Ökonom Scherer. Die internationale Ökonomie im Dschungelcamp Es ist mehr als eine Randnotiz, dass Teile der internationalen Öko nomie sich mittlerweile von der Metapher Netzwerkorganisationen verabschiedet und die Metapher Business Ecosystems ins Spiel ge bracht haben. Hier geht es nicht etwa um das ökologische Design von Unternehmen oder Produkten. Auch an Ressourcenschonung und Klimaschutz ist nicht gedacht. Man möchte vielmehr für die BusinessWelt der vernetzten Organisationen und Individuen eine Assoziation zur wilden, nicht beherrschbaren Natur herstellen, sie als Organismus aus Räubern und Opfern interpretieren, in der es um dominante Spezies und um Parasiten geht. Diese Merkmale werden von den Autoren wie Michael L. Rothschild als die Grund prinzipien der kapitalistischen Ökonomie eingestuft. Erfolgreiche Business Ecosystems zeichnen sich durch Produktivität und Ro bustheit gegenüber permanenten Turbulenzen (Resilienz) aus. Au ßerdem haben sie die Fähigkeit, Spezialanbieter an sich zu binden, die aufkommende Nischen besetzen und so Innovationen voran treiben. Die Metapher Business Ecosystems wurde von Moore 1993 in seinem Beitrag Predators and Prey: A New Ecology of Competition in der Harvard Business Review eingeführt. Er erhielt dafür den McKinsey Award. Derselbe Sachverhalt ließe sich sicherlich auch <?page no="245"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 244 mit dem Wort Evolution ausdrücken, also Business Evosystem. Wie dem auch sei: Metaphern bieten Orientierungsschneisen an, die darauf verweisen, wie man etwas sehen, bewerten oder auch was man möglichst übersehen sollte. Mit der Metapher Business Ecosys tems wird ein Denkraum abgesteckt, in dem Strategien entwickelt und der Andere als dominante Spezies, als Futter oder als Parasit eingestuft werden kann. Das Business Ecosystem eines Unternehmens besteht aus allen Organisationen und Akteuren, die direkt oder indirekt auf das Un ternehmen Einfluss nehmen. Dies sind beispielsweise Lieferanten, Vertriebsorganisationen, Kreditgeber, Gesetzgeber, Technikanbie ter, komplementäre Produkthersteller, Wettbewerber und Konsu menten. In einem Business Ecosystem werden die Visionen des oder der Unternehmen die „das Sagen haben“, von allen Beteiligten ge teilt und gestützt. Sie passen ihre eigenen Dienstleistungen, Investi tionen und strategischen Entscheidungen daran an, so der Wirt schaftsinformatiker Paul Drews. Abbildung 12 / Referenzgrafik Business Ecosystems nach Moore <?page no="246"?> 1. Ökonomie 2.0, wo ist sie? 245 James F. Moores Publikationen haben eine eigentlich doch selbst verständliche Einsicht für die Managementdisziplinen ins Blickfeld gerückt: Das zu berücksichtigende und zu analysierende betrieb liche System sollte „greater than a single organization“ sein. Da durch konnte einbezogen werden, dass Erfolg und Überleben einer Organisation von vielen Faktoren abhängt: von intern und extern verteilten Beziehungen, von kämpfenden Akteuren, ebenso von na tionalen und internationalen Regulierungen, von der jeweiligen Kul tur eines Landes, neuen Technologien, Interessen, Moden und vielen nicht zu beeinflussenden und nicht vorhersehbaren Ereignissen. Erfolgreiche Manager mussten das schon immer im Kopf haben und ihre Strategien darauf ausrichten. Insofern holt das Modell et was nach, was in der Praxis bereits üblich war. Positiv ist, dass die Ökonomie im Rahmen der Business EcosystemsForschung jetzt ver sucht, die Organisation neu zu ordnen. Sie zeigt Strukturen auf, be nennt und bewertet Rollen und belegt sie mit neuen Begriffen. Mit dem neuen Leitbild fügt sie eine Prise (Sozial)Darwinismus hinzu. Mit der Metapher Business Ecosystems (Abbildung 12) möchte man der wachsenden Unüberschaubarkeit einen Ordnungsrahmen geben. Sie enthält viel von dem, was wir bei der digitalen Transfor mation und den Netzwerkorganisationen schon kennengelernt ha ben. Eine der wesentlichen Ursachen dieser Komplexität, die aus der Informatisierung und dem Internet resultieren, wird allerdings nicht zum Thema gemacht. Sie sind es, die Organisationen und Pri vathaushalte über weltweit verteilte Rechner verbinden und die Begrenzungen von Zeit und Ort aufheben. Alle Nutzer werden zu Knoten im Netz und können über das Internet kooperieren, sich aber auch bis aufs Messer bekämpfen. Bilder wie Räuber, Opfer, Beute und Parasiten passen hier durchaus. Das „Wesentliche“ der digitalen Transformation, die Zerstörung ganzer Branchen der „alten“ Ökonomie bei gleichzeitiger Monopol bildung der „neuen“ digitalen Ökonomie, wird allerdings nicht gesehen. Die ungeheure Dynamik der digitalen Transformation sowie die Angriffslust und das Sendungsbewusstsein der kaliforni schen Internetkonzerne, mit ihren Technologieanwendungen die <?page no="247"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 246 ideale Welt schaffen zu können, werden nicht zum Thema gemacht. Die Business EcosystemsAnsätze verbleiben in der analogen Welt der „alten“ Ökonomie. Das Wesen und das „Wesentliche“ der digi talen Transformation ist dabei kein Thema 25 . Auch wenn die Betriebswirtschaftslehre die digitale Transforma tion eigentlich noch nicht zur Kenntnis genommen hat, so heißt das nicht, dass Betriebswirte sich nicht mit digitalen Themen befassen. Sie machen das kleinteilig, indem sie einzelne Parzellen beforschen, ohne die Zerstörung ganzer Branchen und Arbeitsmärkte und, wie Lanier bemerkt, den damit verbundenen ökonomischen Kultur wandel als Herausforderung zu begreifen. Betriebswirte und Wirt schaftsinformatiker lassen sich beispielsweise begeistern von The men wie der interaktiven Wertschöpfung bzw. Crowdsourcing, um Konsumenten und Bürger stärker in die betrieblichen Innovations und Wertschöpfungsprozesse einzubeziehen. Ansätze sind auch beim Zukunftsthema Industrie 4.0 bzw. der Smart Factory erkenn bar, wo auf Arbeiten zum ComputerIntegratedManufacturing (CIM) zurückgegriffen werden kann. Auch das Thema Big Data wird bei ihnen sicherlich noch lange Zeit ganz oben stehen. Sie isolieren dabei fast immer den „Homo oeconomicusTunnel blick“, will heißen, sie beforschen, wie die jeweilige Technologie zur Nutzenmaximierung im Sinne von Rationalisierung und Automati sierung nutzbar gemacht werden kann. In Übereinstimmung mit ihrer Sozialisation überlassen sie „Nebenfolgen“ und Wechselwir kungen anderen. Fassen wir zusammen: Die Business EcosystemsAutoren bieten der Ökonomie einen Strukturrahmen an, der „die wilde Welt da draußen“ einbezieht. Die Autoren beschreiben jedoch weder die Dynamik noch die Ursachen der stattfindenden Veränderungspro zesse. Die Herausforderungen der digitalen Transformation werden als betriebswirtschaftliches Optimierungsproblem behandelt. Ein Verständnis über die Ursachen und Folgen der ökonomischen Zer störung ganzer Branchen und Beschäftigungsverhältnisse wird nicht aufgebaut, mit der Folge, dass das Management weiter hek tisch auf immer neue Zumutungen von Google & Co. reagieren <?page no="248"?> 2. „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen 247 wird. Der Strukturrahmen berücksichtigt Umwelteinflüsse, baut aber auch hier kein vertieftes Verständnis der Zusammenhänge auf. Hinsichtlich der Ökonomie 2.0 kann der Business Ecosystems Ansatz kaum Orientierung geben. Noch eine Anmerkung: Der mit der Business Ecosystems Metapher aufgespannte Denkraum ist mit seinen Naturassoziatio nen auf den ersten Blick eingängig. In ihm verstecken sich jedoch normative Wertsetzungen, die wenig mit einem demokratisch ver fassten Staat zu tun haben, sondern mit dem in der Natur geltenden Recht des Stärkeren. So schimmert durch, dass es eigentlich nichts zu regulieren gibt und dem Stärkeren der Sieg gehört. Kritische Re flexion dieser entgrenzten Ökonomie oder Vorschläge, wie nicht wünschenswerte Entwicklungen zu verhindern oder wie Schwäche re vor Schaden zu bewahren wären, was Leitbild der sozialen Marktwirtschaft ist, finden sich in den Business Ecosystems Ansätzen nicht. Nach Berücksichtigung sozialer „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen sucht man vergebens. Es ist die neoliberale Per spektive durch die Hintertür. Mit dem Aufkommen von Internetkonzernen und ihrer globalen ökonomischen Machtergreifung steht erneut ein Metaphernwechsel an. Neue Merkmale und Strategien treten auf, die mit den Begriffen Netzwerkorganisationen oder Business Ecosystems nur noch unzu reichend abgebildet werden können. Die Epoche der Spinnennetze beginnt. Doch bevor wir darauf eingehen und ein Modell für die Architektur der digitalen Gesellschaft entwickeln, zunächst noch einige Anmerkungen zur Bedeutung der „Nebenfolgen“ und Wech selwirkungen. 2. „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen Treten bei ökonomischen oder technischen Innovationen negative Auswirkungen für die Gesellschaft auf, so wird verschämt von „Nebenfolgen“ gesprochen. Es ist üblich, den ökonomischen und technischen Zielsetzungen Priorität einzuräumen. Für die anfallen den, nicht verwertbaren Reste hat dann der Einzelne oder die Um <?page no="249"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 248 Eine Ursache der Haltung, „Nebenfolgen“ nicht zur Kenntnis zu nehmen, liegt in der Verabsolutierung des Leitbildes Homo oeconomicus. welt die Lasten zu tragen. Gegebenenfalls wird auch dem Staat die Verantwortung zugeschoben, sofern Gesetze oder Verordnungen dies nicht verhindern. Viele „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen fallen nicht einfach unter den Tisch, indem man sie negiert. Sie tauchen irgendwo und irgendwann wie ein Bumerang wieder auf: „Die Gesellschaft ver ändert sich nicht nur durch da s, was gesehen und gewollt, sondern auch durch das, was nicht gesehen und nicht gewollt wird. Nicht die Zweckrationalität (...) sondern die Nebenfolge wird zum Motor der Gesellschaftsgeschichte (...) Nebenfolgen bleiben selten Nebenfol gen“, so Ulrich Beck. Er dominiert und formt nicht nur Unternehmen nach seinen Vorstellungen. Es ist selbstverständlich geworden, erst dann über die „Nebenfolgen“ zu sprechen, nachdem der Homo oecono micus die Bühne besetzt hat und sie beherrscht. Gleiches gilt für den Homo informaticus. Mit dem Euphemismus „Nebenfolgen“ sollen sich dann andere beschäftigen, z.B. die Arbeits, S ozial und Recht wissenschaften. Ihre Erkenntnisse und Empfehlungen erreichen selten wieder die Vertreter des Homo oeconomicus oder informati cus, selbst wenn sie in der Lage sind, den technischen oder ökono mischen Sachverhalt annähernd zu durchdringen. Zuweilen verstecken Hersteller, Verbände und auch Wissen schaftler den Homo oeconomicus in positive Leitbilder. Beispie le waren vo r Jahren „Das papierlose Büro“ und „Die menschenleere Fabrik“. Sie werden heute belächelt, haben aber lange ihre Funktion erfüllt. Auch der Umgang mit gesellschaftlichen Wechselwirkungen ist in der Ökonomie nicht besonders ausgebildet. Verbreitet sind statt dessen fachbezogene „wenndannBeziehungen“ oder Annahmen, wie „unter Konstanthaltung aller übrigen Parameter (ceteris pa ri bu s)“. Das ist zu wenig, sofern man die digitale Gesellschaft verste hen will. <?page no="250"?> 2. „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen 249 Bleiben Wechselwirkungen und „Nebenfolgen“ außen vor, so sperrt man unbemerkt ethische Fragestellungen aus. Thomás Sed lácek fragt in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“, wie es dazu kam, dass die Ethik aus der Ökonomie verschwand. Er sieht den Ausgangspunkt bei der Interpretation der Schriften von Adam Smith, bei der allein die „unsichtbare Hand“ zusammen mit der Selbstsucht der Menschen herangezogen werden. Sie bringen die Märkte scheinbar wie von selbst in ein wünschenswertes dauerhaf tes Gleichgewicht. Neben dem vielzitierten „Wohlstand der Natio nen“ aus dem Jahre 1776 wird seine „Theorie der ethischen Gefüh le“ (1759) in ökonomischen Kreisen kaum erwähnt. Dort findet sich u.a. der Satz: „Gerechtigkeit dagegen ist der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt“. Ohne die ethischnormative Einbindung fällt es leicht, die Öko nomie als allein relevante Grundlage der Gesellschaft darzustellen, aus der sich alle Handlungen des Individuums ableiten lassen. Die Ökonomie meint alles über diesen einen Parameter und dessen Re präsentanten, den Homo oeconomicus, erklären zu können. Wenn Werte und Normen nicht berücksichtigt werden, dann wird es möglich, die Ökonomie nach dem Vorbild der Naturwis senschaften zu formen und den Menschen in seinen Handlungen, Interessen und Emotionen auf einen rationalen Agenten zu reduzie ren. Er kann dann der Mathematisierung unterworfen werden. Es wird möglich, ihn nach den dort geltenden Kriterien zu optimieren und ihm die daraus entstehende Rationalität als gültiges Vorbild darzustellen. Entsprechende Belohnungs und Anreizsysteme geben ihm die Richtung vor. „Abweichendes soziales Verhalten“ ist hier nicht vorgesehen. Auf diese sich selbsterfüllende Wechselwirkung hat auch Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego - Das Spiel des Lebens“ hinge wiesen: Mit dem Homo oeconomicus werden aus der Individualität des Menschen lediglich seine Präferenzen und die Nutzenmaximie rung isoliert. Nach Schirrmachers Auffassung konnte dieses Men schenbild durch die Einführung des Computers auf einen neuen Höhepunkt zutreiben. Es wurde ökonomisch attraktiv, die Präfe <?page no="251"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 250 renzen von Menschen und ganzen Gesellschaften in Echtzeit zu berechnen, was uns in seiner schärfsten Ausprägung unter der Me tapher Big Data beschäftigt hat. Individuum und Gesellschaft wer den zu einem auf den Rechner transferierbaren und auf Präferenzen reduzierbaren mathematischen Objekt. „Was aber, wenn die Wirk lichkeit genau zu diesem Automaten wird? Was, wenn aus der Welt zunehmend eine große Maschine wird, die genauso operiert? ... Das Problem ist, dass wir Zeugen eines Umbruchs werden, in dem diese Modelle die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden“. Realistischer, aber weniger leicht zu modellieren, ist der Mensch als Mensch, der sich nicht durchgängig ökonomisch rational ver hält. Er wird nicht nur von der Maximierung seines Eigennutzes geleitet und ist auch nicht allein an der betriebswirtschaftlichen Gewinnmaximierung interessiert. Der Mensch als Beschäftigter wie als Konsument ist ein eingeschränkt rationales und zugleich emoti onales Wesen. Ein Modellentwurf erzwingt immer eine Abstrakti on. Sie ist auch ein legitimes Mittel für die Ökonomie, so Emile Dürkheim, aber: „Eine Abstraktion besteht in der Isolierung eines Teils der Realität, nicht indem man sie verschwinden lässt“. Es finden sich in der Unternehmensführungslehre durchaus sehr fortschrittliche Ansätze. So etwa bei Michael E. Porter, dem Altmeis ter der modernen Managementlehre, der zusammen mit seinem Kollegen Mark R. Kramer versucht, dem Management und der Verhaltensökonomie mit der Metapher Creating Shared Value eine neue Richtung aufzuzeigen. Ihre Vorschläge in einem Harvard Bu siness ReviewBeitrag: gleichzeitiges Verfolgen ökonomischer und gesellschaftlicher Ziele. In der Vergangenheit habe sich die Wirt schaft auf Kosten der Gemeinschaft bereichert: „Durch den Shared Value konzentrieren sich die Unternehmen auf die richtige Art von Gewinnen - Gewinne, die auch der Gesellschaft Vorteile bringen, anstatt ihr zu schaden ... wir brauchen eine fortschrittliche Form des Kapitalismus, eine, die auch einen gesellschaftlichen Sinn erhält“. Viele Akteure im Management werden milde lächeln, da das doch längst in die soziale Marktwirtschaft und in die nachhaltige <?page no="252"?> 2. „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen 251 Ökonomisches Handeln ist durch Werte, Normen, Innovationen bestimmt, die sich im gesellschaft lichen Kontext formen und verändern. Wirtschaft „eingeschweißt“ sei oder da dies, angesichts des globalen Wettbewerbs, wohl eher als wohlmeinender Appell einer in die Jahre gekommenen ManagementIkone abzubuchen sei. Porter und Kramer haben mit der Erwähnung des gesellschaftlichen Kontextes und der Relativierung der individuellen Sicht, einen bemerkenswer ten Perspektivenwechsel vorgenommen. Solange betriebswirtschaftliches Denken und Handeln allein auf Nutzenebene eingehegt ist, wird ausgeblendet, dass Individuen wie Unternehmen in einen gesellschaftlichen Kontext aus politischen, sozialen, technischen und kulturellen Einflüssen eingebettet sind. Dieser befindet sich heute, vor allem durch informationstechnische Innovationen, in einem rasanten, permanenten Umbau. Er zwingt die Akteure, Verhalten und Entscheidungen damit in Einklang zu bringen. Erst wenn die Einbettung in den gesellschaftlichen Makro kontext mitgedacht wird, können Verhalten und Anpassungszwän ge auf der individuellen Ebene verstanden werden. Es zeigt sich dann, dass auch andere Pfade möglich sind und ökonomische Rati onalität nicht nur den nutzenkalkulierenden oder von Emotionen gelenkten Individuen geschuldet ist. Sie wechselwirken mit dem ökonomischen Handeln. In einer Welt, die immer stärker durch die digitale Transformation bestimmt wird, ist die Informationstechnik nicht hauptverantwort lich, aber ein starker Katalysator und Beschleuniger der gesellschaft lichen Veränderungen, mit „Nebenfolgen“ für Arbeit, Leben, Bil dung und Gemeinschaft. In dieser Perspektive werden die Wechselwirkungen zu einem tragenden Baustein, die Transparenz herstellen können zwischen dem, was im Dreieck von individueller Ebene, gesellschaftlichem Kontext und dem Einfluss der Informatisierung passiert. Auch die „Nebenfolgen“ können nicht mehr ins Nirwana verschoben wer den, sie lassen sich jetzt verorten und zurechnen. Das Gesichtsfeld der Ökonomie erweitert sich, die Disziplin gewinnt an Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit. <?page no="253"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 252 Die Herausforderung ist, eine Alternative zu dieser kulturell und wissenschaftlich geronnenen Struktur des ökonomischen Mainstreams zu entwerfen. Unsere Empfehlung, die Perspektive Wirtschaft und Gesellschaft zu verbinden, um den Prozess der digitalen Transformation verste hen zu können, ist nicht so ganz neu. Sie hat in Max Weber eine große Tradition. Auch aktuelle wirtschaftssoziologische Forschun gen des MaxPlankInstituts für Gesellschaftsforschung (Beckert, Streeck) gehen diesen Weg. Gemeinsam ist ihnen die Kritik an der abstrakten ökonomischen Theorie des stets effizient handelnden Menschen. Sie beansprucht, ein umfassendes Erklärungsmodell zu haben. Dabei lässt sie die Einbettung des Menschen in soziale Struk turen, Netzwerke und gesellschaftliche Normen und Kulturen au ßen vor. Sie wird damit der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Wird diese Kritik akzeptiert, so werden die historisch gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen zum Überbau oder, ganz wie man will, zur Basis der Erklärungsmodelle. Ihre kaum zu mathe matisierenden Eigenlogiken kommen dann erst nachrangig zur Gel tung oder sind mit Formeln und Algorithmen nur sehr begrenzt in den Griff zu bekommen. Um nicht missverstanden zu werden: Das Streben nach Effizienz und Produktivität ist weder verwerflich noch überflüssig. Kritisiert wird zum einen das Dogma, dass Individuen und Gesellschaft al lein von diesen Zielen geleitet werden (sollten), ohne dass ihre Ein bettung in gesellschaftliche Kontexte zur Kenntnis genommen wird. Diese sind es nämlich, die gerade in Zeiten digitaler Innovationen von den Individuen eine permanente Anpassung erzwingen. Die Wirtschaftssoziologen bringen es in ihrer Sprache so auf den Punkt: Ökonomische Rationalität und Märkte entspringen nicht der sponta nen Ordnung nutzenkalkulierender Individuen, sondern sie sind sozial, politisch und kulturell erzeugt. In den angesprochenen Wis senschaftsdisziplinen ist das prinzipielle Ausblenden aller „Neben folgen“ und Wechselwirkungen systematisch angelegt, mit der Folge, sie der Gesellschaft aufzuhalsen und sich aus dem Staub zu machen. Den Modellathleten Ho mo oeconomicus und Homo informaticus ist schlicht und einfach der <?page no="254"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 253 „lebendige Mensch“ gegenüberzustellen, der in sozialen Gemein schaften lebt, von Interessen und Moral geleitet ist und heute in Wechselwirkung mit der digitalen Gesellschaft steht. Die „Neben folgen“ und Wechselwirkung sind dabei ans Licht zu bringen. Wir haben den emotionalen Menschen in dynamische politische, infor mationstechnische, makroökonomische, kulturelle und historische Kontexte eingebettet, die auf die betriebswirtschaftliche Rationalität je nach Kontextsituation Einfluss nehmen. Diese ist vor allem das Resultat gesellschaftlicher Machtspiele, in denen um Werte, Nor men, Profite, Herrschaftspositionen und Leitbilder gekämpft wird. Einen Orientierungsrahmen, der diesen Herausforderungen ange messen ist, wollen wir im folgenden Abschnitt vorstellen. 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation Das Business EcosystemModell hat gegenüber älteren ökonomi schen Sichtweisen zwei Verbesserungen gebracht: Es geht über die Grenzen eines einzelnen Unternehmens hinaus und bezieht assozi ierte und konkurrierende Organisationen sowie Regulierungen, z.B. durch staatliche Gesetze mit ein. Außerdem betrachtet diese Sicht weise die ökonomische Welt nicht als neutrale Veranstaltung auf friedfertigen Märkten, sondern als Kämpfe im Dschungel. In jedem Fall hat sie mit dieser Annäherung an die Wirklichkeit hinsichtlich des Geschehens auf entgrenzten Märkten wichtige Vorarbeiten ge leistet, auch wenn es mit der kritischen Reflexion nicht weit her ist. Ihr Manko ist die Nichtberücksichtigung der digitalen Transforma tion. Die Aufgabe besteht also darin, einen Orientierungsrahmen für die Digitale Transformation zu entwickeln, der der Informatisie rung eine prominente Rolle zuweist. Die Grundmauern des MikropolisModells Die Referenzgrafik Abbildung 13 zeigt das „Ökosystem“ des Un ternehmens Siemens AG. Es besteht im Mikrokontext aus Niederlas sungen, Montagewerken, Lieferanten, Wettbewerbern, Konsumen <?page no="255"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 254 ten, ausgelagerten Projekten und Freelancern sowie staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen mit ihren Einflussnahmen und Re gulierungen im Makrokontext. Im Mikrokontext kommen jetzt globa le ITAnbieter, wie z.B. IBM, SAP oder Oracle, aber auch Informatik Fakultäten von Universitäten hinzu, die permanent die ITBedarfe in unserem Fall der Siemens AG beobachten und ITProdukte und Dienstleistungen entwickeln und Siemens anbieten (Technology push). Gleichzeitig beobachtet und kauft die Siemens AG ständig neue ITEntwicklungen, um Innovationen und Produktivitätsver besserungen erzielen und im Wettbewerb mithalten zu können (Demand pull). Abbildung 13 / Ausgangsgrafik des MikropolisModells Die Referenzgrafik des MikropolisModells 26 zeigt die Innovations spirale im Mikrokontext zwischen ITanwendenden Unternehmen - wie beispielhaft der SIEMENS AG - und globalen ITAnbietern und den Konsumenten. Der Mikrokontext ist eingebettet in den Makro kontext bzw. in die Lebenswelt, verbunden durch Wechselwirkun gen und „Nebenfolgen“. In den meisten Fällen bestehen Innovationen aus kleineren An passungen und Verbesserungen. Die ITExperten in den Unter nehmen beobachten die ITMärkte, indem sie Messen besuchen, die <?page no="256"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 255 Fachpresse lesen und sich von Unternehmensberatungen und Soft warehäusern informieren lassen. Auf diese Weise senden sie lau fend Signale in Form von Anfragen und Anforderungen an Herstel ler, Entwickler und an die Informatik, die dadurch möglicherweise zu neuen Innovationen angeregt werden. Innovationen erklären sich zu einem guten Teil aus Wechselwir kungen und Rückkopplungen: Diese „Innovationsspirale“ ist der Nährboden für immer neue ITEntwicklungen, die von den anwen denden Organisationen genutzt werden. Innovationsentwicklung ist damit nichts anderes als ein vielfältiger, unaufhörlicher Zuge winn an Erkenntnissen und Modifikationen bestehender Lösungen, der sich in dieser nie endenden Spirale abspielt. Anwendende Or ganisationen können sehr unterschiedlich sein: Große Konzerne, Klein und Mittelbetriebe oder auch das Department of Defense, wobei letzteres wohl eher Forschungs und Entwicklungsaufträge an ITHersteller vergiebt. Das Innovationstempo ist von vielen Faktoren abhängig, z.B. von der Wettbewerbssituation der Märkte, der Forschungsinfrastruktur sowie dem Vorhandensein von Innovationsmilieus. Entscheidend ist darüber hinaus, ob die Kunden bzw. Konsumenten die IT Produkte akzeptieren, kaufen und bedienen können, aber auch von Marketingaktivitäten und der Marktmacht der Hersteller. Der Mikrokontext ist eingebettet in den Makrokontext, d.h. in die Gesellschaft mit ihren dort herrschenden kulturellen Normen, Wer ten und Gesetzen. Ökonomische Theorien und Leitbilder, die sich im Homo oeconomicus zum Sachzwang verdichten, nehmen eben so Einfluss auf den Mikrokontext wie Moden und Mythen, Traditi onen, der Stand des Wissenschafts und Bildungssystem, Umwelt und Datenschutzstandards. Umgekehrt stellen die Akteure im Mikrokontext Forderungen an die Gesellschaft, z.B. mehr Subventio nen und Programme für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Die Prozesse im Mikrokontext haben Folgen für den Alltag, sie können den Arbeitsmarkt und die Umwelt verändern. Insgesamt erkennen wir einen Prozess der ITInnovationsentwicklung, der in ein Bündel von Wechselwirkungen und „Nebenfolgen“ eingebun <?page no="257"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 256 den ist, an dem Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Machtpotentialen beteiligt sind. Bei all dem ist zu bedenken, dass in jeder Gesellschaft im Laufe der Zeit viele Gesetze und institutionelle Regelungen zu Strukturen geronnen sind. Sie steuern und kontrollieren das Zusammenleben und nehmen Einfluss auf Innovationen, versuchen sie zu lenken, zu beschleunigen oder zu hemmen. Wir haben den „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen von An fang an eine prominente Rolle zugewiesen. Sie lassen sich jetzt ver orten und verfolgen. Mikrokontext und gesellschaftlicher Makro kontext sind, um erneut eine Metapher zu bemühen, durch eine Membran getrennt. Eine Membran grenzt ab, sie ist jedoch von bei den Seiten durchlässig. So nehmen einerseits Wertvorstellungen, Normen und gesetzliche Regelungen der Gesellschaft Einfluss auf den Prozess der Digitalisierung im Mikrokontext. Andererseits können Innovationsprozesse im Mikrokontext gesellschaftliche Spannungen und Anpassungen im Makrokontext hervorrufen, z.B. indem neue Arbeitsplätze geschaffen werden und andere entfallen. Die Einbettung des Mikrokontextes in den gesellschaftlichen Makrokontext über die MembranMetapher ist ein entscheidender Schritt, um Orientierung über die in der Digitalen Welt auftreten den „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen in den Blick zu be kommen. Die traditionellen ökonomischen und technischen Diszip linen durchbrechen die Membran nur insoweit, dass sie daraus In formationen für die technische bzw. ökonomische Optimierung beziehen können. Durch die Rekultivierung der „Nebenfolgen“ und Wechselwir kungen wird der disziplinäre Tunnelblick überwunden. Sozialwis senschaften und Volkswirtschaftslehre können sich mit ihrer Fach expertise einklinken und Fundiertes zu den Veränderungsprozes sen beitragen. Das ist übrigens nicht so ganz neu, erinnert sei an die große deutsche Tradition, u.a. an Max Weber und sein Werk „Wirt schaft und Gesellschaft“. Er und andere waren längst vor fast einem Jahrhundert soweit, gerieten aber durch den Siegeszug der, gesell <?page no="258"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 257 schaftliche Kontexte ignorierenden Betriebswirtschaftslehre wie der mathematisch ausgerichteten Wirtschaftstheorie in Vergessenheit. In Anlehnung an Jürgen Habermas Theorie des kommunikativen Handelns lässt sich die Beziehung Mikro/ Makrokontext durch das Begriffspaar System und Lebenswelt ersetzen. Kommerziell handeln de Akteure und Organisationen zählt Habermas zur Systemwelt. Sie sind in den Makrokontext der Lebenswelt eingebettet, in der die Dis kurse über Veränderungsprozesse stattfinden sollten. Hier formen sich in einer demokratischen Gesellschaft im Idealfall neue gesell schaftliche Entwicklungen. Altes wird in Frage gestellt, etwa Ge wohnheiten, kulturelle Überlieferungen oder moralische Prinzipien. Neue technische Erfordernisse und Qualifikationen kommen auf und werden in der Lebenswelt bewertet. Für Habermas sind die Akteure der Systemwelt in der technisier ten Welt wesentlich stärker geworden als die in der Lebenswelt, dort wo eigentlich gesellschaftliche Entwicklungen ausgehandelt werden sollten: „ ... die Imperative der verselbständigten Subsyste me dringen ... von außen in die Lebenswelt - wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - ein und erzwingen die Assimilation“. Die Systemwelt bilden z.B. Spezialisten heraus, die losgelöst und verselbständigt von der Alltagspraxis handeln und nach und nach für die Lebenswelt Sachzwänge schaffen. Als Habermas diese Zei len schrieb, war die Informatisierung der System wie Lebenswelt noch in den Anfängen. Für Habermas ist die Technik ein Medium der Kontrolle wie des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sie führt nach seiner Auffassung zur Aufspaltung der Beschäftigten „in das zweckrationale Verhalten der Wenigen, die die zweckrationalen Systeme einrichten und die technischen Störungen beheben, einerseits“ und „in das adaptive Verhalten der Vielen, die in den Routinen der geregelten Systeme eingeplant sind, andererseits“ 27 . Schirrmacher hielt Habermas Sätze für die passende Beschreibung der digitalen Moderne, mit der die Differenz von Vermögenden auf den Punkt gebracht wird. Noch eine kurze Anmerkung, die auf die Dynamik des Architek turmodells hinweist: Wechselwirkungen und Nebenfolgen sind die <?page no="259"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 258 Auslöser für immer neue Konstellationen. Sie sind es, die Anstöße und Anregungen für Innovationen geben. Werden diese Prozesse über die Zeit verfolgt, so werden die konfliktreichen Prozesse und die erfolgreichen wie erfolglosen Pfadverläufe der Vergangenheit sichtbar. Den historischen Blick interessiert dann, warum ist etwas so verlaufen und nicht anders? Welche Akteure bzw. Konstellatio nen haben die Weichen gestellt? Gab es andere Optionen? Warum sind sie nicht zum Zuge gekommen? Die Potenziale, die in dieser Sicht liegen, zeigen Weichenstellungen auf, die Einfluss auf die Entwicklung genommen oder das Beschreiten alternativer Entwick lungspfade unwahrscheinlich gemacht haben. Durch Berücksichtigung der Pfadverläufe können Gegenwart und zukünftige Innovationspfade besser eingeschätzt werden. Die Berücksichtigung der Handlungen und Pfade führt uns vor Augen, dass vorhergehende Entscheidungen nachfolgende prägen. Ge troffene Entscheidungen haben verstärkende Effekte - so entsteht eine spiralförmige Dynamik, in (Abbildung 13) angedeutet durch die gebündelte, in der Realität unendliche Anzahl von Pfeilen bzw. Kanten. Das „history matters“ kommt in den Blick. Der Techniknutzungspfad macht erfolgreiche und misslungene In novationen transparent. In den Strukturen kommen „die geronne nen Handlungen der Sieger“ zum Vorschein. Dort zeigt sich auch, was sich am Markt, in Organisationen und in der Informatik an Leitbildern, Modellen, Methoden, Produkten und Werkzeugen durchgesetzt hat. Die Metapher „Pfad“ deutet an, dass wir es nicht mit einer eng begrenzten, durch technische oder ökonomische Sachzwänge de terminierten Wegstrecke - etwa einem ökonomisch determinierten „Konstruktionskorridor“ - zu tun haben. Vielmehr sind Verzwei gungen, Alternativen und Optionen möglich (gewesen). In Abbil dung 6 haben wir beispielhaft die Entwicklung der digitalen Zah lungssysteme dargestellt. Einen großartigen Vordenker und Wegbereiter dieser Sichtweise finden wir in dem französischen Philosophen Foucault. Er betrach tete historische Ereignisse und Epochen, um die NichtSelbstver <?page no="260"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 259 ständlichkeit von Praktiken aufzuzeigen, die uns heute selbstver ständlich erscheinen und wo es schwerfällt, sich Alternativen vor zustellen, z.B. in Gefängnissen oder in der Medizin. Die historische Betrachtung nutzt Foucault, um Kritik an den scheinbar selbstver ständlichen Institutionen der Gegenwart zu üben. An ihrer Entste hung und Erhaltung waren oftmals Macht, Unterdrückung und Interessen beteiligt, denn es gab und gibt noch andere Entwürfe. Um zur Definition des „Normalen“ (Gesundheit, Wahrheit, Recht) zu gelangen, schlägt Foucault vor, das Ausgegrenzte, das Erfolglose zu betrachten. Mit diesen „Grundmauern“ wollen wir ein transdisziplinäres MikropolisModell schaffen, das einige Herausforderungen der digitalen Transformation abbilden kann. Es ist ein anderer Ansatz als ihn die Ökonomie schätzt. Sie neigt mit ihren mathematischen Modellen eher dazu, Kleinigkeiten oder auch Irrelevantes zu erklä ren, und dafür höchste Anerkennung einer kleinen Forscherge meinde zu erhalten, was beispielsweise auch Thomas Piketty kriti siert. Grenzgänge zu anderen Disziplinen, z.B. zu den Geschichts wissenschaften, um sie für ökonomische Fragen zu nutzen, bringen dagegen keine Lorbeeren. Im Gegenteil, man katapultiert sich damit schnell aus dem Karriere und Reputationspfad heraus. Doch es sind erste Anfänge erkennbar, dass sich diese disziplinär eingeigelte Position rechtfertigen muss. Thomas Piketty macht dies in einem Interview der Süddeutschen Zeitung deutlich: „Aber man kann einen Doktortitel bekommen und eine ganze Karriere darauf aufbauen, allein Theoreme zu beweisen. Ohne ein einziges Mal auf Daten aus der Realität zu schauen oder den gesunden Menschen verstand zu benutzen. Das ist doch verrückt und muss sich ändern. Wir sollten nicht soviel über Methoden streiten und stattdessen versu chen, echte Probleme anzupacken. Man greift zur Geschichtswissen schaft, wenn es passt, an anderen Stellen zur Soziologie oder zur Sta tistik. Wir Universitätsprofessoren werden vom Steuerzahler finan ziert. Wir sollten uns nützlich machen“. <?page no="261"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 260 Die PlattformÖkonomie der Spinnennetze Es begann bekanntlich alles damit, dass kalifornische Tüftler in ih rer Freizeit kleine Rechner entwickelten, sie an ihre Bedürfnisse an passten, passende Software entwickelten und sich gegenseitig mit neuen Ideen überraschten. Die Loslösung von ökonomischen Zwe cken öffnete das Tor zu immer mehr Innovationen. Die Tüftler er warben ihre Kenntnisse häufig an Universitäten, verließen sie oft vorzeitig und entwickelten ihre Qualifikationen autodidaktisch wei ter. Wie konnten daraus in kaum zwanzig Jahren Spinnennetze ent stehen, die dabei sind die globale Ökonomie und das Zusammenle ben radikal zu verändern? Mit der Informatisierung durch Internet und anschließend bald aufkommenden neuen Technikprodukten wie Smartphone, Tablet, Laptop und Cloud entwickelte sich neben der klassischen Innovati onsspirale zwischen Organisationen und ITHerstellern eine zweite. Bei dieser ging es zu Anfang darum herauszufinden, wie Computer und Internet in der Lebenswelt nützlich sein könnten, um dann die Handlungsmöglichkeiten in der Lebenswelt zu erweitern. Die klassische erste Innovationsspirale ist ein ökonomisches In dustrieprodukt. Viel Geld, große Investitionen und viel Manpower waren erforderlich, um Großrechner und Programme zu erstellen und in den ITanwendenden Unternehmen zum Laufen zu bringen. Es wird noch heute daran gearbeitet. Die zweite Innovationswelle mit PC und Internet wollte zunächst vor allem die Menschen in der Lebenswelt mit ihren Produkten „beglücken“. Sie konnte auch mit vielen technisch kompetenten und leidenschaftlichen Programmie rern und ohne MillionenDollarInvestitionen ins Werk gesetzt werden. Deshalb beteiligten sich vermutlich auch viele politische Querdenker daran. Sie verbanden damit die Hoffnung, den herr schenden Ökonomisierungspfad zu überwinden und dem Homo oeconomicus den Garaus machen zu können (Abbildung 14). Mit dieser zweiten Innovationswelle begann eine Spaltung der Entwickler und Nutzer, die bis heute anhält: Auf der einen Seite Open SourceProjekte, die mit der AllmendeIdee sympathisieren <?page no="262"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 261 Abbildung 14 / Die kalifornischen Anfänge und die Welt mit Computer und Internet verändern und ihre Kom petenzen der Gemeinschaft zur Verfügung stellen wollen. Auf der anderen Seite die bewunderten Leitfiguren der „neuen“ Ökonomie Bill Gates, Steve Jobs, Sergey Bin, Larry Page, Jeff Bezos und Marc Zuckerberg, die nicht nur Milliardäre wurden, sondern für einen ökonomischen InternetImperialismus stehen. Sie sind für viele technikaffine junge Leute Motivation und Ansporn. Viele Politiker tun alles, diese Bewegung für ihre Staaten zu imitieren. Dazwischen viele junge Hochqualifizierte, die nicht in Bürokratien wegtauchen wollen, sondern „in Freiheit“ etwas gestalten wollen und sich noch nicht entschieden haben, ob sie Millionäre werden oder Weltverbes serer bleiben wollen, oder beides. Wir finden „Sympathisanten der Künstlerkritik“, die in Startups ihren beruflichen Traum verwirkli chen wollen. Und dazwischen auch viele „Kümmerexistenzen“, die von ihrer Leidenschaft kaum leben können. Vielfältige Kreuzungen und Übernahmen zwischen Systemwelt und Lebenswelt prägen heute ein unübersichtliches und kaum stabiles Bild. Was wohl ein <?page no="263"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 262 deutig ist, die kalifornischen Garagenfirmen waren die Brutstätten für die heutigen Spinnennetze. Die Grafik zeigt die kalifornischen Anfänge: Mit der Entwicklung von PC und Internet kommt eine neue Gründer und Innovations szene auf. Mit dieser zweiten Innovationswelle entsteht eine Spal tung der Entwickler und Nutzer in der Motivation, die bis heute fortlebt: Auf der einen Seite Entwickler, die die Welt mit Computer und Internet verändern wollen. Auf der anderen Seite diejenigen, die Millionäre werden möchten, wie ihre bewunderten Leitfiguren Bill Gates, Steve Jobs etc. An Google lässt sich zeigen, wie sich die Spinnennetze in kurzer Zeit entwickeln konnten. Zu Anfang war eine bestechende Innova tion, die die Konkurrenz alt aussehen ließ. Es war die Fähigkeit, Suchergebnisse aufgrund ihrer Zitierhäufigkeit zu ranken und sie für den Nutzer attraktiver und schneller als die Konkurrenz bereit stellen zu können. Firmen, die Werbeanzeigen schalteten, kamen schnell hinzu und schafften die finanzielle Basis, um die Führungs rolle in diesem Plattformsegment übernehmen zu können. Und Google erkannte schnell, so Gabor Steingart, dass die Bodenschätze der Zukunft in den Datensätzen der Menschen verborgen sind und machte sich zügig dran, diese Datenmine auszubeuten. Die Nutzer nahmen die Plattform als faszinierende Innovation auf, schnell schob Google weitere Dienstleistungen und Produkte nach. Google konnte aufkommende Startups und Smart creatives, die innovative Spezialangebote vorweisen konnten, frühzeitig an sich binden. In Wechselwirkung sicherte Google deren Investitionen ab. Google wurde so zum Treiber, der alle Aktivitäten und Funktio nen organisierte, ein attraktives kommerzielles Umfeld schuf und nach und nach Abhängigkeiten aufbaute. Es ist nicht exakt zu ter minieren, wann Google aus der Rolle des Schlüsselakteurs in die des Dominators schlüpfen konnte. Heute beherrscht Google ein globales Netzwerk. Google definiert die Bedingungen und das Geschehen im Netzwerk (Abbildung 15). <?page no="264"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 263 Abbildung 15 / Ein Spinnennetz am Beispiel von Google Das Geschäftsmodell funktioniert gleichzeitig als Innovationsspira le: „Wenn wir Informationen abrufen, füttern wir das System Google und geben uns preis“, so Frank Schirrmacher. Der Rückfluss von personenbezogenen Aktivitäten und ortsgebundenen Daten ist eine Basis für neue Geschäftsmodelle; Google Anwendungen wer den in einem Austauschprozess von Google, SmartCreatives, Start ups und „arbeitenden“ Nutzern entwickelt. Der Fall Google steht nicht nur exemplarisch für eine Handvoll kalifornischer Internetgiganten. Der Wille, Spinnennetze zu weben und Wettbewerb auszuschalten, ist zum Referenzmodell der digita len Transformation geworden. Die Digitalisierung macht dies so leicht wie nie zuvor. Spektakuläre Fälle, die in ähnlicher Weise ver suchen, Monopole zu errichten, sind aktuell Uber und Airbnb. Es muss offensichtlich Faktoren geben, die es besonders leicht machen, Spinnennetze im Zuge der Digitalen Transformation zu etablieren. Noch einmal zur Erinnerung: In einer von Spinnennetzen ge prägten Ökonomie geht es im ersten Schritt um Optimierung, dann <?page no="265"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 264 Mit der digitalen Transformation ist die Wandlung von traditionellen Geschäftsmodellen hin zu digitalen Spinnennetzen zur neuen Leitfigur geworden. um den Aufbau von Abhängigkeit, dann um Einverleiben und letzt lich um Dominierung. Neue Märkte werden durch digitale Innova tionen in der Absicht geschaffen, sie allein zu beherrschen. Gleich zeitig geht es auch um Beutemachen in der alten Ökonomie durch Verwandlung der analogen in digitale Strukturen. Google & Co., Uber und Airbnb sind nur die Spitze eines Eisberges, der zeigt, dass mit der digitalen Transformation eine Rückkehr der globalen Öko nomie zu einem radikalen Neoliberalismus möglich ist und reali siert wird. Die Herrscher der digitalen Transformation haben die Anfänge des Industriekapitalismus als Leitfigur im Sinn. Sie wollen nichts mehr teilen, sondern alles beherrschen. Die Geschäftsmodelle der „alten“ Ökonomie sind in Gefahr, einen Tsunami zu erleben, wenn aus dem Netz Spinnennetze werden, mit Folgen für die ge samte Ökonomie. Eine Reihe von Faktoren, die nur begrenzt in der Technik liegen, hat diesen Pfad geebnet. Er ist deshalb nicht alternativlos. Die typische Biografie von erfolgreichen Spinnennetzen unter halb von Google & Co. lässt sich etwa so beschreiben: Am Anfang steht eine Idee, die beispielsweise von einem Startup zu einem branchenspezifischen Geschäftsmodell entwickelt wird. Investoren werden überzeugt und geben Geld. Die Branche besteht häufig aus vielen verstreuten Klein und Mittelbetrieben, wie wir es bei Hotels kennengelernt haben. Die Initiatoren des Geschäftsmodells bieten dieser Klientel eine digitale Plattform und die Dienstleistung an, als Intermediäre zwischen Konsumenten und den zahlreichen Betrie ben zu vermitteln. Eigentum an den Betrieben muss nicht erworben werden. Aus einem Geschäftsmodell wird eine erfolgreiche digitale branchenspezifische Plattform, wenn digitale Wettbewerber nach und nach übernommen werden. Züge eines Spinnennetzes lassen sich dann erkennen, wenn die langsam erworbene ökonomische Macht zum Nachteil der Klientel ausgespielt werden kann. Das kann heißen, ohne Rücksprache mit seiner Klientel werden einseitig <?page no="266"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 265 Bedingungen durchgesetzt oder es wird eine autoritäre Provisions politik betrieben. Das „BranchenSpinnennetz“ kommt jetzt in die Gefilde der mächtigen kalifornischen Spinnennetze. Diese haben eh schon überall ihre Finger im Spiel, können zugleich mit ihren Datenschät zen agieren und horten zugleich enorme Dollarschätze, die sich durch Werbeanzeigen ohne Anstrengungen vermehren. Welches Startup bzw. „BranchenSpinnennetz“ wird zögern, wenn die Kali fornier anklopfen? Auf Kämpfe wird man sich klugerweise nicht einlassen, denn Kämpfe zwischen Spinnen, die sich ins Gehege kommen, enden für die kleinere in der Regel tödlich. Tradierte Spinnennetze wie Amazon oder Google können mit ih rem Monopol still und unbemerkt Wettbewerber zerstören. Um ihre Waren für einen relevanten Kundenkreis zu öffnen, müssen sich viele Startups darauf einlassen, in die Gefilde der Internetkonzerne zu begeben. Ohne Eintrag auf Seite eins in der Google Suchmaschi ne oder ohne bei Amazon gelistet zu sein, werden die Umsätze al lenfalls lokal Aufmerksamkeit hervorrufen. Die Internetkonzerne können so systematisch die „Schnelldreher“ wie das Verhalten der Konsumenten erkennen. Konkurrierende Geschäftsmodelle werden etabliert und die Wettbewerber hören auf zu existieren, ohne dass der Kunde die Ursachen nachvollziehen kann. Ein sich selbst erfül lendes Weltherrschaftssystem. Was sind die Schlussfolgerungen? Die digitale Transformation wird mit großem Tempo voranschreiten. Branchen der „alten“ Ökonomie werden betroffen sein und zum Teil zerstört werden. Neue digitale Dienstleistungen werden sich durch ein hohes Maß an Komfort und Bequemlichkeit verbreiten. Der internetaffinen Ge neration werden vielfältige Chancen geboten. Sie wird sie in der Mehrheit mit großer Leidenschaft im Sinne des Homo oeconomicus ausfüllen und sie von politischer Bewusstseinsbildung und Diskus sionen der Regulierung abhalten. Eine Minderheit wird versuchen, dem Homo oeconomicus ein Schnippchen zu schlagen und Konzep te der dezentralen und nachhaltigen Entwicklung dagegenzusetzen. Der Kampf um Erhalt der erkämpften sozialen Errungenschaften <?page no="267"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten 266 Der GoogleStratege Eric Schmidt hält indes auch Googles Lebenszeit für endlich, da irgendwo im mer irgendwer „in einer Garage auf uns“ lauert. und des Wohlstandes wird von der Gesellschaft viel Kraft absorbie ren. Um die Definition dessen, was unter gesellschaftlichem Wohl stand verstanden werden sollte wird es verschärfte Diskussionen geben. Die Spaltung in Arm und Reich wird weitergehen, wenn die Politik die Dinge weiterlaufen lässt. Die Entwicklung zur Event Ökonomie mit Ausdünnung der Mittelsch icht und eher labilen Ar beitsverhältnissen dürfte schleichend zunehmen. Er hält Amazon für den größten Konkurrent im Suchbereich, da Konsu menten vor ihrem Kauf immer erst bei Amazon reinschauten. Eric Schmidts Äußerung ist wohl eher als ein Ruf in Richtung Politik zu verstehen, den Schraubstock der Regulierung nicht anzuziehen. Denn die ak tuellen digitalen Monopolisten seien ja ohnehin nur eine vorübergehende Zeiterscheinung, die bei nicht regulierten Märkten von selber über kurz oder lang verschwinden würden. Man sollte hinzufügen, dass Google sein Spinnennetz mehrfach abgesichert hat. Selbst wenn es eine bessere Suchmaschine gäbe, so hat Google noch immer You tube, ist bei Android stark inv olviert, besitzt GoogleMaps und GoogleMail etc. Die Diversifikation der vielen, erfolgreichen Goog leDienste hält einigen Angriffen stand. Versprechen eingelöst? Zu Beginn haben wir unser Anliegen so formuliert: wir wollen den Verlauf der digitalen Transformation beschreiben und dabei eine Alternative zu der Sichtweise des ökonomischen Mainstreams ent werfen, die auf den Homo oeconomicus fixiert ist. Die Wechselwir kungen und „Nebenfolgen“ für Arbeit, Leben, Bildung und Ge meinschaft sollen eine prominente Rolle bekommen. Der Homo oeconom icus zusammen mit dem immer stärker wer denden Homo informaticus beherrscht die Bühne. Beide gehen da von aus, dass sich mit dem Euphemismus „Nebenfolgen“ andere beschäftigen sollen, z.B. die Arbeits, Sozial und Rechtswissen <?page no="268"?> 3. Ein Architekturmodell der digitalen Transformation 267 schaften. Den ökonomischen und technischen Zielsetzungen wird von vornherein absolute Priorität eingeräumt und es wird akzep tiert, dass für die nicht verwertbaren Reste der Einzelne die Lasten zu tragen hat oder der Staat zuständig ist. Ähnlich wenig verbreitet ist der Umgang mit gesellschaftlichen Wechselwirkungen. Das rekursive Denken ist in einem stief mütterlichen Zustand. Favorisiert werden fachbezogene „wenn dannBeziehungen oder Annahmen“. Das ist zu wenig, um die Komplexität der digitalen Gesellschaft zu verstehen. Wir haben am Ende mit dem MikropolisModell einen transdiszip linären Orientierungsrahmen entwickelt, der die „Nebenfolgen“ und Wechselwirkungen zwischen IT, Unternehmen und Gesell schaft berücksichtigt. Die digitale Transformation wurde unter der Herrschaft des Homo oeconomicus und des Homo informaticus dargestellt. Das MikropolisModell bietet für die digitale Transfor mation einen Orientierungsrahmen. Wechselwirkungen sind jetzt ein Baustein, der transparent macht, was im Dreieck von Individuum, gesellschaftlichem Kontext und Informatisierung passiert. Sie machen deutlich, dass die ver breitete Sachzwangthese der Innovationsentwicklung nicht haltbar ist. Es sind die Wechselwirkungen zwischen technology push und demand pull, die permanent stattfinden. Es sind soziale Gegebenhei ten wie Machtverhältnisse, die Innovationen beeinflussen und zur Verbreitung beitragen. Innovationen hängen darüberhinaus ent scheidend von vorangegangenen Entwicklungspfaden mit ihren Leitbildern ab. Dennoch kann akzeptiert werden, dass der Informa tionstechnik technische Eigengesetzlichkeiten inhärent sind, die talentierte Tüftler und Forscher ans Tageslicht bringen. Wechselwirkungen und „Nebenfolgen“ lassen sich verorten und zurechnen. Über sie kann jetzt diskutiert werden. Wir sind jetzt auch in der Lage, die digitale Transformation mit dem Aufkommen und der Dominanz der Internetkonzerne einordnen zu können. Die chamäleonhafte Entwicklung des ManagementInformati onssystems (MIS) hat uns von Anfang an begleitet. Zu Beginn in den 1970er Jahren sollte das einzelne Unternehmen in seinen ver <?page no="269"?> Teil V. Orientierung in digitalen Welten klebten bürokratischen Strukturen automatisiert werden, damit das Management den Betrieb lediglich über Schaltknöpfe steuern und kontrollieren konnte. Heute fast ein halbes Jahrhundert später, wer den die Früchte der Informatisierung so genutzt, dass monopolisier te Märkte versuchen, den Wettbewerb auszuschalten, um das globa le ökonomische System umzuwälzen und zu beherrschen. Sie haben den gewachsenen ökonomischen Strukturen der Realwirtschaft und den dort ansässigen Unternehmen längst den Kampf angesagt. Sie sind dabei, deren Existenz zu vernichten. Die alte Metapher „Mana gementInformationssystem (MIS)“ ist tot, es lebe das Spinnennetz! <?page no="270"?> E(" 3DDrucken 192 Airbnb 90, 91 AlAni, Ayad 185 Allmende 195, 200 Komödie der 196 Amazon 56 Amazons Arbeitspolitik 63 Ambient Intelligence 132 Apple 56 Apple Pay 95 Apps 46, 52 Arbeitnehmerdatenschutz gesetz 216 Arbeitsmärkte, digitale 172 Architektur der digitalen Gesellschaft 231 Architekturmodell der digitalen Transformation 253 Automatisierungsdividende 201 Banken und Sparkassen 94 Barley, Stephen R. 28 Beckert, Jens 252 bedingungsloses Grund einkommen 183, 213 Bentham, Jeremy 121 Bezos, Jeff 56, 60 Big Data 110, 112, 122, 212 Binsenweisheiten, volkswirt schaftliche 233 Bluefire Reader 66 BMWWerk Leipzig 170 Bobbitt, Philip 118 Boltanski, Luc 22, 85, 214 booking.com 99 Borchert, Jürgen 202 Brin, Sergey 71 Bruchhagen, Heribert 207 Brynjolfsson, Erik 14, 172, 173, 175, 176, 177, 202, 203, 204, 216 Buchhändler 59 Burda, Michael C. 191 Business Ecosystems 244 Callcenter 27 Castell, Manuel 242 CastingShow der IBM 166 Chiapello, Eve 22, 85, 214 Clickworking 36, 176 Cloud 113 Cloudworking 5, 36, 176 Cohen, Jared 117 Personen- und Sachverzeichnis <?page no="271"?> Personen- und Sachverzeichnis 270 Commons und Allmende Ideen 195 Corporate Kindergarden 110 Crowdsourcing 33, 34, 35, 36, 75, 246 DAKOSY 127 Datenschutz 218 Datenschutzgesetze 189 DatenschutzGrundverord nung 219 Datensicherheit 215 Deep Web 89 Deutsche NormungsRoadmap Smart City 155 Deutscher Städtetag 156 Digital Communities 128 Digitale Agenda 221 digitale Transformation 163 disruptive innovation 83 EBook 58 Einkomme ns und Vermögensverteilung 238 Einzelhandel 66 Eisenverlader Schmidt 38 ElanceoDesk 36 Entfremdung 29 Environmental Informatics 227 Enzensberger, Hans Magnus 170 Erneuerbare Energiequellen 82 EU 218 EUFörderungsinitiative „Smart Cities and Commu nities“ 153 Europäische Stadt, nachhaltige 150 European Smart Cities der TU Wien 157 Evangelii Gaudium 164 Event und Erlebnisbereich, kommerzieller 205 EventKultur 208 Events 207 Exportüberschüsse 237 FabLabBewegung 192 Fabrikjunge mit dem Bind faden 187 Facebook 56 Ford, Henry 139 Freelancer 51 Frey, Carl Benedikt 14, 173 Gayken, Sandro 222 Genossenschaften 195 Gershenfeld, Neil 192 Gleichgewichtswachstumspfad 233 Global TalentCloud 166 Google Baseline 83 Goog le Compare 80 <?page no="272"?> Personen- und Sachverzeichnis 271 GoogleDienste 75 Google Earth 75 Google Labs 86 Google Maps 75 Google Mashups 76 Google Street View 75 Google Wallet 95 Google Waze 76 Googles Arbeitspolitik 85 Googles Kern 55, 71, 72 Graeber, David 171, 181 Greenwood, Glenn 119 Greffrath, Matthias 186 Grundeinkommen, bedingungsloses 183, 213 Grundlagen, volkswirtschaft liche 232 Habermas, Jürgen 257 Hamburger Bücherhallen 146 Hardin, Garrett 196 Harrison, Robert Pogue 118 Hartz IV 186 Homo informaticus 15, 16, 248, 252, 266, 267 Homo oeconomicus 5, 6, 13, 15, 16, 24, 35, 48, 50, 51, 63, 98, 109, 113, 114, 117, 138, 158, 159, 226, 248, 249, 252, 255, 265, 266, 267 Hotelreservierungssysteme 99 HRSPortal 99 Human Intelligence Tasks 36 IBM 166 Industrie 4.0 133 Informatisierungslücke 131, 138 Innovationsspirale 260 interaktive Wertschöpfung 33 Internet der Dienste 143 Internet der Dinge 129, 130, 143 Investivlohn 187 Investments, lohnende 203 Katz, Lawrence 165 Keynes, John Maynard 179 Kindle Fire 57 Kindle unlimited 60 Komödie der Allmende 196 Kontor der vorindustriellen Zeit 52 Kümmerexistenzen 261 Künstlerkritik 22, 24, 85, 225 Kurz, Constanze 11, 106, 188, 202, 203 Lanier, Jaron 11, 84, 117, 189 Läpple, Dieter 191 Latour, Bruno 132 LiquidProgramm 166 Lobo, Sascha 11 Loske, Reinhard 198 Makrokontext 254 <?page no="273"?> Personen- und Sachverzeichnis 272 ManagementInformation System (MIS) 140, 267 Marin, Dalia 176, 238 Masi, Francesco 210 Mayo, Elton 42, 43 McAfee, Andrew 14, 172, 173, 175, 176, 177, 202, 203, 204, 216 MechanicalTurkPlattform 37 MicroWorkers.com 37 Mikrokontext 253 Minkmar, Nils 163 mobile work 49 Monopolkommission 109 Moore, James F. 245 Morgenstadt 154 Morozow, Evgeny 11, 122, 159, 208, 214 MyWallet 95 Near Field Communication (NFC) 95 Nebenfolgen 247 Negt, Oskar 242 Nest Labs 80 Netzwerkorganisationen 241 NFC 95 NullGrenzkostenGesellschaft 199, 201 oDesk 168 ÖffentlichPrivate Partner schaften (ÖPP) 204 Ökonomisierung der Lebenswelt 206 Onleihe 66 Open Innovation 34 Open So urc e Projekte 260 Orientierungspunkte 215 Orlikowski, Wanda J. 28 Osborne, Michael A. 14, 173 Ostrom, Elinor 196 Outsourcing 24, 27 Page, Larry 71, 84 PageRank 71, 72 PageRankAlgorithmus 72 PDA 44 Penthouse 201 PenthouseEtage 165 Pervasive Computing, Ubiquitous Computing 132 Piketty, Thomas 177, 224, 233, 238, 259 PlattformÖkonomie 260 PlattformÖkonomie, digitale 108 Prantl, Heribert 186 Prinzipien der Innovations kultur bei Google 85 Produktivitätszuwächse durch IT 234 ProduktServicePakete 142 Querdenker 223 Rauterberg, Hanno 150, 155 <?page no="274"?> Personen- und Sachverzeichnis 273 Reboundeffekt 228 RecherchePlattform für Steuerexperten 65 Reichtum, Verteilung 186 Retourenquote 68 RFID 147 Rieger, Frank 11, 25, 188, 202, 203 Rifkin, Jeremy 14, 199 Roboterauto 79 Roethlisberger, Jules 42, 43 Rosa, Hartmut 182 RosenstockHuessy, Eugen 43 SAP 169 Schirrmacher, Frank 11, 102, 111, 249 Schmidt, Eric 117 Sedlácek, Thomás 249 Sharing Economy 90, 195, 201 Smart Church 160 Smart Cities, European 157 Smart City 151 Deutsche Normungs Roadmap 155 Smart Factory 129, 133 Smart Home 161 Smart Stadium 160 smarte City 149 smartes Leben 149 Snowden, Edward 119, 120 Sobooks 65 Sozialkritik 22, 24, 225 Spinnennetze 55, 82, 104, 141, 199, 231, 260, 262, 263 Stanford Industrial Park 221 Startups 6, 15, 27, 29, 30, 34, 52, 53, 74, 98, 103, 104, 105, 106, 108, 209, 223, 224, 262, 263, 265 Streeck, Wolfgang 213, 252 superwealthy superstars 177 sustainable development 226 Systeme, cyberphysische 133 Taleb, Nassim Nicholas 86 Talebs Philosophie 86 Taylor, Frederic W. 37 Technikeuphoriker 179 Teleheimarbeit 28 Telekommunikations paradoxon 229 ten Hompel, Michael 144 Tolino 58 Turkopticon 37 Uber 80, 90, 91 Überlebensstrategien 123 Überwälzung auf die Quelle des Geschehens 24 Überwälzung von Arbeit 51 Umverteilung 190 Umwelt 226 Urban Manufacturing 191, 201 <?page no="275"?> Personen- und Sachverzeichnis Vergnügungspark, digitaler 208 Vermittlungsplattform, digi tale 124 Versicherungen 114 Versicherungsbranche 98 Verteilung des Reichtums 186 Verteilung von Einkommen und Vermögen 232, 238 Voß, Günter G. 25 Wearables 161 Wechselwirkungen 247 Weiser, Mark 131 Welzer, Harald 182, 212 Wertschöpfung, interaktive 33 Yahoo 56 Zalando 56 Zeitdiebe 204 Zuboff, Shoshana 11, 17, 21, 122, 223 Zukunft der Arbeit 166 Zukunftspfade und Sackgas sen 178 ZweiWegeLink 189 <?page no="276"?> E&* Anmerkungen 1 Harald Welzer: Nicht nur über Sinn reden; DIE ZEIT, 27.4.2006 2 Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie II eine mögliche Er klärung gegeben. Nach Luhmann zeichnen sich moderne Gesell schaften durch funktionale Ausdifferenzierungen aus. Sie haben im Laufe ihrer Entwicklung ihre wichtigsten Funktionen in hoch spezialisierten Teilsystemen organisiert. Gesellschaften sind dann die Summe von Teilsystemen, die jeweils eine spezifische Identi tät herausgebildet ha ben, was sich in funktionsspezifischen Codes festmacht. Gesellschaft besteht nach Luhmann „aus nichts ande rem als aus Kommunikation“ (Luhmann 1986, S. 24). Kommuni kation kann aber nur funktionieren, wenn sie an denselben Code einfacher ausgedrückt: an die in Sprache verpackten jeweils lei tenden Interessen anschließen kann, was bei disziplinärer Aus d ifferenzierung immer schwieriger wird. 3 Thomas Tuma, spiegel online, 28.2.2013 4 Christoph Gießen, Sybille Haas, Alexander Mühlhauer: Mut zur Wut, Süddeutsche Zeitung, 22.2.13 5 Janis Jäger: Ökonomische und gesellschaftliche Auswirkungen von Application Stores unter Einbeziehung des MikropolisModells, Diplomarbeit Uni HH, FB. Informatik 2010 6 Lena Bergmann: Apokalypse now, Cicero 2/ 2014, S. 16 7 Michael Hanfeld: Der Preis des Journalismus, faz.net 6.08.13 8 Florian Amrhein, Katharina Laszlo, Harald Staun: Der Feind in mei nen Büchern, faz.net 25.08.2014. 9 entwickelt im EUForschungsprojekt „European Smart Cities“ der TU Wien http: / / www.smartcities.eu/ download/ smart_cities_ fi nal_report.pdf 10 Hans Magnus Enzensberger: Das digitale Evangelium, In: DER SPIEGEL 2/ 2000, S. 92 - 101. 11 David Graeber: On the Phenomenon of Bullshit Jobs, In; Strike! Magazine, http: / / www.strikemag.org/ bullshitjobs/ . <?page no="277"?> Anmerkungen 276 12 Michael A. Osborne/ Carl Benedikt Frey: The Future of Employment: How susceptible are jobs to computerisation; http: / / www.oxfordmartin.ox.ac.uk/ downloads/ academic/ The_Fut ure_of_Employment.pdf 13 Brynjolfsson/ McAfee: Why the Massive Wealth of the 1% Could Ruin the Economy, theatlantic.co. Abruf 19.3.2014 14 Ayad alAni: Überschuss an Ideen und Talenten, In: Handelsblatt 3./ 4./ 5. 1.2014. 15 Constanze Kurz/ Frank Rieger: Arbeitsfrei. Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen, Riemann Verlag 2013 16 Dieter Läpple: Produktion zurück in die Stadt, Martin Kronauer, Walter Siebel (Hg.) Polarisierte Städte. Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik, Campus Wissenschaft, Frankfurt/ New York 2013, S. 129150. 17 http: / / www.3dgeneration.com/ 3dfigurenhamburg 18 Interview mit Heribert Bruchhagen in der TAZ, 10./ 11.5.14. 19 Francesco Masi: Die Ordnung herrscht in Berlin, Matthes & Seitz, Berlin 2014; Alexander Camman: Wollt ihr die totale Kultur? DIE ZEIT, 20/ 2014. 20 Boltanski/ Chiapello: Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapi talismus und der normative Wandel, Berlin. J. Soziol., Heft 4 2001, S. 467. 21 Evgeny Morozow: Wir brauchen einen neuen Glauben an die Poli tik, im: faz.net, 15.1.14. 22 Heinrich Wefing: Die Daten sind los, DIE ZEIT 30/ 2013, S. 1. 23 Sandro Gaycken: Frei ist das Netz schon lange nicht mehr, in SZ 22.08.2014. 24 Heiner Flassbeck/ Friederike Spiecker: Lohn der Arbeit; In: TAZ, 3. Feb. 2006, S. 11 25 2013 ist ein Sammelband erschienen, der die klassische Business EcosystemsPerspektive hinsichtlich der Nutzung der ÖkoMeta pher kritisiert. Er berücksichtigt auch die kalifornischen Inter netgiganten: Soumaya Ben Letaifa, Anne Gratacap, Thierry Isckia <?page no="278"?> Anmerkungen (Ed.): Understanding Buiseness Ecosystems How Firms Succeed in New World of Convergence? 2013 26 Die Metapher Mikropolis ist eine Zusammenfügung der Worte Mikroelektronik und Polis. Sie rückt die Beziehung von Informa tionstechnik und Gesellschaft mitsamt ihrer Wechselwirkungen ins Zentrum. Technische Entwicklungen können nicht ohne ihre sozialen Implikationen gedacht werden und umgekehrt. 27 Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. 1963. <?page no="279"?> www.die-gier-nach-gold.de »Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles.« Dieses Faust-Zitat von Goethe bringt es auf den Punkt. Gold strahlt seit Menschengedenken den Mythos von Werterhalt, Reichtum und Macht aus. In der Literatur und in der Philosophie finden wir zahlreiche Einflüsse. Von den Religionen ganz zu schweigen. Doch welche Rolle spielt Gold in unserem Leben wirklich? Wie viel Gold gibt es überhaupt? In welchen Schmuck- und Alltagsgegenständen steckt es? Und ist Gold tatsächlich der sichere Hafen für privates Vermögen? Alle Seiten des Edelmetalls werden beleuchtet; nicht nur mit Hilfe des Buches, sondern auch mit vielseitigem Zusatzwissen rund um das Thema Gold: Wissens- und Schätzfragen, Bilder und Videos, sind mittels QR-Codes abrufbar. Gold in all seinen Facetten Michael Bloss Die Gier nach Gold 200 Seiten, 80 Farbbilder ISBN 978-3-86764-392-4 <?page no="280"?> www.europa-im-wuergegriff.de Die täglichen Nachrichten über den aktuellen Krisenstand in europäischen Ländern sind für viele längst nicht mehr fassbar. Wer spannt gerade einen neuen Rettungsschirm auf und wer steht eigentlich im Regen? Sind die Griechen und Zyprer nicht selbst schuld an ihrer Misere? Sollte man Spanien nicht Pleite gehen und die Italiener die Lire wieder einführen lassen? Gerald Pilz erklärt in seinem Buch »Europa im Würgegriff« dieses europäische Dilemma. Er ordnet die aktuelle Krise in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext ein und beleuchtet das komplexe Euro-System. Gleichzeitig zeigt er auf satirische Weise mögliche Folgen einer Währungsauflösung auf. Da die wirtschaftliche und politische Entwicklung sowohl in naher als auch in ferner Zukunft unvorhergesehene Wendungen nehmen wird, bloggt der Autor auf www.europa-im-wuergegriff.de zu den aktuellen Entwicklungen der Krisensituation. Mit Wirtschafts-Blog Gerald Pilz Europa im Würgegriff 200 Seiten ISBN 978-3-86764-422-8 <?page no="281"?> Von Schmalenbach bis zur verhaltenstheoretischen BWL www.uvk-lucius.de Günther Schanz Eine kurze Geschichte der Betriebswirtschaftslehre 1. Auflage 2014, 150 Seiten ISBN 978-3-8252-4106-3 Bereits in der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance beschäftigten sich Gelehrte mit ökonomischen Fragestellungen. Die akademische Betriebswirtschaftslehre ist dennoch eine junge Disziplin, die erst im 20. Jahrhundert aufblühte. Ihre Geschichte wird vom Verfasser anhand der Wissenschaftsprogramme von Eugen Schmalenbach, Wilhelm Rieger, Heinrich Nicklisch, Erich Gutenberg, Edmund Heinen und Hans Ulrich kritisch nachgezeichnet. Dargestellt werden des Weiteren , "9C *@(C9; >#@9C'; 9C@; C : 9'&C+-9@; >$<*A; >+C<@C4 , "9C / .#+#? 9>$<C 2AA'1'? "C@ =9>&9! +9'4 , "C@ BC1C 7'>; 9; 1; 9#'*+9>)1> 1'" , "9C 0C@<*+; C'>; <C#@C; 9>$<C 5%63 Das Buch richtet sich an Studierende der Betriebswirtschaftslehre, die die 8C>$<9$<; C "C@ 5%6 0C@>; C<C' 1'" "C@C' : '; -9$.+1'? >+9'9C' '*$<0#++&9C<C' möchten. Zudem ist es auch für Doktoranden, Habilitanden und Professoren C9' 1'0C@&9$<; (*@C@ 6C>C>; #AA3